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German Pages 333 [328] Year 2021
Gesundheit erzählen
Narratologia
Contributions to Narrative Theory Edited by Fotis Jannidis, Matías Martínez, John Pier, Wolf Schmidt (executive editor) Editorial Board Catherine Emmott, Monika Fludernik, José Ángel García Landa, Inke Gunia, Peter Hühn, Manfred Jahn, Markus Kuhn, Uri Margolin, Jan Christoph Meister, Ansgar Nünning, Marie-Laure Ryan, Jean-Marie Schaeffer, Michael Scheffel, Sabine Schlickers
Band 78
Gesundheit erzählen Ästhetik – Performanz – Ideologie Herausgegeben von Letizia Dieckmann, Julian Menninger und Michael Navratil
ISBN 978-3-11-074789-8 e-ISBN (PDF) 978-3-11-074792-8 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-074805-5 ISSN 1612-8427 Library of Congress Control Number: 2021941386 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2021 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Satz: Integra Software Services Pvt. Ltd. Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com
Inhaltsverzeichnis Letizia Dieckmann, Julian Menninger und Michael Navratil Gesundheit und Erzählen: Zur Einleitung 1
Ästhetik Michael Navratil Konzepte der Gesundheit im Werk Thomas Manns: Dekadenter Gesundheitsverdacht, Krankheitswahl und die Autonomie des Körpers 33 Jana Vijayakumaran Aufstieg statt Untergang? Zur Poetik des ‚gesunden Menschenʻ bei Johannes Schlaf und Rudolf Herzog 53 Monika Class Literary Configurations of Illness and the Refiguration of Health and Well-being 75 Frank L. Schäfer Gesundheitsrecht: Gesundheit kodifizieren und erzählen
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Performanz Christopher Koppermann Sieg über die Gefühle? Gesundheitserzählungen in der Psychotherapie 121 Lisa Müller „Wo viel verloren wird, ist manches zu gewinnen“: Aushandlungen von Identität, innerer Haltung und Selbstbestimmung in Krankheitserzählungen chronisch erkrankter Menschen 145
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Inhaltsverzeichnis
Inga Wilke Wohlbefinden durch „Hinspüren“: Reflexives und relationales Erzählen von Gesundheit im Kontext von Entspannungsund Achtsamkeitsangeboten 163 Marcella Fassio Sich gesundschreiben? Erzählen zwischen Selbstermächtigung und Normativität in Mental Health Blogs 187
Ideologie Sophia Burgenmeister „Fleisch ist ein Stück Lebenskraft“ oder „Vegan for Fit“? Erzählungen von Gesundheit durch Fleischverzehr und Fleischverzicht 213 Claudia Müller Heile Welt: Das Motiv der Gesundheit in Sportive (1925) von Marthe Bertheaume 235 Anna S. Brasch Der Monte Verità – und Steve Jobs: Historische Lebensreform und gegenwärtige Gesundheitsdiskurse in Thomas Langs Immer nach Hause 257 Julian Menninger Ewiges, gesundes Leben? Transhumane Heilserzählungen und fiktionale Gegenentwürfe 273 Julian Menninger und Michael Navratil Perspektiven einer narratologischen Gesundheitsforschung Autor*innen-Verzeichnis Personen- und Werkregister
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Gesundheit und Erzählen: Zur Einleitung 1 Gesundheit in der Literaturwissenschaft: Über ein vernachlässigtes Forschungsfeld Spätestens seit Susan Sontags wegweisendem Essay Illness as Metaphor aus dem Jahre 1978 hat die Literaturwissenschaft ihr Interesse nicht allein auf die Darstellung von Krankheit in der Literatur, sondern auch verstärkt auf die Rhetoriken und ideologischen Implikationen von Krankheitsdarstellungen und -zuschreibungen in literarischen und anderen gesellschaftlichen Diskursen gerichtet. Mittlerweile ist die Fülle der Einzelbeiträge zum Zusammenhang von Literatur und Krankheit kaum noch zu überblicken.1 Mit dem Jahrbuch Literatur und Medizin liegt seit nunmehr über zehn Jahren auch ein periodisch erscheinendes Organ vor, das sich speziell der Verbindung dieser beiden Felder widmet.2 Angesichts des enormen Interesses am Zusammenhang von Literatur und Krankheit mag es überraschen, dass der konstitutionelle Gegenpol der Krankheit, die Gesundheit, bisher nicht in annähernd vergleichbarem Maße zum Gegenstand literatur- und kulturwissenschaftlicher Forschungen geworden ist. Zwar wendet sich das in der angloamerikanischen Forschung etablierte, interdisziplinäre Feld der Medical Humanities vermehrt dem Themenkomplex Heilung, Krankheitsprävention und Gesundheitsförderung zu.3 In der deutschsprachigen Forschung jedoch liegen Beiträge zur thematischen Diskussion von Gesundheit und Gesundheitskonzepten in literarischen Texten, zur phänomenalen Selbstwahrnehmung des Gesundseins, zu ‚heilenden‘ Texten oder heilenden Erzählpraktiken, aber auch zu den normativen, ideologischen und politischen Implikationen einer Reklamierung respektive Attribuierung der Eigenschaft ‚gesund‘ bisher fast ausschließlich als verstreute Einzelstudien vor und auch
1 Aus der Menge der Forschungsbeiträge zum Zusammenhang von Literatur und Krankheit sei exemplarisch auf die folgenden Arbeiten verwiesen: Bormuth et al. (2007); Pethes und Richter (2008); Bergengruen et al. (2010); Wübben und Zelle (2013); Zelle (2013). Siehe dort auch für weitere Literaturhinweise. 2 Das Jahrbuch Literatur und Medizin erscheint seit 2007 im Universitätsverlag Winter Heidelberg. 3 Der sich als Ergänzung zur evidenzbasierten Medizin verstehende Ansatz der Medical Humanities beleuchtet die Schnittstelle von naturwissenschaftlich-medizinischen Wissensinhalten und deren human- und geisteswissenschaftlichen, soziologischen sowie künstlerischen Implikationen. Zentrales Organ dieser Fachrichtung ist das Journal of Medical Humanities, das seit den 1980er Jahren erscheint. https://doi.org/10.1515/9783110747928-001
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das nur in geringer Zahl.4 An werk- und epochenübergreifenden Arbeiten zur Literatur- und Kultursemantik der Gesundheit mangelt es; speziell für die Zeit der historischen Moderne seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart fehlt es bisher gänzlich an umfassenden Untersuchungen. Nun ist kaum anzunehmen, dass es sich bei dieser Einseitigkeit der Forschung um eine beliebige thematische Präferenz handelt. Der wohl wichtigste Grund für die bisherige Vernachlässigung des Komplexes Gesundheit im Gegensatz zur Krankheit dürfte im asymmetrischen Verhältnis der beiden Pole zueinander liegen: Vermittelt über ihre physischen oder psychischen Manifestationen – also die mit ihr einhergehenden Symptome – eignet der Krankheit immer schon eine eminent zeichenhafte, phänomenale und interpretatorisch-hermeneutische Dimension (vgl. Labisch 1992, 12–13). Insofern rückt Krankheit bereits auf der Ebene ihrer semiotischen Grundstruktur in die Nähe literaturwissenschaftlicher Fragestellungen. Gesundheit wird demgegenüber häufig als neutraler Default-Zustand begriffen, der überhaupt nur ex negativo, also in seiner Störung durch die Krankheit, erfahren werden kann. Zu einiger Bekanntheit ist in diesem Zusammenhang eine Formulierung von René Leriche gelangt, der Gesundheit als „das Leben im Schweigen der Organe“ definiert (Canguilhem 1974, 58). Auch Niklas Luhmann bezeichnet den „Begriff der Gesundheit in der Unterscheidung Krankheit/Gesundheit“ als „Leerbegriff“ (Luhmann 1990, 134). Und für Hans-Georg Gadamer besteht eine der ‚definierenden‘ Grundeigenschaften der Gesundheit gerade in ihrer Verborgenheit: ihrer phänomenalen Hintergründigkeit und tendenziellen Verweigerung gegenüber jedweder allgemeingültigen Definition. In seinem Vortrag Über die Verborgenheit der Gesundheit bemerkt Gadamer: Man mache es sich nur bewußt, daß es zwar sinnvoll ist zu fragen: „Fühlen Sie sich krank?“ Aber es wäre fast lächerlich, wenn einer einen fragte: „Fühlen Sie sich gesund?“ Gesundheit ist eben überhaupt nicht ein Sich-Fühlen, sondern ist Da-Sein, In-der-Welt-Sein, Mit-denMenschen-Sein, von den eignen Aufgaben des Lebens tätig oder freudig erfüllt sein. […] Am anschaulichsten ist es […], sich die Gesundheit als einen Gleichgewichtszustand zu denken. (Gadamer 1993, 144–145)
Gesundheit wird hier als bloß abgeleitete Größe begriffen: Anders als die Krankheit, so Gadamers These, sei Gesundheit nicht als eigenständiges Phänomen erfahrbar. 4 Einen hilfreichen, thematisch weit gestreuten Einstieg zum Thema Gesundheit bietet der Band Gesundheit im Spiegel der Disziplinen, Epochen, Kulturen (Grönemeyer et al. 2008). Eher kursorisch bleibt die Studie von Annette Franck: Der Gesundheitsbegriff des Jedermanns. Studien zum Wandel des Gesundheitsbegriffs anhand der deutschen Literatur vom Mittelalter bis heute (Franck 2007).
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Einen eindrücklichen Beleg dieser Problematik der ‚Verborgenheit‘ liefert die bekannte Gesundheitsdefinition der Weltgesundheitsorganisation. Im zweiten Abschnitt der WHO-Verfassung heißt es: „Die Gesundheit ist ein Zustand des vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlergehens und nicht nur das Fehlen von Krankheit oder Gebrechen.“ (Weltgesundheitsorganisation 2014)5 Damit baut die Definition der WHO zwar einer biologistisch-materialistische Verkürzung des Gesundheitsverständnisses vor. In ihrer positiven Bestimmung des Gesundheitsbegriffs bleibt diese Definition jedoch überaus vage: Schließlich wird, so könnte man behaupten, mit der Adjektivreihung ‚körperlich, seelisch und sozial‘ schlichtweg der gesamte Bereich menschlicher Erfahrung umfasst.6 Gadamers Ausführungen zur Verborgenheit der Gesundheit wie auch die Gesundheitsdefinition der WHO deuten darauf hin, dass Gesundheit sich kaum isoliert betrachten lässt, sondern ganz verschiedene Aspekte menschlichen Lebens wie auch das Zusammenspiel dieser Aspekte betrifft. Genau diese Multikategorialität der Gesundheit macht eine Definition derselben – anders als eine Definition der Krankheit, die sich häufig sehr plausibel (primär) medizinisch und symptomatisch beschreiben lässt – zum Problem. So hält etwa Klaus Bergdolt in seiner Kulturgeschichte des gesunden Lebens fest: „Offensichtlich erscheint schon die Definition der Gesundheit so schwierig, daß viele Ärzte, Philosophen und Literaten, die sich diesem Thema widmeten, auf sie verzichteten.“ (Bergdolt 1999, 11) Ein zweiter Grund für die bisherige Vernachlässigung der Gesundheit als Forschungsthema der Literaturwissenschaft ist in dem Umstand zu sehen, dass Gesundheit nicht im gleichen Maße wie Krankheit für die Konfliktgenese literarischer Texte in Betracht kommt. Versteht man Gesundheit als statischen Glückszustand, so scheint sie von einer ähnlichen erzählerischen Problematik betroffen zu sein, wie sie Leo Tolstoi im berühmten ersten Satz von Anna Karenina für das Glück formuliert: „Alle glücklichen Familien ähneln einander; jede unglückliche aber ist auf ihre eigene Art unglücklich.“ (Tolstoi 2000 [1877/1878], 7) In erstaunlicher Parallele zu Tolstois Diktum schreibt Ludwig Börne: „Es gibt tausend Krankheiten, aber nur eine Gesundheit.“ (Börne 1862, 195) Gegenstand der Literatur ist nun aber eher die Ausnahme als die Regel; das Erzählen überhaupt beschäftigt sich meist weniger mit einer gegebenen Ordnung, sondern vielmehr mit der 5 Die ursprüngliche Verfassung der WHO wurde am 22. Juli 1946 in New York unterzeichnet. 6 Häufig ist moniert worden, dass die Gesundheitsdefinition der WHO einen fast unerreichbaren Standard der Gesundheit setzt. So bemerkt etwa Klaus Bergdolt: „Nur eine Minderheit der Europäer […] wäre nach dieser Umschreibung gesund, ganz abgesehen von der Tatsache, daß in manchen Ländern der Dritten Welt fast alle Bewohner im Verdacht stünden, krank zu sein. […] Problematisch ist auch, daß es [i. e. das Diktum der WHO] den (aus westlichen Industriestaaten exportierten) Irrtum reflektiert, der Mensch kenne im Grunde nur zwei körperliche Befindlichkeiten, nämlich Krankheit oder Gesundheit.“ (Bergdolt 1999, 13).
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Störung (und potenziellen Restitution) dieser Ordnung. Wenn in der Moderne, wie Hans Blumenberg argumentiert hat, die Wirklichkeit vor allem als „Widerstand“ empfunden wird und die moderne Literatur als Verhandlungsmedium dieser Widerstandserfahrung aufgefasst werden kann (Blumenberg 1964, 13–14), dann scheint es naheliegend, dass Gesundheit – ähnlich wie das Glück – als ein Zustand der tendenziell undynamischen Harmonie menschlichen Lebens für die erzählende Literatur nur von geringem Interesse ist. So werden denn auch keine informierten Leser*innen um Beispiele kranker, leidender oder sterbender Figuren in der Literatur verlegen sein (Büchners Lenz und das marode Figurenkabinett Thomas Manns bilden hier zwei der ewigen Favoriten germanistischer Forschung). Die Aufgabe der Benennung exemplarisch oder emphatisch gesunder literarischer Figuren dürfte hingegen eine sehr viel größere Herausforderung darstellen. Ein dritter und letzter Grund für die bisherige Vernachlässigung der Gesundheit als Thema der germanistischen Literaturwissenschaft dürfte ein forschungspolitischer sein: Im Zuge der kulturwissenschaftlichen Erweiterung der Germanistik in den letzten Jahrzehnten wurde der Komplex ‚Literatur und Krankheit‘ in weiten Teilen dem Bereich der ‚Literatur und Wissen‘-Forschung subsummiert, also der Wissensgeschichte, der Poetologie des Wissens, der literarischen Anthropologie sowie angrenzenden Fachrichtungen. Gemeinsam ist all diesen Disziplinen der Versuch eines Brückenschlags zwischen ästhetischer Praxis und historischen Wissenskontexten, wobei unter ‚Wissen‘ vorzüglich naturwissenschaftliches Wissen verstanden wird. Dass diese Forschungen für den Komplex ‚Krankheit‘ in der Literatur zu wertvollen und anschlussfähigen Erkenntnissen geführt haben, steht außer Zweifel. Allerdings dürfte die Dominanz der Forschungsansätze der ‚Literatur und Wissen‘-Forschung mitverantwortlich dafür gewesen sein, dass alternative, nicht wissenshistorisch orientierte Zugangsweisen zu den Themen Krankheit und Gesundheit in der literaturwissenschaftlichen Forschung nur wenig berücksichtigt wurden. Ersichtlich wird das nicht zuletzt an dem Umstand, dass die wenigen größeren Forschungsarbeiten der vergangenen drei Jahrzehnte, die sich explizit mit der ‚Gesundheit‘ befassen, diese fast immer bloß als anhängiges Phänomen der Krankheit betrachten, wobei Krankheit primär naturwissenschaftlich-medizinisch definiert wird.7
7 Der Sammelband Heilkunst und schöne Künste. Wechselwirkungen von Medizin, Literatur und bildender Kunst im 18. Jahrhundert (Eisenhut et al. 2011) versteht die titelgebende „Heilkunst“ primär in einem medizinhistorischen Sinne und räumt somit der Medizin das Primat über die Deutung der Gesundheit ein. Auf vergleichbare Weise sieht der Band Krank geschrieben. Rhetoriken von Gesundheit und Krankheit im Diskursfeld von Literatur, Geschlecht und Medizin (Käser 2014) Gesundheit lediglich als anhängiges Phänomen der Krankheit, die im Untertitel zwar Erwähnung findet, jedoch in keinem der dort versammelten Aufsätze dezidiert und ausführlich
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2 Für eine Neubetrachtung der Gesundheit Die phänomenale Hintergründigkeit und definitorische Unbestimmtheit der Gesundheit, ihre fehlende Konflikthaftigkeit und die Krankheitsfokussierung der ‚Literatur und Wissen‘-Forschung – all diese Gründe mögen die bisherige Vernachlässigung der Gesundheit als Gegenstand der Literaturwissenschaft teilweise plausibilisieren. Gleichwohl besteht hier ein reales Forschungsdesiderat: Schließlich lassen sich eine ganze Reihe von Kontexten und Verwendungsweisen des Begriffs ,Gesundheit‘ anführen, in denen die Gesundheit eine eigenständige Semantik, Phänomenalität oder handlungslenkende Funktion entfaltet. Eine Erschließung der Gesundheit als Forschungsgegenstand eigenen Rechts für die Literaturwissenschaft sowie andere narratologisch arbeitende Disziplinen erscheint mithin als lohnendes Projekt. Ehe auf mögliche Arbeitsfelder einer literaturwissenschaftlichen oder allgemein narratologischen Gesundheitsforschung eingegangen wird, sollen zunächst die oben genannten Gründe für eine einstweilige Vernachlässigung des Forschungsgegenstandes Gesundheit auf ihre Stichhaltigkeit hin befragt werden. Die Multikategorialität der Gesundheit mag eine streng medizinisch-diagnostische Definition derselben zwar erschweren, wenn nicht sogar verunmöglichen. Genau aus demselben Grunde aber bieten sich für die Literaturwissenschaft hier besondere Potenziale: Wie kaum ein anderes gesellschaftliches Diskursmedium ist die Literatur – als dezidiert interdiskursives Medium (vgl. Link 1988; Link und Link-Heer 1990) – befähigt, divergente thematische und disziplinäre Betrachtungsweisen zu integrieren sowie die Handlungen, sozialen Verstrickungen und Selbstinterpretationen von menschlichen Aktanten zu thematisieren, untereinander in Beziehung zu setzen und zu problematisieren. Die tendenzielle Offenheit des Phänomens Gesundheit korrespondiert insofern mit der Offenheit des Mediums Literatur selbst. Gerade erzählende Verfahren scheinen in besonderem Maße geeignet, um die häufig hochgradig subjektive, multikategoriale und mit spezifischen Zeitstrukturen und -wahrnehmungen verbundene Erfahrung der Gesundheit zur Darstellung zu bringen. Die Anti-Phänomenalität der Gesundheit würde für eine literaturwissenschaftliche Investigation oder für eine narrative Behandlung derselben zweifellos ein
behandelt wird. Auf ein wachsendes Interesse an erzählerischen Darstellungen von Gesundheit innerhalb der Forschung deutet hingegen der Band Vom Krankmelden und Gesundschreiben. Literatur und/als Psycho-Soma-Poetologie? (Boelderl 2018) hin. Dort finden sich immerhin einige Beiträge, die sich speziell mit der Gesundheit auseinandersetzen; insgesamt steht aber auch hier, wie der Titel bereits andeutet, eher das Verhältnis von Gesundheit und Krankheit als die Gesundheit an sich im Zentrum.
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Problem darstellen. Allerdings scheint es fraglich, ob Gesundheit wirklich notwendigerweise ein Anti-Phänomen bildet oder ob es nicht auch Zustände und Erlebnisse gibt, durch die Gesundheit an und für sich erfahrbar wird: sei es im Zusammenhang mit Sport und Fitness, bestimmten Ernährungsweisen, erfüllter Sexualität oder in der Erfahrung der Genesung nach langer Krankheit. Die Frage „Fühlen Sie sich gesund?“ scheint nicht immer und in allen Kontexten so „lächerlich“ zu sein, wie Gadamer suggeriert. Mit Blick auf das gegenwärtige, intensive Interesse an Achtsamkeitstechniken, resonanten Weltbeziehungen und den Erkenntnissen der Glückforschung – Bereiche, in denen die jeweilige Definition von Gesundheit weit über die bloße Abwesenheit von Krankheit oder Schmerz hinausgeht – erweist die Frage nach der phänomenalen Dimension der Gesundheit ihre offenkundige persönliche wie auch gesellschaftliche Relevanz. Gesundheit – verstanden als bewusste Erfahrung oder aber als Handlungsmotivator – scheint als tendenziell opakes Konzept dabei besonders dazu prädestiniert, mit narrativen Techniken umrissen und veranschaulicht zu werden. Zur vermeintlichen Konfliktlosigkeit der Gesundheit ist zu bemerken, dass die Gesundheit keineswegs immer und überall als unproblematischer Gegensatz zum dynamischeren Begriff der Krankheit steht. Gerade in der Moderne entwickelt sich die Gesundheit vielfach selbst zu einer dynamischen und oftmals prekären Kategorie. So bringen die medizinischen Erfolge des 19. Jahrhunderts einerseits in Teilen der Bevölkerung einen ausgeprägten Fortschrittsoptimismus hervor: Im Zuge der Professionalisierung und Szientifizierung der Medizin, verbunden mit der Einführung einer öffentlichen Gesundheitsfürsorge sowie eines Krankenkassenwesens, avanciert Gesundheit zu einem normativen Leitgedanken industrialisierter Gesellschaften. Während also Modernisierung und Gesundheit in bestimmten, wissenschaftsgläubigen Milieus in enger Verbindung zueinander gesehen werden, gewinnen andererseits gerade gegen Ende des 19. Jahrhunderts kulturkritische Strömungen an Bedeutung, welche etwa das moderne Großstadtleben als gesundheitsschädlich betrachten (vgl. Roelcke 2001). Blickt man speziell auf die poetologische Diskussion der Dekadenzperiode um 1900, so scheint sich die markierte Opposition von Gesundheit und Krankheit geradezu umzukehren: Nicht mehr das Gesunde, sondern das Kranke wird als Normalzustand empfunden; zugleich erfährt das Kranke, Abweichende und Exzentrische eine deutliche normative Aufwertung. Thomas Anz bemerkt hierzu: „Wer an den Normen der klassischen Ästhetik orientiert ist, beruft sich gerne auf die Gesundheit, die ästhetische Moderne hingegen ist durch ihre Sympathie für das Pathologische gekennzeichnet.“ (Anz 1989, XI) Dabei entfaltet die Selbstpositionierung zu Gesundheit und Krankheit in der Moderne nicht selten eine ästhetisch-normative oder weltanschauliche Signalwirkung: Man denke an die exzessive Thematisierung der Gesundheit im Kontext der Lebensreformbewe-
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gung, an die verschiedenen alternativ-, anti- oder gegenmodernen Strömungen zu Beginn des 20. Jahrhunderts (inklusive des Faschismus) und selbst noch an den Zürcher Literaturstreit von 1966, ausgelöst durch eine Rede Emil Staigers, in welcher der Germanist der modernen Kunst pauschal eine Tendenz zum „Verbrecherischen und Kranken“ (Staiger 1966) unterstellte – und damit implizit die Rückbesinnung auf eine ‚gesunde‘ Kunst anmahnte (vgl. Anz 1989, X). Auch ein Blick auf Gegenwartsphänomene wie Fitness, Muße- oder Meditationspraktiken lässt erkennen, dass Gesundheit häufig nicht einfach einen Neutralzustand in Opposition zur Krankheit bildet, sondern selbst modifiziert, gesteigert oder optimiert werden kann. Ein Verständnis der Gesundheit als skalare Größe, als Ursprung oder als Telos einer Entwicklung ermöglicht dabei zugleich auch deren Narrativierung, wie unter anderem zahllose Gesundheitsblogs beweisen. Ferner scheint Gesundheit für erzählende Verfahren sowie insbesondere für die fiktionale Literatur speziell dort attraktiv zu werden, wo sie sich mit politischen Ideologien verbindet: Die einschlägigen Beispiele reichen von den zum Teil brutalen Versuchen der Gesundheitssteuerung in totalitären Regimen über die biopolitischen Maßnahmen moderner Gesellschaften bis hin zu den ideologischen Dimensionen bestimmter extremer Diäten und körperlicher oder seelisch-psychischer Optimierungsprogramme. Hinsichtlich des Zugriffs auf das Phänomen der Gesundheit vonseiten der ‚Literatur und Wissen‘-Forschung ist schließlich zu bemerken, dass sich ein solcher Zugriff insbesondere da als problematisch erweist, wo Definitionen dessen, was Gesundheit ist oder sein kann, schlicht von der Medizin oder anderen Naturwissenschaften übernommen werden. Ein solches Vorgehen mag für die Beschäftigung mit Krankheit noch eine gewisse Plausibilität aufweisen, fällt die Krankheit in ihrer Deutung als physiologisch-organische Fehlfunktion doch zweifellos in den Zuständigkeitsbereich der modernen Medizin (wenn auch nicht notwendigerweise nur in diesen). Gesundheit hingegen scheint sich in ihrer realen historischen und sozialen Vielgestaltigkeit, Multikategorialität und Subjektivität einem naturwissenschaftlichen Zugriff weit weniger zu fügen; in sehr viel stärkerem Maße bieten sich hier genuin literaturwissenschaftliche, narratologische oder interdisziplinäre Forschungsansätze an. Eine Betrachtungsweise, welche nicht vorschnell einen medizinischen Blick adaptiert, sondern die literarische und erzählerische Gestaltung der Gesundheit, das ‚heile‘ sowie das heilende Erzählen bewusst aus einer Vielzahl methodischer, thematischer und disziplinärer Perspektiven in den Blick nimmt, verspricht neue Erkenntnisse über das Phänomen zutage zu fördern und damit der realen Vielgestaltigkeit des Gegenstandes eher gerecht zu werden.
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3 Gesundheit in der Moderne Zentrales Anliegen des vorliegenden Bandes ist es, Gesundheit als literatur- und kulturwissenschaftlichen Forschungsgegenstand neu zu konzeptualisieren: Von einem Gesundheitsverständnis, das Gesundheit primär als Differenzkategorie zur Krankheit auffasst, soll Abstand gewonnen werden; stattdessen werden Begriff und Phänomen der Gesundheit in ihrer eigenständigen Semantik, Geschichte und sozialen Funktionsweise rekonstruiert und analysiert. Das Feld der Literaturwissenschaft wird dabei bewusst in Richtung angrenzender Disziplinen überschritten, die sich ihrerseits ebenfalls mit Semantik, Funktionsweise und Narrativitität von Gesundheit und Gesundheitserzählungen auseinandersetzen. Der besondere Fokus des vorliegenden Bandes liegt auf dem Zusammenhang von Gesundheit und Erzählen in der Moderne, also etwa in der Zeit seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert. Wie viele andere Kategorien, Begriffe und Bezugsgrößen erfährt auch die Gesundheit im Rahmen der Modernisierung eine Destabilisierung. Diese Destabilisierung beruht, sehr allgemein gesprochen, weniger darauf, dass die Gesundheit des Einzelnen in der Moderne besonders gefährdet wäre (zumindest global und statistisch betrachtet dürfte das Gegenteil der Fall sein). Vielmehr wird die Kategorie der Gesundheit in der Moderne immanent dynamisiert: Gegen Ende des 18. Jahrhunderts setzen in ganz unterschiedlichen gesellschaftlichen Bereichen tiefgreifende Veränderungen im Nachdenken über Gesundheit (und Krankheit) ein, deren Auswirkungen zum Teil bis in die Gegenwart hinein spürbar sind. Eben weil die Gesundheit in der Moderne in vielerlei Hinsicht ihre – physiologische, ideologische, ästhetisch-normative – Selbstverständlichkeit verliert, geht sie mit der tendenziell konfliktaffinen Technik des Erzählens eine besonders enge Verbindung ein. Im Folgenden sollen einige Aspekte dieser genuin modernen Dynamisierung der Gesundheit skizziert werden. Um das Jahr 1800 wird im Übergang von der Weimarer Klassik zur Romantik der für die Aufklärung noch weitgehend unproblematische Zusammenhang von Gesundheit, Moralität und Ästhetik aufgelöst. Indem die Romantik und die idealistische Philosophie die Produktivität der Krankheit und selbst des Wahnsinns feiert (vgl. Gabriel und Žižek 2009), werden im Umkehrschluss ‚Gesundheit‘ und ‚gesunder Menschenverstand‘ zu prekär-spannungsreichen – und damit genuin modernen – Kategorien. So bildet die Gesundheit etwa für Immanuel Kant noch einen fraglos positiven Wert, der metaphorisch auch auf den Bereich des Sittlichen übertragen werden kann.8 In entschiedener Abgrenzung zu dieser Positivwer-
8 Vgl. Kant (1974). Für ausführliche Stellenangaben und Kommentare siehe die Artikel „Gesundheit“ und „Gesundheit, moralische“ im Kant-Lexikon (Willaschek et al. 2015, Bd. 1, 841–842).
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tung der Gesundheit stellt zunächst Hegel den ‚gesunden Menschenverstand‘ unter Krankheitsverdacht.9 In diesem Misstrauen gegenüber der Kategorie des Gesunden folgen Hegel im weiteren 19. Jahrhundert dann Marx, Kierkegaard und Nietzsche (vgl. Marx 1974; Kierkegaard 1969; Vonessen 1974). Speziell Nietzsche kann dabei wohl als der erste Philosoph angesehen werden, in dessen Denken sich die Ambivalenz im Verhältnis zur Gesundheit voll ausformuliert: So stellt er passagenweise das Gesunde unter Ideologieverdacht, feiert es andernorts und führt schließlich auch die Möglichkeit komplexer dialektischer Abhängigkeitsverhältnisse zwischen Gesundheit und Krankheit an.10 Als spannungsreiche und eben darum philosophisch produktive Kategorie denken dann im 20. Jahrhundert etwa Sigmund Freud, Hans-Georg Gadamer, Michel Foucault, Giorgio Agamben, Georges Canguilhem, Ferenc Fehér und Agnes Heller über die Gesundheit nach. Die Geschichte der Gesundheit in der Moderne ist eng mit der Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft verknüpft (vgl. Göckenjan 1985). In einer Gesellschaft, die dem eigenen Anspruch nach eine „Gesellschaft der Gleichen“ ist, wird „Gesundheit […] zu einem Menschenrecht.“ (Labisch 1992, 110) Der Anspruch der einzelnen Bürger*innen auf einen möglichst optimalen Gesundheitszustand sowie der gesellschaftliche Imperativ einer Gesunderhaltung der Bevölkerung – sei es zu politischen, ökonomischen oder militärischen Zwecken – bringen im 19. Jahrhundert neue Konzepte und Institutionen der Kopplung individueller und kollektiv-staatlicher Gesundheitsfürsorge hervor: sei es im Bereich der medizinischen Prävention, der Arbeitsmedizin, der Hygiene – mit wirtschaftsassoziierten Teilbereichen wie der Gewerbe- und Fabrikhygiene, dem stärker gesellschaftsstrukturell orientierten Bereich der Sozialhygiene oder mit Hygienebemühungen im Bereich der Stadtplanung, etwa der Trennung von Trinkund Schmutzwassersystemen und konsequenteren Formen der Müllentsorgung –, sei es bei der Etablierung von Unfallversicherungen, Arbeitsschutz und gesetzlichen Krankenkassen (vgl. Schmiedebach 2002). Während zur Mitte des Jahrhunderts Gesundheit „als zu sicherndes und schützendes privates Eigentum definiert oder mit einem durch den Staat zu garantierenden Recht in Verbindung gebracht
9 In den Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie schreibt Hegel: „Tiedemann sagt sehr schief: ‚Georgias ging viel weiter, als irgendein Mensch von gesundem Verstande gehen kann.‘ Das hätte Tiedemann von jedem Philosophen sagen können, jeder geht weiter als der gesunde Menschenverstand; denn was man gesunden Menschenverstand nennt, ist nicht Philosophie, – oft sehr ungesunder.“ (Hegel 1971, Bd. 18, 435) Auch in der Differenzschrift und in der Phänomenologie des Geistes finden sich Ausfälle gegen den ‚gesunden Menschenverstand‘. 10 Siehe etwa Nietzsche (1988, KSA 6, 266). Siehe aus der Forschung: Lotter (2007); Decher (2008); Horn (2011 [2009]); Freregger (2018).
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[worden war]“ (Schmiedebach 2002, 35), lehnen sich etwa seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts Konzeptualisierungen der öffentlichen Gesundheit zusehends an Formen des ökonomischen Denkens an, welche die rationalisierte Industriegesellschaft insgesamt prägen. Gesundheit wird zwar weiterhin als „individuelles Kapital“ verstanden; sie wird aber auch – und zwar in wachsendem Ausmaß – als „öffentliches Gut“ und mithin als „Kapital für eine Gemeinde oder eine Nation“ begriffen (Schmiedebach 2002, 29). So verbindet etwa Max von Pettenkofer, der Begründer der modernen Hygienewissenschaften, in seiner Studie Über den Werth der Gesundheit für eine Stadt von 1873 explizit ökonomisches und gesundheitspolitisches Denken: Gesundheit wird hier als Form des Kapitals verstanden, das vererbt, erworben, vermehrt oder verringert werden kann; die von Staat und Gemeinden anzustrebende Förderung der öffentlichen Gesundheit könne entsprechend als Anlage von Kapital mit entsprechendem Zinsertrag aufgefasst werden (vgl. Schmiedebach 2018, 13–14). Ihre primäre – wenngleich keineswegs ausschließliche – institutionelle Einbindung findet die Gesundheit in der Moderne im medizinischen Bereich. Auch hier lässt sich sehr deutlich eine Dynamisierung im Nachdenken über die Gesundheit erkennen. Etwa seit dem Ende des 18. Jahrhunderts erlebt das medizinische Feld einen Prozess der rasanten Professionalisierung und teildisziplinären Ausdifferenzierung (vgl. Labisch 1992, 109). In literarischen und philosophischen Kreisen stoßen diese Entwicklungen um 1800 keineswegs durchweg auf Zustimmung: Goethe etwa kritisiert den zunehmenden Trend zur Quantifizierung in der Medizin als für den Umgang mit lebendigen Körpern unangemessen (vgl. Bergdolt 1999, 291–292). Und Novalis insistiert ebenso wie andere Romantiker*innen auf der durchaus persönlich-individuellen Dimension der Gesundheit und fordert ein „ganzheitliches System der Gesundheitspflege, für das eine enge Verflechtung von Lebenskunst und Gesundheit, die Aufwertung des Laien, eine individuelle Verantwortung für den körperlichen und geistigen Zustand sowie eine Relativierung der ärztlichen Rolle in der Diätetik charakteristisch war“ (Bergdolt 1999, 299–300). Im weiteren Verlauf des 19. Jahrhunderts werden derartige romantische Gesundheitsideen allerdings zusehends von Konzepten und Institutionen einer professionalisierten Medizin, Hygiene und Sozialpolitik abgelöst. Wie von Michel Foucault prominent in Die Geburt der Klinik (Foucault 1973 [1963]) beschrieben, etabliert sich im 19. Jahrhundert ein nach positivistischen und statistischen Maßgaben operierendes Gesundheitswesen, das immer präzisere Messmethoden und Kriterien zur Diagnose und Definition von Krankheiten hervorbringt, sich aber zugleich immer intensiver für die Gesundheit und das ‚normale‘ – und potenziell staatlich steuerbare – Funktionieren der Gesellschaft interessiert. Die fortschreitende Durchsetzung eines modernen Krankheits- und Gesundheitswesens führt dabei unter anderem
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dazu, dass Gesundheit und Krankheit verstärkt in einen institutionalisierten, medizinisch-wissenschaftlichen Kontext eingebunden werden, während vormalige institutionelle Rahmungen – etwa religiöser Natur – an Bedeutung verlieren (vgl. Labisch 1992, 110). So lässt sich bereits der Titel der ersten großen Rede von Rudolf Virchow, dem Begründer der modernen Sozialhygiene, als Angriff auf den Geist romantischer Medizin verstehen: Über das Bedürfnis und die Richtigkeit einer Medizin vom mechanischen Standpunkt (1845) (vgl. Bergdolt 1999, 303). Die enormen Erfolge einer wissenschaftlich-experimentellen Medizin – etwa in den Bereichen der Physiologie und Zellularpathologie – legitimieren ab der Mitte des 19. Jahrhunderts die Deutungshoheit des medizinischen Feldes über Krankheit und Gesundheit der Bevölkerung und der einzelnen Bürger*innen. Dies ist umso stärker der Fall, als (reale oder scheinbare) Erkenntnissprünge in den Bereichen der Bakteriologie, der Hygiene und schließlich auch der Rassenhygiene die Ausrottung der Infektionskrankheiten umsetzbar erscheinen lassen, eine Reinigung des individuellen sowie des kollektiven Körpers versprechen und insgesamt eine profunde Gesundung von den als dominant empfundenen Übeln der Zeit in Aussicht stellen. Mitunter lässt sich dabei eine „pseudoreligiöse Überhöhung der Naturwissenschaften“ beobachten, denen nun nicht mehr nur die Überwindung körperlicher Leiden, sondern auch eine aktive Positivbeeinflussung kollektiv-staatlicher Belange zugetraut wird (Bergdolt 1999, 305). Während in fortschrittgläubigen Teilen des Bürgertums um 1900 ein mitunter euphorischer Gesundheitsoptimismus um sich greift, formiert sich in anderen Teilen der Bevölkerung zeitgleich ein zunehmendes Unbehagen angesichts szientifischer Verengungen und rationeller und instrumenteller Verfügungsversuche über die Gesundheit der Individuen. Dieses Unbehagen gibt den Nährboden ab für alternativmedizinische, esoterische oder lebensreformerische Bewegungen, wie sie sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts verschiedentlich formieren (vgl. Schmiedebach 2002, 34–35). Die zunehmende institutionell-medizinischen Administration von Krankheit und Gesundheit erweist sich in der Moderne als Effekt und gleichzeitig als Katalysator eines wachsenden staatlichen Interesses am Alltagsleben, an biologischen Prozessen sowie an der Gesundheit der Bevölkerung. Die wachsende Bedeutung der wissenschaftlichen Medizin korrespondiert insofern mit staatlichen Versuchen, die genannten Faktoren aktiv zu beeinflussen. Seit der Mitte des 18. Jahrhunderts sieht Michel Foucault eine Form der Macht sich formieren, „deren höchste Funktion nicht mehr das Töten, sondern die vollständige Durchsetzung des Lebens ist“: Die Fortpflanzung, die Geburten- und die Sterblichkeitsraten, das Gesundheitsniveau, die Lebensdauer, die Langlebigkeit mit allen ihre Variationsbedingungen wurden zum Ge-
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genstand eingreifender Maßnahmen und regulierender Kontrollen: Bio-Politik der Bevölkerung. Die Disziplinen des Körpers und die Regulierungen der Bevölkerung bilden die beiden Pole, um die herum sich die Macht zum Leben organisiert hat. (Foucault 1983 [1969], 135)
In den vierzig Jahren seit seiner Einführung durch Foucault hat sich der Begriff der ‚Biopolitik‘ in Philosophie und Politikwissenschaft als überaus produktiv erwiesen: Aufgegriffen wurde er etwa im Werk von Gilles Deleuze, Donna Haraway, Michael Hardt, Antonio Negri oder Roberto Esposito (vgl. Folkers und Lemke 2014). Biopolitische Fragen, insbesondere die mitunter spannungsreiche Vermittlung von kollektiven/staatlichen und individuellen Konzepten von Gesundheit, sind in der Gegenwart von ungebrochener Relevanz, etwa in den Bereichen Ernährung und Fitness oder im Zusammenhang mit dem demografischen Wandel: Der Gesundheitszustand der Individuen ist hier offenkundig von breiterem gesellschaftlichen Interesse – sei es im Kontext von Krankenversicherungen oder der Finanzierung der Rente. Allerdings tut sich in Zusammenhängen wie den genannten auch leicht die Gefahr auf, die Selbstbestimmung der Individuen zugunsten kollektiver Prioritäten zu beschränken. So lässt sich hinsichtlich der Blickweise auf deviante Körper oder psychischer Zustände – wie im Falle körperlicher oder geistiger Behinderung – mitunter eine deutliche Divergenz zwischen Selbstzuschreibungen oder aktivistischen Reframings und öffentlicher Perspektivierung ausmachen. Schließlich erscheint angesichts der Möglichkeiten einer technisch-instrumentellen Beeinflussung und potentiellen ‚Steigerung‘ von Gesundheit – etwa im Zusammenhang mit der (Selbst-)Quantifizierung des Menschen im Kontext von Big Data, den (bio-)technischen Erweiterungen menschlicher Fähigkeiten sowie den Aussichten auf genetische Manipulationen menschlicher Eigenschaften – die Beantwortung von Fragen nach dem Verhältnis kollektiv-staatlicher und individueller Konzepte von Gesundheit in Gegenwart und projizierter Zukunft als besonders dringlich. Ein weiterer Indikator für eine Veränderung im Nachdenken über Krankheit und Gesundheit in der Moderne ist darin zu sehen, dass die Attribute ‚gesund‘ und ‚krank‘ zunehmend als ideologische ebenso wie als ästhetisch-normative Labels an Relevanz gewinnen.11 Besonders deutlich wird dies in den frühen Jahren des 20. Jahrhunderts, mit ihrer Opposition von lebensbejahendem Vitalismus und dekadentem Ästhetizismus, von Lebensreform und ‚Fin de siècle‘ sowie all den anhängigen ästhetischen, philosophischen und weltanschaulichen Oppositionen und 11 Die Habilitationsschrift von Thomas Anz Gesund oder krank? Medizin, Moral und Ästhetik in der deutschen Gegenwartsliteratur bietet besonders in ihrem Einleitungskapitel einen hilfreichen Überblick zur Gesundheit-Krankheit-Dichotomie in der Moderne seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert (Anz 1989, 1–52).
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Differenzen. Bereits in der Romantik und dann vollends in der Zeit um 1900 verlieren die Labels ‚krank‘ und ‚gesund‘ ihren fraglos-suggestiven Wertungscharakter. In ihren ideologischen Implikationen erweisen sie sich nunmehr als hochgradig abhängig von der jeweiligen Weltanschauung sowie ihrer situationell-konkreten Korrelierung zueinander. So notiert etwa Franz Kafka 1911 im Tagebuch zum ‚Typus‘ der Naturheilkundler*innen: „Behandlung ihrer Gesundheit, als wenn es eine Krankheit wäre oder zumindest ein Verdienst (womit ich nicht tadele) mit allen sonstigen Folgen eines so forcierten Gesundheitsgefühls.“ (Kafka 2002, 982–983) Und Thomas Mann bemerkt – erkennbar mokant – in seinem Essay Vorwort zu einem Roman in Bezug auf die ästhetischen und weltanschaulichen Positionen der Lebensreformbewegung: „Es hat mit dem Begriff der Gesundheit eine nicht minder heikle Bewandtnis als mit dem des Talentes. Man kann auf gesunde Art krank und auf kranke Art gesund sein.“ (Mann 2002 ff., Bd. 14.1, 394) Offensichtlich treten hier zur medizinisch-körperlichen Dimension der Gesundheit andere, ästhetisch-normative oder politisch-ideologische Wertungskomponenten hinzu. Die Komplexität und die vielfältigen Teilaspekte des Themas ‚Gesundheit in der Moderne‘ können anhand der obigen Ausführungen freilich nur angedeutet werden. Als deutliche Tendenz lässt sich jedoch festhalten, dass die Gesundheit in der Moderne vielfach zu einer dynamischen, konflikt- und spannungsreichen Kategorie avanciert – und damit auch zum Anlass des Erzählens sowie potenziell zum Untersuchungsgegenstand narratologischer Forschungen werden kann.
4 Gesundheit und Narratologie Die Beiträge des vorliegenden Bandes widmen sich dem Thema ‚Gesundheit erzählen‘ aus einer Vielzahl disziplinärer Perspektiven. Diese Interdisziplinarität hat zur Folge, dass die hier versammelten Beiträge nicht nur unterschiedliche Formen von Erzählungen beleuchten, sondern auch in ihren methodischen Zugriffen variieren. Diese reichen von der klassischen Narratologie über die konversationsanalytische Erzähltextanalyse bis hin zu der Berücksichtigung neuerer narratologischer Betätigungsfelder, wie beispielsweise dasjenige der Small Stories. Die hier untersuchten Formen von Erzählungen decken ein breites Spektrum des Untersuchungsbereichs der aktuellen Erzählforschung ab und umfassen fiktionales und faktuales Erzählen, literarisches und nicht literarisches Erzählen sowie mündliches und schriftliches Erzählen. Einen weiten Erzählbegriff, wie er aufgrund der Formenvielfalt und transsowie interdisziplinären Relevanz des Untersuchungsgegenstands Gesundheit er-
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forderlich scheint, setzt etwa Matías Martínez mit seiner Minimaldefinition des Erzählens an: „Erzählen ist Geschehensdarstellung + x“ (Martínez 2017, 3). Diese Definition rückt die Darstellung eines Geschehens, also die Beschreibung eines konkreten, temporal und kontingent strukturierten Sachverhalts, in den Vordergrund. Zu dieser grundlegenden Eigenschaft müssen dann – je nach Erkenntnisinteresse und theoretischem Rahmen – weitere, in ihrer spezifischen Anlage variable und heuristisch zu bestimmende Merkmale hinzutreten (vgl. Martínez 2017, 2–3). Drei dieser potenziellen Merkmale – tellability, Ereignishaftigkeit und Erfahrungshaftigkeit – sollen hier exemplarisch thematisiert und auf ihre Relevanz für die Thematik ‚Gesundheit erzählen‘ hin geprüft werden. Dort, wo Gesundheit nicht mehr nur als etwas selbstverständlich Gegebenes betrachtet wird, sondern als etwas, das erarbeitet und aktiv hergestellt werden muss, gewinnt sie an tellability. Das aus der konversationsanalytischen Erzählanalyse stammende Konzept beschreibt die Relevanz, welche einer Geschichte in einer bestimmten Erzählsituation zukommt, und mithin die Bedingungen, unter denen ein Geschehen überhaupt bedeutsam genug erscheint, um erzählt zu werden (vgl. Martínez 2017, 5). In therapeutischen – etwa psychoanalytischen – Kontexten, aber auch in Genres der Selbstreflexion kann sich die tellability von Gesundheit dadurch manifestieren, dass von psychischen oder physischen Krankheiten Betroffene eben nicht nur über ihre Krankheit sprechen, sondern insbesondere auch Gesundheit zum Thema machen, etwa indem sie normative Klassifizierungen hinsichtlich von Krankheit und Gesundheit hinterfragen und ihr subjektives Empfinden von Gesundheit durch die Narrativierung von Erlebnissen charakterisieren – oder ein solches Empfinden sogar erst qua Narrativierung ausbilden. In praxeologischen Genres wie der Ratgeberliteratur oder in utopischen Erzählungen von zukünftigen Gesundheitspraktiken tritt die tellability von Gesundheitserzählungen noch deutlicher zutage, wenn Gesundheit als anzustrebendes Ziel eines persönlichen oder gesellschaftlichen Entwicklungsprozesses markiert wird. In enger Wechselbeziehung zu dem Charakteristikum der tellability steht die Ereignishaftigkeit von Erzählungen. Unter ‚Ereignishaftigkeit‘ versteht die Narratologie die für viele Erzählungen handlungstragende Durchbrechung einer normativen Ordnung (vgl. Hühn 2010, 6–7). Da Gesundheit konventioneller Weise als eine Norm begriffen wird, welche von der Krankheit destabilisiert wird, stellt sich die Frage, in welchen Situationen Gesundheit respektive die mit ihr verbundenen Praktiken nun selbst einen Normbruch darzustellen vermögen – etwa indem Gesundheit absolut gesetzt wird und durch ungewöhnliche Körperpraktiken verbessert werden soll, oder aber indem die aus hochgradig subjektiven Gesundheitskonzeptionen resultierenden Handlungen normative Kategorisierungen –
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etwa religiöser, ideologischer oder biopolitischer Art – durchbrechen und auf diese Weise bestehende Ordnungen subvertieren, hinterfragen oder außer Kraft setzen.12 Während weite Teile der Narratologie die Geschehensdarstellung zum Kernkriterium erzählerischer Äußerungen machen, zeichnen sich Monika Fludernik zufolge Erzählungen nicht vorrangig durch Ereignisketten, sondern durch ihre Erfahrungshaftigkeit aus (vgl. Fludernik 1996, 9). Erzählungen lassen sich demnach als Vermittlungen der Erfahrungen anthropomorpher Figuren fassen, die „leben, handeln, denken und fühlen“ (Fludernik 2013 [2006], 14). Narrativität ermöglicht dieser Sichtweise zufolge ein Nachempfinden von menschlichen Erfahrungen und befriedigt damit ein humanes Grundbedürfnis (vgl. Fludernik 1996, 26). Für eine narratologische Untersuchung von Gesundheitserzählungen stellt sich in diesem Zusammenhang insbesondere die Frage, welche erfahrbare Qualität Gesundheit in Erzählungen zugesprochen wird respektive welche Erfahrungsdimension Gesundheitserzählungen intersubjektiv zu vermitteln suchen. Die beispielhaften Ausführungen zu den drei genannten Merkmalen zeigen, dass eine Erzähldefinition wie diejenige von Matías Martínez aufgrund ihrer kategorialen Offenheit besonders geeignet ist, um Ansätze unterschiedlicher narratologisch arbeitender Disziplinen zu integrieren, ohne dabei jedoch den Erzählbegriff jener Beliebigkeit auszusetzen, die angesichts der vielfach konstatierten Allgegenwärtigkeit von Erzählungen verschiedentlich moniert wurde.13 Für den gegebenen Zusammenhang von grundlegender Bedeutung ist dabei, dass die Dynamik, wie sie Martínez’ Definition voraussetzt, der geläufigen Perspektivierung von Gesundheit als statisches Phänomen klar entgegensteht. Entsprechend arbeiten die Beiträge dieses Bandes auf unterschiedliche Weise heraus, in welch vielfältigen Zusammenhängen das Konzept Gesundheit nicht nur als exponierter Zustand erfahrbar wird, sondern selbst eine Dynamisierung erfährt: etwa, indem Gesundheit erst ausgehandelt werden muss oder indem sie als steigerbare Größe oder erstrebenswertes Ziel verstanden wird.
12 Wolf Schmid nennt als Merkmale für Ereignishaftigkeit die Realität und Resultativität einer Zustandsveränderung, welche sich wiederum durch Relevanz, Imprädiktabilität, Konsekutivität, Irreversibilität und Non-Iterativität auszeichnen muss (vgl. Schmid 2007, 99–100.). Diesem Ansatz zufolge würden konzeptuelle Brechungen von Gesundheitsnormen allein noch nicht zur Ausbildung von Ereignishaftigkeit sowie der anhängigen narrativen Potentiale ausreichen – wohl aber individuelle oder kollektive Handlungen, die aus solchen Normbrüchen potenziell resultieren. 13 Von der Narratologie wird diese Beliebigkeit einhellig als Schattenseite einer gestiegenen Aufmerksamkeit für das Erzählen als kulturelle Praktik gewertet. Vgl. u. a. Kreiswirth (2005, 378); Ryan (2006, 6).
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5 Gesundheit erzählen: Drei Zugänge Zwecks einer tentativen Ordnung der Vielzahl möglicher Zugangsweisen zum Komplex ‚Gesundheit erzählen‘ wird im vorliegenden Band eine Aufteilung in drei Bereiche vorgenommen, die jeweils mit spezifischen Teilaspekten dieses Komplexes korrespondieren. Unter dem Begriff ‚Ästhetik‘ werden Beiträge versammelt, die sich der (künstlerischen) narrativen Darstellung von Gesundheit, ihrer Deskription und möglichen Versuchen ihrer Definition widmen. Mit dem Begriff ‚Performanz‘ werden Zugangsweisen zum Thema ‚Gesundheit erzählen‘ fokussiert, die sich dem Akt des Gesundheitserzählens selbst widmen oder aber die Herstellung, Modifikation oder Rahmung von Gesundheit durch die Praxis des Erzählens in den Blick nehmen. Unter dem Begriff ‚Ideologie‘ schließlich werden Beiträge gruppiert, die sich mit den normativen oder politischen Implikationen einer Verwendung, Attribution oder Reklamation des Labels ‚gesund‘ auseinandersetzen. Die Wahl dieser drei Schwerpunkte soll im Folgenden anhand einer Reihe exemplarischer Kontexte plausibilisiert werden, innerhalb derer sich ästhetisch-deskriptive, performative oder ideologische Perspektivierungen des Zusammenhangs von Gesundheit und Erzählen jeweils als produktiv erweisen.
5.1 Ästhetisch-deskriptive Perspektiven Wie bereits dargelegt wurde, bietet sich die Gesundheit für eine literarische oder allgemein narrative Diskussion in herausgehobenem Maße an, insofern die Multikategorialität und tendenzielle symptomatische, phänomenale oder semiotische Unverfügbarkeit der Gesundheit eine Einkreisung des Phänomens im offenen Medium der Literatur sowie allgemein im Rahmen dynamischer Erzählverläufe besonders begünstigt. Narrative Texte im Allgemeinen und literarische Texte im Besonderen scheinen geeignet, Gesundheit als subjektive Erfahrung, aber auch als soziales Zuschreibungsphänomen in den Blick zu nehmen. Dabei wird die strikte Trennung zwischen Krankheit und Gesundheit nicht selten einer kritischen Prüfung unterzogen: So werden Menschen von der Gesellschaft mitunter auch dann als ‚krank‘ oder ‚behindert‘ deklariert, wenn ihre jeweilige körperliche oder seelisch-psychische Alteration mit gar keinem subjektiven Leidensdruck verbunden ist, die Begriffe ‚krank‘ oder ‚behindert‘ also (zunächst) kein subjektives Korrelat aufweisen.14 Literarische Texte, mit ihrem privilegierten Zugang zu psy14 Von besonderem Interesse sind in diesem Zusammenhang diachrone Prozesse der (Ent-)Pathologisierung, etwa die fortschreitende Pathologisierung mann-männlichen Sexualverhaltens im 19. Jahrhundert, die in der westlichen Welt seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts
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chischen Innenwelten und ihren Möglichkeiten multiperspektivischer Darstellung, können diese Zuschreibungsprozesse transparent machen und potenziell auch dekonstruieren. So wirken etwa in Alice Munros Demenz-Erzählung Als der Bär über den Berg kam die dementen Figuren sehr viel zurechnungsfähiger als die ‚gesunden‘ Menschen, sodass die primäre Zuweisung von Gesundheit und Krankheit in Zweifel gezogen wird. Es stellen sich in diesem Zusammenhang grundsätzliche Fragen nach alternativen Gesundheitskonzepten, nach Möglichkeit und Legitimität statistischer oder normalistischer Definitionen von Gesundheit sowie nach der speziellen Eignung der Literatur, überkommene Gesundheitsbegriffe zu hinterfragen.15 In stärkerem Maße als Krankheit scheint Gesundheit eine Frage der Selbstinterpretation des einzelnen Subjekts zu sein. So bemerkt etwa der Dichter Christoph Martin Wieland bereits 1778: „So lang ein Mensch sich gesund fühlt, hat er auch recht, sich für gesund zu halten“ (Wieland 2011 [1778], 95). Literarische Texte eigenen sich in besonderem Maße dazu, derartige subjektive Vorstellungen von Gesundheit zu formulieren und intersubjektiv zu plausibilisieren. Aus einer diachronen Perspektive wird ersichtlich, in welch hohem Maße Gesundheit und die sie bedingenden Rahmenfaktoren einem historischen Wandel unterliegen. Stellte beispielsweise noch bis weit ins 20. Jahrhundert hinein auch in westlichen Ländern Unterernährung eine manifeste Bedrohung für die Gesundheit dar, leiden in industrialisierten Ländern mittlerweile immer mehr Men-
dann wieder sukzessive zurückgenommen wurde. Die Aids-Krise der 1980er und frühen 1990er Jahre war nicht zuletzt deshalb so traumatisch, weil sie die historisch mühsam errungene Disjunktion von Homosexualität und Krankheit wieder zurückzunehmen drohte und damit die emanzipatorisch so überaus relevante Vorstellung des ‚gesunden Homosexuellen‘ neuerlich in Frage stellte. Vgl. hierzu grundlegend Sontag (2002 [1991]). 15 Die enge Verbindung von Gesundheit und Norm etabliert sich erst in der Moderne. So konstatiert Bergdolt: „Ungeachtet gewisser Ansätze im Cartesianismus reduzierte sich der Gesundheitsbegriff erst im 19. Jahrhundert auf meßbare Größen. Heilung wurde für die meisten Ärzte zu einem eher technischen Vorgang, Krankheit bedeutete dagegen eine Abweichung von der Norm.“ (Bergoldt 1999, 316) Siehe zum Normalismus und speziell zum normalistischen Denken in der Moderne – mit vielfachen Verweisen auf Fragen von Krankheit und Gesundheit – Link (2006). Ein rein physiologisches (normales Funktionieren der Organe) oder statistisch-normalistisches (Mittelwert quantifizierbarer physiologischer Werte innerhalb der Bevölkerung) Verständnis der Gesundheit wird aktuell vonseiten der integrativen Medizin, der daseinsanalytischen Medizin, der Psychoanalyse, der Disability Studies und zahlreicher anderer geistes- und humanwissenschaftlicher Teildisziplinen entschieden kritisiert (vgl. Grönemeyer et al. 2008). Der reale Einfluss einer solchen Kritik auf die dominanten Ausprägungen der Schulmedizin dürfte allerdings als eher gering einzuschätzen sein. Auch wenn sich heute wohl nur noch wenige Ärzt*innen explizit auf ein rein physiologisches oder statistisches Gesundheitsverständnis berufen dürften, sollte die faktisch fortwirkende Relevanz eines solchen Gesundheitsverständnisses für die medizinische Praxis nicht unterschätzt werden.
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schen an Übergewicht und Adipositas. Als Reaktion hierauf werden jedes Jahr unzählige Bücher, Zeitschriften, Fernsehsendungen und Websites veröffentlicht, die sich mit Gewichtsreduzierung und neuen Gesundheitstrends auseinandersetzen.16 Gesteigerte Aufmerksamkeit kommt diesen und verwandten Themen auch auf social media-Plattformen wie Facebook und Instagram oder auf Lifestyle-Blogs zu, im Rahmen moderner Prosumer-Medien also, bei denen Informationsrezipienten und -produzenten keine distinkten Gruppen mehr bilden und Informationen oftmals außerhalb jedweder qualifizierten Kontrolle zirkulieren. Sowohl populärwissenschaftliche Sachbücher und Zeitschriften als auch Gesundheitsportale im Internet bedienen sich Heilungs- und Gesundheits-Narrativen, die einerseits medizinisches Wissen popularisieren und an medizinische Schreibweisen anknüpfen, zugleich aber nicht selten deutlich ideologische Implikationen erkennen lassen. Chiasamen, Avocados und grüne Smoothies fungieren hier mitunter nicht allein als zentrale Elemente bestimmter Ernährungstrends, sondern geraten zu Lifestyle-Produkten mit weltanschaulicher Signalwirkung oder avancieren gar zu Accessoires einer säkularen Surrogat-Spiritualität. Eine Untersuchung der sprachlichen und argumentativen Anlage dieser Diskurse vermag offenzulegen, in welchen (literarischen) Traditionen derartige faktuale Gesundheitsnarrationen stehen, welche (populär-)wissenschaftliche Erkenntnisse ihnen zugrunde liegen und mit welchen (ästhetischen) Darstellungsverfahren Gesundheit hier inszeniert wird.
5.2 Performative Perspektiven Erzählungen werden nicht nur eingesetzt, um Gesundheit zu beschreiben oder ein bestimmtes Gesundheitsverständnis zu vermitteln; die Technik des Erzählens selbst kann zur performativen Herstellung von Gesundheit genutzt werden. Bereits in der antiken Dramenpoetik des Aristoteles wird der Kunsterfahrung im Konzept der kátharsis eine affektregulierende und in der Folge heilsame Wir16 Das Körperideal der Schlankheit ist gleichfalls ein Produkt der Moderne. Bergdolt bemerkt hierzu: „Die schichtspezifischen Unterschiede im Bereich der Ernährung veränderten sich im 19. Jahrhundert. In der Bürgerschaft wurde der schlanke, produktive Körper vorbildlich, der sich – Puritanismus und bestimmte Traditionen des christlichen Büßerideals standen wohl Pate! – für die Erzeugung von Gütern, für Wohlstand und soziale Verantwortung aufzuopfern schien. Dagegen zeigten die Massen, aber auch diejenigen, welche den sozialen Abstieg fürchteten, ein zunehmendes Konsumverhalten. Die traditionell den oberen Gesellschaftsschichten eigene Gewohnheit, viel zu essen und dies auch zu demonstrieren, erhielt sich so eher im Volk, weniger schon bei den sozialen Aufsteigern.“ (Bergdolt 1999, 310–311).
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kung zugeschrieben, wobei es nicht allein der Inhalt der Tragödie, sondern die ästhetische Erfahrung selbst ist, welche die Reinigung der (bzw. von den) Gefühle(n) bedingt. Die heilende Wirkung der Kunst wird dann in Antike, Mittelalter und Früher Neuzeit immer wieder thematisiert, wobei der Einbindung der Kunst in politische oder religiöse Kontexte eine herausgehobene Bedeutung zukommt: Man denke nur an die religiöse Semantik der Wortfamilie Heil, Heiland, Seelenheil etc. (vgl. Wachinger 2001; Classen 2011). Für die moderne Literatur jedoch erweist sich die Forderung nach einer Kunst, welche selbst heilend wirken soll, als problematisch. Ein pragmatischer Anspruch, wie derjenige auf eine bewusste Herstellung oder Förderung von Gesundheit, scheint dem Grundsatz der Kunstautonomie – also der Befreiung künstlerischer Diskurse von heteronomen Funktionsanforderungen – zu widersprechen. Tatsächlich bringt das 19. Jahrhundert mit seiner fortschreitenden Ausdifferenzierung gesellschaftlicher Teilbereiche auch eine tendenzielle Trennung literarischer und (dem Anspruch nach) heilender Textgenres mit sich, sodass neue, dezidiert epistemische Genres wie etwa das medizinische Lehrbuch entstehen, die keinerlei künstlerischen Anspruch mehr erheben (was einen Gebrauch narrativer Verfahren in diesen Werken freilich nicht ausschließt). Gleichwohl bleibt die Idee einer gesundheitsaffizierenden respektive gesundheitsfördernden Wirkung von Literatur auch in der Moderne weiterhin wirksam und setzt sich zum Teil bis in die Gegenwart fort:17 Als historisch besonders abschreckende Beispiele können die von Staats wegen verordnete ‚gesunde‘, dezidiert nicht-‚entartete‘ Kunst des Nationalsozialismus oder die anti-‚formalistische‘ Kunst des Sozialistischen Realismus angesehen werden, die beide der Errichtung eines ‚gesunden‘ – de facto totalitären – Staatswesens dienen sollten. Politisch vergleichsweise weniger bedenklich erscheint die These einer beruhigenden, heilenden oder ‚veredelnden‘ Wirkung von Literatur und Erzählen, wie sie in humanistisch inspirierten Bildungsprogrammen und Curricula an Schulen und Universitäten ebenso Niederschlag gefunden hat wie etwa in der weitgehend unhinterfragt positiv bewerteten Erziehungs- und Sozialisationspraxis des Märchenvorlesens für Kinder. Jenseits des im engeren Sinne literarischen Bereichs wäre im Zusammenhang mit der Erzählperformanz von Gesundheit auf die affektstimulierende oder -regulierende Funktion semi-literarischer Gebrauchsgenres wie Brief oder Tagebuch oder an die gegenwärtigen Versuche positiver Resonanzerzeugung im Bereich 17 An dieser Stelle sei beispielhaft auf Erika Wrights Untersuchung Reading for Health. Medical Narratives and the Nineteenth-Century Novel verwiesen. Wright arbeitet an Texten von Austen, Brontë, Dickens, Martineau und Gaskell heraus, inwiefern Protagonisten durch den Akt des Lesens ihre Gesundheit verbessern oder gar Formen der Heilung herbeiführen (Wright 2016).
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von social media hinzuweisen.18 Besondere Beachtung verdienen darüber hinaus praxeologische Genres wie das Rezept und seine etwaigen narrativen (etwa situationsbeschreibenden) Framings, Hinweise zur Gesundheitsförderung in Zeitungen und anderen Periodika oder die zeitgenössische, so überaus vielgestaltige Ratgeberliteratur. Nicht zuletzt kommt ‚heilenden Narrationen‘ eine eminente Bedeutung innerhalb im engeren Sinne medizinischer Diskurse zu, etwa in der Psychoanalyse und allgemein in der Psychotherapie. Bereits der für die Geschichte der Psychoanalyse zentrale, von Bertha Pappenheim geprägte Begriff der „talking cure“ (Breuer und Freud 2011 [1991], 50) verweist auf den Zusammenhang von sprachlicher Performanz und Heilung. In gesprächsbasierten Formen der Psychotherapie wird einerseits die Fähigkeit zum kohärenten Erzählen als Gesundheitsindikation verstanden; andererseits wird Erzählen selbst als zentrale Technik eingesetzt, um Gesundheit zu produzieren oder (wieder-) zu erlangen.19 Derartige Formen der narrativen Medizin sind unter anderem Forschungsgegenstand der Medical Humanities.20 Dieses Feld hat sich in den letzten Jahren vor allem in der angloamerikanischen Forschung ausdifferenziert und nebst einem deutlichen Fokus auf der Kulturgeschichte, Semantisierung und Bewertung von Krankheiten auch neue Schwerpunkte im Bereich der Gesundheitsforschung gesetzt: Im Fokus etwa der sogenannten Health Studies stehen unter anderem sprachwissenschaftliche Untersuchungen von Gesundheitskommunikationsformen, etwa von Patientenberichten.21 Neben derartigen Formen der Krankheits- und Gesundheitserzählungen innerhalb eines therapeutischen Settings kann auch ein Erzählen über das dynamische Geschehen der Psychotherapie selbst die Grundlage narratologischer Untersuchungen bilden: sei es in fiktionalen Formaten wie den Romanen von Irvin Yalom, in Serien und Filmen wie A Dangerous Method, In Treatment oder Freud oder in der realen Supervision von Psychotherapeut*innen. 18 Vgl. allgemein zur Resonanz als Beschreibungskategorie des Weltverhältnisses Hartmut Rosa (2016a) sowie speziell zu Resonanz im Kontext von social media Rosas Interview mit der Neuen Zürcher Zeitung vom 11. März 2016 (Rosa 2016b). 19 Bereits das erste im engeren Sinne psychoanalytische Werk, Josef Breuers und Sigmund Freuds Studien über Hysterie von 1895, bringt die Gesundheit in Zusammenhang mit der Fähigkeit zur kohärenten Narration. Josef Breuer schreibt summarisch über den Therapieprozess der Anna O.: „So wurden die Kontrakturparesen und Anästhesien, die verschiedensten Seh- und Hörstörungen, Neuralgien, Husten, Zittern u. dgl. und schließlich auch die Sprachstörungen ‚wegerzählt‘.“ (Breuer und Freud 2011 [1991], 55) Für eine zeitgenössische Perspektive siehe Boothe (2011). 20 Zum Begriff der ‚Narrativen Medizin‘ siehe Greenhalgh (1998). 21 Einen Einblick in die linguistischen Untersuchungen aus dem Bereich der ‚Health Studies‘ bietet das Routledge Handbook of Language and Health Communication (Hamilton et al. 2014).
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5.3 Normative Perspektiven In den Gesprächen mit Eckermann erklärt Goethe: „Das Klassische nenne ich das Gesunde, und das Romantische das Kranke.“ (Eckermann 1999, 324) Der Einsatz des Labels ‚gesund‘ als normative Kategorie findet sich innerhalb der poetologischen und politischen Diskussionen der Moderne immer wieder.22 Gerade in der Literatur der frühen Moderne bilden ein dekadenter Gesundheitsverdacht einerseits und ein forciert-affirmatives Gesundheitsverständnis andererseits wichtige Themen der poetologischen Diskussion: Die dekadenzpoetischen und pathophilen Tendenzen der Zeit stehen mitunter quer zu ebenfalls genuin modernen, vitalistischen, lebensreformerischen und rechts-nietzscheanischen Strömungen. In der häufig polemischen, wo nicht gar denunziatorisch-vorwurfsvollen Gegenüberstellung von ‚gesunder‘ und ‚kranker‘ Kunst und Kultur – prominent etwa in Max Nordaus politisch-ästhetischer Weltanschauungsschrift Entartung (1892/93) – sind dabei zum Teil bereits Denk- und Argumentationsweisen angelegt, die während der Zeit des Nationalsozialismus zu Ideologemen des ‚gesunden Volkskörpers‘ ausgebaut und zur Legitimationen von Massenvernichtung und Eugenik herangezogen werden.23 Auch in der offiziellen Literaturkritik der DDR bildet der Rekurs auf das ‚gesunde Volksempfinden‘ ein wirkmächtiges ideologisches Argument zur Diffamierung nicht-linientreuer Literatur (vgl. Lehmann 1991). In der Gegenwart nun scheinen fast sämtliche romantische Fermente der Idealisierung von Krankheit einem umfassenden Produktivitäts- und Gesundheitsimperativ gewichen zu sein. Die miteinander verzahnten Kategorien ‚Gesundheit‘ und ‚Sicherheit‘ avancieren zu zentralen (bio-)politischen Argumenten der sozialen Kontrolle und zu Legitimationsgrundlagen für staatliche Eingriffe in die Freiheits- und Privatsphäre des Individuums: Dies zeigt sich beispielhaft im Zusammenhang mit den immer strengeren Einschränkungen von Tabakkonsum im öffentlichen Raum und findet seine historisch bisher wohl extremste Manifestation in den globalen Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie (womit über die Legitimität dieser Maßnahmen vorderhand nichts ausgesagt sein soll). Derartige Eingriffe in die Rechte des Einzelnen provozieren in freiheitlichen Gesellschaften mitunter massive Gegen- und Protestreaktionen, wobei narrativen Techniken eine nicht zu unterschätzende Rolle zukommt: sei es in faktualen Formaten wie Zeitungsartikeln, öffentlichen Kundgebungen und Blogs oder aber in fiktional-künstlerischen Formaten. Ein prominentes Beispiel aus dem literarischen Bereich ist Juli Zehs Roman Corpus Delicti (2009), in dem die Autorin 22 Speziell für die literarische Moderne siehe Anz (1986) sowie für die Literatur der 1960er und 70er Jahre Anz (1989). 23 Vgl. die Überblicksdarstellung von Forsbach (2018).
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vor den inhumanen und potenziell freiheitsgefährdenden Folgen der Organisation einer Gesellschaft rund um den Zentralwert der Gesundheit warnt. Zehs Roman bildet dabei nur ein Beispiel des in Gegenwartsliteratur und -film florierenden utopischen oder dystopischen Erzählens, in welchem Vorstellungen von Gesundheit, sozialer oder politischer Kontrolle sowie allgemein gelingenden oder misslingenden Lebens von unübersehbarer Bedeutung sind. Gegenwärtige Entwicklungen an der Schnittstelle der Medizin-, Nano- und Gentechnik sowie dem zugehörigen Pool der sogenannten Converging Technologies, die auf eine ‚Verbesserung‘ der Physis des Menschen oder seiner kognitiven Fähigkeiten abzielen, verleihen ethischen und politischen Fragen des Umgangs mit Gesundheit besondere Brisanz. Gesundheit wird hier nicht selten als instrumentell herstellbare Größe begriffen, wobei Futurologen wie Ray Kurzweil als Endpunkt der aktuellen technischen Entwicklungen gar die Unsterblichkeit des Menschen imaginieren (vgl. u. a. Kurzweil 2006). Gerade in Hinblick auf die ethischen Implikationen solcher unter dem Terminus ‚Human Enhancement‘ subsumierbarer Praktiken bedarf es der gesellschaftlichen Aushandlungsprozesse, wie sie nicht selten im literarisch-fiktionalen Modus stattfinden: Neben Juli Zehs Roman Corpus Delicti können Benjamin Steins Replay (2012) oder Eugen Ruges Follower (2016) als einschlägige Beispiele genannt werden – Romane, welche die aktuellen Entwicklungen im Bereich normativer Gesundheitserzählungen dezidiert kritisch perspektivieren.
6 Zu den Beiträgen Bereits dieser Überblick dürfte deutlich gemacht haben, dass eine strikte Trennung zwischen den genannten drei Zugangsweisen im Einzelfall nicht immer möglich ist: Deskriptive, performative und normativ-ideologische Perspektiven auf das Thema ‚Gesundheit erzählen‘ gehen häufig ineinander über oder unterhalten komplexe Abhängigkeitsverhältnisse untereinander. So behandeln denn auch viele der in diesem Band versammelten Aufsätze nicht nur einen einzelnen der genannten Aspekte, sondern eröffnen Verbindungen zu zwei, wenn nicht gar zu allen dreien der angeführten Perspektiven. Die Zuordnung der Aufsätze zu je einer der drei Zugangsweisen ist entsprechend nicht exkludierend gemeint, sondern soll lediglich den Schwerpunkt des jeweiligen Textes anzeigen, um auf diese Weise die Orientierung innerhalb des Bandes zu erleichtern. MICHAEL NAVRATIL eröffnet den Abschnitt zu deskriptiven Perspektiven auf die Gesundheit mit einer Untersuchung zu Darstellung und Problematisierung der Gesundheit im Werk von Thomas Mann. In einem Durchgang durch Manns
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Gesamtwerk identifiziert Navratil drei zentrale Gesundheitskonzeptionen: den dekadenten Gesundheitsverdacht, die instrumentelle Krankheitswahl sowie die Autonomie des Körpers, also eine weitgehende Entkopplung von körperlichen Zuständen und intellektueller Selbstauslegung insbesondere in Manns letzter Erzählung Die Betrogene (1953). Bei der Betrachtung des Komplexes Gesundheit in Manns Werk treten konzeptionelle Entwicklungslinien auch hinsichtlich der Themen Determinismus, Moralismus sowie etwaiger Korrespondenz- und Abbildungsverhältnisse zwischen körperlicher Materialität und (Selbst-)Deutung hervor. JANA VIJAYAKUMARAN setzt sich in ihrem Beitrag mit Gesundheitsdiskursen in naturalistischen Erzähltexten auseinander, insbesondere in Johannes Schlafs Peter Boies Freite (1903) und Rudolf Herzogs Der Graf von Gleichen (1901), Hanseaten (1909) und Die Stoltenkamps und ihre Frauen (1917). Als vereinendes Element der Texte arbeitet Vijayakumaran die Ambition heraus, Formen eines ‚gesunden‘ Erzählens zu entwickeln: Krankheit soll hier nicht nur auf der Ebene des Inhalts, sondern auch auf der Ebene der Narration überwunden werden. In der Zusammenschau inhaltlich-ideologischer Gesundheitsaspekte und ‚gesunder‘ Gestaltungsprinzipien treten dabei Grundzüge einer monistischen Ästhetik zutage. MONIKA CLASS diskutiert in ihrem Beitrag die Bedeutung der Gesundheit für das Genre der Krankheitsmemoiren, insbesondere in Hilary Mantels Giving up the Ghost (2003), Gillian Roses Love’s Work (1995) und John Bayleys Iris: A Memoir of Iris Murdoch (1989). Class zufolge vermeiden die untersuchten Texte erfolgreich die Postulierung eines normativen Gesundheitsverständnisses, ohne sich deshalb jedoch ausschließlich an ein Nischenpublikum zu richten. Im Rückgriff auf phänomenologische Ansätze zur körperlichen Erfahrung von Gesundheit und Krankheit argumentiert Class, dass die Lektüre von Krankheitsmemoiren selbst als eine Form der Körpererfahrung verstanden werden könne: Im kontrastierenden Abgleich der eigenen Körperwahrnehmung mit derjenigen der Figuren werde Gesundheit, die sonst eher einen unauffälligen Hintergrund des Erlebens bildet, allererst erfahrbar. FRANK L. SCHÄFER widmet sich in seinem Aufsatz dem deskriptiv-juristischen Verständnis von Gesundheit. In einem Durchgang durch verschiedene Rechtsbereiche stellt Schäfer die Diversität juristischer Gesundheitsbegriffe dar, zeigt die Schwierigkeiten auf, die rechtliche Kodifikationen von Gesundheit mit sich bringen, und geht der Frage nach, wie Gesundheit und Krankheit juristisch vermittelt und zum Teil auch untereinander hierarchisiert werden. Der Beitrag wirft ferner die Frage auf, inwiefern in juristischen Kontexten von einer im engeren Sinne narrativen Annäherung an den Gesundheitsbegriff ausgegangen werden kann. Das primäre Einsatzfeld von juristisch geprägten Gesundheitserzählungen
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verortet Schäfer dabei letztlich weniger in Gesetztestexten oder Urteilsverkündungen als in fiktionalen Erzählungen, welche die von ihm beschriebenen Problemzusammenhänge ebenfalls aufgreifen. Den Abschnitt zu performativen Perspektiven auf die Gesundheit eröffnet CHRISTOPHER KOPPERMANN. In seinem Beitrag untersucht er aus psychoanalytischer Perspektive die Gesundheitserzählungen, welche Patient*innen in der Interaktion mit Therapeut*innen formulieren, und zwar insbesondere Erzählungen, wie sie am Ende einer erfolgreichen Therapie stehen. Mit narratologischen und konversationsanalytischen Methoden werden zwei ausgewählte Beispiele aus einem breiten Korpus aufgezeichneter Therapiesitzungen analysiert. Anhand eines close reading lässt sich dabei nachvollziehen, wie einerseits auf der Ebene des discours ‚gesund‘ erzählt und andererseits auf der Ebene der histoire von den Patient*innen Gesundheit je individuell konzeptualisiert wird. Koppermann macht in diesem Kontext auch auf die Möglichkeiten eines performativen ‚Gesunderzählens‘ aufmerksam. LISA MÜLLER setzt sich in ihrem Aufsatz mit dem Phänomen auseinander, dass Patient*innen, die an einer chronischen Erkrankung leiden, im Zusammenhang mit dieser Krankheit mitunter auch neue Freiräume erleben, und fragt danach, wie diese Freiräume genutzt werden können. Interviewsequenzen, die im Zuge des multimedialen Projekts „Database of Individual Patients’ Experiences“ (DIPExGermany) gewonnen wurden, untersucht Müller im Kontext von Krankheitserzählungen und narrativer Medizin. Hierbei werden insbesondere individuelle Verarbeitungsstrategien von Patient*innen in Krisensituationen fokussiert. Die in den Interviews zum Ausdruck kommenden Erfahrungen, welche sich im Spannungsfeld von Handlungsunmöglichkeit, Leidenserfahrung, Reflexionszeiten und subjektiven Freiräumen bewegen, ordnet Müller abschließend in den Kontext der psychologischen Selbstbestimmungstheorie ein und diskutiert die Plausibilität kategorialer Definitionen von Krankheit und Gesundheit. INGA WILKES Beitrag widmet sich aus einer kulturanthropologischen Perspektive Entspannungs- und Achtsamkeitsangeboten. Basierend auf einem Feldtagebuch schildert die Autorin ihre Teilnahme an zwei ausgewählten Kursen zum Thema Achtsamkeit und Waldbaden. Interviewsequenzen geben dabei Aufschluss darüber, wie die jeweiligen Teilnehmer*innen den Kursbesuch als performativen Akt des Gesundens respektive des Gesundheitshandelns verstehen – und wie sie davon erzählen. Anhand dieser (selbst-)reflexiven Narrationen zeigt Wilke auf, dass und in welcher Weise sich die Kursteilnehmer*innen in einem Spannungsfeld von Selbstoptimierung und Selbstfürsorge bewegen. MARCELLA FASSIO analysiert den narrativen Umgang mit Depression in Mental Health Blogs als eine Ausprägung performativer Gesundheitspraktik. In ihrem Beitrag zeigt Fassio auf, wie die in diesen Blogs veröffentlichten Erzählungen
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Sinnhaftigkeit herstellen und zur Identitätskonstruktion beitragen, indem sie die psychische Erkrankung zu einer Chance umdeuten, bewusster und achtsamer zu leben. Zugleich wird deutlich, dass der Akt des Erzählens als Selbstermächtigungsgeste gegenüber pathologisierenden Fremdzuschreibungen fungiert. Fassio gibt allerdings auch zu bedenken, dass diese Selbstermächtigungserzählungen ihrerseits gewisse Grundmuster des von ihnen kritisierten Diskurses reproduzieren, insofern sie auf normative Weise Selbstsorge idealisieren und demgegenüber andere Formen des Umgangs mit Krankheit und Kranken abwerten. Den letzten Abschnitt des Bandes, mit Beiträgen zur ideologischen Dimension des Themas ‚Gesundheit erzählen‘, eröffnet SOPHIA BURGENMEISTER mit einem Beitrag zu den narrativen Techniken und normativen Implikationen von Gesundheitserzählungen rund um Fleischverzehr und Fleischverzicht. Von Vereinsschriften und populärwissenschaftlichen Vegetarismus-Texten des 19. Jahrhunderts bis hin zu digitalen Selbstzeugnissen zur veganen Lebensweise zeichnet Burgenmeister den Diskurs rund um Fleischverzicht sowie die wachsende Kritik am Verzehr anderer tierischer Lebensmittel nach. Im kontrastierenden Abgleich hierzu werden Zeitungs- und Lexikonartikel sowie Werbetexte untersucht, die Fleischkonsum im Gegenteil gerade als Grundlage einer besonders gesunden Lebensweise propagieren. In der Zusammenschau beider Konzepte arbeitet Burgenmeister die Parallelen heraus, die sich zwischen den ideologischen Alternativentwürfen beobachten lassen. CLAUDIA MÜLLER geht in ihrem Beitrag dem Motiv der Gesundheit in Marthe Bertheaumes Roman Sportive (1925) nach. Müller rekonstruiert den Zusammenhang von Gesundheit, Sport und Sportliteratur in der Zwischenkriegszeit, wobei sie sowohl das Interesse an Gesundheit als auch die Hinwendung zum Sport als Epiphänomene einer allgemeinen Hinwendung zum Körper deutet. In der Analyse von Bertheaumes Roman werden sodann die Abhängigkeiten und Spannungen zwischen den Komplexen Gesundheit, Schönheit sowie konkurrierenden Weiblichkeitsentwürfen herausgearbeitet. Müller macht dabei auch darauf aufmerksam, dass die Problematisierung von Sport, Körperlichkeit und Geschlechterverhältnissen in Sportive zugleich die Möglichkeit einer subversiven Deutung eröffnet, welche die vordergründig disziplinierende Intention des Textes unterläuft. ANNA S. BRASCH widmet sich in ihrem Beitrag der Verbindung zwischen der Lebensreformbewegung und gegenwärtigen Gesundheitsdiskursen, insbesondere in Thomas Langs Roman Immer nach Hause (2016). Im ersten Teil ihres Beitrags zeigt Brasch auf, welch zentrale Rolle Konzepten von Gesundheit und Heilung für die Lebensreform um 1900 zukommt und wie diese Vorstellungen in Langs Roman fiktional ausgestaltet werden. Im zweiten Teil ihres Beitrags deutet Brasch das gegenwärtige literarische Interesse an der historischen Lebensreform
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als eine Reaktion auf spezifische Gesundheitsdiskurse der Gegenwart. Indem Langs Roman eine transhistorische Engführung von Lebensreform, Hippie- und Umweltbewegung, Nachhaltigkeits- und Selbstoptimierungsdiskursen unternimmt, legt er zugleich die Konstanz bestimmter gesundheitsassoziierter Argumentationsmuster sowie deren potenzielle ideologische Bedenklichkeit offen. JULIAN MENNINGER untersucht in seinem Beitrag populärwissenschaftliche Narrationen der Gegenwart, die für die Zukunft wegweisende Steigerungsmöglichkeiten von Gesundheit versprechen. Derartige teleologische ‚Heilserzählungen‘ – als Beispiel dient insbesondere Ray Kurzweils und Terry Grossmans Gesundheitsratgeber Transcend. Nine steps to living well forever (2009) – kontrastiert Menninger mit kritisch intendierten, fiktionalen Erzählungen zum Thema, etwa mit Juli Zehs Roman Corpus Delicti (2009). Der Beitrag fokussiert die semantischen Verschiebungen im Verhältnis von Gesundheit und Krankheit, welche aus dem Wunsch nach ‚Verbesserung‘ resultieren, lenkt den Blick drauf, wie eine solche Umwertung mit der Steigerungslogik der Leistungsgesellschaft korreliert ist, und untersucht die von beiderlei Texten eingesetzten, persuasiv-narrativen Techniken, welche diese semantischen Verschiebungen rechtfertigen respektive ihre ideologischen Prämissen hinterfragen. Der abschließende Essay von MICHAEL NAVRATIL und JULIAN MENNINGER widmet sich in Form eines Ausblicks möglichen Perspektiven einer narratologischen Gesundheitsforschung. Dabei werden einerseits wiederkehrende Überlegungen und Fragestellungen der verschiedenen Aufsätze des Bandes gebündelt; andererseits wird der Versuch unternommen, weiterführende Forschungsfragen zum Thema ‚Gesundheit erzählen‘ zusammenzutragen und zu systematisieren. Navratil und Menninger führen unterschiedliche Funktionen von Gesundheitserzählungen an, diskutieren die Bedingungen, die zwecks einer Erzählbarkeit von Gesundheit erfüllt sein müssen, und benennen eine Reihe konkreter Forschungsfelder, auf denen eine zukünftige, narratologisch orientierte Gesundheitsforschung tätig werden könnte. Der Beitrag schließt mit einigen Überlegungen zum Thema ‚Gesundheit erzählen in Zeiten von Corona‘. Die Aufsätze des vorliegenden Bandes gehen zurück auf die Tagung Gesundheit erzählen. Ästhetik, Performanz und Ideologie seit 1800, die vom 25.–27. Oktober 2018 am Freiburg Institute for Advanced Studies stattfand. Im Rahmen der Tagung wurde der Versuch unternommen, eine dezidiert interdisziplinäre Zugangsweise zum Thema ‚Gesundheit erzählen‘ zu eröffnen: Neben Vertreter*innen unterschiedlicher Literaturwissenschaften wurden auf der Tagung auch Beiträge aus den Fächern Soziologie, Ethnologie, Gender Studies, Medizinethik, Rechtsgeschichte, Psychologie, Psychotherapie, Geschichte und Anthropologie präsentiert. Die Herausgeber*innen bedanken sich bei allen Vortragenden, Autor*innen und Disku-
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tant*innen für die überaus angenehme Zusammenarbeit und den anregenden fachlichen Austausch. Ermöglicht wurde die Tagung durch die großzügige Finanzierung des DFG Graduiertenkollegs 1767 „Faktuales und fiktionales Erzählen“ und des Sonderforschungsbereichs 1015 „Muße. Grenzen, Raumzeitlichkeit, Praktiken“ an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg. Zusätzlich finanziell gefördert wurde die Tagung durch das Institut für Germanistik der Universität Potsdam. Besonderer Dank für ihre engagierte Unterstützung gebührt Prof. Dr. Monika Fludernik, Dr. Hanna-Myriam Häger, Dr. Tilman Kasten, Prof. Dr. Fabian Lampart sowie den vielen Hilfskräften, die an der Ausrichtung der Tagung beteiligt waren. Die Drucklegung des Bandes wurde durch einen Druckkostenzuschuss des DFG Graduiertenkollegs 1767 „Faktuales und fiktionales Erzählen“ gefördert. Bedanken möchten sich die Herausgeber*innen darüber hinaus bei Prof. Dr. Matías Martínez, der die Publikation des vorliegenden Bandes in der Reihe Narratologia des De Gruyter-Verlags angeregt hat.
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Konzepte der Gesundheit im Werk Thomas Manns: Dekadenter Gesundheitsverdacht, Krankheitswahl und die Autonomie des Körpers 1 Einleitung: Gesund sind immer die Anderen „Nein, du hast keinen Begriff, Thomas, was für ein prachtvolles Geschöpf das ist! Sie ist so gesund ... so gesund ... !“ wiederholte Christian, indem er eine Hand, ihren Rücken nach außen, mit gekrümmten Fingern vors Gesicht hielt, ähnlich wie er es zu thun (1.1, 446–447) pflegte, wenn er von „That’s Maria“ und dem Laster in London erzählte.1
Die Begeisterung Christian Buddenbrooks, des neurasthenischen Taugenichts aus Thomas Manns erstem Roman Buddenbrooks (1901), für die ebenso vitale wie ruchlose Aline Puvogel kann als paradigmatisch gelten für das Verhältnis von Thomas Manns Protagonisten zum Phänomen der Gesundheit, welches sich auf die Formel bringen ließe: Gesund sind immer die Anderen. Von den frühesten Texten bis zur letzten Erzählung Die Betrogene (1953) erscheinen unzweifelhaft gesunde Figuren, von ganz wenigen Ausnahmen abgesehen – namentlich Joseph und Felix Krull wären zu diskutieren –, allenfalls an der Peripherie der erzählten Welt; im Zentrum stehen stets die Beladenen, psychisch oder physisch Lädierten und Leidenden, welche gleichwohl nicht selten mit Gefühlen der Bewunderung, der Sehnsucht oder mitunter auch der Verachtung zur Sphäre der Gesunden hinüberblicken. Der Einzelnachweis über Ubiquität und Relevanz des Kranken im Œuvre Thomas Manns muss nicht mehr geführt werden, die einschlägige Forschung füllt viele Bände.2 Gegenüber dem enormen Interesse an den vielfältigen Ausprägungen des Pathologischen in Thomas Manns Werk ist der Gesundheit vonseiten der Forschung bisher kaum Beachtung zuteilgeworden. Diese Feststellung mag zunächst trivial anmuten, könnte man doch geneigt sein zu behaupten: Gesund ist eben, was nicht krank ist. Im konkreten Fall gibt es jedoch gute Gründe, es nicht mit
1 Zitate aus Thomas Manns Werken werden in Klammern nach den folgenden Ausgaben gegeben: Mann (2002 ff., Bandangaben in arabischen Ziffern), Mann (1960/1974, Bandangaben in römischen Ziffern). 2 Einen orientierenden Überblick bieten die einschlägigen Artikel in den Thomas Mann-Handbüchern: Koopmann (2005 [2001]), darin bes. Dierks (2005 [2001]); Schonlau (2015). https://doi.org/10.1515/9783110747928-002
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einer bloßen Differenzdefinition sein Bewenden haben zu lassen. Zweifellos lassen sich Bestimmungen dessen, was Gesundheit bedeutet, nicht gänzlich ohne Bezugnahme auf das Kranke formulieren. Jedoch sind die Textbelege speziell zur Gesundheit im Werk Thomas Manns zu vielfältig und konzeptionell zu ausdifferenziert, als dass eine reine Negativbestimmung überzeugen könnte. Plausibler scheint es, den Gegensatz Gesundheit–Krankheit als konzeptuelles Spektrum aufzufassen, dessen beide Pole dynamisch sind und einander mitunter modifizieren: Zwar ist bei jeder Konzeption von Krankheit eine gewisse Komplementärkonzeption von Gesundheit immer schon mitgedacht (und vor allem als solche, eher nebensächliche Anhängigkeit wurde die Gesundheit im Werk Thomas Manns bisher in der Forschung behandelt). Umgekehrt provozieren spezifische Konzeptionen von Gesundheit aber immer auch bestimmte Perspektiven auf die Krankheit, welche sich bei alleiniger Fokussierung des Pathologischen nicht gewinnen ließen. Im vorliegenden Beitrag soll den Konzepten der Gesundheit im Werk Thomas Manns nachgegangen werden. In Anbetracht des soeben Ausgeführten kann es dabei nicht darum gehen, ein gänzlich neues Thema in die Thomas MannForschung einzuführen, das mit dem wissenschaftlich so überaus produktiven Komplex ‚Krankheit‘ konkurrieren könnte; vielmehr soll dieser Komplex selbst ausdifferenziert werden. Plädiert wird für ein Verständnis des Kranken im Werk Thomas Manns, das Krankheit respektive die Krankheiten nicht als starre Signifikanten mit fest definierten Bedeutungen auffasst – wie komplex diese auch immer sein mögen. Stattdessen wird vorgeschlagen, Krankheit in einem dynamischen Zusammenhang mit ihrem konzeptionell ebenfalls variablen, konstitutiven Anderen, eben der Gesundheit, zu betrachten. Ein dynamisches Verständnis von Gesundheit und Krankheit, wie es hier vorgestellt werden soll, lässt sich mit Blick auf die historisch-diskursiven Kontexte der Entstehung von Thomas Manns Werk insofern plausibilisieren, als die Trennung von Gesundheit und Krankheit in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zusehends ins Wanken gerät: Nachdem die Gesundheit über weite Teile des 19. Jahrhunderts als unhinterfragt positiver Wert anerkannt gewesen war, das medizinische Wissen und die Möglichkeiten der Krankheitsbehandlung enorme Fortschritte gemacht hatten und Gesundheit im Rahmen eines wissenschaftsgläubigen Fortschrittsdenkens zusehends als instrumentell herstellbar betrachtet worden war, formierten sich um die Jahrhundertwende insbesondere im intellektuell-bürgerlichen Milieu gesundheitspessimistische Gegendiskurse, welche die prinzipielle Vereinbarkeit von Modernität und Gesundheit in Zweifel zogen.3 3 Siehe hierzu Göckenjan (1985), Labisch (1992), Bergdolt (1999) und Schmiedebach (2002) sowie die Einleitung in diesem Band.
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Der psychophysische Monismus, welcher sich im Rahmen der als neue epistemische Leitwissenschaften aufsteigenden Lebenswissenschaften und insbesondere der Physiologie etablierte, arbeitete einem Anthropologieverständnis zu, das biologische, psychologische und mithin auch kulturelle Phänomene zusehends miteinander verschränkt sah. Den ‚Nerven‘ kam dabei eine zentrale Funktion als Vermittler zwischen Geist und Körper zu. Ärzte und medizinische Publizisten wie Bénédicte Auguste Morel und Valentin Magnan in Frankreich, Cesare Lombroso und Paolo Mantegazza in Italien sowie Max Nordau und Ernst Haeckel in Deutschland propagierten im ausgehenden 19. Jahrhundert die Auffassung, dass die industrielle, zusehends urbane Kultur zersetzend auf die kollektive Physiologie wirken müsse und dass gerade auch die extravagante künstlerische Produktion der Moderne letztlich als Ausfluss einer geistig-körperlichen ‚Entartung‘ anzusehen sei.4 Der Dekadenz-, Nervositäts- und Neurastheniediskurs der Jahrhundertwende, der im Falle Thomas Manns noch durch nietzscheanische Philosopheme weltanschaulich angereichert wurde, hatte um 1900 die Grenze zwischen Krankem und Gesundem empfindlich aufgeweicht, sodass das Leben in der Moderne – zumal das Geistesleben – von weiten Teilen der europäischen Intelligenzija überhaupt nur noch als latent kränkelnd aufgefasst werden konnte.5 Auch popularisierte die Psychoanalyse, die als medizinische Leitwissenschaft jedenfalls für Thomas Manns Spätwerk gelten kann, zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Auffassung, dass gesellschaftliche Sozialisation überhaupt nur unter Inkaufnahme mehr oder minder schwerwiegender neurotischer Symptombildungen, eben dem ‚Unbehagen in der Kultur‘, vonstattengehen könne und dass selbst noch das Alltagsleben seine Psychopathologien auspräge.6 All dies trug bei zu einem intellektuellen Klima, in dem die fortschrittsoptimistische Kopplung von Modernität und Gesundheit zusehends weniger plausibel erschien – was dem Interesse am Phänomen der Gesundheit freilich keinen Abbruch tat.
4 Vgl. Pross (2013, 89–98). Siehe zu diesem Kontext ferner die Beiträge in Sarasin und Tanner (1998). Speziell zum Monismus siehe Fick (1993) sowie Riedel (2011). 5 Siehe hierzu Roelcke (2001) sowie aus der neueren Forschung die Beiträge in Bergengruen, Müller-Wille und Pross (2010) und Pross (2013). Zu Gesundheit und Krankheit als literarische Wertungskategorien um 1900 siehe Anz (1986). 6 Neben Freuds bekannten Abhandlungen Die Psychopathologie des Alltagslebens (1904) und Das Unbehagen in der Kultur (1930) wäre hier ferner auf den Aufsatz Die ‚kulturelle‘ Sexualmoral und die moderne Nervosität (1908) zu verweisen (Freud 1988 ff., IX, 9–32). An diesem Aufsatz lässt sich exemplarisch aufzeigen, dass die frühe Psychoanalyse zwar kulturkritische Impulse aus dem zeitgenössischen medizinischen Diskurs aufnahm, sich jedoch durch ihre Betonung der vor allem individualpsychologischen (sexuellen) Ätiologie der Neurosen – im Abgrenzung zum Hereditätsmodell – von Beginn an gegen die historisch im Schwange befindlichen Rassismen und Eugeniken immunisierte (Link-Heer 1999, bes. 102–105).
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Ganz im Gegenteil provozierte gerade die Dynamisierung im Verhältnis von Krankheit und Gesundheit um 1900 eine Proliferation der (literarischen) Diskurse nicht nur der Krankheit, sondern eben auch der Gesundheit. Im Folgenden wird Gesundheit in den Blick genommen, insofern sie in Thomas Manns literarischen Texten ausgestaltet oder problematisiert wird. In einer Tour de Force durch das Gesamtwerk sollen die zentralen Konzepte des literarisch präsentierten Gesundheitsverständnisses identifiziert werden. Die Leitthese der folgenden Überlegungen lautet, dass sich in Thomas Manns Œuvre drei große Konzepte der Gesundheit unterscheiden lassen. Diese seien bezeichnet als erstens: der dekadente Gesundheitsverdacht, zweitens: die instrumentelle Krankheitswahl und der ‚gute Willen zur Gesundheit‘ und drittens: die Autonomie des Körpers. Gleich zu Beginn soll jedoch betont werden, dass es sich bei diesen drei Konzepten nicht um streng distinkte Kategorien handelt, sondern dass sich in den Texten häufig mehrere Gesundheitskonzepte nebeneinander sowie Mischformen derselben finden. Was die heuristische Einführung dieser Konzepte nichtsdestoweniger legitimiert, ist erstens der Umstand, dass in einigen Texten sehr wohl Reinformbildungen einzelner Konzepte zu beobachten sind, sowie zweitens – und bedeutender –, dass sich die drei Konzepte tendenziell drei Werkabschnitten von Thomas Manns künstlerischer Produktion zuordnen lassen. Eine eigenständige Betrachtung des Komplexes ‚Gesundheit‘ kann somit dazu beitragen, konzeptionelle Veränderungen im Verlauf des Gesamtwerkes offenzulegen, welche bei einer alleinigen Fokussierung des Pathologischen möglicherweise unerkannt bleiben würden.
2 Dekadenter Gesundheitsverdacht In einem Brief an Otto Grautoff schreibt der zwanzigjährige Thomas Mann: „Banale Weiber und gesunde Männer – Gott weiß, welche Fülle von Mißachtung ich in das Wort ‚gesund‘ versenke“.7 Dass das Gesunde zugleich auch das Banale sein müsse, ist die Kehrseite der spätestens seit der Romantik weit verbreiteten Überzeugung, dass das intellektuell Außergewöhnliche, zumal das künstlerisch Interessante, nur um den Preis von Krankheit, Zersetzung und Nervosität zu haben sei; eine Vorstellung, die sich zur Zeit des Fin de siècle enormer Beliebtheit erfreute und die sich Thomas Mann als Interpret von Nietzsche als Kulturpessimist und Dekadenztheoretiker (in entschiedenem Gegensatz zum Bruder Heinrich, der den vitalistisch-kraft-
7 Brief an Otto Grautoff, 19. März 1896 (Mann 1975, 73).
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meierischen Nietzsche bevorzugte8) früh zu Eigen gemacht hatte (Dierks 1996). In den ersten Erzählungen sowie im Roman Buddenbrooks findet sich dieses Konzept einer „Auszeichnung durch Krankheit“ (Jens 2002), dessen Kehrseite ein dekadenter Gesundheitsverdacht bildet, allenthalben ausgestaltet: So blickt in Der Wille zum Glück der kunstaffine sowie herzkranke Paolo Hoffmann mit kühlem „Pathos der Distanz“ (2.1, 51)9 auf seine ungenialischen Mitschüler herab; in Wälsungenblut haben Siegmund und Sieglind, die beiden blassen Dekadenzler und Wagnerianer, nichts als stille Verachtung für den plumpen Ministerialbeamten von Beckerath übrig; und im Gegensatz zu den Söhnen Konsul Hagenströms, „zwei Prachtkerle[n], dick, stämmig und übermütig, die [...] die besten Turner der Schule waren, schwammen wie Seehunde, Cigarren rauchten und zu jeder Schandthat bereit waren“ (1.1, 686), legt der ewig zahnleidende Hanno Buddenbrook „einen stummen, reservierten, beinahe hochmütigen Widerwillen gegen solche gesunden Unterhaltungen an den Tag“ (1.1, 685), schwelgt stattdessen lieber in quasi-wagnerianischen Fantasien am Flügel und erliegt schließlich – man ist geneigt zu sagen: folglich – dem Typhus.10 Unverkennbar gilt das Interesse der Erzählinstanz in diesen frühen Texten vorzüglich den kranken Figuren.11 Falls dem Gesunden hier überhaupt Beachtung 8 Den Gegensatz zwischen diesen beiden zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts konkurrierenden Nietzsche-Interpretationen hat Thomas Mann – freilich ohne dass der Name Nietzsche fiele – später im Doktor Faustus in der Kontrastierung der Melancholikerin Ines Rodde mit ihrem für Renaissance und Vitalismus entbrannten Verlobten Helmut Institoris gestaltet. Vgl. 10.1 (Doktor Faustus), 417–419, sowie den Kommentar in 10.2, 622–623. 9 Es handelt sich hierbei um einen Begriff Nietzsches. Vgl. Strobel (1998). 10 Zur Bedeutung von Wagners Werk für die Dekadenz-Literatur siehe grundlegend Koppen (1973). Bereits Thomas Buddenbrook, der generationell gleichsam der letzten Dekadenzstufe vor dem Aufkommen künstlerischer Ambitionen angehört, ist persönlich und ideell zwischen Gesundheit und Krankheit – die in seinem Fall mit der Alternative von kaufmännischer Tatkraft und skrupulöser Reflektiertheit parallellaufen – zerrissen. So führt ihn die Kontrastierung der persönlichen Einstellung dem Gebirge und dem Meer gegenüber zu der Überlegung: „Gesundheit und Krankheit, das ist der Unterschied. Man klettert keck in die wundervolle Vielfachheit der zackigen, ragenden, zerklüfteten Erscheinungen hinein, um seine Lebenskraft zu erproben, von der noch nichts verausgabt wurde. Aber man ruht an der weiten Einfachheit der äußeren Dinge, müde wie man ist von der Wirrnis der inneren.“ (1.1, 741). 11 In einem Brief aus dem Jahre 1902 bemerkt Thomas Mann zur Figur des Hanno Buddenbrook: „Ich zeichnete die Gestalt eines 16jährigen Dekadenten, des Ausläufers einer sozial, ökonomisch und physiologisch in Verfall geratenen Familie, und was ich zu gestalten beabsichtigte, war der Contrast zwischen der scheuen Lebensunfähigkeit dieses nervös-künstlerischen Individuums und dem Leben, wie es ist und wie es in Gestalt der Schule dem jungen Menschen zuerst entgegentritt. Meine Sympathie war dabei, wie sich versteht aufseiten des sensiblen kleinen Hanno, und mein Spott und meine Bitterkeit galten der dummen und brutalen Macht, von der seine arme Seele geängstigt wurde. Aber das Leben selbst ist dumm und
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zuteilwird, so nur vermittelt über Sehnsucht oder Verachtung der zuverlässig kranken Protagonisten: Neben der erwähnten Aline Puvogel denke man etwa an die von Paolo Hofmann ersehnte „Vereinigung mit blühender Gesundheit“ (2.1, 61) (gemeint ist die schöne Ada von Stein), an den als „das Leben“ (2.1, 215–218) titulierten Radfahrer in Der Weg zum Friedhof (1900) und natürlich an die Blonden und Blauäugigen im Tonio Kröger (1903). Besonders eindrücklich findet sich die Spannung zwischen Gesundheit und Krankheit in der Erzählung Tristan (1903) ausgestaltet. Während der Dichter Detlef Spinell Repräsentant einer schwülstig-dekadenten Kunstwelt ist, steht der Großkaufmann mit dem humorig-derben Namen Klöterjahn für die Sphäre properen, zugleich aber reichlich prosaischen Bürgertums. Gabriele Klöterjahn, die Gattin des Kaufmanns, ist das umkämpfte Liebesobjekt der beiden Männer, steht sie als Bürgersfrau mit künstlerischen Neigungen doch an der Grenze zwischen zwei Welten. Als sie sich von Spinell verführen lässt, am Klavier in den spätromantischen Klangwelten Richard Wagners zu schwelgen, verschlimmert sich ihr vormals kaum bedeutender Lungenaffekt massiv, und letztlich stirbt Gabriele Klöterjahn an den Folgen des Kunstexzesses. Sie hinterlässt den Sohn Anton Klöterjahn, der, wie es im Text heißt, „in der That von einer excessiven Gesundheit war“ (2.1, 356) – und damit in denkbar krassem Gegensatz zum Dichter Spinell steht, welcher den wenig schmeichelhaften Spitznamen „der verweste Säugling“ (2.1., 328) trägt. Im Tristan werden, wie so oft in Thomas Manns frühen Erzählungen, letztlich alle vorgestellten Positionen der Lächerlichkeit preisgegeben: Spinell hat zwar Zugang zu erlesenen Kunstgenüssen, ist selbst als Künstler aber wenig produktiv und auch moralisch durchaus kritikwürdig, wird er infolge ästhetizistischer Versponnenheiten doch nachgerade zum Mörder. Der tüchtige Bürger Klöterjahn ist immerhin ehrlich bestürzt über den Tod seiner Gattin; zugleich ist aber allzu offenkundig, dass er den etwas differenzierteren Bedürfnissen Gabrieles niemals gerecht zu werden vermochte. Und der „ganz ungewöhnlich gesund[e]“ (2.1, 341) Sohn Anton verfällt nach dem Tode seiner Mutter in einen „Anfall von animalischem Wohlbefinden“ und „kreischte vor unerklärlicher Lust, es konnte einem unheimlich zu Sinne werden.“ (2.1, 371) In seiner exzessiven Gesundheit nimmt das Kind am Ende der Erzählung geradezu bestialische Züge an.12
brutal, und das Leben hat immer recht und nicht Diejenigen, die zu schwach und zu gut dafür sind.“ Brief an Hugo Marcus, 11. Mai 1902 (21.1, 199). 12 Das Motiv des abschließenden, vernichtenden Lachens findet sich bereits in Der kleine Herr Friedemann, wenn nach dem Selbstmord des Protagonisten das Lachen der femme fatale Gerda von Rinnlingen durch den Park schallt (2.1, 119). Anders als im Tristan handelt es sich hier jedoch nicht um die Gegenüberstellung von Krankheit und Gesundheit, sondern um diejenige
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Die personelle Zuordnung von Gesundheit und Krankheit, mit all ihren anhängigen Implikationen, erscheint in Tristan – wie überhaupt in Thomas Manns Frühwerk – weitgehend als deterministisch-unveränderlich (hierin wird nicht zuletzt der Einfluss des epochentypischen degenerationstheoretischen, darwinistischen, hereditären und monistischen Denkens erkennbar): Die Figuren nehmen zwischen den Polen geistig erhöhter Hinfälligkeit und heilsamer Mittelmäßigkeit eine starre Position ein. Die ‚Kälte‘, die dem jungen Erzähler Thomas Mann mitunter vorgeworfen wurde (Brokoff 2012), hängt nicht zuletzt mit diesem Determinismus zusammen, der die Figuren nicht eigentlich zu Agenten ihres eigenen Lebens werden lässt, sondern sie lediglich in Konstellationen hineinführt, in denen sich dann ihr fix präfiguriertes Typenschicksal erfüllt. Ab dem Tod in Venedig (1911) jedoch dynamisiert sich dieser Gesundheits- und Krankheitsdeterminismus auffällig. Spielen im Frühwerk vor allem willentlich unbeeinflussbare, körperliche und seelische Einschränkungen wie Erbkrankheiten und Behinderungen eine Rolle, gewinnt mit dem Tod in Venedig erstmals die Idee der Infektion – also einer akquirierten Gesundheitsbeeinträchtigung, die auch hätte vermieden werden können – an Bedeutung:13 Durch die fahrlässige, wenn nicht gar willentliche Cholera-Infektion Gustav von Aschenbachs wird in das Verhältnis von Gesundheit und Krankheit erstmals ein dynamisches, weil voluntaristisches Element eingeführt (nicht zufällig im
von sublimierter versus gelebter Sexualität: Mit der Aussage „Ich bin nervös und habe die merkwürdigsten Zustände“ (2.1, 108) ordnet sich Gerda von Rinnlingen selbst der Gruppe der Kranken zu (konkret trägt sie Züge einer Hysterikerin). Überhaupt ist das vielfach belegbare Motiv des Lachens im Werk Thomas Manns nicht so sehr Ausweis körperlichen Wohlseins, sondern eher allgemeiner Ausdruck des Extremen, am deutlichsten im Doktor Faustus, wo das Lachen eine diabolische Dimension gewinnt. Als Ausdruck des Extremen steht das Lachen somit im Gegensatz zur vermittelnd-mäßigenden Ironie. 13 Zwar stirbt auch Hanno Buddenbrook an einer durch Ansteckung übertragenen Krankheit, nämlich dem Typhus. Doch macht der Roman deutlich, dass der Infektion im Falle Hannos nur eine eingeschränkte Bedeutung zukommt: „[Der Arzt] weiß nicht, ob die Krankheit, die er ‚Typhus‘ nennt, in diesem Falle ein im Grunde belangloses Unglück bedeutet, die unangenehme Folge einer Infektion, die sich vielleicht hätte vermeiden lassen [...] – oder ob sie ganz einfach eine Form der Auflösung ist, das Gewand des Todes selbst, der ebenso gut in einer anderen Maske erscheinen könnte, und gegen den kein Kraut gewachsen ist.“ (1.1, 831) Der eigentliche Grund für Hannos Tod liegt nicht in einer akzidentiellen oder willentlichen Infektion mit dem Typhus (bezeichnenderweise wird der Infektionsweg im Roman nicht thematisiert), sondern in einer generellen Lebensuntauglichkeit, welche von Geburt an besteht und die letzte Stufe in der deterministisch konzeptualisierten Verfallslogik der Generationenfolge darstellt. Insofern unterscheidet sich Hannos Typhus-Infektion sehr grundlegend von der Cholera-Infektion Gustav von Aschenbachs in Der Tod in Venedig, der Syphilis-Infektion Adrian Leverkühns im Doktor Faustus oder dem büßenden Gesundheitsverzicht Gregors in Der Erwählte.
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Zusammenhang mit der dort ebenfalls erstmaligen konsequenten Einführung mythologischen Denkens).14 Ein solches voluntaristisches Gesundheitsverständnis wird dann für weite Teile von Thomas Manns späterem Werk bestimmend bleiben.
3 Instrumentelle Krankheitswahl und der ‚gute Wille zur Gesundheit‘ Als umfassendste und vielseitigste literarische Auseinandersetzung mit dem Komplex ‚Krankheit‘ stellt Der Zauberberg (1924) zugleich einen der zentralen Referenztexte für die Frage nach der Gesundheit im Werk Thomas Manns dar, und dies, obwohl fraglos gesunde Figuren – anders als in allen anderen umfänglichen Erzähltexten des Autors – hier so gut wie gar nicht vorkommen.15 Von den Patienten über die Ärzte bis hin zu den Bediensteten des Sanatoriums sind beinahe alle Figuren des Romans körperlich marode, physisch verwachsen oder seelisch beladen. Tatsächliche Heilungen kommen hier, so scheint es, sehr viel seltener vor als unerwartete – und teils schwerwiegende – Spontanerkrankungen (man denke etwa an den grotesk-tragischen Fall der beiden Söhne von ‚Touslesdeux‘). Wenn Settembrini Hans Castorp gegenüber einräumt: „das kommt vor, man wird zuweilen gesund hier oben“ (5.1, 134), so impliziert die offenkundige Ironie dieser Aussage, dass die Anstalt Berghof den Titel „Sanatorium“ mit zweifelhaftem Recht trägt, werden die körperlichen und seelischen Leiden hier doch weit eher kultiviert als kuriert. Selbst von ärztlicher Seite wird mit der Möglichkeit vollständigen Wohlseins nicht ernsthaft gerechnet: Hofrat Dr. Behrens diagnostiziert selbst noch bloßen Hospitanten der Anstalt, „[s]elbstverständlich total anämisch“ (5.1, 74; vgl. 5.1. 654) zu sein, und verlängert wenig zimperlich die Zeit der Kuraufenthalte um Viertel- und halbe Jahre; und auf Hans Castorps anfängliche Versicherung, „daß er, gottlob, ganz gesund sei“, entgegnet der obskure
14 Die Spannung zwischen Mythos und Psychologie gewinnt im Werk Thomas Manns ab dem Tod in Venedig an Bedeutung und bestimmt das gesamte weitere Œuvre. Dabei wird ‚Psychologie‘ nicht selten assoziiert mit einem moralisch indifferenten Determinismus, ‚Mythologie‘ hingegen mit einer reflektierten Bindung ans Vergangene und Typische. Allerdings ist es – dialektisch gewendet – gerade diese reflektierte Bindung, die Freiheit ermöglicht. Vgl. hierzu Dierks (1972), Navratil (2018). 15 Eine Ausnahme bildet Hans Castorps Großvater Hans Lorenz Castorp, der als „eine schwer zu fällende, im Leben zäh wurzelnde Natur“ (5.1, 35) beschrieben wird. Allerdings ist diese Figur als Repräsentant einer vergangenen, prä-dekadenten Periode von der epochalen Gesamtdiagnose des Romans gerade ausgenommen.
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Analytiker Dr. Krokowski sichtlich belustigt, dass ihm „ein ganz gesunder Mensch noch nicht vorgekommen [sei]“ (5.1, 31). Die Kehrseite dieser Allgegenwart des Kranken im Zauberberg bildet der Umstand, dass die einzelne Krankheit möglicherweise nicht mehr allzu ernst genommen werden muss, da zwischen Gesundheit und Krankheit ja ohnehin nicht mehr zuverlässig unterschieden werden kann. Eindrücklichstes Beispiel hierfür ist Hans Castorp selbst, bei dem von einer seriösen Erkrankung wohl kaum mit größerem Recht gesprochen werden kann als bei seinem hospitierenden Onkel James Tienappel. Letzterer jedoch nimmt immerhin noch rechtzeitig – und keineswegs zu seinem körperlichen Schaden – Reißaus, als er feststellt, dass er den Verführungen des verantwortungslosen Lebens ‚hier oben‘ zu erliegen beginnt. Hans Castorp hingegen zieht es vor, auf dem Zauberberg zu verweilen und daselbst „die bodenlosen Vorteile der Schande“ (5.1, 125) zu genießen, welche, ähnlich wie in Der Tod in Venedig, nicht zuletzt erotischer Natur sind. Überhaupt erscheinen die Krankheiten im Roman oft weniger in Passivität erlitten, als mit Kalkül gewählt zu werden. Viele der Patienten könnten, so scheint es, sehr wohl in die gesittete Welt des ‚Flachlandes‘ zurückkehren, wenn sie denn nur wollten. Entsprechend ist Settembrini, der unerschütterliche Verfechter von Fortschritt und Gesundheit, beständig bestrebt, Krankheit und Kranke auch moralisch zu diskreditieren, und gießt seinen Spott aus über „all dies Brustkrankengesindel hier oben mit seinem Leichtsinn, seiner Dummheit und Liederlichkeit, seinem Mangel an gutem Willen zur Gesundheit.“ (5.1, 680)16 Der Verdacht der Krankheitswahl wird gegen Ende des Romans noch einmal erhärtet, wenn ‚der Donnerschlag‘, also der Beginn des Ersten Weltkriegs, den Zauberberg sprengt und die meisten langjährig ortsansässigen Patienten, Hans Castorp inklusive, sich mit einem Male durchaus befähigt sehen, in ihre jeweiligen Heimatländer zurückzureisen und dort auf die ein oder andere Weise am Kriegstreiben teilzunehmen. Die bereits im Tod in Venedig präsente Idee einer instrumentellen Krankheitswahl wird in Thomas Manns späterem Werk vom Zauberberg bis hin zum Felix Krull immer wieder aufgegriffen und variiert. Gesundheit und Krankheit erscheinen hier nicht so sehr als unveränderliche körperliche Schicksale, son-
16 Die Formel „Wille zur Gesundheit“ findet sich auch zweimal in Nietzsches publiziertem Werk, in der Vorrede zu Menschliches, Allzumenschliches I und in Ecce homo. An beiden Stellen ist damit jedoch kein fader Optimismus oder ein voluntaristisches Sich-Zusammenreißen zum gesunden Leben gemeint, sondern eine ideelle Ausrichtung auf die Idee der Gesundheit, die sich innerhalb der Krankheit selbst vollzieht. Gerade dieser, wie Nietzsche schreibt, „mittlere[.] Zustand“ ermöglicht philosophische Produktivität. Vgl. Nietzsche (1988, KSA 2, 18; KSA 6, 267).
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dern eher als Zustandsoptionen und Perspektiven, die von den Individuen bis zu einem gewissen Grade nach Bedarf und Gutdünken ein- und wieder ausgehängt werden können.17 Gegenüber dem dekadenten Gesundheitsverdacht des Frühwerks tritt damit ein voluntaristisches Element hinzu, welches das Verhältnis von Gesundheit und Krankheit über das starre Determinationsschema von Dekadenz und Heredität hinaustreibt und die gesundheitliche Verfassung der Figuren auch einer moralischen Bewertung zugänglich macht. Neben der para-amourösen Berauschung durch die Cholera im Tod in Venedig und Hans Castorps Pseudo-(?)Tuberkulose18 wären hier Beispiele aus den ganz späten Romanen zu nennen: In Der Erwählte (1951) fungiert Gregors siebzehnjährige Bußezeit auf einem einsamen Felsen, während derer er körperlich auf die Stufe eines Murmeltiers regrediert, als bloßer Durchgang zu einer Periode schadloser Gesundheit und geistlich-weltlichen Ruhmes.19 Und im Felix Krull schließlich wird
17 Einen wichtigen Referenzpunkt für dieses dynamische Gesundheitsverständnis bildet wiederum Friedrich Nietzsches stilisierte Selbstkritik in Ecce homo: „Abgerechnet nämlich, dass ich ein décadent bin, bin ich auch dessen Gegenteil. Mein Beweis dafür ist, unter Anderem, dass ich instinktiv gegen die schlimmen Zustände immer die rechten Mittel wähle: während der décadent an sich immer die ihm nachtheiligen Mittel wählt. Als summa summarum war ich gesund, als Winkel, als Spezialist war ich décadent. [...] Ich nahm mich selbst in die Hand, ich machte mich selbst wieder gesund: die Bedingung dazu – jeder Physiologe wird das zugeben – ist, dass man im Grunde gesund ist. Ein typisch morbides Wesen kann nicht gesund werden, noch weniger sich gesund machen, für einen typisch Gesunden kann umgekehrt Kranksein sogar ein energisches Stimulans zum Leben, zum Mehr-leben sein.“ (Nietzsche 1988, KSA 6, 266). 18 Ob Hans Castorp im Roman Der Zauberberg tatsächlich an Tuberkulose erkrankt ist oder nicht, ob der Text diesbezüglich eindeutige Signale enthält oder nicht und ob diese Fragen überhaupt interpretationsrelevant sind – all dies wird in der Forschung höchst unterschiedlich bewertet. Vgl. hierzu Max (2013, 146–163). 19 Der heiteren Hyperbolik des Romans entsprechend findet die Rückverwandlung Gregors vom igelhaften Tier zum vollausgewachsenen Menschen in allerkürzester Zeit statt. Im Kapitel Die Wandlung versichert der Erzähler: „[M]ir liegt offen, auf wie leichte und natürliche Art dies Dilemma, der Widerspruch zwischen Gregors verzwergter Mißgestalt und der Hoheit des Amtes, zu dem er berufen, unterwegs sich löste und [...] ehe zwei Stunden um waren, kein struppiges, verhorntes und verzotteltes Naturding mehr, sondern ein ansehnlicher Mann, seinem Alter nach gegen vierzig, [...] im Boote saß, wohlgebildet am Leibe, mit langem schwarzen Haare zwar und das Gesicht von schwarzem Bartwuchs behangen, ohne daß der jedoch die Annehmlichkeit seiner Züge ganz zu verdunkeln vermochte.“ (VII, 230) Die Verbindung zwischen Leid und göttlicher Erhöhung wird von Gregor am Ende des Kapitels in seinem Dankgebet betont: „Soll ich meines Lebens Grauen / Nun in Deiner Klarheit schauen – / Herr! Wie sehr bewundr’ ich sie, / Deine heilige Alchimie, / Die des Fleisches Schmach und Leid / Läutert in die Geistigkeit, / Daß der Sohngespons der Sünde / Höchlichst sich gewürdigt finde, / Ird’scher Notdurft allerorten / Öffne Paradieses Pforten.“ (VII, 234).
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das Phänomen Krankheit vollends von jedwedem Einschlag traurigen Ernstes geläutert, wenn Felix – ein, wie es im Text heißt, „wohlschaffener Knabe, dem es, von leicht verlaufenden Kinderkrankheiten abgesehen, nie ernstlich am Leibe fehlte“ (12.1, 45) – bereits in jungen Jahren die Fertigkeit erwirbt, Krankheit vollkommen überzeugend vorzutäuschen, und er sich später noch bei der Musterung zum Militärdienst durch die Prätention hereditären Schwachsinns genialisch freisimuliert. Selbst noch die körperliche Schönheit des Protagonisten wird im Felix Krull als moralisches Verdienst und Ergebnis einer ursprünglichen Wahl gedeutet und damit dem Bereich naturhafter Kontingenz entzogen (vgl. 12.1, 79–80). Auf deutlich komplexere Weise als in diesen ganz späten Romanen wird die Gesundheits-Krankheits-Problematik im Doktor Faustus (1947) verhandelt. Erneut scheinen die eigentlich gesunden Figuren hier zunächst rar gesät. Der geniale Komponist Adrian Leverkühn ist natürlich leidend, aber auch bei fast allen Mitgliedern der Münchner Gesellschaft stellt sich anlässlich der Musterung zum Ersten Weltkrieg „irgend ein gesundheitlicher Schaden heraus, von dem man kaum etwas gewußt hatte, der aber nun ihren Dispens bewirkte.“ (10.1, 441) Selbst bei Leverkühns Freunden Rüdiger Schildknapp und Rudi Schwerdtfeger ist das Sportliche respektive Nett-Anziehende der Erscheinung im Grunde Blendwerk:20 Schildknapp treibt „gar keinen Sport, ausgenommen ein wenig Skilauf mit seinen Engländern zur Winterzeit“ (10.1, 247), den er jedoch regelmäßig mit schweren Magenkatarrhen zu büßen hat; und Schwerdtfeger lebt mit nur einer Niere. Eigentlich gesund scheint im Roman nur der Erzähler Serenus Zeitblom zu sein, der sich gleich zu Beginn vorstellt als „durchaus gemäßigte und, ich darf wohl sagen, gesunde, human temperierte, auf das Harmonische und Vernünftige gerichtete Natur“ (10.1, 12). Zwar werden im Laufe des Romans eine Typhusinfektion beim Militär, ein massiver Gewichtsverlust in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg und eine schwere Erkältung während der Niederschrift des Manuskripts erwähnt; doch sind all diese Erkrankungen bloß transitiver Natur, finden auf Seiten des Betroffenen keinerlei Sympathie und werden offenbar
20 Während im Frühwerk noch eine eher schematische Kopplung von Hässlichkeit/Deformation und Krankheit respektive körperlicher Schönheit und Gesundheit dominiert, verliert die äußere Erscheinung spätestens ab dem Zauberberg ihre Funktion als zuverlässiger Indikator für den gesundheitlichen Zustand der Figuren. Hinzuweisen wäre hier etwa auf die anziehende Erscheinung der kranken, insbesondere zu Mutterschaft und Fortpflanzung unfähigen Clawdia Chauchat in Der Zauberberg (vgl. 5.1, 197–198) oder auf den Schauspieler Müller-Rosé, welcher Felix Krull auf der Bühne als Verkörperung des „Schönen und Glücklich-Vollkommenen“ erscheint, ihm dann aber in der Garderobe mit seinem entzündeten Auge und verpickelten Körper einen „Anblick von unvergeßlicher Widerlichkeit“ bietet (12.1, 35, 38).
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ohne bleibende Nachwirkungen überwunden. Im Falle von Serenus Zeitblom gehen humanistisches Ethos und Gesundheit eine, wie es scheint, natürlichnotwendige Verbindung ein (die Wortkoppelung von „human“ und „gesund“ findet sich allein dreimal auf den ersten drei Seiten des Romans [10.1, 12–13]). Krankheit wird demgegenüber als bloßer unerfreulicher Zufall erfahren, dem nichts Positives abgewonnen werden kann noch abgewonnen werden will. Gänzlich anders liegen die Dinge im Falle des Protagonisten Adrian Leverkühn. Von Jugend an leidet dieser an Migräneanfällen, die sich im Verlauf seines weiteren bewussten Lebens infolge der syphilitischen Infektion durch die ‚Hetaera Esmeralda‘ genannte Prostituierte zu periodisch eintretenden Attacken jammervollen Leidens auswachsen. Allerdings handelt es sich auch hier um eine Form der Krankheitswahl: Adrian Leverkühn entschließt sich gegen die Interessen der Gesundheit und entgegen der Warnungen des Mädchens für die geschlechtliche Vereinigung mit der Infizierten und besiegelt damit die Verschreibung an dunkle Mächte mit dem eigenen Blut. Gesundheit erscheint hier als Preis, der für die libidinöse Befeuerung von Leverkühns ‚kaltem‘ Leben zu entrichten ist. Dieser Tausch hat seine Parallele im künstlerischen Bereich: Schon der musikalische Lehrer Wendell Kretzschmar hatte den angesichts der akademischen und künstlerischen Belastungen Adrians besorgten Serenus mit den Worten abgestraft: „Ja, lieber Freund [...] wenn Sie für Gesundheit sind, – mit Geist und Kunst hat die denn wohl freilich nicht viel zu tun, sie steht sogar in einem gewissen Kontrast dazu, und jedenfalls hat das eine ums andre sich nie viel gekümmert.“ (10.1, 109) Tatsächlich scheinen Leverkühns spätere Kreativitätsausbrüche in enger Abhängigkeit zu den Phasen krassen Leidens zu stehen. Während im Tod in Venedig die bewusste oder doch zumindest willentlich in Kauf genommene Ansteckung mit der Cholera das Ende der künstlerischen Produktion bedeutet – oder genauer: diese Ansteckung die physische Realisation eines exzessiv dionysischen, bereits der künstlerischen Produktion entfremdeten Seelenzustands Gustav von Aschenbachs darstellt –, gelangt das kreative Genie Adrian Leverkühns erst durch die syphilitische Ansteckung zur eigentlichen Entfaltung.21 Dass Leverkühn gerade durch die Krankheit zu einer Form gesteigerter, wenn auch gefährdeter und gewiss keineswegs ‚gemäßigt-humaner‘ Gesundheit vorstößt, wird im Teufelsgespräch als notwendiger Zusammenhang expliziert. Dort verkündet der Teufel:
21 Diese Differenz der künstlerischen Temperamente und Schicksale drückt sich nicht zuletzt in der Bildlichkeit der metaphorischen respektive übernatürlichen Inspirationsfiguren aus: Im Tod in Venedig rauscht ‚Dionysos‘ aus dem schwül-warmen Süden heran, der Pakt mit dem Teufel im Doktor Faustus wird hingegen im eisigen Studierzimmer affirmiert.
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Und ich will’s meinen, daß schöpferische, Genie spendende Krankheit, Krankheit, die hoch zu Roß die Hindernisse nimmt, in kühnem Rausch von Fels zu Fels sprengt, tausendmal dem Leben lieber ist, als die zu Fuße latschende Gesundheit. Nie hab ich etwas Dümmeres gehört, als daß von Krankem nur Krankes kommen könne. Das Leben ist nicht heikel und von Moral weiß es einen Dreck. Es ergreift das kühne Krankheitserzeugnis, verspeist, verdaut es, und wie es sich seiner nur annimmt, so ist’s Gesundheit. Vor dem Faktum der Lebenswirksamkeit, mein Guter, wird jeder Unterscheidt von Krankheit und Gesundheit zunichte. (10.1, 354)
Damit wird auch jeglicher skrupulös-bürgerlichen Konzeption von Gesundheit eine entschiedene Absage erteilt. Aussagen des Teufels wie: „Was krankt ist, und was gesund, mein Junge, darüber soll man dem Pfahlbürger lieber das letzte Wort nicht lassen. Ob der sich so recht aufs Leben versteht, bleibt die Frage“ (10.1, 344), und die Invektiven des Teufels gegen das „MittelmäßigHeilsame“ (10.1, 360) zielen nicht zuletzt auf das maßvolle, dabei jedoch einigermaßen reizlose Gesundheitsverständnis des Humanisten Serenus Zeitblom, der sich in seinem Bericht ja dezidiert von der Gruppe der Künstler ausnimmt (und damit freilich in einen performativen Widerspruch verfällt). Im Doktor Faustus lassen sich mithin zwei Ausformungen der Gesundheit voneinander unterscheiden: Was gemeinhin unter Gesundheit verstanden wird, ist nur die eine, bürgerlich-maßvolle Ausprägung derselben. Dem steht eine Konzeption genuin künstlerischer Gesundheit gegenüber, die selbst das Signum der Krankheit trägt. Bereits im Jahre 1913 hatte Thomas Mann den Gedanken einer Binnendifferenzierung von Gesundheit und Krankheit in dem Essay Vorwort zu einem Roman explizit formuliert: „Es hat mit dem Begriff der Gesundheit eine nicht minder heikle Bewandtnis als mit dem des Talentes. Man kann auf gesunde Art krank und auf kranke Art gesund sein.“ (14.1, 394)22 Im Doktor Faustus wird diese Differenzierungsidee dann literarisch breit ausgestaltet. Eine künstlerische Produktion wie diejenige Adrian Leverkühns ist überhaupt nur im Zustand forcierter und gefährdeter Gesundheit möglich. Tatsächlich hält der Teufel Wort, wenn er Adrian ankündigt, „daß gegen das Ende deiner Stundglas-Jahre das Gefühl deiner Macht und Herrlichkeit die Schmerzen der kleinen Meerjungfrau mehr und mehr überwiegen und schließlich zu triumphalstem Wohlsein, zum enthusiastischen Gesundheitsaffekt, zum Wandel eines Gottes sich
22 Die Überlegungen dieses Essays stehen konkret im Kontext der lebensreformerisch-vitalistischen Tendenzen der Zeit. Es findet sich in diesem Text auch eine beißend-ironische Formulierung, die später im Doktor Faustus für die Charakterisierung von Helmut Institoris fast wörtlich wiederaufgegriffen wird: „man kann, während einem die Schwindsucht auf beiden Wangenkochen glüht, beständig rufen: Wie ist das Leben so stark und schön!“ Ebd., vgl. 10.1, 417–418.
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steigern soll“ (10.1, 355). So erklärt Leverkühn während der Arbeit an seinem opus summum Doktor Fausti Weheklag „seine Gesundheit für vollkommen, für triumphal, und die visionäre Energie, mit der er sich täglich wieder zum Werke erhob, war ihm [...] an den Augen abzulesen“ (10.1, 700). Allerdings wird dieser Höhenflug mit dem bodenlosen körperlichen und intellektuellen Absturz bezahlt: Die letzte Dekade seines Lebens verbringt Adrian Leverkühn in geistigem Dämmer. Der moralistische Einschlag im Modell der Krankheits- und Gesundheitswahl, der sich in Thomas Manns Werk seit dem Tod in Venedig beobachten ließ, wird im Doktor Faustus ins Theologische überhöht: Vernichtung und Verdammnis drohen dem, der ein Streben nach wahrer, dauerhafter Menschlichkeit verweigert und sich stattdessen, um der Macht- und Selbststeigerung willen, für den nur transitorischen, „enthusiastischen Gesundheitsaffekt“ entschließt: sei dies nun der genialisch-enthusiasmierte Künstler – oder aber das Land, das, wie es im letzten Absatz des Romans heißt, „die Wangen hektisch gerötet [...] auf der Höhe wüster Triumphe [taumelte]“ (10.1, 738); eine abschließende allegorische Charakterisierung Nazi-Deutschlands, in welcher die Manifestationen berauschender Krankheit und gefährdeter Gesundheit ununterscheidbar werden.
4 Autonomie des Körpers: Die Betrogene Die Idee der Gesundheits- und Krankheitswahl wird, wie bereits erwähnt, in den folgenden Romanen Der Erwählte und Felix Krull noch einmal auf neue und deutlich heiterere Weise wiederaufgegriffen. Während im Doktor Faustus die willentliche Syphilis-Infektion den Teufelspakt besiegelt, ist die Wahl der Bußekrankheit im Erwählten durchaus gottgefällig und Bedingung für Gregors finalen Aufstieg zum Papst. Und dem Glückskind Felix Krull, das es ja überhaupt vorzieht, „im Gleichnis [zu] leben“ (12.1, 126)23, dienen Krankheit und Gesundheit nur mehr als opportune Mittelchen und scherzhafte Masken auf seinem Pfad harmlos-narzisstischer Selbstverwirklichung. Krankheit, so könnte man sagen, ist hier lediglich Ausdruck höherer Gesundheit. So bekundet denn auch der gealterte Erzähler bereits im ersten Satz des Felix Krull, dass er „gesund [...], wenn auch müde, sehr müde“ (12.1, 9) sei.
23 Die gleichnishafte Existenz Felix Krulls ist eine neuerliche Variation auf den Grundgedanken, dass die reflektierte Bindung ans Typische Freiheit ermöglicht. Vgl. Dierks (1972), Navratil (2018).
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Noch einmal gänzlich anders gelagert ist die Gesundheits-Krankheits-Problematik in Thomas Manns letzter abgeschlossener Erzählung Die Betrogene (1953). Eine Frau in mittleren Jahren mit dem markiert umtriebigen Namen Rosalie Tümmler verliebt sich in den weniger als halb so alten Amerikaner Ken Keaton. Die in später Liebe entbrannte Rosalie ist entzückt, als nun auch ihre Monatsblutungen zurückzukehren scheinen. Die körperliche Alteration stellt sich jedoch letztendlich als Symptom eines Unterleibskrebses heraus, an dem Rosalie, noch ehe es zur Vereinigung mit dem Geliebten hat kommen können, stirbt. Die Betrogene gestaltet die Spannung zwischen menschlichen Wünschen und körperlich-natürlicher Materialität in Form einer Täuschungsgeschichte. So wie sich der intensive Moschusduft, den Rosalie und ihre Tochter Anna zu Beginn der Erzählung wahrzunehmen glauben, als Ausdünstung eines Häufleins Unrat erweist (VIII, 887), so entpuppt sich auch Rosalies vermeintliche Verjüngung schlussendlich als Symptom des Verfalls. Die im Text beschworene „Harmonie zwischen Körper und Seele“ (VIII, 929), die sowohl vom Naturund Frühlingskind Rosalie als auch von ihrer eher künstlerisch-kritisch veranlagten Tochter hypostasiert wird, kommt hier gerade nicht mehr – respektive nur noch in höchst zynischer Form – zustande. Bereits im Zauberberg hatte es rein ideelle Parteigänger der Gesundheit gegeben, die selbst gleichwohl krank, oftmals sogar unheilbar krank gewesen waren: Settembrini natürlich, aber auch Joachim Ziemßen mit seinem rastlosen Militäreifer und selbst noch Mynheer Peeperkorn in seinem dröhnenden Enthusiasmus für die (nicht nur metaphorisch zu verstehende) natürliche Zeugungskraft. Allerdings waren sich diese Figuren über ihren Zustand immerhin im Klaren gewesen und hatten in der Folge Arrangements für ihr weiteres Leben treffen können, von einer Einrichtung mit der Krankheit über ein Ignorieren derselben bis hin zum Suizid. Das schmerzliche Auseinanderklaffen von persönlichen Ambitionen und körperlichen Möglichkeiten wird demgegenüber in Die Betrogene entschieden verschärft, ist es hier doch just die tödliche Krankheit, die der Protagonistin eine neue Liebesbefähigung vorgaukelt. Diese späte, trügerische Lebenserhöhung wird von Rosalie selbst allerdings positiv bewertet. Am Ende schließt sie Frieden mit ihrem traurigen Schicksal, „[i]st ja doch“, so meint sie, „der Tod ein großes Mittel des Lebens“ (VIII, 950). Dass sich die Protagonistin schlussendlich nicht der Verzweiflung anheimgibt, sondern – man möchte sagen: gut nietzscheanisch – selbst in der beglückenden Illusion noch eine Form der Gnade erblickt, ist nun gewiss eine Deutung des Geschehens, die sich dem Vorwurf der forcierten Harmonisierung nicht vollständig zu entziehen vermag. Die Interpretation der Krankheit als begrüßenswerte letzte Lebens- und Liebeserhöhung kann angesichts der kruden Realität eines letalen Unterleibkarzinoms jedenfalls
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nicht als verpflichtend gelten.24 Gleichwohl finden sich in den Schlusspassagen des Textes keine Hinweise darauf, dass die harmonisierende Schicksalsdeutung der Protagonistin prinzipiell abzulehnen wäre.25 Betrogen wird Rosalie sowohl zum Leben als auch um dasselbe. Welcher dieser beiden Aspekte nun der relevantere ist, lässt sich nicht eindeutig entscheiden. Die perspektivische Ambivalenz der verschiedenen Lesarten des ‚Betrugs‘ bleibt bis zum Schluss der Erzählung gewahrt.26 Hinsichtlich des im Text manifesten Gesundheitskonzepts nimmt Die Betrogene Deutungsaspekte aus Thomas Manns Frühwerk (Erhöhung durch Krankheit, Schicksalhaftigkeit des Leidens) ebenso wie aus dem mittleren Werk auf (voluntaristischer Zugriff auf die Krankheit – wenn auch nur noch qua Interpretation und nicht mehr in ihrer physiologischen Faktizität), ohne dass diese Deutungsaspekte jedoch zu einer abschließenden Vermittlung gelangen würden. Entsprechend gälte 24 Die Fragwürdigkeit von Rosalies Deutung des Geschehens lässt sich unter anderem mit Blick auf die vielfachen mythologischen Bezüge des Textes herausstellen. Anders als in der Parallelnovelle Tod in Venedig, wo sich die gesamte äußere Welt Gustav von Aschenbach gleichsam anzuschmiegen scheint, um ihn mit warnenden oder vorausweisenden Todesmotiven zu umgeben, lassen sich die mythologischen Anspielungen in Die Betrogene nicht mehr auf einen einheitlichen Sinnhorizont hin synthetisieren, sondern verstärken eher den Gesamteindruck der Ambivalenz. Vgl. Heydenreich (1972) sowie den materialreichen und sinnvoll differenzierenden Aufsatz von Henriette Herwig (2009). 25 Man könnte Rosalies Verteidigung der beglückenden Täuschung in Verbindung bringen mit Felix Krulls Verteidigung des schönen Scheins im Gespräch mit Zouzou. Auf deren Schmähvers „Der Mensch, wie schön er sei, wie schmuck und blank, / Ist innen doch Gekrös’ nur und Gestank“ entgegnet Felix: „Ein Kauz könnte ja sagen, die ganze Natur sei nichts als Fäulnis und Schimmel auf dieser Erde, aber das ist nur eine bissige, kauzige Anmerkung und wird bis ans Ende der Tage die Liebe und Freude nicht umbringen, die Freude am Bilde.“ (12.1, 412–413). 26 Es ist zu einem Gemeinplatz der Forschung geworden, im Zusammenhang mit Die Betrogene auf Susan Sontags Essay Illness as Metaphor aus dem Jahre 1978 zu verweisen, in welchem die Autorin die gesellschaftlich stigmatisierende Wirkung metaphorischer Überkodierungen von Krebserkrankungen betont (Sontag 1991, 1–87). Ich halte diese Bezugnahme aus einer Reihe von Gründen für verfehlt: Erstens weiß Rosalie über weite Teile der Erzählung gar nicht, dass sie krank ist; es handelt sich bei ihrer Selbstdeutung somit nicht um eine (potenziell problematische) Metaphorisierung des körperlichen Leidens, sondern um ein völliges Verkennen desselben. Zweitens weist Sontag ja vor allem auf das soziale Stigma hin, das mit einer Krebserkrankung verbunden ist. Rosalie hingegen erfährt nach der Diagnose ihres Krebsleidens nichts als ehrliche Sympathie von ihren Mitmenschen; viel eher war sie zuvor, aufgrund ihrer Liebe zum jungen Ken Keaton, Gefahr gelaufen, sich lächerlich zu machen. Und drittens schließlich knüpft sich an den Verweis auf Sontags Text fast zwingend ein moralistischer Vorwurf gegenüber der Protagonistin der Erzählung, welche sich einer nüchternen, wissenschaftlich-medizinischen Interpretation ihres eigenen Schicksals bedauerlicherweise verweigert habe. Derartige moralisierende Deutungen dürften die konstitutive Ambivalenz der Erzählung doch eher verfehlen.
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es die Eigenständigkeit dieses letzten Konzepts der Gesundheit, der Autonomie des Körpers, gegenüber den beiden zuvor erläuterten Konzepten insofern einzuschränken, als es sich hier eher um eine Neukonfiguration von Bekanntem als um eine eigentliche Neukonzeption handelt. Diese Wiederaufnahme zentraler Denkfiguren und Motive aus dem früheren Werk, die nicht mehr zu einem kohärenten System gefügt, sondern gewissermaßen nur noch spielerisch aufgerufen werden – Ähnliches könnte man auch für die Romane Der Erwählte und vor allem für den Felix Krull zeigen –, kann als eine Spezifik von Thomas Manns Spätwerk, wenn nicht von ‚Spätwerken‘ überhaupt gelten:27 Die strenge poetisch-konzeptionelle Systematik, die bei Thomas Mann bis zum Doktor Faustus dominiert, wird hier durch eine Art ‚fröhliche Poetik‘ der konzeptionell lockeren Schichtung von bekannten Themen und Denkfiguren abgelöst. Eine signifikante Neuerung der Gesundheitskonzeption in Die Betrogene ist denn allerdings doch darin zu sehen, dass hier – anders als im Frühwerk mit seinen banalen Gesunden und dégénérés supérieurs oder im mittleren bis späten Werk mit seinen Wahlgesunden und -kranken – materiell-physische Faktizität und intellektuelle Deutung in keiner notwendigen Korrespondenz mehr zueinander stehen. Thomas Mann – der selbst wenige Jahre zuvor glücklich von einem lebensbedrohlichen Krebsleiden genesen war, den Doktor Faustus und manch anderes hatte abschließen können und sich mit dem Kellner Franz Westermeier (einem der realen Vorbilder für Felix Krull) noch einmal in einen schönen jungen Mann verliebte (Bade 1994) – zeichnet in seiner letzten Erzählung eine Natur, die Gesundheit und Krankheit mitunter willkürlich und ohne Ansehung der Wünsche und Pläne des Individuums verteilt. Diese schmerzhafte Autonomie des Körpers gegenüber den Regungen der Seele bedeutet im Umkehrschluss aber auch eine Emanzipation des Individuums, in Form nämlich eines partiellen Freiwerdens von den Determinationen eines starren psychophysischen Monismus. Gerade da-
27 Den Versuch einer Poetik der Spätwerke unternimmt Sandro Zanetti (2012). Bezüglich Thomas Manns Spätwerk schreibt Zanetti von „dem durch Goethe vorbildlich gewordenen Arbeitsprinzip der Kumulation mit Differenzeinschluß“ beziehungsweise von „Variation und Reanimation“ (Zanetti 2012, 406). Allerdings diskutiert Zanetti unter Thomas Manns Romanen lediglich den Doktor Faustus (Zanetti 2012, 403–408). Zwar wird man kaum bestreiten wollen, dass der Doktor Faustus zu Thomas Manns Spätwerk gehört; darüber hinaus scheint es mir aber ein lohnendes Projekt für zukünftige Forschungen zu sein, gerade diejenigen Texte Thomas Manns, die gleichsam nach dem Abschluss des ‚Kernwerks‘ – also nach dem Doktor Faustus – entstanden sind, im Hinblick auf ihre ästhetische Organisationsform zu vergleichen, um möglicherweise eine Poetik des ‚Spätestwerks‘ herauszuarbeiten. Damit würde die Möglichkeit eröffnet, Thomas Manns Spätwerk auch poetologisch genauer zu charakterisieren, anstatt, wie es in bisherigen Studien zum Thema Usus ist, primär von einer zeitlich-werkbiografischen Bestimmung des Spätwerks auszugehen (so etwa Schneider-Philipp [2001] oder Sprecher [2004]).
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durch, dass Subjekt und Natur, Geist und Körper nicht mehr in einem notwendigen Sinnzusammenhang miteinander stehen, wird ihr Verhältnis zueinander ein freieres.28 Dabei gerät einerseits die Natur zum vagen Grundtext, der ganz unterschiedliche Interpretationen zulässt (hierin lässt sich eine Variation der heiteren Masken- und Täuschungsthematik aus dem Felix Krull erkennen, dessen Niederschrift Thomas Mann für die Arbeit an der letzten Erzählung unterbrach). Andererseits lassen sich Individuen nun auch nicht mehr im alleinigen Rekurs auf ihre gesundheitliche Verfassung schlüssig charakterisieren: Als unbedenkliches Gegenbeispiel zum traurigen Fall Rosalies kann etwa ihr Geliebter Ken Keaton gelten, welcher – ebenso wie Rudi Schwerdtfeger im Doktor Faustus – mit nur einer Niere sehr auskömmlich lebt und in seiner Liebesbefähigung durch das organische Manko kaum beeinträchtigt scheint. Während in den frühen Erzählungen die banale Unbescholtenheit ebenso wie die dekadente Kränklichkeit der Figuren vom Erzähler manchmal geradezu verspottet und im mittleren bis späten Werk ihr fehlender Wille zur Gesundheit moralistisch problematisiert worden war, dominiert in Thomas Manns letzter, in Anbetracht ihres Sujets überraschend heiterer Erzählung die Sympathie mit einer Figur, deren naive Liebe zu Natur und Leben sich auch in der Krankheit als unerschütterlich erweist. Zwar wird die vermeintlich wiedergewonnene Gesundheit in Die Betrogene als Illusion enttarnt; doch als Idee steht die Gesundheit schlussendlich jenseits von Gut und Böse, ist weder banal noch verdienstvoll. Befreit vom moralischen Ballast erscheint sie am Ende von Thomas Manns Werk als eine bloße Möglichkeit menschlichen Daseins: glückhaft und selten.
28 Katrin Max (2009) argumentiert im Rückgriff auf das Quellenmaterial dafür, dass die Hormonausschüttungen, die Rosalies Liebe zu Ken Keaton auslösen, selbst Resultat des Krebsgeschwürs sind und folglich auch die Liebe Rosalies als entschieden krank anzusehen sei. Im Text wird eine solche Verbindung allerdings nur vage angedeutet (vgl. VIII, 949). Meines Erachtens sollte dieser Zusammenhang nicht überbewertet werden. Durch ein Pochen auf die medizinische Determination geraten die Ambivalenz der Naturerscheinungen und der perspektivische Deutungspluralismus des ‚Betrugs‘, die für die Erzählung ja gerade zentral sind, aus dem Blick und die Erzählung wird auf unzulässige Weise vereindeutigt.
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Aufstieg statt Untergang? Zur Poetik des ‚gesunden Menschenʻ bei Johannes Schlaf und Rudolf Herzog 1 Einleitung: Erzählziel ‚Gesundheit‘ 1892 wird in einem zentralen Publikationsorgan des Naturalismus, der von Michael Georg Conrad herausgegebenen Literaturzeitschrift Die Gesellschaft, ein Preisausschreiben annonciert. Prämiert werden Ideen zu einer „Wiedergeburt der Kulturmenschheit“, die zu einer „gesünderen, freudigeren Lebensepoche“ (Conrad 1892, 816) hinanführen sollen. Der Appell zur Wegbereitung einer postdekadenten Ära der Gesundheit entspringt einem topischen, differenzlogisch strukturierten Bezugsfeld des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Er greift auf ein normalistisches Beschreibungsarsenal zurück, das sich entlang der asymmetrischen Leitopposition Gesundheit und Krankheit bewegt und um 1900 diskursübergreifende Erzähltaktiken entwirft. Literarhistorisch bedeutsam werden jene (pseudo-)salutogenetischen Normalisierungsrhetoriken vor allem dann, wenn Diagnosen psychophysischer Erkrankung und Postulate der Rekonvaleszenz narrativ verhandelt oder in literaturkritische Wertungspraktiken eingespeist werden. Wenn Max Nordau in seiner 1883 veröffentlichten Essaysammlung Paradoxe die zeitgenössische Literatur als eine „Sammlung von Krankengeschichten“ (Nordau 1896, 230) bezeichnet, so unterzieht er den „Inhalt der poetischen Literatur“ (Nordau 1896, 230) einer normativ-diagnostischen Betrachtung, die auf eine programmatische Weisung an die zeitgenössischen „Berufsschriftsteller“ hinausläuft: die Aufgabe, „statt des Buches vom kranken das Buch vom gesunden Menschen zu schreiben“ (Nordau 1896, 239). Die folgenden Ausführungen widmen sich Romanen, in denen der Versuch unternommen wird, das Kernproblem der Jahrhundertwende zu beheben – Texten, die das Dispositiv der Krankheit zu überwinden suchen und Formen eines vermeintlich gesunden Erzählens entwickeln. Ob sich Gesundheit dabei tatsächlich als ‚eigenständige‘ Formkategorie instituiert, die sich trotz ihrer Verankerung im grand récit der Dekadenz operativ vom Verfahrensarsenal der Krankheit abkoppelt,1 kann
1 An dieser Stelle scheint eine kurze Erläuterung der theoretischen Prämissen, die diesem Beitrag zugrunde liegen, erforderlich. Wenn sich das Untersuchungsinteresse auf textuelle Erscheinungsformen richtet, in denen Gesundheit als Strukturkonstituens und -erzeugnis hervortritt, das sich https://doi.org/10.1515/9783110747928-003
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nur anhand einer Beobachtung textspezifischer Darstellungsstrukturen erwogen werden. Möglicherweise werden durch eine – hier fallbeispielhaft vorgenommene – Inblicknahme der semantischen und narrativen Strategien, die dem regenerativen Erzählanliegen erwachsen, bestimmte Formationen innerhalb des heterogenen literarischen Verfahrensinventars der Jahrhundertwende beschreib- und kontextualisierbar, die zugleich Anhaltspunkte für die historisch spezifischen Möglichkeiten und Grenzen eines ‚gesunden‘ Erzählens bieten. Es drängt sich hier ein zweiter Untersuchungsbereich auf. Eine Analyse, die sich den Verfahrensweisen eines vorgeblich gesunden Erzählens widmet, operiert auf Basis einer objektsprachlichen Zuschreibung. In methodologischer Hinsicht bedeutet dies Folgendes: Um sich der Kategorie ‚Gesundheit‘ als historisch spezifischem Erzählprodukt zu nähern, muss zunächst herausgestellt werden, was im jeweiligen Zusammenhang überhaupt als ‚gesund‘ gilt. Vor diesem Hintergrund lässt sich die Textauswahl dieses Beitrags begründen: Ausgewählt wurden exemplarische Texte, die sich entweder paratextuell als gesund inszeniert haben oder in der zeitgenössischen Kritik als gesunde Romane tituliert worden sind. Es wird also im Folgenden immer auch um die Frage gehen, welche propositionalen Gehalte das Wertkriterium und Vorstellungskonstrukt ‚Gesundheit‘ bestimmen.
2 Semiosen der Synthese: Johannes Schlafs Peter Boies Freite (1903) Zur Rekonstruktion der Gestaltungsprinzipien, in denen sich das normativ besetzte Erzählziel ‚Gesundheit‘ niederschlägt, bietet es sich an, mit dem weltanschaulichen Romanwerk von Johannes Schlaf zu beginnen.2 Gesundheit ist bei Schlaf als Produkt und Teilelement einer monistischen Naturästhetik zu ver-
unabhängig vom Formdispositiv der Krankheit konfiguriert, soll keineswegs der Eindruck erweckt werden, es handle sich hier um eigenständige, gleichsam ‚absolute‘ Entitäten. Systemtheoretisch betrachtet basieren die Formen, in denen sich das Ideal der Gesundheit niederschlägt, wie alle Formoperationen auf Unterscheidungssetzungen. Diese relationale Dimension ändert jedoch nichts daran, dass die positive Markierung von Gesundheit über Verfahrensweisen verläuft, die auf operativer Ebene eine gewisse Eigenständigkeit ausbilden können, wenngleich ihr tiefenepistemologischer Unterbau auf einer untilgbaren Differenzlogik aufruht. 2 Johannes Schlaf hat sich gemeinsam mit Arno Holz vor allem durch das Projekt eines ‚konsequenten Naturalismus‘ einen Namen gemacht. Seit der einschlägigen Studie von Dieter Kafitz ist in der germanistischen Naturalismusforschung verstärkt die weltanschauliche Tendenz, die Schlafs naturalistisches Erzählwerk durchzieht, in das Blickfeld geraten (vgl. Kafitz 1992 sowie Stöckmann 2005).
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stehen und entspringt somit einem modernisierungsgeschichtlich bedeutsamen Denkhorizont, in dem sich verschiedene anthropologische, philosophische und biologische Vorstellungskomplexe verschränken:3 Schopenhauers Philosophie des Willens, Darwins Evolutionstheorie, die zu einer idealistischen Weltanschauung überhöht wird (vgl. Krauß-Theim 1992, 61), der Gedanke, dass „die ganze erkennbare Welt nach einem Grundgesetze […] sich entwickelt“ (Haeckel 1908, 9), sowie die Vorstellung einer „grundsätzliche[n] Einheit der anorganischen und organischen Natur“ (Haeckel 1908, 9). Unter dem Einfluss dieser Denklinien entwickelt Schlaf eine evolutionsspekulative ‚Neumenschidee‘, die mit der Vorstellung vom gesunden Menschen Hand in Hand geht. Der visionierte neue Mensch bildet den Endpunkt eines anthropogenetischen Progressionsverlaufs ‒ den „Metastasen“ des absoluten Individuums, wie es in Schlafs philosophischem Hauptwerk heißt (Schlaf 1910, 163) –, der sich zugleich als Prozess der Genesung vollziehen soll: Das organische Einssein mit der Natur, das den neuen Menschen auszeichnet, wird als Zustand vollkommener psychophysischer Gesundheit markiert. Besonders deutlich zeigt sich dies in einer Romantrilogie, deren einzelne Teile von 1900 bis 1903 erschienen sind und nach evolutionsteleologischer Stufenlogik den Weg vom dekadenten Neurastheniker zum gesunden Tatmenschen ausgestalten. In der Vorrede zu Peter Boies Freite ordnet Schlaf seine Trilogie in eine Erzähltradition ein, die von Hermann Conradis Phrasen und Adam Mensch bis hin zu Karl Bleibtreus Größenwahn reicht, ihr Darstellungsziel jedoch bis dato verfehlt habe. Verkennend, dass aus der Dekadenzmentalität der Übergangszeit einst ein gesundes Neumenschentum erwachsen werde, sei die naturalistische Erzählprosa bei einer einseitigen Verhandlung allgemeiner Krankheitssymptome stehen geblieben. Schlafs Trilogie dagegen – so die paratextuelle Selbsteinordnung – habe die Entwicklung der Menschheit hin zu einem „positiven Resultate“ zur Anschauung gebracht und so erstmalig den „Typ der neuen Generation in seinem Werden“ erfassen können (Schlaf 1903, 11). Waren die Protagonisten der Vorgängerromane, allen voran Liesegang aus Die Suchenden, noch von den typischen Dekadenzsymptomen infiziert, so trete mit dem Titelhelden in Peter Boies Freite eine Figur in Erscheinung, die sämtliche psychophysischen Defizite der Übergangsgeneration zugunsten einer gesunden Vitalität überwunden habe. Gesundheit wird hier in ein herkömmliches Modernenarrativ eingebunden und als Zustand eines Einvernehmens markiert: Das gesunde Individuum ist das normalisierte männliche Subjekt, das sich in der Moderne akklimatisiert hat und damit nicht nur die vielbeklagte Op-
3 Zur monistischen Weltanschauung, den ihr zugrunde liegenden Denklinien und ihren literarischen Manifestationen vgl. Braungart (1997), Fick (1993), Riedel (1996) und Stöckmann (2005).
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position von Individuum und Außenwelt überwindet, sondern mit einer dezidierten Gegenwärtigkeit verbunden wird. Der Protagonist steht nicht außerhalb der Zeitverhältnisse, sondern bildet das paradigmatische ‚Kind seiner Zeit‘: Er paßt in die Welt, wie sie heute ist. Er ist der Liesegang, der sich in die Zeitläufte gefunden und in ihnen heimisch geworden zu einer resoluten und sicheren praktischen Lebensführung, die sich den jeweiligen Umständen anzupassen versteht, daß es irgend ein smarter Yankee, dessen gepriesenes Vaterland der Freiheit ihm neue Heimat wird, nicht besser verstünde. (Schlaf 1903, 14)
Auch fiktionsimmanent wird Gesundheit als psychische Disposition markiert, doch koppelt sich die mentalitätsbezogene Darstellung an eine physische Dimensionierung. Vorstellungen eines optimalen gesundheitlichen Zustands schlagen sich in ausführlichen und detaillierten Körperbeschreibungen nieder. Die Verkettung von Gesundheits- und Kraftsemantiken, die in den entsprechenden Beschreibungen zutage tritt, verdeutlicht die Anbindung des Schlaf’schen Gesundheitskonzepts an das energetische Diskursfeld der Zeit, das zugleich seine positive Beschreibbarkeit bedingt: Der gesunde Körper ist nicht mehr nur das Andere des kranken, sondern das Äquivalent zum kraftvollen Körper, und kann somit durch die Prädikation spezifischer Merkmale – allen voran Schlankheit, Sportlichkeit und Muskulosität – definiert werden. Die Vorstellung der Gesundheit wird hier mit einem Arsenal geschlechtsspezifisch konnotierter Körperattribute verschränkt, die in einer ästhetisierenden Sprache dargeboten werden. Es ist die als gesund markierte Körperlichkeit der weiblichen Protagonistin Geesche, die im Blick des Fokalisators Peter Boie zum ästhetischen Objekt stilisiert wird: […] es war dennoch ein so schöner Anblick, wie sie da so regungslos mit ihrem prächtigen Körper, in der Fülle ihrer jungen Gesundheit so ernst dakniete. (Schlaf 1903, 140)
Während in den stilisierenden Beschreibungen Geesches immer wieder die Ideale weiblicher Schlankheit und kraftvoller Markanz einfließen, kommt in der Körperzeichnung Peter Boies ein stereotypisiertes Idealbild zum Tragen, das an Winckelmanns Beschreibung antiker männlicher Körperlichkeit erinnert (vgl. Winckelmann 1756, 5‒9): ein kraftvoller, durchtrainierter, durch Leibesübungen geformter Körper, dessen Gesundheit und Kraftpotenzial einerseits einer naturhaften Lebensweise entspringen, andererseits die Produkte gezielter und regelmäßiger physischer Praktiken darstellen. Der Protagonist, der als Vertreter einer neuen Menschheitsgeneration erscheinen soll, wird so zum Träger eines Körperideals, das sich an die idealisierten Athletenstatuen der griechischen Antike anlehnt:
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Seine Schultern waren breit gebildet und zeigten ein kräftig entwickeltes Muskelspiel. Gesund gewölbt war der Bau seiner Brust. Er war rank in der Taille und edel gegliedert war die Muskulatur seiner Schenkel und Unterbeinen von langjährig gewohnten körperlichen Uebungen. […] Nackt wirkte seine Körper- und Muskelbildung fast athletisch. Es lag in den Proportionen. […] Wie ein Pfeil schnellte er über den Strand hin und tauchte mit einem lauten jauchzenden Schrei durch die Brandung in das freiere Wasser […]. (Schlaf 1903, 272‒273)
Obgleich der Protagonist an dieser Stelle als reinkarnierter griechisch-antiker Athlet inszeniert wird, der noch nichts von den Dekadenzsymptomen des neunzehnten und frühen 20. Jahrhunderts ahnt, ist es nicht die Rückkehr zu einer vermeintlich vormodernen körperlichen Idealität, die der Text in Aussicht stellt. Die salutogenetische Neuperspektivierung des Dekadenznarrativs4 lässt die Figur als Endprodukt eines integrativen Fortschrittsprozesses erscheinen: als Signum einer Moderne, die sowohl der sinnlich-naiven Körperlichkeit der griechischen Antike als auch der ‚entarteten‘ Reflexivität der Übergangszeit überlegen ist. So entfaltet sich eine kulturoptimistische Korrektiverzählung, die den Vorstellungskomplex ‚Dekadenz‘ entwicklungsteleologisch umcodiert. Diese Umcodierung ermöglicht es dem Roman, Formen psychophysischen Erzählens für eine Poetik des gesunden Menschen fruchtbar zu machen.5 Das gesteigerte Wahrnehmungsvermögen des Protagonisten, das ihm ein bewusstes Erleben der kosmischen Allverbundenheit erlaubt, artikuliert sich in einer hypotypotischen und jugendstilhaften Erzählform, die den Fokus von der Handlung auf die Wahrnehmung verschiebt. In den Vordergrund des Textes tritt ein Einheitsempfinden, aus dem eine erhöhte Sensibilität für organisch-morphologische Strukturen abgeleitet wird. Diese Sensibilität nun wird weniger auf einer konstativen Ebene markiert als stilistisch veranschaulicht. Erzählerisch erfasst werden abstrahierte Formen und Figuren, die die monistische Wahrnehmung des Protagonisten bestimmen: […] da gewahrte er plötzlich mit seinen scharfen Augen, wie fern auf dem weißen Schimmer der Dünenkette zwischen dem lichtsilbergrauen Strandhafer ein dunkler Punkt auftauchte … Der Punkt wuchs und es ward aus ihm eine Linie. Und die Linie wuchs und ragte aus dem Hafer in den blauen Schimmer der Nacht hinein. Einen Augenblick blieb sie unbeweglich. Dann aber bewegte sie sich langsam die Düne herab, exekutierte mit einem Mal ein paar kapriziöse Zickzackbewegungen hier hin und da hin, verweilte, wurde klein und rund, wuchs wieder in die Höhe und entwickelte sich dann aus dem kalkweißen, schimmernden Bereich des Dünengebietes gegen die Wiesenfläche her. (Schlaf 1903, 108‒109)
4 Zur Rejustierung der Dekadenzerzählung bei Schlaf vgl. Pross (2013, 205‒208). 5 Zu den Modalitäten und Verfahrensweisen psychophysischen Erzählens vgl. Stöckmann (2010).
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Die kinetische Linie, auf die sich die Wahrnehmung des Protagonisten fokussiert, bildet ein Leitmotiv des Romans und birgt eine spezifische semiotische Funktion in sich. In ihrer vermeintlich asemantischen Figuralität wird die Linie zum symbolischen Ausdruck eines transrationalen und transdiskursiven Weltund Selbstbezugs. Wann immer in Schlafs Roman die Linienform thematisch wird, rückt eine Wahrnehmungsform ins Zentrum, in der dem formsensiblen Individuum die „organischen Wachstumsprozesse der Natur“ (Kafitz 1992, 139) erfahrbar werden. Über die Wahrnehmung der Linie wird sich der Protagonist seines Standorts als Teil eines harmonischen Ganzen gewahr: Ein Wasserinsekt zog seine feinen Spiralen. Peter verfolgte sie […]. Es hypnotisierte ihn förmlich. ‒ Was besagten diese Kurven? Was war ihr seelischer Gehalt? Er fühlte die wundersame Kraft ihrer Linien in seinen Nerven. Ideenverbindungen lösten sie aus, außer aller Willkür des Bewußtseins. (Schlaf 1903, 223)
Deutlich zeigt sich an dieser Stelle die ‚Ummünzungsstrategie‘, die die Idee des gesunden Neumenschen bei Schlaf hervorbringt: Der visionierte neue und gesunde Mensch zeichnet sich genauso wie der dekadente Neurastheniker durch eine erhöhte Wahrnehmungssensibilität aus, büßt dadurch jedoch nicht seine Energie und Tatkraft ein – wie es etwa dem Protagonisten in Adam Mensch widerfährt –, sondern gelangt erst recht zu einer elementarhaften Vitalität. Elementarhaft ist dieser Zustand vor allem deshalb, weil er ganz im Sinne der monistischen Anthropologie eine Einheit von Individuum und Natur signalisiert. In das monistisch gefärbte Gesundheitsphantasma der Erzählung, das fest verankert ist im Narrativ der Dekadenz, lagert sich folglich eine angestammte Assoziation ein: Gesund ist, was naturhaft ist. Der gesunde Mensch, wie ihn Schlafs Roman imaginiert, ist damit das Produkt eines zeitlichen Synthesedenkens: Eine verfeinerte Wahrnehmung, die im zeitgenössischen Dekadenznarrativ als Signum des modernen Menschen gilt, wird rückgekoppelt an eine elementarhaft-vitalistische Naturaffinität, die schon die ‚sentimentalischen‘ Modernediagnosen des späten 18. Jahrhunderts als vormodern etikettiert hatten. Engführungen dieser Art durchziehen die Erzählung, deren Handlungsverlauf immer weitere und ähnliche Initiationsakte des gesunden Neumenschentums ausgestaltet. Was zunächst über den Tiefenblick der Figur und ihre Form- und Figuralwahrnehmung indiziert wurde,6 wird im weiteren Er-
6 Besonders deutlich zeigt sich dieses Verfahren in einer Erzählpassage, in der die evidentielle Formvergegenwärtigung eine Körperbeschreibung bestimmt: „Hier waren ganz große runde Umrisse wie feine, ätherische Arabesken, welche schon trockene Stellen umzirkten, die nur noch mit einem winzigen, zierlichen Geperl bedeckt waren. Dort schimmerten noch große feuchte Blasen, die sich teilten und platzten. Von den Brüsten herab und an den Flanken nie-
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zählverlauf über Musikalitätswahrnehmungen zur Anschauung gebracht.7 Der dabei artikulierte gesunde Weltbezug des neuen Menschen wird auf emphatisch beschriebene Entgrenzungserfahrungen zurückgeführt, die sich von der visuellen auf die auditive Wahrnehmung erstrecken. Unter Rückbezug auf die Lebenslehre Nietzsches rückt der Text musikalische Strukturverläufe in den Fokus. Schon das Vorwort des Romans hatte den Einfluss Nietzsches auf die psychische Disposition der imaginierten Neugeneration hervorgehoben. Dieser Einfluss bekunde sich in der Tendenz, „sich im Uebergange dieser Zeitläufte zu harmonischer Individualität zu steigern“ (Schlaf 1903, 7). Der Konnex zwischen der monistischen Neumenschheits- und Regenerationsidee und der nietzscheanischen Lebensphilosophie drückt sich fiktionsimmanent in einer allegorisch angelegten Erzählsequenz aus. wur Veranschaulichung des gesunden Neumenschentums wird das Pan-Mythologem aufgerufen und metapoetisch funktionalisiert. Die Raumtopik und das situative Szenario der entsprechenden Erzählpassage inszenieren den Protagonisten als musizierenden Pan, dessen naturhaft-sinnlichem Empfinden ein musikalisch primitives Flötenspiel entspringt. Der Typus des gesunden Neumenschen, den der Roman modelliert, erweist sich im nietzscheanischen Sinne als Träger einer dionysischen Urenergie, die das principium individuationis zugunsten eines Einheitserlebens überwindet. So wird die topische „Ursituation“ des Monismus, in der sich das unter Bäumen gelagerte Individuum „dem Mikrokosmos der umgebenden Natur aufschließt“ (Stöckmann 2005, 280), zum Schauplatz eines neu ausgerichteten, mythischen Paradigmas: Die dionysisch-primitive Musikalität des Hirtengotts wird nicht durch das apollinische Lyra-Spiel verdrängt, sondern kann sich in rauschhafter Ekstatik entfalten: Und nun lag er, selbst wie ein Halbwilder, mit gebräunten Backen und einem Leibe, der von Gesundheit und Behagen durchwärmt war, und blies auf seiner improvisierten Pansflöte und wiegte sich in dem schnurrigen kleinen Motiv, das der Zufall und das Material da zusammengebracht und das, sich immer in denselben vier Tönen bewegend, sich ausnahm wie das Tanzlied eines wilden Völkerstammes. Es machte ihm Spaß, sich mit ihm in eine Art von hypnotischem Rausch zu versetzen. (Schlaf 1903, 117)
der, über die weiße Bauchwölbung, an den Hüften und Schenkeln sickerten im zuckenden Zickzack kleine Rinnchen und Schnürchen aneinandergereihter Perlchen mit kurzen, ruckenden Stößen sich herabschiebend.“ (Schlaf 1903, 275). 7 Die Musikalisierung bildet ebenso wenig wie die Formdeixis eine verfahrenstechnische Eigentümlichkeit des Romans. Stöckmann zufolge gehört es zur „strukturellen Modernität monistischer Texte, die Evidenz ihrer Aussagen in andere Wahrnehmungsdimensionen – insbesondere in ein imaginäres Sehen und Hören – zu verschieben und auf in diesem Sinn ‚medial‘ oder ‚aisthetisch‘ transformierte, rhetorische Verfahren der Veranschaulichung (Hypotypose, ‚enargeia‘/ ‚evidentia‘) zurückzugreifen.“ (Stöckmann 2005, 283).
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Ähnlich wie die nietzscheanische Lebensphilosophie, die eine „Entfesselung des Erhabenen im dionysischen Rausch“ (Lipperheide 1999, 7) zelebriert, mündet die dionysische Pan-Allegorie, die der Roman entfaltet, in einer immanenten Ästhetik des Erhabenen ein.8 Auf ekphrastisch inszenierte Klangverläufe folgen pathetisch dargebotene Natureindrücke, sodass sich das Musikalisch-Erhabene mit dem Natur-Erhabenen verbindet und ein Bild ganzheitlicher Transzendenzerfahrung entsteht. Der Protagonist, der sich am Zirpen von Insekten ergötzt und einem „göttliche[n] Tonidyll“ (Schlaf 1903, 119) huldigt, scheint hier dem prosalyrischen Ich aus Schlafs Erzählung Frühling (1896) nachgebildet, das sich „im Bann eines feierlichen, getragenen Rhythmus“ (Schlaf 1896, 19) aus den Fesseln der Individuation befreit und sich seiner Verbundenheit mit der Natur gewahr wird (vgl. Stöckmann 2005, 279‒282). Der musikalische Ton geht in der umgebenden Naturwelt auf und eröffnet ein ästhetisch-sensuelles Einheitserlebnis, in dem auditive und visuelle Sinnesempfindungen ineinander übergehen und der Einzelne psychophysisch die Erscheinungen der Natur erlebt: Von einer wilden, primitiven Harmonie waren die vier Töne, wie die suggestive Energie einer Fakirflöte; mit der auf- und abschwellenden Wellenbewegung ihres simplen Rhythmus, und setzten leise seine Einbildungskraft in Schwingung. […] Wie von Tausenden unsichtbarer Chöre vorgetragen wuchs es in allen Raum, machte alle Laute und Erscheinungen ringsherum zu den Klangwerten seiner herrlichen Akkorde: die Erhabenheit des mondlichen Firmamentes, die majestätische Weise des nächtlichen Meeres mit seinem großen, heiligen Brausen, das dämmernde endlos gebreitete Gelände, das Rauschen und Raunen des Wipfels über ihm, das nächtliche Zirpen der Grillen, das weite sanfte Flüstern und wellige Wehen der Gräser, die schimmernden Dünen da unten: alles geeint und gefriedet, vertieft, mit seinem Geheimnis vertraulich erlöst in dieses wundersame Tonspiel. (Schlaf 1903, 117‒118)
Deutlich zeigt sich hier, wie das weltanschauliche Erzählinteresse, dem die Schlaf’sche Gesundheitspoetik untersteht, sowohl in inhaltlicher als auch in stilistischer Hinsicht die Konstitution der diegetischen Erfahrungswelt bestimmt. Das gesunde Einheitserleben des modellierten neuen Menschen findet seinen Niederschlag in einer evozierten Musikalität, die der arbiträren Zeichenrelation logozentrischer Dispositive eine vermeintlich entdifferenzierende Tiefensprache entgegenstellt. Die Elementarsprache, durch die der neue Mensch die Zwänge der Zivilisation überwinden soll, wird von der Darstellungsebene auf die Textebene projiziert: Alliterationen („wellige Wehen“), Lautrekurrenzen (Rauschen – Raunen, schwellende Wellen), sowie die rhythmisierten Sequenzen, die der Erzählpassage einen prosalyrischen Zug verleihen, verdecken die Arbitrarität der Zeichenbildung, indem sie neben semantischen Bezügen phonetische Äquivalen-
8 Zur Figur des Erhabenen bei Nietzsche vgl. Lipperheide (1999).
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zen erzeugen. Während derartige Passagen die musikalische Formsprache zum Konstituens des gesunden Neumenschen erheben und sich einen prosalyrischen Rhythmus zu Eigen machen, ist es in anderen Erzählsequenzen der symbolisch besetzte Raumtopos des Meeres, der zum Schauplatz monistischer Lebenstotalität avanciert. Impressionistisch anmutende Farbsemantiken, asyndetische Wortketten und hypertrophe Bildreihungen inszenieren die Meereswellen als naturhaftuniversale Entitäten, in denen sich die „verborgene energetische Grundstruktur des Kosmos“ (Jegensdorf 1969, 112) offenbart. Wie in der Flötenspielszene ist es eine elementare Lebensenergie, die sich in der Wellenbewegung manifestieren soll: Und nun tummelten sie sich, lachend und schreiend in der frischen, herrlichen, sonnigen Freiheit, vom Wogengeschicht, von den weißen, herabbrechenden Wellenkämmen überschüttet; mit freier, übermütiger Brust gegen die kristallene Klarheit der breit heranrollenden, bäumenden Wellen andringend. Jetzt hochgehoben von der prächtigen Kraft des Wassers, einen schnellen, herrlichen Blick erfassend über die wunderbare, schäumende, blitzende, unendlich belebte stahlblaue Weite; und nun wieder in den glasklaren, kühlen Tiefen mit ihrer azurnen, bernsteingoldenen und smaragdenen Pracht; von goldgrünen Seegräsern umspielt, von dem stillen, rauchigen, weich flimmernden Taumel bunter Quallen und prächtiger Medusengebilde, sich entfaltend und wieder zusammenziehend, dass sie sich ausnahmen wie langgezogene Bündel gleißender Goldfäden. (Schlaf 1903, 273)
Aus der Wellenbeschreibung lassen sich mehrere Schlüsse über die (lebens-) philosophischen Bezugshorizonte und Stilregister ziehen, in denen die Schlaf’sche Poetik des gesunden Menschen verankert ist. Der häufige Gebrauch von Präsenspartizipien, die das Momenthaft-Vergängliche der Wellenbewegung akzentuieren, schildert die monistische Entgrenzung als präsentische und erhabene Augenblickserfahrung. Damit bestätigt die fiktionale Modellierung des visionierten neuen Menschen das nietzscheanische Theorem des „Unhistorischen“ als „ursprünglichere“ Empfindungsart, der allein „etwas Rechtes, Gesundes und Großes, etwas wahrhaft Menschliches“ erwachsen könne (Nietzsche 1999, 252). In Verbindung mit der Idee eines gesunden Neumenschentums steht also eine lebensphilosophisch motivierte Augenblicksästhetik, die einen Einfluss nietzscheanischer Argumentationslinien sichtbar werden lässt. Die Bezugslinien monistischer Vorstellungskomplexe, die im Bild der Welle zum Ausdruck kommen, werden jedoch nicht nur auf inhaltlicher Ebene wirksam. Auch die semiotischen und stilistischen Gestaltungsprinzipien lassen einige Rückbezüge ersichtlich werden, die die Poetik des gesunden Neumenschen in Schlafs Roman bestimmen. In erster Linie fällt eine Revitalisierung frühromantischer und symbolistischer Zeichenpraktiken ins Auge, die im Text an die monistisch gefärbte Neumenschpoetik angeschlossen werden. Indem der Roman die Welle als Zeichen einer ganzheitlichen Harmonieerfahrung codiert, bedient er sich derselben Bild-
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lichkeit, die Novalis – mit dem sich Schlaf drei Jahre nach dem Erscheinen seines Romans in einer „psychophysiologische[n] Studie“ befasst hat (Schlaf 1906) – in seinem naturphilosophischen Romanfragment Die Lehrlinge zu Sais (post. 1892) in eine pathetische Verlustnarration eingewoben hatte (vgl. Novalis 1826, 74). Neben dem Rekurs auf die analogistische und symbolische Zeichenpraxis Novalis’ zeigt sich in der Wellensemantik ein Rückbezug auf Baudelaire, dessen symbolistische Sprache Schlaf in mehreren essayistischen Texten behandelt hat.9 Indem der Roman das subjektive Innenleben der Figur mit der dynamischen Bewegtheit der Meereswellen verschränkt, greift er auf ein Verfahren zurück, das in Baudelaires Gedicht L’homme et le mer eine paradigmatische Ausgestaltung gefunden hat. Der „homme libre“ wird von der lyrischen Sprechinstanz zum Spiegelbild des Meeres stilisiert (vgl. Baudelaire 1857, 40‒41) ‒ eine Analogisierung von Meeres- und Innenwelt, die sich in Peter Boies Freite an das monistische Einheitsideologem koppelt. Die Welle wird zum pars pro toto eines universalen Rhythmus und zum Analogon des einzelnen Körpers: Er war nur noch der kräftige, herzhafte Rhythmus der stoßenden, weitausholenden Bewegungen seiner Glieder, das Schaukeln der bunten, sonndurchspielten Wogen, das blitzende, stäubende Aufbäumen der krystallklaren Wellenkörper: war die hundert lachenden Farben, von denen sie umgaukelt wurden; die plötzlich befreite, herrliche Azurweite; das Jauchzen der hundert Stimmen dieses Wogendranges; war die lachende Lust dieses unschuldigen, herrlichen jungen Körpers, der sich ihm enthüllt hatte wie mit den Seligkeiten eines ganzen neuen Evangeliums! (Schlaf 1903, 275)
Es zeigt sich an dieser Stelle abermals, wie die Vorstellung vitalistischer Einheitserfahrung von der Handlungsebene in die semiotisch-diskursive Ebene projiziert wird:10 Wie dem Protagonisten ein übergeordneter Zusammenhang erfahrbar wird, produziert der Text Zusammenhänge, die über eine syntagmatische Verbundenheit hinausgehen: Die Wiederholung von Klängen (das „stäubende Aufbäumen“), Anfangslauten („lachende Lust“), ganzen Lexemen („lachend“, „Wogen“) und syn-
9 In den 1914 erschienenen Kurzessays Die französische Renaissance und Die Zukunft des Dramas wird Baudelaire in eine Reihe französischer Dichter gestellt, die Schlaf zufolge den Übergang von der Romantik zum Symbolismus markieren. In der Schlaf’schen Konzeption symbolistischer Zeichenpraktiken als „Verinnerlichung des Naturalismus“ (Schlaf 1914, 107) bekundet sich eine symptomatische Komponente des Schreibprogramms, dem Schlaf selbst in seinem Romanwerk folgt: Der französische Symbolismus umspanne Elemente des analytisch-deskriptiven Naturalismus „in einer positiven, in sich gestätigteren neureligiösen Weltauffassung“ (Schlaf 1914, 108). 10 Es handelt sich dabei um ein typisches Verfahren monistischer Texte. Wie Stöckmann gezeigt hat, ist es für die monistische Erzählform charakteristisch, dass sie ihre „textuelle Signifikation über die referenzielle Aussage hinaus rhetorischen und figuralen Funktionen anvertraut“ (Stöckmann 2005, 283).
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taktischen Konstruktionen („war die hundert lachenden Farben/war die lachende Lust“) überträgt das Homogenitätserlebnis, das den visionierten neuen Menschen bestimmt, auf die Ebene der Zeichenbildung. Wenn in diesem Sinne die Darstellung eines gesunden Neumenschen bestimmte semiotische Konfigurationen nach sich zieht, so scheint sich der anfangs skizzierte literarhistorische Problemhorizont zu schließen. Das Ideal der Gesundheit erscheint in Schlafs Roman nicht als das Andere, das als Negativkategorie anklingt, sondern fungiert als operativ eigenständige und konstitutive Erzähldeterminante, die in spezifischen Darstellungsstrukturen hervortritt.11 Für die Frage nach den narrativen Verfahrensweisen, in denen sich die Kategorie ‚Gesundheit‘ realisiert, ist Peter Boies Freite jedoch wenig aufschlussreich. Die positive Markierung einer gesunden Disposition stellt einen Kernbaustein der ‚Neumenschpoetik‘ dar, die weniger die Handlung bestimmt, als dass sie spezifische Verfahren der Zeichenbildung anstößt und mit Formimpulsen neuromantischer und impressionistischer Manier korreliert.
3 Kraftemphase und Inversionsverfahren. Die Gesundheitspoetik Rudolf Herzogs Stellt man den Versuch an, erzählerische Gestaltungsweisen zu bestimmen, durch die Gesundheit literarisch dargeboten wird, so führt der Weg vor allem zu Romanen der antimodernen Bewegung, die der Dekadenzerzählung den Kampf ansagen und sich zu einer emphatischen Zelebrierung des gesunden ‚Deutschtums‘ aufwerfen. Gesundheit fügt sich hier in ein Netz von präfaschistischen Normen ein, das sich aus einer völkisch-national besetzten Lebensideologie und Männlichkeitsvision, bürgerlich ideologisierten Arbeitsethik und sozialdarwinistischen Kraftemphase speist. Ebenso aufschlussreich wie repräsenta11 Peter Boies Freite ist nicht die einzige Erzählung von Johannes Schlaf, die ein monistisch gefasstes Verständnis von Gesundheit zum Strukturbaustein erhebt. In Schlafs Roman Aufstieg (1911) führt die beständig thematisierte gesunde Disposition des Protagonisten zu einer struk turellen Aufspaltung: Da der Protagonist in seiner gesunden, vitalistischen Mentalität der Arbeit und Tat anstelle der philosophischen Kontemplation zuneigt, werden sämtliche weltanschauliche Reflexionseinheiten aus der Handlungsebene ausgelagert und in Exkurse eingebunden, die den Handlungsgang pausieren lassen. In Schlafs lebensreformerisch durchdrungener Erzählung Das Fruchtmahl (1921) dagegen läuft die gesamte symbolisch beladene Handlung auf eine Allegorie der gesunden Moderne hinaus. In den Bildern des (Berg-)Aufstiegs und der gemeinschaftlichen, belebenden Fruchtspeise verdichten sich messianisch aufgeladene Phantasmen der Regeneration und Erlösung.
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tiv ist in diesem Zusammenhang das Erzählwerk Rudolf Herzogs, das ähnlich wie das Schlaf’sche Œuvre eine vitalistisch-energetische Gesundheitsideologie propagiert, dabei jedoch einem völlig anderen Anschauungs- und Verfahrenshorizont untersteht. Herzogs Literaturprogramm stieß zu seiner Entstehungszeit auf einen breiten Resonanzraum und galt, wie die Formulierungen eines 1909 erschienenen Kurzessays aus der Zeitschrift Ueberall demonstrieren, als rundum gesunde Kunst – keine krankhafte, in der sich vor noch gar nicht so langer Zeit der konsequente Naturalismus gefiel; gesunde Kunst, die das Leben lieben lehrt, die Kräfte des Gesamtorganismus unseres Volkes – und konzentriere er sich auch im Mikrokosmos der Familie – wie die Kräfte des Einzelnen in all ihrer Schönheit offenbart; gesunde Kunst, die die Tat oder auch nur den Willen zur Tat in ihre Rechte einsetzt und alle schwächliche, neurasthetische Halbheit zum Tempel hinausjagt. (O.V. 1909, 37‒38)
Die thematisch-inhaltlichen Qualitäten, die Herzogs Romanwerk zugeschrieben werden, lancieren einen Katalog von Kriterien, die einem Text innewohnen müssen, um ihn als gesunde Kunst zu definieren: ein lebensbejahender und didaktischer Impetus („Kunst, die das Leben lieben lehrt“), eine patriotischnationale Gesinnung, Willensemphase und Tatpathos. Dieser Kriterienkatalog wird bei Herzog nicht nur durch Handlungsstruktur und Figurengestaltung umgesetzt, sondern auf eine poetologische Ebene erhoben. Das Herzog’sche Romanwerk zeichnet sich vor allem dadurch aus, dass es Gesundheit als erzählerische Zielvorgabe explizit macht und als literarisches Wertungskriterium zum Einsatz bringt. In dem 1901 erschienenen Gesellschaftsroman Der Graf von Gleichen fungiert eine Journalistenfigur als Sprachrohr eines antidekadenten und vorgeblich gesunden Kunstprogramms (vgl. Schutte, 85): Wie mir scheint, steht die moderne Kunst wieder einmal an einem Wendepunkt; die Autoren besinnen sich auf ihre Kraft, das haut goût sinkt im Preis, man wünscht weniger Verzierungen, in denen sich die Maniriertheit des Künstlers besiegelt, als ein kraftvolles Fundament, in dem sich der Gehalt der Kunst offenbart. Man ist der ewigen Stimmungsmacht der gebrochenen Töne satt; die Handlung, die Tat soll uns in Stimmung bringen! Unsere Zeit wird eine Zeit sein, in der man die Muskeln prüft und die Schneide des Schwerts. Unser modernes Volk muß daher ein gesundes sein, und da die Kunst auch ein Lehramt inne hat, so muß unsere moderne Kunst vor allem eine gesunde sein. (Herzog 1920, 415)
Was die immanente Gesundheitspoetik in Der Graf von Gleichen proklamiert, wird in Herzogs Erfolgsromanen als handlungs- und strukturbildendes Erzählprogramm ausgestaltet. Vor allem der 1909 erschienene Roman Hanseaten lässt sich als programmatisch angelegtes Korrektivprojekt betrachten, das der vermeintlich degenerierten Literatur der zeitgenössischen Gegenwart eine Poetik der Gesundheit entgegensetzen will. Bereits die Lokalisierung des mehrsträngigen
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Handlungsgefüges untersteht dem ideologisch motivierten Ziel, einen Dokumentationsraum der gesunden Mentalität zu modellieren. Die in der hanseatischen Industriewelt angesiedelte Handlung wird von Figuren getragen, in denen sich das stereotypisierte Bild „eines gesunden niederdeutschen Menschenschlages“ (Kafitz, 146) artikuliert, das vor allem durch Julius Langbehns Rembrandt als Erzieher (1890) popularisiert worden war (vgl. Langbehn 1890, 38). Der Schauplatz des Geschehens, der hamburgische Hafen, wird als magnetisches Kraftzentrum präsentiert, das nach und nach sämtliche Figuren in Bann zieht. Die Protagonisten, die eine als gesund markierte Vitalkraft in sich tragen, bewähren diese entweder bereits in erfolgsgekrönter Werftarbeit oder lernen sie im Laufe der Erzählung zu kanalisieren. So folgt die Handlungsstruktur einer Dynamik, die nahezu das gesamte Figurenarsenal einer maximalen Ausschöpfung ihres Kraftpotenzials entgegenlaufen lässt. Mit dieser schematisierten Erzählanlage, die darauf zielt, die Figuren als vitalistische Kraftnaturen zu modellieren, löst der Roman ein Gesundheitskonzept ein, das den bürgerlich-realistischen Wertungspraktiken des 19. Jahrhunderts entlehnt ist und auf einer Engführung von Figuren- und Textebene aufruht: Als gesund – und realistisch – gelten Texte, die ihre Protagonisten mit einer gesunden, vitalen und arbeitsethischen Disposition ausstatten (vgl. Steinecke 1980, 144). Eine solche Poetik des gesunden Menschen wird 1909 von einem Grenzboten-Rezensenten als Determinante des Herzog’schen Erzählkosmos herausgestellt: Es sind überwiegend gesunde und kräftige Menschen, die an sich und ihren Stern glauben, immer bereit zum Wagen und Gewinnen, voll Zuversicht, den Nebel und die Wolken über ihnen durchbrechen und sich Sonne und blauen Himmel erobern zu können. (O.V. 1909a, 532)
Was wie die trivialisierte Umsetzung eines bürgerlich-realistischen Gesundheitskonzepts anmutet, begründet zugleich die oppositionelle Stoßrichtung des Romans. Das Erzählsystem der Hanseaten entfaltet sich über eine Umkehrung konventionalisierter Beschreibungsschemata, die die Moderne als ein dem Untergang anheimgegebenes Degenerationsphänomen darstellen. Das pathologisierende Verlustnarrativ wird durch eine emphatische Gewinnerzählung überschrieben, die die Moderne als Zeitalter der Gesundheit, Kraft und Vitalität zelebriert. Textuell wirksam wird diese Überschreibungslogik in erster Linie auf einer semantisch-narrativen Ebene, wo fundierende Substrate der Dekadenzerzählung remodelliert werden und sich eine Verherrlichung der modernen Arbeitswelt entfaltet. Besonders deutlich wird dies im Haupthandlungsstrang des Romans, der die kraftemphatische Erzählgrammatik in eine genealogische Kontinuitätserzählung einbindet. Der von einem vitalistischen „Unternehmungsfeuer“ (Herzog 1950, 263) ergriffene Protagonist geriert sich als Teil eines genealogischen
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Kontinuums, in dem das gesteigerte Kraftpotenzial ohne Einbüße von einer Generation in die nächste übergeht. Ausgehend von einer angestammten Argumentationsfigur, die die zeitgenössischen Erbschaftsdebatten durchzieht,12 kann der Roman den elegischen Grundton des Modernenarrativs ausschalten: Die Erbschaft wird als Prozess aktiver Aneignung markiert, der das „Einsetzen der eigenen Kraft“ (Herzog 1950, 283) verlangt. So werden sämtliche Erbempfänger zu Ko-Konstituenten einer generationenübergreifend konservierten Vitalkraft, die die Differenzen zwischen Vorfahren und Nachfahren tilgt und damit die pathologisierende Moderne-Erzählung umkehrt: An die Stelle des dekadenten Individuums tritt der gesunde Held, der dem „Tatendrang der Väter“ (Herzog 1950, 37) gerecht zu werden sucht und von einem „stolzen Bewusstsein des Könnens und Vollbringens“ (Herzog 1950, 58) geleitet wird. Auf die gesunde, krafterfüllte Vätergeneration folgt also keine angekränkelte, degenerierte Nachfolgegeneration, wie es in den acht Jahre zuvor erschienenen Buddenbrooks von Thomas Mann der Fall war. Stattdessen hat ein jedes männliche Individuum Teil an einem Prozess fortschreitender Kraftakkumulation. Dem depathologisierenden Erzählgestus, der die Moderne als Entfaltungsraum gesunder Kraft erscheinen lässt, korrespondiert eine Erzählstrategie, die den Handlungsstrang um den Sohn des Protagonisten bestimmt. Über eine unterschwellige Effeminisierung der Figur reproduziert der Roman zunächst das herkömmliche, genderspezifisch codierte Dekadenznarrativ, bevor er es durch eine exemplarische Konversions- und Genesungsgeschichte durchkreuzt. Nach einer fehlgeschlagenen Flucht in die mütterliche Welt, die als eine auch räumlich ausgegrenzte, amoralische Gegenwelt markiert wird, kehrt die Figur in die hanseatische Sphäre zurück und erweist sich als ein dem Vater ebenbürtiger Kaufmann, der sich einer „ausgeprägten Männlichkeit“ (Herzog 1950, 308) rühmen kann, und in dessen „willensstarken Augen“ keine Spuren des „schwärmenden Knaben[s] von einst“ (Herzog 1950, 291) zu lesen sind. Das Statement dieser schematisierten Konversions- und Mannwerdungserzählung ist eindeutig: Gesunde und männlich codierte Kraft ist den Figuren inhärent und kann durch nichts erschüttert werden. Der Metacode ‚Gesundheit‘ wird an dieser Stelle sowohl durch zeitliche als auch durch räumliche Erzählformen realisiert: Die Orientierung des Erzählstrangs am Schema der conversio assoziiert das Vorstellungsprodukt ‚Gesundheit‘ mit Progression und Entwicklung, während die dichotomische Raumorganisation den normativen Unterbau fokussiert: Gesunde Figuren bewegen sich im Zentrum der hanseatischen Welt, wohingegen Krankheit nicht nur normativ, sondern auch räumlich an den Rand des Geschehens gedrängt wird. Da sowohl
12 Vgl. dazu Willer (2014, 57).
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die zeitlichen Kategorien der Progression und Entwicklung als auch die raumbezogene Opposition von Zentrum und Peripherie geschlechterpolitisch besetzt sind, lässt sich in puncto narrativer Darbietung von Gesundheit folgender Schluss ziehen: Das Ideal der Gesundheit, wie es Herzogs Roman thematisch macht, tritt nicht nur als Analogon zur Kraft in Erscheinung, sondern als Produkt narrativer Schemata, die zugleich für die Kategorie der Männlichkeit konstitutiv sind.13 Die Gleichsetzung von Gesundheit, Kraft und Männlichkeit, die um 1900 text(sorten)übergreifend anzutreffen ist, ist damit nicht nur die Folge von Stereotypverschränkungen, sondern Ausdruck einer Mehrfachbesetzung bereitstehender Erzählmuster: Der Weg zur Gesundheit, den die Entwicklungsgeschichte der Sohnfigur signalisiert, ist zugleich ein Weg zur gelingenden Kräfteaktivierung und ein Prozess der ‚Mannwerdung‘. Vollzogen wird diese Engführung normativ besetzter Vorstellungen über eine spezifische Erzählstrategie. Diese ergibt sich aus der Umkehr der modernediagnostischen Verlusterzählung. Wenn an die Stelle der Krankheits- und Verfallsdiagnosen eine triumphale laudatio auf die gesunde und erstarkende Moderne tritt, so rückt ‚Gesundheit‘ ebenso wie die Kategorie der Männlichkeit und Kraft als Produkt narrativer Überschreibungen und Negationen in den Fokus. Diese Umkehrlogik, über die Gesundheit in den Hanseaten modelliert wird, avanciert acht Jahre später, in Herzogs Roman Die Stoltenkamps und ihre Frauen (1917), zu einem strukturbildenden Verfahrensprinzip. Strategisch inszeniert sich der „nur knapp verkappte Schlüsselroman“ (Hallenberger 2000, 109), der den rund 100 Jahre andauernden Aufstiegsweg der Familie Krupp zur Anschauung bringt, als Gegenmodell zu Thomas Manns Roman Buddenbrooks, dessen Handlung und Struktur als Negativfolien dem Erzähldiskurs der Stoltenkamps eingeschrieben sind. Der narrative Fokus des Romans richtet sich auf die Aufstiegsgeschichte Fritz Stoltenkamps, deren individualzentrierter Handlungsgang immer wieder mit der übergeordneten Erzählachse ‚Familie‘ – die wiederum mit der Erzählachse ‚Staat‘ korreliert – enggeführt wird. Im Wechselspiel von biographischer Monumentalisierung, fiktionalisierter Aufstiegs- und Familiengeschichte und trivial-historiographischem Referenzmodus konturiert sich eine kriegspropagandistische Deutschlanderzählung. Diese mündet gegen Ende des Romans, wenn die Handlungsebene einer suggestiven Vergegenwärtigung der Kriegser-
13 Zur narrativen Konstruktivität der Kategorie ‚Männlichkeit‘ vgl. die einschlägige Studie von Walter Erhart (Erhart 2001), die Geschlechterforschung und Erzählforschung zusammenführt, sowie Sebastian Zilles’ Studie zu Männerbünden und Männlichkeitskonfigurationen um 1900 (Zilles 2018). Unter Rückbezug auf Erhart fasst Zilles Männlichkeit als narrative Struktur auf und untersucht ausgehend von dieser Prämisse die Darstellung von Männerbünden in literarischen und wissenschaftlichen Texten der Zeit um 1900.
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eignisse weicht, in einer patriotischen Agitationspoetik ein. Dass die Gesundheitsnorm und Kraftideologie, denen sich der Roman verschreibt, über eine antithetische Bezugsnahme auf die Buddenbrooks narrativiert werden, ist bereits von der zeitgenössischen Kritik bemerkt und belobigt worden: Unwillkürlich drängt sich dem Leser ein Vergleich mit Thomas Manns „Buddenbrooks“ auf. Aber scheidet man von dieser Geschichte des Niedergangs und der Vermorschung eines einst stolzen Geschlechts nur mit wehmütig niederdrückenden Gefühlen, so jubelt und klingt hier in diesem Epos des glanzvollen Aufstiegs alles von ursprünglicher Kraft und bodenständiger Tüchtigkeit, von Treue, Kampf und Sieg. Und solche innerlich ganz gesunde, starke Bücher tun uns jetzt not. (Zarncke 1917, 331)
Der oppositionelle Elan, den Herzogs Roman strategisch evoziert, wird vor allem auf Handlungs- und Strukturebene wirksam. Mit dem chronologischen Längsschnitt, der die Beiträge der Stoltenkamps zur familieneigenen Gusstahlfabrik porträtiert, nähert sich der Roman gezielt dem Strukturmodell der Buddenbrooks. Die Adaption des strukturellen Musters geht jedoch mit einer programmatischen Umkehr seines semantisch-ideologischen Bezugshorizonts einher: Anstelle des Verfallsnarrativs ist es ein bürgerlich ideologisiertes Gesundheitsideal, das im Schema der Familiengeschichte realisiert wird. Indem der Roman seinen Erzählkosmos um ein familiäres Kollektiv ausrichtet, markiert er seinen Protagonisten als Träger bürgerlicher Tugenden und damit als Inbegriff psychophysischer Gesundheit: In Fritz Stoltenkamp hypostasiert sich das althergebrachte Ideal eines modernen Bürgers, der immer auch Teil einer heilen communitas ist und durch seine Arbeit und Leistungen das Wohl der Familie – als pars pro toto des Staates – zu befördern sucht.14 Die Absetzung vom Prätext Buddenbrooks verstärkt sich dadurch, dass die ihm zugrunde liegende Erzählstruktur diametral gespiegelt wird. Anstelle des generationenübergreifenden Untergangsprozesses steht bei Herzog eine prototypische Aufstiegsnarration, die nicht nur das asketische Arbeitsethos der Figuren, sondern auch ihre gesunde Konstitution akzentuiert. Der im bürgerlichen Ideologiesystem verankerte Konnex zwischen Kraft, Arbeit und Gesundheit wird durch die Aufstiegserzählung in ein kausal strukturiertes und teleologisches Handlungsarrangement eingespeist und durch die emphatische Rede der Erzählinstanz bekräftigt. Der am Ende des Romans eintretende Aufstiegserfolg erscheint als Produkt einer Lebenskraft, die in produktiver Arbeit kanalisiert wird:
14 Vgl. zu diesem bürgerlichen Idealtypus Anz (2002, 397).
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Aus jeder Arbeit, die er vornahm, entsprang eine neue, regte ihn an, sie auf der Stelle zu bewältigen, verscheuchte die Müdigkeit und schenkte ihm Gewissheit. (Herzog 1917, 132)
Im Zusammenspiel von positiv wertender Erzählerrede und Aufstiegsnarration ruft der Roman die anthropologisch-ideologische Utopie des 19. Jahrhunderts auf, die sich aus Argumentationslinien völkisch-nationalistischer, sozialdarwinistischer, aber auch klassizistischer Provenienz speist: Entworfen wird ein vitales und gesundes Individuum, das sein Kraftpotenzial vollständig ausschöpft und es zur produktiven Arbeit aktiviert. So profiliert sich in Herzogs Roman ein bürgerlich-ideologisches Gesundheitsideal, das einmal mehr den zeitdiagnostischen Erzählgehalt des integrierten Prätextes umkehrt. Der differenzierten Reflektiertheit und der damit verbundenen physischen Labilität – den Verfallsindizien der Buddenbrooks – steht die plakativ hervorgehobene naive Gesinnung und körperliche Stärke der „Kraftnatur“ (Herzog 1917, 410) Fritz Stoltenkamp gegenüber, der keine ausartende Reflexionstätigkeit kennt und dem jegliche Wirklichkeitsflucht fremd ist: „Was er vorschlug“, heißt es an einer Stelle, „waren keine Traumgebilde und Hirngespinste, das hatte irdisches Knochengerüst und stand mit beiden Beinen auf der Erde“ (Herzog 1917, 103). Verbunden mit der bürgerlich ideologisierten Gesundheitsnorm ist eine thermodynamisch fundierte Kraftsemantik, die ihre Wurzeln in der Regenerationsästhetik des späten 19. Jahrhunderts hat. Fritz Stoltenkamp, der „straff an Leib und Seele“ (Herzog 1917, 288) ist und Werke von ebensolcher Stärke aufbaut, wie sie seiner ‚stählernen‘ Körperlichkeit innewohnt, fügt sich auf exemplarische Weise in die Reihe der ‚großen Individuen‘ ein, in denen die Propagandisten des „antidekadenten ‚Neu-Idealismus‘“ (Stöckmann 2009, 164) den Ausgangspunkt einer neuen und gesunden Literatur gesehen hatten. Moritz Carrière etwa hatte 1891 in seinem Bekenntnis der „Moderne“ den Beginn einer Literatur ausgerufen, die die „Freudigkeit eines in sich gesunden Lebens“ darbietet, indem sie ‚große‘ und gesunde Helden in Erscheinung treten lässt: […] die verlotterten, erblich belasteten, verkümmerten Existenzen werden Gestalten Platz machen, welche sich im Kampf ums Dasein behaupten und sich und die Menschheit zu schöneren Formen des Lebens hinanführen. […] Die neue Poesie wird also wohl wieder die originale Triebkraft auch der Menschen, auch der Charaktere betonen, und ihre Ideale in sich selbstbestimmenden, selbstbehauptenden Persönlichkeiten gewinnen. (Carrière 1891, 162)
Herzogs Roman realisiert diese vitalistische Ästhetik über eine kraftemphatische und normative Figurenzeichnung, deren Symbolrhetorik auf die nationalsozialistische „hart-wie-Kruppstahl“-Formel vorausweist und durch die Erzählstruktur bekräftigt wird: Die Aufstiegsnarration profiliert den Protagonisten als „sittlich
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gefestigte, selbstdisziplinierte, […] tüchtige und erfolgreiche Persönlichkeit“ (Anz 2002, 397), die der Forderung der Regenerationsästhetiker gerecht wird. Im Hinblick auf die Bedingungen und Formmerkmale erzählerischer Gesundheitskonstruktion lassen Herzogs Hanseaten und Stoltenkamps einige Grundaspekte sichtbar werden. Zunächst einmal zeigt sich in beiden Romanen, dass die semantisch-narrativen Verfahrensweisen der Gesundheitsmodellierung entweder einer Inversionslogik oder einer konnotativen Äquivalenzsetzung entspringen. Konnotativ verfahren die Texte insofern, als sie die Kategorie der Gesundheit mit Vorstellungen von Kraft und produktiver Arbeit kurzschließen; invers sind ihre Erzähllogiken, da sie etablierte Beschreibungsmuster – vor allem die Verfallserzählung – umkehren und überschreiben. So initiiert das Erzählziel der Gesundheit auf semantischer Ebene zum einen eine Aufrollung des bürgerlichen Normensystems, zum anderen eine körperzentrierte Kraftemphase. Auf Narrationsebene dagegen wird eine elementare Formkonstitution in Gang gesetzt, die bei der asymmetrischen Unterscheidung von Gesundheit und Krankheit ansetzt und die weitgehend unmarkiert bleibende Seite der Krankheit zu einem Objekt der Inversion macht. Der positiv codierte Pol der Gesundheit entfaltet sich über ein intertextuelles Replikverfahren, das mit demonstrativen Normsetzungen einhergeht: Die pathologisierende Verfallserzählung weicht einer Gewinnerzählung, aus der degenerierten Körperlichkeit wird eine kraftvolle physis, an die Stelle der willenlosen Neurastheniker treten heroische ‚Männer der Tat‘. Obgleich es folglich primär narrative Elemente sind, in denen sich das Erzählziel ,Gesundheit‘ niederschlägt, färbt der oppositionelle Impetus auch auf andere Textebenen ab. Besonders deutlich zeigt sich dies, wenn man die jeweiligen Romane im Zeichen systemtheoretischer Beschreibungskategorien liest. Wenn sich die Handlungsstruktur der Texte dadurch entfaltet, dass ein vorgeprägtes, krankheits- und degenerationszentriertes Modernenarrativ umgekehrt und überschrieben wird, so bildet sich in der referenziellen Ausrichtung der Romane eine Zwei-Ebenen-Struktur heraus. Die umweltsimulatorische Konstruktionsebene wird von einem Erzählfokus überlagert, der sich eines spezifischen Strangs innerhalb des literarischen Systems – der pathologisierenden Verlusterzählungen der Jahrhundertwende – als „Medium für Formgewinn“ (Plumpe 1995, 259) bedient. Gesundheit ist in diesem Sinne das Ergebnis eines Überwindungsgestus, mit dem die Romane dem vermeintlich vorherrschenden und vorgängigen Dispositiv der Krankheit den Kampf ansagen. Diese systemreferenzielle Bezugsrichtung, die in den Stoltenkamps eine intertextuell konkretisierbare Form annimmt, lässt die aporetisch anmutende Verfahrensschranke sichtbar werden, die dem Projekt eines gesunden Erzählens um 1900 zu eigen ist. Zwar wird die Erzählstruktur der Herzog’schen Romane von einer emphatischen Fixierung auf das Gesunde, Kraftvolle und Vitale durchsetzt, doch erscheinen jene Signaturen des Gesunden nur-
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mehr erzählbar – und analytisch beschreibbar – vor der Kontrastfolie des Kranken. Dem Darstellungsziel ‚Gesundheit‘ nähern sich die Erzählungen über eine Inversionslogik, die das Krankheitsdispositiv ex negativo präsent werden lässt. Da die literarische Markierung von Gesundheit auf semantischer Ebene konnotativ, auf Narrationsebene oppositionell verläuft, kann von einer formativ eigenständigen Gesundheitspoetik allenfalls bedingt die Rede sein. Damit drängt sich die Vermutung auf, dass sich die Kategorie ‚Gesundheit‘ auch hier – ähnlich wie im Erzählwerk von Johannes Schlaf – weder primär auf Sujet- und Narrationsebene entfaltet, wo Handlungsstruktur und Figurenzeichnung die Schemata der Krankheit negativ spiegeln, noch auf einer Beschreibungsebene wie der Figurenzeichnung zu lokalisieren ist, wo Gesundheit als das bloße Korrelat von Kraft und bürgerlichen Tugenden erscheint. Nimmt man indes neben der Handlungs- und Beschreibungsebene die ihnen zugrunde liegenden Aussagestrukturen in den Blick, so lassen sich mehrere Elemente aufzeigen, in denen Gesundheit als stilistisch-semiotisches Gestaltungsmovens Kontur gewinnt und ein eigenständiges Wirkungspotenzial in sich birgt. In Herzogs Hanseaten fällt zunächst eine sprachliche Kraftentfaltung ins Auge, die dem thermodynamischen Gesundheitsbegriff ein erzähldiskursives Pendant verschafft. Die Dynamik und Vitalkraft, die der hanseatischen Arbeitswelt zugeschrieben werden, finden ihren Niederschlag in einer stellenweise präsentischen und zeitdeckenden Erzählform, die die Erzählgeschwindigkeit der jeweiligen Sequenzen erhöht. Syntaktisch spiegelt sich die markierte Ereignisfülle und Bildrasanz in parataktischen Satzkonstruktionen, die ein schnelles Einströmen neuer Eindrücke suggerieren. Die auf diese Weise entfaltete Apotheose auf die Dynamik und Ereignisvielfalt der hanseatischen Arbeitssphäre verbindet sich mit einer Sprachgestaltung, die potenzielle semantische Lücken konsequent zu schließen sucht. Gesundheit erscheint hier als das Korrelat einer Simplizitätsidee, die sich in einer Fixierung sprachlicher Eindeutigkeit realisiert. Vor allem die Eingangsszene dämmt jegliche Mehrdeutigkeiten, die mit einer bildhaftmetaphorischen Sprache verbunden sind, durch ausdrückliche Offenlegungen ein. Was metaphorisch vage evoziert wird, machen nachgeschobene Erklärungen transparent. Sonne und Licht etwa stehen bei Herzog nicht nur metaphorisch für das Leben, sondern werden nachträglich und explizit als Zeichen für das Leben herausgestellt: Die Morgensonne hat die Wasserfläche erreicht. Leuchtend liegt sie auf dem Gewimmel der Boote und Barkassen, die bienenemsig die Schiffsriesen umschwirren, leuchtend auf dem goldenen Getreide, das wie ein Strom aus den Elevatoren in die Kahnungetüme braust, leuchtend auf den Kohlenlasten der Leichterschleppzüge, leuchtend selbst auf den Gesichtern der Menschenherde, die ein polternder Raddampfer rasch in die Auswandererhallen entführt. Wohin die Sonne trifft, quillt das Leben auf. Ihr gilt kein Totes. Nur Entwicklung. (Herzog 1950, 9)
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Während sich auf Handlungsebene des Romans eine Gleichsetzung von Gesundheit, Vitalität und Kraft abzeichnet, zeigt sich folglich auf der sprachlichstilistischen Ebene der zitierten Sequenz eine Korrelation von Gesundheit und Stabilität. Semantische Ambiguitäten werden getilgt, potenzielle Deutungsoffenheiten der bildhaft-figuralen Sprache kategorisch unterbunden. Die betont luzide Zeichenbildung lässt darauf schließen, dass Gesundheit an dieser Stelle als fundierender Strukturbaustein zur Geltung kommt. Gleichwohl zeigen sich auch auf semiotischer Ebene Einschränkungen hinsichtlich der eigenständigen Operativität der Kategorie ‚Gesundheit‘. Gesundheit haftet auch hier der Anstrich einer ideologisch besetzten Imaginationskategorie an, die sich ausschließlich in Differenzmarkierungen und Inversionsverfahren entfaltet. Über eine herkömmliche Inversionslogik schließt der Text an eine politisch-poetologische Gesundheitskonzeption an, die ihre Wurzeln im Verklärungsparadigma des Bürgerlichen Realismus hat. Das topisch berufene Differenzverhältnis zwischen dem Idealen und dem Wirklichen, das die Grenzbotenrealisten als „krank“ diskreditiert hatten,15 wird als Negativfolie in den Erzähldiskurs eingespeist. Emphatische Erzählerkommentare führen den hamburgischen Hafen als Schauplatz dynamischer Aktivitäten und Raum der Fülle vor, der durch die Vielzahl visueller Wahrnehmungsofferten ein poesieaffines Gestaltungs- und Wirkpotenzial annimmt. Mit der hervorgehobenen Farb- und Formenvielfalt wird die diegetische Erscheinungswelt, die hanseatische Topographie, zu einem Kunstprodukt sui generis stilisiert. Eine ikonographische Semantik markiert die Schiffsbauhalle als „Gesamtgemälde“, das in „tausend Farben und Formen […] die erregte Seele in hingebungsvolles Staunen versetzt[e]“ (Herzog 1950, 31), und so die Einheit von Poesie und Prosa zutage treten lässt. In ihrem Überangebot visueller Eindrücke wird die vermeintlich prosaische Arbeitswelt zum Raum der Poesie, der dem zur ästhetischen Syntheseschau befähigten poeta vates die Fülle des Lebens offenbart. Mit dieser Engführung des Wirklichen und Idealen entfaltet der Roman ein Modell visueller Rezeption und poetisierender Semiose, das sich passgenau in das realidealistische Verklärungsprogramm einfügt. Was sich in diesem Kontext abzeichnet, ist das tradierte, bürgerlich-realistische Ideal einer gesunden Dichtung, die eine vermeintlich pathologische Differenzpoetik durch kontingenztilgende Realitätsgestaltung überwindet. Eigenständig ist die auf diese Weise vorgeführte Gesundheitspoetik dabei nur zum Teil. Nicht nur ist sie einer konzeptuellen Analogisierung von Gesundheit und Harmonie entlehnt, auch lässt ihr verfahrenstechnischer Unterbau auf
15 Vor allem Julian Schmidt hat die Annahme einer „unendliche[n] Kluft zwischen dem Wirklichen und dem Möglichen“ als Signatur einer ‚kranken‘ Kunst beschrieben (vgl. Schmidt 1851, 24).
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eine letzten Endes heteronome, an die Krankheit gebundene Konstruktionsart schließen: Gesundheit entspringt auch hier, ähnlich wie auf Handlungsebene, einer Oppositionslogik, in deren Rahmen vermeintlich vorgängige, als pathologisch identifizierte Gestaltungsprinzipien umgekehrt und überschrieben werden. Dies ändert jedoch nichts daran, dass das Erzählziel der Gesundheit dadurch, dass es semiotische Verfahren mitbestimmt, zu einem Strukurmovens wird, dessen Beschreibung gewiss nicht bei der Abgrenzung zur Krankheit stehen bleiben kann. Wie die Romantrilogie Johannes Schlafs lässt das Herzog’sche Erzählprogramm Gesundheit zu einer positiv markierten Unterscheidungsseite avancieren, die in sämtlichen Strukturelementen des Romans operativ wird.
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Literary Configurations of Illness and the Refiguration of Health and Well-being Hilary Mantel’s Giving up the Ghost (2003), Gillian Rose’s Love’s Work (1995) and John Bayley’s Iris: A Memoir of Iris Murdoch (1998) communicate subtle insights into health. Notably, these literary memoirs resist health in the terms of the bio-politics of the population (Foucault 1981, 139). If we presuppose this Foucauldian concept, staying healthy can be said to morph into a mode of “selfdiscipline” when one is “being governed from the outside” (Gastaldo 1999, 118). Such a notion of health regulates individual subjects by reinforcing governmental control for the benefit of the state and the population at large. In turn, ill health then does not only entail multiple social failure, such as being unproductive, or profitless, but – by way of the sufferers’ internalisation of disciplinary power – ill health, especially when it persists over an extended period of time, also brings about feelings of guilt as if the sufferers’ ailments were their fault. From this advantage point, chronic ill health becomes conflated with the neglect of, or even the wilful offence against, self-management. The three present (auto-)biographies advocate no such idea. They do not promote ‘healthy’ lifestyle for the sake of bodily self-optimization, the enhancement of individual productivity, nor the prevention of disease (Gastaldo 1999, 113–14). Nor do they belong to the group of popular memoirs and books on self-help, that “have infused our everyday understandings of who we are, what we might become and our own responsibility for determining our own well-being” (Aktinson 2015, 48). In contrast to self-help books, these literary memoirs do not offer any direct advice for the restitution of health or wellbeing either (Broughton 2008, 345–46). Indeed, readers in search of practical guidelines might be disappointed with these three publications. The special insights into good health and well-being which these works proffer in sophisticated, and, at times, provocative ways have to do with the fact that all three have been subsumed under the category ‘illness narrative’, owing to the fact that author-narrators include their story of illness in the life narrative (in the case of Bayley: the story of caring for an ill person). One of the remarkable ideas which these memoirs allow us to recognise is the curious phenomenon that our experiences of good health are more prone to feel disembodied than embodied. One might object that our experiences of health are not generalizable. Nonetheless, they can be described phenomenologically by philosophers while the resulting philosophical descriptions can serve as heuristic models including reader reception. The present argument operates on the assumption concerning
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health that a number of medical anthropologists and philosophers provide, namely that “health is,” as René Leriche notes, “life lived in the silence of the organs” (cited Canguilhelm 1989, 91). Accordingly, bodily discomforts usually heighten our sense of embodiment. In contradistinction from health in the terms of bio-power, the states of health and well-being which Mantel, Rose, and Bayley evoke in their (auto-)biographies are capacious and credit ill health with an integral role for good health. As such these works resonate with Hans-Georg Gadamer’s observation that “health always stands in a horizon of disruption and jeopardy” (my translation, Gadamer 1996b, 142, see Gadamer 1996a).1 In brief, these memoirs suggest that understanding well-being cannot do without understanding illness. The formal tensions between story and narrative discourse in Mantel’s Giving up the Ghost, Rose’s Love’s Work, and Bayley’s Iris throw into relief the reciprocity of experiences of illness and well-being. The three works of literature negotiate health and well-being on the level of text-reader interaction, for which the narrative discourse is key (besides other elements of these printed books). Narrative, as defined by H. Porter Abbott, is the “representation of events, consisting of story and narrative discourse, ‘story’ is an event or sequence of events (the action), and ‘narrative discourse’ is those events as represented” (16). Giving up the Ghost, Love’s Work, and Iris harness the tensions between events revealing drastic changes in bodily conditions (e.g. Iris’s near drowning) and the defamiliarizing representation thereof. The story level especially in Rose’s and Bayley’s memoirs tends to dissolve into incoherence while the narrative discourse takes over and makes demands on readers. This formal dynamic questions and reinforces the boundaries between illness and well-being while it emphasises the ambiguity of life. The author-narrators evaluate experiences of physical discomforts in unconventional ways (withholding diagnosis, misleading readers, rejecting sympathy) and thus encourage readers’ reevaluation and above all the destigmatisation of chronic conditions and terminal illness (Endometriosis, ovarian cancer, Alzheimer). On a more basal level, readers’ engagement with literary configurations of physically debilitating experiences (a pain attack) brings readers’ visceral constitution into focus and thus taps into and influences their embodied consciousness. Reading these literary memoirs could be cast as a mental exercise in feeling with others. Besides empathy, the present essay suggests that there is a significant element of self-interest involved in reading these literary memoirs of illness, especially for healthy readers. On the basis of Leder’s phenomenology of the absent body, reading about bodily disfunction can be said
1 Gadamer’s essay in German, entitled “Über die Verborgenheit der Gesundheit”, has appeared in English translation under the title “The Enigma of Health”.
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toheighten the experientiality of health and well-being. Put simply, reading these literary memoirs of illness is likely to remind readers of their own organs. The more readers’ experiential background (still) lacks experiences of physical disruption, the higher the potential that these memoirs will shift health and well-being into their focus. Moving beyond the dichotomy of health and disease, growth and decline, readers’ interactions with the representations of bodily states in these literary memoirs are likely to heighten their awareness that they are their bodies.
1 The Lived Body, Health, and Well-being Three interconnected arenas of study underpin my present analysis: first, the phenomenology of the lived body; second, illness narrative and body writing as a branch of life writing; and, third, reader-reception theory and hermeneutics. On the most basic level, I assume the subject position to be ‘the lived body’, which refers to one of the foundational concepts that Edmund Husserl established as part of phenomenology. The ‘lived body’ describes the subjectively experienced body in contrast to the objectified physical body perceived from the external perspective. Whereas the German lexeme ‘Körper’, derived from Latin ‘corpus’, stands for the objectified body, for which the meaning of English ‘corpse’ marks one end of the bodily spectrum, the German ‘Leib’, derived from Germanic ‘lîp’, signals that the body is still predicated on life inasmuch as ‘lîp’ used to connote both life and body, which represents the other extreme of the bodily spectrum (Alloa and Depraz 2012, 11). Maurice Merleau-Ponty made a vital contribution to the development of the Husserlian concept of the ‘lived body’. His phenomenology of perception posits the lived body as the seat of embodied selfhood. Accordingly, the lived body (also called ‘one’s own body’ or ‘living body’) manifests itself through sensory experience (Merleau-Ponty 2012, 92–99; Landes 2012). Our five senses are not just a means to connect the world inside our heads with the outside. Rather, our bodies constantly perform a double sensation acting simultaneously as perceiving subject and perceived object, seeing, touching, and feeling, and being seen, touched or felt. “We are our bodies”, Havi Carel observes, “consciousness is not separate from the body” (Carel 2008, 13). At the same time, the lived body is always already situated in mutable power structures and local specificities. As such, the lived body is profoundly relational. The relationality of the lived body can be seen in the conceptualisation of health and well-being that the World Health Organisation uses. The WHO European
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health report (2018) identifies the need “to pay close attention to lived experience” and “to investigate how social, cultural, and economic factors have influenced developments in medicine and health care and shaped subjective experiences of health and disease” (82). The authors observe that “well-being has long been recognized as an important component of health. In 1948, WHO defined health as ‘a state of complete physical, mental and social well-being and not merely the absence of disease or infirmity’” (81). They add a supplementary definition of well-being, according to which well-being has “two dimensions: subjective and objective. It comprises an individual’s experience of their life and a comparison of life circumstances with social norms and values” (81). Key to the subjective notion of well-being here is its experientiality. The differentiation between health and well-being, it is possible to say, represents a parallel to the distinction of disease and illness introduced by Arthur Kleinman: whereas disease recasts discomforts in “theories of disorder”, “illness is the lived experience of monitoring bodily processes such as respiratory wheezes, abdominal cramps, stuffed sinuses, painful joints” (Kleinman 1988, 4–5). This parallel does not extend to a comprehensive analogy, though. WHO subsumes well-being under health. For Kleinman, the category of disease is on par with, and interrelated to that of, illness. It takes narrative to capture patients’ lived experiences, which in turn have transformative value for patients and practitioners (Whitehead and Woods 2016, 4). Irrespective of therapy, what matters for the purposes of the present argument is two-fold: first, each of Kleinman’s examples notably consists of bodily functions that we usually are not aware of. We feel our joints only when they hurt. Otherwise they are absent from our consciousness. Second, the concept of illness and that of well-being have the special focus on lived experience in common – lived experience that attains distinct visibility by means of emplotment. Accordingly, I will use the terms ‘illness’ and ‘well-being’ to refer to narrative registers for the collective and individual experiences of lived bodies and ‘disease’ and ‘health’ to point out the subsumption of such lived experience in terms of nosological classifications and normalcy. The terminology does not imply any ontological difference.
2 Embodiment, Configuration, Refiguration, and Prefiguration The distinction of the lived versus the objectified body has served as a basis for a fundamental critique of the Cartesian dichotomy between the ‘body’ and the ‘mind’. Cultural theorisations of the concept of embodiment have the common
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goal to move beyond the body/mind dualism and the nature/culture dichotomy (Hartung 2018, 9; Fox 1999). In this spirit, the lexeme ‘embodiment’ in the present article connotes the embeddedness of our intertwined mental and somatic being in our environment. Embodiment is a key notion in the recent extension of narratology to enactivism. Enactivist narratologies like Marco Caracciolo’s The Experientiality of Narrative, Yanna Popova’s Stories, Meaning and Experience, and others are based on the concept of the embodied mind, which was explicated by Francisco J. Varela, Evan Thompson, and Eleanor Rosch in their foundational monograph Embodied Mind.2 The embodied mind derives from phenomenology, especially the work of MerleauPonty (Gallagher 2005). “Put simply, enactivism is an alternative to the formalized, exclusively language-based description of thought processes that have dominated the sciences of mind until very recently” (Popova 2015, 4). Caracciolo applies enactivism to the notion experientiality introduced by Monika Fludernik, who defines it as “the quasi-mimetic evocation of ‘real-life experience’” (Fludernik 1996, 12) and thus bases her concept primarily on language. By contrast, Caracciolo’s concept of experientiality connotes “the sum of all story-driven experiences” (Caracciolo 2017 [2014], 50). The enactivist definition of experientiality reinforces the agency of readers in ways that have been theorised similarly before. Notably Wolfgang Iser’s The Act of Reading postulates that the text only has a meaning when it is read. Likewise, Paul Ricoeur’s mimetic theory insists: “Without a reader to appropriate it, there is no world unfolded before the text” (Ricoeur 1991, 395). But Caracciolo’s concept of experientiality has been criticized for running into the paradoxes of the nonpresentational nature of experience (Ryan 2016, 376). Nonetheless, Caracciolo’s model does much for the conceptualisation of embodied reading experiences, since it integrates readers’ embodied consciousness into the concept of experientiality, formulates the latter as a phenomenon of coproduction, and reformulates Iser’s reader repertoire as the experiential background, which connotes the repository of embodied cognition readers can tap into during and after the act of reading. Recent enactivist approaches are helpful for gauging the role of readers’ embodied minds in the act of reading. It is possible, however, to conceptualise embodied reading experiences without the full detour of recent enactivist philosophy of mind. This is the alternative route the present essay pursues. It returns to the hermeneutic phenomenology that underpins natural narratology as well as enactivist 2 The field of the enactivist school, which revolves around the “E’s” (embodied, enactive, embedded, engaged), is vast and burgeoning. For a recent overview see the special issues on situated (embodied) cognition in Poetics Today (2017) volume 38.2 edited by Ben Morgan.
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narratology, namely Paul Ricoeur’s work. This mimetic theory evolves over the course of the three volumes of Time and Narrative. Each volume covers one of three experiential stages (mimesis1 “prefiguration”, mimesis2 “configuration”, and mimesis3 “refiguration”). Accordingly, the third volume systematizes reading experiences at the intersection of diegesis and reality by engaging closely with the works of the School of Constance published in the 1970s and 80s. For Ricoeur, reader-text interaction brings about intervention in the real world. He defines “literary configuration” as the “inscription” of the authorial “persuasion strategy” (Ricoeur 1991, 390). “Inscription” here connotes the sum of expressive devices on the level of narrative composition used by authors including emplotment, characters and landscape (Ricoeur 1984, 64–76). Accordingly, “literary configuration of illness” means the inscription of this strategy, namely to communicate the experience of the lived body including the disruptions caused by disease. The meaning of literary configuration ultimately depends on refiguration according to hermeneutic phenomenology. For Ricoeur, refiguration designates “the power of revelation and transformation achieved by [literary] configurations when” the reader applies them “to actual acting and suffering” (Ricoeur 1991, 339). Refiguration, in other words, connotes the response of readers in terms of an experience considered individually or collectively. Refiguration as the intersection of the world of the text and that of readers marks the crucial intersection at which the work of literature takes on meaning in the real world. During and after the reading process, readers can be said to compare their reading experiences with, and potentially apply them to, their understanding of the real world. These refigurations form part of embodiment. Similar to enactivist theory, the present essay assumes that embodied consciousness is what readers bring to the table of literary configuration. The lived body offers a repository of sensorimotor memories and mental visualizations that serve as the repertoire, or ‘experiential background’, which readers tap into to bring literary configurations to life. Ricoeur calls this vast repository “prefiguration”. For him, prefiguration comprises “our pre-understanding of the world of action” (Ricoeur 1984, 54). Within my present heuristic reader model, Drew Leder’s phenomenology of surface and depth body serves as no static placeholder but as a conduit for prefiguration (Leder 1990, 107). Leder’s theorization offers valuable insights into the interdependence of well-being and illness for the lived body. Leder extends Merleau-Ponty’s Phenomenology of Perception to the visceral body, which we usually pay little or no attention to while reading attentively. I call this model the ‘visceral reader’.
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3 Health and Dualism Leder’s monograph The Absent Body (1990) offers an innovative heuristic model for the experience of health. Scholars in theatre and literary studies have applied it to enactment and embodied narration (Hazou 2008, Matlok-Ziemann 2018). Ellen Matlok-Ziemann, for instance, applies Leder’s dis- and dys-appearance to Eudora Welty’s “A Worn Path” in order to read the short story as an example “for overcoming the binary of decline stories and progress narratives of successful ageing” (Hartung 2018, 15). Likewise, Leder’s concept is useful to elucidate the manner in which Mantel’s, Rose’s, and Bayley’s memoirs transform the dichotomy of illness and well-being and undermine the teleology of decline as well as that of progress. The main innovation that Leder’s book makes to the lived body is two-fold. In the Phenomenology of Perception, Merleau-Ponty confines embodiment to the sensorimotor surface of the human body, on which and across which perception takes place. By contrast, Leder extends the notion of embodiment to our viscera (Leder 1990, 104). Broadly speaking, Leder focuses on the observation that health is a state in which we take our body for granted. Drawing on Gestalt psychology, Leder explains that “in good health […] body surface and depth disappear by virtue of their unproblematic operation” (Leder 1990, 103). Central to his theory of health is that our viscera lie outside of our consciousness when nothing hurts (Leder 1990, 53). Like Leriche, he explains health largely through our oblivion of our viscera when we feel fine. For this purpose, Leder introduces the “recessive body”, which consists of the digestive, respiratory, cardiovascular, urogenital and endocrine systems along with the spleen. Our inner organs are basically ‘unexperienceable’ for us. Leder calls this “depth disappearance”. Analogously, Leder introduces the concept of “surface disappearance”, which pertains to the sensorimotor surface of our bodies (also called “surface” or “ecstatic” body). Leder illustrates the focal disappearance of the surface body with the observation that our eyes disappear from our perceptual field when we look at a tree for instance; indeed, we cannot see ourselves seeing. All sensory perceptions are depicted as the body’s surface falling away from conscious awareness. Leder emphasises that the perceptual field is directed away from sensory organs (Leder 1990, 14–15). This description suggests that inasmuch as embodiment manifests itself through our sensory perception, “we tend to turn away from [our bodies] while turning toward that which it perceives” (Lafrance 2019, 171). Lafrance points out that Leder’s description disregards a whole range of embodied activity from feeling one’s heartbeat when doing sports to brushing one’s teeth (Lafrance 2019, 171). Experiencing hunger is a case point. Drawing on Ricoeur, Leder observes that visceral experience tends to
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elude bodily localisation, “‘this strange mixture of the local and non-local’ that is encountered in phenomena such as pain, hunger, thirst, and all vital needs” (Leder 1990, 41). Pain features here alongside other vital needs as a diffuse experience. Both Leder’s depth and surface disappearance elucidate the ways in which our bodies tend to fade into the background while we feel fine; indeed, both depth and surface disappearance highlight a remarkable, hidden quality of our bodily experience especially in states when we feel fine and healthy. Moreover, Leder presupposes that consciousness is always already embodied. However, this assumption does not preclude that our consciousness feels sometimes detached from our bodies: “We may well be our bodies”, Marc Lafrance paraphrases Leder, “but our bodies do not always feel like us” (Lafrance 2019, 171). Leder develops this tendency into a fully-fledged explanation for the dominance that the body-mind dualism has wielded over Western cultures. He correlates embodiment with illness, and, conversely, the mind-body dualism with health. It is in periods of relative health and well-being that the body seems to disappear and to be “absent from consciousness” (Lafrance 2019, 170). This insight questions the correlation of being embodied with identifying with one’s own body and thus makes room for alienation and alterity within embodied subjectivity in health although alienation is otherwise often exclusively associated with illness. Central to Leder’s theory is that health can be characterised by our unawareness and oblivion of our bodies (Leder 1990, 91). This (healthy) disappearance of the surface and recessive body from consciousness is Leder’s main explanation for the enormous success of the “Cartesian paradigm” in the history of ideas and Western culture at large (Leder 1990, 3). Inasmuch as healthiness tends to conceal our embodiment to us, illness, discomfort or chronic pain (in our surface and depth body) tend to throw into sharp relief the porous boundaries between disrupted embodiment (illness) and disembodied disappearance (well-being). Leder calls this foregrounding of our bodies through discomfort “dysappearance”, as in disappearance with the Greek prefix “dys” signifying bad, hard, or ill (Leder 1990, 84; Lafrance 2019, 170). Moreover, Leder compares the relation between wellness and illness to that of silence and speech (Leder 1990, 91). His theory strongly supports the view taken in the field of the study of illness narratives, which credits sufferers’ stories with a special predisposition to communicating the complexities of what it means to “be a body”.
4 Illness Narratives, Now and Then Mantel’s Giving up the Ghost, Rose’s Love’s Work and Bayley’s Iris are usually grouped together with other memoirs of illness within the literary segment of
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the book market. Stories about illness had never been such a recognised publishing phenomenon in English-speaking countries as they are today. They form part of the pervasive memoir boom and are regarded as a distinct genre (Couser 2012, Rak 2013). Paul Kalanithi’s When Breath Becomes Air, the memoir of a young neurosurgeon faced with a terminal cancer, was the winner of goodreads choice award 2016; the memoir in form of a collage about a young girl dying at the age of 16 written by her family Esther, Lori, and Wayne Earl with the title This Star Won’t Go Out: The Life and Words of Esther Grace Earl won the same prize in 2014. According to Neil Vickers, the term “illness narrative” in current publishing practice is used for “any text in which illness plays a conspicuous part” (Vickers 2016, 388). Regarding book-size illness narratives, Anglo-Saxon publishing houses have made available a wide spectrum of fiction and non-fiction about illness, which reaches across the divide of high and popular culture (Vickers 2016, 388). At the higher end of this range, we find narrations written by celebrated literary authors about their lived experience of illness. One of the most recent examples is the autobiographical account written by the Irish novelist Colm Tóibín about his diagnosis and treatment for testicular cancer, which appeared on the first pages of the London Review of Books in April 2019. Under the heading “Instead of Shaking All Over, I Read the Newspaper […]”, Tóibín narrates how he responded to the physical ailment and chemotherapy that temporarily took over his life (Tóibín 2019). Beforehand, the LRB featured Jenny Diski’s cancer diary as a monthly column, which Bloomsbury subsequently published as the book-size memoir In Gratitude (2016). In the U.S., Oliver Sacks, who had been diagnosed with terminal cancer, narrated his dying in several first-person accounts that appeared in the Times after Sacks had published influential third-person accounts about people suffering from neurological impairment (Couser 2016, 7). Other book-length examples of the high-end spectrum of illness memoirs are the literary and philosophic memoirs such as Philip Roth’s Patrimony: A True Story (1991), Joan Didion’s The Year of Magical Thinking (2005) and Blue Nights (2011), Andrea Gillies’ Keeper: Living with Nancy, a Journey into Alzheimer’s (2009), Candia McWilliam’s What to Look for in Winter: A Memoir in Blindness (2010), and Nick Coleman’s The Train in the Night: A Story of Music and Loss (2012). Since 2009, the prestigious Wellcome Book Prize has awarded a substantial sum each year to the winning author of a new work of fiction or non-fiction in English that engages “with some aspect of medicine, health or illness” (Wellcome Trust 2019). The annual shortlists usually include at least one (auto-) biography of illness. These factors suggest that illness narratives are well established in high culture in English-speaking countries today. The evolution of illness narratives can be divided in three waves. As I shall explain, Mantel’s Giving
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up the Ghost, Rose’s Love’s Work, and Bayley’s Iris: A Memoir of Iris Murdoch belong to the third stage, which began in the 1990s, when certain memoirs of illness were received into to the contemporary Anglo-Saxon literary market. What can be seen as the first wave of illness narratives started in the AngloSaxon niche book market in the second half of the 20th century. At this stage, illness narratives “were mostly self-help books” (Vickers 2016, 388). The term “self-help” refers to the tendency of illness memoirs to select for a readership with a similar condition as the sufferer in the book. The first major survey of biographical and autobiographical accounts of illness in English, Anne Hunsaker Hawkins’s Reconstructing Illness observes that “book-length personal accounts of illness are uncommon before 1950 and rarely found before 1900” (Hawkins 1993, 3). Drawing on Freudian terminology (Rycroft 1995, 127), Hawkins used the term “pathography” to denote “a form of autobiography or biography that describes personal experiences of illness, treatment, and sometimes death” (Hawkins 1993, 1). Hawkins’s explanations for the significance of pathographies was two-fold: pathographies react, firstly, against the typical 20th century view that serious illness can be “isolated from an individual’s life” and, secondly, against the “dominant biophysical understanding of illness” (Hawkins 1993, 11). While pathography places a certain emphasis on pathological processes, pathognomonic signs, and dysfunction, the common use of the term “illness narrative” is more capacious, extends to fiction, and “need not pay any attention to the biological aspects of the illness’s experience” (Vickers 2016, 399). Hawkins detected a major change in pathographies in the 1970s. Post1950s illness narratives were mainly driven by didactic and altruistic principles. They were meant for sufferers as a reinforcement of “a positive attitude towards medicine” in so far as they tried to convince their readers to keep up the faith in modern medicine and its therapies (Hawkins 1993, 4). What can be called the “second-wave” illness narrative started in the 1970s. By then, pathographers like Norman Cousin in Anatomy of an Illness (1979) took issue with the “dehumanising experiences that are so common in medical institutions” (Jurecic 2012, 8). One might say that the pain and frustration that often accompanies medical treatment started to replace the faith in modern medicine in these second-wave pathographies. During this period, the “Women’s liberation, with its signature manifesto Our Bodies Ourselves, supported the breast cancer narrative; the gay rights movement encouraged AIDS narrative in response to a deadly epidemic; and the disability rights movement stimulated a surge in narratives of various disabilities” (Couser 2016, 3). The third wave of illness memoirs coalesced with the period in 1990s when academics paid increasing attention to, and started to map the territory of, illness narrative (Couser 2016, 4). Central to this development was the combination of
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the study of illness narrative with identity politics. In analogy to the concept of “writing back” in postcolonial studies (Tiffin 1987; Ashcroft, Griffiths and Tiffin 1989), Arthur W. Frank notes that “the post-colonial impulse is acted out less in the clinic than in the stories that the members of the remission society tell each other about their illnesses” (Frank 1995, 13). Likewise, important book-size studies such as Thomas Couser’s Recovering Bodies have taken the cue from the above-mentioned liberation movements and collectivised experiences of cancer, AIDS and deafness as forms of “counterdiscourse” (e.g. Couser 1997, 47, 51, 89, 221), opposing the latter to the dominant mainstream discourse in the name of bio-power. According to Couser, narratives of illness and disability help us to gauge marginalisation processes that take people’s entire embodiment into consideration, including “gender and race” (Couser 1997, 12). Ever since, the literary and cultural studies of illness narratives have typically given deviance pride of place over normalcy. Couser coined the term “autopathography”, adding “auto” to the above-mentioned “pathography”, in order to distinguish “these new narratives, [in which] people with certain kinds of problematic conditions were writing about their own bodies, rather than leaving the job to medical professionals” (Couser 2012, 44–45). A foundational contribution to this spirit was Frank’s taxonomy of illness narratives, which distinguishes the “restitution narrative,” from “chaos narrative” (a narrative at the boundary of dissolution with events lacking in contiguity), and “quest narrative” (the integration of illness in the person’s life). Out of the three types, the restitution narrative is the most common but also the most conformist: “Anyone who is sick wants to be healthy again. Moreover, contemporary culture treats health as the normal condition that people ought to have restored. Thus the ill person’s own desire for restitution is compounded by the expectation that other people want to hear restitution stories” (Frank 1995, 77). Frank’s observation that contemporary culture considers health to operate as the default option for life in general is vital; and so is his conceptualisation of “restitution”: On the one hand, Frank recognises the natural wish for anyone to make a full recovery. On the other hand, he reveals the highly problematic nature of “restitution narrative” since this plot conforms to the often overbearing social pressures on sufferers to realign their bodily experiences to hegemonic discourse of normalcy, productivity and cost efficiency. By contrast, chaos and quest narratives have attracted more scholarly attention in literary and cultural studies since they enhance our understanding of illness as counterdiscourse. During this (third) phase, another development occurred that resonated with the resurgence of academic interest in the topic: Whereas illness narratives had made up a niche in the book market, they gradually attracted the attention of wide intellectual readerships; indeed, it is fair to say that certain illness
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narratives became a part of high culture. Neil Vickers calls this ambitious category “literary memoirs of illness” (Vickers 2016). His concept coalesces broadly with Couser’s term “body writing” (Couser 1997, 294). Whereas Vickers’s term points to literariness in terms of genre, form, and valorisation, the latter takes its name from the afore-mentioned special correlation of illness and embodiment: “illness and disability inescapably attend human embodiment” (Couser 2016, 3). “Body writing” should not be mistaken as a mere reference to some bodily content as it has been suggested (Linke 2019, 418–419). Rather, “body writing” pertains to the representations of embodied consciousness in life writing; indeed, it treats “the body’s form and function […] as fundamental constituents of identity” (Couser 1997, 12). Examples for “body writing” include John Updike’s Self-Consciousness (1989), Sacks’s The Man Who Mistook His Wife for a Hat (1985), Lucy Grealy’s Autobiography of a Face (1994), Leonard Kriegel’s Falling into Life, Nancy Mairs’s Carnal Acts (1990) and Plaintext (1986), John Hull’s Touching the Rock, Tim Brookes’s Catching My Breath (1995), or Andre Dubus’s Broken Vessels (1991) (Couser 1997, 291–94). As such, the concept “body writing” marks Couser’s attempt to elevate pathography to the literary acumen of modernist prose (Couser 1997, 75). I suggest that Giving up the Ghost (2003), Love’s Work (1995), Iris: A Memoir of Iris Murdoch (1998) belong to this category of writing. As I shall explain, the term “literary memoir of illness” has the advantage over “body writing” that it concurs with the genre label “memoir” used by Mantel, Rose, and Bayley (and their editors) in the paratext of their three publications. In the meantime, it suffices to say that the three texts are typical for the third wave of illness narratives because they address a wide intellectual audience, which consists of the well and the sick alike. All three make diverse and high demands on “any kind readers” and highlight the vital importance of embodiment for selfhood (Mantel 2007, 105); concomitantly, they communicate embodied subjectivity across the crumbling divide that separates the so-called kingdom of the well from the kingdom of the sick (Sontag 1978, 3). The arrival of memoirs of illness in high culture suggests that they address pertinent questions in a timely fashion. The pressures of bio-power on individual lives have increased. The medical anthropologist Didier Fassin observes that the divide between “life as biology” and “life as biography” has hardened during the last century (Fassin 2018, 6): “[I]n the explorations of life as biological phenomenon, the shift from […] bodies to molecules, has progressively reduced the understanding of life to its most basic material unit” (Fassin 2018, 8). The view that illness memoirs counteract the biological reduction of the body has been very influential in cultural and literary studies. At the same time, memoirs of illness highlight the limits of social constructivism; indeed, some illness memoirs can be read as complication of, and
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even a provocation against, the “Foucauldian idea” that the body is ultimately a matter of discursive construction (Vickers 2016, 398; Fox 1999, 114). Not all illness memoirs and scholarship in this field necessarily “considers illness as a social and cultural construct” as it has been suggested (Baena 2017, 2). On the contrary, autobiographies of terminal illness, such as Rose’s Love’s Work and Brodkey’s This Wild Darkness (1996), challenge the “view that the body is a secondary product of the normative discursive system” (Avrahami 2007, 12). Einat Avrahami notes that “terminal illness narratives and photographs alert us to the problems that arise from treating historically specific bodies as textual, and rather passive, surfaces whose meaning is determined by social institutions and discourses” (Avrahami 2007, 12). Her monograph, The Invading Body, focuses on artistic illness autobiography and photography, crediting readers and spectators with the capacity to evoke the extratextual reality of the sufferer’s body in the text (Avrahami 2007, 15). Vickers notes that “literary memoirs of illness […] tend to range far into the surrounding life” (Vickers 2016, 388). The experiences of illness in the memoirs written by Mantel, Rose, and Bayley operate partly like the eruptions of dysfunction into (auto-)biographical life; indeed, illness can be the point at which the reverberations of biology erupt into the writing and reading of bios (“life”). This tension within these works does not preclude the before-mentioned distinction between “disease” as the biological process and “illness” as the lived experience of this very process (Kleinman 1988, 4–5). Rather, this tension points to the strong correlation of illness with embodiment and to a special predisposition of literary memoirs of illness to communicate embodied consciousness.
5 Paratextual Performance of Health and the Absence of Illness A primary function of book covers is to encourage as many readers as possible to purchase and consumption. Paperback editions such as those of Giving up the Ghost, Love’s Work, and Iris, make the books generally available for any interested reader. Tellingly, the front and back covers of these works omit the direct mention of illness, let alone of any specific disease. Instead the titles mainly promise romance and mystery under the guise of undisturbed normalcy. Only Rose’s subtitle on the front page, “‘In Memoriam: Gillian Rose’ by Geoffrey Hill” indicates the author’s decease as well as her achievements as a philosopher, while “cancer” is mentioned on the back cover. Moreover, all three dust jackets feature the term “memoir” as a genre indicator.
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Memoirs are usually understood as the recollections of one or several bracketed periods of the writer’s entire life (Smith and Watson 2001, 3): Giving up the Ghost: A Memoir begins with Mantel’s working-class upbringing in a Roman Catholic family in Hadfield, near Manchester, in the 1950s, includes her time at University as a student of law as well as her life as a novelist, and ends with her settling down with her husband in their new home, lodged in the attic of a converted asylum in the early 2000s (Mantel 2007, 241). Love’s Work: A Reckoning with Life offers Gillian Rose’s episodic memories of her life and those of her Jewish family in Poland and her friends in New York irrespective of chronology. Moreover, in Iris: A Memoir of Iris Murdoch the author-narrator John Bayley offers reminiscences of his life with Iris Murdoch in the academic environment at Oxford from the 1950s until the early 1990s and interpolates these memories with the narrative present, which takes place roughly from 1994 until 1998. In these cases, “memoir” appears as a modest choice of genre compared to autobiography or biography, which would have been an option since the stories nearly narrate entire lives. The gatekeepers of high culture have tended to frown upon “memoirs” as “scandalous” and “titillating” publications that gave too much insight in the private lives of their so-called inferior authors (Smith and Watson 2001, 3). To add further blame, memoirs were often seen as a publishing boom, an easy opportunity for low-quality works about “the next hot topic” to be sold “to niche audiences” (Smith and Watson 2001, 127). Authors of memoirs were thought to be as “socially marginal” as their readers were. In order to eschew such marginalization, the paratextual features of Mantel’s, Rose’s and Bayley’s paperbacks do much to signal their intellectual prowess as well as their entertainment value. The front and back covers feature quotations of rave reviews from renown magazines and newspapers such as the Sunday Times (Mantel, Bayley), and quotations from public intellectuals such as Edward Said (Rose) as guarantees of high culture. Thus they appeal to a generally intellectual audience. Crucially, the three front covers latch on the traditional allure of romance and mystery: “love” features in Rose’s title, “greatest love story” appears in the quotation from the Observer on Bayley’s front cover, and “ghost” is part of Mantel’s title. The insinuation of romance and mystery appeals to the widest reading audience possible. The implicit promise is entertainment, not a journey beyond the familiar territory of health. In Rose’s case, the suggestions of romance in the title of the memoir does a great deal to prevent people who consider reading these memoirs from dwelling on the subtle traces of terminal illness in the small print on the front and back cover. Furthermore, the elasticity of “memoir” as genre invites readers from the start to weigh various horizons of expectations against each other. The cover page of Iris illustrates this. Following the announcement of the author’s name,
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John Bayley, we read the name of the protagonist, Iris Murdoch, and are informed in a cutting from the Daily Telegraph of John and Iris’s “marriage.” This information makes demands on readers to reflect on the dynamics of a husband’s authorship of his wife’s biography, including the blending of autobiographical and biographical writing in the case of a life shared together, the limits of subjectivities, and the possibility of alterity in self-writing (ErdinastVulcan 2018). The evocation of such deliberations are typical of the modernist forms of (auto-)biography writing (Schwalm 2019, 510). Such ambiguities tend to appeal to an intellectual readership. In Iris, readers’ genre, cultural and personal expectations are complicated further by the ensuing disclosure in the main text that Iris Murdoch suffered from Alzheimer’s disease and, concomitantly, that John Bayley acted as her caregiver. The targeted English-speaking audiences of Iris and of the other two memoirs probably either expect nothing less than the defamiliarization of the romance plot or, in Mantel’s case, of the supernatural. In addition, the members of these audiences have probably been familiar with the works of Murdoch (as novelist and philosopher), Rose (as philosopher) and Mantel (as novelist). Part of the appeal of these memoirs has to do with learning about the private lives of these public intellectuals. On the front and back covers, illness forms no part of these paratextual appeals to readers: the verbal text on the dust jacket gives potential readers the general impression of the story of a healthy, intellectual life revolving around romance or mystery. The paratexts simulate health in the dominant categories of heteronormative love and entertainment to attract an average, educated audience.
6 The Author-Narrator’s Negotiations with Readers’ Health and Well-being We as readers are said to be bound by the “autobiographical contract,” according to which we agree to trust and believe in the author-narrator’s reliability (Lejeune 1989, 12) because the author’s name, title, subtitle, and further paratextual information indicates to us the identity of writer, narrator, and protagonist. Avrahami suggests that the terms of the “autobiographical pact” change in illness memoirs: “[T]he contract foregrounded by illness narrative requires the reader’s full belief in the writer’s reality of suffering” (Avrahami 2007, 8). So strong is the contractual effect in Avrahami’s view that readers of illness narrative are automatically enlisted in “Richard Rorty’s notion of ‘human solidarity’ […] by urging readers to imaginatively reconstruct their own future selves as ‘citizens’ of the planet of the sick” (Avrahami 2007, 8). This assumption
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runs the risk of overestimating the power of the autobiographical pact. The textual features of the autobiographical contract do not control readers’ responses but merely contribute to the complexity of the signifying process (Genette cited in Bode 2019, 365). None of the three memoirs is primarily interested in the readers’ solidarity with the sick nor does their narratorial commentary make claims about readers’ obligation to the autobiographical pact. Rather, the relationship with readers appears as a matter of negotiation, judging from the narrative discourse of these three memoirs. They implicitly imagine their readers as people with independent agency and an embodied consciousness, whose attention it is a challenge to capture and sustain. The autodiegetic narrators try to broach this difficulty in various ways. On the one hand, the paratextual features on the book covers withhold, as mentioned, any indications of chronic illness or suffering and simulate instead enticing romance and mystery. On the other hand, the narrating selves in Love’s Work and Giving up the Ghost contemplate their relationship with their readers anxiously, ironically, or confidently, while the author-narrator of Iris comments relatively little on his relation to his readers. Bayley’s Iris revolves around the intradiegetic relation between John, the homodiegetic narrator, and Iris. Narratorial interjections, such as “I suppose,” “I often wondered”, make his assumptions, imaginings and suspicions about his partner overt; the narrative discourse is devoid of focalisation through Iris. In contrast to Love’s Work, and Giving up the Ghost, the narrative discourse also refrains from addresses to readers, and keeps reader instructions, overt or covert alike, to a bare minimum. A rare example for covert readerly guidance is the Coleridgean distinction between Miltonic and Wordsworthian (self-absorbing) and Shakespearean (self-forgetting) writing and reading (see Bayley 2000, 71). Crucially, the three memoirs have in common a certain disregard for readers’ sympathy mainly because the latter, in contradistinction from empathy, would entail moral judgement and condescension (Smith 2002, 20). Mantel rejects such fellow-feeling outright at one point: “I am not writing to solicit any special sympathy” (Mantel 2007, 222). Her statement can be read as a rejection of pity, which is a condescending response to others’ suffering. If that is the case, the comment is mainly directed at ableist readers. In addition, Giving up the Ghost contains explicit statements about the authorial hope of earning and maintaining readers’ lasting attention. The narrating self interjects on the extradiegetic level that she is aware “that readers – any kind readers who’ve stayed with you – are bracing themselves for some revelation” (Mantel 2007, 105). Not only is the thought of readers said to accompany every part of the composition process, the implicit hope is that readers from “any” background will keep following the course of the narrated events. On the first pages of the memoir,
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the narrating self establishes that she won’t “patronise” but “trust” her readers assuming that her readers are “at least as smart” as she is (Mantel 2007, 4). Furthermore, Mantel emphasises the generative, affective power of words: “There is a place, a gap, a hiatus, between the hatching words, flinching and raw, and those that are ready to take their place in the world.” (Mantel 2007, 70). The narrating self expresses both her wish that readers stay attached over as much of the course of her narrative as possible and her trust that readers read as carefully as she advices everyone to write. The aim is for words to reach such stylistic precision that they develop proto-physical strength. For Mantel, it is a matter of lasting perseverance in composition until words “are ready to stand up and fight” (Mantel 2007, 70). The extradiegetic advice appeals to writers as well as readers. On the one hand, it asks writers to hone their verbal craft to keep readers engaged and, in turn, readers to appreciate the power of words. Judging from the author-narrator’s commentary alone (irrespective of readers’ actual engagement with it), the reader in Mantel’s text is the intellectual equal of the author and vice versa. Given that Leder correlates disembodiment with health, such characteristics in the absence of bodily descriptors point towards the imagined health of Mantel’s implied readers. Indeed, further into the memoir, the elocutionary force seems mainly directed at those readers who have remained untouched by the experience of chronic illness. I mean a kind of healthy readership whose experiential background (still) lacks the experience of such intense bodily disruption. A case in point is the sudden transition from the first- to the second-person perspective in certain parts of Mantel’s episodic memories of bodily discomfort or severe illness, which enhances the quasi-mimetic evocation of real-life experience in readers’ sensory imaginings (Fludernik 1996, 12). This change occurs for instance in the postoperative moment when Mantel learns that the surgeons performed a hysterectomy on her: “You understand what has happened, the medical disaster; you reason about it. But there are layers of realisation, and a feeling of loss takes time to sink through those layers. The body is not logical; it knows its own mad pathways” (Mantel 2007, 230). The pronoun “you” is Janus-faced in the sense that it refers to, and conflates, the experiencing self (Mantel) and the actual reader in the real world. In brief, the you is “doubly deitic” (Martínez 2014, 113). In the case of Giving up the Ghost, the second-person pronoun is paired with the present tense. This combination reinforces readers’ experiential involvement and immersion, especially if we consider our intuitive reaction to think of ourselves when addressed with “you” (Ryan 2001, 138; Class 2018, 239). Such strong experiential prompts for the evocation of the ineffable seem mainly directed at attentive readers in good health who might not know nor have imagined what such an experience feels like; otherwise the narrative could have stayed in the first-person.
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The narrating self in Love’s Work highlights the author’s lack of control over the reading processes based on her own unruly reading experiences. For Rose, authorial efforts to control interpretations seem futile, diverging interpretations inevitable. Even if the author-narrator wished to solicit readers’ sympathy, it would not be in her power to prescribe such a response. The narrative discourse raises the question of how an author can exert control over the interpretation of her text if she does not even fully control the writing process? For Rose, writing is a “mix of discipline and miracle, which leaves you in control, even when what appears on the page has emerged from regions beyond your control” (Rose 1997, 59). Reading in this memoir is said to strongly depend on the reader’s personality as well as on cognitive diversity. For the experiencing self in Love’s Work (Gillian Rose as a child), reading is initially a painful matter of “coercion, reluctance, cajolery, and humiliation” (Rose 1997, 40). The story recounts how an ophthalmological defect and dyslexia prevent the young Gillian from learning how to read until she was aged seven. Subsequently, reading becomes inseparable from self-analysis for Rose: “Reading was never just reading: it became the repository of my inner self-relation” (Rose 1997, 40). Rose turns the initial cognitive impairment into a source of intellectual inspiration. Readerly selfhood always accompanies the reception process according to the extradiegetic commentary in Love’s Work. As such, reading in this memoir is described as depending largely on readers’ personal repertoires and experiences including their cognitive make-up as well as their “desire” (Rose 1997, 142; Ratekin 2006, 74). The narrating self even speaks of “the terms of our contract” (Rose 1997, 77), that is, with her readers. This contract enables readers to interpret Rose’s story as an allegory for something else. Vice versa, the narrating self describes herself as feeling obliged to leave her readers “large tracks of compacted equivocation at every twist in the telling” (Rose 1997, 77). These gaps usually leave enough room for readers to recognise some of their own experiences in the text. Conversely, the narrating self regards the disclosure of any disease as a breach of contract since it limits the freedom of interpretation: “Why should I deliberately spoil this narration by reduced equivocation?” (Rose 1997, 77). The narrating self seems anxious to lose readers’ interest because of the alleged reductive certainty of disease. Love’s Work makes the link of readers’ disengagement and disease explicit: “Suppose that I were now to reveal that I have AIDS, full-blown AIDS […] I would lose you” (Rose 1997, 76). The narrating self thus challenges her readers with the allusion to Susan Sontag’s kingdom of the sick and kingdom of the well. Her provocation seems to be directed particularly at her healthy and able audiences, unblemished by biological dysfunction, for she adds rather sarcastically that readers are endlessly attracted to the monotony of the sorrows of love. Echoing
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the title of her memoir ironically, the narrating self complains about many readers’ predictability: “while the sorrows of love in their monotony are endlessly engaging, illness is intrinsically not” (Rose 1997, 77). The point that Rose makes here implies ideologically that the popularity of romance is linked with heteronormativity and reproduction in the age of bio-power; Rose’s narration of her affairs, her friendship, and her cancer experience resists such disciplinary power. The narrating self in Love’s Work addresses the healthy and able readers directly, and does so in a provocative, slightly antagonising way by asking the rhetorical question: Are you willing to suspend your prejudices and judgement? Are you willing to confront and essay a vitality that overflows the bumble mix of average well-being and ill-being – colds and coughs and flu, periodic lapses in the collaboration with culture, or headachy days, when one feels gratuitously lacking inclination, never mind inspiration. (Rose 1997, 78)
This is an overt appeal to the kingdom of the well to open its gates, and for notions of well-being to become more inclusive. The rhetorical questions address and counteract prejudices and try to break down the entitlement of healthy people to pass judgement. These narratorial interjection thus confronts ableist prejudice against the sick in general, and against cancer patients in particular. Echoing Sontag, the narrating self explains that “‘cancer’ means […] a judgement, a species of ineluctable condemnation” (Rose 1997, 78). This implicit complaint tries to reverse stigmatisation and gain recognition for the convergence of “well-being” and ill health as the experiencing self narrates: “For what people seem to find most daunting with me, I discover, is not my illness or possible death, but my accentuated being; not my morbidity, but my renewed vitality” (Rose 1997, 79). The social environment around Rose has difficulty accepting her “renewed vitality”, which implies that the healthy, on the one hand, claim a monopoly on well-being, and, on the other hand, are quick to pass judgments about the personal experiences of sick people. Rose’s set of rhetorical questions therefore can be said to transform healthy readers’ attitudes towards well-being in a plea for the kingdom of the healthy to recognise the possible vitality of the sick, such as people living with cancer.
7 The Dymanics of Well-being in the Reading Experiences Each of the three memoirs delays the full disclosure of the protagonists’ diseases until the narrative discourse is well underway. These delays show that
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the memoirs branch far into the life stories. Moreover, the retardation of the diagnosis can be seen as a narrative device to keep readers interested as long as possible, assuming that, as mentioned above, sickness is otherwise too reductively unequivocal especially for ableist readers to “stay with” the narrative (Mantel 2007, 105; see Rose 1997). The postponements thus indicate compositional decisions that highlight the literary acumen of the memoirs in question since they eschew the master plot of some illness narratives which typically starts with a diagnosis. Above all, however, each disclosure in these memoirs marks a moment wrought with heightened meaning, emotion, and affect for readers. In Iris, this occurs in Chapter Two. The homodiegetic narration is focalised through John. Unruly readers, whose interpretation won’t be constrained by the title of this memoir, might even read Iris as John’s autobiographical narration rather than John’s biography of his wife. After all, his consciousness lies at the heart of the narration. In any case, the disclosure of Alzheimer’s disease follows the juxtaposition of the couple’s first rendezvous in the 1950s and an occurrence in the recent past in the 1990s. Both events revolve around going swimming in the river Thames near Oxford. Much of the unsettling effect of this chapter has to do with the potentially dysfunctional dynamics between the couple. In old age, the roles of the couple are no longer equal and John’s performance of the robust caregiver entails hegemonic masculinity and sexualised dominance. The incident of the recent past in Chapter Two, set in the 1990s, taps into cultural codes according to which self-sovereignty and invulnerability appear as masculine whereas dependence and vulnerability count as feminine. The event, which is set forty-five years previously in Chapter One, revolves largely around the young man’s falling in love with an enigmatic, highly accomplished woman called Iris, who is his senior. The narration in Chapter Two recounts the story from John’s perspective of when the couple goes swimming outdoors for the last time. The occurrence ends this activity for good, although swimming used to be their favourite pastime, according to John: Now I had quite a struggle getting Iris’s clothes off: I had managed to put her bathing dress on at home, before we started. Her instinct nowadays seems to be take her clothes off as little as possible. Even in this horribly hot weather it is hard to persuade her to remove trousers and jersey before getting into bed. She protested, gently though vigorously, as I levered off the outer layers. In her shabby old one-piece swimsuit […] she was an awkward and anxious figure, her socks trailing round her ankles. (Bayley 2000, 40)
Iris physically struggles with her husband and protests against his taking her clothes off while at the river shore. On the one hand, this scene does much to trigger readers’ heterogeneous repertoires of embodied memories,
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stories, histories or beliefs. Some readers might recall an embarrassing moment while getting changed in a public place irrespective of gender. The fact that John undresses Iris against her will, however, taps into associations of feminine infantilization, shaming and sexual violence. John’s respective commentary even reinforces the sexualisation of this scene through the forced humorous remark that, to the two young bystanders who watched the scene, “we must have presented a comic spectacle – an elderly man struggling to remove the garments from an old lady, still with white skin and incongruously fair hair” (Bayley 2000, 40–41). John’s inner male gaze makes Iris’s protest and struggle disappear from his perceptual field; the association with sexual conquest prevails and reinforces heteronormative masculinity. Moreover, the adverb “now” followed by the alleged imperative “I had” (in the quotation above) emphasises John’s authority over Iris. The hegemonic masculinity that shines through his performance of the caregiver associates his robust health with a form of aggression which recurs in the memoir, for instance when Iris feels anxious on the bus from Heathrow to Oxford and John forcibly quiets her. The swimming episode ends abruptly with the unwarranted disclosure of Iris’s mental illness: “Alzheimer sufferers are not always gentle” (Bayley 2000, 41). The sharp contrast with the romance of the previous chapter reinforces the paratextual division of Part 1 “THEN” (Bayley 2000, 1) and Part 2 “NOW” (Bayley 2000, 239). More importantly, it evokes a shock in readers by virtue of such sudden juxtaposition. As Rita Felski explains, shock entails a “distinctive temporality characterized by the logic of punctuation, as a continuum of experience shatters into disconnected segments” (Felski 2008, 113). Alzheimer’s here erupts into the (auto-)biographical text and shocks attentive readers in a way that resembles the disruption caused by biological dysfunction in the lived experience of suffers and in that of caregivers (Zimmermann 2017, 75–94). The evocation of shock helps readers to intuitively grasp that lived time in the story has become disconnected in John’s and Iris’s life with dementia: “Time constitutes an anxiety because its conventional shape and progression have gone, leaving only perpetual query” (Bayley 2000, 70). Furthermore, the disrobing scene can be read as a sinister allegory for the entire narrative, namely as a public exposure without explicit consent, an unsolicited account of the intimate affairs in an influential woman’s life. This perspective certainly defamiliarizes readers’ expectations raised by the cover page: “The greatest love story of our age: incomparable” (Bayley 2000). In Love’s Work, the disclosure of disease occurs in the middle of the book (see above). Rose’s confession of suffering from terminal ovarian cancer demands a high degree of abstraction from readers inasmuch as the entire story
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does. The latter follows no “generic master plot” but represents associatively connected events from Rose’s childhood, from the AIDS epidemic in New York, from the elimination and ordeal that her Jewish-Polish ancestors endured during the Holocaust, and from private and academic life as a professor at the Universities of Sussex and Warwick (Avrahami 2007, 23). The narrative discourse forces attentive readers to undergo doubt and disbelief since the disclosure is preceded by the narratorial hoax about AIDS and the actual disclosure of cancer is formulated in conditional phrases. Rose presents her cancer in poststructuralist terms as an empty signifier: “‘cancer’ has no meaning […] It merges without remainder into the horizon within which the difficulties, the joys, the banalities, of each day elapse” (Rose 1997, 78). Indeed, climax becomes anti-climax as the narrating self bars the existential threat from narrative discourse and discoursetime. This move does much to block readers’ pity. The disappearance of cancer from the self’s horizon and from the readers’ story-induced imagination does not mean a blatant denial of a life-changing diagnosis – the remainder of the story shows that – but rather the authorial insistence on maintaining her well-being despite her illness and ensuing death. Ironically, the diagnosis in Giving up the Ghost marks a triumph on the levels of discourse and story: Mantel self-diagnoses correctly after a series of professional misdiagnoses. “Little Miss Neverwell had graduated at last,” the narrating self comments sarcastically (Mantel 2007, 190). At the age of twenty-seven, Mantel finally identifies her condition: endometriosis. The self-diagnosis solves the mystery of young Mantel’s episodes; however, this event creates a new kind of ambiguity rather than reductive certainty. Mantel’s coming of age consists, on the one hand, of the self-asserting discovery of her chronic condition, and, on the other hand, the self-victimisation of signing herself over to medical treatment as a life-long patient. In short: her quest for personal identity culminates temporarily in becoming an expert patient. This role oscillates between submission and resistance and thus retains a high degree of post-diagnostic ambiguity. Contrary to Rose’s commentary, illness does not automatically “spoil the narration” (Rose 1997, 77). Rather, readers learn that young Mantel’s low health expectations are largely the result of converging inequalities in terms of class (working class), ethnicity and religion (Irish Catholic), and gender: “when I grew up, expectations of health were so low, especially for women. The proper attitude to doctors was humble gratitude; you cleaned the house before they arrived” (Mantel 2007, 226). If Love’s Work is dissonant by focalizing mainly through the narrating self, Giving up the Ghost is consonant in that the events in the first two thirds are told through the experiencing child and adolescent self, to whom her suffering is a disorientating ordeal, while the last third focalizes more through the narrating self, who has become an expert patient. As mentioned, equivocality continues after the
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diagnosis. In the first to two thirds, being kept in the dark about the diagnosis entices readers to pay special attention. The riddle that this uncertainty creates tends to enhance readers’ attention to detail. The search for possible clues resembles the experience of reading about a dark secret in Gothic fiction or thrillers. Thus readers are engaged in imagining the bodily symptoms of Mantel, i.e. the experiencing self of the narrative. These reading experiences tap into readers’ experiential background. In doing so, people’s awareness is likely to extend to their recessive body. Imagining the disorienting pain in the narrative can be so intense that it feels visceral. Thus the attentive perusal of the narrative can have a similar effect as some bodily discomfort. This serves to remind mainly healthy readers of their visceral embodiment since their functioning organs remain otherwise inexperiencable for them.
8 Coda Health, according to Leder, often eludes us since it is a state in which we can take our bodies for granted. Thus health can be said to feel disembodied: If and when our organs are silent, our depth body is absent from our consciousness while our sensorimotor bodies disappear from our perceptual fields when we focus on our daily activities. Reading, for instance, tends to induce our surface body to disappear from our consciousness; indeed, reading might often feel disembodied. The three literary memoirs of illness, Giving up the Ghost, Iris, and Love’s Work have a strong potential to make a kind of well-being experientable that would otherwise remain unnoticed. They are written for a wide intellectual readership which reaches across the cultural boundaries that still divide the kingdom of the ill from the kingdom of the well. In other words, they go beyond the niche readership of self-help for the ill, develop various strategies to attract and retain readers’ attention, defamiliarize illness, and transform well-being. This includes in Bayley’s and Rose’s cases, on the one hand, the simulation of conventional romance on the covers, which tap into the discourse of heteronormative sexuality and reproduction which form part of readers’ cultural repertoire. On the other hand, the three memoirs do much to foreground well-being in the terms of Leder’s theory: they remind readers, first, that the well are not to judge the ill; second, that well-being can be part of the experience of illness; and third, that illness and bodily discomfort are vital for an understanding in how far we are our bodies including our viscera. It seems fair to say that the present three cases of literary memoirs of illness have overcome the double glass ceiling, namely that of normative health and literary gatekeeping.
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für ein Gesundheitssystem ganz erhebliche Kostenrisiken in sich, wenn einzelnen Bürgern ein individueller und einklagbarer Anspruch auf Gesundheit zugestanden werden sollte. Denn nach menschlichem Ermessen kann ein solcher Anspruch nicht dauerhaft erfüllt werden. Aus der WHO-Definition folgt weiter, dass Gesundheit und Krankheit nicht die beiden Seiten ein und derselben Medaille sein können. Gesundheit und Fehlen von Krankheit entsprechen sich nicht, nur Krankheit und Fehlen von Gesundheit. Die Definition der WHO lässt zwischen Gesundheit und Krankheit einen Raum, in dem keine Krankheit zu heilen ist, aber nichtsdestoweniger das Bedürfnis zur Gesundheitsoptimierung bestehen kann. Beispielhaft sind Schwangerschaft und Entbindung. Sie bedürfen der medizinischen Assistenz, obwohl sie keine Krankheiten darstellen. § 2 Abs. 2 MB/KK 2009 (Musterbedingungen für die Krankheitskosten- und Krankenhaustagegeldversicherung) führt Schwangerschaft und Entbindung daher bei der privaten Krankenversicherung als Leistungsfall abseits einer Krankheit oder eines Unfalls auf.
2 Gesundheit als Gesundheitsbeschädigung Für die deutsche Rechtsordnung steht demnach zumeist die Gesundheitsbeschädigung im Mittelpunkt. Die Gesundheit wird als Rechtsgut verstanden, das vor Eingriffen geschützt werden muss.
2.1 Gesundheit als Abwehrrecht Das oberste deutsche Gesetz, das Grundgesetz, kennt die Gesundheit nicht einmal dem Namen nach. Anders als der Umweltschutz ist der Gesundheitsschutz kein kodifiziertes, verfassungsrechtliches Staatsziel. Im Grundrechtskatalog lesen wir in Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG (Grundgesetz) nur: „Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit.“ Allerdings wird körperliche Unversehrtheit weitestgehend mit Gesundheit gleichgesetzt, wodurch sich aber das Rechtsgut der körperlichen Integrität nicht erweitert, sondern sich die Gesundheit umgekehrt auf die biologisch-physiologische Integrität sowie auf die Freiheit von Schmerz im Sinne psychischer Integrität beschränkt (BVerfGE 56, 54 [73–75]; i. E. ebenso Schulze-Fielitz 2013, Rn. 33–38). Dieses Verständnis der Gesundheit bleibt weit hinter dem WHOGesundheitsbegriff zurück (Murswiek und Rixen 2018, Rn. 150). Das restriktive Verständnis des Grundrechts hat einen gesellschaftlichen Hintergrund, der sich bei weitem nicht in fiskalischen Erwägungen erschöpft.
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Mit einem Abwehrrecht gegen den Staat korrespondiert zu einem gewissen Grad eine Schutzpflicht des Staates. Im Fall einer umfassenden staatlichen Gesundheitsschutzpflicht könnte das dazu führen, dass die Freiheit letztlich der Gesundheit geopfert werden müsste. Das Verbot des Rauchens in öffentlichen Räumen wäre ein Beispiel für eine derartige Freiheitsbeschränkung. Die Grenzen zwischen einem freiheitlichen Rechtsstaat und einer Diktatur drohen dabei zu verschwimmen (Albrecht 2009; vgl. Agamben 2002). Altbundesverfassungsrichter Udo Di Fabio warnt sogar vor einer staatlichen Gesundheitsdiktatur, die aus einem universalen Schutzauftrag des Staates für die Gesundheit seiner Bürger folgen könnte: „Extensive Werbeverbote für Nahrungsmittel beispielsweise, um die Menschen vor ungesunder Ernährung zu bewahren, sind wegen ihrer präzeptoralen Geste kritisch zu beurteilen.“ (di Fabio 2018, Rn. 51) Die Gefahren einer solchen Gesundheitsdiktatur gestaltet etwa Juli Zehs Roman Corpus Delicti. Ein Prozess, welcher die Dystopie eines Staates entwirft, der Gesundheit nicht zum Recht, sondern zur Pflicht eines jeden Bürgers erklärt (Zeh 2009; dazu Nover 2013).1
2.2 Gesundheit als Privatrechtsgut Wir treffen die Gesundheit erst in den einfachen Gesetzen ausdrücklich an. Im Bereich des Privatrechts gewährt § 823 Abs. 1 BGB (Bürgerliches Gesetzbuch), eine Norm des Deliktsrechts (unerlaubte Handlung), einen Schadensersatzanspruch insbesondere wegen Verletzung von „Körper“ und „Gesundheit“. Teilweise wird hier Gesundheit positiv als „Funktionieren der inneren Lebensvorgänge“ definiert (Wagner 2017, Rn. 117). Ein Großteil der Juristen belässt es bei einer negativen, an den Krankheitsbegriff angelehnten Definition wie „jede unbefugte, aus medizinischer Sicht behandlungsbedürftige Störung der körperlichen, geistigen oder seelischen Lebensvorgänge“ (Spindler 2019, Rn. 104; ferner BGHZ 163, 209 [212]; 114, 284 [289]). Der Körper soll nur die Physis, die Gesundheit zusätzlich die Psyche umschließen. Es ist daher anerkannt, dass die Gesundheit auch ohne Körperverletzung beeinträchtigt werden kann, beispielsweise bei psychischen Störungen. Trotz dieses anerkannten Unterschieds sollen Körper und Gesundheit regelmäßig als Tatbestandsmerkmale austauschbar sein (Hager 2018, Rn. B 7; Spickhoff 2005, Rn. 38). Einigkeit herrscht immerhin darüber, dass die WHO-Definition viel zu weit und daher für das Deliktsrecht untauglich ist (Wagner 2017, Rn. 177). Im Ergebnis entspricht die Gesundheit in ihrer semantischen Weite dem Recht auf
1 Siehe hierzu auch den Beitrag von Julian Menninger im vorliegenden Band.
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körperliche Unversehrtheit im Grundgesetz, das anders als die Körperverletzung bei § 823 BGB auch die psychische Unversehrtheit umfasst.
2.3 Gesundheit als Strafrechtsgut Im Strafrecht präsentiert sich bei der einfachen Körperverletzung nach § 223 StGB (Strafgesetzbuch) ein frappierend ähnliches, das heißt restriktives Bild bei der Interpretation des Gesundheitsbegriffs. Hier tritt die Gesundheitsbeschädigung ebenfalls neben die Körperverletzung. Die Kommentarliteratur ist sich wiederum einig, dass die WHO-Definition viel zu weit reicht, „da es dann kaum Gesunde gäbe“ (Joecks 2017, Rn. 31). Die Gesundheit soll so eng gefasst werden, dass sie nur als Abwesenheit von Krankheit erscheint: „Im engeren Sinne geht es um das subjektive Empfinden des Fehlens körperlicher, geistiger und seelischer Störungen oder Veränderungen bzw. um einen Zustand, in dem Erkrankungen und pathologische Veränderungen nicht nachgewiesen werden können.“ Teilweise sind wiederum negative Definitionen anzutreffen, die denen bei der Auslegung von § 823 Abs. 1 BGB gleichen (Lilie 2000, Rn. 12; Sternberg-Lieben 2019, Rn. 5–6). Ebenso stimmen die Gründe für die restriktive Auslegung der Gesundheit im privatrechtlichen Deliktsrecht und im Strafrecht weitestgehend überein. In beiden Fällen wird eine Überdehnung des Tatbestandes befürchtet, der zu einer übergroßen Schadensersatzhaftung bzw. einer exzessiven Strafbarkeit führen könnte. Die Gesundheit soll sich in das allgemeine Sanktionsgefüge der Zivilgesellschaft einordnen, sie darf zu keiner Haftung für allgemeines Lebensrisiko oder für sozialadäquates Verhalten führen. In den Kategorien der juristischen Methodenlehre drängt die teleologische Auslegung der Normen im Gewand des Rechtsfolgenarguments die Juristen zu einer restriktiven Normanwendung. Die Gesundheit muss sich somit als Schutznorm unter Wert verkaufen. Ihr kommt weder ein autonomer Wert zu, noch erweitert sie die Haftung in der Rechtsordnung in signifikanter Weise über die Körperverletzung hinaus.
3 Gesundheit als Leistungsrecht In einigen Fällen übernimmt die Gesundheit im Rahmen des Gesundheitswesens eine Leistungsfunktion. Diese ist jüngeren Datums als die klassische Abwehrfunktion. Mit dem Ausbau des Sozialstaates in der Nachkriegszeit erweiterte sich der Regelungsbereich der Grundrechte enorm. Der heutige Staat versteht sich nicht nur als bewahrender Rechtsstaat, sondern auch als fürsorgender Sozialstaat.
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3.1 Gesundheitsversorgung nach Verfassungsund Europarecht Nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts und der herrschenden Staatsrechtslehre soll aus dem Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit kein direkter grundgesetzlicher Anspruch auf eine durchschnittliche Gesundheitsversorgung und erst recht kein Anspruch auf eine optimale Versorgung folgen (BVerfGE 1, 97 [104f.]; di Fabio 2018, Rn. 94; weitergehend Seewald 1982, 86). Immerhin jedoch soll eine Grundversorgung für lebensbedrohliche Krankheiten verbürgt sein (BVerfGE 115, 25 [48]; ähnlich z. B. Lang 2019, Rn. 82). Auch wird unter Hinweis auf das Sozialstaatsprinzip konzediert, der Staat müsse das Gesundheitssystem und insbesondere die gesetzliche Krankenversicherung sachgerecht ausgestalten (BVerfGE 57, 70 [99]). Im Ergebnis gewährt die deutsche Nationalverfassung nach der Auslegung des Bundesverfassungsgerichts damit nur einen eingeschränkten Leistungsanspruch auf Gesundheitsversorgung durch das staatlich regulierte Gesundheitssystem. Ähnlich beschränkt ist der Anspruch aus Art. 35 S. 1 EU-GRC (Grundrechtscharta der EU). Die Norm spricht zwar explizit vom „Gesundheitsschutz“. Doch wird das „Recht auf Zugang zur Gesundheitsvorsorge und auf ärztliche Versorgung“ durch den Zusatz relativiert, der Zugang bestehe nur „nach Maßgabe der einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten.“ Im Ergebnis folgt aus Art. 35 EU-GRC lediglich ein Recht auf gleiche Teilhabe an der bestehenden Gesundheitsversorgung im Sinne eines Diskriminierungsschutzes (Jarass 2016, Rn. 6a; Müller-Terpitz, Rn. 66) oder auf eine je nach Mitgliedsstaat unterschiedliche Grundversorgung (Rudolf 2014, Rn. 10–11), aber wiederum kein Anspruch auf eine durchschnittliche oder gar optimale Versorgung.
3.2 Ordnungsbegriff der Gesundheitsdogmatik Werfen wir nunmehr einen Blick auf das Gesundheitsrecht, d. h. auf den Rechtsbereich, der sich auf der Ebene des einfachen Rechts mit Leistungen zur Gesundheitsversorgung befasst. Der Begriff Gesundheitsrecht ist wesentlich weiter und moderner als die klassischen Bezeichnungen Arzt- und Medizinrecht (Igl 2018, § 1 Rn. 1–8). In den 1970er Jahren, in den wissenschaftlichen Anfängen, dachte die Rechtswissenschaft im Bereich der Gesundheitsversorgung allein an den Arzt und sprach somit vom „Arztrecht“ (Laufs 1977). Damit beschränkte sie sich beim Thema Gesundheit auf die Person des Arztes und alle damit zusammenhängenden Fragen, d. h. auf den ärztlichen Heilberuf, insbesondere auf den wichtigen Bereich der privat- und strafrechtlichen Arzthaftung sowie auf die Ver-
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schreibung von Arzneimitteln. Alle anderen Heilberufe wie Pfleger und weite Teile der sonstigen Gesundheitsversorgung wurden ausgeblendet. Der jüngere Begriff „Medizinrecht“ fällt wesentlich weiter aus, indem er das Recht zur praktischen Ausübung der Heilkunde in den Fokus rückt. Das Medizinrecht umfasst das gesamte Arztrecht und viele weitere Bereiche der Heilkunde, beispielsweise die Regulierung von Medizinprodukten (Deutsch 1997). Noch weiter reicht der jüngste Begriff „Gesundheitsrecht“ (Igl und Welti 2018). Er umspannt die gesamte Gesundheitsversorgung der Bevölkerung. Dazu zählt über das Medizinrecht hinaus das eigens geregelte Recht der Krankenhäuser und weiterer Einrichtungen, das Versicherungsrecht zur Absicherung der Kosten im Gesundheitswesen (gesetzliche und private Krankenversicherung) und jede soziale Teilhabe des Menschen, die auf Gesundheitsversorgung gerichtet ist (z. B. im Behindertenrecht oder in der Sozialhilfe). Wenn man einen Blick in aktuelle Lehrbücher und Kommentare wirft, die unter dem Titel Medizinrecht firmieren, zeigt sich, dass diese Literaturgattung in den vergangenen Jahren den weiten thematischen Zuschnitt des Gesundheitsrechts übernommen hat (stellvertretend Spickhoff 2018). Die Termini Medizin- und Gesundheitsrecht sind damit weitestgehend deckungsgleich geworden.
3.3 Gesundheitsrechtskodifikation Der Rechtsbereichsbegriff Gesundheitsrecht hat den Vorzug, dass er mit der WHO-Definition der Gesundheit kompatibel ist und insbesondere die sozialen Aspekte der Gesundheitsversorgung jenseits der Medizin abbilden kann. Der Begriff dient nicht nur zur rechtswissenschaftlichen Systematisierung und Konsolidierung eines großen Rechtsgebietes. Er hat auch die wichtige Aufgabe, kodifikatorische Defizite auszugleichen. Anders als in Frankreich mit seinem Code de la santé publique hat der deutsche Gesetzgeber kein Gesundheitsgesetzbuch verabschiedet. Das deutsche Gesundheitsrecht ist über viele Einzelgesetze verstreut, die höchst selten aufeinander Bezug nehmen und die nur teilweise inhaltlich aufeinander abgestimmt sind. Die wichtigsten Normen finden sich im BGB (§§ 630a–630h zum Behandlungsvertrag des Patienten mit seinem Arzt, §§ 241 ff., 823 ff. zur privatrechtlichen Arzthaftung), StGB (§§ 223 ff. zur strafrechtlichen Arzthaftung), im Sozialgesetzbuch (SGB) V (zur gesetzlichen Krankenversicherung), im SGB IX (zu behinderten Menschen), im SGB XI (zur Pflege), im VVG (Versicherungsvertragsgesetz, §§ 192–208 für die Privatversicherten) sowie im Arzneimittelgesetz (zu Arzneimitteln). Der Kommentar „Medizinrecht“ deckt in der aktuellen Auflage insgesamt 42 Gesetze vollumfänglich oder partiell ab (Spickhoff 2018). Der Sache nach wird das gesamte Gesundheitsrecht
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kommentiert. Die Zusammenfassung dieser Rechtsmaterien bietet die Chance zum Rechtsvergleich, zur Vereinheitlichung der Terminologie, zur Übernahme der kraft Spezialität vorrangigen Lösungen eines Bereichs in andere Bereiche oder zur rechtspolitischen Vereinheitlichung divergierender Lösungen für übereinstimmende Rechtsprobleme. Beispielsweise können über die gesundheitsrechtliche Gesamtschau die Leistungen in der gesetzlichen und privaten Krankenversicherung verglichen und daraus Rückschlüsse zum jeweiligen Leistungsumfang gezogen werden (Genz 2019; Schäfer 2020).
3.4 Leistungsbereiche der Gesundheitsversorgung Der Begriff Gesundheit führt durch seine Weite wie erläutert zu einer perspektivischen Ausdehnung, weg von der ärztlichen Heilbehandlung hin zu allen Facetten der modernen Gesundheitsversorgung (grundlegend Igl 2018, § 2 Rn. 1–8; für die PKV übernommen von Schäfer 2020, § 50 Rn. 2). Der Begriff Gesundheitsrecht hilft weitaus besser als das klassische Arzt- und Medizinrecht, die Defizite der Gesundheitsversorgung jenseits der Kuration juristisch zu beschreiben (dazu Schäfer 2018, § 34 Rn. 22, § 37 Rn. 29–30). Eine solche Bestandsaufnahme der Defizite ist wichtig, damit die Wissenschaft ihren Beitrag zum gesellschaftlichen Diskurs um echte oder vermeintliche Lücken im Gesundheitssystem leisten kann. Die Leistungsbereiche der Gesundheitsversorgung setzen sich aus Sicht des Gesundheitsrechts wie folgt zusammen: (1) Die Kuration (Heilung) bildet den klassischen Kernbereich der Gesundheitsversorgung. (2) Die Prävention ist der Kuration vorgelagert. Sie zielt darauf ab, Krankheiten zu vermeiden. Beispiele sind Impfung, Zahnprophylaxe und sonstige Vorsorgeuntersuchungen nach gesetzlich eingeführten Programmen. Damit nicht zu verwechseln, aber eng verwandt, ist die ebenfalls in die Gesundheitsversorgung integrierte Gesundheitsförderung nach der Ottawa-Charta der WHO (Ottawa Charter for Health Promotion 1986). Sie knüpft nicht an Krankheiten an, sondern – für unseren Kontext interessant – an die Gesundheit. Ihr Ziel ist die Erreichung des körperlichen, seelischen und sozialen Wohlbefindens durch Stärkung der gesundheitlichen Lebensbedingungen, insbesondere der ökonomischen, kulturellen, sozialen, bildungsmäßigen und hygienischen Aspekte. Ein Beispiel ist die betriebliche Gesundheitsförderung nach § 20a SGB V, die mit dem Arbeitsschutz nicht deckungsgleich ist. Sie umfasst die Handlungsfelder Beratung zur gesundheitsförderlichen Arbeitsgestaltung, den gesundheitsfördernden Arbeits- und Lebensstil sowie die überbetriebliche Vernetzung und Beratung.
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(3) Statt der Heilung hat die Palliation die bloße Linderung einer Krankheit zum Ziel. Das wichtigste Beispiel ist das Hospiz zur stationären Versorgung von Personen, die an einer nicht mehr heilbaren, tödlichen Krankheit leiden. (4) Parallel zu anderen Feldern der Gesundheitsversorgung läuft die Pflege, genauer die Grundpflege. Sie richtet sich an Personen, die „gesundheitlich bedingte Beeinträchtigungen der Selbständigkeit oder der Fähigkeiten aufweisen und deshalb der Hilfe durch andere bedürfen“ (so die Definition der Pflegebedürftigkeit in § 14 Abs. 1 SGB XI). (5) Zuletzt ist die Rehabilitation zu nennen. Sie ist der Kuration nachgelagert und dient der Wiedereingliederung einer kranken Person in das berufliche und gesellschaftliche Leben.
3.5 Defizitärer Gesundheitsbegriff in der privaten Krankenversicherung Wenn man die Normen zur privaten Krankenversicherung auf den Begriff „Gesundheit“ abklopft, lautet das Ergebnis, dass die Gesetzesnormen im Versicherungsvertragsgesetz die Gesundheit nur als Teil zusammengesetzter Begriffe erwähnen: bei der Gesundheitskarte (§ 193 Abs. 8 VVG), beim Gesundheitswesen (§ 203 Abs. 3 VVG) sowie bei den Gesundheitsdaten (§ 213 Abs. 1 VVG). Die Allgemeinen Versicherungsbedingungen und Tarife, die den Versicherten konkrete Ansprüche gegen den Versicherer gewähren, berufen sich etwas häufiger auf die Gesundheit. Sie taucht dort bei der Erstreckung des Versicherungsschutzes auf Behandlungen im Ausland (§ 1 Abs. 4 MB/KK), bei den Wartezeiten als „Gesundheitszustand“ (§ 3 Abs. 4 MB/KK) sowie wiederum als „Gesundheitswesen“ (§ 18 Abs. 1 MB/KK) auf. Ferner dient die Gesundheit zur Erweiterung des Versicherungsschutzes für Arzneimittel (Komforttarif HUK-Coburg, Teil III Nr. 2 d) und zur Konkretisierung von Transportleistungen (Komforttarif HUK-Coburg, Teil III Nr. 5 a). Bei der ambulanten Kur ist zuletzt von der „Wiederherstellung der Gesundheit“ (Komforttarif HUK-Coburg, Teil III Nr. 2 h) die Rede. In keiner der genannten Klauseln kommt dem Gesundheitsbegriff für die Leistung der privaten Krankenversicherung eine tragende Rolle zu. Warum aber liegt die Gesundheit nicht im Blickfeld der privaten Krankenversicherung? Das liegt am Versicherungsschutz. Versichertes Interesse ist nicht die Gesundheit. Versichert ist vielmehr das Vermögen einer Person. Versichertes Risiko ist dementsprechend nicht die Krankheit; vielmehr bilden die aus einer medizinischen Heilbehandlung resultierenden Kosten das Risiko. Damit liegt die Gesundheit fernab des Versicherungsschutzes und der für den Versicherungsschutz aufgestellten Klauseln im Versicherungsvertrag.
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3.6 Gesundheitsförderung in der gesetzlichen Krankenversicherung Ganz anders steht es in der gesetzlichen Krankenversicherung. Die Gesundheit ist dort im Vergleich zur Krankheit kein Randthema, sondern primärer Regelungsgegenstand, Motiv und Ziel. Zentrale Norm ist § 1 SGB V, der seit 1989 die Aufgabe der gesetzlichen Krankenversicherung definiert (Gesundheit und Krankheit sind im Folgenden durch Kursivierung hervorgehoben): „Die Krankenversicherung als Solidargemeinschaft hat die Aufgabe, die Gesundheit der Versicherten zu erhalten, wiederherzustellen oder ihren Gesundheitszustand zu bessern. Das umfasst auch die Förderung der gesundheitlichen Eigenkompetenz und Eigenverantwortung der Versicherten. Die Versicherten sind für ihre Gesundheit mitverantwortlich; sie sollen durch eine gesundheitsbewusste Lebensführung, durch frühzeitige Beteiligung an gesundheitlichen Vorsorgemaßnahmen sowie durch aktive Mitwirkung an Krankenbehandlung und Rehabilitation dazu beitragen, den Eintritt von Krankheit und Behinderung zu vermeiden oder ihre Folgen zu überwinden. Die Krankenkassen haben den Versicherten dabei durch Aufklärung, Beratung und Leistungen zu helfen und auf gesunde Lebensverhältnisse hinzuwirken.“ Die Norm legt zwar nicht selbst individuelle Leistungsansprüche fest, sie bietet aber eine Auslegungshilfe für das gesamte Gesetzbuch und umreißt das im weiteren Normverlauf folgende konkrete Leistungsprogramm (Peters 2019, Rn. 3). Das Wort Gesundheit wird hier sieben Mal verwendet, das Wort Krankheit nur drei Mal. Die Zieltrias der gesetzlichen Krankenversicherung bezieht sich nicht auf die Krankenbehandlung, sondern auf den Erhalt, die Wiederherstellung und die Verbesserung des Gesundheitszustandes. Ebenso knüpfen einzelne Leistungsbereiche der gesetzlichen Krankenversicherung seit 2007 bzw. 2015 nicht an die Krankheit, sondern an die Gesundheit an. Der dritte Abschnitt des dritten Kapitels des SGB V (§§ 20–24i) widmet sich bereits in der Überschrift nicht nur den „Leistungen zur Verhütung von Krankheiten“, sondern auch der „betriebliche[n] Gesundheitsförderung und Prävention arbeitsbedingter Gesundheitsgefahren“. Ebenso koppelt der vierte Abschnitt (§§ 25, 25a, 26) die „Früherkennung von Krankheiten“ an die „Erfassung von gesundheitlichen Risiken“. Bereits in den Abschnittsüberschriften ist für den Leser bzw. Rechtsanwender evident, dass Gesundheit nicht mit dem Fehlen einer Krankheit deckungsgleich sein kann. Im Detail versteht § 20 Abs. 1 S. SGB V unter Gesundheitsförderung die „Förderung des selbstbestimmten gesundheitsorientierten Handelns der Versicherten“. Die gesetzliche Krankenversicherung schließt sich anders als privatund strafrechtliche Rechtsinstitute zur Abwehr einer Gesundheitsbeschädigung der weiten WHO-Definition der Gesundheit an. § 20a Abs. 1 S. 1 SGB V definiert
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beispielhaft für die soziale Komponente der Gesundheit: „Lebenswelten […] sind für die Gesundheit bedeutsame, abgrenzbare soziale Systeme insbesondere des Wohnens, des Lernens, des Studierens, der medizinischen und pflegerischen Versorgung sowie der Freizeitgestaltung einschließlich des Sports.“ In manchen Fällen richtet sich der Gesundheitsschutz nur an Kollektive, etwa die betriebliche Gesundheitsförderung nach § 20b SGB V. Dagegen gewährt § 23 Abs. 1 SGB V einen individuellen Anspruch auf medizinische Vorsorgeleistungen: „Versicherte haben Anspruch auf ärztliche Behandlung und Versorgung mit Arznei-, Verband-, Heil- und Hilfsmitteln, wenn diese notwendig sind, eine Schwächung der Gesundheit, die in absehbarer Zeit voraussichtlich zu einer Krankheit führen würde, zu beseitigen.“ Die Schwächung der Gesundheit ist für den Sozialgesetzgeber offensichtlich keine Krankheit, sondern ein Vorstadium zur Krankheit. Der Sozialgesetzgeber will nicht nur präventiv Krankheiten, sondern bereits die Schwächung der Gesundheit verhindern. Weiterhin gewährt § 25 SGB V einen individuellen Anspruch auf „Gesundheitsuntersuchungen“. Zitat aus Abs. 1 S. 1 der Norm: „Versicherte, die das 18. Lebensjahr vollendet haben, haben Anspruch auf alters-, geschlechter- und zielgruppengerechte ärztliche Gesundheitsuntersuchungen zur Erfassung und Bewertung gesundheitlicher Risiken und Belastungen, zur Früherkennung von bevölkerungsmedizinisch bedeutsamen Krankheiten und eine darauf abgestimmte präventionsorientierte Beratung“. Hier trennt der Sozialgesetzgeber fein säuberlich das bloße Gesundheitsrisiko von der Krankheit. Der folgende fünfte Abschnitt (§§ 27–52a) widmet sich dann ganz der „Krankenbehandlung“ und somit der Krankheit, auch wenn der Gesetzgeber in § 1 von Gesundheitswiederherstellung spricht. Der Gesetzgeber weicht damit in der Umsetzung der Zieltrias von seiner eigenen Nomenklatur ab, da die Praxis der medizinischen Behandlung bei der Leistungserbringung und Abrechnung immer noch auf einem Krankheitsfall aufbaut. Interessant ist zuletzt ein Blick auf die Homepages einzelner Krankenkassen. Stellvertretend sei die größte gesetzliche Krankenkasse, die Allgemeine Ortskrankenkasse (AOK) genannt (https://www.aok.de/pk/bw/ [Stand 20.5.2019]). Sie bezeichnet sich selbst unter dem Logo als „Die Gesundheitskasse“. Die AOK hat in ihrem Leistungsangebot auch Versorgungselemente, die explizit auf die Gesundheit abzielen. Wir lesen von „Gesundheitskursen für die ganze Familie“: „Gesund essen, mehr Sport treiben oder Stress abbauen – mit unseren Gesundheitskursen können Sie viel für Ihre Gesundheit tun.“ Ferner führt die AOK unter dem Hauptmenüpunkt „Gesund leben“ folgende Versorgungselemente an: „Gesund im Ausland“ für den Krankenversicherungsschutz im Ausland, „Gesund im Alltag“ für „Interessante Gesundheitsinfos“ und „Vorsorge“ für „Anregungen und Angebote der AOK, die Ihnen helfen, gesund zu bleiben.“
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Der Gesetzgeber setzt die Gesundheit also in dreifacher Funktion ein: Gesundheit soll erstens das Leitwort für die gesetzliche Krankenversicherung sein und deren gesundheitspolitische Aufgabe umreißen. Gesundheit soll zweitens die Krankheitsprävention durch Gesundheitsförderung erweitern. Und Gesundheit soll drittens die medizinische Leistung von der Krankenbehandlung auf die Behandlung der bloßen Gesundheitsverschlechterung ausweiten. Bei den gesetzlichen Krankenkassen kommt eine weitere Funktion hinzu. Sie setzen die Gesundheit zur Werbung, insbesondere zur Aufwertung von Leistungen durch das Wort „gesund“ ein, wo der Sache nach weiterhin die Krankenbehandlung gemeint ist.
4 Narratologische Spurensuche Begeben wir uns nunmehr zur Frage, inwiefern der juristische Gesundheitsbegriff bzw. das Gesundheitsrecht als Gegenstand für die Erzähltheorie taugen. Es sollen hier keine allseits bekannten Narrative wie die Zweiklassen-Medizin, d. h. die Benachteiligung von Kassenpatienten, reproduziert werden (dazu Gaßner, Strömer 2013). Eine sachliche Analyse muss vielmehr an die Untersuchungsergebnisse zum juristischen Gesundheitsbegriff anknüpfen. Kann nur die Krankheit, aber nicht die Gesundheit erzählt werden? In der Definition der WHO ist die Gesundheit ein Idealzustand in seiner reinsten Form. Der gesunde Zustand ist nur erreicht, wenn nicht das geringste körperliche, seelische oder soziale Missbehagen vorliegt. Wer wollte sich nach dieser Definition als vollkommen gesund einstufen? Wohl nur die wenigsten von uns. Ein solcher Idealzustand ist nahezu unerreichbar. Für die Wiedergabe eines Geschehens durch Erzählung eignet sich die Gesundheit daher denkbar schlecht. Gesundheit ist lediglich ein Zustand, es fehlen Handlungen oder Ereignissen in zeitlicher Abfolge (di Fabio 2018, Rn. 57). Wir können aber den erfolgreichen oder erfolglosen Weg zur Gesundheit erzählen: Beispielsweise von der Gesundheitsbeschädigung über die Gesundheitsverbesserung bis zur vollständig hergestellten Gesundheit – oder in den Worten von § 1 SGB V: die Handlungen zur Wiederherstellung, zur Besserung und zur Erhaltung der Gesundheit. Dazu bedarf es nicht zwangsläufig einer Krankheit als Gegenpol zur Gesundheit.
4.1 Hindernisse durch Kodifikation und Urteilen Die Rechtsordnung, allen voran die Kodifikation als moderne Form der Gesetzgebung (Fludernik 2014, 92–109; Sternberg 2008), ist allerdings – ganz unab-
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hängig vom Gesundheitsbegriff – ein schlechter Erzähler. Der Gesetzgeber fasst einzelne Normen in einem Gesetzbuch zusammen. Wenn das Gesetzbuch einen ganzen Rechts- oder Sachbereich abschließend regeln soll, spricht man von einer Kodifikation. Der Vorgang der Gesetzgebung wird mit dem Verb „kodifizieren“ bezeichnet. Der klassische deutsche Gesetzgeber übt bei der Kodifizierung in mehrfacher Hinsicht strenge Zurückhaltung. Die Definitions- und Gestaltungsmacht durch Kodifikation ist beschränkt, da der Tatbestand einer Norm in der Rechtsanwendung permanent und immanent durch Subsumtion anhand der Lebenswirklichkeit hinterfragt wird. Eine durch Fakten widerlegte literarische Erzählung kann angesichts der tendenziell fiktionalen Ausrichtung der Literatur dagegen immer noch gute Literatur sein. Ein Gesetz ohne Anwendungsmöglichkeit oder Durchsetzbarkeit aber ist in jedem Fall ein totes und für die Rechtsanwendung irrelevantes Gesetz. Der Gesetzgeber ist ferner strengen formalen Vorgaben unterworfen, die teils aus dem Verfassungsrecht (zum Beispiel aus dem Bestimmtheitsgebot), teils aus der Rechtslogik folgen. Ein Autor kann seine Erzählung hingegen frei gestalten, er ist keinen normativen oder logischen Zwängen unterworfen. Auch geben viele Erzählungen die Motive und Ziele der in ihnen auftretenden Figuren preis. Im Vergleich dazu tritt ein Gesetzestext betont einsilbig auf. Um Genaueres über gesetzgeberische Motive und Ziele zu erfahren, muss der Rechtsanwender in die Gesetzesmaterialien schauen. Der nackte Gesetzestext ist bereits deshalb nur mit größten Mühen als Erzählung zu qualifizieren (ebenso Fludernik 2014, 109: „I would, therefore, contend that the more contemporary law codes are quite deliberately non-narrative“). Erst in den beiden letzten Jahrzehnten geht der deutsche Gesetzgeber – vor allem bei Gesetzen zur Leistungsverwaltung, beispielsweise zum Sozialrecht – dazu über, konkreten Rechtsregeln Rechtsnormen voranzustellen, die normativ als Rechtsprinzipien oder bloße unverbindliche, d. h. non-normative Programmsätze einzuordnen sind. Beispielhaft ist der bereits zitierte § 1 Satz 1 SGB V zur gesetzlichen Krankenversicherung. Der Gesetzgeber erläutert hier die Aufgabe der gesetzlichen Krankenversicherung. Damit nähert sich der Gesetzestext bis zu einem gewissen Grad einer Erzählung an. Die Rechtsprechung wendet Gesetze an. Sie könnte als weiterer Lieferant einer Erzählung über Gesundheit in Frage kommen, da die Richter in den festgestellten Sachverhalten und in ihren Beweiswürdigungen die verschiedenen Erzählungen der Parteien und Zeugen zu einer Haupterzählung zusammenführen (dazu stellvertretend Arnauld 2009; Stern 2018). Urteile unter dem Stichwort „Gesundheitsbeschädigung“ gibt es wie Sand am Meer. Die Suchanfrage in der Rechtsdatendank Beck-Online liefert mehr als 2.000 Treffer (https://beck-on line.beck.de/Home [Stand 20.5.2018]). Über die Gesundheit erfährt der Leser hier aber sehr wenig, dafür umso mehr über alle menschlichen Krankheiten; da-
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gegen schweigt sich die Rechtsprechung über die spezifische Gesundheitsförderung nach §§ 20 ff. SGB V weitestgehend aus. Beck-Online liefert zu § 20b SGB V überhaupt keinen Treffer und zu § 20a SGB V nur fünf irrelevante Treffer zu Steuerfragen. Nicht ergiebiger sind die immerhin 60 Treffer zu § 20 SGB V, da die Norm erst seit 2015 die Gesundheitsförderung regelt. Die Urteile zu dieser Norm betreffen lediglich das Steuerrecht, die Wirtschaftlichkeitsprüfung eines Leistungserbringers und andere Sachverhalte fernab einer Erzählung über Gesundheit. Die mangelnde Präsenz der Gesundheitsförderung ist kein Zufall. Die Leistungsfälle im Bereich der Gesundheitsförderung fallen im Vergleich zur Krankenbehandlung finanziell kaum ins Gewicht, sodass das Streitpotential hier sehr gering ist.
4.2 Gesundheitserzählung durch normative Strukturen Gleichwohl lassen sich auf der Metaebene auch aus Kodifikationen in vielen Fällen eine oder mehrere Erzählungen zur Gesundheit destillieren. Wenn sich der Betrachter nicht der juristischen Logik unterwirft, kann er drei Erzählungen erkennen: erstens die Lebensgeschichte und den Gesundheitszustand des Versicherten im Rahmen verschiedener Bereiche der Gesundheitsversorgung, von der Schwangerschaft und Mutterschaft über die Kindermedizin bis zur Versorgung im Erwachsenenalter. Der Mensch im Erwachsenenalter wird krank, dann kuriert und rehabilitiert. Im höheren Alter ist er pflegebedürftig und muss kurz vor dem Tod die Palliation in Anspruch nehmen. Die zweite Erzählung handelt vom Verhältnis des Patienten zu den verschiedenen Erbringern von Gesundheitsleistungen, allen voran zu den Ärzten. Es ist eine Geschichte von Erfolgen, aber, wie die Arzthaftung lehrt, auch von Misserfolgen bei der Erhaltung und Wiedererstellung der Gesundheit. Die dritte Erzählung handelt vom Sozialstaat: vom Ausbau staatlicher und privater Gesundheitsleistungen, von Finanzierungsproblemen und der Anpassung des Leistungskatalogs in der Versicherung an den medizinischen Fortschritt.
4.3 Gesundheitserzählung in der Literatur Das wahre Metier der Gesundheitserzählung liegt jenseits der Rechtsordnung in der fiktionalen Literatur, da sie nicht den finanziellen Engpässen sowie den politischen Vorgaben des Gesundheitswesens unterworfen ist. Anders als die reale Gesundheitspolitik und die mit ihr verwobene Rechtsordnung vermag sie Utopien und Dystopien zu entwerfen, in denen die Eigenschaft der Gesundheit als
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optimaler Zustand geradezu wünschenswert ist. Hervorzuheben ist der bereits erwähnte Roman Corpus Delicti von Juli Zeh, der von einer staatlich angeordneten Pflicht zur Gesundheit für alle Bürger eines fiktiven Zukunftsstaates erzählt. Der Titel reicht über das klassische Beweisstück hinaus; der Mensch selbst wird zum Objekt in einer Diktatur. Stück für Stück enthüllt die Erzählung ein Regime, dessen oberstes Ziel der Erhalt und die Optimierung der Gesundheit auf Kosten der Freiheit ist. Das Recht geht in diesem Roman eine bemerkenswerte Symbiose mit der Medizin ein. Es sichert das Staatsziel Gesundheit; wer sich diesem Ziel nicht unterwirft, wird ordnungs- und strafrechtlich sanktioniert. Das Recht verliert in diesem Roman seine Autonomie: Es muss sich ideologisch dem Gesundheitswahn unterordnen, politisch-gesellschaftlich ist es damit nur noch ein Werkzeug zur Repression. Der Tatvorwurf lautet beispielsweise „Vernachlässigung der medizinischen und hygienischen Vorsorge“ als Kindeswohlgefährdung, die einer schweren Körperverletzung gleichzustellen sei (Zeh 2009, 17). Aus Sicht der Medizin handelt es sich um Prävention bzw. Gesundheitsförderung. Die von Zeh entworfene Diktatur ist damit kein bloß repressiver Überwachungsstaat, sondern eine Steigerung in Form eines Präventionsstaates, der bereits dann freiheitsentziehende Maßnahmen ergreift, wenn eine Rechtsverletzung nur droht (Larbig 2009).
5 Konklusion: Gesundheit, Recht und Erzählung Verlassen wir wieder die Romanwelt und ziehen ein Fazit zum Gesundheitsrecht als Gegenstand der Erzähltheorie. Der Gesundheitsbegriff der WHO stellt die Rechtsordnung vor große Herausforderungen. Dieser Begriff ähnelt in seiner normativen und semantischen Substanz bis zu einem gewissen Grad der Menschenwürde des Grundgesetzes. Wie die Menschenwürde eignet sich die Gesundheit durch ihre Ausrichtung auf den Idealzustand mehr zur Kodifikation eines Rechtsprinzips als einer Rechtsregel. Wie die Menschenwürde ist die Gesundheit in der Rechtsanwendung potentiell universal und mit einem hohen Gewicht in der Werteordnung ausgestattet. Je abstrakter und zugleich gewichtiger ein Rechtsbegriff aber ist, desto schwieriger gestaltet sich die Koordination des Begriffes mit spezielleren, weniger gewichtigen Rechtsbegriffen. Auch ist der Gesundheitsbegriff semantischen Schwankungen unterworfen; die Rechtsordnung verfolgt einen sektoralen, teleologischen Ansatz. Gesundheit als Abwehrrecht wird eng ausgelegt, Gesundheit als Leistungsrecht demgegenüber weit.
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Vor strukturell ähnlichen Herausforderungen steht die Erzähltheorie. Gesundheit ist kein tauglicher Gegenstand, da sie einen Idealzustand und somit nur ein punktuelles Ereignis beschreibt. Auf Krankheitserzählungen kann nicht ausgewichen werden, da Krankheit und Gesundheit sich diametral gegenüberstehen. Sehr wohl aber können der Weg zur Gesundheit und Maßnahmen zum Gesundheitserhalt erzählt werden. Auf das Gesundheitsrecht übertragen wäre nicht nach Normen zur Krankheitsbehandlung, sondern nach Normen zur Gesundheitsförderung zu suchen. Der Gesetzgeber ist aber kein bereitwilliger Erzähler. Einige Bereiche des Gesundheitsrechts wie die private Krankenversicherung schweigen fast vollständig zur Gesundheit und liefern somit von vornherein keine Ansatzpunkte für eine Erzählung über Gesundheit. Wesentlich gesprächiger ist der Gesetzgeber bei der gesetzlichen Krankenversicherung. Dort erzählt er anhand der verschiedenen Bereiche der Gesundheitsversorgung in erster Linie die Lebensgeschichte des Menschen. Er widmet sich dem Nasciturus (mittels Untersuchungen während der Schwangerschaft), der Geburt sowie dem Säugling (mittels Hebamme), dem Kind und Jugendlichen (mittels Impfungen und Pädiatrie), dem Erwachsenen (mittels Gesundheitsförderung), dem Greis (mittels Pflege und Hospiz) sowie dem Tod (mittels Sterbegeld). Trotzdem ist die Suche nach Urteilen vergebens, die im Bereich von Ansprüchen auf Gesundheitsförderung ein taugliches Korpus liefern. Denn Ansprüche auf Gesundheitsförderung bleiben finanziell weit hinter Ansprüchen aus Krankheitsbehandlungen zurück, sodass Konflikte hier bereits im Vorfeld einer gerichtlichen Auseinandersetzung gelöst werden. Damit generieren Gerichte keine Sachverhalte und somit keine Erzählungen zur Gesundheitsförderung. Es bleiben für die Narratologie fiktionale Gesundheitserzählungen, in denen anders als in der Welt der Rechtspraxis der Gesundheitsbegriff den Krankheitsbegriff ablöst.
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Christopher Koppermann
Sieg über die Gefühle? Gesundheitserzählungen in der Psychotherapie Wann ist die Erzählung des Patienten in der Psychotherapie1 mehr gesund als krank? Erzählt die Patientin von Gesundheit, ist ihre Art des Erzählens besonders gesund oder wird sie gesund durch das Erzählen? An welchem Punkt sollte die Therapie bestenfalls beendet werden? Was ist überhaupt psychische Gesundheit? Im Folgenden werde ich zwei Erzählsegmente aus zwei Therapien vorstellen, die sich in ihrer Form sehr stark unterscheiden und dabei doch erstaunliche Gemeinsamkeiten aufweisen, was den impliziten Gesundheitsbegriff betrifft. Die Beispiele sollen illustrieren, wie groß das Spektrum der Erzählpraxis im Kontext der Psychotherapie auf dem Weg zur Gesundheit sein kann und wie Form und Inhalt sich dabei ergänzen. Es ist äußerst selten, dass im psychotherapeutischen Setting Gesundheit unabhängig von Krankheit erzählt wird. Psychotherapie gilt in der Bundesrepublik als Krankenbehandlung und Diagnosen werden nach den Kategorien der Weltgesundheitsorganisation verschlüsselt und abgerechnet. Bei ihr handelt es sich in der Regel und in den hier vorliegenden Fällen um ein institutionelles Gespräch im Rahmen der gesetzlichen Gesundheitsversorgung. Dabei entsteht zunächst eine asymmetrische Konstellation zwischen ‚krank‘ und ‚heilend‘, in der beide Interaktanten das erklärte Ziel haben, die psychische Gesundheit des Patienten zu verbessern. Im Vordergrund steht also zu Beginn die Leidensgeschichte des Patienten, am Ende soll eine Gesundheitserzählung stehen.
1 Gesundheit als Verhandlungssache Obwohl die psychoanalytische Behandlung als herrschaftsfreier Raum gedacht wird, entstehen den kulturell vorgeformten Erwartungen der Teilnehmenden nach Unterschiede in den gegenseitigen Zuschreibungen von Wissen, Kompe-
1 Wenn hier und nachfolgend von Psychotherapie die Rede ist, so betrifft das psychodynamische Therapieformen, aus denen auch die für diese Untersuchung herangezogenen Daten stammen. Nicht alle Aussagen dieses Textes sind auf alle Psychotherapieformen übertragbar. Es gibt aber sicherlich einige Gemeinsamkeiten. https://doi.org/10.1515/9783110747928-006
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tenz und Rollenanforderungen (epistemischer und deontischer Status) zwischen Patient und Therapeut (Stevanovic und Peräkylä 2014, 186) und damit zwangsläufig Unterschiede zwischen den jeweiligen Auffassungen von Gesundheit. Beispielsweise ist es in der Psychoanalyse nicht unüblich, dass die Therapeutin vorschlägt, das Erleben der Patientin sei vielleicht anders, als sie es schildere. Zu solchen Aussagen bestünde in der Alltagskommunikation in der Regel keine Lizenz. Voutilainen und Peräkylä (2014, 2) nennen das den „epistemic twist“ in der psychoanalytischen Tradition. Gesundheit ist hier gewissermaßen auch Verhandlungssache. Diese Verhandlung läuft auf mehreren kommunikativen Ebenen gleichzeitig ab. Dabei kann die psychotherapeutische Situation zeitweise von außen betrachtet wie ein Gespräch zwischen Freunden wirken (Voutilainen und Peräkylä 2014, 2). Eine ähnliche Konstellation zeigt sich auch bei Arzt-PatientenGesprächen. Im Gegensatz zu Ärzten sind Psychotherapeutinnen jedoch notwendigerweise in das Erleben des Patienten involviert. Neben dem Gesprächsinhalt wird gleichzeitig eine komplexe Beziehung gestaltet (Buchholz 2016, 284). Im therapeutischen „talk in interaction“ werden „Orte der Empathie“ generiert (Buchholz et al. 2016, 230). Mündliche Erzählungen sind in der Regel individuell auf die verhandelte Position der Gesprächspartner, das erwartete Wissen und die Aufnahmefähigkeit des Gegenübers zugeschnitten. Jeder Satz verweist auf zuvor Gesagtes und auf gemeinsames Wissen. Diese ‚unheilbare‘ Rezipientenorientierung (bspw. Bucholz 2016, 285; Hitzler 2013) und Indexikalität (z. B. DeFina und Georgakopoulou 2012, 176) jeder mündlichen Erzählung bleiben möglicherweise unsichtbar, solange man sich nur auf den Inhalt einer isolierten Erzählung konzentriert. Die regelhafte Organisation eines Gesprächs verläuft hoch geordnet, wird aber größtenteils unbewusst vollzogen. Des Weiteren geht die psychoanalytische Tradition davon aus, dass intrapsychische Konflikte bestehen, die dynamisch-unbewusst sein können. Das bedeutet, dass Inhalte durch Abwehrmechanismen wie Verdrängung, Verleugnung, Verschiebung zur innerpsychischen Konfliktregulation aus dem Bewusstsein geraten. In der psychoanalytischen Theorie wird erwartet, dass entsprechend unbewusste Beziehungsmuster im therapeutischen Gespräch reproduziert und therapeutisch bearbeitet werden können. Wie kann psychische Gesundheit unter diesen Bedingungen gefasst werden? Ernst A. Ticho formuliert 1971: Wir sind uns nicht immer genügend klar darüber, welche Vorstellungen wir von seelischer Gesundheit besitzen. Manche Vorstelllungen sind unbewußt, werden daher starr verfolgt und machen uns unflexibel. Der Analytiker sollte jedoch genau wissen, welche Erwartungen er mit seelischer Gesundheit verbindet. Nur wenn uns diese eigenen Erwartungsvorstellungen bewußt sind, können wir die eigenen Ziele von denen des Patienten abgrenzen. (Ticho 1971, 45)
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Spiegelbildlich beschreibt er die Erwartungen des Patienten an Gesundheit: Die unbewussten Erwartungen des Patienten sind so eng mit seiner Neurose verbunden, daß sie ihm erst mit dem Verständnis von sich selbst bewußt werden. Erst dann kann er die Diskrepanz zwischen unbewußten Ansprüchen und bewußten Zielen überwinden und beide miteinander assimilieren. (Ticho 1971, 46)
Sprichwörtlich betreiben wir mit der Psychoanalyse eine Wissenschaft von dem, was wir nicht wissen wollen. Um die therapeutische, oft intuitiv gewordene Einschätzung psychischer Gesundheit sichtbar zu machen, reicht es also nicht aus, sich ein Narrativ inhaltlich isoliert anzuschauen. Es genügt nicht zu wissen, dass eine Erzählung von Gesundheit handelt. Benötigt wird „etwas mehr als Interpretation“ (Stern et al. 1998). Mit der, unter anderen von Stern angeregten, aufsehenerregenden intersubjektiven Wende in der Psychoanalyse wurde auch in der entsprechenden Psychotherapieforschung der Blick von der verbalen Deutung auf das komplexe interaktionelle Geschehen gerichtet, das sich in all den vielen kleinen Momenten der verbalen und nonverbalen Kommunikation entfaltet und nach Regeln sucht, die nicht in der Sprache expliziert sind (Buchholz 2016, 283–284). Aus diesem Grund möchte ich vorschlagen, die Analyse von Gesundheitserzählungen in der Psychotherapie nach den folgenden Kategorien auszurichten: 1. Gesunderzählen als Prozess 2. ‚Gesund‘ erzählen als Form 3. Gesundheit erzählen als Inhalt Wie es die Regel bei solchen Analysekategorien ist, sind diese eng miteinander verwoben und entsprechend schwierig zu trennen. Das wurde beispielsweise für Erzählungen als Bewältigungsleistung in Hinblick auf die Unterscheidung von Konstruktion der Erzählung und interaktiver Gestaltung derselben gezeigt (Lucius-Hoene und Scheidt, 2017). Die Strukturierung des Textes ist dabei nicht unabhängig vom Rezipienten. Beispielswiese hängt die Positionierung des Erzählers im Plot stark von der Wirkungsabsicht des Erzählers ab (interaktive Gestaltung), beeinflusst ihrerseits aber wiederum die Selektion der zu erzählenden Elemente (Konstruktion der Erzählung). Die hier verwendeten Kategorien Inhalt und Form werden, so zeigen die Ausführungen von Scheidt und Lucius-Hoene, in der Interaktion ko-konstruiert, beinhalten also beide interaktive Elemente. Da der Begriff ‚Handlung‘ bereits performative Aspekte suggeriert und die Erzählung – als Sprechakt verstanden – auch eine Handlung ist, nutze ich vereinfachend und unter Umgehung des Handlungsbegriffes diese eher grobschlächtige Aufteilung in Form und Inhalt. Inhalt wird in der vorliegenden Arbeit als Plot (was wird erzählt) gefasst. Die Form wird als die konkrete ge-
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stalterische Umsetzung im Gespräch verstanden (wie wird erzählt). Auch in dieser Aufteilung ist anzunehmen, dass der Inhalt des Erzählten die Form beeinflusst und umgekehrt. Emotional geladene Inhalte werden beispielsweise den Sprechfluss beeinträchtigen. Die Prozessebene (im Sinne der Entwicklung von Narrativen im Verlauf einer Psychotherapie) bleibt in diesem Beitrag außen vor. Dazu wären (Langzeit-)Verlaufsstudien geeigneter, die an anderer Stelle durchgeführt wurden (bspw. Adler et al. 2015; Schumann und Lucius-Hoene 2015). Ich werde im Folgenden versuchen, die beiden Ebenen ‚‚gesund‘ erzählen‘ und ‚Gesundheit erzählen‘ (Form und Inhalt) anhand zweier Ausschnitte aus psychodynamischen Kurzzeittherapien zu veranschaulichen. Das ‚gesund‘ steht in Anführungszeichen, da klar sein muss, dass aus dem Erzählkontext nicht a priori auf Gesundheit geschlossen werden kann. ‚Gesund‘ kann im Zusammenhang mit einer narrativen Form nur heuristisch gebraucht werden und soll keinerlei Aussagen über das tatsächliche Befinden der Patienten oder normative Generalisierungen auf eine ideale, gesunde Form der Erzählung implizieren. Wir beschreiben seelische Gesundheit dynamisch und nicht mehr statisch und sprechen daher auch besser davon, dass sich jemand in Richtung auf psychische Gesundheit bewegt. Die gesunde Persönlichkeit wächst, während die neurotische stillsteht. (Ticho 1971, 46)
Seit der fünften Ausgabe des Standard-Diagnosemanuals der amerikanischen, psychiatrischen Vereinigung (APA, 2013) sind die sogenannten psychischen Störungen, im Gegensatz zur vorherigen kategorialen Logik, entsprechend dimensional abgebildet.
2 Gesundheitsbegriffe und psychotherapeutische Erzählungen Bevor das empirische Material betrachtet wird, mag ein kurzer Blick auf bestehende Definitionen psychischer Gesundheit hilfreich sein. Die Psychotherapie innerhalb der Kassenversorgung rechnet nach dem Leistungskatalog ICD-10 der Weltgesundheitsorganisation (WHO) ab. Dort sind jedoch lediglich krankheitswertige Störungen definiert. Das Regionalkommittee der WHO für Europa einigte sich auf die folgende Annäherung: Psychische Gesundheit ist ein Zustand des Wohlbefindens, in dem eine Person ihre Fähigkeiten ausschöpfen, die normalen Lebensbelastungen bewältigen, produktiv arbeiten und einen Beitrag zu ihrer Gemeinschaft beitragen kann. (WHO-Regionalkommitee für Europa, 63. Tagung)
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Diese Definition weist einige Leerstellen auf. Sofort stellen sich die Fragen: Was ist eine normale Lebensbelastung? Wie wird produktives Arbeiten gemessen und welche Tätigkeit gilt als Beitrag zur Gemeinschaft? Des Weiteren enthält die Definition keine Aussagen über Beziehungen, wie sie für den Menschen als soziales Wesen einen der wichtigsten Faktoren für Gesundheit darstellen. Sigmund Freud beschreibt Gesundheit als „ein genügendes Maß von Genußund Leistungsfähigkeit“ (Freud 1969 [1916–17], 409). An anderer Stelle meint er, es gehe der Psychoanalyse darum, „hysterisches Elend in gemeines Unglück zu verwandeln“. (Breuer und Freud 2007 [1895], 322) Der bereits erwähnte Ticho (1971) benennt in seiner Arbeit über den Abschluss der psychoanalytischen Therapie die freie Kommunikation nach außen und ein tolerantes Verhalten sich selbst gegenüber als wichtige Errungenschaften der reifen Persönlichkeit. Die gesunde Person wisse, wer sie sei und habe keine wesentlichen Zweifel an ihrer Identität (Ticho 1971, 47). Nach der Beendigung der Behandlung sollte der Patient fähig sein, sein Leben als sinnvoll zu empfinden und seine verschiedenen Selbstanteile als ein miteinander verbundenes Ganzes zu sehen. Adler und seine Kollegen (Adler 2012; Adler et al. 2008) untersuchten nachträgliche narrative Rekonstruktionen von psychotherapeutischen Verläufen sowie die Veränderung von Selbst-Narrativen über den Verlauf von Psychotherapien, jeweils von Klientenseite. Sie beschreiben, dass Klienten mit der „most desirable constellation of psychological health“ (Adler et al. 2008, 730) Geschichten mit hohem Grad von Agentivität und Handlungsmacht verfassten. Damit waren Klienten gemeint, die nach dem Ende der Therapie hohes subjektives Wohlbefinden und ein hohes Niveau der ‚Ich-Entwicklung‘ aufwiesen. Eine klare Kategorisierung von Handlungen im Allgemeinen sowie die Positionierung des Erzählers als Handlungsträger können als Hinweise auf gelingende Bewältigungsstrategien in Erzählungen betrachtet werden (Lucius-Hoene und Scheidt 2017). Im Kontrast dazu scheinen verschiedene Zustände psychischer Probleme mit mangelnder narrativer Kohärenz einherzugehen (Adler et al. 2012; Gülich und Schöndienst 2015). „The lower stages [of ego-development; C.K.] represent relatively simplistic and concrete ways of making meaning […] whereas the higher stages represent complex, nuanced and differentiated meaning-making processes […]“ (Adler et al. 2008, 724). Eine gesunde Erzählung über die Erlebnisse in der Psychotherapie (gemäß der Form und der Handlung) beschreibt die Forschungsgruppe um Adler folgendermaßen: [A] struggle with a discrete and personified problem, which is initially more powerful than they are but which is also ultimately vanquished by a reempowered, agentic protagonist. […] [T]hey construe complex and nuanced meaning from their experiences – tend to
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recount the therapeutic endeavor in a highly coherent story of growth and progress. These stories provide the reader with high degrees of contextualization to suggest how this episode fits within the broader scope of the narrator’s life; they flow well structurally […]. (Adler et al. 2008, 730)
Ich konzentriere meine Untersuchung, wie oben bereits angemerkt wurde, konversationsanalytisch auf das ‚gesund‘-erzählen (Form) und narratologisch auf das Erzählen von Gesundheit (Inhalt). Aus den vorangegangenen Überlegungen können nun den beiden Kategorien, ohne Anspruch auf Vollständigkeit, empirische Merkmale der zu untersuchenden Erzählungen zugeordnet werden. Im Bewusstsein einer starken Interdependenz der beiden Ebenen und einer unvollständigen Auswahl der empirischen Merkmale werde ich auch darzustellen versuchen, wie die beiden Kategorien miteinander in Bezug stehen. Von einer ‚gesunden‘ Form des Erzählens kann den vorangegangenen Ausführungen zufolge Kohärenz, Vollständigkeit, hohe Agency2, Differenziertheit und Kontextualisierung erwartet werden. Beim Erzählen von Gesundheit – in Abgrenzung zur Krankheit (discrete and personified problem) – sind inhaltlich Themen wie eine stabile Identität, Toleranz des Erzählenden gegenüber sich selbst, ein sinnvolles Leben, Ganzheitlichkeit, Produktivität, soziale Integration und Glück (Normalität?) zu erwarten. Wie stellen sich nun die ausgewählten PsychotherapiePatienten in ihren Narrativen dar, wenn es um deren Gesundheit geht?
3 Kai W. erzählt von Besserung Im folgenden Beispiel spricht Patient Kai W.3 Das Transkript stammt aus der neunten Therapiesitzung des Studenten, die er ursprünglich wegen sozialen Ängsten und Depressionen aufsuchte. Er erklärt in dieser Stunde, dass die Behandlung ihm soweit ausreiche und er keine weiteren Therapiestunden besuchen möchte. Der wiedergegebene Ausschnitt ist Teil der Antwort auf die Frage der Therapeutin danach, was sich seiner Ansicht nach gebessert habe.
2 Agency verstehe ich im therapeutischen Narrativ als Rekonstruktion soziokulturell vermittelter Handlungsfähigkeit, die hier aber auch problemlos als Selbstwirksamkeit im Sinne Banduras verstanden werden kann (vgl. Ahearn 2001; Bandura 1997). 3 Die Patientennamen wurden durch Pseudonyme ersetzt.
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((Corpus Hauptstraße: B7; 00:16:51-00:18:19))4 96 P ja aber dadurch dass ich ((da)) mal halt einfach n_bisschen WACH im kopf bin und so und dann 97 (0,6) 98 geht des halt viel BESser mja 99 (1,6) 100 dadurch hat sich des halt extrem geBESsert 101 und ich dann wenn ich merke ok 102 ich merk grad wieder ich fühl mich irgendwie so also mein selbstwertgefühl irgendwie schrumpft wieder °h 103 n dann versuch ich mich sofort dran zu erinnern NEIN 104 (0,3) 105 also es [geht eigentlich mehr] darum 106 (0,5) 107 T [mhm] 108 P des zu traiNIErn dass es halt 109 (0,3) 110 so wenn diese geFÜHL kommt 111 dass [man_s dann halt] 112 T [mhm] 113 P dagegen ankämpft 114 und es eben [weg kriegt sozusagen] 115 T [mhm] 116 (0,3) ——————————————————————————————————————————————————————————————————————————————————————— 117 P und dann (.) braucht man eigentlich nicht mehr 118 also dann (-) 119 T mhm 120 P man des REICHT schon 121 wenn man sich einfach mal so in_ne situation begibt 122 und dann d_man muss halt LANGsam machen 123 also man kann jetzt nicht irgendwie sagen 124 T mhm 125 (0,5) 126 P ja ok ich setze mich jetzt mit irgendw_leut irgendwelchen leuten 127 mit bei den ich mich vor mega UNwohl sitze dazu: °h
4 Die Daten stammen aus einem DFG geförderten Projekt. Dieses und das folgende Transkript sind nach den GAT-2-Konventionen (Selting et al. 2009) transkribiert.
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128 unterhalt mich super gut mit denen sondern ich sag 129 (0,2) 130 ok ich setz mich dazu: ——————————————————————————————————————————————————————————————————————————————————————— 131 aber ess halt so keine ahnung 132 also wenn ich also mach halt irgendwas so nebenBEI 133 und rede halt so nich mit den leuten 134 sondern versuch einfach so wenn ich halt merke 135 ich fühl mich grad UNwohl oder sowas 136 des so langsam so anzukämpfen 137 und sowas und des halt einfach nur so sich so damit so akklimatiSIERen und sowas 138 und des dann so LANGsam °h 139 sich immer weiter zu STEIgern 140 immer weiter zu STEIgern 141 und irgendwann wird_s halt 142 (0,3) 143 wird_s halt immer besser und so 144 und dann merkt man halt auch dass man auf einmal 145 (1,1) 146 ja:: selbstbewusster ist als die anderen leute um einen herum 147 (0,5) 148 und ja und dann is halt und dann merkt man so dass halt 149 irgendwie früchte trägt und so 150 (0,4) 151 und dass es halt irgendwie halt wirklich was BRINGT 152 (0,6) 153 und dass einem auch viel leichter fällt auf einmal so irgendwie das zu sagen was man DENKT 154 und 155 T hm 156 (0,6) 157 P und irgendwie auch einfach (—) jemanden v_ehm zu fragen so HEY 158 kann ich mal kurz deine pipette leihen oder sowas 159 des halt vorher so (-) was man wat wo man halt vorher nich lieber nich gefragt hat Dass der Patient von seiner Gesundheit erzählt, ist aus dem Anlass für die Erzählung – seinem Abbruch der Behandlung – abzuleiten. Seine (Proto-)Erzählungen über Gesundung handeln von der Fähigkeit, gewisse Gefühle zu bekämpfen, und
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dem Wiedererlangen von Selbstkontrolle. Bei der Betrachtung formaler Merkmale der Erzählung ist Gesundheit nicht so einfach abzuleiten. Es ist schwierig, der iterativen, berichthaften Schilderung mit ihrem hohen Sprechtempo zu folgen. Die vielen Leerstellen haben zur Folge, dass es manchmal unklar bleibt, worauf sich der Patient bezieht. „Dieses Gefühl“ (110) wird nicht expliziert und was genau das Unwohlsein beinhaltet, ist in diesem Ausschnitt nicht ersichtlich. Das Ausbleiben von Kontextualisierungen lässt den Hörer im Unklaren darüber, wie die geschilderte Situation genau aussieht. Erst im letzten Satz dieses Auszuges wird schließlich deutlich, um welche Dimensionen es hier für den Patienten geht: Die Angst war oftmals so groß, dass es ihm nicht möglich war, Laborkolleginnen nach einer Pipette zu fragen. Das – sich formierende – Narrativ ist schon erkennbar, bleibt aber noch inkohärent. Im gesamten Transkript findet sich zudem eine hohe Dichte an Wagheitsausdrücken (hedges). Sie werden hier in 15 von 49 Intonationsphrasen des Patienten verwendet. Damit gibt sich der Sprecher eine schwache epistemische Autorität und lässt den Eindruck von Distanz zwischen erzählendem Ich und Figur der Erzählung entstehen (Goffman 1981, 148). Die sprachliche Gestaltung der Handlungsfähigkeit (Agency) ist divers. 102
ich merk grad wieder ich fühl mich irgendwie so also mein selbstwertgefühl irgendwie schrumpft wieder °h
Anstelle einer ausführlicheren Beschreibung des nur angedeuteten Gefühls wird hier das Agens dem Selbstwertgefühl zugeschrieben. Gleich darauf folgt der Versuch, sich performativ durch Selbstansprache in direkter Rede zu erinnern. 103
n dann versuch ich mich sofort dran zu erinnern NEIN
Das szenische Präsens involviert den Zuhörer in das Geschehen und kreiert damit eine verstärkte Erfahrungshaftigkeit (Fludernik 1996, 38). Sowohl auf der inhaltlichen Ebene (Gesundheit Erzählen), als auch in der Form (‚gesund‘ erzählen) wird ein Kampf um die Handlungsmacht (Zeilen 104–114) ausgetragen. Der Satz wird mit einem Ausruf unterbrochen, der seinerseits die semantische Vervollständigung unterbricht. Direkt im darauffolgenden Segment ist dann auch das verallgemeinerte „man“ Handlungsträger. Erst in Zeile 128 taucht das erzählende Subjekt wieder als Agens auf. Dabei wird deutlich, dass insgesamt wenig Toleranz gegenüber den eigenen Empfindungen geübt wird: 110 so wenn diese geFÜHL kommt 111 dass [man_s dann halt] 112 T [mhm]
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113 P dagegen ankämpft 114 und es eben [weg kriegt sozusagen] Das Segment von Zeile 117–133 ist durch eine Argument-Struktur geprägt. Zunächst wird verallgemeinert beschrieben, wie „man“ es nicht „sagen“ soll (123–128), dann widerspricht („sagt“) der Erzähler (128–133). Das „ich sag“ kann als performativer Sprechakt (Austin 1962, 6–7) gelesen werden, im Sinne einer Ankündigung eines Arguments. Wem gegenüber der Erzähler hier sein Argument entfaltet, bleibt unklar. Der gesamte Ausschnitt hat jedoch eine klare argumentative Struktur. Die initiale (proto-)narrative Behauptung, es genüge, langsam zu machen, um das beschriebene Gefühl aufzulösen, dient als Exemplum, und die Konsequenz aus dem Exemplum dient der Bekräftigung der initialen Behauptung (De Fina und Georgakopoulou 2012, 105). Das Narrativ hat hier einen iterativen, beispielhaften Charakter, könnte sich aber auch auf eine tatsächliche Erinnerung stützen. Die argumentative Wirkung von Narrativen wird durch die Beweiskraft von persönlichen Erlebnissen erreicht, die den Zuhörer involvieren und den Eindruck von Objektivität herstellen (De Fina und Georgakopoulou 2012, 98). Die Wahl des argumentativen Formats reproduziert in der Form der Erzählung das inhaltlich eingeführte Motiv des Kampfes gegen das Gefühl. Die Argumentation mit sich selbst als fingiertem Sparringpartner wird in der Selbstunterbrechung mit der direkten Rede („nein“, 103) besonders deutlich und Kai W. stellt damit sehr plastisch seine Form der Distanzierung dar. Diese erlaubt dem erzählenden Subjekt eine Abgrenzung zum Gefühlsherd und der direkten Auseinandersetzung mit dem erzählten Geschehen. Ein solches Vorgehen lässt sich als ein narratives Probehandeln lesen, im Sinne einer interaktiven Austestung von Hörerreaktionen auf Plausibilisierung und Vermittelbarkeit einer bestimmten Variante des Erzählten (Lucius-Hoene und Scheidt 2017, 239). Auf das Argument folgt ein Wechsel des Reflexivpronomens von der ersten Person Singular zur dritten Person Singular innerhalb eines Satzes: 134 135 136 137
sondern versuch einfach so wenn ich halt merke ich fühl mich grad UNwohl oder sowas des so langsam so anzukämpfen und sowas und des halt einfach nur so sich so damit so akklimatiSIERen und sowas
Hier spiegeln sich performativ und inhaltlich erneut die Motive ‚Unwohlsein‘ (127) und ‚Kampf‘ (113). Das Unwohlsein bleibt unbenannt, das erzählende Subjekt verschwindet aus dem Satz, der mit einem Heckenausdruck „und sowas“ abgeschlossen wird. Sowohl in der Form des Erzählens als auch auf inhaltlicher Ebene lässt
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sich eine Distanzierung vom Affekt feststellen. Der Bericht wirkt wie eine Erklärung an die Therapeutin, wie „man“ es machen sollte. Die Darstellung liest sich, wenn man so will, als widersprüchliche Botschaft: Das Selbstbewusstsein ist größer geworden (Inhalt), die Form der Erzählung strahlt jedoch Unsicherheit aus. Für die erzählerische Vermittlung von Panik-Attacken an Außenstehende konnte gezeigt werden, dass das zentrale Anliegen der Leidenden, nämlich die Ängste nachvollziehbar zu machen, mit spezifischen rhetorischen Mitteln unterstützt wird. Als solche konnten zum Beispiel der Topos der Unbeschreibbarkeit, der Aufbau von Szenarien und das Mittel der Kontrastierung (zum Beispiel zwischen dem Handeln des erzählten Selbst und ‚normalem‘ Handeln) identifiziert werden (Günthner 2006, 126–139). Im vorliegenden Transkript werden einige dieser rhetorischen Mittel des Sich-verständlich-Machens nicht für die Vermittlung der bestehenden Ängste, sondern für die Vermittlung der überwundenen Ängste genutzt. Die schon erwähnte epistemische Unsicherheit und die daraus resultierenden Formulierungsschwierigkeiten werden durch Disfluenzen, Zögerungspartikel und Reformulierungen konstruiert und durch Wagheitsausdrücke wie „halt so“ (131, 132, 133, 137, 143, 148), „keine Ahnung“ (131) und „irgendwie“, „-wo“, „-was“, „-wann“ (102, 123, 132, 141, 149, 151, 153, 157) explizit. Zur Kontrastierung von ‚normalem‘ Verhalten konstruiert Kai W. ein Szenario der Anpassung. Er kann sich nicht „super gut“ unterhalten, sondern muss sich erst „Akklimatisieren“ (126–137). Als er ‚krank‘ war, passte er sich an; jetzt, da er ‚gesund‘ ist, akklimatisiert er sich. Im Dialog mit sich selbst verwendet er auch so etwas wie die Präsentation des gespaltenen Ich (Günthner 2006, 137), indem er sich bei etwas beobachtet und sich dann dabei unterbricht. Allerdings wird das schrumpfende Selbstwertgefühl hier nicht als Teil des Ich konstruiert, sondern – ebenso wie das Unwohlsein – als etwas Fremdes. Das durchgängige narrative Präsens verstärkt den szenischen Charakter und die Handlungsbezogenheit (Günthner 2006, 140). Der Vergleich mit rhetorischen Mitteln der ‚Panik-Erzählungen‘ soll verdeutlichen, dass hier ganz ähnlich über Gesundheit gesprochen wird wie über Krankheit. Zwar litt Kai W. nicht an Panik-Attacken, aber er litt an Ängsten, die er nicht als Teil seines Selbst erlebte. Bei der Analyse der formalen Beschaffenheit der fragmentarischen Selbstreflexion von Kai W. stellt sich die Frage, ob es sich dabei um eine Erzählung im engeren Sinne handelt. Aufgrund zahlreicher Arbeiten zu mündlichen Erzählungen können wir davon ausgehen, dass die Fragilität der strukturellen Elemente einer mündlichen Erzählung eher die Regel als die Ausnahme ist (bspw. Georgakopoulou 2006, 5, 2007, 86). Dies gilt insbesondere in Therapiegesprächen, in denen emotional aufgeladene Themen besprochen werden. Desorganisierte Narrative sind in diesem Kontext sowohl Resultat der zu therapierenden Schwierigkeiten als auch Reproduktion gewisser negativer Beziehungserwartungen, da die
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Vermittelbarkeit im Gespräch beeinträchtigt ist (Dimaggio und Semerari 2004, 4). Trotz des berichthaften Charakters lassen sich erzählerische Miniaturen wie die Beispielerzählung in den Zeilen 121–137 ausmachen. Ebenfalls ist eine für Narrationen kennzeichnende Sequenzialität des Vorher und Nachher erkennbar. Das ‚gesunde‘ Erzählen beschränkt sich in den Reflexionen von Kai W. auf das performative Erkämpfen von Handlungsmacht. Eine präzisere Kontextualisierung, eine Benennung des Gefühls und eine differenzierte Darstellung des Erlebens sind hingegen nicht zu erkennen. Trotz der beschriebenen Ermangelung einer stabilen Identität und Toleranz gegenüber sich selbst in seiner Erzählung von Gesundheit konstruiert Kai W. aber durchaus Sinn für sein Handeln (148–153) und beschreibt einen Anstieg der eigenen Produktivität und der sozialen Integration (157–159). Das erzählende Ich positioniert sich als gesundheitlich überlegen gegenüber dem erzählten Ich. Diese Position wird aber immer wieder dadurch gebrochen, dass das erzählte Ich aus der Erzählung verschwindet und durch das generalisierte „man“ (111, 144) oder das neutrale „es (wird besser)“ (141, 143, 151) ersetzt wird. Bei der Konstruktion des Angsterlebens oder Selbstwertverlustes als dem erzählten Ich gegenüber fremd (Ich-dyston), unterbleibt die Herstellung einer ganzheitlichen narrativen Identität.
4 Dieter F. erzählt von Freiheit Dieter F., ein 69-jährigen Rentner, erzählt in der fünften Psychotherapiestunde von einem vergangenen Ereignis beim Bergsteigen. Die Psychotherapie hatte er wegen anhaltender Schmerzen und einer depressiven Krise nach einem orthopädischen Eingriff aufgenommen. Der Tod seiner Tochter durch eine seltene Krebserkrankung spielte in der Therapie immer wieder eine Rolle. ((Corpus Hauptstraße: J1 00:36:50 – 00:41:10)) 1 P ich war in ((Alpenland)) 2 T mhm 3 P mit_me mit_me (spezl) 4 (1,0) 5 äh im ((Region)) 6 und wollt en dreienhalbtausender besteige 7 er hat kein BOCK g_habt 8 (0,8) 9 und dann bin ich allein los 10 ich hab gern allein gänge g_macht
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——————————————————————————————————————————————————————————————————————————————————————— 11 T mhm 12 (0,4) 13 P zum klettern spitz äh äh FELSklettern SCHON 14 da braucht man_n partner der dich sichert? 15 (0,2) 16 aber ansonschten bin ich am liebsten alLEIN 17 T mhm 18 P oft allein g_wese 19 (0,9) 20 und DA war ich und da war des mit dieser mobbingg_schichte ——————————————————————————————————————————————————————————————————————————————————————— 21 T mhm 22 (0,3) 23 P und äh und dann hab ich g_merkt ich bin da obe 24 und da war da war äh äh äh GANZ schmales band 25 T mhm 26 (1,2) 27 P KEINE sicherung 28 T mhm 29 (0,2) 30 P des BAND war ungefähr (.) ZEHN meter ((zeigt in die ferne)) 31 T mhm 32 P und do gings ((ausgestreckte hand fällt neben ihm hinab)) 33 (1,6) 34 mindeschtens TAUsend meter nab 35 T mhm 36 (1,7) 37 P und früher hätt ich mich au konnt ich mich da konzentrieren 38 T [mhm] 39 P [hab g_sagt] du musch jetzt entweder umkehre 40 oder musch über dieses BAND laufe= 41 =aber da war KEINE sicherung °hh 42 (0,4) 43 und (.) ich KANN des 44 T mhm 45 (0,3) ——————————————————————————————————————————————————————————————————————————————————————— 46 P mir k und DANN hab ich g_merkt dass ich in der MITTE 47 auf diesem band
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48 schwindlig worden bin 49 T mhm 50 (0,7) 51 P und DES isch_n ALBtraum 52 T [mh:m] 53 P [dann] WEISCH du darfsch nimmer nabkaue °h SCHAUE, ——————————————————————————————————————————————————————————————————————————————————————— 54 und da RED ich mit mir; 55 T mhm 56 P Dieter jetzt musch di z_ammreiße 57 des PACKSCH du 58 (0,2) 59 und bin dann rüber ——————————————————————————————————————————————————————————————————————————————————————— 60 und da war ich äh äh ha hab TRAUMhaft schöne AUSsicht g_habt 61 (0,2) 62 auf äh aufn (XX-grat) 63 und so traum traumBERG 64 war au mal was was ich gern mache wollt 65 der (XX-grat) 66 (0,7) ——————————————————————————————————————————————————————————————————————————————————————— 67 und äh 68 (1,1) 69 und dann bin ich da g_hockt 70 und da war im HINTERgrund immer wieder des mit diesen mobbing, 71 und ich hab ich war KRAFTlos, 72 (0,4) 73 hab denkt 74 SO und jetzt musch du (.) dich beweise 75 (0,2) 76 du musch diese 77 =ich hätt den normale KUHpfad nablaufe könne 78 T mhm 79 (0,5) 80 P NEIN 81 (0,4) 82 du musch wieder über des band 83 sonst brauchsch du NICHT MEHR zum bergsteige 84 T mh:m
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85 (0,5) 86 P und bin WIEder über des band (.) g_LAUFe 87 (0,3) 88 T mhm ——————————————————————————————————————————————————————————————————————————————————————— 89 P und dann war ich glücklich 90 (0,7) 91 dass ich DES g_schafft hab 92 (0,8) 93 aber des warn 94 (0,8) 95 SACHE =und 96 (1,6) 97 man DERF wenn man zum bergsteige geht (.) 98 musch du (.) FREI sei Anhand der Segmentierung des obigen Transkripts in verschiedene Abschnitte (hier durch die Linien gekennzeichnet), sind Orientierung und Situierung, Komplikationen, Evaluation, Lösung und Coda erkennbar (vgl. Labov und Waletzky 1967, 27). Der klare Spannungsbogen mit zuspitzender Dramatisierung durch Präsens und direkte Rede zeigen einen erfahrenen Erzähler. Dieter F. positioniert sich als sportlicher, einzelgängerischer Bergsteiger, der sich nicht so leicht abschrecken lässt. Das Bergsteigen dient dabei als Metapher oder Schlüsselerzählung für die Themen „im Hintergund“ (70): „die Mobbing-Geschichte“ (20), die Krankheit der Tochter, die Gefahr und ein Gefühl der Unsicherheit, welche hier durch die Ungesichertheit eine bildgewaltige Entsprechung findet (41). Wie im ersten Beispiel zeigt sich auch hier eine Konstellation, bei der auf der einen Seite das erzählende Ich und auf der anderen Seite (des Bandes) das Problem steht. 20
und DA war ich und da war des mit dieser mobbingg_schichte
Dem Problem und potentiellen Konflikt steht in der Erzählung allerdings ein starker Agent gegenüber. Er spricht sowohl zum Rezipienten (53) wie auch zu seinem erzählten Selbst und nennt sich beim Namen (56). Unsicherheit wird dagegen auf die Umgebung projiziert und findet sich nicht im Subjekt. Der Erzähler ist als Figur seiner Erzählung klar als Handlungsträger positioniert: „ich war“ (01), „[ich] wollt“ (06). Der Begleiter wird nur zu Beginn kurz erwähnt und bleibt unspezifisch sowie unerheblich für die Handlung. Überhaupt tauchen Andere nicht als Agenten auf. Der Erzähler bleibt einziger Handlungsträger und als
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solcher unabhängig, was einen klaren Kontrast zu der erwähnten „Mobbinggeschichte“ (20) bildet. Performativ zeigen sich deutlich weniger Distanzierungsstrategien als bei Kai W. An der Klimax der Geschichte findet allerdings plötzlich eine Arretierung statt (60–66), die vom ‚Hotspot‘ wegführt. Der ‚Gipfel‘ der Gesundheit ist erreicht. Die kurze Verschnaufpause ist hier kunstvoll gesetzt, da sie die nachfolgende erneute Komplikation (67–88) mit Spannung auflädt. In diesem pausierenden Segment bleibt die Mobbing-Geschichte wortwörtlich im Hintergrund. 70
und da war im HINTERgrund immer wieder des mit diesen mobbing,
Dafür sind hier die Komplikationen und die Selbstdisziplin umso expliziter. Die Kraftlosigkeit wird auf den Berg bezogen und nicht auf das Mobbing. Eine andere Geschichte scheint durch, bleibt aber implizit. Das Handeln des Bergsteigers wird als relevant gesetzt. In der dialogischen Konstruktion zeigt sich ein ‚Aus-sich-heraus-Treten‘, welches die Funktion erfüllt, die Kontrolle über sich selbst zurückzugewinnen. 71 72 73 74
und ich hab ich war KRAFTlos, (0,4) hab denkt SO und jetzt musch du (.) dich beweise
Die Ambiguität, die sich aufgrund des diversen Auftretens der zweiten Person Singular entfaltet, erzeugt verschiedene Effekte. Einerseits bleibt unklar, ob die Geschichte mehr sich selbst oder dem Gegenüber erzählt wird. Das angesprochene „du“ (74) erzeugt Unmittelbarkeit und erleichtert der Rezipientin, sich in die Position des Erzählenden einzufühlen. Ein solches Erzählverhalten wurde in der Bindungsforschung als Indikator für eine internalisierte sichere Bindung beschrieben (George und West 2011, 410–412). Im Fall des Selbstgesprächs wirkt ein Selbstanteil beruhigend (56–59) und fordernd (74–83) auf einen anderen Selbstanteil ein, was einen hohen Grad von Agentivität bedeutet, da der Handlungsträger in diesem Fall handelnd (in einem Sprechakt) Einfluss auf sein eigenes Handeln nimmt. Biografisch scheint das Bergsteigen ein zentrales Motiv des Patienten zu sein, mit dem er metaphorisch leicht an aktuelle Lebensthemen anknüpfen kann. Eine Metapher in der psychotherapeutischen Erzählung kann zur Abwehr unangenehmer Gefühle dienen und/oder subjektive Bedeutung ausdrücken (Angus und Rennie 1989). Sie erlaubt auch, etwas auszudrücken, was in direkter Sprache noch nicht Ausdruck finden kann. Die Produktion gemeinsamer Metaphern kann sich deshalb positiv auf den therapeutischen Prozess auswirken (Angus und Rennie 1988, 377–378; Krause 2012, 100).
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Das Motiv des Bergsteigens mag zwar als Metapher zur Bewältigung von Trauer und Mobbingerleben verstanden werden, für das gesamte Narrativ greift die Bezeichnung ‚Metapher‘ aber freilich zu kurz. Die Erzählung ist vom Patienten hier zumindest teilweise bewusst metaphorisch gestaltet. Das zeigt sich an dem wiederholten Bezug auf die Mobbinggeschichte im Hintergrund. Diese Komposition gelingt dem Patienten in Rückgriff auf kulturell vorgeformte, kanonische Formen. Der Patient besteigt gewissermaßen seinen persönlichen ‚Monte Verità‘. Die elaborierte Form der Erzählung weist zudem darauf hin, dass diese Geschichte nicht zum ersten Mal erzählt wurde. So findet sich in der Koda auch eine Lebensmaxime, die im weiteren Verlauf der Stunde noch einmal spezifiziert wird: 97 98
man DERF wenn man zum bergsteige geht (.) musch du (.) FREI sei […] 107 P und du da du derfsch zum BERGsteige KEINE emotionale gedanke mit 108 IRGENDwie was habe.
In dieser Erzählung werden Freiheit und erfolgreiches Bewältigen des Aufstiegs mit dem Sieg über Angst oder Trauer assoziiert. Dies wird – wie bereits im vorigen Beispiel – auch im Selbstgespräch des Patienten deutlich benannt. Im Text werden Angst und Trauer dabei jedoch kein einziges Mal explizit genannt. Der Zuhörer muss Gefühle in das Gesagte hineindeuten. Metaphern wie der Albtraum, der Schwindel, der Absturz, das Zusammenreißen müssen interpretiert werden, während sich die Frage stellt, ob man der Haltung des Erzählers folgt, der „emotionale Gedanke[n]“ mit Schwäche gleichsetzt. Während Kai W.s Erzählung stellenweise wie eine Krankheitserzählung anmutet, scheint die Erzählung von Dieter F. aufgrund der Abwesenheit expliziter negativer Gefühle und der geschlossenen Gestalt der Erzählung überaus ‚gesund‘. Was die formalen Aspekte des ‚gesunden‘ Erzählens betrifft, lassen sich bei Dieter F. Kohärenz und Wohlgeformtheit attestieren. Die Erzählung ist in Bezug auf die Mobbingerfahrung kontextualisiert und erlaubt ein Immersionserleben. Trotz der sehr farbigen und detaillierten Darstellung bleibt dagegen Dieter F.s emotionales Erleben undifferenziert und auf Andeutungen beschränkt. In Hinblick auf Vollständigkeit macht Dieter F. also Konzessionen, damit er frei sein kann. Diese Erzählung von Gesundheit handelt von der Stabilisierung einer destabilisierten Identität. Dem geschilderten Erlebnis wird dadurch Sinn zugeschrieben. Der Protagonist bleibt dabei alleine, er ist nicht sozial eingebettet, kann aber in seinem Einzelgängertum seine geringe Toleranz gegenüber der
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eigenen Schwäche produktiv nutzen. Auf diese Weise kann er nach der Überwindung des (äußerlich-inneren) Hindernisses „glücklich“ (89) sein.
5 Gesundheitserzählungen? In der Psychotherapie soll die Erzählung heilend wirken (Angus und McLeod 2004, 5). Die Heilsamkeit dieser Praxis beinhaltet die Annahme, dass das selektive Ablehnen (Verdrängung, Verleugnung, Vermeidung) von Gefühlen oder anderen psychischen Repräsentationen, die in einem Konfliktverhältnis stehen, sowohl angepasst als auch pathogen sein kann (bspw. Krause 2012, 381–387). In der narrativen Psychotherapieforschung zeigten sich demgegenüber die positiven Effekte zunehmender Integration aller Erlebensaspekte in Erzählungen über den Verlauf einer Psychotherapie (Angus und McLeod 2004, 7–8). Bei der Narrativierung von Angst (als negativer Affekt) ist gemäß den Untersuchungen von Habermas und Kollegen (2009) ein größerer Handlungsfokus in den Erzählungen erwartbar als bei Erzählungen positiver Ereignisse. Da Angst und Ärger in den Komplikationsteilen der Erzählung wesentlich sind, liegt der Fokus auf Handlungen, die die Komplikation auflösen sollen. Dies findet Entsprechung in den Stilmitteln innerer Monolog, direkte Rede und historisches Präsens. Narrative negativer Ereignisse – solcher Ereignisse etwa, die Ärger oder Angst auslösen – neigen dazu, länger zu sein als fröhliche Erzählungen und enthalten relativ zuverlässig Abschnitte von Orientierung, Komplikation und Auflösung (Habermas et al. 2009, 759). Die beiden vorgestellten Fälle unterscheiden sich in Bezug auf den Umgang mit den Komplikationen und haben doch Gemeinsamkeiten. In beiden Narrativen zeigen die Erzähler wenig Toleranz gegenüber ihrem erzählten Selbst. Der Kampf gegen das Gefühl zeigt sich jeweils auf inhaltlicher und performativer Ebene. Im Dialog mit sich selbst wird dieser Kampf jeweils inhaltlich ausgeführt. Beide Erzähler verwenden darüber hinaus in der direkten Ansprache zu sich ein emphatisches „nein“ (K.W.: 103/D.F.: 80), wie um etwas zu unterbrechen. Beide Erzählungen von Gesundheit sind ohne den Kontrast zum überwundenen/vermiedenen Leid nicht denkbar. Folgendes Erzählschema lässt sich in beiden Erzählungen beobachten: Etwas Unbenanntes (mit Namen „Gefühl“) taucht als Komplikation auf und muss bekämpft werden. Bei siegreichem Kampf folgt Erlösung. Eine schematische Darstellung mit Textbeispielen findet sich in Tabelle 1. Beide Patienten beschreiben den temporalen Aspekt der Gesundheit als einen Wandlungsprozess zum Besseren, wenn auch aus unterschiedlichen Motiven. Bei Dieter F. geht es um die Wiederherstellung der Identität des Bergsteigers, die
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Tab. 1: Schema der analysierten Erzählungen von Gesundheit. Komplikation
Unterbrechung
Überwindung/Lösung
Kai W.
mein selbstwertgefühl irgendwie schrumpft wieder
des zu traiNIErn dass es halt so NEIN […] wenn diese geFÜHL kommt dass man_s dann halt[mhm]dagegen ankämpft
und dann merkt man halt auch dass man auf einmal ja:: selbstbewusster ist als die anderen leute um einen herum
Dieter F.
DES isch_n ALBtraum
du darfsch nimmer nabkaue °h SCHAUE,
und bin dann rüber […] hab TRAUMhaft schöne AUSsicht g_habt
Hätt de normale KUHpfad nablauf könne
[…]NEIN du musch wieder über des band
und bin WIEder über des band (.) g_LAUFe […] und dann war ich glücklich
durch die Schwäche bedroht war. Bei Kai W. reflektiert der Text vermutlich eher die soziale Angst und den kontraphobischen5 Umgang damit. In diesem Band zeichnet sich in verschiedenen Beiträgen eine Axiologie zwischen ‚krank‘ und ‚gesund‘ als Charakteristikum für Gesundheitserzählungen ab. Diese zeigt sich auch in den hier vorliegenden Erzählungen in Bezug auf das negativ-valente Gefühl und dessen Anwesenheit oder Abwesenheit. Die Idee, ein unangenehmes Erleben ‚weg-machen‘ zu können – ähnlich wie man einen Schnupfen bekämpft –, ist in Diskursen über psychische Gesundheit allgegenwärtig. Kai W. meditiert. Dieter F. steigt auf den Berg. Beide Erzählungen beinhalten eine implizite Gesundheitstheorie mit der Annahme, dass psychische Gesundheit die Abwesenheit oder Überwindung negativer Affekte bedeutet. In den Worten von Kai W.: 105 also es [geht eigentlich mehr] darum 106 (0,5) 107 T [mhm]
5 Das Wort kontraphobisch wird im psychotherapeutischen Jargon für ein Verhalten verwendet, bei dem so gehandelt wird, als sei die Angst nicht vorhanden, obwohl sie persistiert. Im obigen Beispiel weist die Beschreibung des Sich-Akklimatisierens darauf hin, dass das „Unwohlsein“ (die Angst) (135) weiterhin vorhanden ist und erst im Verlauf der Situation abnimmt. Ein solches Vorgehen ist im Sinne einer Angst-Exposition in Therapien durchaus gängige Praxis.
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108 P 109 110 111 112 T 113 P 114 115 T 117 P
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des zu traiNIErn dass es halt (0,3) so wenn diese geFÜHL kommt dass [man_s dann halt] [mhm] dagegen ankämpft und es eben [weg kriegt sozusagen] [mhm] und dann (.) braucht man eigentlich nicht mehr
Das psychodynamische Konzept von Gesundheit ist, wie oben beschrieben, so etwas wie das Gegenteil des Kampfes gegen Gefühle. Ein psychoanalytisches Verständnis von Gesundheit in Bezug auf Emotionen bedeutet, das Gefühl anzuerkennen und Freiheitsgrade dadurch zu gewinnen, dass der Wunsch nach Angstfreiheit zugunsten eines ‚vollständigen‘, integrierten Selbst aufgegeben wird (Rycroft 1995, 84). Das heißt nun nicht, dass Kai W. nicht gesund wäre. Kai W. beendete die Therapie nach neun Sitzungen, Dieter F. setzte die Behandlung nach der Kurzzeittherapie fort. Nach der Logik der Krankenkasse ist Kai also gesünder als Dieter. Das eigene Zutrauen, ohne Therapie zurechtzukommen, ist oftmals Indikation genug, genau das zu versuchen. Andererseits kann auch der Wunsch, therapeutische Unterstützung zu erhalten, ein wesentlicher Schritt auf dem Weg zu Besserung sein. Wir wissen nicht, wie es Kai W. weiterhin ergangen ist, und es ist gut vorstellbar, dass er fleißig trainierte und nun ein gesundes Selbstwertgefühl verspürt. Es kann allerdings beschrieben werden, wie Kai W. von Gesundheit erzählt, und es kann dargestellt werden, wie ‚gesund‘ er erzählt. Das gleiche gilt für Dieter F. Während seine Erzählung von Gesundheit auf den ersten Blick ‚gesünder‘ wirkt, fehlen dem Zuhörer auch hier wesentliche Informationen, um die Situation in ihrer Gänze adäquat zu erfassen. Aus den obigen Ausführungen sollte deutlich werden, dass für das therapeutische Gespräch eindimensionale Skalierungen von Gesundheit in der Analyse von Erzählungen zu kurz greifen. Die Wege zu psychischer Gesundheit sind zu komplex und zu divers, um sie auf nur einer Dimension abbilden zu können. Die Analyse von Form (‚gesund‘ erzählen) und Inhalt (Gesundheit erzählen), so wie auch des Prozesses (Gesunderzählen) bietet allerdings wertvolle Einblicke in verschiedene Dimensionen, die für psychische Gesundheit relevant sind.
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„Wo viel verloren wird, ist manches zu gewinnen“: Aushandlungen von Identität, innerer Haltung und Selbstbestimmung in Krankheitserzählungen chronisch erkrankter Menschen 1 Theoretischer Hintergrund 1.1 Einführung Der Eintritt einer schwerwiegenden, langwierigen Erkrankung in das Leben eines Menschen scheint auf den ersten Blick kaum ein Ereignis darzustellen, das für die jeweilige Person auch positive Konsequenzen im Sinne einer wie auch immer gearteten, persönlichen Bereicherung nach sich ziehen kann. Eher werden mit schwerer Krankheit Belastungen in Form von körperlichen Beschwerden sowie Entbehrungen und Einschränkungen im alltäglichen Leben in Verbindung gebracht. Auch in der psychologisch-medizinischen Literatur stehen, wenn von chronischer Krankheit die Rede ist, damit verbundene, starke und irreversible Belastungen sowie mögliche Formen des Umgangs mit den Erkrankungen im Mittelpunkt (Beutel 1988; Krämer und Bengel 2016). Und Gabriele Lucius-Hoene (2002) betont: „Krankheitserleben und Reaktionen der Betroffenen [können sich] wiederum als psychische und körperliche Folgezustände selbst zu einer zusätzlichen Belastung mit Krankheitswert auswachsen.“ (169). Ausgehend von den geschilderten Befunden soll in der vorliegenden Arbeit die Möglichkeit einer gelingenden, langfristig-adaptiven Neuorientierung im Kontext schwerer Krankheit erörtert werden. Hierzu werden Ergebnisse aus einer empirischen Untersuchung vorgestellt, in deren Rahmen der Frage nachgegangen wurde, inwiefern Patient*innen, die an einer chronischen Erkrankung leiden, auch neue Freiräume erleben – und wie sie diese nutzen und gestalten. Methodisch wurde an einer Analyse von Krankheitserzählungen angesetzt (Kleinman 1988; Frank 1994). Die Erzählungen wurden mittels Methoden der Grounded Theory hinsichtlich der genannten Fragestellung ausgewertet (Glaser und Strauss 1998; Breuer et al. 2017). Die Ergebnisse der Analyse werden im Text ausschnittweise vorgestellt und anschließend hinsichtlich der psychologischen Selbstbestimmungstheorie (Ryan und Deci 2006) sowie der Nützlichkeit https://doi.org/10.1515/9783110747928-007
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einer kategorialen Definition von Krankheit und Gesundheit diskutiert. Den Abschluss des Beitrags formt ein thematischer Exkurs, in dessen Rahmen knapp erläutert wird, inwiefern das Erzählen von Patient*innen über ihre lebensweltlichen Erfahrungen mit der Erkrankung selbst als Akt der Bewältigung und Verarbeitung gewertet werden kann.
1.2 Chronische Krankheit als Stressor und Typus der Lebenserfahrung Der Terminus „chronische Erkrankung“ bezeichnet in der medizinisch-psychologischen Literatur eine Gruppe unterschiedlicher Krankheitsbilder; darunter Erkrankungen der Atemwege, Herz-Kreislauf- und Tumorerkrankungen sowie neurologische, psychische und Autoimmunerkrankungen. Auch wenn diese Krankheitsbilder auf den ersten Blick eher Unterschiede als Ähnlichkeiten aufzuweisen scheinen, teilen sie gemeinsame Charakteristika: So verlaufen sie meist progredient, also sich zunehmend verschlechternd. Zudem ist häufig keine kausale, die Ursachen beseitigende Therapie möglich. Als ein Grund hierfür lässt sich die multifaktorielle Ätiologie anführen, womit unterschiedliche, miteinander in Wechselwirkung stehenden Faktoren gemeint sind, die die Erkrankung verursacht haben (Beutel 1988; Bengel und Helmes 2011; Krämer und Bengel 2016). Alle chronischen Erkrankungen werden begleitet von Belastungen. Diese beziehen sich einerseits auf die Ebene der Erkrankung und ihrer Behandlung und bestehen beispielsweise in körperlichen Beschwerden wie Schmerzen, einer reduzierten körperlichen Leistungsfähigkeit oder langwierigen Abhängigkeiten von Einrichtungen des medizinischen Versorgungssystems. Andererseits wirken sich die Erkrankungen immer auch auf den Alltag der Betroffenen aus und verursachen hier einen Einschnitt oder Bruch (Charmaz 1991; Bengel und Helmes 2011). So kommt es häufig zu einer Einschränkung oder dem Verlust der Erwerbsfähigkeit und auch Freizeitaktivitäten müssen in vielen Fällen aufgegeben werden. Die gewohnte Tagesstruktur verändert sich durch längerfristige Krankschreibungen und Hospitalisierungen. Damit einher gehen wiederum Umverteilungen familiärer Rollen und auch das erweiterte soziale Netz verändert sich. Patient*innen sehen sich letztlich mit einer gänzlich neuen Lebensrealität konfrontiert. Aufgrund ihrer Charakteristika werden schwere Krankheiten sowie die mit ihnen zusammenhängenden, psychosozialen Belastungen in der Klinischen und Gesundheitspsychologie üblicherweise als Stressoren konzipiert (Seiferling 2014). Mit dieser Konzeption geht aber eine Akzentuierung möglicher negativer Folgen
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der Erkrankungen und den damit verbundenen Belastungen auf physischpsychischer, sozialer sowie verhaltensbezogener Ebene einher (für einen Überblick vgl. Krämer und Bengel 2016). Typische Beispiele für negative Belastungsfolgen sind psychische Auffälligkeiten wie Schuldgefühle, Ängste oder depressive Verstimmungen oder auf der sozialen Ebene ein verstärkter, sozialer Rückzug, andauernde familiäre Konflikte sowie fehlgeschlagene Bemühungen, eine berufliche Reintegration zu erwirken. Dass eine chronische Erkrankung nicht zwangsweise und ausschließlich negative Folgen nach sich ziehen muss, soll in der Folge erläutert werden. So interpretieren manche Autoren diese Erkrankungen als kritisches Lebensereignis (vgl. Filipp und Aymanns 2010). Diese Deutung bringt die Erfahrung schwerer Krankheit in Verbindung mit dem Konzept der Lebenskrise. Eine Lebenskrise bezeichnet entsprechend der griechischen Wurzel des Wortes krinein (= trennen) ein Entwicklungsgeschehen, bezüglich dessen zeitweise eine maximale Unsicherheit besteht, wie es sich auflösen wird. Dabei ist eine Auflösung der Krise „zum Guten“ aber ebenso mitgedacht, wie eine Auflösung „zum Schlechten“. Ausgehend hiervon erscheint die Konzipierung chronischer Krankheit als „Stressor“ negativ getönt und wertend, während die Fassung dieser Erkrankungen als Typus der Lebenserfahrung, wie in der entwicklungspsychologischen Forschung gängig, treffender erscheint. In diesem Forschungsfeld interessieren Erkrankungen nicht als potenzielle ätiologische Faktoren für weitere physische und psychische Störungen, sondern als Zäsuren im Lebensverlauf, die auf ein gleichförmig verlaufendes Entwicklungsgeschehen destabilisierend wirken, Wendepunkte in diesem darstellen und Ausgangspunkt für neuerliche Selbst- und Lebensentwürfe sein können (Markus und Nurius 1986). In diesen Überlegungen ist bereits mitgedacht, dass chronische Erkrankungen auch subjektiv als positiv empfundene Folgen nach sich ziehen könnten. Auch konkrete empirische Forschungsergebnisse deuten auf die Möglichkeit adaptiver Entwicklungen im Kontext kritischer Lebensereignisse hin. Untersuchungsergebnisse beziehen sich unter anderem auf Veränderungen der Persönlichkeitsstruktur (Costa et al. 2000; Vaidya et al. 2002), Neuordnungen in Ziel- und Motivstrukturen (Lykins et al. 2007) sowie Veränderungen hinsichtlich Werteorientierungen (Peterson und Seligman 2003). Das Konzept der Posttraumatischen Reifung schließlich spiegelt die klinische Erfahrung wider, dass schwerwiegende und belastende Erfahrungen zu subjektiv als positiv empfundenen Effekten führen können: Unter dem Konzept werden alle subjektiv erlebten, positiven Veränderungen subsumiert, welche durch die kognitive und emotionale Verarbeitung traumatischer Ereignisse entstehen. Inzwischen werden fünf Dimensionen unterschieden: Die verstärkte Wertschätzung des Lebens beschreibt die Freude über Kleinigkeiten oder Momente,
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denen vor dem Ereignis wenig Beachtung geschenkt wurde. Das Erleben neuer Möglichkeiten meint das Entdecken von neuen Lebensformen und Tätigkeiten trotz objektiver Einschränkungen. Häufig sind diese Lebensformen vor den traumatischen Ereignissen nicht bewusst gewesen. Die Dimension Beziehung zu anderen meint das Erkennen wertschätzender und stabiler sozialer Kontakte sowie ein intensiveres Beziehungserleben. Persönliche Stärke beschreibt die Überraschung über die eigene Stärke und das eigene Durchhaltevermögen angesichts der Konfrontation mit der eigenen Verletzlichkeit. Religiöse und spirituelle Veränderung beschreibt schließlich eine stärkere Zuwendung zum Glauben wie auch ein gesteigertes Interesse an existenziellen Fragen (Tedeschi und Calhoun 2004; Zoellner et al. 2006). Welche Entwicklung eine chronische Erkrankung als kritisches Lebensereignis im Einzelfall nimmt, gilt in der klinisch-psychologischen Forschung als abhängig von Formen und Strategien der Krankheitsverarbeitung, die Betroffene finden, um mit der Erkrankung und damit verbundenen Belastungen umzugehen. Muthny (1989) beschreibt Krankheitsverarbeitung als die „Gesamtheit der Prozesse, um bestehende oder erwartete Belastungen im Zusammenhang mit Krankheit emotional, kognitiv oder aktional aufzufangen, auszugleichen oder zu meistern.“ (5). Krankheitsverarbeitung ist als kontinuierlicher und interaktionaler Prozess zu verstehen (Bengel et al. 2003). Eine zentrale theoretische Grundlage bildet das Lazarus-Modell, wonach die Verarbeitung maßgeblich durch Bewertungsprozesse – die Einschätzung der Belastung als Verlust, Bedrohung oder Herausforderung und die Einschätzung der Bewältigungsmöglichkeiten – gesteuert wird (Lazarus und Folkman 1984; Folkman 1997). Gegebenenfalls resultieren konkrete Verarbeitungsanstrengungen, die Lazarus und Folkman (1984) in problemorientierte und emotionsorientierte Verarbeitung einteilen. Problemorientierte Verarbeitung meint konkrete Handlungen, die zur Belastungsreduktion eingesetzt werden, während emotionsorientierte Verarbeitung die Regulation von negativen, mit Belastungen in Verbindung stehenden Emotionen beschreibt. Neben der von Lazarus und Folkman (1984) vorgeschlagenen Klassifikation von Verarbeitungsstrategien liegen weitere prominente Vorschläge für Einteilungen der Verarbeitungsformen vor (vgl. z. B. Heim 1991). Problematisch hinsichtlich einer Ableitung praktischer Implikationen aus den Forschungsergebnissen für den klinischen Alltag stellt sich heraus, dass eine grundsätzliche und situationsunabhängige Bewertung der Strategien als adaptiv oder maladaptiv nicht möglich ist. Allgemein gilt die flexible Anwendung aktiver und problembezogener Strategien als günstig. Ablenkung und Verleugnung gelten dagegen nur zu Beginn einer Belastung oder bei besonders intensiven Belastungen als adaptiv. Kritik bezieht sich weiterhin darauf, dass auch Prozessmodelle der Krankheitsverarbeitung (vgl. Faller 1998; Sharoff 2007) mögliche Entwick-
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lungen im Kontext von Krankheit nicht hinreichend abbilden können, respektive die Vielzahl determinierender und moderierender Faktoren nicht in einem umfassenden Modell integriert werden kann. Aufgrund der Herausforderungen, die im Forschungsfeld der Krankheitsverarbeitung bestehen, ist ein qualitatives Verfahren zur adäquateren Beschreibung des Gegenstandsbereichs angezeigt (Lucius-Hoene 2002).
2 Fragestellung In meiner Arbeit setze ich an dem Befund an, dass der Eintritt der Erkrankung in das Leben eines Menschen einen Einschnitt in den Alltag verursacht (Filipp und Aymanns 2010). Dies kann interpretiert werden als – zwar nicht willentliche, aber dennoch – „Befreiung“ von alltäglichen Pflichten und Aufgaben wie der Erwerbstätigkeit, wodurch im Leben der Betroffenen neue ‚Freiräume‘ entstehen. In meiner Arbeit untersuche ich, unter welchen Umständen Patient*innen ‚Freiräume‘ erfahren und wie sie diese nutzen und gestalten. ‚Freiraum‘ wird in der vorliegenden Arbeit zunächst explizit als forschungsgegenständliche Analyseheuristik verstanden. Gemeint sind hinsichtlich ihrer Ausfüllung zunächst unbestimmte Zeiträume.
3 Methodik 3.1 Krankheitserzählungen Sowohl in der Forschung als auch für die Praxis im klinischen Kontext spielen Krankheitserzählungen und die narrative Medizin eine zunehmend wichtige Rolle. Denn während Ärzt*innen als Vertreter*innen von Klinik und Wissenschaft zwar eine Expertise für evidenzbasierte, medizinische Verfahren haben, haben sie doch einen Menschen mit spezifischen, komplexen lebensweltlichen Erfahrungen vor sich, deren Expert*in dieser Mensch selbst ist (Greenhalgh und Hurwitz 2005; Lucius-Hoene 2008). Nur unter Berücksichtigung der Lebenswelt der Betroffenen wird ein therapeutisches Geschehen in einer „gemeinsamen Welt“ (Lucius-Hoene 2008, 94) möglich, in der Patient*innen das Gefühl haben, mit ihren Perspektiven aufzutauchen, sodass eine patient*innnenorientierte Medizin praktiziert werden kann (Breuning et al. 2017; LuciusHoene 2008).
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Für die Erhebung und Analyse subjektiver Krankheitsnarrative sind methodologische Hintergründe und methodische Werkzeuge notwendig, die die Erfahrungswelt der Patient*innen in den Mittelpunkt stellen und zum Ziel haben, das Verhältnis der Betroffenen zu ihrer Krankheit, der Behandlung, ihren Gefühlen und Beziehungen zu rekonstruieren (Breuning et al. 2017). Möglich wird dies durch die Anwendung qualitativer Forschungsmethoden, im Kontext von Erzählungen konkret durch Methoden der qualitativen Interviewforschung. Das Erzählen von Patient*innen über ihre lebensweltlichen Erfahrungen, zum Beispiel im Rahmen eines narrativen Interviews, wird als Illness Narrative – auf Deutsch Krankheitserzählung – bezeichnet (Frank 1994; Kleinman 1988). Krankheitserzählungen entsprechen keinem objektiven Bericht über die Erkrankung, sondern subjektiven Konstruktionen: Erzähler*innen binden entsprechend ihrer Erinnerung bestimmte Ereignisse in die „Geschichte“ mit ein, verknüpfen diese Ereignisse sinnhaft untereinander und wählen einen bestimmten Anfangs- und Endpunkt der Erzählung (emplotment, Lucius-Hoene und Deppermann 2004). Für Patient*innen bietet es sich an, die vielfältigen Verflechtungen der Erkrankung mit ihrem biographischen Werdegang darzustellen, Erfahrungen mit Schwäche, Schmerzen und Verlust aufzugreifen sowie Vorstellungen über ursächliche, modifizierende und aufrechterhaltende Bedingungen in ihre Schilderungen einzuweben (Bruner 1990; Lucius-Hoene 2008). In Erzählungen, so die Annahme, wird durch das Was und Wie erzählt und durch die Verknüpfung von Handlungen in der Erzählung narrative Identität hergestellt (Lucius-Hoene und Deppermann 2004, 52). Identität wird in diesem Sinne als eine konstruktive Leistung der erzählenden Person aufgefasst, die einerseits ihr Selbsterleben und Reflektieren in eine Geschichte verwebt und gleichzeitig im Akt des Erzählens mit den Zuhörern Identität aushandelt (LuciusHoene 2008). Diese beiden Aspekte lassen sich in einer Erzählung verwoben wiederfinden und durch sprachanalytische Mittel rekonstruieren.
3.2 Das Website-Projekt DIPEx-Germany In der hier vorgestellten Arbeit wurden keine Forschungsdaten erhoben, sondern bereits vorliegende Krankheitserzählungen aus dem Projekt DIPExGermany genutzt. Diese wurden hinsichtlich der Fragestellung nach Darstellungen von ‚Freiraum‘ einer sekundäranalytischen Auswertung unterzogen (Medjedović 2014).
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Um die Erfahrungsgeschichten von Patient*innen für andere Betroffene, Akteur*innen im medizinischen Bereich und für die Öffentlichkeit zugänglich zu machen, hat es sich das Projekt DIPEx (Database of Individual Patients’ Experiences) zur Aufgabe gemacht, Erfahrungsgeschichten von Patient*innen mit verschiedenen Krankheitsbildern mit qualitativen Methoden zu erheben und auf der Internetseite www.krankheitserfahrungen.de zu veröffentlichen (LuciusHoene et al. 2015). Das Konzept basiert auf der durch die Arbeitsgruppe DIPEx an Universität Oxford begleiteten englischen Website www.healthtalk.org, wo seit 2001 bereits zu über 80 verschiedenen Krankheitsbildern und Gesundheitsthemen Erfahrungen veröffentlich worden sind (Lucius-Hoene et al. 2015). Das Projekt DIPExGermany wird seit 2008 an den Universitäten Freiburg und Göttingen sowie an der Berliner Charité durchgeführt. Im Rahmen der Projektarbeit werden zu den verschiedenen Krankheitsbildern 40 bis 50 narrative Interviews nach Methoden der qualitativen Sozialforschung nach Schütze (1983) geführt. Die Auswahl der Teilnehmer*innen erfolgt nach dem Prinzip des Purposeful Samplings (Coyne 1997), d. h. das Sampling bilden Personen mit unterschiedlichem Alter, sozialer Situation, Art und Dauer der Erkrankung und Therapieerfahrungen, sodass sich in den Ergebnissen ein möglichst heterogenes Spektrum an Erfahrungen abbilden kann (Lucius-Hoene et al. 2015). Nach der vollständigen Transkription werten die jeweiligen Forscher*innen die Interviews mittels eines Computerprogramms nach Methoden der Grounded Theory aus (Glaser und Strauss 1998). Sie arbeiten ein Spektrum relevanter Themen aus, welches in Textform angereichert mit Originalzitaten auf der Website, sortiert nach Themen und nach Fallgeschichten, verfügbar gemacht wird. So wird garantiert, dass sich auf der Website ein breites Spektrum unterschiedlicher Erfahrungen und konträrer Meinungen finden lässt (LuciusHoene et al. 2015). In der vorliegenden Analyse wurden Interviews aus den Modulen Chronischer Schmerz und Medizinische Reha des DIPEx-Projekts in Hinblick auf das Thema ‚Freiraum‘ genutzt. Das Datenkorpus bietet aufgrund der offen narrativ geführten Interviews eine große Vielfalt an Themen und verschiedenen Perspektiven der befragten Personen, weshalb es sich für eine Analyse nach der Methode der Grounded Theory gut eignet.
3.3 Grounded Theory als rekonstruktives Verfahren Bei der Methode der Grounded Theory geht es darum, von empirischen Phänomenen (Daten) als Ausgangspunkt abstrahierte Konzepte bzw. Theorien mittlerer Reichweite zu entwickeln (Breuer et al. 2017, 7). Grundlegend ist das Konzept-Indi-
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kator-Modell, das die Entwickler der Grounded Theory Methodologie, Glaser und Strauss (1998, 33), der Forschungskonzeption zugrunde legen. Es wird angenommen, dass Datenausschnitte, zum Beispiel Äußerungen einer Interviewperson, als Indikatoren (Anzeichen) eines zugrundeliegenden Konzepts betrachtet werden können (Breuer et al. 2017, 7). Zu der erkenntnistheoretischen Einordnung der Grounded Theory lässt sich sagen, dass es sich bei diesem Vorgehen im Gegensatz zu dem Ansatz des Kritischen Rationalismus nach Karl Popper, der dem Prinzip eines hypothesenprüfenden Verfahrens folgt, um ein rekonstruktives Verfahren handelt (Bohnsack 2014, Kap. 4). Während bei hypothesenprüfenden Verfahren die Hypothese von Forschenden aufgestellt werden und zwar überprüft, aber nicht in ihrer Entstehung hinsichtlich Vorannahmen und Perspektiven hinterfragt werden, geht es bei einem rekonstruktiven Verfahren wie der Grounded Theory um ein hermeneutisches Verstehen des Forschungsgegenstands, also im Falle von Interviews der Interviewperson (Bohnsack 2014, Kap. 4). Grundlegend ist die Annahme, dass eine Person den Geschehnissen um sie herum stets im Kontext einer bestimmten sozialen (konstruierten) Wirklichkeit Sinn und Bedeutung zuspricht. Bei rekonstruktiven Verfahren wie der Grounded Theory geht es darum zu verstehen, wie ein anderer Mensch versteht und Dingen und Ereignissen Bedeutung zuspricht: Welche Kompetenzen und welches alltägliche Regelwissen, welche Vorannahmen lassen eine Person auf eine bestimmte Art und Weise verstehen? (Breuer et al. 2017, 45–46). Ziel ist die „Rekonstruktion der Bedeutungs- und Sinnwelten, die für Akteur*innen in ihrem Handeln eine Rolle spielen“ (Breuer et al. 2017, 49). Um an diese Rekonstruktionen zu kommen, vollzieht sich die Analyse eines Handlungsfeldes, zum Beispiel anhand von Interviews, als hermeneutische Zirkelbewegung (Breuer et al. 2017, 55; Kruse 2015, 67): Ein empirisches Phänomen wird auf Grundlage des Vorverständnisses der forschenden Person konzeptualisiert, wobei dieser Vorgang wiederum die „Verständnisbasis“ der forschenden Person im Sinne einer Bestätigung, Modifizierung oder Verunsicherung beeinflusst. Das veränderte Verständnis ist dann wiederum Basis für einen weiteren Verstehens-Akt der forschenden Person, der das Verständnis wiederum erweitert bzw. verändert. Breuer et al. (2017) betonen bei diesem Vorgang der Konzeptualisierung eines empirischen Phänomens den „kreativen Gedankenblitz“ (57), der für die Generierung von Konzepten anhand empirischen Materials notwendig ist. Wichtig ist demzufolge eine abduktive Haltung als Fähigkeit, neue Konzepte und Theorien zu entwickeln, aus welchen sich wiederum deduktiv Erwartungen an weitere Fälle ableiten sowie induktiv Stützen für die Theorie suchen lassen (Breuer et al. 2017, 59). Auch hier handelt es sich um eine iterativ-spiralförmige Bewegung, die den Forschungspro-
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zess kennzeichnet. Die geschilderten erkenntnistheoretischen Grundlagen lassen sich in den methodischen Schritten der Grounded Theory wiederfinden. Die Auswahl von Fällen für die Analyse basiert auf Überlegungen zum Theoretical Sampling. Dies bedeutet, dass zu Beginn diejenigen Fälle ausgewählt werden, die Informationen zum interessierenden Thema beinhalten könnten. Im Verlauf der Analysearbeit werden dann sukzessive Fälle ausgewählt, die einen Kontrast zu schon analysierten Daten bilden könnten, sodass bis zu diesem Zeitpunkt gebildete Thesen weiter modifiziert, ausgeformt und verbessert werden können (Breuer et al. 2017, 136; Glaser und Strauss 1998, 53). Das methodologische Zielkriterium ist hierbei die theoretische Sättigung – das Sampling wird solange erweitert, bis sich keine neuen Konzepte aus den Daten mehr gewonnen werden können, weil alle Themen bereits erfasst sind (Breuer et al. 2017, 159; Glaser und Strauss 1998, 68). Die Analyse der ausgewählten und erhobenen Daten erfolgt durch das Kodieren. Die Grundidee des Kodierens ist die „des sehr genauen Betrachtens, inAugenschein-Nehmens und Interpretierens der Daten, um daraus abstrakte/ theoretische Konzepte zu gewinnen, zu destillieren“ (Breuer et al. 2017, 248). Das Kodieren erfolgt in drei Abstraktionsschritten, die allerdings nicht immer abgetrennt voneinander stattfinden, sondern auch im Sinne des iterativ-zyklischen Forschungsprozesses immer wieder auftreten können (Breuer et al. 2017, 270). Die methodischen Schritte der Grounded Theory wurden in der vorliegenden Arbeit umgesetzt. Der Einstieg in die Analyse erfolgte anhand des Moduls Chronischer Schmerz aus dem DIPEx-Projekt. Die Auswahl von Interviews, die hinsichtlich der Fragestellung interessant sein könnten, orientierte sich an den aus den Primärkodierungen hervorgegangenen Themenbereichen, wie sie auf der Website www.krankheitserfahrungen.de zu finden sind. Aus den Interviews, die sukzessive im Sinne des Theoretical Samplings zur Analyse hinzugezogen wurden, wurden zunächst diejenigen Passagen extrahiert, die einen Bezug zu der forschungspragmatischen Analyseheuristik ‚Freiraum‘ aufwiesen. Im Schritt des offenen Kodierens wurden Kodings gebildet, die im Rahmen des axialen Kodierens zu ersten Kodes zusammengefasst wurden. Die Hinzunahme eines neuen Interviews, das jeweils einen Kontrast zu dem davor analysierten Interview bilden sollte, erfolgte im Zuge des Focused Codings (vgl. Charmaz 2014), d. h. die jeweils anhand der vorausgehenden Analyse aufgestellte These wurde anhand der Analyse eines neuen Interviews modifiziert und erweitert. Im Verlauf stellten sich Kodes heraus, die bereits die Vorstufe eines theorietauglichen Begriffs (Kategorien-Kandidat) „erreicht“ hatten; so z. B. die Kodes „Haltung“ oder „selbstgewählte Tätigkeiten“. Auch zwischen einzelnen Modulen des DIPEx-Projekts wurden Kontrastierungen angestellt, indem zusätzlich zu Interviews aus dem Modul Chronischer Schmerz Interviews aus dem Modul Medizinische Reha hinzugezogen
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werden. Hier konnten Kodes bzw. Kategorien-Kandidaten im Zuge des axialen Kodierens nur noch ausgeformt und Verbindungen von Kodes untereinander ausgearbeitet werden, was dafürspricht, dass das Zielkriterium der Theoretischen Sättigung erreicht war. Im Zuge des abschließenden, selektiven Kodierens stellte sich die Kategorie Entscheidungen, die schon zuvor ins Zentrum der Grounded Theory gerückt war, endgültig als Kern- und Schlüsselkategorie heraus, sodass die Analyse geschlossen werden konnte.
4 Ergebnisse 4.1 Unbegehbare Räume – Einschränkungen und Verluste In Bezug auf die Entstehung neuer Freiräume im Leben der Patient*innen sind zunächst Schilderungen von Einschränkungen und Verlusten1 zentral, welche sich durch den Eintritt der Erkrankung ergeben und unterschiedliche Bereiche des alltäglichen Lebens wie soziale und Freizeitaktivitäten betreffen. Prototypisch sind Darstellungen, die die Einschränkung der Erwerbsfähigkeit betreffen. So beschreibt Herr G2, der aufgrund einer Schmerzerkrankung seine berufliche Beschäftigung als Pflanzenbauberater niederlegen musste, seinen letzten Arbeitstag wie folgt: Das war eigentlich fast ein Schock. Ich weiß noch gut – es war am – Mitte September, Versuchsfeld […] ist dagestanden. Das Getreide war weg, das Andere ist noch alles gestanden, Mais. Ich bin [an diesem] Abend […] dort hingefahren und bin überall durchgelaufen. Ich habe – dann war noch ein Industrievertreter dort und [der hat noch gesagt]: „Haja, vielleicht ist es nicht so schlimm. Dann kommen Sie wieder.“ Ich bin dann nicht mehr gekommen, aber ich hab’ an diesem Tag im Versuchsfeld Tränen in den Augen gehabt. (Herr G)
Zunächst verdeutlicht der episodische Charakter, den die Erzählung an dieser Stelle annimmt, den besonderen Stellenwert und die Einprägsamkeit des Ereignisses im Vergleich zu anderen Episoden, die im Sinne des Kondensierungszwangs (vgl. Lucius-Hoene und Deppermann 200, 35–36) in der Erzählung stark gerafft dargestellt werden. Deutlich wird, dass sich die geschilderte Erfahrung über räumliche Aspekte insofern beschreiben lässt, als dass Herr G hier detailliert Bezug auf die Beschaffenheit eines konkreten Ortes – das Versuchsfeld als
1 Im Rahmen der Analysearbeit ermittelte Konzepte werden zur besseren Kenntlichkeit kursiv dargestellt. 2 Um die Anonymität der Erzähler*innen zu wahren, wird der Name von Interviewpartnern in dieser Arbeit durch einen zufällig gewählten Buchstaben ersetzt.
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Arbeitsumgebung – nimmt. Dieser Ort wird durch die Unmöglichkeit, der Arbeitstätigkeit weiter nachzukommen unbegehbar. Durch die Darstellung von Gefühlen der Trauer erhält die Episode eine emotionale Tönung und Färbung, die den Verlustcharakter der Erfahrung betont.
4.2 Leidenszeiten – Leidvolle Empfindungen Durch Einschränkungen und Verluste entstehen neue, hinsichtlich ihrer Füllung und Nutzung zunächst unbestimmte Zeiträume. Viele Erzähler*innen schildern, dass sich im Zuge von Verlusterfahrungen starke negative Empfindungen fortsetzen, wie sich am Beispiel von Frau L verdeutlichen lässt, die ihre Arbeit als Lehrerin niederlegen musste: [Ich habe dann] Bescheid bekommen, ich bin Renter so. Und dann war ich zu Hause und die Schule, ich war morgens die Erste und abends die Letzte. War eigentlich mein Leben, und das war nun einmal weg, und ich hatte ich hatte nichts. […] Die Arbeit wurde mir quasi genommen ne. Ja und dann bin ich, so in ein tiefes Loch gefallen, ich denke also ich hatte direkt psychische Schmerzen. […] Mir wurde – schwindelig, wenn ich manchmal nur die Zeitung hochholen wollte, ich hatte manchmal Angst, runter zu gehen, nur die Zeitung zu holen, ich hatte Angstgefühle in [einen Supermarkt] reinzugehen, hat mich keiner rein bekommen [..]. Ich hatte richtig Angst, hatte Angst mit Menschen zusammen zu sein […]. (Frau L)
Ähnlich wie Frau L schildern auch andere Patient*innen, leidvolle Empfindungen der Wut, Trauer und Verzweiflung zu erfahren. Deutlich wird, dass die Erfahrungen mit dem Attribut der Freiheit nicht beschreibbar sind und neu entstehende Zeiträume damit auch nicht als ‚Freiraum‘ fassbar sind. Auch über räumliche Aspekte ist die hier geschilderte Erfahrung nicht beschreibbar. Viel eher erscheint es so, als sei die Zeiterfahrung durch die Erfahrung leidvoller Empfindungen geprägt, sodass auf einer übergeordneten Ebene von Leidenszeiten gesprochen werden kann.
4.3 Reflexionszeiten – Identitätsverhandlungen, Haltungen und Entscheidungen Während Schilderungen von Leidenszeiten einen deutlichen Bezug zu Darstellungen von Einschränkungen und Verlusten aufweisen, können unbestimmte Zeiträume auch den Charakter von Reflexionszeiten annehmen, in deren Rahmen das Nachdenken über das Selbst bzw. die eigene Identität angesichts teils irreversibler Einschränkungen im Vordergrund steht. Dies verdeutlichen die Aus-
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führungen von Frau W, die an Morbus Sudeck, einem komplexen regionalen Schmerzsyndrom leidet, und in der folgenden Textpassage die Auswirkungen ihrer Symptome auf Identitätsgefühl und Möglichkeiten der Lebensgestaltung in den Mittelpunkt stellt: Aber du verlierst wahnsinnig. Du musst alles wieder so von vorne anfangen und du musst – den neuen Platz finden – also meinen neuen Platz jetzt, weil ich hab’s Morphin nicht mehr, aber gesund bin ich auch nicht. Jetzt bin ich in der Mitte, was mach’ ich jetzt. Ich find’ nichts. Ich bin also wirklich schon seit dem Februar, […] seitdem bin ich dran zu überlegen, was ich tu und wie ich’s tu oder was ich tu. Ich komm’ nicht hin, weiß auch nicht. Vielleicht kommt irgendwann einmal der Knackpunkt und danach weiß’ ich genau, das mach’ ich. […] Auf dem Arbeitsmarkt brauch’ ich mich gar nicht reinschmeißen, weil – mich tät’ kein Mensch mehr einstellen. Nein, das kann ich abhaken. Das ist dann schon schlimm, wenn du dann so denkst, Menschenschinder, so alt bist du gar nicht. Und auf einmal hat die Welt keine Verwendung mehr für dich. Und ich weiß dann echt nicht, was ich machen soll, ich weiß es wirklich nicht. Mir fehlt mein Platz in dieser Welt. (Frau W)
Frau W bringt hier einen ihr verwehrten „Platz in dieser Welt“ in Verbindung mit einem diffusen Identitätsgefühl, auf welches sich weder das Prädikat „krank“ noch „gesund“ anwenden lässt. Erzählerisch erprobt sie mögliche zukünftige Rolle (tentative Identitätskonstruktionen; vgl. Lucius-Hoene und Deppermann 2004), die sie jedoch sämtlich wieder verwirft. Frau W entwirft hier ein Szenario, in welchem keine Zukunftsperspektiven aufscheinen. In der Kontrastierung zeigt sich, dass andere Erzähler*innen die Entwicklung einer inneren Haltung der Akzeptanz gegenüber der unvermeidlichen Veränderung der Lebensumstände schildern, womit die Eröffnung neuer Zukunftsperspektiven interessanterweise eng verwoben ist. Dies zeigen die Schilderungen von Frau O: [G]ut aber ich hab’ so für mich herausgefunden, es ist irgendwie leichter […] mit Zustimmung, weil ich bin ja nicht frei, wenn ich immer wieder mich festklammere an die Person, die ich mal früher gewesen bin und ich bin auch nicht frei, wenn ich immer etwas will, was einfach über meine Möglichkeiten geht […]. [Ich] fühle mich aber frei, wenn ich sagen kann, gut, das ist jetzt so mein Leben und da will ich jetzt versuchen, das Beste draus zu machen […]. (Frau O)
Deutlich wird, dass hier die Einnahme einer inneren Haltung der Akzeptanz oder Zustimmung in Verbindung gebracht wird mit einem Gefühl der Freiheit, welches an dieser Stelle erst entsteht. Es konstituiert sich in dem Moment, in welchem es gelingt, den sehnsuchtsvoll in ein „altes Leben“ gewendeten Blick auf verbleibende, zukünftige Lebensmöglichkeiten umzulenken, damit das eigene Leben insgesamt neu perspektiviert werden kann. Die Ausführungen weisen indirekt wiederum Bezüge zu Identitätsverhandlungen auf, denn frühere Identitätsattribute werden „losgelassen“, während neue, andere aktiv forciert werden.
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Die Einnahme einer bestimmten Haltung stellt einen inneren Prozess dar, kann jedoch übergehen in das Ergreifen von Eigeninitiative und das Treffen von Entscheidungen, die sich dann auf äußerliche Handlungen beziehen. In der folgenden Schilderung beschreibt Herr P, wie er sich in Folge der Auswirkungen seiner Erkrankung aktiv und willentlich für eine Umschulung entscheidet. Interessanterweise deutet er in diesem Zuge seine frühere Arbeitsstelle als „einengendes System“, in welchem er fremdbestimmt agieren musste: Ja, gut, ich wollte einfach […] was suchen wo ich sage, ich kann mir die Zeit selber einteilen und aus dem Grund habe ich dann einfach gesagt, komm, […] ich steige aus dem System aus. […] Weil ich wollte aus dem ganzen System raus. Dieses System, zehn, zwölf Stunden arbeiten zu müssen und abhängig zu sein von Leuten, die dir immer etwas vorgeben. Ich wollte einfach für mich sagen, nein, ich möchte selbst entscheiden können, wie ich arbeite, was ich mache. (Herr P)
Die Konzepte Eigeninitiative und Entscheidungen weisen in gewisser Weise ein antagonistisches Verhältnis zu den Konzepten Einschränkungen und Verlusten und leidvolle Empfindungen auf: Während Letztere im Zeichen einer Überwältigungserfahrung stehen, gelingt es im Rahmen von Entscheidungen, eine Deutungshoheit über das eigene Leben zurückzugewinnen und wieder selbst mitzubestimmen. Entscheidungen, die aktiv und willentlich getroffen werden, sind der Ausgangspunkt, um Aktivitäten und Beschäftigungen nachzugehen, die persönlich als sinnstiftend empfunden werden.
4.4 Freiräume – selbst gewählte Tätigkeiten und angenehmes Empfinden Darstellungen von selbst gewählten Tätigkeiten, deren Ausführung auf einer aktiven, willentlichen Entscheidung beruht, gehen in den meisten Fällen mit Beschreibungen besonderer kognitiv-emotionaler Qualitäten einher, wie sich am Beispiel von Herrn F zeigen lässt: Ich sage es mal so, mir ist es wieder bewusst geworden. Ich war früher oft in der Natur und dass ich einfach wieder mehr in die Natur muss. Sprich Ende-Aus, rein in den Wald. Jetzt nicht rennen, sondern einfach Spaziergang oder Trekking, ja mit dem Rucksack. Auch mal meinetwegen ein paar Tage [im] Wald bleiben. Ja, dort übernachten. Und einfach mal, ja, die Umwelt besser wahrnehmen. […] Und irgendwie bin ich mal darauf gekommen und habe dann gedacht: Mensch, eigentlich könnte ich auch mal im Wald am Fluss übernachten. Und habe das dann auch gemacht. […] Und das war einfach wieder – es hat von vorne bis hinten gutgetan. Total. Unter dem Sternenhimmel schlafen am rauschenden Fluss. (Herr F)
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Die Praktiken des Spaziergehens und des Wanderns werden hier als Möglichkeit gedeutet, eine besondere Wahrnehmungsqualität und ein körperlich-geistiges Wohlbefinden herzustellen. Deutlich wird, dass die Darstellungen hier auf einer übergeordneten Ebene als Freiraum fassbar sind, denn die beschriebene Erfahrung steht mit dem Attribut der Freiheitlichkeit in Einklang und ist außerdem über räumliche Aspekte beschreibbar: So werden die ausgeübten Praktiken als gebunden an den Naturraum des Waldes gefasst. Das übergeordnete Konzept Freiräume steht damit in gewisser Weise in einem antagonistischen Verhältnis zu dem übergeordneten Konzept Unbegehbare Räume: Bei Letzterem stehen Beschreibungen im Mittelpunkt, die sich auf die Unmöglichkeit beziehen, bestimmte Praktiken weiterhin auszuführen, wodurch auch konkrete Räume wie die ehemalige Arbeitsumgebung unbegehbar werden. Unter dem Konzept Freiraum werden Beschreibungen von selbst gewählten Praktiken zusammengefasst, die wiederum als gebunden an einen konkreten Raum, zum Beispiel den natürlichen Raum des Waldes, beschrieben werden.
5 Diskussion 5.1 Zusammenfassung der Ergebnisse Entsprechend der Methoden der Grounded Theory wurden die Erfahrungen der Patient*innen im Rahmen der Analysearbeit in Anlehnung an die Fragestellung nach neuem ‚Freiraum‘ in theoretische Konzepte überführt. Die Konzepte beziehen sich zunächst auf die konkreten Schilderungen der Erzähler*innen (z. B. Einschränkungen und Verluste, leidvolle Empfindungen, selbstgewählte Tätigkeiten). Konzepte auf einer übergeordneten Ebene beziehen sich auf die an die Daten angelegte Heuristik des ‚Freiraums‘ und sollen theoriegeleitet differenzieren, inwiefern neu entstehende Zeiträume im Leben der Patient*innen überhaupt als ‚Freiraum‘ beschreibbar sind. In der Analyse stellte sich heraus, dass die dargestellten Erfahrungen auf einer übergeordneten Ebene nicht in gleicher Weise mit den Attributen Freiheit und Raum beschreibbar sind. Es wurden Unterscheidungen zwischen Unbegehbaren Räumen, Leidenszeiten, Reflexionszeiten und Freiräumen getroffen. Die gefundenen Ergebnisse sollen in der Folge hinsichtlich anschlussfähiger Konzepte diskutiert werden.
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5.2 Einordnung der Ergebnisse in die Selbstbestimmungstheorie Die gefundenen Ergebnisse lassen sich besonders in die psychologische Selbstbestimmungstheorie nach Ryan und Deci (2006) einordnen. Die Forscher postulieren, dass ein hoher Grad an Selbstbestimmung vor allem bei Verhaltensweisen vorliegt, die intrinsisch motiviert ausgeführt werden, mit deren Ausführung sich eine Person identifiziert hat (Identified Regulation) oder deren Ausführung dem eigenen Selbstbild entspricht (Integrated Regulation). Diese drei Arten der Regulierung von Verhaltensweisen, die auf dem von Ryan und Deci (2006) vorgeschlagenen Kontinuum von Nonself-Determined bis Self-Determined Behavior diejenigen sind, die am nächsten beim Pol Self-Determined anzuordnen sind, entsprechen in der vorliegenden Analyse Beschreibungen von Beschäftigungen oder Praktiken, die auf Grundlage aktiver, selbstbestimmter Entscheidungen verfolgt und ausgeübt werden. Ryan und Deci (2006) grenzen hiervon Verhaltensweisen ab, deren Locus of Causality nicht im Inneren einer Person, sondern im Außen liegt. Ein externer Locus of Causality liegt laut der Autoren vor, wenn Tätigkeiten aufgrund von Strafe oder Belohnung (External Regulation) oder aufgrund interner Belohnungsund Bestrafungssysteme ausgeführt werden. Diese Arten der Regulierung sollen zu Gefühlen der Entfremdung und des Krankseins führen, während eine eher selbstbestimmte Regulation von Verhaltensweisen die psychischen Grundbedürfnisse Autonomie, Kompetenz und Verbundenheit erfahrbar machen soll. Die gefundenen Ergebnisse lassen sich vor diesem Hintergrund so deuten, dass sich durch den Eintritt einer schweren Erkrankung eine ‚Auflösung des Alltags‘ vollzieht, da bestimmte Praktiken und Beschäftigungen nicht mehr ausgeübt werden können. Damit verbunden können auch bestimmte, konkrete Räume nicht mehr betreten werden. Die entstehende Krisensituation, in welcher Möglichkeiten der Zukunftsgestaltung zunächst offen scheinen, bietet jedoch auch die Möglichkeit, im Rahmen einer neuerlichen Selbstvergewisserung und Reformulierung der eigenen Identität (Konzept Reflexionszeiten) einen Alltag aufzubauen, der zwar einerseits durch irreversible Begrenzungen und Einschränkungen gekennzeichnet ist, sich aber andererseits über weitgehend selbstgewählte, selbstbestimmte Praktiken konstituiert, die wiederum an bestimmte, konkrete Räume gebunden sind, die längerfristig den Alltag mit formieren.
5.3 Gesundheit und Krankheit als komplementäre Kategorien? Anschließend an diese Erörterung schließt sich die Frage der gesellschaftlichen wie klinisch-praktischen Nützlichkeit einer Dichotomisierung von Krankheit und
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Gesundheit an: Ryan und Deci (2006) postulieren in ihrer Theorie die Erfahrung von Gefühlen der Entfremdung und des Krankseins bei der Ausführung nicht selbstbestimmter Tätigkeiten bzw. der Erfahrung einer Befriedigung psychischer Grundbedürfnisse bei der Ausübung selbstbestimmter Praktiken. Demnach ließe sich postulieren, dass auch Menschen, die mit irreversiblen Schädigungen leben müssen, Qualitäten erfahren und verkörpern können, die sich mit dem Attribut der ‚Gesundheit‘ umschreiben lassen. Umgekehrt könnte ein ‚gesunder‘ Mensch sich zu fremdbestimmtem Handeln gezwungen fühlen, was die Autoren mit dem Attribut des ‚Krankseins‘ in Verbindung bringen. Vor diesem Hintergrund ist fraglich, ob eine Abbildung der Erfahrungen von Menschen mit irreversiblen Handicaps entlang der Kategorien krank und gesund möglich ist. Die Ergebnisse verweisen somit auch auf die Bedeutung von Modellen, in deren Rahmen eine kontinuierliche Definition von Gesundheit und Krankheit vorschlagen wird (Antonovsky 1979; 1987).
5.4 Erzählen als Akt der Bewältigung Zuletzt sei darauf verwiesen, dass auf theoretischer Ebene das Erzählen selbst einen Akt der Bewältigung belastender Erfahrungen darstellt. Erzählen von belastenden Erfahrungen orientiert sich an den Leitkategorien Aktualisierung, Distanzierung und Integration (Lucius-Hoene 2002). Wie erläutert, konstruieren Patient*innen im Zuge der Erzählung aus ihren subjektiven Erfahrungen eine stringente Narration und ordnen das Krankheitsgeschehen in ihre Biographie ein (Lucius-Hoene und Deppermann 2004). Über die Konfrontation und Klärung des Erlebten kommt es zu einer kognitiven Strukturierung. Der Umgang mit idealisierten und erwünschten persönlichen Aspekten im Rahmen des Erzählakts entspricht einer Selbstvergewisserungsleistung. Bei dem Versuch, dem individuellen Leid eine Stimme zu geben, muss gegen die medizinische Stimme ‚anerzählt‘ werden. Das Erzählen von Krankheitserfahrung kann helfen, die Deutungshoheit (und damit Kontrolle) über das eigene Leben zurückzuerlangen und zu behalten (Frank 1994). Im Rahmen der Erzählung kann ein Zukunftsentwurf mit der Möglichkeit des Weiterlebens und den noch verbleibenden Handlungsmöglichkeiten entworfen werden. Solidarisierung und Integration des persönlichen Weltentwurfs in sozial und kulturell geteilte Bedingungen schaffen außerdem soziale Entlastung.
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Wohlbefinden durch „Hinspüren“: Reflexives und relationales Erzählen von Gesundheit im Kontext von Entspannungs- und Achtsamkeitsangeboten 1 Einleitung In der Ausgabe 2/2018 des BARMER-Magazins für Versicherte greift die Redaktion das Thema Achtsamkeit auf und wendet sich damit einem expliziten Wunschthema der LeserInnen zu. Unter dem Titel „Bewusst und gelassen im Leben stehen“ (BARMER-Magazin für Versicherte, 8) charakterisieren die AutorInnen das Konzept als aktuellen Trend und raten gleichzeitig dazu, sich einen achtsamen Lebensstil anzutrainieren: „Wie aus einem Hype ein gesunder Lifestyle wird. Dabei ist jeder Einzelne gefragt, seinen eigenen, persönlichen Weg zu finden“ (BARMERMagazin für Versicherte, 8). Dieser Auftrag wird aus den vielfältigen alltäglichen Herausforderungen abgeleitet, denen Menschen heutzutage ausgesetzt seien. Achtsamkeit erscheine als „universaler Heilsbringer gegen Stress und Überforderung, gegen jedwede Mehrfachbelastung durch Kinder, Job, Familie, Freizeit, Krankheit, Pflege“ (BARMER-Magazin für Versicherte, 9). Die AutorInnen warnen jedoch davor, Achtsamkeit als weitere Aufgabe misszuverstehen: „Doch Achtsamkeit kann nur wirken, wenn dieses Prinzip fest im persönlichen Alltag verankert ist und eben nicht noch zusätzlich auf der meist schon übervollen To-do-Liste landet“ (BARMER-Magazin für Versicherte, 9). Und weiter: „Denn Achtsamkeit ist vielmehr eine innere Haltung, gewissermaßen eine Kulturtechnik, die – ähnlich wie Lesen und Schreiben – zunächst erlernt, verinnerlicht und dann stetig angewendet werden sollte“ (BARMER-Magazin für Versicherte, 9).1 Dieser Einstieg über das Konzept Achtsamkeit und seine mediale Repräsentation im Magazin der zweitgrößten deutschen Krankenkasse ist aus mehreren Gründen passend für den vorliegenden Beitrag: Erstens spielt Achtsamkeit als Schlagwort und Konzept im untersuchten Forschungsfeld eine große Rolle. Im 1 Die Krankenkasse macht selbst zahlreiche Angebote, in denen Achtsamkeit gelehrt wird, so z. B. einen kostenlosen Online-Kurs und auch Kursangebote bei den Versicherten vor Ort. Thematisch nahe „Gesundheitsinformationen zu Resilienz oder Stressbewältigung“ können von der BARMER-Homepage heruntergeladen werden. https://doi.org/10.1515/9783110747928-008
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Rahmen meiner Promotion2 erforsche ich ethnografisch und akteurszentriert Kursangebote, in denen Menschen sich mit Konzepten und Strategien wie Muße, Achtsamkeit und Entschleunigung auseinandersetzen, um Belastungen besser gewachsen zu sein. Vor dem Hintergrund sowohl kulturanthropologisch3 als auch kultursoziologisch konstatierter steigender Leistungserwartungen und Selbstoptimierungstendenzen in einer neoliberal geprägten Gesellschaft, die Subjekte dazu veranlasst, ihr Denken und Handeln zunehmend an Logiken des Unternehmertums und der Marktförmigkeit anzupassen (Boltanski und Chiapello 2013; Bröckling 2016), ist die Frage relevant, inwiefern Achtsamkeit als (Gegen-)Strategie, als Technik der Selbstfürsorge und der Selbstoptimierung gleichermaßen, gedeutet werden kann. Zweitens rückt der BARMER-Artikel Achtsamkeit durch seinen Veröffentlichungsort und seine inhaltlichen Aussagen in das Assoziationsfeld der Gesundheit, und zwar als wichtige Komponente eines guten, gesunden Lebens.4 Achtsamkeit wird als Strategie beschrieben, mit der Menschen in ihrem Alltag Herausforderungen bewältigen und ihr Wohlbefinden positiv beeinflussen könnten. Diese Facette eines Gesundheitsverständnisses wird bereits in der 1946 festgelegten und bis heute unveränderten Definition der Weltgesundheitsorganisation WHO angesprochen. Darin wird Gesundheit definiert als „Zustand des vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlbefindens und nicht nur das Freisein von Krankheit und Gebrechen“ (Verfassung der Weltgesundheitsorganisation 1946, 1). Auch die Rehabilitationspsychologin Alexa Franke macht in einem grundlegenden Lehrbuch für die Gesundheitswissenschaften deutlich, dass das Konzept von Gesundheit als Wohlbefinden „auf die subjektive Ebene der Gesundheit, das Sich-Befinden des einzelnen Menschen“ (2008, 32) abhebe; was Wohlbefinden genau bedeutet, bleibe jeweils abhängig von Individuum und Situation. Diese Perspektive legitimiert einerseits die in diesem Beitrag angestrebte Analyse subjektiver Deutungen in Hinblick auf das Erkenntnisinteresse, spezifische Vorstellungen von Gesundheit herauszuarbeiten. Außerdem 2 Mein Dissertationsprojekt und das übergeordnete kulturanthropologische Teilprojekt „Muße lernen? Freie Zeit, Kreativität und Entschleunigung im Kontext von Leistungssteigerung und Selbstoptimierung“ (Leitung: Prof. Dr. Markus Tauschek) sind Teil des Sonderforschungsbereichs 1015 „Muße. Grenzen, Raumzeitlichkeit, Praktiken“ an der Universität Freiburg. Gefördert wird diese Forschung durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) – Projektnummer 197396619 – SFB 1015. 3 Ich fasse in diesem Beitrag das Vielnamenfach Volkskunde, Europäische Ethnologie, Empirische Kulturwissenschaft, Kulturanthropologie etc. unter der Bezeichnung Kulturanthropologie zusammen. 4 Zur besonders im angloamerikanischen Raum präsenten Anthropology of Wellbeing siehe Mathews und Izquierdo (2010) sowie Fischer (2014).
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macht sie die Kursbesuche als Gesundheitshandeln von Menschen in der Gegenwart verstehbar. Laut Kursbeschreibungen stellt die Steigerung des Wohlbefindens ein wesentliches Ziel der Angebote dar. Schließlich lassen sich aus dem Artikel auch Forschungsfragen ableiten, die für die Analyse der Kursangebote besonders relevant sind: Welche Vorstellungen von Gesundheit, von Körper und Selbst sowie von Handlungsmacht und Selbstwirksamkeit des Subjekts werden hier aktiviert? Wie werden diese zugleich reflexiv gewendet und kritisch hinterfragt? Diesen Fragen folgend, zeige ich in diesem Beitrag, dass die untersuchten Kursangebote die Reflexion von Gesundheit und damit das Sprechen über und das Erzählen von Gesundheit anregen. Ideen davon, was es heißt, ‚gesund‘ zu sein, sind im Forschungsfeld untrennbar mit der Fähigkeit verbunden, sich mit sich selbst auseinanderzusetzen, sich zu reflektieren, seine Aufmerksamkeit auf das eigene Selbst (konzipiert als Einheit von Körper und Geist) zu richten. Diese Selbst-Erzählungen sind eingebunden in Narrative aus Kurs und Gesellschaft, wobei sich die AkteurInnen zu dem unhintergehbaren Hintergrund erzählend in Beziehung setzen. Ziel dieses Beitrags ist es, das Erzählen von Gesundheit im Kontext von freier Zeit, Entspannung und Entschleunigung anhand empirisch begründeter Deutungen als gleichermaßen (selbst-)reflexives, sich auf sich selbst und den eigenen Körper rückbeziehendes, und relationales, sich selbst in Bezug setzendes, Erzählen verstehbar zu machen. Dazu stelle ich zunächst mein Forschungsvorhaben und Forschungsfeld genauer vor, ordne es disziplinär ein und gehe dabei besonders auf den methodischen Umgang der Kulturanthropologie/Europäischen Ethnologie mit dem Erzählen, mit Erzählungen und ErzählerInnen ein. Im Hauptteil verfolgt der Beitrag die oben formulierten Fragen anhand von empirischem Material, das ich im Rahmen zweier Kurse, einem Meditationsretreat und einem Waldbaden-Angebot, erhoben habe. Schließlich fasst ein kurzes Fazit die Ergebnisse zusammen, das gleichzeitig – als eine Art Ausblick – auf weitere Ansatzpunkte für die Analyse der Kategorie ‚Gesundheit‘ im Kontext von Entspannung, Entschleunigung und Erholung verweist.
2 Kursangebote als Forschungsfeld der Kulturanthropologie Eine verbreitete Gesellschaftsdiagnose, zumindest den globalen Norden in der Gegenwart betreffend, konstatiert, dass Menschen zunehmend einer „Erhöhung des Lebenstempos“ (Rosa 2016 [2005], 213) ausgesetzt seien, auch weil sie un-
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unterbrochen und unaufhaltsam daran arbeiteten, möglichst viel aus sich und ihrem Leben zu machen, indem sie stets unternehmerisch handelten (Bröckling 2016) sowie sich selbst optimieren sollten (Mayer und Thompson 2013). Reagiert wird darauf gesellschaftlich mit der Diskussion über so vielfältige Probleme und Problemlösungsstrategien wie das Burnout-Syndrom als vermeintliche Volkskrankheit des 21. Jahrhunderts, die Chancen und Risiken digitaler Technologien, das Abitur nach 12 oder 13 Jahren Schulzeit, Möglichkeiten der Arbeitszeitverkürzung, das bedingungslose Grundeinkommen oder Ideen für eine Postwachstumsökonomie. Die Kulturanthropologie als empirisch ausgerichtete Alltagskulturwissenschaft fragt vor diesem Hintergrund nach subjektiven Sinngebungen und Umgangsweisen mit Beschleunigung, Leistungsethos und Tendenzen zur Selbstvermarktung und -optimierung. Ein Phänomen, das einen Ansatzpunkt für die Erforschung dieser Frage bietet, sind Kursangebote, die dem Wunsch nach mehr Entschleunigung, Achtsamkeit, Entspannung und Zeit für sich selbst begegnen. Sie machen deutlich, welchen Anforderungen sich Menschen in der Gegenwart ausgesetzt sehen – man könnte auch sagen: wovon sie sich Linderung erhoffen – und wie sie dies mithilfe unterschiedlicher Techniken erreichen wollen. Im Gegensatz zum ebenfalls weitverbreiteten Ratgeberangebot in Form von Büchern, Zeitungsund Zeitschriftenartikeln, Podcasts, Übungs-CDs etc. ermöglichen diese Kurse das praktische Ausprobieren und körperlich-sinnliche Erleben in einem außeralltäglichen Setting (meist an einem abgeschiedenen, ruhigen Ort) sowie den Austausch mit Gleichgesinnten unter Anleitung. Mit Titeln wie „Lass es einmal gut sein“ oder „Tage des Innehaltens und der Muße“ versprechen die Angebote eine Auszeit vom Alltag, eine Zeit zum Entspannen, Durchatmen, Zu-sich-Kommen. Sie stellen kommerzielle Angebote dar, in denen bestimmte Vorstellungen von Gesundheit und damit verbundene Erlebnisse verkauft werden.5 Um möglichst vielfältige Einblicke in diesen stark ausdifferenzierten Markt zu bekommen, nahm ich zwischen September 2017 und Dezember 2018 an acht verschiedenen Kursen teil. Zu den Inhalten gehörten Themen und Techniken
5 Die damit angesprochene Ökonomisierung und Kommerzialisierung von Entspannung und Stressbewältigung (sowie weitergedacht deren Instrumentalisierung zu Zwecken der Leistungssteigerung, bspw. durch ArbeitgeberInnen) stellt eine Analyseperspektive dar, die ich in diesem Beitrag nicht verfolge. Dies liegt insbesondere daran, dass die Warenförmigkeit von Gesundheitsangeboten den strukturellen Hintergrund des hier analysierten Materials darstellt, dabei jedoch keine gewinnbringende ‚Analysebrille‘ für die Erzählungen der KursakteurInnen bildet, um ihr Deuten und Handeln zu verstehen. Viel eher ist die Frage relevant, warum und wie AkteurInnen an Gesundheitsangeboten (seien diese kostenpflichtig oder nicht) teilnehmen und wie sie sich dadurch an Markt- und Selbstverantwortlichkeitslogiken anpassen.
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wie Achtsamkeit, Meditation, Schweigen, Beten, Waldbaden, Tautreten, Yoga, Feldenkrais, Tai-Chi und reflexives Schreiben. Die meisten Teilnehmenden dieser Angebote können demographisch als mittleren Alters, gebildet und der Mittel- bis Oberschicht zugehörig eingeordnet werden; sie verfügen damit über die nötigen Ressourcen (finanziell, zeitlich etc.), um Kurse zu besuchen und deren Inhalte in das eigene Leben zu integrieren. Ich kombinierte meine eigene körperlich-sinnlich-emotionale Teilnahme und die damit verbundenen Beobachtungen mit Gesprächen mit Teilnehmenden und Anbietenden während und nach den Kursen. Mithilfe des ethnografischen Methodensets erlange ich so Einblicke in die diskursiven, performativen und materiellen Aushandlungsprozesse der einzelnen ‚Kurswelten‘. Erzählungen begegnen mir in der Feldforschung auf vielfältige Weise: von der gesellschaftlich-medialen Erzählung des ausgebrannten Menschen (Neckel und Wagner 2014), über die jeweiligen Kursnarrative (verkörpert durch die Anbietenden und materialisiert in Übungsblättern, Büchern, Powerpoint-Präsentationen) und Programmelemente, die Erzählungen ermöglichen (Einzel- und Gruppengespräche, Schreiben) bis hin zu den Erzählungen der Teilnehmenden und Anbietenden in Gesprächen und Interviews. Diese dienen der Vertiefung beobachteter Aspekte und folgen dementsprechend spezifischen Erkenntnisinteressen seitens der Forscherin. Gleichzeitig versuche ich, – den Maßgaben kulturanthropologischer Interviewführung entsprechend – die Gespräche so zu führen, dass den Befragten eigene Schwerpunktsetzungen und freie Erzählungen ermöglicht werden. Die Erzählforschung in der Kulturanthropologie richtet seit den 1970er Jahren den Blick verstärkt auf AkteurInnen, Kontexte und Räume des Erzählens und begreift Erzählen, dem Performanz-Ansatz folgend, als „kommunikatives Handeln“ (Meyer 2014, 245). Erzählende Menschen wollen sich intersubjektiv mitteilen und verstehbar machen und greifen daher auf geteilte Erzählnormen zurück (Meyer 2018, 3). Neben dieser Einordnung des Erzählens als soziales Handeln (Lehmann 2007, 9) ist die soziokulturelle Rahmung des Erzählten zentral für die kulturanthropologische Narrationsanalyse: Erzählungen werden als „individuelle Akte der Sinnstiftung, aber auch als Träger von intersubjektiven Werthaltungen und Handlungsmaximen“ (Meyer 2014, 245) interpretierbar und vermitteln so zwischen Mikro- und Makroperspektive.6
6 Albrecht Lehmann verweist in diesem Zusammenhang auf den Einfluss gesellschaftlicher Diskurse, die er als „Erfahrungen aus zweiter Hand“ charakterisiert: „Schließlich kommt es zu einer empirisch unentwirrbaren Mischung von persönlichen, auf sinnlicher Wahrnehmung beruhenden eigenen Erfahrungen mit der nahezu unbegrenzten Fülle der Erfahrungen aus zweiter Hand. Aber wie immer wir diese Erfahrungen aus zweiter Hand interpretieren und in
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Die Kursangebote vermitteln als Formate auf der Mesoebene zwischen Subjekten und Strukturen und generieren jeweils spezifische Narrative der Sinnstiftung und Plausibilisierung. Sie stellen Formate des kollektiven Erlebens und Lernens dar. Soziale AkteurInnen – so meine These in diesem Beitrag – greifen diese Deutungsangebote auf, setzen sich mit ihnen auseinander und verbinden sie mit reflexiven und relationalen Formen des Erzählens. Im Folgenden werde ich anhand von zwei Kursen, an denen ich teilgenommen und mit deren AkteurInnen ich Gespräche geführt habe, herausarbeiten, wie Gesundheit hier jeweils erzählt wird. Ich trenne dazu analytisch die Ebenen ‚Kurs‘ (im Sinne von Angebot, Medium für Lerninhalte; repräsentiert durch die Anbietenden), und ‚Teilnehmende‘ (als die das Angebot rezipierenden, lernenden Subjekte). Im Dialog dieser beiden Ebenen bzw. ihrer AkteurInnen werden Gesundheitsvorstellungen ausgehandelt. Der soziokulturelle Kontext ist dabei als Hintergrund für beide Ebenen stets mitzudenken. Als quer dazu verlaufende Leitlinien dienen mir die narrationsanalytischen Fragen nach dem ‚was‘, ‚wie‘ und ‚warum so‘ (Meyer 2018, 6); es geht also um Inhalte, Formen sowie Motive und Intentionen der Erzählungen bzw. der Erzählenden.
3 „Inneren Raum schaffen“: Meditierend Kontakt zum Körper aufnehmen Der viertägige Kurs „Inneren Raum schaffen – Achtsamkeit, Selbstmitgefühl und Muße“, der sowohl Muße als auch Achtsamkeit im Titel trug, fand im Herbst 2017 in einem Seminarzentrum in Österreich statt. An dem Kurs nahmen ca. 25 Personen aus Deutschland, Österreich und der Schweiz teil; der Großteil von ihnen gehörte der Altersgruppe von 40 bis 60 Jahren an, war berufstätig und hatte sich schon einmal mit den Themen Meditation und Achtsamkeit beschäftigt. Neben Meditationen im Sitzen, Gehen und Liegen und Zeiten des Schweigens gab es Gesprächsrunden sowie sogenannte „Muße-Zeiten“, die frei gestaltet werden konnten. Die Kursbeschreibung, ein Element des Kursnarrativs, macht die Ziele und Möglichkeiten des Angebots deutlich: Dieses Intensiv-Seminar, das zum Teil im Schweigen stattfindet, schenkt uns Zeit und Raum zum Innehalten und zur intensiven Achtsamkeits- und Selbstmitgefühlspraxis. Es bietet eine wertvolle Gelegenheit für tiefe körperliche Regeneration und Reflexion zu in-
abstrakte Zusammenhänge einordnen: die eigene Primärerfahrung bleibt der Maßstab“ (Lehmann 2007, 10).
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neren Einstellungen – und ermöglicht die Kultivierung heilsamer Qualitäten wie Vertrauen, Dankbarkeit und Freude, sowie Mitgefühl mit leidvollen Aspekten des Lebens. (Kursbeschreibung „Inneren Raum schaffen“, 1)
Das Bedürfnis nach Ruhe und innerer Einkehr, nach einer Zeit nur für sich, wird hier von den Anbietenden als gegenwärtiger Wunsch vieler Menschen geschildert, auf den das Angebot explizit eingeht. Durch den Gebrauch des kollektivierenden „uns“ schließen sie sich selbst in den Kreis der Teilnehmenden ein. Gleichzeitig liegt der Schluss nahe, dass die VeranstalterInnen durch ihre Schilderungen das konstatierte Bedürfnis nach Regeneration und Reflexion teilweise mitproduzieren, indem sie Teilnehmenden – auch ganz konkret auf begrifflicher Ebene – eine Vorlage für die Deutung ihrer Erfahrungen bieten. Durch die Begriffe „Regeneration“ und „heilsam“ wird das Narrativ des modernen defizitären Selbst reproduziert, das nicht mehr ‚ganz‘, nicht mehr ‚heil‘ sei und – vielleicht auch präventiv (Lengwiler und Madarász 2010) – für die eigene Gesundheit aktiv werden müsse. Auffällig ist auch, dass die Beschreibung mit Begriffen wie „Achtsamkeit“, „Selbstmitgefühl“, „Regeneration“, „Reflexion“, „Vertrauen“, „Dankbarkeit“, „Freude“ etc. zahlreiche (positiv konnotierte) Konzepte in substantivierter Form nennt, deren genaue Bedeutungen nicht erklärt, sondern als geteiltes Wissen vorausgesetzt zu werden scheinen. Selbstverständlich muss der Text als Werbung für ein kommerzielles Angebot gelesen werden: Hier soll etwas attraktiv gemacht und verkauft werden. Laut Beschreibung „schenkt“ das Seminar „Zeit und Raum“, es „bietet wertvolle Gelegenheit“ und „ermöglicht“ positive Erfahrungen – die Anbietenden versprechen also eine Investition in das eigene Wohlbefinden. Die sprachliche Inwertsetzung des Seminars wird verbunden mit der Wertschätzung des Selbst: Wer sich selbst etwas wert ist, (und es sich zeitlich, finanziell etc. leisten kann), wird sich konsequenterweise auch durch den Kursbesuch etwas Gutes tun wollen. Die Idee von Gesundheit, die hier implizit aufscheint, trennt Körper und Geist in „körperliche Regeneration“ und „Reflexion zu inneren Einstellungen“. Der Umgang mit beidem müsse – ganz wie im eingangs zitierten BARMER-Artikel zur Achtsamkeit – „kultiviert“, gelernt, verinnerlicht werden. (Selbst-)Heilung setze einen Lernprozess voraus, den die Anbietenden durch den Kurs fördern wollen.7
7 Aufgrund meiner Teilnahme stützt sich diese Interpretation nicht nur auf die in Textform vorliegende Kursbeschreibung. Im praktisch-materiellen sowie körperlich-sinnlich-emotionalen Zusammentreffen der Gruppe, das durch die Anleitung und den Programmablauf strukturiert war, wurde dieser Lernprozess in Verbindung mit der Maxime ‚Nimm dir Zeit für dich, reflektiere dich, spüre dich, achte auf dich‘ für mich (mit)erlebbar.
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In den Gesprächen mit Teilnehmenden provoziert besonders die Frage nach der eigenen Deutung und Erfahrung des im Kurstitel genannten „Inneren Raums“ Erzählungen, die sich als interessantes Interpretationsfeld für Gesundheitsvorstellungen erweisen. Der Kurs als Möglichkeit der Kontaktaufnahme mit sich und mit dem eigenen Körper, so die in den Kursen in Stellung gebrachte Trennung, scheint hier immer wieder als verbindender Topos auf.8 Christoph, ein ca. 55-jähriger Schulleiter aus der Schweiz, hat zum ersten Mal einen Meditationskurs besucht. Im Interview beschreibt er, wie er seinen Arbeitsalltag erlebt und immer wieder versucht, sich durch persönliche Strategien kleine Auszeiten zu verschaffen. Nach dem Kursbesuch erzählt er, wie er die Meditation mithilfe einer App in seinen Alltag integriert habe: „In unserem Wohnzimmer hat’s so einen Sessel und da setz’ ich mich hin“9 (Interview vom 02.11.2017), möglichst jeden Tag eine Viertelstunde lang. Der „Innere Raum“ ist für ihn dabei ein nützliches Bild: Ja, das ist so das, was ich meine mit ‚In mich hinein hören‘, eben spüren, wie es mir geht und was mein Körper dazu sagt, was vor allem Herz und Atem dazu sagen. Und dem auch wieder genug Raum geben, also das merk’ ich jetzt auch beim Meditieren, dass ich immer am Anfang aktiv meinen Bauch entspannen muss, zum Beispiel. (Interview vom 02.11.2017)
Der Körper wird hier von Christoph als Akteur konzeptioniert, den man spüren und dem man zuhören kann. Die häufige Verwendung von „ich“ und „mein“ markieren das Meditieren als persönliche und reflexive Praxis, als Möglichkeit der Kontaktaufnahme mit sich selbst. Der erhoffte Effekt in Bezug auf die eigene Gesundheit besteht vor allem darin, auf negative Empfindungen (Spannungen, Schmerzen, ungute Gefühle) aufmerksam zu werden, diese als solche wahrzunehmen und eingreifen zu können. Für Christoph ermöglicht dies die Meditation im Gegensatz zu seiner alltäglich-routinisierten Wahrnehmung. Hat er Kontakt zum Körper hergestellt, kann er entsprechend mit ihm umgehen und seinen Bedürfnissen gerecht werden. Der Kurs ermöglicht dieses reflektierte Spüren, weil er räumlich und zeitlich dem Alltag enthoben ist und durch die vermittelten Inhalte und Methoden den Blick ganz gezielt auf die Wahrnehmung von Körper und Gedanken lenkt. Die Meditation kann als Technik im Kurs eingeübt und später im Alltag herangezo-
8 Zum Umgang mit dem Toposbegriff in der volkskundlich-kulturanthropologischen Erzählforschung und seiner Bedeutung als Strukturmerkmal des autobiografischen Erzählens siehe Schröder (2005). 9 Aus Gründen der besseren Lesbarkeit sind die Zitate sprachlich geglättet und ohne Pausenzeichen wiedergegeben, außerdem wurden die Befragten pseudonymisiert.
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gen werden, um sich – wie Christoph es im folgenden Zitat beschreibt – einen Überblick über den eigenen Zustand zu verschaffen. Ja, spüren wie’s mir geht. Und mir Zeit nehmen zum Nachforschen, wie’s mir geht und das, nicht Grübeln, sondern eben durch Meditation in mich hineinhören und sagen, ah, merken, wie ist der Atem, wie ist mein Gemütszustand, bin ich schlapp, ist mein Kopf voll und das kann ich vor allem machen, wenn ich so ‘n Bodyscan versuche. (Interview vom 02.11.2017)
Christoph beschreibt die Meditation als gesunde Alternative zum Grübeln, denn sie liefere ihm Auskünfte darüber, wie es ihm gerade gehe und an welchen Stellen er etwas zum Positiven verändern könne. Er aktiviert damit eine Vorstellung des Körpers als „heilsam begrenzendem Ratgeber“ (Abraham 2011), der wahrzunehmender Akteur und zu modifizierendes Objekt in einem ist. Karin, eine weitere Teilnehmerin des Kurses und ebenfalls ca. 50 Jahre alt, hat in jüngerer Zeit einige familiäre Krisen und Umbrüche erlebt. Nach zwei Umzügen versucht sie, ihren Alltag wieder in strukturierte Bahnen zu lenken. Zum Zeitpunkt des Interviews ist sie erwerbslos und macht eine Weiterbildung. In dieser Lebensphase und inspiriert durch den Kurs hat Karin Meditation als hilfreiche Technik für sich entdeckt: Ja, weil ich gemerkt hab’, dass ich das dringend brauche. Ich hab’ gemerkt, dass ich unglaublich unruhig bin innerlich und angespannt, auch am Körper und da hilft einfach die Meditation, wirklich durch’s Achten auf die Atmung und das Hinschauen, ‚Wie geht’s überhaupt meinem Körper?‘, dass mir das extrem gut tut. Ich hab’ gemerkt, dass das ein super Werkzeug ist, und, Werkzeug find’ ich ein blödes Wort, aber dass das einfach total hilfreich ist, das täglich einzuüben, dass man da, auch wenn’s nur zehn Minuten sind, ’ n bisschen runterfährt und alles ein bisschen klarer sieht, mit Abstand sieht und einfach trotzdem wach bleibt und das finde ich total klasse. (Interview vom 27.10.2017)
Karin erzählt eine Erkenntnis- und Lerngeschichte: Am Anfang stand für sie eine Entdeckung („Ich hab’ gemerkt, dass“), die sie zum Handeln veranlasste. Sie beschreibt im Weiteren, wie sie das ‚Problem‘ angegangen ist und welche positiven Effekte sie festgestellt hat. Am Ende gerät die Lerngeschichte zu einer Erfolgsgeschichte, indem die eigene Defizitarität mittels der im Kurs erlernten Techniken in kontrollierbare Bahnen gelenkt wird. Karin präsentiert sich selbst als gestaltende Kraft ihres Wohlbefindens. Ihre Reflektiertheit und ihre Handlungsmacht scheinen in ihrer Erzählung immer wieder in der Formulierung „Ich hab’ gemerkt“ auf, so bereits am Anfang durch ihr Erkennen eines Lernbedarfs, der durch negative körperliche Empfindungen begründet wird. Durch die Kursteilnahme und das Erlernen von Meditationstechniken kann sie diesem Bedarf begegnen. Sie beschreibt die Meditation – wie Christoph – als Möglichkeit einer innerlichen Bestandsaufnahme, die sie ei-
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genständig durchführen könne. Dabei kann sie selbst entscheiden, wann und wie sie die Meditation durchführt. In Karins Schilderung taucht wieder das Bild des Körpers als „innerem Raum“ auf, der sich gleichzeitig als „Körper im Raum“ ständig mit seiner Umgebung auseinandersetzen und mit dieser umgehen muss. Ähnlich wie im Fall von Christoph wird der Körper zu einem (fast fremden) Akteur mit seinen Eigenlogiken: Es sei wichtig, seine Sinne auf ihn zu richten und genau hinzusehen, hinzuhören, hinzuspüren. Gleichzeitig wird der Körper als ein Objekt der Zurichtung aufgefasst, wenn er in funktionalistischer Manier mithilfe des „Werkzeugs“ Meditation optimiert werden soll. Die sofort nach Gebrauch des Begriffs „Werkzeug“ eingeschobene Abschwächung dieser Begriffswahl – „Werkzeug find’ ich ein blödes Wort“ – macht deutlich, dass Karin die Konzeption ihres Körpers als Maschine ablehnt. Für Karin steht der positive, selbstfürsorgerische Aspekt der routinisierten Meditationspraxis im Vordergrund – der aber eben durch eine spezifische Technik realisiert werden kann und soll. Ein weiterer Teilnehmer betont die positive Wirkung der Kursbesuche, indem er sie als „Erfrischung“, „Vitaminsaft“ und „aktive Impfung“ (Interview vom 30.10.2017) beschreibt. Die Idee, durch den Kursbesuch ,geimpft‘ zu werden, also sich mithilfe der erlernten Inhalte gegen Anforderungen wappnen zu können, spielt für Beate eine besondere Rolle. Sie ist zum Zeitpunkt des Interviews 53 Jahre alt, in der Pflege tätig und muss aktuell selbst mit den psychosomatischen Nachwirkungen einer Herzoperation umgehen. Sie besucht den Kurs, weil sie das Gefühl habe, wieder besser auf sich achten und einen gesunden Umgang mit Stressoren erlernen zu müssen. Sie beschreibt ihre derzeitige Situation: Also ich, ich bin quasi eine Professionelle des Gesundheitswesen, die jetzt selber ein bisschen kränkelt und sich jetzt noch mit einer gewissen rechtlichen Situation herumschlagen muss und trotzdem eigentlich versuchen soll, gelassen zu bleiben, im Hier und Jetzt, achtsam atmen und versuchen, ja, nicht sich zu sehr über die Ereignisse aufzuregen, die da passieren und trotzdem aber irgendwie merken ‚Wie kann ich aktiv etwas an der Situation für mich selber verbessern?‘, indem ich diese Qualität des entspannten Parasymphatikus trainieren kann mittels den erwähnten oder gelernten Methoden. (Interview vom 26.10.2017)
Beate reflektiert ihre derzeitige Lebenssituation, die mit Anstrengungen, Unsicherheiten und gesundheitlichen Einschränkungen verbunden ist, in Form einer Bestandsaufnahme aus der Vogelperspektive. Sie schildert, wie sie zwischen widersprüchlichen Anforderungen aufgerieben wird, die sie selbst und andere an sie stellen. Dabei glaubt sie, diesen höheren Kräften ausgeliefert zu sein. Indem sie zunächst von sich in der dritten Person spricht, drückt sie schließlich eine gewisse Entfremdung aus. Sobald es um ihre aktive Rolle und ihre Handlungsmöglichkeiten in dieser schwierigen Situation geht, wechselt Beate jedoch wieder in
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die Ich-Form. Sie wählt in Bezug auf den auch als Ruhe- oder Erholungsnerv bezeichneten Parasympathikus das Verb „trainieren“, was den Kurs in ihrer Schilderung zu einer Art Wellnesstraining für den Geist und den entspannten Körper macht. Später im Gespräch führt sie dazu weiter aus, dass die Meditationspraxis für sie mindestens so wichtig ist wie regelmäßiges Krafttraining, wo man nach außen sehen und wahrnehmen kann, oder? Wenn Muskeln wachsen, was man ja beim Parasymphatikus so direkt nicht feststellen kann, wenn der gut ausgebildet ist und das System im Körper sich selber regulieren kann, in jeder Situation anpassungsfähig ist und vor allem eben auch in der Lage ist, sich schnellstmöglich auch regenerieren kann. (Interview vom 26.10.2017)
Beate stellt sich vor, dass dieses Training sie – ganz im Sinne der vielbeschworenen Resilienz10 – widerstandsfähiger gegen Belastungen macht. In Beates Schilderung deutet sich ein Verständnis von Gesundheit an, das sich an Anpassungsfähigkeit und Rollenerfüllung orientiert. Diese Dimension von Gesundheit wird besonders in Psychologie und Soziologie betont (Franke 2008, 34). Gesundsein in diesem Sinne bedeutet, eigenen und fremden Anforderungen genügen zu können, stark und kräftig genug zu sein für die anliegenden Aufgaben und seine beruflichen und familiären Angelegenheiten erledigen zu können. (Franke 2008, 34)
Für Beate zeichnet sich ein gesunder Mensch dadurch aus, dass er trotz Stress leistungsfähig bleibt und unter der Belastung nicht zusammenbricht, sondern sich sozusagen selbst reparieren kann. Beates Sichtweise wird vor dem Hintergrund ihrer negativen Erfahrungen mit gesellschaftlichen Anforderungen, gerade auch in Krankheitszeiten, und dem Befund, dass die Arbeitsfähigkeit „der zentrale Prüfstein für die Leistungsfähigkeit in unserer Gesellschaft ist“ (Franke 2008, 35), als Strategie verstehbar, die Körper und Geist durch erlernbare Techniken von innen heraus gegen schlechte Einflüsse schützen will. Im Rahmen des Meditationskurses wird das Erzählen von Gesundheit zu einem Erzählen vom Körper: Der Kontakt zu ihm wird von den Teilnehmenden reflektiert – so wie es der Kurs laut Beschreibung ermöglichen will. Diese achtsame Innenschau, die den Blick auf Gedanken und Gefühle miteinschließt, ist für die AkteurInnen im Alltag nicht selbstverständlich. Sie wird im Kurs durch das Kennenlernen von Techniken vermittelt und kann so, basierend auf den Deutungen der Teilnehmenden, als Schritt auf dem Weg zu einer gesundheitsorientierten Lebensführung interpretiert werden. Durch die Meditation können die AkteurInnen das eigene aktuelle Wohlbefinden einschätzen und gegebenen-
10 Vgl. dazu Hall und Lamont (2013), Neocleous (2013). Siehe u. a. aus kulturwissenschaftlicher Perspektive zum Resilienzbegriff Noyes (2016).
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falls aktiv verbessern, um sich dann wieder gestärkt den Anforderungen des Lebens stellen zu können. Die Kurserfahrungen führen den Teilnehmenden ihre Selbstwirksamkeit und Handlungsmacht vor Augen: Sie können lernen, mit eigenen und äußeren Ansprüchen auf eine gesunde Art und Weise umzugehen. Diese Eigenverantwortlichkeit des/der Einzelnen kann als Gleichzeitigkeit von Pflicht und Chance interpretiert werden. Selbstoptimierungstendenzen durch Techniken wie die Meditation sind in den Schilderungen ebenso wie in den Praktiken eng mit selbstfürsorgerischen Potenzialen verwoben. Die AkteurInnen deuten Gesundheit gleichzeitig als Leistungsfähigkeit – im Sinne des Erfüllens persönlicher, familiärer und gesellschaftlicher Ansprüche – und als individuelles Wohlbefinden.
4 Waldbaden: In der Natur zu sich selbst finden Die von mir erforschten Kursangebote unterscheiden sich augenfällig voneinander in Faktoren wie den vermittelten Techniken, dem Veranstaltungsort oder der Gruppenzusammensetzung. Während diese Eigenlogiken stets im Blick behalten werden müssen, lassen sich aber auch Parallelen in den Narrativen, Deutungen, Praktiken und Objekten feststellen. Ich werde im Folgenden ein weiteres Kursangebot und dessen Gesundheitsnarrative in den Fokus rücken und in der Analyse Gemeinsamkeiten mit dem bisher Gesagten aufzeigen sowie weitere Aspekte in Bezug auf das Erzählen von Gesundheit herausarbeiten. Beim sogenannten Waldbaden verbringt man als Gruppe mehrere Stunden unter Anleitung im Wald. Der Name leitet sich vom japanischen shinrin yoku ab, was übersetzt so viel heißt wie ‚in der Waldluft baden‘.11 Anders als bei sportlichen Aktivitäten oder einem botanischen Spaziergang geht es darum, sich selbst und die Umwelt im Wald ganz bewusst und mit allen Sinnen wahrzunehmen.12 Durch Meditationen, entschleunigtes Gehen, Atem- und Sinnesübungen soll ein Abstand zum Alltag und zu gewohnten Mustern und Erfahrungen gewonnen werden, der als entspannend und erholsam empfunden wird.
11 Das Waldbaden hat sich mittlerweile zu einem medial vielbeachteten Phänomen entwickelt. Siehe beispielhaft Bernjus und Cavelius (2018), Kemper (2018) sowie zahlreiche Fernsehbeiträge u. a. in Formaten der ARD. 12 Das Waldbaden unterscheidet sich laut Konzeption sowie auch meiner Erfahrung als Teilnehmerin nach von einem Spaziergang im Wald dadurch, dass bestimmte Achtsamkeitsübungen unter Anleitung durchgeführt werden. Dabei steht das achtsame Im-Wald-Sein und Bei-sich-Sein im Vordergrund und nicht das Zurücklegen einer bestimmten Strecke: Beim Waldbaden wird eigentlich nur eine sehr kurze Strecke in einem Zeitraum von mehreren Stunden gegangen.
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Die zwei Waldbadenwochenenden (davon eines im Sommer und eines im Winter), die ich im Rahmen meiner Forschung besuchte, fanden im Nordschwarzwald statt. Samstag und Sonntag gingen wir jeweils für vier Stunden in den Wald. An dem Angebot nahmen pro Tag etwa fünf bis zehn Personen teil, davon gehörten die meisten der Altersgruppe von 50 bis 70 Jahre an. Die Teilnehmenden kamen teilweise aus der Umgebung, viele hatten aber auch eine längere Anfahrt von bis zu zwei Stunden gehabt.
4.1 Feldtagebuch I An einem sonnigen Samstagmorgen Ende Juni 2018 mache ich mich gemeinsam mit fünf anderen Teilnehmenden und der Anbieterin Elke von einem Dorf im Nordschwarzwald aus auf den Weg. Nach einem ca. 15-minütigen Spaziergang kommen wir am Waldrand an und Elke beginnt mit ihrer Einführung in das vierstündige Waldbaden, das nun vor uns liegt. Zunächst stellt sie sich als Biologin, Naturpädagogin, Yogalehrerin und Entspannungstrainerin vor. Waldbaden sei gerade in Deutschland ja „in aller Munde“, es komme aber „eigentlich aus dem Japanischen“, dort sei schon 1982 ein Wald zum Heilen auserkoren worden. Anfang der 2000er Jahre habe, vor allem in Japan, eine intensivere wissenschaftliche Erforschung des Zusammenhangs von Natur bzw. Wald und Gesundheit begonnen. So sei der positive Effekt des Waldbesuchs auf den menschlichen Körper bewiesen worden: Die Kommunikationsmoleküle der Bäume machten auch etwas mit dem Menschen, ließen Cortisol-Werte und Blutdruck sinken und die Zahl der Killerzellen und Anti-Krebs-Proteine steigen.13 Elke folgert daraus: „Wer eine Erkrankung hat, tut gut daran, sich häufiger im Wald aufzuhalten. Es hält einen gesund, es hält einen fit.“ Aber auch wer nicht krank sei, profitiere von der „Kraft und Energie“, die der Waldbesuch schenke. Das begründet Elke mit dem Kontakt zur Natur, der „uns“ verloren gegangen sei: „Wir sind eigentlich Wesen, die gehören in die Natur. Und haben uns in den letzten paar hundert Jahren so ein bisschen entfernt, entfernen uns immer ein bisschen mehr und merken auch, dass es uns nicht gut tut.“ Elke betont neben den positiven Effekten auf die Gesundheit und den wiederhergestellten Naturkontakt außer-
13 Zur dazu gegensätzlichen Miasma-Theorie des 18. Jahrhunderts, die in der Waldluft einen Krankheitsauslöser sah, siehe Lehmann (1999, 45–47).
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dem, dass die Zeit des Waldbadens eine freie Zeit sei: Man müsse nichts machen, einfach nur da sein, „Einsinken, sich Einlassen auf was uns die Natur gerade bietet, und zwar mit allen Sinnen.“14 Mit dieser Einführung, die ein wesentliches Element des Kursnarrativs darstellt, stimmt Elke die Teilnehmenden auf das Waldbaden ein und bietet einen Deutungsrahmen an. Das Waldbaden wird von ihr als ‚gesund‘ auf verschiedenen Ebenen markiert, wobei sie sich auf wissenschaftliche Erkenntnisse stützt. Die Teilnehmenden konzipiert sie durch den Verweis auf den Kontaktverlust zur Natur und zum eigenen Körper als Suchende, die durch ihre Teilnahme am Waldbaden den ersten Schritt in Richtung einer gesunden Lebensführung gehen. Im Interview bringt Elke dies noch einmal prägnant auf den Punkt: „Wenn man gesund sein möchte, braucht man verschiedene Werkzeuge. Ein Werkzeug ist die Entspannung.“ (Interview vom 01.12.2016) Diese Aussage formuliert Elke gewissermaßen im Stile eines allgemeingültigen Naturgesetzes, was in Zusammenhang mit ihrer Ausbildung als Biologin gestellt und gleichzeitig als Versuch der Komplexitätsreduktion verstanden werden kann. Sie begründet damit die Relevanz ihrer Waldbaden-Angebote, die eben diese Entspannung, Erholung und Entschleunigung ermöglichen sollen. Die Kursinhalte und -erfahrungen werden so technisch-strategisch in Dienst genommen für den höheren Zweck ‚Gesundheit‘ und sollen gleichzeitig ein selbstzweckhaftes Aufgehen im Moment ermöglichen, das nicht schon wieder einer Verwertungslogik unterworfen ist. Diese ambivalente Gleichzeitigkeit von Selbstoptimierung und Selbstfürsorge bildet den Hintergrund der erforschten Kursangebote; Deutungen und Praktiken der Anbietenden und Teilnehmenden oszillieren zwischen diesen Polen. In den rückblickenden Gesprächen über das Waldbaden heben die Teilnehmenden die Erholungsfunktion des Waldes besonders hervor und ordnen ihre Erfahrungen so in den von Elke angebotenen Deutungsrahmen ein. Auf die bewusst offen und erzählgenerierend formulierte Einstiegsfrage in das Gespräch, wie sie das Waldbaden erlebt habe, antwortet die Teilnehmerin Uta (sie ist ca. 55 Jahre alt und hatte zuvor bereits einmal beim Waldbaden mitgemacht): „Sehr stimmig, also schon, sehr ausgleichend, sehr wohltuend, sehr entspannend […] einfach das Langsame, dass man Zeit hat, ohne dass jemand da vorne sagt: schnell, schnell jetzt.“ (Interview vom 08.12.2017) Auffällig ist die Aufzählung positiv konnotierter Adjektive, die auf die empfundenen gesundheitsförderlichen Qualitäten des Waldbadens verweisen; ihre genaue Bedeutung scheint für Uta keiner weiteren Erklärung zu bedürfen. Als weiteren Aspekt führt sie die er-
14 Die Schilderungen und Zitate in diesem Absatz basieren auf Aufzeichnungen in meinem Feldtagebuch (Eintrag vom 30.06.2018).
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lebte Verlangsamung an und macht den Wald damit zu einer „Entschleunigungsoase“ (Rosa 2016 [2005], 143).15 Die 57-jährige Uta schildert im weiteren Verlauf des Interviews, dass sie nicht nur auf der Arbeit Stress empfinde und sich gehetzt fühle, sondern dass dies auch in Freizeitbeschäftigungen wie dem Fahrradfahren in einer Gruppe ihre vorrangigen Gefühle seien. Hier herrschten Konkurrenzdruck und Geschwindigkeitsvorgaben, die den Spaß an der Sache überschatteten. Für Uta haben Freizeitaktivitäten in Gruppen – so der Eindruck, der sich aus dem Interview und während des Waldbadens ergibt – eine große Bedeutung: einerseits deshalb, weil sie alleinstehend ist und auf ein soziales Netz und (vielleicht auch nur flüchtige) soziale Kontakte angewiesen ist; und andererseits, weil sie sich in ihrer Freizeit von der stressigen Erwerbsarbeit erholen will und Ablenkung sucht. Vor diesem Hintergrund verspricht das Waldbaden ihr neue Gruppenerfahrungen, die anderen zeitlichen und sozialen Logiken folgen als die Fahrradgruppe und die sich ‚gesünder‘ für sie anfühlen. Weiterhin positiv in Erinnerung geblieben ist ihr, dass man so unberührte Natur betreten hat, alles so still war und ruhig war, […] dass man nicht immer reden muss, also dass man so für sich ist, dass man sich nicht ständig auf irgendjemanden konzentrieren muss […] so hat man sich mal auf sich selber konzentrieren können, also ‘ne Stimmung oder eigene Gedanken. (Interview vom 08.12.2017)
Der Wald bietet Uta Natur, Stille, Ruhe und Konzentration. Die alltägliche Anforderung, auf andere Menschen zu achten, ihnen zuzuhören und auf sie einzugehen, ist während des Waldbadens zugunsten einer kontemplativen, reflexiven Stimmung aufgehoben. Eben diese Aspekte aufgreifend, beschreibt der Soziologe Hartmut Rosa den „Rückzug in die (‚unberührte‘) äußere Natur […] als eine der verlässlichsten Methoden, die Stimme unserer inneren Natur (gegen den ‚Lärm der sozialen Welt‘) vernehmbar zu machen“ (Rosa 2018, 456, Hervorheb. im Original). Im Gegensatz zur Fahrradgruppe ist es beim Waldbaden möglich, ja sogar programmatisch verankert, gleichzeitig in der Gruppe und allein zu sein.
15 Gemäß Hartmut Rosa kann die Entschleunigungserfahrung während des Waldbadens einerseits in die „Ideologie radikaler Verlangsamung“ (Rosa 2016 [2005], 146) eingeordnet werden, die sich dezidiert gegen die modernen Beschleunigungskräfte richte und „Schutzräume“ der Entschleunigung schaffen wolle. Andererseits – ich würde anhand meines Materials argumentieren: gleichzeitig – kann sie selbst als „Akzelerationsstrategie“ (Rosa 2016 [2005], 149) interpretiert werden: „Auf der Ebene der Individuen lassen sich etwa Einkehr-Aufenthalte in Klöstern oder Meditationskurse, Yogatechniken etc. zu dieser Kategorie rechnen, sofern sie letztlich dem Zweck dienen sollen, das schnelle Berufs-, Beziehungs- und Alltagsleben danach umso erfolgreicher, d. h. schneller, zu bewältigen“ (Rosa 2016 [2005], 149).
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Diese Besinnung können die Teilnehmenden auch erleben, indem sie sich als spürende Körper durch den Wald bewegen. Die 50-jährige Ella, die zum ersten Mal beim Waldbaden dabei ist, beschreibt, dass ihr besonders in Erinnerung geblieben sei, wie wir barfuß gegangen sind. Und mit Füßen das zu fühlen. Und aber auch die Zeit, die wir ganz für uns alleine hatten, einfach so frei irgendwie entscheiden, was macht man jetzt? Läuft man ein bisschen oder legt man sich einfach mal hin oder guckt sich was an, träumt ein bisschen? Das fand ich schön, einfach mal von allem loslassen. Nur für sich. (Interview vom 27.07.2018)
Ella hebt die Stunde des Alleinseins im Wald als besonders wertvolles Programmelement hervor. Die Freiheit zu haben, völlig selbstbestimmt zu entscheiden, was in dieser Situation ihren Bedürfnissen entsprach und dann auch danach handeln zu können, ist für Ella eine wesentliche Erfahrung während des Waldbadens. Alltägliche Anforderungen durch Familie, Beruf und Hobbies treten in den Hintergrund und sie kann sich ganz sich selbst widmen. In den Erzählungen beider Teilnehmerinnen klingt – wie schon zuvor im Meditationskurs – die Möglichkeit einer Innenschau an, die als wertvoll und stärkend empfunden wird. Die Natur und speziell der Wald wird in der Deutung der Teilnehmenden zu einem Raum, der durch neue Sinneserfahrungen und den Abstand vom Alltag Entspannung und Erholung bietet. Die Anbieterin Elke beschreibt den Effekt des Waldbadens wie eine kleine Kur: „Die Menschen hole ich ab. Die kommen aus dem Alltag in der Regel und wenn sie zurückkommen, sind sie entspannt und fühlen sich wohl.“ (Interview vom 01.12.2016) Der Wald wird in ihrer Schilderung zu einem nahezu magischen Ort – in den Worten eines Teilnehmers zum „Märchenwald“ (Interview vom 23.07.2018) –, der es vermag, die Menschen aus ihrem alltäglichen Stress herauszuholen – oder mit den Worten des Volkskundlers und Erzählforschers Albrecht Lehmann gesprochen: „Der Wald ist – zumindest als Erzählthema – in das Alltagleben integriert und liefert zugleich das Angebot einer Gegenwelt zu bestimmten Aspekten des Alltagslebens“ (Lehmann 1999, 240). Dies wird durch ein Ritual des Betretens, das Elke in das Waldbaden einbaut, besonders betont: Hierbei lädt sie die Teilnehmenden ein, das Eintreten in den Wald für sich als bewussten Übergang „von dieser ganzen Alltagswelt rein in eine andere Welt“16 zu gestalten. Für Elke selbst bestehe das Ritual, so erzählt sie, darin, in sich hineinzuspüren und sich vorzunehmen, sich bewusst auf die kommenden Erfahrungen einzulassen und im Hier und Jetzt zu sein. Dies beinhalte, alles „draußen“ zu lassen, was sie im Wald nicht brauche. Bernd, der an diesem Tag zum ersten Mal 16 Feldtagebuch, Eintrag vom 30.06.2018.
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beim Waldbaden dabei war, erzählt danach, dass er beim Eintreten in den Wald einen Fichtenzapfen mitgenommen und diesen beim Verlassen des Waldes wieder abgelegt habe. Mithilfe des körperlich wahrnehmbaren, greifbaren Gegenstands verankert sich Bernd im Hier und Jetzt und verbindet sich gleichzeitig mit dem Wald. Mit dem schwedischen Europäischen Ethnologen Orvar Löfgren lassen sich die Erfahrungen der Teilnehmenden mit der Naturmystik des Bürgertums im 19. Jahrhundert vor dem Hintergrund der fortschreitenden Industrialisierung vergleichen. Löfgren stellt bezogen auf die bürgerlichen Ausflüge in die Natur fest: „Das Naturerlebnis wird kontemplativ und sakral, es wird zu einem Augenblick der Freiheit, der Ganzheit, der Ursprünglichkeit und des Friedens“ (Löfgren 1986, 127). Mehr als um „wahre Schönheit und Echtheit“ (Löfgren 1986, 127), die das Bürgertum in der Natur gesucht habe, geht es den AkteurInnen in der Gegenwart – so ließe sich anhand des hier analysierten Materials thesenhaft formulieren – um das subjektive körperliche Spüren und Erleben, um eine Kontaktaufnahme mit sich selbst im Naturraum Wald. Dementsprechend liegt die Motivation für sie auch nicht so sehr in einem Bedürfnis zur Flucht aus der Stadtwelt, wie es Löfgren für die BürgerInnen konstatiert, sondern in einer Auszeit von negativen Empfindungen wie Stress, Hektik und Druck. Dabei kombiniert das Waldbaden in der Konzeption durch die Anbieterin und in den Erfahrungen der Teilnehmenden wissenschaftliche Forschung und ‚Fakten‘ zur gesundheitsförderlichen Wirkung sowie zu Botanik und Ökologie mit sehr persönlichen Umgangs- und Sichtweisen und emotionalen Gestimmtheiten der Teilnehmenden. Diese Beobachtung erweitert die Befunde früherer kulturwissenschaftlicher Forschung zu Waldvorstellungen und Waldnutzungen (vgl. Stachow 2000, 228). Einer solchen Kombination aus empirischer Überprüfbarkeit und subjektiven Faktoren des Wohlbefindens bedient sich Elke, wenn sie schildert, wie sie die Verwandlung der Teilnehmenden nach dem Waldbaden beobachten könne: Und so nehme ich das auch bei den Teilnehmern wahr, dass die ruhiger werden, dass die mit der Zeit langsamer gehen, dass die Gesichtszüge sich entspannen. Da könnte man vorher und hinterher Bilder machen, da würde man das sehen, dass die komplett entspannt sind, also sind viel fröhlicher und Gesichtszüge, also die Muskulatur, der Muskeltonus lässt nach und das lässt sich natürlich im Gesicht ganz besonders gut beobachten. (Interview vom 21.12.2017)
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Ein Besuch im Wald wirke wohltuend auf physischer und psychischer Ebene: Die Menschen seien entspannter, gelöster, fröhlicher.17 Gesundheit im Sinne von Wohlbefinden ist hier als etwas Herstellbares konzipiert. Unter Anleitung könne eine wohltuende Kontaktaufnahme mit sich selbst ‚in der Natur‘ praktiziert werden. Dieser Befund lehnt sich an ein Plädoyer des Kulturanthropologen Eberhard Wolff an, der sich dafür ausspricht, „gesundheitsbezogene Phänomene als Produkt eines kulturellen Konstruktionsprozesses zu betrachten“ (Wolff 2016, 446). Auch Hartmut Rosa betont den Konstruktionscharakter der Naturerfahrung, wenn er die hörbare „Stimme der Natur“ (Rosa 2018, 455) im Rahmen seiner Resonanztheorie als Ergebnis der Trennung von Mensch und Natur in der Moderne konzeptioniert. Die innere und die äußere Natur hören und verstehen zu lernen oder, mehr noch: die innere durch die äußere Natur zu begreifen, erscheint dabei als Voraussetzung für ein gelingendes Leben. […] Höre in dich hinein! und Höre auf die Natur! werden auf diese Weise zu zwei komplementären Imperativen, die in einer Haltung und Handlung verschmelzen können. (Rosa 2018, 456–457, Hervorheb. im Original)
Im Waldbaden und speziell in den Erzählungen der hier vorgestellten Teilnehmenden wird diese Verschmelzung besonders augenfällig, wenn die AkteurInnen ihre Natur- und Selbsterfahrungen als konstitutiv aufeinander bezogen deuten.
4.2 Feldtagebuch II Am Ende des vierstündigen Waldbadens setzen wir uns auf eine Wiese am Waldrand und Elke eröffnet die Abschlussrunde, in der Erfahrungen mit den anderen Teilnehmenden geteilt werden können. Während Bernd meint, er wolle lieber „noch im Körper bleiben und nicht schon wieder in den Kopf gehen“, nutzt Ella die Gelegenheit, von ihren Wahrnehmungen zu berichten.18 Im Gespräch über das Waldbaden, das wir einige Wochen später führen, erklärt sie: Da ist es mir jetzt eigentlich ganz, relativ leicht gefallen, da noch was dazu zu sagen. Und manchmal gab’s auch schon so Situationen, zum Beispiel hab’ ich auch mal so ‘n Kurs gemacht für Mutter-Kind-Gruppen. […] Und da haben wir das auch öfter schon gemacht, so Gesprächsrunden und hinterher sollte man irgendwas erzählen, wie man sich gefühlt
17 Elkes Eindrücke werden gestützt von zahlreichen Studien zur Erholungsfunktion des Waldes. Vgl. als Auswahl Chen, Yu und Li (2018); Song, Ikei und Miyazaki (2017); Meyer-Schulz (2017). 18 Die Schilderungen und Zitate in diesem Absatz basieren auf Aufzeichnungen in meinem Feldtagebuch (Eintrag vom 30.06.2018 und 01.07.2018).
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hat und da ist es mir schwerer gefallen. Also es ging jetzt besser, mich so zu öffnen. Vielleicht weil man’s auch schon öfter mal gemacht hat. Ja, und weil ich auch wirklich das so empfunden habe, dass mich das entspannt und dass ich runterkomme und, also, ich hatte so wirklich das Gefühl, dass ich es auch erzählen konnte. (Interview vom 27.07.2018)
Ella reflektiert das reflexive Erzählen, also das Erzählen über sich, über eigene Gefühle und Wahrnehmungen. Sie stellt die Fähigkeit dazu als erlernbar dar, indem sie schildert, wie sie in früheren Erzählkontexten üben konnte, sich zu öffnen und über sich zu sprechen. Ella vergleicht ein Früher, als sie es noch nicht so gut konnte, mit dem Jetzt, wo sie sich als erfolgreiche Selbst-Erzählerin erlebt. Auf sprachlicher Ebene markiert sie den Vergleich mit der Wendung, es sei ihr „relativ leicht gefallen“. Ella setzt so ihre Erfahrungen in der Gegenwart in Bezug zu früheren Erfahrungen. Sie praktiziert damit eine Kombination aus reflexivem und relationalem Erzählen, indem sie sich reflektierend in Bezug zu ihrer eigenen Biografie setzt. Augenfällig ist auch der wechselseitige Zusammenhang zwischen Wahrnehmen und Erzählen, den Ella herstellt. Während sie in der Mutter-Kind-Gruppe „irgendwas erzählen sollte“, sind die Schilderungen nach dem Waldbaden „wirklich so empfunden“, das „Gefühl“ der Entspannung und Ruhe sei „wirklich“ da gewesen. Ella macht damit deutlich, dass nur die ‚echte‘ Wahrnehmung erzählt werden kann und dass diese zugleich durch die Erzählbarkeit, also intersubjektiv vermittelt, umso realer wird. Zwei weitere Aussagen Ellas unterstreichen die Relevanz des relationalen Erzählens als Form des Erzählens über sich selbst, den eigenen Körper und die eigene Gesundheit. Sie hat gemeinsam mit drei Freundinnen am Waldbaden teilgenommen. Über das Erlebnis dieser Freundinnen erzählt sie vergleichend: Die [Freundinnen B und C] konnten sich da nicht so drauf einlassen wie [Freundin A] und ich. Aber ich hab’ schon manchmal gesagt, [Freundin A] und ich, wir sind manchmal schon weiter, weil wir beide schon so ‘n gewisses Stresslevel mal erlebt haben. Was wir auch gesundheitlich gemerkt haben und jetzt auch mehr darauf achten, auf mal ‘n Ausgleich oder, ja, Achtsamkeit überhaupt sich zu entwickeln. (Interview vom 27.07.2018)
Ella findet in der biografischen Einordnung eine Erklärung für die unterschiedliche Bewertung des Waldbaden-Erlebnisses durch die Freundinnen. Die Einschätzung, „manchmal schon weiter“ zu sein als die beiden Freundinnen – was sich beim Waldbaden als Fähigkeit des Sich-Einlassen-Könnens zeige –, ist für Ella das Ergebnis eines Lernprozesses. Da sie schon gewisse Erfahrungen mit Stress gemacht habe, könne sie das Waldbaden anders für sich nutzen als die Freundinnen. Der Vergleich dient der Subjektivierung durch die Abgrenzung der eigenen Erfahrungen von den Erfahrungen anderer, und zwar sowohl in Bezug auf das Waldbaden-Erlebnis als auch bezüglich früherer persönlicher Begegnungen mit Stress und Überforderung. Ella stellt dadurch Gesundheitskon-
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zepte und Gesundheitshandeln als Elemente von Subjektivierungsprozessen dar, die sich laut ihrer Deutung in enger Verschränkung von Biografie und psychischphysischen Erfahrungen herausbilden. Im weiteren Verlauf des Gesprächs berichtet Ella von stressbedingten Symptomen und Erkrankungen von Menschen in ihrem Bekanntenkreis: „Was für mich Zeichen dafür sind, dass irgendwo manchmal einfach übertrieben wird und nicht auf den Körper mehr gehört wird, sondern immer weiter gemacht, weiter gemacht und ‚Das muss ja gehen‘.“ (Interview vom 27.07.2018) Erneut bringt Ella den ‚gesunden‘, d. h. den bewussten, zugewandten Umgang mit dem eigenen Körper als Distinktionsmittel in Stellung. Wer seinen Körper als Maßstab für das Wohlbefinden dauerhaft ignoriere, riskiere negative Folgen. Sie kritisiert Selbstoptimierungstendenzen, die in ihrer Deutung mit einer Steigerungslogik – „immer weiter gemacht, weiter gemacht“ – zusammenhängen und dabei die wirklichen Bedürfnisse des Körpers ignorieren. Ella macht damit deutlich, dass für sie die Aufmerksamkeit für sich selbst, das bewusste Hinspüren, eine wesentliche Voraussetzung für Gesundheit sei. Sie legitimiert dadurch ihre Teilnahme am Waldbaden als Gesundheitshandeln, denn laut Kursnarrativ und nach Ellas persönlicher Erfahrung ermöglicht der Waldbesuch diese Kontaktaufnahme mit sich selbst auf besonders erholsame Weise.
5 Gesundheitserzählungen zwischen Selbstoptimierung und Selbstfürsorge Gesundheit ist in gegenwärtigen Kursangeboten mit einem Fokus auf Achtsamkeit, Entschleunigung und Entspannung eine wesentliche Kategorie im Rahmen der diskursiven und praktischen Aushandlung der Beziehung von Selbst, Körper und Welt. Besonders auf Basis der Erzählungen von Anbietenden und Teilnehmenden lassen sich allgemeinere Aussagen über Gesundheit im Kontext von Entspannung und Erholung treffen. Das folgende Fazit fasst zusammen, welche Befunde festgehalten und welche Thesen (auch ausblickhaft) formuliert werden können. Zunächst einmal lässt sich Gesundheit im Rahmen des hier untersuchten Forschungsfeldes im Sinne von subjektivem Wohlbefinden mit den Konzepten Entspannung und Widerstandsfähigkeit gegen Belastungen in Verbindung bringen. Wesentliche Schritte auf dem Weg zu einem gesunden Lebensstil sind für die AkteurInnen die Kontaktaufnahme mit sich selbst und dem eigenen Körper sowie eine Rückbesinnung auf die Erholungsqualitäten von Natur, die über das Waldbaden hinaus in allen Kursen relevant ist.
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Besonders zentral ist für die AkteurInnen das Empfinden von Selbstwirksamkeit und Handlungsmacht in Bezug auf ihr subjektives Wohlbefinden. Gesundheit wird so zu einem angestrebten Zielhorizont, an dessen Erreichung aktiv und selbstverantwortlich gearbeitet werden kann und muss (Hahn 2010). Die Fähigkeit, sich mit sich selbst und den eigenen Bedürfnissen auseinanderzusetzen und entsprechend eigenverantwortlich Techniken anzuwenden, um den eigenen Lebensstil ‚gesund‘ zu gestalten, zeichnet die Teilnehmenden der untersuchten Kurse besonders aus.19 Mithilfe der Beschreibungskategorie des ‚reflexiven Erzählens‘ erscheint der hier aufgestellte Befund unter erzähltheoretischen Gesichtspunkten fassbar und anschlussfähig. Im Erzählen von Gesundheit beziehen sich die AkteurInnen inhaltlich und praktisch auf das Selbst und den Körper zurück. Vorstellungen von Gesundheit, das Sprechen über eine gesunde Lebensführung und Gesundheitshandeln werden individuell gedeutet und ausgestaltet, dabei aber in Relation zu gesellschaftlichen Leitbildern und Anforderungen gesetzt (‚relationales Erzählen‘), die in den Schilderungen implizit als Hintergrundund Vergleichsfolie aufscheinen. So betont auch Eberhard Wolff, dass subjektive Deutungen von Gesundheit aufgrund ihrer allumfassenden Bedeutung für Wahrnehmungen und Sinngebungen über den subjektiven Bereich hinausweisen und allgemeine Identitätskonstruktionen und Weltverständnisse anzeichnen können (2016, 444). Strukturelle Gegebenheiten, die das persönliche Wohlbefinden teilweise einschränken, werden von den AkteurInnen als Herausforderungen kritisch reflektiert, gegen die man sich durch das Erlernen bestimmter Mental- und Körpertechniken wie der Meditation wappnen kann. Die geschilderten ‚Werkzeuge‘ setzen somit nicht bei den Strukturen an, sondern beim Einzelnen und dessen Lebensführung. Das Gesundheitshandeln im Rahmen der Kurse ist entsprechend von einer spannungsreichen Gleichzeitigkeit geprägt: Einerseits machen sich die AkteurInnen durch die erlernten Techniken und Haltungen fit und widerstandsfähig genug, um gesellschaftlichen Ansprüchen genügen zu können und z. B. im Beruf erfolgreich zu sein. Gesundheit bedeutet in dieser Auslegung Leistungsfähigkeit und Rollenerfüllung. Die AkteurInnen betonen aber auch, dass sie sich durch die Praktiken wohler fühlen, entspannter, gelassener und zufriedener sind. Hier steht ein Verantwortungsgefühl für sich selbst und daher Gesundheit als persönliches Wohlbefinden im Vordergrund. Die Gesundheitskonzeptionen der
19 Dies hängt mit der Beobachtung zusammen, dass die Kerngruppe in den Kursen Menschen mittleren Alters mit höheren Bildungsgraden sind, die der Mittel- bis Oberschicht zugerechnet werden können (zum Zusammenhang von Körperverhältnis und Sozialmilieu vgl. Rosa 2018, 173).
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AkteurInnen können nach dieser Lesart im Spannungsfeld von Selbstoptimierung und Selbstfürsorge verortet werden. Die Kurse funktionieren als kommerzielle Angebote, die die Nachfrage nach Möglichkeiten zur Kultivierung von gesundheitlicher Selbstoptimierung und -fürsorge bedienen. Da diese analytisch trennbaren Pole der Optimierung und der Fürsorge im Sprechen und Handeln eng verwoben sind, gilt es, das in diesem Beitrag konstatierte Spannungsverhältnis durch die Potenziale der kulturanthropologischen Erhebungsund Analyseverfahren weiter auszuloten.
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Marcella Fassio
Sich gesundschreiben? Erzählen zwischen Selbstermächtigung und Normativität in Mental Health Blogs 1 Einführung: Von Krisen erzählen, von Gesundheit erzählen Erzählen im Rahmen autobiographischen Schreibens steht oftmals in einer Verknüpfung mit Krisenerfahrungen. Dem Erzählen wird dabei eine therapeutische, heilende Funktion zugesprochen, die dem Schreibenden zur ‚Gesundung‘ verhilft. Das Schreiben wird zu einer ‚Coping-Strategie‘, wie beispielsweise in Wolfgang Herrndorfs Blog Arbeit und Struktur. Das Ich berichtet hier gleich am Anfang von seiner Einlieferung in eine psychiatrische Klinik (Herrndorf, 8. März 2010 13:00). In Rückblenden wird offengelegt, wie es zu dieser Einlieferung gekommen ist: Der Autor erhält die Diagnose eines tödlichen Glioblastoms, in Folge dessen kommt es zu hypomanischen Schüben. Das Schreiben fungiert hier als eine Möglichkeit der „Psychohygiene“ (Herrndorf, 30. März 2010 21:36). Es bietet dem Ich eine Möglichkeit der psychischen Bewältigung der Krise. Während in Arbeit und Struktur eine lebensbedrohliche körperliche Erkrankung Auslöser für das Schreiben ist, erfolgt in Thomas Melles Roman Die Welt im Rücken (2016) die Verhandlung einer psychischen Erkrankung. Melle erzählt dort von seinem Leben mit einer bipolaren Störung. In Rückblicken schildert er die Phasen der Manie und der daran anschließenden Depression. Er muss erzählen, um die Krankheit „begreifbarer zu machen“ (Melle 2016, 18). Auch Melle setzt sich in seinem Text durch das Erzählen mit seiner Krankheit auseinander. Das Schreiben, als eine performative Auseinandersetzung mit der Krankheit, erweist sich hier als Bewältigungspraktik. Schreiben als eine Praktik der Gesundung, im Sinne einer Bewältigung, ist jedoch nicht nur in Texten von Schriftsteller*innen zu finden, sondern auch vermehrt in semi-literarischen Gebrauchsgenres wie Personal Blogs. Diese Verknüpfung von Schreiben und Bewältigung zeigt sich vor allem in Mental Health Blogs, in denen überwiegend depressive Erkrankungen verhandelt werden. Der vorliegende Beitrag arbeitet heraus, inwieweit dem Bloggen auch hier eine Bewältigungsfunktion zukommt und Schreiben zu einem Versuch wird, sich gesundzuschreiben. Dabei steht einerseits das Verhandeln von Gesundheitskonzepten, andererseits die Verknüpfung von Gesundheit und Schreiben im Vorderhttps://doi.org/10.1515/9783110747928-009
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grund. Die leitenden Fragen sind, welche Diskurse von (psychischer) Gesundheit und welche Praktiken des Umgangs mit Mental Health die Blogs aufweisen. Der Aufsatz stellt die Gesundung durch Erzählen als eine mögliche Form des Erzählens von Gesundheit in den Fokus. Der Blick liegt damit auf den narrativ-performativen Praktiken von Gesundheit, also darauf, wie Gesundheit in den Mental Health Blogs durch das Erzählen performativ hervorgebracht wird. In dieser Auseinandersetzung möchte der vorliegende Aufsatz einen Beitrag zur Erforschung von Gesundheitsdarstellungen und -verhandlungen in Depressionsnarrativen sowie zu der Verknüpfung von Narratologie, Medical Humanities und praxeologischer Subjekttheorie liefern. Mit Rückgriff auf Foucaults Konzept der Technologien des Selbst wird Schreiben zunächst als eine Praktik der Subjektivierung und Selbstsorge verstanden. Zudem werden die Mental Health Blogs als „Wirklichkeitserzählungen“ (Klein und Martínez 2016) gefasst. Des Weiteren sind im Folgenden das Publikationsformat des Blogs sowie die Besonderheiten von Krankheitsnarrativen zu berücksichtigen.
2 Praktiken des Selbst nach Foucault Selbst-Technologien seien, so Foucault (1986a, 18), gewußte und gewollte Praktiken […], mit denen sich die Menschen nicht nur die Regeln ihres Verhaltens festlegen, sondern sich selber zu transformieren, sich in ihrem besonderen Sein zu modifizieren und aus ihrem Leben ein Werk zu machen suchen, das gewisse ästhetische Werte trägt und gewissen Stilkriterien entspricht.
Damit stellen sich Selbst-Technologien als Praktiken der Selbst-Konstitution dar, die ein Verhältnis zum eigenen Selbst produzieren (Pritsch 2008, 126). Verknüpft sind diese Praktiken mit der Sorge um sich selbst (Foucault 2005, 970). Dieses Prinzip der Selbstsorge sei, so Foucault (1986b, 62), als ein Imperativ zu verstehen, welcher sich in Praktiken entwickelt und dort niederschlägt. Dabei bildet die Sorge um sich keine „Übung in Einsamkeit, sondern eine wahrhaft gesellschaftliche Praxis“ (Foucault 1986b, 71). In Technologien des Selbst nennt Foucault (2005, 984–985) drei unterschiedliche Selbsttechniken, denen dieses Prinzip der Selbstsorge zugrunde liegt: erstens den Brief und damit „die Enthüllung des Selbst“, zweitens die hypomnêmata (Notizbücher) als „Selbstprüfung und Gewissenserforschung, verbunden in einem Rückblick auf das, was man getan hat, und das, was man hätte tun sollen“, sowie drittens die áskēsis als „Akt des Erinnerns“. Schreiben wird hier zu einer Form der
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Selbst-Technologie (Pritsch 2008, 37). So erscheine das „Schreiben […] sowohl als privilegierter Ort der Transgression des Selbst, als auch der Konstituierung und Selbstvergewisserung. Poetisches Schreiben (aber auch andere Schreibweisen) erhalten die Funktion einer technē, einer Gestaltungstechnik“ (Pritsch 2008, 37). Im Schreiben komme es damit zu einer Konstituierung des Selbst, ausgehend von einer Kultur der Selbstsorge (Foucault 2005b, 977–978). Praktiken des Bloggens, als Form des autobiographischen Schreibens, können so in einem ersten Verständnis als Praktiken der Subjektivierung gefasst werden, d. h. als Praktiken, durch die sich ein Subjekt erst als Subjekt konstruiert und konstruiert wird. Subjektivierung wird damit als performativ und prozesshaft gefasst (Reckwitz 2006, 35). Dies lässt sich mit den grundlegenden Funktionen des Erzählens vereinbaren.
3 Erzählen Erzählen ist als eine Praktik zu verstehen, mit der Handlungen und Ereignisse in einen sinnvollen Zusammenhang gebracht werden. In Anschluss an MarieLaure Ryan (2004, 8) fasse ich Narrative als „cognitive construct, built in response to stimuli that can be found in various media“. In neuen Medien können so auch neue Formen von Narrativen entstehen (Ryan 2005, 20). Narrative können, Genette (2010, 12) folgend, mit Blick auf die histoire, d. h. dem Was des Erzählens, und mit Blick auf den discours, d. h. dem Wie des Erzählens, betrachtet werden. Genette (2010, 12) schlägt vor, das Signifikat oder den narrativen Inhalt Geschichte zu nennen (auch wenn dieser Inhalt nur von schwacher dramatischer Intensität und ereignisarm sein sollte), den Signifikanten, die Aussage, den narrativen Text oder Diskurs Erzählung im eigentlichen Sinne, während Narration dem produzierenden narrativen Akt sowie im weiteren Sinne der realen oder fiktiven Situation vorbehalten sein soll, in der er erfolgt.
Erzählen kann dabei fiktional oder faktual sein (Klein und Martínez 2009, 1–2). Mit Blick auf den autobiographischen Gehalt der Mental Health Blogs ist hier das faktuale Erzählen zentral.
3.1 Wirklichkeitserzählungen Christian Klein und Matías Martínez (2009, 6) bezeichnen faktuale Erzählungen als Wirklichkeitserzählungen, da sie „beanspruchen, auf reale, räumlich und zeit-
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lich konkrete Sachverhalte und Ereignisse zu referieren“. Nach Klein und Martínez (2009, 6) ist das zentrale Merkmal von Wirklichkeitserzählungen ihr konkreter Bezug auf reale Begebenheiten, auf Wirklichkeit: Sie liefern Aussagen über konkrete Sachverhalte unserer Lebenswelt. […] Der Begriff Wirklichkeitserzählung weist außerdem darauf hin, dass Gegenstand […] mündliche oder schriftliche Erzählungen sind, die nicht literarische in einem engeren Verständnis sind, weil sie eben (a) einen Anspruch auf unmittelbare Verankerbarkeit in der außersprachlichen Wirklichkeit erheben […], und/oder (b) keinen hohen Grad an Poetizität aufweisen.
Auch Mental Health Narrative haben einen referentiellen Anspruch und „liefern Aussagen über konkrete Sachverhalte unserer Lebenswelt“ (Klein und Martínez 2009, 6). Nach Klein und Martínez (2009, 13) ist für die Analyse von Wirklichkeitserzählungen „vor allem die Kategorie des Modus relevant und hier erstens die Frage nach der Distanz (wie mittelbar wir das Erzählte präsentiert?) sowie zweitens die Frage nach der Fokalisierung (aus welcher Sicht wird erzählt?)“. Gerade mit Blick auf den intimen Inhalt von Mental Health Blogs sowie der Besonderheit des digitalen Publikationsmediums scheint die Frage nach der Distanz und der Fokalisierung auch in diesen wichtig zu sein.
3.2 Weblogs als Wirklichkeitserzählungen Für die zu untersuchenden Mental Health Narrative ist die digitale Publikationsform zentral, da es sich um Weblogs handelt. Doris Tophinke fasst Weblogs als eine Form von Wirklichkeitserzählung. Als grundlegend für die Erzählperspektive stellt Tophinke (2017, 73) einen homodiegetischen bzw. autodiegetischen Erzähler sowie eine interne Fokalisierung heraus. Dabei differenziert Tophinke zwei Richtungen von Wirklichkeitserzählungen im Internet: In Erzählungen, die als Teil der Beziehungspflege innerhalb von Netzwerken entstehen, geht es vor allem um ‚akzeptabel‘/‚nicht akzeptabel‘ im Sinne einer richtigen, von den Mitgliedern geteilten Deutung von Ereignissen, Erlebnissen und Erfahrungen sowie auch um Relevanz/Irrelevanz der Erzählungen für die sozialen Netzwerke. Erzählungen mit (alltags-)historiographischem und dokumentarischem Anspruch, die das Internet weniger zur Beziehungspflege, sondern stärker als Publikationsmedium nutzen, sind stärker durch die Unterscheidung ‚wahr‘/‚unwahr‘ bestimmt. (Tophinke 2009, 247)
Eine Besonderheit von Weblogs als Form von Wirklichkeitserzählungen sei, so Tophinke, ihre Interaktivität. Dabei liege Interaktivität zum einen aufgrund der Verlinkung, zum anderen aufgrund der Kommentarfunktion vor: Die Blogger/-innen sind – in der Regel – eingebunden in kleinere oder größere BloggerNetzwerke oder bemühen sich darum, Anschluss an ein Netzwerk zu finden. Die Netz-
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werkbildung wird unterstütz durch die Verlinkungsoptionen, mit denen Weblogs von technischer Seite ausgestattet sind. […] Zur Netzwerkbildung kommt es aber vor allem durch Nutzung der Kommentarfunktion, die Weblogs typischerweise besitzen. Durch das Verfassen von Kommentaren bestätigen die Blogger/-innen einander als Mitglieder des Blogger-Netzwerks. Eine besondere Rolle spielen dabei natürlich positive Kommentare, etwa auch solche, die zur Veröffentlichung weiterer Texte auffordern. (Tophinke 2009, 266)
Damit finde auch eine Verlängerung des Erzählens im Kommentarbereich statt (Tophinke 2009, 255). Blogs weisen außerdem bereits existierende narrative Strukturen auf: Im Falle der narrativen Weblogs sind hier zum einen interaktive Modelle wichtig, etwa der Chat, aber auch das konversationelle Erzählen im Alltag. Zum anderen spielen stärker literate, an das Medium der Schriftlichkeit gebundene Modelle, hier vor allem die Alltagschronistik, eine wichtige Rolle. (Tophinke 2009, 265)
Zwar unterscheiden sich Weblogs von mündlichen Alltagserzählungen dadurch, so Tophinke (2009, 271), dass sie „nicht in Koproduktion mit kopräsenten Leser/-innen“ entstehen. Allerdings liege durch die Möglichkeit des Kommentierens eine Form von Koproduktivität vor. So können hier „den mündlichen Alltagserzählungen ganz ähnlich – die Geschichten bewertet werden“ (Tophinke 2009, 271–272). Dadurch werde schließlich „die Illusion der Kopräsenz und der Partizipation an einem sich aktuell dynamisch entfaltenden Interaktionsgeschehen“ erzeugt (Tophinke 2017, 72). Grundlegend ist in den Weblogs die Konstruktion und Aushandlung von Identität, bei der die Interaktivität eine zentrale Rolle einnimmt (Tophinke 2009, 264). Tophinke (2009, 268) spricht zudem die wichtige Rolle der Adressierung an, die in Blogs stattfindet. Weblogs werden zu Orten der Selbstvergewisserung und der Selbstdarstellung und bilden schließlich „in Verbindung von medialer Schriftlichkeit und Interaktivität“ einen spezifischen Ort des Erzählens (Tophinke 2009, 273). Das Erzählen in Blogs ist somit durch das digitale Medium bedingt. In Anlehnung an Ruth Pages (2010, 427) Definition von Facebook-Narrativen können Blog-Narrative als episodische Narrative verstanden werden, die von Erlebnissen berichten, die zeitlich geordnet und markiert sind und die einem erzählenden Subjekt zugeordnet werden können. Dabei kann die Narrativität graduell unterschiedlich sein, abhängig davon, inwieweit die Postings zueinander in Beziehung gesetzt werden. Ähnlich wie Narrative in Sozialen Netzwerken lässt sich das Erzählen in Blogs als seriell erzähltes, fragmentiertes „networked narrative” (McNeill 2012, 78) fassen. Die Mental Health Blogs sind schließlich mit Blick auf diese spezifischen Eigenheiten des digitalen Erzählmediums und die dort vorhandene Kommunikationssituation zu betrachten. Zudem ist zu klären, welche Besonderheiten hinsichtlich des erzählten Inhalts – Gesundheit und Krankheit – vorliegen.
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4 Narrative von Krankheit und Gesundheit Eine gängige Definition von Gesundheit gibt die Verfassung der Weltgesundheitsorganisation. Dort heißt es: „Gesundheit ist ein Zustand vollkommenen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlbefindens und nicht allein das Fehlen von Krankheit und Gebrechen.“ (WHO 2014) Gesundheit wird somit nicht nur als Abwesenheit von Krankheit verstanden. So heben auch Bettina von Jagow und Florian Steger (2009, 96) hervor, dass „Gesundheit […] mehr als ein Gegenbegriff zu Krankheit“ sei. Krankheit und Gesundheit werden nicht (nur) als zwei gegenüberliegende Pole gefasst: „Gesundheit und Krankheit sind zwei sich überlappende Konzepte, deren Pole ganz gesund und ganz krank sind, auf deren Verbindungslinie allerdings graduelle Positionen zwischen gesund und krank liegen.“ (von Jagow und Steger 2009, 97) In Narrativen, in denen eine Verknüpfung von Schreiben und Krisenbewältigung vorliegt, bildet zumeist die Krankheit den Ausgangspunkt der Erzählung. Die Krankheit ist dabei oftmals überhaupt erst der Grund für das Schreiben. Um hier eine Einordnung der Mental Health Blogs vornehmen zu können, soll im Folgenden ein Überblick über Eigentümlichkeiten von Krankheitsnarrativen gegeben werden. Bei der Betrachtung von Krankheitsnarrativen kann zwischen illness narratives, als autobiographische, und narratives about illness, als professionelle Narrative über Krankheit unterschieden werden (Dorgeloh 2012, 261–262). Die Narrative über Krankheit bestehen zumeist aus Erzählungen des medizinischen Personals über die erkrankten Patient*innen (Hydén 2005, 293). Hydén (2005, 293) stellt zudem das narrative as a clinical tool als Form des Krankheitsnarrativs heraus. Auch diese Form des Erzählens als klinisches Werkzeug, das beispielsweise im therapeutischen Gespräch zum Ausdruck kommt (Hydén 2005, 294), lässt sich dem professionellen medizinischen Bereich zuordnen. Die (auto-)biographischen illness narratives beschreiben schließlich „the illness process, the form of treatment, whether treatment is the traditional medical one or an alternative medical one, and finally the person’s eventual recovery or death“ (Hydén 2005, 294). Autobiographische Krankheitsnarrative werden zumeist als Möglichkeit des kranken Subjekts aufgefasst, eine Stimme im medizinischen Diskurs zu erlangen. Anne Hunsaker Hawkins (1999, 12) stellt in Reconstructing illness heraus: „Pathography restores the person ignored or canceled out in the medical enterprise, and it places that person at the very center. Moreover, it gives that ill person a voice.“ Dabei werde das eigene Erzählen auch zu einer Alternative zu den medizinischen Narrativen. Das Ich erlangt im Schreiben wieder Kontrolle über das Leben. Im Schreiben wird Bedeutung konstruiert, im Erzählen wird der Krankheit Sinn zugeschrieben, Bruchstücke werden zu einem Ganzen zusammengefügt (Hunsaker Hawkins 1999, 18). Erzählen von der eigenen Krankheit
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schafft somit die Möglichkeit einer Selbstermächtigung. Hierbei wird dem Erzählen oft auch die Funktion des Therapeutischen, des Bewältigens traumatischer Ereignisse zugesprochen (Hunsaker Hawkins 1999, 24). Das Schreiben über die Krankheit wird zu einem Kommunikationsakt mit der Öffentlichkeit und damit auch zu einer Hilfe für andere Betroffene: Pathography can also be seen as the final stage in the process of formulation, completing the bridge between the suffering self and the outside world by an overt act of communication. Moreover, in pathography the need to tell others so often becomes the whish to help others […]. (Hunsaker Hawkins 1999, 25)
Den Krankheitsnarrativen liegen des Weiteren Mythen-Strukturen zugrunde: „Over and over again, the same metaphorical paradigms are repeated in pathographies: the paradigm of regeneration, the idea of illness as battle, the athletic ideal, the journey into a distant country, and the mythos of healthymindedness.“ (Hunsaker Hawkins 1999, 27) Das Gesundheitsbewusstsein sei dabei selbstermächtigend und unterstreiche die Selbstkontrolle und Selbstverantwortung der Erkrankten (Hunsaker Hawkins 1999, 129). Arthur Frank (1994, 5) unterscheidet zudem zwischen drei unterschiedlichen Erzählstimmen in illness narratives: „the restitution story, the chaotic story, and the quest story“. Die Stimme der Restitution meint die Wiederherstellung des Gesundheitszustandes (Frank 1994, 5). Innerhalb des Restitutionsnarrativs verbleibe das Ich innerhalb der medizinischen Zuschreibung (Frank 1994, 10). Die chaotische Erzählstimme zeichne sich hingegen durch das Paradox aus, dass die Unmöglichkeit des Erzählens erzählt wird. Als Merkmal dieser chaotischen Stimme stellt Frank (Frank 1994, 7) den Schrei oder das Schweigen, die narrativen ‚Löcher‘ in Krankheitsnarrativen heraus. Als dominanteste Stimme nennt Frank (Frank 1994, 7–8) das quest narrative, also das Narrativ der Suche bzw. der Selbstfindung: These narratives recall the journey of the mythological hero […]. The three basic stages are the call, the road of trials, and the return. The call in illness narratives consists of recognizing a symptom not just as the sign of a disease but as the beginning of a journey. Accepting the call means accepting the illness as affecting one’s life. The issue is not restitution but working out the changes illness brings. These changes occur in the course of trials, including the sufferings of surgery and stigma. The trials are not minimized, but they are progressively understood as teaching something and thus they gain meaning. (Frank 1994, 7–8)
So stehe am Ende des Narrativs der Suche auch nicht die Genesung, sondern die Erneuerung des Subjekts (Frank 1994, 12). Am Ende gebe es keine Sicherheit einer Wiederherstellung, vielmehr werde der Mangel der Krankheit transformiert (Frank 1994, 12). Das Narrativ der Selbstfindung ist damit stark mytholo-
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gisch geprägt, die Krankheit stellt hier eine Möglichkeit dar das eigene Leben zu ändern. So sieht auch Hunsaker Hawkins (Hawkins 1999, 31) eine Ähnlichkeit zwischen Pathographien und autobiographischen Darstellungen von religiöser Konversion. Die Besonderheiten von Erzählen speziell im psychotherapeutischen Diskurs stellt Brigitte Boothe heraus. So teile „[a]uch im Falle psychischer Erkrankungen […] der Leidende seine individuelle Geschichte mit, deren Verständnis ein Schlüssel zur Gesundung sein kann“ (Boothe 2009, 52). Zentral sei dabei, dass das Kranksein Teil ihres Lebensentwurfs und eines neuen Selbstverständnisses [wird]. Sie positionieren sich neu als Individuen, für die […] der Schmerz Teil ihre Situation wird. Diese Strategien der Bewältigung, des Coping, lassen sich besonders gut als narrative Formen der Selbstmitteilung erfassen […]. (Boothe 2009, 54)
Boothe (2009, 75) verweist zudem auf die narrative Konstruktion des Ichs im psychotherapeutischen Gespräch: „(Ich-)Erzähler und erzähltes Ich sind nicht identisch und somit nicht austauschbar. […] Der Erzähler stellt sein Ich her. Die Figur wird konstruiert nach Optionen narrativer Figurengestaltung.“ Wie Hunsaker Hawkins hebt auch Boothe (2009, 56) die mythischen Strukturen von Krankheitsnarrativen hervor: Der kulturelle Topos von Krankheit als Verfassung der Empfänglichkeit für das Außer-Ordentliche, aus der heraus religiöse und künstlerische Artikulation möglich wird, hat lange Tradition. Jenseits von Religion und Weltliteratur ist das Krankheitsnarrativ als Chronik, Dokumentation, Manifest, Zeugnis und autobiographische Selbstvergewisserung höchst aktuell und höchst vielgestaltig.
Die Möglichkeit der Bewältigung von traumatischen Erlebnissen durch Sprache stellen schließlich auch Gabriele Lucius-Hoene und Carl Eduard Scheidt heraus. Das Potential des Erzählens sehen sie dabei zum einen auf der Textebene, da „[d]ie Versprachlichung, die der Erzähler zu vollziehen hat, impliziert, dass er im Erzählen eine andere erkenntnistheoretische Position einnimmt als die des Protagonisten der Erfahrung“ (Lucius-Hoene und Scheidt 2017, 238). Zum anderen sei die interaktive Gestaltung des Erzählens zentral für die Bewältigung (Lucius-Hoene und Scheidt 2017, 238). Das Erzählen könne dabei in unterschiedliche Formen als Bewältigungsleistung fungieren, unter anderem „als Strukturierung des Problems und als kognitive Ordnungsleistung“, „als Rückgewinnung von Kontrolle und Ableitung von Handlungsmöglichkeiten“, „als Wiederherstellung verlorengegangener Autonomie und Handlungsmacht“, „als Identitätsvergewisserung und -herstellung“, „als Sinnstiftung“ und „als inhärente Entwicklung einer Zukunftsperspektive“ (Lucius-Hoene und Scheidt 2017, 238–239).
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Diese möglichen Funktionen, die das Erzählen haben kann, sind auch mit Blick auf die Mental Health Blogs zentral, wird die Depression dort doch als einschneidendes Erlebnis verhandelt, welches nicht zuletzt das Erzählen selbst begründet. Des Weiteren liegt hier eine (wenn auch etwas anders als im mündlichen Gespräch gelagerte) interaktive Kommunikationssituation vor. Es wird bereits an dieser Stelle deutlich, dass auch (oder gerade) in Narrativen über Krankheit, Gesundheit in verschiedenen Formen verhandelt wird: als Gesundheitsbewusstsein der Schreibenden, als Restitution, aber auch als Erneuerung und damit als Umdeutung davon, was als ‚gesund‘ und ‚krank‘ verstanden wird. Krankheitsnarrative bilden damit eine Möglichkeit zur Reflexion über die normative Dichotomie von Gesundheit und Krankheit und ihren Konstruktionscharakter.
5 Mental Health Blogs als Narrative der Suche und Konversion Grundlage der folgenden Analyse der Mental Health Narrative bilden vier autobiographische Weblogs: von zwei weiblichen (Sonnengrau, Heute ist ein lila Tag) und zwei männlichen Personen, die an psychischen Krankheiten leiden (Living the future, verbockt). In den Blogs Sonnengrau und Heute ist ein lila Tag steht die Depression im Fokus, auf Living the future geht es zudem um Angststörung und auf verbockt berichtet Herr Bock über seine Dysthymie. Während auf Heute ist ein lila Tag und auf verbockt anonym erzählt wird, berichten die Blogger*innen auf Sonnengrau und Living the Future unter ihrem Klarnamen Tanja Salkowski und Uwe Hauck von ihrer Depression.
5.1 Begründung des Schreibens Zunächst stellt sich die Frage, warum öffentlich über die Krankheit gebloggt wird. Begründet wird das Blogschreiben zumeist am Anfang des Blogs oder sogar in der Extra-Rubrik ‚Über mich‘. So schreibt die Bloggerin auf Heute ist ein lila Tag: „Dieser Blog ist auch ein Schritt der Selbsterkenntnis und ich freue mich, dass ihr mich dabei begleitet!“ Zugleich reflektiert die Autorin wenige Monate nach Blogbeginn: Manchmal frage ich mich, warum ich hier eigentlich schreibe und warum ihr meine Beiträge lest. Oder warum ich eure Beiträge lese. Es ist etwas voyeuristisches dabei. […] Das
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ich schreib hat schon auch was exhibitionistisches. Ich kehre vor fremden Menschen mein Inneres nach außen. Wenn es nur um das schreiben ging könnte ich ja auch Tagebuch schreiben oder so. Aber das habe ich noch nie besonders konsequent gemacht. Und es beflügelt meinen Narzissmus. […] Anerkennung war (ist) mein Elixier.1 (Lila, 06. Dezember 2016)
Das öffentliche Schreiben dient somit als Mittel zur Selbstbestätigung durch andere. Deutlich zeigt sich hier die Abhängigkeit der Selbst-Bildung durch die Anerkennung anderer. Dabei wird implizit auch die Ambivalenz des öffentlichen Schreibens über Mental Health Erkrankungen sichtbar, birgt die Möglichkeit der Nicht-Anerkennung doch weiteren psychischen Druck – und gefährdet somit das schreibende Subjekt. Die Bedeutung der Öffentlichkeit des Schreibens stellen auch die anderen Blogger*innen heraus. So fungiert das öffentliche Schreiben bei Herrn Bock (24. September 2018) als Therapie: „Ich werde ein Lautsprecher bleiben. Ich werde nicht aufhören zu reden. Ich werde sicher nicht zurückstecken. All das ist nicht nur eine Reise, es ist eine Therapie geworden. Ich werde weiter schreiben und den Blog am Leben lassen. Der Blog und alles drumherum hat mich entwickelt.“ Das Motiv des Schreibens als Reise (zu sich selbst) und als Therapie wird wiederholt aufgegriffen: „Ich bin auch nur der Mensch, der sich damit selbst ein Stück hilft, therapiert, reflektiert, ausprobiert und in den letzten 2 Jahren enorme Schritte gemacht hat. Schritte, sein eigenes Leben zu finden. Das Ich zu finden.“ (Herr Bock, 26. März 2018) Indem das Schreiben als therapeutische Praktik und Selbstfindungspraktik beschrieben wird, greift das Blog normative Strukturen von Krankheitsnarrativen auf. Auch im Blog Living the Future findet sich das Motiv der Reise: „Was für ein Jahr, was für eine persönliche Reise. Beinahe mit dem Leben abgeschlossen und jetzt völlig neue Chancen, völlig neue Geschichten.“ (Hauck, 5. November 2015) Ähnlich wie Herr Bock sieht Uwe Hauck im Schreiben über die Depression eine Therapie. So schreibt er: „Für mich war es mehr eine Art Lebensversicherung und Therapie, das, was ich seit Jahren versteckt und ignoriert habe endlich aus dem Versteck zu holen und bloßzustellen.“ (Hauck, 24. Dezember 2015) Neben dem Bloggen ist zudem das Schreiben des Romans Depression abzugeben, der auf Haucks Erlebnissen in der Psychiatrie beruht, für die Selbsthilfe zentral: „Was mir im Moment sehr hilft ist die Arbeit am Roman. Hier kann ich die Erkenntnisse und die Fehler, die ich selbst gemacht habe verarbeiten, auf dass andere sie vielleicht nicht machen.“ (Hauck, 8. Oktober 2015) Das Schreiben, so stellt Hauck (1. November 2016) heraus, wird zu einem Anschreiben
1 Die Zitate aus den Blogeinträgen sind im Folgenden ohne Angleichung an Orthografie, Grammatik und Interpunktion übernommen.
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gegen die Krankheit: „Ein wenig von meiner Angst verliere ich, wenn ich kreativ bin. Das Schreiben des Buchs war eine wahre Wohltat gegen die Angst, die da immer wieder an die Oberfläche wollte, wo aber kein Platz für sie war.“ Deutlich wird des Weiteren, dass das Schreiben dazu führt, Herr über die Lage zu sein, die Kontrolle über das Leben wiederzuerlangen, wodurch es selbstermächtigendes Potential enthält: „Beim Schreiben habe ich das Schicksal im Griff, zumindest im Rahmen der Fantasie der Autorenrolle.“ (Hauck, 13. Juni 2016) Als Gründe für das Schreiben werden zudem der Wunsch nach Aufklärung und Ent-Stigmatisierung der Krankheit genannt: Ich habe mir lange überlegt, ob ich es als mein Geheimnis bewahren soll, oder doch öffentlich machen. Der erste Impuls, damit an die Öffentlichkeit zu gehen kam von der wunderbaren @jenashotgun mit ihrem Hashtag #notjustsad. Das hat mich dazu bewogen, auch über meine Depression zu schreiben. […] Aber erst seitdem ich freiwillig hier in den Weissenhof Kliniken bin, ist mir bewußt geworden, wie wichtig es ist, die Stimme zu erheben und Depression aus der Schmuddelecke des nicht mehr ganz richtig im Kopf seins zu holen. (Hauck, 27. Februar 2015)
Das Erheben der Stimme lässt sich hier als Praktik der (Re-)Subjektivierung deuten, durch die der als ‚krank‘ Stigmatisierte die Krankheit sichtbar macht. Dabei erfolgt wiederholt ein Vergleich mit anderen (körperlichen) Krankheiten, die gesellschaftlich weitaus akzeptierter sind: Das ist es, warum ich öffentlich bin, warum ich über meine Krankheit spreche. Weil es noch so viel Unverständnis für psychische Krankheiten gibt. Wir sind weder gefährlich, noch unproduktiv, noch dumm. Aber wie andere Menschen, die eine chronische Krankheit haben, müssen wie unser Leben anders arrangieren, als gesunde Menschen. (Hauck, 25. November 2016)
Deutlich stellt Hauck (16. Dezember 2016) außerdem sein Ziel heraus, anderen Betroffenen mit seinem Blog zu helfen: „[…] es ist für mich ein Quell neuer Motivation, mich weiter mit meiner Krankheit auseinanderzusetzen und anderen Menschen aus dem Versteck zu helfen und die Angst vor der Krankheit und der Behandlung selbiger zu nehmen.“ Der Blogger sieht sich damit zugleich als Aufklärungsmedium, das im Gegensatz zur Berichterstattung der journalistischen Medien steht: „Wir stigmatisieren und verstecken psychische Krankheiten immer noch, als wäre es etwas bedrohliches und gefährliches. Und die angeblichen Qualitätsmedien schreiben zum Teil einen Bullshit, dass es schon fast körperlich weh tut. Deshalb hier ein paar Fakten zur Aufklärung.“ (Hauck, 10. August 2015) Dieser Wunsch nach Aufklärung geht zumeist mit einem Appell an die Leser*innen einher. So schreibt Herr Bock (1. September 2017): „Ich möchte nicht mehr schweigen. Ich möchte diese Ängste und Bedürfnisse aussprechen, damit andere merken, dass die Gedanken nicht schlimm sind. Ich werde weiter damit aufklären und
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meinen Anteil zur Entstigmatisierung leisten. Hab keine Angst, rede darüber!“ Ähnlich formuliert es auch Tanja Salkowski (18. September 2017) auf ihrem Blog Sonnengrau, wenn sie zur öffentlichen Auseinandersetzung mit der Krankheit auffordert: Aber meistens entstehen solche Situationen, weil die Menschen nicht aufgeklärt sind und Informationen fehlen. Darum müssen wir es hinausschreien, dass es das gibt, was wir haben. […] Wir müssen es erzählen, so oft es geht. Wir müssen authentisch sein, damit wir kein Kraft verlieren, sondern sie auftanken. Wir müssen den Mund aufmachen, um uns und anderen helfen zu können. Und um etwas zu verändern, damit wir keine Angst mehr haben. Damals dachte ich, ich mache mich angreifbar, wenn ich alles von mir preisgebe. Heute weiß ich, dass mir keiner mehr was kann, weil ich zu meinem Sein stehe.
Hier zeigt sich der aufklärerische Impetus, den das Bloggen über die eigene Mental Health Erkrankung hat. Zugleich wird das ‚Hinausschreien‘ der Krankheit mit dem Anspruch auf Authentizität verknüpft. Diese Authentizität dient dabei dem Gewinnen von ‚Kraft‘ und damit in gewisser Weise der Optimierung des Selbst. Verstärkt wird dieser Appell durch den Aufruf ‚wir müssen‘ – der durchaus normativ wirkt. Auf Living the future steht außerdem das Verhältnis von Depression und Männlichkeit im Fokus: „Als Mann offen zu seiner Depression zu stehen ist immer noch ungewöhnlich […]. Gerade deshalb mache ich meine Depression publik, weil ich eben das nicht gut finde. Depression darf kein Tabu mehr sein, auch nicht für Männer.“ (Hauck, 27. Februar 2015) Der Wunsch der Ent-Tabuisierung wird dabei explizit mit gesellschaftlichen Geschlechternormen verknüpft und verweist darauf, dass (psychische) Gesundheit und Gesundheitsvorstellungen auch von Genderdiskuren beeinflusst ist. Auch hier erfolgt wiederholt der deutliche Appell an andere männliche Betroffene, sich professionelle Hilfe zu suchen (Hauck, 17. März 2015).
5.2 Schreiben als Ermächtigung im medizinischen Diskurs Die Mental Health Blogs setzen sich zudem mit der medizinischen Sichtweise auf die Krankheit und deren Behandlung auseinander. Dabei werden Ärzt*innen und Pflegepersonal zum einen sehr gelobt und ihnen wird gedankt. Zum anderen stehen negative Erfahrungen mit Therapeut*innen oder mit der Medikalisierung im Fokus. Besonders deutlich wird dies abermals auf dem Blog Living the future:
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Wenn ein Arzt mich krank macht, heißt es: Notbremse ziehen. Auch für meine Leser als Tipp. nur weil es ein Arzt ist, weiß er oder sie nicht alles. Oft existiert nur großes Unverständnis. Leider wurde mir das im letzten Jahr zu spät klar, was dazu führte, das [sic] die Hälfte der Zeit an dem völlig falschen Thema therapiert wurde. (Hauck, 4. März 2016)
Dieser negative Blick auf das medizinische Personal rückt zwar einerseits die Patient*innen-Sichtweise in den Fokus, andererseits findet durch die Verbindung der subjektiven Erfahrung mit einem Tipp an die Leser*innen eine Verallgemeinerung dieser Erfahrung statt. In den selbstreflexiven Texten der Mental Health Blogs thematisieren die Autor*innen die Diagnose und sich selbst als Objekte dieser Diagnose. So nennt die Bloggerin auf Heute ist ein lila Tag die Diagnosekriterien der bei ihr, neben der Depression, diagnostizierten narzisstischen-histrionischen Persönlichkeitsstörung. Diese googelt sie nach der Entlassung aus der Klinik und meint dazu deutlich: „Erkenne ich mich wieder? NEIN.“ (Lila, 19. April 2016) So stellen auch von Jagow und Steger (2004, 7) heraus, dass [z]wischen Gesundheit und Krankheit […] in Fällen psychischer Erkrankungen, eine Schwelle [liegt], die individuell verschieden wahrgenommen wird: Der Blick des Kranken auf sein Selbst kann als ‚krank‘ aber auch als ‚gesund‘ gewertet werden. Der Blick des Arztes auf den Kranken läßt wiederum – durch normative Bewertungen – eine meist eindeutige Aussage zu.
Die Blogger*innen stellen sich gegen die Diagnosen und entwerfen eigene. So schreibt Hauck (8. Oktober 2015): Es war vergebens. Viel meiner Therapiezeit war im Rückblick schlicht verschwendete Zeit. Weil auf die falschen Menschen und deren Meinung gehört wurde. Weil Modediagnosen wie Internetsucht über die wirklichen Probleme gestellt wurden. […] Ich bin wieder darauf reingefallen, anderen die Meinungshoheit darüber zu überlassen, was mich bedrückt, was mich krank macht.
Hier wird sichtbar, dass das Schreiben über die Depression auch eine Möglichkeit für das durch die Diagnose pathologisierte Subjekt ist, wieder Deutungshoheit über seine Krankheit zu erlangen.
5.3 Vergemeinschaftung und Ratgeber-Funktion Neben der expliziten Thematisierung der Gründe, Ziele und Schwierigkeiten des Schreibens zeigen sich in den Blogs wiederholt implizite Praktiken der Vergemeinschaftung. Die Leser*innen werden angesprochen, ihnen werden Fragen gestellt, an sie wird appelliert. Die Blogeinträge richten sich dabei an ein ‚du‘ oder an ein ‚ihr‘. So fragt beispielsweise Herr Bock (26. November 2013) am Ende eines Blogeintrags über seine Diagnose ‚Dysthymie‘: „Habt ihr schon Dia-
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gnosen bekommen? Wie fühlt ihr euch damit? Wolltet ihr wissen, was ihr habt oder belastet euch das sogar?“ Die Leser*innen reagieren in den Kommentaren auf die Fragen und die Blogger*innen nehmen an dieser, im Kommentarbereich weitergeführten, Erzählung teil. Auch in Heute ist ein Lila Tag wird eine intime Kommunikationssituation aufgebaut, wenn die Bloggerin ihre Leser*innen mit „Hallo, ihr Lieben“ (Lila, 28. März 2017, 09. Mai 2017, 14. Mai 2017) anspricht. Zudem erfolgen Erklärungen und Rechtfertigungen, wenn es eine Blogpause gibt: Hallo Ihr Lieben, ich bin ja ein bisschen in der Versenkung verschwunden aber irgendwie waren meine letzten Wochen ziemlich anstrengend und ich nicht fit. Die letzte habe ich sogar komplett antriebsarm im Bett gelegen. Ich hatte kurz überlegt, ob ich was im Blog schreiben soll aber ich wusste dass ich nur jammere und das wollte ich euch nicht antun. Und es kann ja keinen Spaß machen nur negative, informationsfreie Beiträge zu lesen. Also habe ich lieber geschwiegen. (Lila, 02. Juli 2017)
Hier wird zudem deutlich, dass die Bloggerin auf die Anerkennung ihrer Leser*innen angewiesen ist und zugleich ihre Aufgabe darin sieht, positive und informative Beiträge zu bringen. Dies ist auch daran sichtbar, dass auf dem Blog vielfach die Kategorie ‚War schön‘ verwendet wird, in der die Blog-Autorin ihren Fokus auf die positiven Erlebnisse legt. Eine weitere Praktik der Vergemeinschaftung zeigt sich, wenn sich die Blogger*innen wiederholt für die Unterstützung der Follower in den sozialen Medien bedanken: „Twitter, Facebook, eure EMails und Whatsapp Nachrichten. All das hat mir während meiner Therapie zurück ins Leben unendlich gut getan und geholfen. Wegen meiner Familie und wegen euch, meiner erweiterten Familie habe ich gekämpft und es letztlich geschafft.“ (Hauck, 17. Oktober 2015) Ähnlich schreibt auch Herr Bock (29. Dezember 2013): Danke an euch! Euch, die hier lesen und kommentieren. […] Euch allen, die sich mit mir austauschen, mich unterstützen, mich dadurch auch in schwierigen Tagen auffangen. Euch, die mir dadurch immer wieder den Mut geben, dass dieser Blog weiterlebt und ich mich genau richtig entschieden habe. Euch, die einfach wortlos meine Reise verfolgen und da sind.
Es findet eine Vergemeinschaftung mit anderen Betroffenen statt. So heißt es in Sonnengrau: „Wir Depri’s können fabelhafte Schauspieler sein.“ (Salkowski, 1. Februar 2016) Dieses Sprechen vom ‚Wir‘ der Betroffenen, dem die Gesellschaft entgegengestellt ist, tritt wiederholt in den Blogs auf. Oftmals wird betont, dass nur, wer selbst von Depressionen betroffen sei, die Krankheit verstehen könne (Salkowski, 29. Januar 2018; Hauck, 20. Mai 2016). Diese Abgrenzung führt neben der Vergemeinschaftung allerdings auch dazu, dass Nicht-Betroffenen sowie dem ausgebildeten medizinischen Personal die Möglichkeit des Verständnisses von vornherein abgesprochen wird.
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Die Blogger*innen werden außerdem zu Ratgeber*innen. Sie nennen Symptome und Ursachen von Depressionen, berichten von ihren Therapien und Klinikaufenthalten, sogar von ihren Suizidversuchen: Schweigen wir nicht länger über Depression, reden wir darüber, denn so können wir mit Sicherheit das eine oder andere Menschenleben retten. Hier mein Angebot: Sobald ich mit meiner eigenen Depression einen Nichtangriffspakt geschossen habe biete ich mich und mein Wissen, meine eigenen Erfahrungen zu Depression jedem an, der etwas mehr darüber erfahren will. (Hauck, 27. Februar 2017)
Mit der Praktik des Informierens geht die Aufforderung einher, professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen, beispielsweise durch den Verweis auf die Telefonseelsorge (Herr Bock, 01. September 2017). Oftmals wird in den Blogeinträgen zudem die Authentizität des Geschriebenen betont. Auf Living the future heißt es beispielweise: „Glaubt mir, ich weiß, wovon ich spreche.“ (Hauck, 27. Februar 2015) oder auch „Glaubt mir, ich weiß wovon ich schreibe.“ (Hauck, 14. Juli 2015) Auch auf seinen Roman bezogen stellt Hauck (18. Februar 2017) diese Authentizität heraus: „‚Depression abzugeben‘ ist meine Geschichte, ein Stück Wahrheit, verpackt zwischen zwei Buchdeckeln […].“ Das Hervorheben der Authentizität legitimiert die Rolle der Blogger*innen als Ratgeber*innen auf dem Gebiet der Depression. Dabei weisen sie sich selbst einen Expert*innen-Status zu, der auf der subjektiven Erfahrung mit der eigenen Erkankung beruht.
5.4 Selbstsorge und Gesundheitsbewusstsein Die Depression wird schließlich umgedeutet zum Auslöser für einen Lebenswandel, eine Konversion. Grundlegend ist dabei ein Lerneffekt durch die Depression: „Ich muss auch lernen, mich mit meinen Fehlern und Defiziten genau so zu akzeptieren wie mit meinen Talenten und Begabungen.“ (Hauck, 17. März 2015) Hauck fragt sich in diesem Zusammenhang, was er aus dem „Katastrophenjahr 2015“ (Hauck, 15. Januar 2016), dem Jahr seines Suizidversuchs, gelernt habe: Sie [d.i. die Depression] hat mir gezeigt, wer in harten Zeiten zu mir steht, wer auch meine trüben Phasen erträgt. […] Und sie hat mein Wertegefüge durcheinandergewirbelt. […] Sie hat mir beigebracht, weniger an andere und mehr an mich zu denken. […] Sie hat mich zum Autor gemacht. Denn sie hat mein Leben so nachhaltig und intensiv verändert, dass es wert ist, das zu erzählen. […] Die Depression ist nicht mein Freund geworden. Aber so etwas wie der Advocatus Diaboli, der Berater, der mir hilft, Spreu vom Weizen, Wichtiges von Unwichtigem zu trennen. (Hauck, 13. Februar 2016)
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Die Depression erweist sich hier als Möglichkeit des Lernens und des Umdenkens. Damit wird die Krankheit positiv umgedeutet. Salkowski (1. Februar 2016) stellt diesen Lernprozess ebenfalls auf ihrem Blog heraus: Aber unterm Strich habe ich eine Sache gelernt, die mich in den letzten Jahren enorm nach vorne gebracht hat: Es gehört zu dir und das ist gut so. Klar, diese Krankheit mit dem dicken D vorne dran fühlt sich manchmal beschissen an. Aber es beinhaltet auch was Schönes. Es öffnet Türen zu Chancen. Es zeigt dir Wege, die verdammt gut für dich sind. Hat irgendwie alles einen Sinn. Nimm es wahr und nimm es an. Und sei authentisch. Denn du bist so großartig.
Auch hier zeigt sich, wie die Mental Health Erkankung als eine das Subjekt positiv verändernde Erfahrung interpretiert wird. Ein ähnliches Narrativ findet sich ebenfalls bei Herrn Bock (5. Dezember 2013), wenn es auf seinem Blog heißt: Betrachte ich nur mich, dann kann ich sagen: Ja, mein Verhalten und die „Krankheit“ sagt mir einiges. […] Sie will mir immer noch den Weg zu mir selbst zeigen, wie ich selbst glücklich sein kann (nicht nur punktuell), die kleinen Dinge des Lebens schätze, mich selbst akzeptiere und genau das mache, was mir gut tut.
Der Depression wird schließlich Sinn zugeschrieben. So meint Herr Bock am 6. Juni 2013: „Es ist gut so, wie es ist. Es ist gut, dass es so gekommen ist, wie es ist.“ Und auch eineinhalb Jahre später stellt er heraus: „Ja, alles hat einen Sinn, auch wenn wir ihn nicht sofort erkennen oder erkennen wollen. Alles passiert dann, wann es passieren soll.“ (Herr Bock, 16. Dezember 2014) Es findet eine Umdeutung der Depression zum Positiven statt. Hier lässt sich das das quest narrative erkennen, das Narrativ der (Selbst-)Suche: „Ja, ich bin meiner Depression in gewissem Sinn dankbar. […] Ich habe viel über mich gelernt in der Zeit in den Kliniken. […] Die Depression hat mich, so paradox das klingt, wieder viel näher zu mir selbst gebracht.“ (Hauck, 18. Mai 2017) Es kommt damit nicht zur Wiederherstellung des vormaligen Gesundheitszustandes, es liegt kein Narrativ der Restitution vor. In den Blogs wird wiederholt betont, dass die Autor*innen nicht gesund seien, sondern vielmehr mit der Depression leben, sie als ‚schwarzen Hund‘ gezähmt haben, sie kontrollieren: „Ich werde meinen schwarzen Hund mein Leben lang bei mir haben. Aber bisher hat er mich dressiert, jetzt dressiere ich ihn.“ (Hauck, 17. März 2015) Damit einhergehend wird auch wiederholt auf eine Metaphorik des Krieges zurückgegriffen: „[…] ich habe selbst entschieden, hier den Kampf gegen meine Depression aufzunehmen. Ich kann sie wahrscheinlich nicht besiegen, aber im Schach halten und das ist mehr, als in der Vergangenheit schaffte.“ (Hauck, 27. Februar 2015) Diese Metapher greift auch Herr Bock auf: „Tja, es ist eine Zeit geworden, in der ich mich mit auseinander musste, bewaffnet mit Zettel und Papier. Das Ziel? Alles aufzu-
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schreiben, was mich bewegt, um den Grund zu finden, dass ich mich immer und immer wieder ins Aus geschossen habe.“ (Herr Bock, 24. August 2014) Zettel und Blog werden zu Waffen gegen die Krankheit. Zudem wird die Depression zur Gesprächspartnerin, zur Freundin, wie in Heute ist ein lila Tag: „Wie ich bereits gestern geschrieben ist die Depression zurück. Vielleicht sollte ich sie als Freundin ansehen, die mir etwas mitteilen will. Bekämpfen scheint ja nicht zu funktionieren also werde ich mich mit ihr anfreunden.“ (Lila, 29. Januar 2017) In dieser Personifizierung der Depression sowie der wiederholten Verwendung einer Kriegsmetaphorik gleichen sich die Mental Heath Blogs nicht nur untereinander, sondern sie weisen zudem Ähnlichkeiten zu typischen Krankheitsnarrativen auf. Deutlich stellen die Autor*innen in den Blogs das Verhältnis zwischen ihrer Identität und ihrer Erkrankung heraus. So heißt es in ähnlicher Weise auf Sonnengrau und Living the Future Ich habe nach jahrelanger Therapie die Phase erreicht, in der ich annähernd weiß, wer ich bin. Und in der ich auch weiß, was ich nicht möchte – nämlich: Mich verstecken. Mein Schlüssel des Ganzen ist Authentizität. […] Ich bin Tanja und habe Depressionen – ich bin nicht die Depression. (Salkowski 29. Dezember 2017) Und übrigens, ja, ich habe eine Depression, aber ich bin nicht depressiv. Meine Krankheit ist ein Teil von mir, aber ich bin nicht sie. (Hauck 6. Februar 2016)
Als grundlegende Praktik zeigt sich damit verknüpft die Sorge um sich selbst. So hebt Herr Bock (10. Dezember 2014) auf seinem Blog hervor: „Selbstfürsorge. Ich sorge für mich selbst. Ich nehme meine Bedürfnisse wahr. Ich gehe achtsam mit mir um.“ Ähnlich schreibt auch Hauck (24. November 2016): „Und ich übe mich in Selbstfürsorge.“ Dieser Selbstsorge durch Achtsamkeit, Akzeptanz und Ruhe wird zugleich, so bei Salkowski (27. August 2018), Effektivität zugeschrieben: Ja, es gibt diese Bäh-Tage, die einem alles vermiesen, an denen nichts funktioniert und die ohne Flow sind. Ein definitives Zeichen dafür, dass ich diesen Tag eben nicht mit Ach und Krach ausnutzen sollte. Scheiß auf Carpe Diem. Auch die guten Tage dürfen mal Pause machen. Die Effektivität liegt in diesem Fall woanders: in der Ruhe, die ich mir nehme. Die Akzeptanz des Ist-Zustandes ist ein Katapult für neuen, frischen Flow.
Indem die Bloggerin den neuen ‚Flow‘, die Produktivität, als Effekt der Selbstsorge hervorhebt, erweist sich diese als Praktik der Selbst-Optimierung. Bei den Blogger*innen zeigt sich damit verknüpft ein deutliches Gesundheitsbewusstsein. Mit dieser Selbstsorge geht zudem eine Selbstverantwortung einher. So schreibt Hauck (7. Dezember 2015): „Das Leben ist wie ein Roman, für dessen Happy End man selbst verantwortlich ist.“ Diese Verknüpfung von Identität
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und Erzählung verweist zum einen auf Theorien narrativer Identität. In diesen werde, so Lätsch (Lätsch 2017, 171), die These formuliert, dass Menschen ihr Selbstverständnis wesentlich durch die Konstruktion einer Lebensgeschichte gewinnen. Je besser es gelinge, sich in dieser Lebensgeschichte als selbstbestimmter, handlungsmächtiger Akteur zu positionieren und je vollständiger die einschlägigen Erfahrungen der Vergangenheit zu einem stimmigen Ganzen zusammengefügt werden könnten, desto besser stünden die Chancen des Einzelnen auf eine gesunde psychische Verfassung.
Zum anderen lässt sich in dieser Zuschreibung der Selbstverantwortung an Andreas Reckwitz’ Konzept der spätmodernen Gesellschaft der Singularitäten anschließen, wie im Folgenden ausgeführt werden soll.
5.5 Selbsttransformation, Optimierung und normative Narrative Reckwitz (Reckwitz 2017, 305) stellt mit dem Begriff des psychophysischen Subjektkapitals die Notwendigkeit heraus, „dass das Subjekt an seiner physischen und psychischen Struktur arbeitet, damit diese ein stabiles Fundament sowohl für den beruflichen Erfolg als auch den geglückten Lebensstil liefert. Das Subjekt übt sich hier in Selbstoptimierung.“ Das Herausstellen der eigenen Einzigartigkeit fasst Reckwitz (Reckwitz 2017, 307) unter dem Begriff des Singularitätsprestiges. Unter Singularität versteht er dabei das „Besondere, das Einzigartige, also das, was als nicht austauschbar und nichtvergleichbar erscheint“ (Reckwitz 2017, 11). Das Singularitätsprestige sei, so Reckwitz (2017, 7), institutionalisiert und stelle eine gesellschaftliche Erwartung dar (Reckwitz 2017, 9). Dabei sei die Struktur der Aufführung grundlegend, Singularität werde also performativ hervorgebracht (Reckwitz 2017, 72). Zentral sei hier der Imperativ der Selbstentgrenzung: „Das Ziel lautet dann, möglichst alle Potentiale, die in einem schlummern, zu mobilisieren und ihnen zur Entfaltung zu helfen.“ (Reckwitz 2017, 343) Dieser Imperativ der Selbstentgrenzung wird auch in den Mental Health Blogs deutlich, wenn die Depression dort als Möglichkeit gedeutet wird, seine Potentiale zu entdecken. Ein Teil der Selbstoptimierung sei es, so Reckwitz (2017, 348), „biografisches Scheitern in die Selbstverantwortung des Einzelnen zu stellen. Psychologische Angebote legen häufig nur noch gesteigerte Selbsttransformation (‚mehr Authentizität‘, ‚mehr Resonanz‘, ‚aus dem Scheitern lernen‘) nahe.“ So performe das Subjekt „sein (dem Anspruch nach) besonderes Selbst vor den Anderen, die zum Publikum werden. Nur wenn es authentisch wirkt, ist es attraktiv.“ (Reckwitz
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2017, 9) Reckwitz stellt diesen Imperativ der Authentizität auch für die Selbstgestaltung digitaler Subjekte heraus und spricht diesbezüglich von einer „performativen Authentizität“ (Reckwitz 2017, 247). Wie auch „soziale Anerkennung in der Gesellschaft der Singularitäten davon abhängt, als einzigartig authentisch wahrgenommen zu werden, und Subjekte daher gezwungen sind, sich selbst als singulär und authentisch zu performen“ (Reckwitz 2017, 247), so zeigt sich dies ebenso im Digitalen. Diese zentrale Stellung von Authentizität findet sich auch in den untersuchten Mental Health Blogs wieder. Wiederholt wird in diesen der authentische Gehalt der Blogeinträge sowie der eigenen Person hervorgehoben. Zudem fordern die Blogger*innen auch von ihren Leser*innen Authentizität ein und betonen die Notwendigkeit eines ‚authentischen‘ Selbst als grundlegend für die (psychische) Gesundheit. Reckwitz stellt mit Blick auf die digitale Selbstproduktion ein Paradox heraus. Zwar können sich im digitalen Raum „Entwertungen […] in positive Valorisierungen umkehren, und Diskriminierte können im Netzt eigene Foren installieren. […] Depressive können versuchen, sich zu entpathologisieren.“ (Reckwitz 2017, 268) Jedoch gehe es dabei „nicht um eine Selbstverwirklichung, die sich in Opposition zur modernen Welt vollzieht; sie soll vielmehr sozial erfolgreich und anerkannt in dieser Welt stattfinden. Der Lebensstil folgt damit dem widersprüchlichen Muster der erfolgreichen Selbstverwirklichung.“ (Reckwitz 2017, 289) Auch in den Mental Health Blogs zeigt sich dieses Paradox. Im Schreiben über die Depression erfolgt einerseits der Versuch, der Pathologisierung entgegenzuwirken. Nach Reckwitz (Reckwitz 2006, 625) „ist das Anti-Subjekt der postmodernen Kultur eines, das Expressionslosigkeit und Handlungsunfähigkeit in sich vereinigt“. So mangele es „[d]em handlungsunfähigen, passivischen Subjekt […] an Projektfähigkeit für berufliche und private Praktiken […].“ (Reckwitz 2006, 626) Das Subjekt der Postmoderne, das der Verpflichtung unterworfen sei, kreativ zu sein, werde, wenn es ihm „an kreativen Kompetenzen mangelt“, zu einer „Figur außerhalb des Respektierbaren, ja sogar des Normalen“ (Reckwitz 2008, 236). Die untersuchten Mental Health Blogs weisen damit im Schreiben über die Krankheit Kreativität und Handlungsfähigkeit auf: das Erzählen wird zu einem Sich-Gesundschreiben. Andererseits reihen sich die Blogs im Aufrufen gängiger Topoi und Strukturen von Reise, Wiedergeburt, Selbstverwirklichung und Selbstsorge in Ideologien der Singularität und Selbstoptimierung ein. Angesichts dieses Umstands lässt sich am subversiven Charakter der Blogs zweifeln. Sie scheinen, zumindest in dieser Hinsicht, in einem neoliberalen Diskurs zu verbleiben. Auch Hilary Clark (Clark 2008, 4) stellt mit Blick auf Depressionsnarrative heraus: The poststructuralist view that identity and knowledge are socially constructed by dominant narratives can lead to the more skeptical conclusion that personal narratives – even
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the most heartfelt personal narratives of depression posted anonymously online – are always already ideological, shaped by myths and metaphors that, while they may vary from culture to culture and over time, have remarkable sticking power.
Clark (Clark 2008, 4) schließt daraus: „In this view of narrative and illness identity, then, narratives can mystify; rather than empowering the self, they offer only the illusion of agency.“ Auch in den untersuchten Mental Health Blogs findet sich diese Ambiguität von Selbstermächtigung und Mystifizierung. Zwar erfolgt in den Blogs wiederholt eine Gesellschaftskritik, z. B. an den Strukturen der Arbeitswelt, der Selbstoptimierung und dem Erfolgsdruck; gleichwohl berufen sich die Blogs auf eine spezifische Form der Gesundheit als Idealzustand. Es werden Gesundungs-Mythen und Metaphern aufgerufen, die als normative Dispositive wirken. In diesem Zusammenhang wird wiederholt betont, dass die Erzähler*innen weiterhin mit ihrer Krankheit leben, Gesundheit meint also nicht die Abwesenheit der Depression, sondern das Zähmen und Nutzen derselben. Die Krankheit wird umgedeutet, als ein Wegweiser zum ‚richtigen‘ (mental-gesunden) Leben, das sich zentral durch Selbstsorge und Authentizität auszeichnet. Mit Blick auf die Gesundheitsdefinition der WHO wird in den Mental Health Blogs schließlich ein anderer Aspekt des Phänomens Gesundheit fokussiert: Gesundheit meint hier weniger einen „Zustand vollkommenen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlbefindens“, sondern zeigt sich vor allem in einer richtigen Lebensführung, die in der Verantwortung des einzelnen Menschen liegt.
6 Fazit: Mental Health Blogs als Narrative der Konversion Schreiben und Gesundheit werden in den Mental Health Blogs miteinander verknüpft, das Bloggen wird zu einem Anschreiben gegen die Depression. Das Erzählen der depressiven Erkrankung erweist sich als eine Praktik des SichGesundschreibens. Deutlich lassen sich in den untersuchten Weblogs dabei folgende Aspekte erkennen: Die Depressionsblogs zeichnen sich durch Narrative des Bewältigens und Überwindens von Krisen sowie durch Praktiken der Vergemeinschaftung aus. Somit erhalten die Weblogs eine selbsttherapeutische Funktion und fungieren aufgrund ihrer Öffentlichkeit zudem als Ratgeber für andere Betroffene. Des Weiteren kann das Erzählen als Praktik der Distanzierung und Selbstvergewisserung gefasst werden: Im Erzählen findet eine Ordnung statt, der Krankheit wird Bedeutung und Sinn zugeschrieben. Zudem kommt es zu einer Selbstermächtigung, wenn das kranke Objekt seine eigene Stimme im Diskurs über Depression erhebt. Deutlich zeigt sich in den
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Texten auch das Narrativ der Reise und Suche. Die Blogs weisen Praktiken der Selbstsorge auf und stellen selbst eine Praktik dieser Selbstsorge dar, wird doch das öffentliche Schreiben an sich zum ‚Heilmittel‘. Dabei wird die depressive Erkrankung als Auslöser einer De-Subjektivierung des Subjekts wie auch als Moment der Neuorientierung dargestellt. Das Schreiben über die Depression erscheint damit als eine Praktik der Re-Subjektivierung und der Gesundung. Schließlich liegt in den Blogs eine Umdeutung von Krankheit vor: Krankheit wird hier als ‚schlechte‘ Lebensweise begriffen, erst die Depression führt zur Gesundung. Einerseits ist den Blogs zwar ein selbstermächtigendes Potential inhärent, wenn beispielsweise deutlich gegen eine Stigmatisierung von psychisch erkrankten Menschen Position bezogen wird. Andererseits wiederholen die Blogs jedoch normative Strukturen und Topoi und verbleiben damit zumindest partiell in dem Diskurs, den sie kritisieren. Zudem stellen sie eine spezifische Form von Gesundheit als ‚Ideal‘ heraus. Gesundheit steht hier in enger Verknüpfung mit einer richtigen Lebensführung. Es geht weniger um eine vollständige Überwindung der Depression, sondern um den Umgang mit dieser und das Lernen aus der Krankheit. Zentral ist also nicht die Restitution des vorherigen Gesundheitszustandes (der zudem als ungesund interpretiert wird), sondern eine Erneuerung des Selbst. Das Durchlaufen der Erkrankung wird, ähnlich wie im quest-Narrativ und den Narrativen der Konversion, zu einer Reise und Selbstsuche, aus welcher das Ich gestärkt hervortritt. Grundlegend für die Blogs ist damit ein Umdeuten der Depression zu einem Lebenseinschnitt, der produktiv (und optimierend) für das Selbst genutzt wird. Die Depression dient zudem als Ausgangspunkt der Gesundungserzählung. Dabei stellt die Erzählung eine ‚Never-Ending-Story‘ dar, betonen die Blogger*innen doch, dass die Depression nie vollständig überwunden werden könne, und das Narrativ entsprechend endlos weitergehe. Hier zeigt sich eine Analogie zur unabgeschlossenen Blogstruktur, dem ein to be continued inhärent ist. Das Publikationsmedium des Blogs erweist sich als spezifischer Ort des Erzählens über Depression, zum einen aufgrund der beschriebenen zeitlichen Struktur, zum anderen aufgrund der Interaktivität. Das Erzählen von Gesundheit ist in den Mental Health Blogs in verschiedenen Formen sichtbar. Erstens stellt das Erzählen eine Praktik der Re-Subjektivierung, des Sich-Gesundschreibens dar. Zweitens wird im Aufgreifen von Topoi, wie der Reise, der Suche, der Selbstsorge und der Authentizität, von Gesundheit – verstanden als ‚gesunde‘ Lebensführung – erzählt. Schließlich wird, drittens, Gesundheit im Erzählen performativ hervorgebracht.
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Sophia Burgenmeister
„Fleisch ist ein Stück Lebenskraft“ oder „Vegan for Fit“? Erzählungen von Gesundheit durch Fleischverzehr und Fleischverzicht Argumente für und wider den Fleischkonsum sind in aller Munde. Auch wenn erst in den letzten Jahren die dramatischen Auswirkungen der Viehzucht auf das Klima in den Fokus der Aufmerksamkeit gerückt sind, streiten Menschen schon viel länger (und bis heute unvermindert) unter einem ganz anderen Aspekt über das Essen von Tieren und tierischen Produkten: unter dem Schlagwort der Gesundheit. Dabei fällt nicht nur die Vehemenz auf, mit der die Diskussionen geführt werden; auch qualitativ besteht ein Unterschied zu anderen kontroversen Themen, die die Gesundheit betreffen. So werden etwa den gesundheitlichen Folgen von Tabak-, Zucker- oder Alkohol-Konsum positive Effekte aus anderen Bereichen, wie Genuss, Geschmack und Geselligkeit, entgegengestellt. Im Gegensatz dazu zeichnet sich die Debatte um die Wirkung von Fleisch und anderen tierischen Produkten dadurch aus, dass sowohl Befürworter als auch Gegner für ihre Ernährungsweise jeweils gesundheitliche Vorteile behaupten, die zudem über die bloße Abwesenheit von Krankheit hinausgehen. Die unterschiedlichen Vorstellungen, die dabei jeweils von ‚Gesundheit‘ entworfen werden, treten besonders deutlich da hervor, wo Menschen erzählen. Solche Erzählungen von der eigenen Gesundheit durch Fleischverzehr oder aber Fleischverzicht finden sich im deutschsprachigen Raum vermehrt seit der Mitte des 19. Jahrhunderts.1 Der Minimaldefinition von ‚Erzählung‘ als Darstellung einer Zustandsveränderung entsprechend, steht dabei meist ein Wandel der eigenen Ernährungsgewohnheiten im Zentrum, der mit einer Transformation der persönlichen Gesundheit einhergeht. Die tellability oder Erzählwürdigkeit ergibt sich aus der Brisanz, die Debatten um den Fleischkonsum damals wie heute innewohnt. Dies wiederum lässt sich vor allem darauf zurückführen, dass das Thema Fleischverzehr, auch wenn es in Hinblick auf die Gesundheit diskutiert wird, sich allenfalls auf den ersten Blick auf ernährungswissenschaftliche
1 Zur Definition autobiografischer Erzählungen von Fleischverzehr und Fleischverzicht als Genre vgl. das laufende Forschungsprojekt der Verfasserin, die für diese Narrationen den Begriff der „Autotheriophagographien“ prägt. https://doi.org/10.1515/9783110747928-010
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Fragen beschränkt. Unter der Oberfläche reicht es weit in Bereiche der Ethik und Identitätsbildung hinein. Es ist zu unterscheiden zwischen Erzählungen, in denen Gesundheit lediglich ex negativo als Freiheit von körperlichem Leiden gedacht wird, und solchen, die – oft vermittelt durch sprachliche und nicht-sprachliche Bilder – ein darüber hinausgehendes Konzept von Gesundheit vorstellen. Letztere sind für unseren Kontext von besonderem Interesse, wobei für den Nachvollzug einiger Argumentationsstränge auch jene Texte mitberücksichtigt werden müssen, die Gesundheit schlicht als Abwesenheit von Krankheit verstehen: Als im 19. Jahrhundert das Wort „Vegetarianer“ (übernommen von den englischen Vorbildern, den vegetarians) im deutschsprachigen Raum Verbreitung fand, war die Gesundheit oder vielmehr Krankheit der Bevölkerung ein Thema, das in der Gesellschaft auf unterschiedlichen Ebenen verhandelt wurde. Neben Infektionen spielte dabei insbesondere die Ernährung eine zentrale Rolle. Die Revolution von 1848 war nicht zuletzt aufgrund des Hungers entstanden, unter dem große Teile der Bevölkerung litten; im Jahr 1871 lag die Lebenserwartung in Deutschland bei gerade einmal 37 Jahren (Treitel 2017, 3–4). Nachdem in der Mitte des Jahrhunderts das Protein entdeckt worden war, argumentierten Wissenschaftler wie Justus von Liebig, Carl Voit und Jacob Moleschott, dass nur Eiweiß, und zwar tierisches, geeignet sei, den Menschen zu der harten Arbeit in Zeiten der Industrialisierung zu befähigen und ihm die Kraft für den Kampf um seine politische Freiheit zu verleihen. Vertreter dieser Überzeugung entwickelten Normen für einen Mindestbedarf an Fleisch und anderen tierischen Produkten, deren Aufwertung sich in der Ernährung niederschlug: Zwischen 1816 und 1860 verdoppelte sich der Fleischkonsum (Treitel 2017, 3–4, Teuteberg 1994, 56). Zugleich aber war Fleisch so teuer, dass das für den erhöhten Verzehr benötigte Geld oft an anderer Stelle fehlte und so der gesteigerte Konsum wiederum zu Armut, Hunger und Krankheit beitrug (Treitel 2017, 8). Der Großteil der Bevölkerung konnte sich weiterhin nicht leisten, regelmäßig Fleisch zu essen, war aber zugleich mit der mittlerweile verbreiteten Überzeugung konfrontiert, dass dies der Schlüssel zu Gesundheit und Kraft wäre. Vor diesem Hintergrund kann es kaum verwundern, dass man mit Unverständnis und Spott reagierte, als sich in den 1860er Jahren Menschen zu Wort meldeten, die ohne finanzielle Not gezielt auf Fleisch verzichteten und mit den positiven Auswirkungen auf ihre Gesundheit warben: die „Vegetarianer“ oder, wie sie sich später nannten, „Vegetarier“. Der erste Vegetarier:innen-Verein Deutschlands entstand 1867 in Nordhausen, ein Jahr später erschien die erste einschlägige Zeitschrift, das Vereinsblatt für Freunde der natürlichen Lebensweise (Vegetarianer). Diese gab den verstreut lebenden Vegetarier:innen, die vom Rest der Gesellschaft eher
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als Witzfiguren wahrgenommen wurden,2 die Möglichkeit eines überregionalen Austauschs. Im Folgenden vermitteln die Erzählungen zweier Pioniere des Vegetarismus sowie einige kritische Stimmen aus der damaligen Presse einen Eindruck davon, wie schon in den 1860er Jahren darüber gestritten wurde, ob es nun gesünder sei, Fleisch zu essen oder gerade auf den Fleischkonsum zu verzichten. Anschließend wird anhand einiger Beispiele ausschnitthaft gezeigt, wie die gleiche Debatte in der Gegenwart geführt wird. Das Zentrum dieser Diskussion hat sich, um das an dieser Stelle schon vorwegzunehmen, in den letzten Jahren verschoben: Während der im 19. Jahrhundert (und in gewisser Weise noch bis vor einigen Jahren) skandalöse Vegetarismus, also der Verzicht auf das Essen von Tieren, mittlerweile weitgehend als Ernährungsform aufgefasst wird, mit der man problemlos gesund (im Sinne von ‚ohne Mangel an Nährstoffen‘) leben kann, wird aktuell um den Veganismus gestritten, der darüber hinaus den Verzicht auf tierische Produkte wie Eier und Milch beinhaltet. Für beide Momentaufnahmen des Diskurses um tierische Nahrung und Gesundheit – Ende der 1860er und Ende der 2010er Jahre – stehen im Folgenden Texte im Mittelpunkt, in denen Menschen ihren eigenen Werdegang bezüglich ihres Fleischkonsums erzählen, so dass die je persönliche Konzeption von ‚Gesundheit‘ herausgearbeitet werden kann. Dabei ergibt sich eine Schwierigkeit: Obwohl – oder vielmehr gerade weil – Vegetarier:innen und Veganer:innen sowohl vor 150 Jahren als auch heute eine Minderheit darstellen, gibt es deutlich mehr Texte von Menschen, die von ihrem Fleischverzicht erzählen, als solche, die gezielt ihren Fleischverzehr in der gleichen Weise thematisieren, da eine Mischkost inklusive Fleisch und tierischen Produkten damals wie heute den Normalfall darstellt. Dieses Ungleichgewicht spiegelt sich auch in der Auswahl der hier besprochenen Texte wider. Kehrt man zu dem Gedanken zurück, dass sowohl für den Verzehr von Fleisch als auch für den Verzicht darauf unter Bezug auf die Gesundheit geworben wird, wirft dies die Frage auf, wie Gesundheit jeweils verstanden wird und ob es sich vielleicht bei ‚Gesundheit durch Fleischverzehr‘ und ‚Gesundheit durch Fleischverzicht‘ um zwei unterschiedliche Konzepte handelt. Die Texte sollen deswegen auch daraufhin untersucht werden, inwiefern Erzählungen, die mit einer gesundheitsbezogenen Argumentation für die eine oder andere Ernährungsweise plädieren, dabei tatsächlich jeweils verschie2 Vgl. hierzu die virtuelle Ausstellung Fleischloser Humor. Der frühe Vegetarismus im Zerrspiegel der Karikatur (Zemanek und Burgenmeister 2019), in Zusammenarbeit mit dem Rachel Carson Center for Environment and Society: http://www.environmentandsociety.org/exhibitions/ fleischloser-humor.
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dene Vorstellungen von ‚Gesundheit‘ aufrufen. Zudem wird immer auch mitbetrachtet, auf welche Weise das bereits angesprochene Konfliktpotenzial, das dem Thema Fleischverzehr und Fleischverzicht im 19. wie auch im 21. Jahrhundert anhaftet, sich in die Erzählungen einschreibt. Als erstes Schlaglicht dienen zwei Texte aus den ersten Jahren der vegetarischen Bewegung, in denen zwei zentrale Figuren des frühen Vegetarismus jeweils erzählen, wie sie zu einer fleischlosen Lebensweise gekommen sind.
1 Pioniere des „Vegetarianismus“: Eduard Baltzer und Gustav Struve Gründer des ersten deutschen Vegetariervereins und Herausgeber des Vereinsblatts für Freunde der natürlichen Lebensweise (Vegetarianer) war Eduard Baltzer (1814–1887), ein Theologe, der wegen seiner aufklärerischen Haltung und reformatorischen Bemühungen immer wieder in Konflikt mit der Kirche in Preußen geraten war (Treitel 2017, 22–25). Im ersten Vereinsblatt erzählt Baltzer einleitend davon, wie er selbst zum Vegetarier wurde und wie es zur Vereinsgründung kam. Diese Erzählung wird von einem Vorwort begleitet, in dem Baltzer feststellt, dass „das leibliche und geistige Befinden“ von „nichts anderem“ so sehr abhänge wie von den „Nähr- und Genussmitteln“, die wir zu uns nehmen (Baltzer 1868, 2). Diesen engen Zusammenhang von Nahrung und körperlichem und geistigem Befinden stellt er mittels einiger stark auf Materialität ausgerichteter Sprachbilder als sehr direkt dar: Aus den „Nähr- und Genussmitteln“, so Baltzer, „bilden wir unser Blut, unser Hirn, unser ganzes System; aus ihnen vorzugsweise saugen wir Gesundheit oder Siechthum, Leben oder Tod; aus ihnen ziehen wir die Grundlagen unseres geistigen Daseins, aus ihnen Wohl und Wehe für uns und unsere Nachkommen!“ (Baltzer 1868, 2; meine Hervorhebung, S. B.). Auf diese Weise wird der Eindruck erzeugt, dass sowohl Gesundheit als auch Krankheit jeweils in unterschiedlichen Lebensmitteln enthalten seien, aus denen der Mensch sie dann extrahieren und in sich aufnehmen könne. Weder „Gesundheit“ noch „Siechthum“ erfahren dabei eine nähere Bestimmung. So geht Baltzer weder auf bestimmte Krankheitssymptome ein, noch benennt er spezifische positive Auswirkungen auf das körperliche und seelische Wohlbefinden. Stattdessen evoziert er in einem vorangestellten Gedicht unter dem Titel „Thalysia“ die Vorstellung eines ganzheitlichen, ursprünglichen, naturverbundenen Zustands, der Körper und Geist gleichermaßen betrifft (Baltzer 1868, 1; vgl. auch Zemanek und Burgenmeister 2019). Durch den „sorglosen“ Umgang mit Nähr- und Genussmitteln aber, so fährt er fort, „betrügen“ wir uns (implizit: um diesen Zustand),
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„indem wir in ausgedehntestem Maasse degeneriren, Körper- und Geisteskrankheiten erzeugen, die Moralität untergraben, die Sklavenketten uns selber schmieden, das Leben verkürzen und Millionen in frühen Tod sinken machen“ (Baltzer 1868, 2–3). Baltzer verknüpft hier untrennbar körperliche Gesundheit mit geistiger Gesundheit, mit einem langen Leben, mit „Moralität“, Freiheit und auch mit Frieden – Letzteres, indem er die eigentliche Erzählung, wie er persönlich zum Vegetarismus kam, so beginnt: „Es war in dem blutigen Jahre 1866, als der zufällige Besuch eines Vegetarianers und jetzigen Vereinsmitgliedes mir zum ersten Male Gelegenheit gab, mir ein Buch empfehlen zu lassen, durch welches man sich über Vegetarianismus unterrichten könne“ (Baltzer 1868, 3). Mit seinen einleitenden Worten bezieht sich Baltzer auf den Deutschen Krieg, der 1866 und damit im Jahr vor der Vereinsgründung stattgefunden hatte. Indem er von dem „blutigen Jahre 1866“ als dem Jahr spricht, in dem er aufhörte, Fleisch zu essen, zieht er eine Parallele zwischen dem Blut der Menschen, das auf dem Schlachtfeld vergossen wurde, und dem Blut der Tiere, das in den Schlachthäusern floss. Nachdem Baltzer im Vorwort offengelassen hatte, was genau er unter einer „gesunden“ Ernährung versteht, wird hier erkennbar, dass damit der Vegetarismus gemeint ist. Die positive Konzeption der Gesundheit, die er als Ergebnis der vegetarischen Lebensweise entwirft, erschöpft sich nicht in der Abwesenheit der ebenfalls genannten „Körper- und Geisteskrankheiten“ (Baltzer 1868, 2), sondern bedeutet darüber hinaus den Weg zu Freiheit, Moral und Frieden. Eine andere Bestimmung erfährt die Gesundheit in der Erzählung von Gustav Struve, der Ehrenmitglied in dem von Baltzer gegründeten Verein war. Er ist als badischer Revolutionär von 1848/49 bekannt, gehörte aber auch, wie Baltzer, zu den Pionieren des Vegetarismus in Deutschland. Struve gründete ein Jahr nach Baltzer in Stuttgart ebenfalls einen Verein für Vegetarier:innen. 1869 erschien sein Buch Pflanzenkost, Grundlage einer neuen Weltanschauung. In der Einleitung des Buches erzählt er, wie er zur „Pflanzenkost“ fand – 1832, zu einer Zeit, als er damit noch allein auf weiter Flur war – und wie sich diese in verschiedenen Phasen seines Lebens auf seine Gesundheit auswirkte. Er geht dabei ganz explizit von einer ethischen Motivation aus und stellt diese an den Anfang seiner Erzählung: „Schon in früher Kindheit empfand ich einen tiefen Widerwillen, wenn ich Thiere zur Schlachtbank schleppen sah und ich legte mir die Frage vor: hat der Mensch ein Recht, harmlose und nützliche Thiere zu tödten, und sich von deren Fleische zu nähren?“ (Struve 1869, 1). Mit 25 Jahren dann entschloss er sich, kein Fleisch mehr zu essen, ausgelöst durch die Lektüre von Rousseaus Émile. Daraufhin sei er von Freunden, Bekannten und Medizinern wegen seiner fleischlosen Ernährung „von allen Seiten angegriffen“ worden. Sie hätten ihm angekündigt: „[B]ald werde ich an dem Nachlaß
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meiner Kräfte spüren, daß ich nicht die der Gesundheit zuträgliche Lebensweise führe“ (Struve 1869, 2). Struve berichtet, dass er jedoch bald ganz andere Erfahrungen sammelte, die er diesem Argument entgegensetzen konnte: Seit Jahren hatte ich nehmlich sehr viel gelitten an Congestationen des Blutes nach dem Kopfe, an Migräne, Hämerrhoiden, Leberschmerz etc. Ich hatte wiederholt die Gelbsucht und das Gallenfieber gehabt. Den ganzen Winter von 1831 auf 1832 hatte ich mediciniert. Namentlich hatte ich auch viele Pocken im Gesichte, welche nicht weichen wollten. Ohne Rücksicht auf diese Uebel hatte ich die Fleischkost aufgegeben, ich hatte keine Ahnung davon, daß das Fleisch, das ich genoß, die wirkliche Ursache meiner Beschwerden sei. Allein vor Ablauf dreier Monate waren alle diese alten Uebel verschwunden und ich wurde so mit zwingender Gewalt zu der Ueberzeugung gebracht, daß die Pflanzenkost die gesunde, die Fleischkost die ungesunde Nahrung sei. (Struve 1869, 2–3)
Anders als Baltzer nennt Struve also sehr konkret die körperlichen Krankheiten, unter denen er nach seiner Ernährungsumstellung bald nicht mehr zu leiden hatte, woraus er einen „zwingenden“ kausalen Zusammenhang ableitet. Obwohl er explizit aus tierethischen Gründen Vegetarier war, führt Struve auch im weiteren Text mehrfach aus, wie er im Laufe seines Lebens gesundheitlich von seiner fleischlosen Ernährung profitiert habe: Aufgrund des Fleischverzichts sei er nun 63 Jahre alt geworden und habe dabei „Tausende von Fleischessern“ in seinem Umfeld überlebt; zusätzlich habe die Ernährungsweise ihm „eine Arbeitskraft“ verliehen, „wie [er] sie früher nie besessen hatte“. Er fährt fort: Als im Jahre 1848 der Sturm der Revolution ausbrach, hatte ich Anstrengungen zu machen und Strapazen auszuhalten, wozu mir nur die vegetabilische Lebensweise, der ich unter allen Umständen treu blieb, die Kräfte lieh. […] Die Pflanzenkost hatte sich an mir bewährt in Tagen des Friedens und des Krieges, der Freiheit und der Gefangenschaft. Sie hatte mir die Kraft gegeben, die stärksten Anstrengungen, die anhaltendste Arbeit im Studirzimmer, auf der Rednerbühne und im Felde zu bestehen; sie hatte mich gestählt gegen die feuchte Luft der Rastatter Casematten und mir so viel Ruhe eingeflößt, daß ich mitten in der Aufregung des Prozesses, der meine Ehre und meine Freiheit, ja auch mein Leben bedrohte, die beiden ersten Bücher meiner Weltgeschichte schreiben konnte. (Struve 1869, 5–6)
Auch auf die verbreitete Vorstellung, dass Fleischessen wichtig für die männliche Potenz sei, spielt er ganz zum Schluss seiner Erzählung an: „Manchen Leser dürfte es vielleicht interessiren zu vernehmen, daß ich mich in meinem 62sten Jahre stark genug fühlte, eine zweite Ehe einzugehen, in welcher ich seit 1 ½ Jahren glücklich lebe“ (Struve 1869, 10). Struve konstruiert die Gesundheit, die er durch den Fleischverzicht für sich erlangt hat, doppelt: negativ als Befreiung von den aufgezählten Leiden, aber auch positiv, indem er sie mit einem langen, aktiven Leben verknüpft, mit Kraft
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für intellektuelle, öffentliche und kriegerische Herausforderungen, mit Durchhaltevermögen und Gelassenheit. Anders als Baltzer bleibt er jedoch auf der Ebene individueller körperlicher und geistiger Stärke und weitet sein Konzept von Gesundheit nicht auf gesellschaftliche Prozesse aus. Sowohl Struve als auch Baltzer arbeiten daran, mit ihren Schriften mehr Menschen für die „vegetabilische“ Lebensweise zu gewinnen und die „in der Vereinzelung“ lebenden, „einsam ihren Weg gehend[en]“ Vegetarier:innen über ihre Vereine zu vernetzen (Baltzer 1868, 3). Gleichzeitig nutzen beide die Erzählungen von ihrem Weg zur fleischlosen Lebensweise, um sich von dem damals wie heute verbreiteten Vorwurf zu distanzieren, dass Vegetarier:innen ihre Sichtweise anderen aufdrängten: Sie stellen dar, dass sie zwar wegen ihres Verzichts auf Fleisch einige Streitereien um die gesundheitlichen Folgen austrugen, diese Konflikte aber ohne ihr Zutun von außen an sie herangetragen wurden: „Es genügt hier zu bemerken, dass wider unsere Absicht die Sache Aufsehen machte, und dass natürlich bei den herrschenden Ansichten sich alle Spiesse gegen uns kehrten und besonders das leichte Geschütz des Spottes wider uns spielen musste“ (Baltzer 1868, 4). Vor diesem Hintergrund argumentieren dann beide mit gesundheitlichen Aspekten für ihre Lebensweise, charakterisieren ‚Gesundheit‘ dabei jedoch sehr unterschiedlich: Baltzer spricht zwar allgemein von „Gesundheit und Siechthum, Leben und Tod“, konstruiert Gesundheit aber nicht in Bezug auf beobachtbare körperliche Phänomene, sondern anhand der Idee eines poetisch umschriebenen, paradiesischen Zustands der Gesellschaft, wobei körperliche, geistige und moralische Aspekte ineinander verwoben werden. Struve hingegen sagt explizit, dass seine primäre Motivation für den Fleischverzicht das Tierwohl ist, widmet jedoch einen großen Teil seiner Erzählung einer gesundheitlichen Rechtfertigung und Untermauerung seiner Ernährungsweise. Dabei wird er recht konkret, indem er die überwundenen Krankheiten und die strapaziösen Situationen, deren Bewältigung er der vegetarischen Ernährung zuschreibt, benennt. Deutlich unterscheidet sich die Kontextualisierung von Fleisch und Krieg: Während Baltzer Fleischessen und Krieg eng miteinander verbindet und beides überwinden will, stellt Struve seinen Verzicht auf Fleisch als wichtige Grundlage seiner Kriegs- und Revolutionsteilnahme dar.
2 Frühe Kritik am „Vegetarianismus“ Wie bereits erwähnt, sind – damals noch mehr als heute – autobiografische Erzählungen über Gesundheit durch Fleischverzicht deutlich verbreiteter als Texte, in denen Menschen ihre eigene Gesundheit durch Fleischkonsum darstellen. Auffindbar sind allerdings – auch aufgrund ihrer Sammlung durch die Vegetarier:innen,
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wie hier durch den Naturarzt Theodor Hahn (1824–1883) in seiner Schrift Die Ritter vom Fleische (1869) – allgemeine Aussagen über die gesundheitsschädliche Wirkung des Verzichts auf Fleisch, beispielsweise die folgende aus dem Staatsanzeiger für Württemberg vom September 1868: Aerztlicher Kalender. Es sei vor einer Verirrung verwarnt, die scheint’s hier zu Lande immer mehr um sich greift, dem Vegetarianismus, zu deutsch Pflanzenfresserthum. Nach Bezahnung und Bau des Darmkanals ist der Mensch auf gemischte Nahrung, d. h. Fleisch und Pflanzenkost angewiesen und wer dagegen verstößt, hat es, wenn auch nicht immer an sich selbst, so doch an seinen Kindern zu büßen, die fast mit Gewißheit einem tiefern Siechthum (Scrofulose, Rhachitis u.s.w.) überantwortet werden! (zit. nach Hahn 1869, 63–64)
Dieser Hinweis auf die Anatomie der menschlichen Zähne und des Darms findet sich auffallend häufig in den Texten dieser Zeit. Aus der anatomischen Verfasstheit des Menschen wird dann entweder abgeleitet, dass der Mensch von Natur aus Pflanzenfresser sei, der Vegetarismus also die natürliche und damit einzig gesunde Lebensweise. Oder aber die Anatomie wird im Gegenteil als Beweis dafür herangezogen, dass der Mensch von Natur aus Fleischfresser sei und darum Fleisch für ein gesundes Leben brauche. Die Beschreibungen der negativen Folgen des Fleischverzichts fallen sehr unterschiedlich aus. In Klenckes Hauslexikon steht, Vegetarier hätten „abgerundete, weiche, schwulstige“ Gesichter, während ihnen in der Wiener Konstitutionellen Vorstadt-Zeitung von Dezember 1868 „Runzeln und Furchen“ auch auf dem noch „jugendlichen Antlitz“ zugeschrieben werden (zit. nach Hahn 1869, 68). In der Berner Sonntagspost wird im April 1869 in Abgrenzung zu den Vegetarianer:innen ein „gesundes, in naturgemäßer Entwicklung und Thätigkeit blühendes Leben“ implizit mit fleischhaltiger Ernährung in Verbindung gebracht (zit. nach Hahn 1869, 66). Der schwäbische Beobachter schreibt 1868: „Es erweist sich daher auch hier ein Zusammenhang zwischen Fleischkost und Energie und zwischen Blut und Freiheit“ (zit. nach Hahn 1869, 69).
3 Fleisch – „ein Stück Lebenskraft“? Die Botschaft, dass Fleisch und tierische Produkte für die Gesundheit unverzichtbar sind, ist auch gut hundert Jahre später noch im öffentlichen Bewusstsein präsent – unterstützt von der CMA, der Centralen Marketing-Gesellschaft der deutschen Agrarwirtschaft, die 2009 aufgelöst wurde. Ihr bis heute vielen vertrauter Slogan lautet: „Fleisch ist ein Stück Lebenskraft“. In einer ganzseiti-
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gen Zeitschriften-Werbung aus dem Jahr 1973 prangt dieser Spruch groß am unteren Rand (vgl. die Abbildung in Brand-History 2019, online zugänglich); die zugehörige Fotografie, die den Rest der Seite ausfüllt, zeigt in Nahaufnahme einen gedeckten Frühstückstisch mit grün karierter Tischdecke und weißem Kaffeegeschirr. Im Hintergrund sind unscharf eine Pflanze und ein helles Fenster mit weißen Vorhängen zu erkennen. Blickfänger des kulinarischen Tischarrangements ist eine Holzplatte mit drei verschiedenen Sorten aufgeschnittener Wurst, garniert mit Radieschen. Im Vordergrund, gewissermaßen in direkter Reichweite des Betrachters, steht eine volle Tasse Kaffee, weiter hinten auf dem Tisch finden sich außerdem ein geflochtener Korb mit Brot, ein Glas Milch, ein Ei im Eierbecher und zwei Äpfel. Die rötliche Farbe des Fleisches wiederholt sich in den Radieschen und den Äpfeln, ansonsten dominieren strahlendes Weiß und helles Grün das Bild, die gesamte Anzeige ist in drei verschiedenen Grüntönen gerahmt. Frische, Energie, Reinheit und Natürlichkeit scheinen die zentralen Botschaften der Fotografie zu sein, als deren Herzstück die Wurstplatte im goldenen Schnitt präsentiert wird. Über die Fotografie ist ein Text gelegt, der unter der Überschrift „Frühstück Dich fit für den Tag“ verkündet: Wer den Alltagsstreß erfolgreich bestehen will, muß fit sein. Ein Fitness-Rezept heißt Wurst: und zwar morgens zum Frühstück. Denn Wurst hat alle guten Kräfte vom Fleisch: Eiweiß, wertvolle Vitamine und lebenswichtige Mineralstoffe. Wer Nerven und Kondition braucht, sollte darum mit einem kräftigen Wurst-Frühstück vorsorgen. Das hält fit und gibt Kraft für den ganzen Tag.
Ergänzt wird der Text von einigen in einem Kästchen eingerahmten Zeilen: Wurst hat alle guten Kräfte vom Fleisch: EIWEISS gibt Spannkraft und Vitalität. VITAMINE A ± B sind unentbehrlich für die Gesundheit. MINERALSTOFFE sind lebenswichtig für den Organismus.
Die Anzeige wirbt mit dem gesundheitlichen Nutzen von Wurst. Durch die Nennung von Eiweiß, Vitamin A und B und den Mineralstoffen nutzt sie zudem ein Vokabular, das wissenschaftliche Belegbarkeit und Nachvollziehbarkeit suggeriert. Die als Info-Kästchen inszenierten Erläuterungen zu den Inhaltsstoffen bereichern den Text jedoch weniger um Fakten als um Emotionen. Sie
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korrespondieren gewissermaßen mit den eiweiß- und vitaminhaltigen Lebensmitteln sowie dem energiespendenden Kaffee, die das Fleisch in der Fotografie umgeben und in der Gesamtwirkung gewissermaßen auf die Wurst ‚abfärben‘ sollen. Die Schlagworte, über die Gesundheit in der Anzeige definiert wird, sind: Alltagsstress bestehen, Fitness, Kraft, Nerven, Kondition, Spannkraft und Vitalität – Worte, die inhaltlich an das leistungsorientierte Gesundheitskonzept des Revolutionärs und Vegetariers Gustav Struve erinnern, aber auch an das der zitierten Kritiker des Vegetarismus sowie an prominente Befürworter des Fleischkonsums wie Justus von Liebig denken lassen. Über die Worte „muss“, „sollte“, „unentbehrlich“ und „lebenswichtig“ wird die Unverzichtbarkeit der enthaltenen Nährstoffe betont und zugleich auf die beworbene Wurst übertragen: Ein gesundes Leben, so die Kernaussage, ist ohne Fleisch nicht möglich. Diese Überzeugung ist im öffentlichen Bewusstsein erst seit ein paar Jahren nicht mehr so weit verbreitet. Auch wird Fleisch heute insgesamt weniger pauschal als gesund oder ungesund eingestuft, sondern differenzierter betrachtet – insbesondere seit 2015 die Internationale Krebsforschungs-Agentur gerade Wurst als krebserregend eingestuft hat (IARC 2015). Die Deutsche Gesellschaft für Ernährung spricht mittlerweile keine Empfehlung mehr dafür aus, Fleisch zu essen, ebenso wenig dagegen: Ihre Empfehlung zu tierischen Produkten seit 2013 lautet: „Essen Sie Milch und Milchprodukte wie Joghurt und Käse täglich, Fisch ein- bis zweimal pro Woche. Wenn Sie Fleisch essen, dann nicht mehr als 300 bis 600 g pro Woche“ (DGE 2017). Entsprechend sind auch die Diskussionen um die generelle Unverzichtbarkeit von Fleisch abgeebbt, zumindest was die Gesundheit betrifft.3 Stattdessen wird einerseits die Schädlichkeit von Fleisch thematisiert, da in Deutschland die genannten Richtwerte der DGE für Fleischkonsum deutlich überschritten werden. Andererseits hat sich die Debatte um die Unverzichtbarkeit tierischer Produkte vom Vegetarismus hin zum Veganismus verschoben: Gestritten wird jetzt nicht mehr darum, ob man ohne Fleisch gesund leben kann, sondern vielmehr darüber, ob ein gesundes Leben auch ohne Milch, Milchprodukte und Eier möglich ist – oder ob eine vegane Ernährung sogar besonders gesund sein kann.
3 Unabschließbar sind hingegen freilich die Debatten über die Unverzichtbarkeit von Fleisch in Bezug auf Genuss oder Lebensgefühl.
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4 „Vegan for fit“: Attila Hildmann und Patrik Baboumian Attila Hildmann und Patrik Baboumian, zwei Prominente, deren Bekanntheit maßgeblich in ihrem Veganismus begründet ist, entwerfen in diversen Medienformaten zwei ganz unterschiedliche Erzählungen von Gesundheit im Kontext des Verzichts auf tierische Produkte. Attila Hildmann gilt als einer der berühmtesten Veganer Deutschlands und hat seit 2011 über eine Million vegane Kochbücher verkauft. Sein vielfach und multimedial erzählter Weg zum Veganismus begann mit dem Tod seines Vaters, der aufgrund eines Herzinfarkts verstarb. Hildmann sah den hohen Cholesterinspiegel seines Vaters als Todesursache und wurde infolgedessen Veganer. Dieses Ausgangserlebnis verdeutlicht die Bedeutung der Ernährung in dieser Erzählung: Sie entscheidet über Leben und Tod. Wie sich der Veganismus auf Hildmanns Gesundheit auswirkte, erzählt er bevorzugt anhand von Vorher-nachher-Fotos von sich selbst, wobei ‚gesund‘ hier vor allem als schlank und muskulös, aber auch als selbstbewusst interpretiert wird (vgl. Abb. 1–2). Seine Vorstellung von Gesundheit bindet er damit stark an sein Äu-
Abb. 1: In der Sektion „Attilas Wurzeln“ auf seiner Homepage illustriert Hildmann die Geschichte seines Wegs zum Veganismus mit Vorher-nachher-Darstellungen (Hildmann 2014–2019, all rights reserved © Attila Hildmann).
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Abb. 2: Auch in der Bilderstrecke im Rahmen eines Interviews mit Spiegel Online findet sich eine fotografische Gegenüberstellung von Hildmanns Körper vor und nach seiner Umstellung auf die vegane Ernährung (Spiegel Online 2012, all rights reserved © Attila Hildmann). Die Freizügigkeit der visuellen Erzählung unterstreicht die Intimität der persönlich geprägten verbalen Erzählung.
ßeres und macht sie im Vorher-nachher-Vergleich sichtbar; performativ verkörpert er die gesunde Wirkung seines neuen Lebensstils und wirbt damit auch für seine veganen Kochbücher. Diese ergänzen mit Titeln wie Vegan for Fit, Vegan for Youth oder auch Vegan for Fun das Konzept von Gesundheit, das Hildmann in seiner multimedialen Erzählung entwirft, um die Elemente Fitness, Jugend und Spaß. Patrik Baboumian ist Träger des Titels „Stärkster Mann Deutschlands“, Kraftsportler, Weltmeister im Baumstammstemmen und ebenfalls Veganer, jedoch anders als Hildmann nicht aus gesundheitlichen Gründen: In Interviews erzählt er, dass er schon als Kind Tiere sehr gerne mochte, Kaulquappen gerettet und Igeln ein Zuhause gegeben hat (Wallrodt 2015). Auf Instagram stellt er sich immer wieder gegen den seit dem 19. Jahrhundert verbreiteten Topos, ohne Fleisch fehlten Proteine für den Muskelaufbau, tierisches Eiweiß sei also unverzichtbare Voraussetzung für körperliche Kraft und ein Verzicht darauf führe zwangsläufig zu Mangelerscheinungen (vgl. Abb. 3–5). Seine Erzählung unter der Überschrift „I’ll be just standing here waiting until the protein deficiency sets in“ bezieht sich dabei nicht auf das Stattfinden, sondern auf das Ausbleiben eines Ereignisses, nämlich des seit über 150 Jahren den Vegetarier:innen und Veganer:innen prognostizierten Schwindens der Kräfte durch Eiweißmangel.
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Abb. 3–5: Baboumians Memes zeigen den muskulösen Koloss, wie er eine Waschmaschine meterweit wirft, ein Auto anhebt oder gigantische Gewichte stemmt, kombiniert mit dem Slogan „I’ll be just standing here waiting until the protein deficiency sets in“ oder auch „Vegan since 1960 days – still not protein deficient“ (Baboumian 2017, 2018a, 2018b, all rights reserved © Patrik Baboumian).
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Abb. 3–5 (fortgesetzt )
Sowohl Hildmann als auch Baboumian führen performativ jeweils ein Konzept von Gesundheit vor: Der eine inszeniert sich als fit und schlank aufgrund seines Veganismus, der andere als massig und stark trotz seines Veganismus.
5 Zwischen persönlichem Erleben und Sprengstoff für öffentliche Debatten: Erzählungen in Rheinische Post Online und Focus Erzählungen von Prominenten, die aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr vegan leben, sind weitaus schwerer zu finden. Zu unerwünschter Prominenz kam Barbara Frielinghaus, eine Altenpflegerin, die 2015 von der Rheinischen Post Online interviewt wurde, weil sie nach sieben Jahren veganen Lebens wieder begann, Fleisch zu essen (Dalkowski und Frielinghaus 2015a). Sie erzählt, dass Essen für sie schon immer ein schwieriges Thema war: Fleisch mochte sie aufgrund seiner Konsistenz nicht, sie las auch in Büchern, es sei ungesund, vieles andere vertrug sie nicht, und so suchte sie lange nach einer Ernährung, mit der ihr Körper gut zurechtkam. Schließlich fand sie zu einer veganen Lebens-
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weise, woraufhin es ihr zwei Jahre lang deutlich besser ging, dann aber wieder schlechter. Ihr wurde ein Vitamin-B-12-Mangel bescheinigt, den sie mit Vitaminspritzen behandelte. Das half aber nur für kurze Zeit. Sie hatte das Gefühl, „dass ich überhaupt kein Essen mehr vertrage. Ich hatte ständig Durchfall, habe mich sogar manchmal erbrochen.“ Schließlich begann sie, doch wieder Fleisch zu essen. Seitdem sie außerdem keine Getreideprodukte mehr zu sich nehme, so berichtete sie im Interview, fühle sie sich gesundheitlich sehr gut. In Frielinghausʼ Erzählung wird Gesundheit auf einer ganz existenziellen Ebene angesiedelt. Hier geht es nicht um ein besonderes Wohlgefühl, um Harmonie, Schlankheit oder Kraft, sondern um die Frage, was sie essen kann, ohne dass ihr Körper dagegen rebelliert. Entsprechend berichtet sie zwar von positiven Effekten sowohl in ihrer ersten Zeit als Veganerin („sah besser aus, fühlte mich geklärt“) als auch im Zuge ihrer Rückkehr zum Fleischkonsum („hatte plötzlich so eine Wahnsinnsenergie“). In erster Linie aber sucht sie Gesundheit in Form der Überwindung ihres starken körperlichen Leids. Im Interview wehrt sie sich gegen eine Pauschalisierung sowohl für als auch gegen den Veganismus: Natürlich gibt es viele Menschen, die mit veganer Ernährung gut klarkommen, es gibt ja auch vegane Marathonläufer. Aber ich bin überzeugt, dass vegane Ernährung nicht für jeden geeignet ist. Deshalb stört es mich, dass Leute wie Attila Hildmann oder Ruediger Dahlke vegane Ernährung als optimale Ernährung für alle propagieren. Das stimmt nicht. […] Am wichtigsten ist es, sich nicht zu stark an eine Überzeugung zu klammern. Ich würde den Geist nicht über den Körper stellen. Wenn der Körper sagt „Das geht nicht“, obwohl der Geist sagt „Das muss gehen, das ist gesund“, dann geht es eben nicht. (Dalkowski und Frielinghaus 2015a)
Damit vertritt Frielinghaus die Vorstellung, dass gesunde Ernährung relativ sei und für verschiedene Menschen – je nach Konstitution – unterschiedlich definiert werden müsse – ein Gedanke, der in den stark polarisierten Debatten im 19. wie auch im 21. Jahrhundert oft ausgeklammert wird, wenn es um Fleischverzehr und Fleischverzicht geht. Zusätzlich verweist sie auf das je eigene Körpergefühl und rät, darauf zu hören. Das eigentlich Interessante an dieser Erzählung ist, dass sie mehrere weitere Artikel in der Rheinischen Post Online und anderen Medien nach sich zog (Dalkowski und Frielinghaus 2015b, Dalkowski 2015), da das Interview eine Welle der Empörung auslöste. Die Reaktionen einiger Veganer:innen lassen sich dabei im OnlineJargon kaum anders als mit dem Wort „Shitstorm“ bezeichnen, darunter der Vorwurf, dass dieser Artikel „den deutschen Fleischessern neuen Mut gebracht hat und ein gutes Gewissen“ (Dalkowski 2015). Damit ist das Interview ein medial dokumentiertes Beispiel für das in beide Richtungen häufig zu beobachtende Phänomen, dass eine persönliche Erzählung von Gesund-
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heit und Fleischverzehr oder -verzicht, ganz explizit ohne jeden Anspruch auf Allgemeingültigkeit, massive Kritik und starke Emotionen hervorrufen kann. An diesem Fall tritt das Konfliktpotenzial, das Gesundheitsdiskursen um Fleischkonsum innewohnt, voll zutage. Es spiegelt sich auf andere Weise auch in dem letzten Text wider, der hier vorgestellt werden soll. Im März 2018 erschien in der Printausgabe des Focus ein Artikel, in dem die Redakteurin Elisabeth Krafft über ihren Selbstversuch berichtet: Sie will vier Wochen vegan leben (Krafft 2018). Ihre persönlichen Erfahrungen bilden den Rahmen des Artikels, in dem sie von ihren Gesprächen mit Ärzt:innen und einer Ernährungsberaterin berichtet und ansonsten sachlich und umfangreich den aktuellen Stand der Ernährungswissenschaft zu den Fragen darstellt, auf welche Weise eine vegane Ernährung möglich ist und was die Schwierigkeiten dabei sind. Das Konfliktpotenzial des Artikels ist stark eingeschränkt, da es sich um ein zeitlich begrenztes Experiment handelt, das explizit nur auf den gesundheitlichen Aspekt des Veganismus ausgerichtet ist. Gesundheit wird implizit darüber definiert, ob bei einer bestimmten Ernährungsweise alle Stoffe in ausreichendem Maße zur Verfügung stehen, die der Mensch nach aktuellem medizinischem Wissensstand braucht. Es wird dargestellt, wie viele Walnüsse, Grünkohl oder Blattspinat man essen muss, um ausreichend mit Omega-3-Fettsäuren, Kalzium oder Eisen versorgt zu werden, und dass unbedingt Vitamin B12 über Nahrungsergänzungsmittel zugeführt werden muss. Die Auswirkungen auf ihren Körper beschreibt Krafft am Ende ihres Artikels: Nach drei Wochen bemerke ich Veränderungen an meinem Körper. Obwohl meine Mahlzeiten größer werden und ich häufiger esse, habe ich zwei Kilogramm abgenommen. Freunde und Kollegen sprechen mich mehrfach auf meine neuerdings ‚gesunde und frische Gesichtsfarbe‘ an. Tatsächlich ist meine Haut so rein wie zuletzt vor meiner Pubertät. Und das, obwohl ich weiter gern und viel rauche und gelegentlich auch ein Bier trinke. Fitter fühle ich mich allerdings nicht. Ich schlafe auch nicht besser oder schlechter, kann mich nicht länger konzentrieren. Der abschließende Bluttest zeigt: Nach einem Monat Veganismus habe ich einen Jod-Überschuss. Ich salze offenbar zu kräftig. Davon abgesehen, bleiben meine Werte nahezu gleich. (Krafft 2018, 83)
Wie der Artikel fällt also auch das Fazit der Autorin unaufgeregt und sachlich aus, als Autoritäten für die positiven Veränderungen werden neben der Zahl auf der Waage die Äußerungen von „Freunden und Kollegen“ angeführt (Krafft 2018, 83). Illustriert ist der Artikel mit Collagen aus Tuschezeichnungen und Fotografien (Abb. 3): Mit wenigen Tuschestrichen skizzierte, sehr große und dünne Frauen in Model-Posen tragen Kleider aus Obst und Gemüse. Damit ergänzt die Artikel-Aufmachung die Überschrift „Vegan, nur Mode oder mehr?“ und charakterisiert die vegane Ernährung als harmlosen Trend, wobei die pflanzli-
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Abb. 6: Die skizzierten Models präsentieren den Veganismus als Mode und erläutern zugleich die gesundheitlichen Vorteile der Nahrungsmittel, die sie tragen. Beispielsweise steht bei der Figur ganz rechts: „Roter Kohl. Im Wintergemüse stecken Anthocyane, die entzündungshemmend wirken“ (Krafft 2018, 74–75, Illustrationen von Gretchen Röehrs, Focus 11/2018 vom 10. März 2018).
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chen Lebensmittel und ihre positiven Auswirkungen auf die Gesundheit ins Zentrum gestellt werden. Der Focus-Artikel und seine Aufmachung stehen jedoch in krassem Gegensatz zu seiner Ankündigung auf dem Cover der Ausgabe (Abb. 7): Hier wogt eine grüne Gemüsewelle aus Salat, Bohnen und Erbsen über die gesamte Titelseite, neben der Überschrift: „Gesund oder gefährlich? Die vegane Welle. Warum Mil-
Abb. 7: Das Cover des Focus, das Kraffts Artikel ankündigt, spricht bild- und sprachmetaphorisch eine ganz andere Sprache als der Artikel selbst und seine Illustrationen. Statt „Mode oder mehr?“ wird hier gefragt: „Gesund oder gefährlich?“ (Krafft 2018, Cover, Focus 11/2018 vom 10. März 2018).
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lionen Menschen auf tierische Produkte verzichten und was Sie über vegane Ernährung wissen sollten.“ Wie in der Artikelüberschrift steht auch hier eine Entweder-oder-Frage in Form einer Alliteration im Zentrum. Jedoch werden auf dem Cover nicht „Mode oder mehr?“, sondern „Gesund oder gefährlich?“ einander gegenübergestellt. Die Metapher der Welle in Wort und Bild zitiert dabei ein bedrohliches Szenario einer nahenden Gefahr herbei, die über den Leser:innen zusammenschlagen könnte. Wird der Veganismus im Innenteil als modisches Kulturprodukt inszeniert, wird er auf dem Cover zur Naturgewalt stilisiert. Eine ironische Brechung liegt darin, dass die dargestellte Welle aus Gemüse besteht. Dennoch lässt sich feststellen, dass hier eine Leseerwartung geweckt wird, die die Erzählung im Artikel nicht erfüllt: Die Covergestaltung knüpft an das in der Gesellschaft alltäglich feststellbare Konfliktpotenzial des Themas Fleischkonsum und Fleischverzicht an und spricht so vermutlich eine größere Leserschaft an, als es der Fall wäre, wenn etwa die Obst und Gemüse tragenden Damen auf dem Titel zu sehen wären.
6 Fazit In Hinblick auf die exemplarisch untersuchten Texte lässt sich zusammenfassen, dass die Verfasser:innen, die darin die gesundheitlichen Vorteile einer fleischlosen Ernährung schildern, Gesundheit sehr unterschiedlich kontextualisieren. Das wurde insbesondere an den Erzählungen von Baltzer und Struve deutlich, obwohl beide fast zeitgleich publizieren, gemeinsame Interessen teilen und in persönlichem Kontakt stehen. Eine Vorstellung von dem, was traditionell als durch fleischhaltige Ernährung beförderte Gesundheit gelten mag, wurde anhand einiger kritischer Kommentare zum Vegetarismus in dessen Anfangszeit, der Erzählung der „Ex-Veganerin“ Frielinghaus sowie der Werbung für Fleisch in den 1970er Jahren aufgerufen. Die dort genannten Gesundheitsdimensionen von Kraft, Energie, Vitalität und einem tätigen Leben, die insbesondere unter Berufung auf das tierische Eiweiß mit dem Verzehr von Fleisch verbunden wurden und werden, finden sich genau so auch in Erzählungen von einer fleischlosen Ernährung, die diese Form von Gesundheit als eine genuin vegetarische oder vegane beschreiben. Zusätzlich gibt es Erzählungen wie die des Strongman Baboumian, die ein stereotyp fleischbezogenes Gesundheitsbild wie das der herausragenden Muskelkraft gezielt aufgreifen und performativ eine Brechung dieses Stereotyps vorführen. Die Grenzen zwischen verschiedenen Konzepten von Gesundheit verlaufen, soweit sich das an den Textbeispielen exemplarisch aufzeigen lässt, nicht zwischen einer fleischhal-
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tigen Ernährung auf der einen und einer fleischlosen Ernährung auf der anderen Seite, sondern kreuz und quer durch die verschiedenen Ernährungsformen. Sowohl der Vegetarismus vor 150 Jahren als auch der Veganismus heute werben mit einer besonderen Qualität von Gesundheit, die aus diesen Lebensweisen resultieren soll. Gleichzeitig wurden und werden beide Ernährungsformen von außen mit Mangelernährung und daraus resultierenden Krankheiten kausal in Verbindung gebracht. Umgekehrt wird auch einer fleischhaltigen Ernährung damals wie heute mitunter pauschal vorgeworfen, dass sie zu chronischen Erkrankungen führe. Für die Selbst- und Fremderzählungen spielen dabei die jeweiligen Label ‚vegan‘ oder ‚vegetarisch‘ eine wichtige Rolle. Beschränkt sich die Beschreibung der Ernährung aber auf diese Bezeichnungen, ohne dass die genaue Ausgestaltung des Ernährungs- und Lebensstils berücksichtigt wird, so muss infrage gestellt werden, inwiefern Kategorien wie omnivor, pescitarisch, lactovegetarisch, vegetarisch oder vegan überhaupt etwas darüber aussagen, wie gesund jemand ist oder sich ernährt, und zwar weitgehend unabhängig davon, welches Konzept von Gesundheit dabei angelegt wird. Anhand des immer wieder hervortretenden Konfliktpotenzials um das Thema Gesundheit im Zusammenhang mit dem Konsum tierischer Lebensmittel stellt sich eine weitere Frage: nämlich ob hierbei auf dem Feld der vermeintlich objektivierbaren Gesundheit eine Schlacht ausgefochten wird, die eigentlich auf das Feld der Ethik beziehungsweise der subjektiven Moral gehört (im Sinne von: ‚Ich brauche Fleisch, um gesund zu sein, also ist es gerechtfertigt, Tiere zu töten‘, oder auch: ‚Ich brauche kein Fleisch, um gesund zu sein, und wenn es nicht gesundheitlich nötig ist, ist es auch nicht ethisch gerechtfertigt, Tiere zu töten‘). Wenn den Erzählungen von Gesundheit auf diese Weise eine ideologische und letztlich politische Dimension zugrunde gelegt wird, da durch sie ein bestimmtes Essverhalten gerechtfertigt oder auch bei anderen hervorgerufen werden soll, bietet dies erstens einen Erklärungsansatz für das hohe Konfliktpotenzial, das dieses Thema umgibt. Zweitens muss dann diese Ebene bei der Analyse von Erzählungen, die sich offiziell mit Gesundheit und damit einem auf den ersten Blick sowohl rein persönlichen als auch sachlichen Thema befassen, mitberücksichtigt werden: Nicht zuletzt lässt die potenzielle politische Dimension die Erzähler:innen von Gesundheit durch Fleischverzehr und Fleischverzicht zuweilen als unzuverlässig erscheinen, etwa wenn Gustav Struve in einem Brief an Eduard Baltzer die gesundheitlichen Folgen einer fleischlosen Ernährung apriorisch vorwegnimmt: „Was moralisch gut ist, kann nicht in physischer Beziehung nachtheilig sein“ (Baltzer 1868, 7).
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Heile Welt: Das Motiv der Gesundheit in Sportive (1925) von Marthe Bertheaume 1925 erscheint im Verlag Les Éditions de la vraie France der Roman Sportive. Autorin ist die Ärztin Anne Darcanne-Mouroux, die den Text – wie andere ihrer Romane – unter dem Pseudonym Docteur Marthe Bertheaume veröffentlicht (Bauer 2005, 91). Die Verschränkung von literarischem und medizinischem Diskurs, die hier bereits sichtbar wird, nimmt im vorangestellten Vorwort auf poetologischer Ebene Form an. Der kurze Text gibt Auskunft über das Programm des Verlags. Veröffentlicht werden Romane, so der préfacier Firmin Roz, die „des œuvres saines, vigoureuses et, de ce fait même, non plus déprimantes, mais toniques“ (Bertheaume 1925, 3–4)1 sind. Die Charakteristika, die den Texten zugeschrieben werden, beschreiben zugleich deren Effekt auf die Leser, ja sogar die französische Gesellschaft im Ganzen: Gesunde Werke für eine heile Welt. Als so krankhaft wie krankmachend wird dagegen jene Literatur wahrgenommen, die in ihrem Innovationsdrang mit den traditionellen Gattungsnormen des Romans – oder zumindest mit dem, was der préfacier darunter versteht – bricht. Der Gegensatz von gesund und krank durchzieht als antithetisches Motiv das gesamte Vorwort. Der Roman soll lebhaft vom Leben erzählen, anstatt sich in einem „sentimentalisme morbide“, einer morbiden Gefühlsduselei, oder in einer ungezügelten Sinnlichkeit, einer „sensualité débridée“, zu verlieren (Bertheaume 1925, 3). Folglich werden Texte wie „des carnets de notes, des fragments de journal intime, des recueils d’impressions, de réflexion entremêlées d’ironie ou de lyrisme“2, die auf individueller Anschauung und Reflexion beruhen, aus der Gattung des Romans und aus dem Verlag ausgeschlossen (Bertheaume 1925, 3). Der Fokus auf die Handlung und eine konkrete Darstellungsweise kennzeichnen den gattungsmäßigen Roman, der einen gesellschaftlichen und künstlerischen Doppelauftrag erfüllen soll: In der „période troublée“, als die die unmittelbare Gegenwart wahrgenommen wird (Bertheaume 1925, 4), soll er zur Restauration der Nation und zur Verbesserung, ja Gesundung des literarischen Systems („assainir l’atmosphère littéraire“, Bertheaume 1925, 4) beitragen.
1 „[G]esunde, kraftvolle Werke und, aus demselben Grund, nicht mehr deprimierend, sondern anregend“. Da Bertheaumes Roman nicht ins Deutsche übersetzt ist, stammen sämtliche Übersetzungen aus dem Französischen von der Verfasserin. 2 „Notizbücher, Tagebuchfragmente, Sammlungen von Eindrücken, mit Ironie oder Lyrik vermischte Betrachtung“. https://doi.org/10.1515/9783110747928-011
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Der Roman von Docteur Bertheaume fügt sich in mehrfacher Hinsicht in das im Vorwort formulierte Verlagsprogramm ein. So nimmt die Autorin mit der Geschichte um die junge Sportlerin Herviane und deren zwar konflikt-, aber letztlich erfolgreiche Einordnung ins bürgerliche Wertesystem Sujet und Gattung des traditionellen Entwicklungsromans, des roman de formation und „roman édifiant“ (Charreton 1992, 105), auf. Der Forderung nach einer gesellschaftlich erbaulichen Literatur wird der Roman überdies durch seinen kaum verhohlenen didaktischen Impetus gerecht. Doch auch auf inhaltlicher Ebene scheint Bertheaumes Roman das Anliegen einer „gesunden Literatur“ aufzugreifen, und zwar im wörtlichen Sinne. So entwirft der Text mit Herviane die Figur der sportive, die wesentlich durch ihre Gesundheit gekennzeichnet ist. Der Beitrag geht daher der Frage nach, welche strukturelle Relevanz das Gesundheitsmotiv im Roman besitzt. Nach einer knappen Zusammenfassung der Romanhandlung soll in einem ersten Schritt der Begriff der Gesundheit zum Sport und zur Sportliteratur der Zwischenkriegszeit in Beziehung gesetzt werden. Diese zunächst scheinbar getrennt zu betrachtenden Phänomene sind als Epiphänomene einer allgemeinen, zeitgenössischen Hinwendung zum Körper zu verstehen. In einem zweiten Schritt ist danach zu fragen, wie in der literarischen Figur der sportive Gesundheit und Schönheit aufeinander bezogen und dabei zur Grundlegung eines neuen Entwurfs von Weiblichkeit werden. Davon ausgehend soll in den beiden abschließenden Kapiteln gezeigt werden, dass die Ambivalenz der potentiell subversiven Momente, die über die Ausgestaltung des sportlichen Körpers Eingang in den Text finden, durch das Motiv der Gesundheit eingefangen wird. Der Roman wird auf diese Weise dem Bildungsauftrag gerecht, den das Vorwort auf so unmissverständliche Weise formuliert.
1 Das Interesse am Körper: Sport und Gesundheit in der Zwischenkriegszeit Mit der Wahl des Sports als Erzählgegenstand steht Bertheaume in jenem Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts keineswegs allein. Ganz im Gegenteil ist ihr Roman in den auffälligen Aufschwung einer Literatur einzuordnen, die sich dem Sport zuwendet. In einem solch bemerkenswerten Maße werden diese Texte in den 1920er und noch in den 1930er Jahren veröffentlicht, dass die Forschung für diesen Zeitraum vom Höhepunkt der littérature sportive spricht.3 Auch den Zeitge-
3 Siehe u. a. Charreton 1985 und Gaucher 2010.
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nossen ist dieser Aufschwung nicht entgangen. Neben Romanen lassen sich Gedichte, Dramen sowie zahlreiche Essais und andere Prosaformen dieser heterogenen Gruppe von Sporttexten zuordnen. Heterogen ist die Sportliteratur dabei nicht nur, weil sie eine Vielzahl unterschiedlicher Gattungen umfasst, sondern auch aufgrund ihrer Ausdehnung innerhalb des literarischen Feldes. So wird der Sport beispielsweise von den Avantgarden als Gegenstand literarischer Innovation erprobt und ist zugleich ein auffällig häufig gewähltes Sujet der Unterhaltungs- und Trivialliteratur, der auch Bertheaumes Sportive zuzurechnen ist. Diese Publikationszahlen sind aufschlussreich, denn sie zeugen vom Interesse der Literatur an einem Gesellschaftsphänomen, das zuvor als elitäre Mode der aristokratischen Oberschichten, als nationalistisches Projekt oder als Sonntagsbeschäftigung der populären Schichten nur partielle Bedeutung besessen hatte. Nun aber rückt der Sport in den Mittelpunkt der sozialen Aufmerksamkeit und behauptet sich mit auffälliger Vehemenz. „[E]ntre les deux guerres, sport amateur, sport professionnel, mais aussi éducation physique scolaire et non scolaire, peuvent s’épanouir de manière relativement organisée. Le sport moderne […] se construit sur la base d’un certain nombre d’éléments qui reflètent assez bien le fonctionnement d’une démocratie à la fois libérale et centralisée: record, hiérarchisation des résultats, classement, sélection“ (Loudcher 2007, 127).4 Dieser Aufschwung des Sports lässt sich auch mit einer gesamtgesellschaftlichen Hinwendung zum Körper erklären. So steht in der von der Krise des Ersten Weltkriegs erschütterten französischen Gesellschaft der kulturelle Blick auf den Körper zur Disposition. Die versehrten Körper der Kriegsteilnehmer lassen die Frage nach physischer Leistungsfähigkeit und Krankheit aktuell werden, die Emanzipation der Frau stellt traditionelle Geschlechterentwürfe auf die Probe, nationalistische und chauvinistische Konkurrenzen artikulieren sich in Diskussionen über Physiognomik und Rasse. Nicht zuletzt bringt der veränderte gesellschaftliche Blick auf den Körper die Gesundheit in den Fokus und dies, wie das Vorwort der Sportive zeigt, auch in übertragener Bedeutung. Als eminent physische Praxis, die den Körper so unübersehbar ausstellt, bietet sich der Sport als gemeinsames Artikulationsfeld dieser unterschiedlichen, auf den Körper bezogenen diskursiven Aushandlungen geradezu an. Verlangt der Sport bereits als unerhört neues Phänomen nach Deutung, so gilt dies umso mehr, als seine umstrittene kulturelle Textur an den Säumen offen ist für
4 „[Z]wischen den beiden Kriegen können sich Amateursport, Profisport, aber auch innerund außerschulische Leibeserziehung relativ organisiert entfalten. Der moderne Sport [ … ] beruht auf einigen Bausteinen, die das Funktionieren einer sowohl liberalen als auch zentralisierten Demokratie recht gut abbilden: Rekord, hierarchische Anordnung der Ergebnisse, Rangfolge, Auswahl … “
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andere Semantisierungen des Körpers. An dieser intertextuellen und intermedialen Verhandlung rund um den Sport nimmt die Sportliteratur mit ihren Mitteln teil. Die Texte wie Bertheaumes Sportive sind folglich sowohl in ihrer Zeugen- als auch in ihrer Akteursfunktion zu betrachten: Einerseits tragen sie Spuren kultureller Konstruktionen, andererseits schreiben sie selbst mit an jenem gesellschaftlichen Aushandlungsprozess, in dem sich unterschiedliche Diskurse verschränken. So bestimmt die Verhandlung von Sport, Gesundheit und Geschlecht auch Bertheaumes Sportive. Der Roman setzt ein mit dem Eintritt der jungen Heldin Herviane Marly in einen Frauensportverein. Die Sportlerinnen werden als junge Mädchen gezeichnet, die vor Gesundheit und Leben strotzen, als „jeunes filles, exubérantes de santé et de vie“ (Bertheaume 1925, 225). Sie nennen sich „Les Amazones“, und dieser Name ist durchaus sprechend: Für Herviane, die das Herumsitzen im Philosophiestudium an der Sorbonne ebenso ablehnt wie die tänzerischen Rhythmusübungen am lycée, wird der Sport zu Mittel und Ausdruck ihrer Emanzipation. Ihre Identitätssuche ist zunächst vom Sport katalysiert, der ihr zu körperlicher und schließlich auch moralischer Gesundheit und Stärke verhilft. Herviane steht zwischen zwei Männern. Beide begehren sie, doch unterscheiden sie sich nicht zuletzt durch ihre Physiognomik, die körperlich sichtbarer Ausdruck ihres Charakters ist: Hervianes Ehemann, dem so breitschultrigen wie tatkräftigen und standhaften Soldaten Gérald, steht der Intellektuelle Maxime gegenüber, der – eher dicklich und ziemlich schnell außer Puste – den Betrüger und Verführer verkörpert. Auch der Wendepunkt der Erzählung wird durch das Gesundheitsmotiv markiert: Hervianes Sportkameradin Lucette stirbt, und zwar durch übermäßiges Sporttreiben. Sie hat alle Ermahnungen ihrer Freundin in den Wind geschlagen, die sie gewarnt hatte: „La gloriole d’être sacrée championne du cross-country ne vaut pas la ruine de votre santé, je vous assure!“ (Bertheaume 1925, 219).5 Der Tod Lucettes bringt Herviane zu der Einsicht, dass sie den Sport fälschlicherweise zum Ideal erkoren hat. Damit ist die sportive nun bereit, ihren Ehemann Gérald ehrlich zu lieben und ihre Rolle als Gattin und Mutter wahrzunehmen.
2 „La nouvelle sportive“ Die gesellschaftlichen und literarischen Aushandlungen um Sport und Körper artikulieren sich in den Sportromanen der Zwischenkriegszeit auch in der Figur
5 „Der Stolz, gekrönte Siegerin im Cross-Country zu sein, ist es nicht wert, Ihre Gesundheit zu ruinieren, das versichere ich Ihnen!“
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der sportive.6 Charakteristisches Attribut der sportive Bertheaumes ist dabei die Gesundheit, in der die virulenten und gegenläufigen Diskursivierungen der Zeit verschränkt sind: Weibliche Schönheit liegt nun in der Gesundheit der Sportlerin begründet. Diese Verbindung von Schönheit und Gesundheit findet sich wiederkehrend im Roman. Als „jeunes filles, exubérantes de santé et de vie“ (Bertheaume 1925, 225) haben wir die Sportlerinnen bereits kennengelernt. Eine „saine joie“, eine gesunde Freude, leuchte in den Augen Hervianes, ist an anderer Stelle zu lesen (Bertheaume 1925, 179). In der sportlichen Leistungsfähigkeit stellt die sportive ihre Gesundheit unter Beweis, als „force“, als körperliche Stärke und Muskelkraft, stellt der Körper der sportive seine Gesundheit sichtbar zur Schau.7 Die Sportlerin zeichnet sich durch ihren Bewegungsdrang aus; sie springt, läuft und wälzt sich auf dem Rasen, eilig bewegt sie sich selbst außerhalb des Stadions. Erst körperliche Ertüchtigung sorgt für körperliche Schönheit, stellt die Bildhauerin Jacqueline fest: „[S]i les filles développaient davantage leurs muscles, je verrais moins de modèles malingres à dos arrondis. […] rien que des poupées de son dégonflées qui n’avaient ni épaules, ni hanches, ni … ni rien du tout, quoi! Les Grecs n’étaient point si bêtes: fortifier le corps pour l’embellir“ (Bertheaume 1925, 23).8 Den als Puppen zwar hübschen, aber formlosen und entmenschlichten „Puppen aus Kleie“ sind die Sportlerinnen aus Fleisch, Blut und Muskeln gegenübergestellt, die schön sind, weil sie stark sind. Der beschreibende Blick des Erzählers ruht auf dem „kraftvollen Spiel der Muskeln Hervianes“, auf dem „jeu puissant des muscles d’Herviane“ (Bertheaume 1925, 32) sowie auf den „jambes solides“, kräftigen Beinen, und „corps souples“, geschmeidigen Körpern, (Bertheaume 1925, 36) der Sportlerinnen, Herviane beschreibt sich als „robuste“, ihre Muskeln als „solides“ (Bertheaume 1925, 96). Dass diese neuen, muskulösen Frauenkörper als schön wahrzunehmen sind, stellt Bertheaumes Roman auf seine gewohnt explizite Weise klar. Für Neillo, den Trainer der „Amazones“, ist Herviane die ideale sportive: „Herviane représentait vraiment la sportive telle qu’il l’imaginait dans ses meilleurs rêves, ennob6 Einschlägig dazu die Arbeiten von Gaucher und Bauer; siehe u. a. Gaucher 2004 und Bauer 2011. 7 Bauer liest dies als intertextuellen Verweis auf das einflussreiche, 1919 erschiene Buch Muscles et beauté plastique féminine des französischen Offiziers und Pädagogen Georges Hébert, der als Begründer der Méthode naturelle gilt: „[Bertheaume] Elle cite implicitement divers groupements de la ‘méthode naturelle’, aussi pastiche les substantifs ‘force’ et ‘beauté’ qui constituent avec celui de ‘santé’ les leitmotivs hébertistes“ (Bauer 2005, 98). 8 „[W]ürden die Mädchen ihre Muskeln besser entwickeln, sähe ich weniger schmächtige Modelle mit runden Rücken. […] nichts als schlaffe Puppen aus Kleie, die weder Schultern, noch Hüften, noch … noch überhaupt irgendetwas hatten! Die Griechen waren nicht so dumm: den Körper stärken, um ihn schöner zu machen.“
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lie de grâce et de force. – Les femmes les plus braves sont aussi les plus douces“ (Bertheaume 1925, 116).9 Aufschlussreich ist hier die chiastische Verbindung von „Anmut“ und „Stärke“ einerseits und „die mutigsten“ und „die sanftesten“ andererseits: Auf originelle Weise sind im Zitat Neillos weiblich und männlich codierte Attribute aufeinander bezogen, sodass die sportive sowohl durch Anmut und Zartheit als auch durch Stärke und Mut gekennzeichnet ist. Auch an anderer Stelle findet sich die diese Merkmalsübertragung geschlechtlicher Codes: Der sportive werden Muskelkraft, Präzision (Bertheaume 1925, 31) und Disziplin in der Bewegung (Bertheaume 1925, 36), „ferme volonté“, eisernen Willen, (Bertheaume 1925, 97) und Aktivität zugeschrieben. Ihre konventionell weibliche Silhouette ist in einer geschlechtlich nicht klar bestimmbaren jugendlichen Gestalt, „forme juvénile“ (Bertheaume 1925, 31) aufgegangen; als „adolescent“, Jugendliche (Bertheaume 1925, 31), und „jeune pâtre“, junger Hirte (Bertheaume 1925, 71), erscheint die Sportlerin im Stadion. Auch sie besitzt „grâce“, die sich nun jedoch als Bewegung, Rhythmus und physische Stärke zeigt; das weibliche Attribut der Anmut hat damit durch den Sport eine wesentliche Umsemantisierung erfahren. Der Roman lässt diese Reflexion einer sportlich-gesunden Schönheit nun nicht einfach für sich selbst sprechen, sondern erhebt die sportive, die dieses Konzept verkörpert, zum Entwurf der neuen Frau. Herviane nimmt für sich in Anspruch, die Rolle von Sportlerin und Mutter übernehmen zu können, wie dies auch andere vor ihr getan haben, und deklamiert: Je reconnais que mener une double tâche eût excédé les forces des femmes d’un autre temps; celles de la génération nouvelle ont appris à développer leur résistance. Je me sens robuste, mes muscles solides obéissent à ma ferme volonté: pourquoi ne serais-je pas capable d’imiter plusieurs de mes camarades, mères de beaux enfants? La gardienne de but des Amazones jouait encore au foot-ball deux mois avant la naissance de son petit garçon. Voilà quels seront les exemples de santé et de vaillance donnés par les sportives de l’ave(Bertheaume 1925, 97) nir, et la société n’y perdra rien!10
9 „Herviane stellte wahrhaft die Sportlerin dar, wie er sie sich in seinen kühnsten Träumen vorstellte, erhaben dank Anmut und Kraft. – Die mutigsten Frauen sind auch die sanftesten.“ 10 „Ich gestehe ein, dass es die Kräfte der Frauen einer anderen Zeit überfordert hätte, eine doppelte Aufgabe zu erfüllen; die Frauen der neuen Generation haben gelernt, ihre Widerstandsfähigkeit zu entwickeln. Ich fühle mich stark, meine kräftigen Muskeln gehorchen meinem festen Willen: Warum sollte ich nicht in der Lage sein, mehrere meiner Kameradinnen nachzuahmen, die Mütter hübscher Kinder sind? Die Torhüterin der ‚Amazones‘ spielte zwei Monate vor der Geburt ihres kleinen Jungen noch Fußball. Dies sind die Beispiele von Gesundheit und Tapferkeit, die die Sportlerinnen der Zukunft abgeben, und die Gesellschaft wird dabei nichts verlieren!“
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Das Bild der gesunden, der kraftvollen und leistungsstarken Frau wird hier über die bereits bekannte Isotopie der Lebenskraft aufgerufen. Hinzu kommt in dieser Passage das emanzipatorische Programm der sportive. Explizit grenzt sich Herviane von den Frauen der Vergangenheit ab und erklärt die sportive damit zu einem Generationenphänomen. Im Futur verfasst, erlaubt Hervianes Rede einen prophetischen Blick in die Zukunft; die Sportlerinnen, heute schon die „Sportlerinnen der Zukunft“, sollen Vorbild sein für künftige Frauen. Durch ihr Beispiel sollen sie nicht nur weibliches Verhalten neu ausrichten, sondern mit ihren „hübschen Kindern“ auch für ein Fortdauern der gesamten Gesellschaft sorgen. „Vous datez, chère Line, avec vos précautions“, sagt Herviane, als Jacqueline ihr vorhält, trotz ihrer Schwangerschaft Sport zu treiben, und fährt fort: „prenez-vous donc les femmes nouvelles pour des poupées cassables, quand le sport nous a transformées en des créatures de force et de santé?“ (Bertheaume 1925, 247).11 Dieses Weiblichkeitsideal tritt in Bertheaumes Roman umso deutlicher hervor, als die sportive mit alternativen Geschlechterentwürfen konfrontiert ist. Innerhalb der Figurenkonstellation stehen Herviane die beiden älteren Frauen Elisabeth und Jaqueline gegenüber, die beide eine Art Mutterrolle übernehmen. Während Jacqueline, die Männerkleider trägt und ostentativ Zigarre raucht, einen aus der Mode gekommenen Feminismus, einen „type de féministe démodé“ (Bertheaume 1925, 17) verkörpert, kontrastiert Hervianes mondäne Tante Elisabeth als eine jener „zerbrechlichen Puppen“ mit der Sportlerin. Auch die Beschreibungen der beiden weiblichen Körper von Elisabeth einerseits und der sportive Herviane andererseits zeigen einen auffälligen Gegensatz. So heißt es beispielsweise über Elisabeth: Mlle Cigalas jeta le bout de sa cigarette dans la sébile d’étain qui reposait sur un guéridon à ses côtés, étira ses bras, longs et minces, avec une feinte lassitude, et s’assit sur le bord du divan, son corps souple de femme encore jeune drapé dans des voiles de soie grise dont les manches voletaient comme des ailes. Son visage aux traits fins, mais un peu tourmentés, éclairé par des yeux noirs passionnées et étranges, prit une expression d’ennui.12 (Bertheaume 1925, 19)
11 „Sie sind von vorgestern, liebe Line, mit Ihren Vorsichtsmaßnahmen. Halten Sie denn die neuen Frauen für zerbrechliche Puppen, wenn der Sport uns in Geschöpfe von Kraft und Gesundheit verwandelt hat?“ 12 „Mlle Cigalas warf das Ende ihrer Zigarette in das Zinnschälchen, das auf einem Sockel neben ihr lag, streckte mit einer vorgetäuschten Mattheit ihre langen, schlanken Arme aus und setzte sich auf den Rand der Couch, ihr geschmeidiger Körper einer noch jungen Frau in Schleider aus grauer Seide gehüllt, deren Ärmel wie Flügel flatterten. Ihr Gesicht mit seinen feinen, aber leicht gequälten Zügen, das von schwarzen und merkwürdigen Augen erleuchtet war, nahm einen Ausdruck von Lustlosigkeit an.“
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Während Körper und Bewegungen der sportive Aktivität ausstrahlen, sind Elisabeth „Ermattung“ und „Lustlosigkeit“ zugeordnet. Unmittelbar und manches Mal gegen Hervianes Willen artikuliert der Körper der sportive seine Regungen. Zwischen den Körper Elisabeths und dessen Ausdruck scheint dagegen eine verzerrende Ebene eingezogen zu sein: Die „Lustlosigkeit“ des Körpers ist nur vorgetäuscht; reckt Elisabeth die Arme oder nimmt sie auf dem Rand des Sofas Platz, so gleichen diese Bewegungen einer Inszenierung des Körpers, der in seiner erotischen Weiblichkeit präsentiert wird. Auch kontrastiert die muskulöse Nacktheit der Sportlerin mit dem dekorativ verhüllten Körper der Bürgerlichen. Elisabeths Körper ist selbst Zeichen und weist stets über sich hinaus – er markiert den sozialen Status, er wird auf das Begehren hin gestaltet. „La nudité prend un sens moral“, kommentiert Pierre Charreton, „le vêtement étant ressenti comme un décor artificiel destiné à cacher le corps ou à le recouvrir d’un signe social“ (Charreton 2005, 124).13 Elisabeths Körper geht in einer Geste des Bezeichnens auf, wo der Körper der sportive in der Bewegung seine Eigenlogik behauptet. Deutlich erteilt der Roman den von Jacqueline und Elisabeth verkörperten Weiblichkeitsentwürfen eine Absage. So kommentiert der Erzähler Jacquelines feministisches Auftreten mit den Worten: „[U]ne irréductible ennemie des aventures sentimentales, Mme Berton ne se rendait point compte qu’elle s’efforçait, par ses allures et par sa tenue, de ressembler aux représentants d’un sexe détesté“ (Bertheaume 1925, 18).14 Zwar zeichnet sich Elisabeth demgegenüber durch ihre Empfindsamkeit aus, doch wird auch diese Alternative verhandelt, um deutlich abgewertet zu werden. So wird Elisabeths „sensibilité exaspérée“, ihre überreizte Empfindsamkeit (Bertheaume 1925, 20) in ursächlichen Zusammenhang mit einer Nervenkrankheit gestellt, die sich im Lauf der Handlung immer deutlicher zeigt. Ist diese Empfindsamkeit zwar für die Schriftstellerin Elisabeth einerseits Quell einer „poésie sensuelle“, einer sinnlichen Dichtung, und ihres bezaubernden Stils, ihres „style enchanteur“ (Bertheaume 1925, 24), so wandelt sie sich andererseits nach und nach zur Schizophrenie und verkehrt sich in eine Form pathologisch gestörter Innerlichkeit. In ihrer sportlichen Bezogenheit auf den Körper erscheint Herviane dagegen als moderne Frau, die sowohl den überholten Feminismus Jacquelines, der
13 „Die Nacktheit erhält eine moralische Dimension, da das Kleidungsstück als künstlicher Dekor empfunden wird, der dazu bestimmt ist, den Körper zu verstecken oder ihn mit einem sozialen Zeichen zu bedecken.“ 14 „Als unverwüstliche Feindin sentimentaler Abenteuer erkannte Mme Berton nicht, dass sie sich durch ihr Aussehen und ihre Kleidung bemühte, den Vertretern eines verhassten Geschlechts zu gleichen.“
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den Körper leugnet, als auch die Empfindsamkeit Elisabeths, der den Körper in sinnlicher Passivität belässt, überwunden hat. „[S]on amour de l’action m’effraie et elle se moque du sentiment“ (Bertheaume 1925, 21)15, sagt Elisabeth über ihre Nichte. Die ihrerseits enthebt den weiblichen Körper seiner üblichen gesellschaftlichen Funktionalisierung und ordnet ihn der sportlichen Logik unter, wenn sie ihren Kurzhaarschnitt pragmatisch begründet: „Mes cheveux étaient trop longs, ils me gênaient, alors je m’en suis débarrassée; une sportive fait passer l’utile et le commode avant ces soucis de coquetterie qui entravaient la liberté d’allures de nos aïeules; nous ne voulons plus être prises pour des poupées!“ (Bertheaume 1925, 93)16 Die Sportlerinnen brechen mit den Weiblichkeitsvorstellungen ihrer „Vorfahren“; zur Repräsentantin eines vollendeten Typus der neuen Frauen, eines „type achevé de la femme nouvelle“, wird jedoch nur die sportive Herviane erhoben: Ce soir même, les regards admiratifs des abonnés du Théâtre-Français avaient fait entendre à la sportive qu’elle était, dans une salle de spectacle comme sur le terrain, celle que les femmes envient de retenir trop aisément l’attention des hommes. Vêtu d’une robe lamée d’argent, dont la draperie se nouait à la taille sous une rose de Noël, les bras nus depuis l’emmanchure, la camarade de Lucette, qui, au bois de Bellevue, s’était assise en costume démocratique sur la terre gelée, représentait, dans la maison consacrée par des siècles d’esprit et de bon goût, le type achevé de la femme nouvelle. Aucune n’avait, dans les groupes qui se croisaient au foyer, l’allure d’Herviane, cette décision, cette grâce de mouvements, cette démarche ailée que seule une perpétuelle culture de l’attitude permet (Bertheaume 1925, 226–227) aux gestes d’acquérir.17
Syntaktisch und semantisch werden hier bürgerliche Welt und die Welt des Sports einander gegenübergestellt: Das traditionsreiche Théâtre-Français kon-
15 „Ihre Liebe zur Tat macht mir Angst und Gefühle sind ihr gleichgültig.“ 16 „Mein Haar war zu lang, es störte mich, also bin ich es losgeworden; eine Sportlerin stellt das Nützliche und die Praktische über jene koketten Sorgen, die die Bewegungsfreiheit unserer Vorfahren behinderten; wir wollen nicht mehr für Puppen gehalten werden.“ 17 „An eben diesem Abend hatten die bewundernden Blicke der Abonnenten des Théâtre-Français der Sportlerin deutlich gemacht, dass sie sowohl im Theater als auch auf dem Platz diejenige ist, die die Frauen dafür beneiden, dass sie allzu leicht die Aufmerksamkeit der Männer erhält. In einem silbernen Lamékleid, dessen Stoff an der Taille unter einer Christrose zum Knoten geschlungen war, die Arme nackt ab dem Schultern, verkörperte Lucettes Kameradin, die im Bois de Bellevue in demokratischer Tracht auf dem gefrorenen Boden gesessen hatte, in dem durch Jahrhunderte des Geistes und des guten Geschmacks geweihten Haus den vollendeten Typus der neuen Frau. Keine von ihnen, in den Gruppen derer, die sich im Foyer trafen, hatte diese Entschiedenheit, diese Anmut der Bewegung, diesen geflügelten Gang, den die Bewegungen nur durch eine unablässige Schulung der Haltung erlangen können.“
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trastiert mit dem Wald an der urbanen Peripherie, der Luxus der „Abonnenten“ mit der Enthaltsamkeit des „gefrorenen Bodens“; antithetisch ist Hervianes elegante Abendrobe auf ihre „demokratischen Tracht“ bezogen, ihre Rolle als mondäne Opernbesucherin steht im Gegensatz zu ihrem Status als „Kameradin“ Lucettes. Als sportive verkörpert Herviane im wörtlichen Sinne beide Welten, denn ihre Bewegungen folgen der sportlichen Logik – der Blick des Erzählers ruht auf der „Bewegung“ Hervianes, ihre „grâce“ ist eine Anmut des sportlich disziplinierten Körpers – und sind zugleich das, was sie von anderen Frauen unterscheidet und zur vollendeten Frau macht. Noch einmal sei hier auf die oben zitierte Beschreibung von Elisabeths Körper verwiesen, denn auch dort findet sich die auffällige Attribuierung der Flügel. Ist es im Fall von Hervianes eleganter Tante jedoch die weit fallende Kleidung, die Flügel zu verleihen scheint, so ist es hier Hervianes trainierter und bewegter Körper selbst, der geflügelt ist. Erneut kontrastiert also der sozial überformte Körper Elisabeths mit dem Körper der Sportlerin, der in der Bewegung seine Eigenmaterialität sichtbar bezeugt. In ihrem Habitus bringt die sportive die scheinbar unversöhnlichen Welten von Stadion und Oper zur Deckung; so heißt es augenfällig an anderer Stelle: „[L]’énorme éventail de plumes noires […] qu’elle avait manié pendant la soirée avec les gestes harmonieux d’une lanceuse de javelot“ (Bertheaume 1925, 228).18 In dieser Zusammenführung der Welten liegt die Perfektion Hervianes, die sie zur „neuen Frau“ macht. Sie ist ihrer Zeit voraus: Selbst im jahrhundealten Hort guten Geschmacks erscheint die sportive als Vorbotin einer idealen Zukunft. Sie kündet damit von einer im umfassenden Sinne gesunden Gesellschaft, in der die Gegensätze zwischen den Klassen und Generationen aufgehoben sind. Wenn eine solche gesunde Gesellschaft die Utopie ist, dann, auch daran lässt Bertheaumes Roman keinen Zweifel, ist der Sport die Therapie. Um ihren Beitritt zu den „Amazones“ gegenüber der Tante zu rechtfertigen, preist Herviane die Vorzüge des „grand sport“: „[L]a course, le saut, le lancer du javelot, toutes les épreuves de l’athlétisme, voilà ce qui doit être passionnant, voilà ce qui fera de la femme future un type de force et de beauté!“ (Bertheaume 1925, 22–23).19 Der „culte du sport“, der sportliche Kult, so wird dem Trainer Neillo in den Mund gelegt, enthalte die Moral des Einzelnen wie die kommender Völker. Für Neillo ergibt sich daraus ein umfassender Bildungsauftrag: „En développant également
18 „[D]er riesige Fächer aus schwarzen Federn […], den sie den Abend über mit den harmonischen Gesten einer Speerwerferin geschwungen hatte.“ 19 „Rennen, Sprung, Speerwurf, all die athletischen Wettkämpfe, all dies muss begeistern, all dies macht aus der zukünftigen Frau ein Musterbeispiel von Kraft und Schönheit!“
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l’être moral et l’être physique, le sportif parvient à réaliser le parfait équilibre qui l’érige en un type d’humanité supérieure“ (Bertheaume 1925, 119).20
3 Der Körper im Text: ein eigensinniges Erzählmoment Mit der Darstellung des Sports und des bewegten Körpers der sportive findet jedoch ein Moment der Eigensinnigkeit Eingang in Bertheaumes Text, der das Potential hat, dieses so explizit formulierte umfassende Gesellschaftsprogramm zu unterwandern. So ist mit dem Sport zum einen ein neuer Blick auf den Körper verbunden, in dem das erotische Begehren suspendiert ist. Zum anderem erlaubt der Sport eine Form leiblicher Selbstwahrnehmung, in deren Rahmen der Körper nur noch auf sich selbst verweist. Neillo, der Trainer der „Amazones“, wird charakterisiert als „homme, insensibilisé par l’emprise de l’Idée, habitué à vivre au milieu des sportives dans la plus totale inconscience de leurs séductions“ (Bertheaume 1925, 159)21, und entsprechend keusch ist sein Blick auf die entblößten Körper der Sportlerinnen. Als Neillo seine neue „Amazone“ Herviane betrachtet, urteilt er: „Cette demoiselle Marly, jugeait-il, fera une fameuse athlète! Et il détaillait, tandis que les jeunes filles s’avançaient sur le terrain, le jeu puissant des muscles d’Herviane, le délié de ses chevilles, la cambrure des pieds“ (Bertheaume 1925, 32).22 Der weibliche Körper ist in Neillos Blick vollständig in der sportlichen Logik aufgegangen, sodass Neillo blind ist für dessen erotisches Potential. In der heterotopen Eigenwelt des Sports hat das Begehren seine Form gewandelt: Die Bewunderung gilt nicht länger der Frau, sondern der Leistung der sportive – „Neillo appréciait la rapidité de ses moindres mouvements“ (Bertheaume 1925, 34)23 –, selbst die Berührung ist aufgrund der sportlichen Notwendigkeit stumpf geworden: „Prenant les joueuses par le bras, il [Neillo] disposait le groupe“ (Bertheaume 1925, 34).24 In diesem 20 „Indem er sowohl das moralische als auch das physische Wesen entwickelt, gelingt es dem Sportler, das perfekte Gleichgewicht zu erlangen, das ihn zum Vertreter einer besseren Menschheit macht.“ 21 „Mann, unempfindlich durch die Macht der Idee, gewohnt, inmitten der Sportlerinnen im vollkommenen Unwissen über ihre Verführungskräfte zu leben“. 22 „Diese Mademoiselle Marly, so urteilte er, wird eine großartige Athletin werden! Und er musterte, als die jungen Mädchen auf dem Feld näherkamen, das kraftvolle Spiel der Muskeln Hervianes, die Beweglichkeit ihrer Knöchel, die Wölbung ihrer Füße“. 23 „Neillo schätzte die Geschwindigkeit jeder ihrer kleinsten Bewegungen“. 24 „Er nahm die Spielerinnen am Arm und stellte die Gruppe auf.“
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neuen Blick des Mannes erscheint die sportive nicht nur, wie bereits gezeigt, als androgyne Gestalt, sondern ist vom Mann nicht wesentlich verschieden. So wird Herviane von Neillo aufgrund ihres Laufstils mit dem finnischen Athleten Paavo Nurvi verglichen (cf. Bertheaume 1925, 82). Das Stadion wird zu einem geschlechtslosen Raum für die junge Frau, wo der Trainer zum Konkurrenten des Liebhabers avanciert: „Raphaël Neillo nous attend ce soir au stade et je ne rentrerai pas avant minuit“ (Bertheaume 1925, 45).25 Wie Neillo nimmt auch der Erzähler Herviane meist außerhalb des erotischen Systems wahr. Auffällig ist hierbei insbesondere die kurze Spiegelszene zu Beginn des Romans, als Herviane als Protagonistin eingeführt wird. Der Leser folgt der durch den Erzähler vorgegebenen externen Fokalisierung, als Herviane vor den Spiegel in ihrem Mädchenzimmer tritt (Bertheaume 1925, 17). Sie schaut sich eindringlich an und lächelt ihr Spiegelbild an, doch was sie sieht, erfährt der Leser nicht – die Beschreibung des Gesichts im Spiegel bleibt aus. Selbstbewusst gefällt sich die sportive in ihrer Selbstbespiegelung, die ohne den Blick des anderen auskommt. Umso krasser ist der Effekt, wenn der Text eine andere Wahrnehmung der Sportlerin aufruft. „[A]près avoir fait courir les petits chevaux, on fait courir les petites femmes, elles montrent leurs jambes et ce n’est pas désagréable à contempler“, sagt der Intellektuelle Maxime über den Frauensport (Bertheaume 1925, 27).26 Nicht nur wird die Frau durch den Vergleich mit dem Pferd, das auf die Rennbahn geschickt wird, entmenschlicht und ihrer eigenen Entscheidungsmacht beraubt. Darüber hinaus geschieht die Herabsetzung der sportive zur „kleinen Frau“ durch einen gewaltsamen Perspektivwechsel: Mit seiner Aussage löst Maxime die Frau aus dem Kontext des Sports heraus und unterwirft sie erneut dem erotischen Begehren des Mannes. Doch auch die weibliche Verführungskraft hat mit der sportive ihre Form grundlegend gewandelt. Die coquetterie ist in Bertheaumes Roman jener Begriff, der neu mit Bedeutung aufgeladen wird, um die nicht länger verführerische, sondern selbstbezogene Nacktheit des weiblichen Körpers zu bezeichnen. De mise simple mais correcte, les scribes, l’une fluette et l’autre pourvue d’un notable embonpoint, semblaient hors cadre dans cette arène où leur petite Underwood perdait toute importance auprès du ballon lancé par des femmes à demi vêtues et qui mettaient leur (Bertheaume 1925, 106) coquetterie à exhiber des muscles solides.27
25 „Raphaël Neillo erwartet uns heute Abend im Stadion und ich werde nicht vor Mitternacht zurück sein.“ 26 „[N]achdem man die kleinen Pferde laufen ließ, lässt man die kleinen Frauen laufen, sie zeigen ihre Beine und dies zu betrachten, ist nicht unangenehm.“ 27 „Schlicht, aber korrekt gekleidet, schienen die Kopistinnen, die eine dünn und die andere mit bemerkenswertem Übergewicht, in dieser Arena fehl am Platze zu sein, wo ihre kleine Un-
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Der entblößte Körper der Sportlerinnen ist nicht verführerisch auf den anderen gerichtet, sondern dem sportlichen Tun unterworfen und in der Bewegung auf sich selbst bezogen. Zwar wird auf den möglichen Skandal verwiesen, wenn der Text die halbnackten Körper der Sportlerinnen den einfach und angemessen gekleideten Sekretärinnen gegenüberstellt. Da jedoch statt konventionell weiblicher Reize geschlechtlich unklar codierte „kräftige Muskeln“ enthüllt werden, fängt der Text die gesellschaftliche Entrüstung auf und bettet sie in den Sport ein: Hier gelten nicht die Regeln des erotischen, sondern des sportlichen Spiels, innerhalb dessen die Koketterie zur sportlichen Leistungskraft umgewertet ist. Und so räsoniert Elisabeth über den Sport: „[L]a plus surprenante conquête du sport sera de faire perdre à la femme moderne le sens de la coquetterie; renoncer à ses attraits pour vaincre, quel sacrifice inattendu!“ (Bertheaume 1925, 22)28 Der Gegensatz zwischen Sport und Erotik wird sich weiter verschärfen, denn die Begeisterung der sportive für den Sport erscheint als mögliche Alternative zur amourösen Leidenschaft. „[O]n perd son temps à vouloir lutter contre la passion, et celle du sport devient, paraît-il, la plus exclusive de toutes“, prophezeit Elisabeth (Bertheaume 1925, 14).29 Der Sport ist eine unstillbare „passion“, weil er ein unmittelbares Körpererleben erlaubt: „[L]e sport est une passion dont on ne peut guérir quand on l’a une fois ressentie“ (Bertheaume 1925, 126).30 Diese Erfahrung des eigenen Körpers, die den Sport zum Rivalen der Sexualität macht31, zeigt sich unter anderem in folgender Beobachtung des Erzählers: „Herviane l’eût rejointe volontiers [i. e. Lucette], mais un engourdissement subit, réaction de l’effort auquel elle n’était pas habituée, la gagnait délicieusement“ (Bertheaume 1925, 35–36).32 Nicht nur bringt das „délicieusement“ die Reaktion auf die physische Anstrengung in auffällige semantische Nähe zum sexuellen
derwood jede Bedeutung verlor neben dem Ball, den halbbekleidete Frauen warfen, die ihre Koketterie dafür aufwanden, kräftige Muskeln zur Schau zu stellen.“ 28 „[D]ie überraschendste Errungenschaft des Sports wird es sein, die moderne Frau den Sinn für die Koketterie verlieren zu lassen; auf ihre Reize verzichten, um zu gewinnen, welch unerwartetes Opfer!“ 29 „[M]an verschwendet seine Zeit damit, gegen die Leidenschaft kämpfen zu wollen, und die des Sports wird offenbar die exklusivste von allen.“ 30 „[D]er Sport ist eine Leidenschaft, von der man nicht geheilt werden kann, wenn man sie einmal empfunden hat“. 31 Das geht über die Interpretation Charretons hinaus, der den Sport in Bertheaumes Roman nur deshalb als Rivalen der Lieben versteht, weil neben ihm in Hervianes Leben weder für den Gatten noch für den Geliebten Platz sei (Charreton 1992, 105). 32 „Herviane hätte sich ihr [i. e. Lucette] gerne angeschlossen, aber eine plötzliche Benommenheit, eine Reaktion auf die Anstrengung, an die sie nicht gewöhnt war, überwältige sie auf wohlige Weise.“
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Akt. Darüber hinaus personifiziert das Verb „gagner“ den Körper selbst, der sich der sportive – gegen deren Wollen – bemächtigt. Als instinktiver und triebhafter Leib macht sich der Körper in seiner Eigenmaterialität bemerkbar. Selbstvergessen kann sich die sportive an diesem Körpererleben berauschen – „cette joie ressentie sur le terrain où tout chagrin s’oublie dans l’ivresse de vivre“ (Bertheaume 1925, 130)33 –; in vollkommener Selbstpräsenz nimmt Herviane den eigenen Körper als einen gesunden Körper wahr: „[J]e ne souffre de rien, je me sens vivre, cela me suffit“ (Bertheaume 1925, 35).34 In letzter Konsequenz führt diese körperliche Selbstbezogenheit, so zeigt der Roman, zur Gottlosigkeit. Als Gérald, der katholische Soldat, angesichts bretonischer Landschaften in religiöse Exaltation gerät, erwidert Herviane: Cette nature est trop impassible pour que je m’en enthousiasme; ce qui compte dans la vie, mon cher, c’est le mouvement, et, sauf ce léger souffle qui par instants agite la cime de vos arbres, rien ne bouge. Parlez-moi plutôt d’un terrain animé par un groupe de sportifs: seule la forme humaine changeante et multiple crée la beauté réelle de ce monde!35 (Bertheaume 1925, 198)
„Enthousiasme“ bietet allein die Bewegung, wie sie der Sport erlaubt. In der Weltsicht der sportive tritt der Sportler an die Stelle Gottes: Er allein schafft wahre Schönheit. Die Verbindung von „passion“ und „enthousiasme“, wie der Sport sie bietet, bestimmt auch den ersten Wettlauf Hervianes, aus dem sie – allen Erwartungen zum Trotz – als Siegerin hervorgeht. Was sie antreibt, so macht der Erzähler klar, ist in diesem Fall jedoch kein sportlicher Ehrgeiz, sondern enttäuschte Liebe. Maxime hat sich nicht für sie, sondern für ihre Tante Elisabeth entschieden. Und so läuft Helviane, hingegeben an die Leidenschaft des Sports, um die Liebe auszumerzen: „Et, le cœur brisé, elle se donnait en spectacle à cette foule, dans l’arène où, seule, triomphait la force, où l’athlète broie sous ses pieds la passion“ (Bertheaume 1925, 83).36 Während Hervianes Gegnerin in einem „suprême effort“, in höchster Anstrengung, ihren Körper an die Grenzen seiner Belastbarkeit bringt – „elle haletait, les muscles du cou en se gonflant faisaient saillir les veines, sous le
33 „diese auf dem Platz erlebte Freude, wo alle Trauer im Rausch des Lebens vergessen wird“. 34 „[I]ch leide an nichts, ich fühle, wie ich lebe, das reicht mir.“ 35 „Diese Natur ist zu unbewegt, als dass ich mich dafür begeisterte; was im Leben zählt, mein Lieber, ist die Bewegung, und abgesehen von diesem leichten Hauch, der manchmal die Wipfel deiner Bäume bewegt, rührt sich nichts. Erzählen Sie mir stattdessen von einem Spielfeld, das von einer Gruppe von Athleten belebt wird: Nur die wechselhafte und vielfältige menschliche Gestalt schafft die wahre Schönheit dieser Welt!“ 36 „Und mit gebrochenem Herzen zog sie für diese Menge eine Schau ab, in der Arena, in der allein die Kraft triumphierte, in der der Athlet die Leidenschaft unter seinen Füßen zertritt.“
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visage cramoisi“ (Bertheaume 1925, 84)37 –, ist Herviane leichenblass („n’était que pâleur“). Im Kampf gegen ihre Gefühle hat Herviane den sportlichen Wettkampf hinter sich gelassen; anstatt im leidenschaftlichen Körperrausch die eigenen Kräfte auszuschöpfen, ist sie über sich selbst und alle Leidenschaft hinausgewachsen: „Et enthousiasmée, brûlant du feu du sacrifice, ses forces exaspérées la ravissaient au-dessus d’elle-même, au-dessus de la championne heureuse que seule soutenait l’ivresse de la vie“ (Bertheaume 1925, 84).38
4 Die Einhegung der sportive: Vollendung im Gesundheitssport Bertheaumes Bildungsroman zielt nun freilich nicht darauf, das sinnwidrige Potential, den der literarisierte Körper der Sportlerin in den Text einbringt, zu aktivieren oder mit der sportive gar eine Figur gesellschaftlicher Subversion zu entwerfen. Stattdessen wird diese Ambivalenz wieder eingefangen und über das Motiv der Gesundheit kanalisiert. Es ist der Tod Lucettes, sportive wie Herviane, der die Aussage des Romans vereindeutigen soll. Zu hemmungslos hat sich Lucette der Leidenschaft an den Sport hingegeben, sodass sie ernsthaft erkrankt und schließlich stirbt. Diese Perversion der sportlich-gesunden Lebenskraft wird zur Peripetie der Erzählung: Das Ideal des Sports verkehrt sich ins Gegenteil. Mit der sich immer deutlicher manifestierenden Erkrankung Lucettes lädt der Text die bislang positiven Zuschreibungen des Sports nach und nach mit Ambivalenz auf. L’amaigrissement dont s’inquiétaient ses camarades, la pâleur qui décolorait son visage de brune, au teint naturellement mat, n’avait pas le travail pour cause. Saisie d’une émulation exagérée devant le triomphe d’Herviane, Lucette s’entraînait avec furie à une exercice audessus de ses forces physiques. Devenir championne de la course à pied était le but auquel elle aspirait sans relâche; ses anciens succès au foot-ball ne lui suffisaient plus; elle les eût volontiers reniés, mettant sa seule gloire à se classer parmi les meilleurs athlètes du deux cents mètres. Là ne se bornait point son ambition, elle aussi rêvait de connaître dans le
37 „sie keuchte, während die anschwellenden Nackenmuskeln die Venen hervortreten ließen, unter dem purpurroten Gesicht“. 38 „Und enthusiastisch, brennend vom Feuer des Opfers, enthoben ihre übersteigerten Kräfte sie über sich selbst hinaus, über die glückliche Siegerin, die nur der Rausch des Lebens trug.“
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mille mètres les applaudissements de la foule et l’ivresse physiologique de sentir sa vitesse (Bertheaume 1925, 155–156) exaltée.39
Der sportliche Eifer der sportive, die im Wettkampf ihre physischen Fähigkeiten unter Beweis stellen möchte, kippt und verwandelt sich in übertriebenen Ehrgeiz. Auch die Freude am rauschhaften Selbsterleben des eigenen Körpers verkehrt sich nun ins Unmäßige. Wie die sportliche Lebenskraft ist auch die Kehrseite des Sports am Körper der sportive sichtbar, der abmagert und bleich wird. Mit der Verkehrung der sportlichen Gesundheit zeigt die „passion“ Sport nun ihr Janusgesicht: [O]n eût dit qu[e Lucette] mettait son orgueil à s’immoler, au nom de cette passion sportive qui soulève et emporte ses fidèles. Elle éprouvait que les courses sur le terrain plat aiguisaient son esprit, exaspéraient ses nerfs, doublaient sa vitalité, et le besoin de com(Bertheaume 1925, 155) pétitions lui devenait une seconde nature.40
Als Lucette schließlich stirbt, stürzt dies Herviane in eine existenzielle Verzweiflung: „[E]lle pleurait, sans même s’en rendre compte, parce que sa sensibilité venait d’être violemment ébranlée. Elle avait vu mourir la vie jeune, la vie faite d’espoirs et de succès, la vie triomphante, derrière laquelle il n’y a plus rien, pensait Herviane, rien que le néant“ (Bertheaume 1925, 235).41 Die Schülerin Neillos hatte den Sport zur Ersatzreligion erhoben und war damit ihrem Mentor gefolgt, der sie aufgefordert hatte: „Ah! Mademoiselle! s’écria le moniteur ravi et comme illuminé de la flamme enthousiaste de l’apôtre, servez le sport; qui
39 „Der Gewichtsverlust, der den Kameradinnen Sorgen bereitete, die Blässe, die ihr Gesicht einer Dunkelhaarigen mit ihrem natürlich dunklen Teint farblos werden ließ, war nicht der Arbeit geschuldet. Angesichts von Hervianes Triumph von einem übertriebenen Wetteifer ergriffen, trainierte Lucette verbissen eine Übung jenseits ihrer körperlichen Kräfte. Die Beste im Laufen zu werden, war das Ziel, das sie unermüdlich anstrebte; ihre früheren Erfolge im Fußball genügten ihr nicht mehr; sie hätte sich gerne davon losgesagt, denn als ihren einzigen Ruhm betrachtete sie es, sich unter den besten Athleten auf den 200 Metern zu klassifizieren. Darauf beschränkte sich ihr Ehrgeiz nicht, sie träumte auch davon, auf den 1000 Metern den Applaus der Menge und den physiologischen Rausch im Gefühl ihrer gefeierten Geschwindigkeit zu erfahren.“ 40 „[E]s schien, als wäre es Lucettes ganzer Stolz, sich im Namen dieser sportlichen Leidenschaft, die seine Anhänger hebt und davonträgt, selbst zu opfern. Sie spürte, dass das Laufen im flachen Gelände ihren Geist schärfte, ihre Nerven strapazierte, ihre Vitalität verdoppelte, und das Bedürfnis nach Wettkämpfen wurde für sie zur zweiten Natur.“ 41 „[S]ie weinte, ohne es überhaupt zu bemerken, denn ihre Sensibilität war gerade heftig erschüttert worden. Sie hatte das junge Leben sterben gesehen, das Leben bestehend aus Hoffnungen und Erfolg, das triumphierende Leben, hinter dem nichts mehr ist, dachte Herviane, außer das Nichts … “
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sait si le salut de l’humanité, en ces temps d’incertitude, ne viendra pas de lui!“ (Bertheaume 1925, 41).42 In diesen krisenhaften Zeiten gibt der Sport Herviane Orientierung und ein Selbstverständnis als moderne Frau; in ihrer Gottlosigkeit bietet nur er ihr moralischen Halt: „[L]e sport était vraiment la défense d’Herviane; l’action restait pour sauver une femme affranchie de toute croyance“ (Bertheaume 1925, 187).43 Doch das Gesellschaftsprojekt, „joindre au culte de la force le sens d’une vie spirituelle“ (Bertheaume 1925, 127), „den Kult der Stärke mit dem Sinn einer geistigen Lebensweise verbinden“, misslingt, das Ideal des Sports hat sich als ungenügend, ja falsch erwiesen. Erst mit der Absage an den Sport ist die Vervollkommnung der sportive möglich: Herviane erkennt, dass Géralds christlicher Glaube an die Stelle ihrer Ersatzreligion Sport treten muss. Damit löst sich auch der Konflikt zwischen der Leidenschaft des Sports und der Liebe: Herviane voyait Gérald un peu pâli, affirmant par son assurance l’air de supériorité devenu la seconde nature de celui qui commande. Elle était la femme de ce jeune chef que le public clairvoyant traitait avec le respect accordé aux héros; reniant l’esprit combatif qu’avait développé à son insu l’habitude des compétitions sportives, elle fit soumission au mérite de Gérald et, éblouie devant cet incontestable prestige, elle comprit qu’elle ai(Bertheaume 1925, 242–243) mait son mari avec toute la fierté que requiert l’amour.44
Im heroischen Glanz steht nun allein der Soldat Gérald. Indem Herviane ihr Selbstbewusstsein als sportive ablegt und auf Ruhm, Wettkampf und sportliche Höchstleistung verzichtet, erkennt sie die Vorrangstellung ihres Mannes an. Mit der Erzählung dieses Reifeprozesses Hervianes vom Mädchen zur sportive und schließlich zur liebenden Ehefrau und Mutter setzt sich der Roman Bertheaumes auf einer grundlegenden Ebene mit dem Widerspruch von Über-sich-selbstHinauswachsen und Vollendung auseinander, der dem modernen Sport nach Ansicht Quevals inhärent und Ausdruck einer grundlegenden „dualité moderne“
42 „‚Ah! Mademoiselle’, rief der begeisterte Lehrer aus, wie erleuchtet von der begeisterten Flamme des Apostels, ‚dienen Sie dem Sport; wer weiß, ob die Erlösung der Menschheit in diesen Zeiten der Unsicherheit nicht von ihm kommen wird!‘“ 43 „[D]er Sport war wahrhaft Hervianes Verteidigung; es blieb die Tat, um eine Frau zu retten, die allen Glaubens bar war.“ 44 „Herviane sah, dass Gerald ein wenig erblasst war und durch seine Selbstsicherheit die Aura der Überlegenheit, die dem Kommandanten zur zweiten Natur wird, unter Beweis stellte. Sie war die Frau dieses jungen Führers, den die hellsichtige Öffentlichkeit mit dem Respekt behandelte, den man Helden entgegenbringt; indem sie sich vom Kampfgeist lossagte, den die Gewohnheit der Sportwettkämpfe ohne ihr Wissen ausgebildet hatte, unterwarf sie sich Géralds Verdienst, und, geblendet von diesem unbestreitbaren Prestige, erkannte sie, dass sie ihren Mann mit all dem Stolz liebte, den die Liebe verlangt.“
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ist. Die Dichotomie von dépassement und accomplissement45 liege dabei bereits in der Etymologie der sportlichen Leistung selbst, der „performance“, begründet: En effet, l’ancien français parformer ou parformance induit l’accomplissement, l’achèvement. Et, en ce premier sens, la performance est donc l’établissement d’un résultat, l’effectivité d’une tâche accomplie selon les attentes, tels les bilans que produisent par exemple les entreprises. Or, dénoncée comme ‚culte’, elle est bien sûr entendue en un tout autre sens, celui qui lie la société contemporaine à un impératif de dépassement de soi, à la tyrannie du progrès en tous domaines, l’entreprise, l’école, le sport. Ces deux sens se croisent dans la définition de l’excellence, inscrite en retour dans cette ambivalence. Qu’est-ce qu’être excellent? Le sport interroge sur cette dualité moderne qui confronte deux idéaux: la santé et la perfor(Queval 2004, 214) mance, ici comme quête des records.46
Bertheaumes Roman lotet diese Widersprüchlichkeit aus, um sich letztlich explizit für das accomplissement und das Ideal der Gesundheit auszusprechen. Das Übel des Sports, so macht der Roman unmissverständlich klar, liegt im Willen, sich selbst zu übertreffen. Dies erklärt Herviane dem fassungslosen Neillo, der nach dem Zusammenbruch Lucettes sagt: „Je ne puis croire une chose pareille; [Lucette] Fleuronce a fourni une course d’un style puissant, cette après-midi. – On se tue à toujours vouloir se surpasser soi-même!“ (Bertheaume 1925, 231–232).47 Nur scheinbar bringt das Über-sich-Hinauswachsen des Sports Lebenskraft mit sich, denn letztlich führt es zu Krankheit und Tod. Die Widersprüchlichkeit des s’accomplir und des se dépasser artikuliert sich in Bertheaumes Roman über die Figur der ehrgeizigen, aber schließlich geläuterten sportive. Der Tod Lucettes läutet die Lösung des Konflikts zwischen sportlicher Gesundheit und physischer Leistungssteigerung ein: Herviane entscheidet sich für den Gesundheitssport und
45 Zu betonen ist, dass die Begriffe dépassement und accomplissement ihrerseits geschlechtlich codiert sind. In Quevals Untersuchung dienen sie jedoch in einem umfassenderen Sinne dazu, gesellschaftliche und insbesondere epistemologische Entwicklungen terminologisch zu erfassen. 46 „Tatsächlich folgt aus dem altfranzösischen parformer oder parformance ‚Leistung‘, ‚Vollendung‘. In diesem ersten Sinne ist ‚performance‘ daher die Aufstellung eines Ergebnisses, der Erfolg eines Auftrags, der den Erwartungen gemäß erfüllt wurde, wie die Bilanzen, die beispielsweise von Unternehmen erstellt werden. Als ‚Kult‘ angeprangert, wird er nun in einem ganz anderen Sinne verstanden, der die heutige Gesellschaft mit dem Gebot zum Über-sich-Hinauswachsen verbindet, mit der Tyrannei des Fortschritts in allen Bereichen, Wirtschaft, Schule, Sport. Diese beiden Bedeutungen verschränken sich in der Definition des Herausragenden, das seinerseits Teil dieser Ambivalenz ist. Was bedeutet es, herausragend zu sein? Der Sport hinterfragt diese moderne Dualität, die zwei Ideale einander gegenüberstellt: Gesundheit und Leistung, hier verstanden als Jagd nach Rekorden.“ 47 „Ich kann das nicht glauben; heute Nachmittag hat [Lucette] Fleuronce einen kraftvollen Lauf absolviert. – Wer stets über sich hinauswachsen möchte, bringt sich um!“
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gibt den sportlichen Wettkampf auf; ihre Tochter Françoise wird sie in diesem Geist erziehen. Dies erklärt Herviane ihrem ehemaligen Mentor Neillo und den Adressaten des Romans gleich mit: Aujourd’hui, mes conclusions diffèrent un peu des vôtres sur la valeur du sport féminin. La culture physique ne présente que des avantages; ma petite fille en bénéficie déjà. Mais je lui épargnerai plus tard les luttes athlétiques: ce n’est pas dans les compétitions où elle rechercherait sa supériorité individuelle que Françoise développerait sa maîtrise morale; je craindrais trop d’épuiser ses forces en excitant sa vanité; notre chère Lucette nous en a (Bertheaume 1925, 269–270) donné le douloureux exemple.“48
Sport soll der körperlichen Vervollkommnung, dem accomplissement, gelten; das Sich-selbst-Übertreffen wird aus diesem Ideal hingegen ausgeschlossen. Eine möglicherweise heroische Bewährung der sportive, die im sportlichen Wettkampf ihre physische Leistungsfähigkeit unter Beweis stellt, wird der Sportlerin damit vorenthalten. Ganz im Sinne bürgerlicher Wertvorstellungen ordnet sie sich ihrem Ehemann unter, der, seinerseits als Held ausgestellt, in seinem heroischen Glanz unangefochten zu guter Letzt in der afrikanischen Wüste den Heldentod sterben darf.
5 Conclusio Das Motiv der Gesundheit bestimmt, dies habe ich mit diesem Beitrag zu zeigen versucht, Bertheaumes Sportive auf verschiedenen strukturellen Ebenen und macht den Sportroman zum „message médical“, zur ärztlichen Botschaft (Bauer 2005, 98) der Autorin Docteur Darcanne-Mouroux. Nicht nur ordnet dieses Motiv das narrative Geschehen der Entwicklungsgeschichte, indem es Movens der physischen Entfaltung der sportive ist, den Umschlagpunkt der Handlung markiert und schließlich die Läuterung der sportive und ihre Vollendung als bürgerliche Frau erlaubt. Überdies wird dem Roman das Gesundheitsmotiv zum Ausgangspunkt einer Reflexion und Neudefinition von Körpervorstellungen, Geschlechterbildern und Gesellschaftsidealen. Schließlich dient die Gesundheit dazu, den Konflikt von dépassement und accomplissement zu lösen. Der Sportroman lotet
48 „Inzwischen weichen meine Schlussfolgerungen über den Wert des Frauensports leicht von den Ihren ab. Die Leibeserziehung bietet ausschließlich Vorteile, meine kleine Tochter profitiert bereits davon. Aber später werde ich ihr die sportlichen Wettkämpfe ersparen: Nicht in Wettbewerben, in denen sie nach individueller Überlegenheit streben würde, würde Françoise ihre moralische Reife ausbilden; ich würde zu sehr befürchten, ihre Kräfte aufzuzehren, indem ich ihre Eitelkeit anstachle; unsere liebe Lucette gab uns hiervon ein schmerzliches Beispiel.“
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diesen Widerspruch aus, um die gesellschaftliche Bildung Hervianes als einen Prozess der körperlichen Selbstbewusstwerdung zu erzählen. Indem sie zur sportive wird, ihren Körper als handlungsmächtig und die Leidenschaft des Sports als Alternative zur amourösen Passion erfährt, emanzipiert sich Herviane zunächst von möglichen alternativen Weiblichkeitsentwürfen. Die ambivalenten semantischen Potentiale, die mit dem sportlich bewegten Körper einhergehen, werden vom Text jedoch eingehegt. Die subversive Dimension des literarisierten Körpers wird auf diese Weise zwar ausgestellt; genauso offensichtlich wird sie aber aus der Konzeption des „richtigen“ Sports ausgeschlossen. Die Volte des Romans liegt dabei darin, dass das dépassement der sportive letztlich nur ein Zwischenschritt zu ihrer Vervollkommnung darstellt. Der Sport hat damit eine klare Semantisierung erfahren; die gesellschaftssprengende Wirkung, die im Über-sich-Hinauswachsen liegen mag, spielt in einem auf die Gesundheit hin funktionalisierten Sport keine Rolle. Trotz dieser zweifelsohne disziplinierenden Dimension des Romans, der über das Motiv der Gesundheit nicht nur Sport, sondern auch Geschlechterentwürfe diskursiv formatiert, bezeugt Bertheaumes Text die Vielstimmigkeit und Offenheit der Aushandlungsprozesse um den Körper und die Auseinandersetzung mit den Deutungspotentialen des Sports. Über das Erleben des eigenen Körpers bietet der Sport eine radikal subjektive Dimension. Dass der Text sich bemüht, diese Potentialitäten aufzufangen, verweist nur umso deutlicher darauf, wie sehr der Sport und das mit ihm verbundene Körpererleben die Zeitgenossen irritierte. Soll also auch Bertheaumes Sportive einer jener im Sinne des Romanvorworts gesunden Texte sein, die zur Gesundung der Nation beitragen, so macht vielleicht doch erst das Heilmittel die Krankheit: Die literarische Absage an das sportliche dépassement aktualisiert folglich genau jenes eigensinnige Potential, das Körper und Sport entfalten können.
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Charreton, Pierre (1992). „L’idylle dans le roman populaire à thème sportif“. In: Antoine Court (Hg.). A la recherche du populaire. En hommage à la mèmoire de Michel Nathan. SaintÉtienne, 99–115. Charreton, Pierre (2005). „Le corps et ses représentation dans la littérature française à thème sportif. Mutations idéologiques et esthétiques“. In: Michel Brousse, Myriam Boucharenc und Philippe Baudorre (Hgg.). Écrire le sport. Bordeaux, 119–28. Gaucher, Julie (2004). L’écriture de la sportive. Identité du personnage littéraire chez Paul Morand et Henry de Montherlant. Paris. Gaucher, Julie (2010). „Littérature sportive“. In: Michaël Attali und Jean Saint-Martin (Hgg.). Dictionnaire culturel du sport. Paris, 497–500. Loudcher, Jean-François (2007). „La France au centre de la modernité sportive? (XIXe siècle – années 1930)“. In: Philippe Tétart (Hg.). Histoire du sport en France. Du Second Empire au régime de Vichy. Paris, 107–28. Queval, Isabelle (2004). S’accomplir ou se dépasser: essai sur le sport contemporain. Paris.
Anna S. Brasch
Der Monte Verità – und Steve Jobs: Historische Lebensreform und gegenwärtige Gesundheitsdiskurse in Thomas Langs Immer nach Hause 1 Einleitung: Problemaufriss In den vergangenen Jahren hat sich nicht nur die literaturwissenschaftliche Forschung vermehrt der lange vernachlässigten literarischen Lebensreform um 1900 zugewandt.1 Parallel dazu haben auch verschiedene Gegenwartsromane die Lebensreform für sich entdeckt – zu nennen wären etwa Marc Buhls Das Paradies des August Engelhardt (2011), Christian Krachts Imperium (2012), Thomas Langs Immer nach Hause (2016) oder Oliver Langes Das Sonnenfest (2016). Dass die Konzepte der Gesundheit und der Genesung für die Lebensreform der Jahrhundertwende eine zentrale Rolle spielen, liegt auf der Hand. Wenn sich der Gegenwartsroman nun in historischer Perspektive der Lebensreform widmet, dann sind auch für ihn die Konzepte von Genesung und Gesundheit zentral. Zugleich sind historische Romane bekanntlich immer auch oder gar in erster Linie Ausdruck ihrer eigenen Gegenwart. Insofern erschöpfen sich diese Texte nicht in der bloßen Verhandlung der Lebensreform der Jahrhundertwende: Die Konjunktur der Beschäftigung mit der Lebensreform in den vergangenen Jahren ist vielmehr, so die These, zugleich vor dem Hintergrund gegenwärtiger Gesundheitsdiskurse zu verstehen. Man denke hier an die immer neuen Fitness-Trends2 von High Intensity Intervall TraiCT 2ning (HIIT) über 1 Frühe Beispiele sind Sprengel 2001 und Müller 2001, sowie ebenfalls schon 2001 Volker Schupp zu Emil Strauß’ Bezug zur Lebensreform (Schupp 2001). 2007 widmet sich Björn Spiekermann dem Thema in seiner Monographie Literarische Lebensreform um 1900 (Spiekermann 2007), die sich mit dem Frühwerk Richard Dehmels auseinandersetzt. Spiekermann markiert deutlich das Feld von Literatur und Lebensreform als Desiderat der Forschung (Spiekermann 2007, 13–14). Hierauf reagiert der Sammelband Die Literatur der Lebensreform. Kulturkritik und Aufbruchstimmung um 1900, den Marcel Schmid und Thorsten Carstensen herausgegeben haben (Carstensen und Schmid 2016). 2 Der „ACSM Worldwide Survey of Fitness Trends 2018“ sieht für dieses Jahr High Intensity Intervall Training auf Platz eins, Gruppentraining auf Platz zwei und „wearable Technologys“ von GPS Tracking bis hin zu EMS-Training auf Platz drei. Das ACSM ist das American College of Sports Medicine mit Sitz in Idianapolis, Indiana, USA. Sie ist eine große gemeinnützige Organisation für Sportmedizin und Arbeitsphysiologie. https://doi.org/10.1515/9783110747928-012
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Functional Fitness, Crossfit und Bootcamp-Angeboten bis hin zu Elektro-Myo-Stimulations-, kurz EMS-Training. Man denke weiterhin an die immer neuen Ernährungsformen, die sich irgendwo im Spektrum zwischen Veganismus auf der einen und der häufig fleischbetonten Paleo- bzw. Steinzeit-Ernährung auf der anderen Seite verorten lassen und deren Gesundheitsversprechen sich, obwohl die Ernährungsempfehlungen selbst unterschiedlicher kaum sein könnten, doch auf so erstaunliche Art und Weise ähneln. Und man denke schließlich an die im größeren Kontext der Selbstoptimierung zu verortenden Formen des Fitness- und Gesundheitstrackings, wie sie zum Beispiel die Apple iWatch anbietet. Nachfolgend soll am Beispiel von Thomas Langs Immer nach Hause in einem ersten Schritt der historisierende Zugriff des Romans auf die Lebensreform der Jahrhundertwende aufgezeigt werden. Dabei soll zugleich deutlich gemacht werden, dass und auf welche Weise das Gesundheitskonzept im Zentrum der historischen Lebensreform verortet ist. In einem zweiten Schritt soll dargelegt werden, dass das gegenwärtige literarische Interesse an der historischen Lebensreform zugleich Ausdruck der Gesundheitsdiskurse der Gegenwart ist.
2 Individuelle Gesundheit – gesellschaftliche Genesung: Lebensreform und historischer Lebensreformroman Langs Roman Immer nach Hause ist zunächst ein Roman über Hermann Hesses erste Ehe mit Maria Bernoulli. Er besteht aus vier Teilen: Der erste, sehr knappe und mit „Anfang“ überschriebene Teil zeichnet anhand von Briefauszügen Hesses die Anbahnung der Ehe mit Maria ‚Mia‘ Bernoulli bis hin zum Umzug nach Gaienhofen nach. Der zweite, „Der ewige Friede (1907)“ betitelte Teil ist im Wesentlichen im Jahr 1907 und damit in der Gaienhofener Zeit des Ehepaars situiert. Es folgen ein dritter, mit „Liebe im Krieg (1918)“ überschriebener und bei Bern situierter Teil sowie viertens „Das Ende“, das knapp und erneut über Briefauszüge das Ende der Ehe behandelt. Der historische Hesse zeigte bekanntlich Affinitäten zur Lebensreformbewegung (vgl. etwa Radermacher 2011, Geist 2016): Das Ehepaar Hesse lebte in Gaienhofen in einem nach Prinzipien der Lebensreform eingerichteten Haus. Während dieser Zeit war Hesse selbst Gast in der Lebensreformkolonie auf dem Monte Verità. Nicht zuletzt behandeln einige seiner Texte – etwa Der Weltverbesserer, Doktor
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Knölges Ende und In den Felsen – die Lebensreform.3 Wenn die Handlung von Langs Roman also über weite Strecken eben in Gaienhofen situiert ist und Hesses Besuch auf dem Monte Verità erzählt, dann kann der Text auch als ein historischer Roman über die Lebensreform gelesen werden. Die Lebensreformbewegung4 weist weder eine einheitliche Theorie noch eine geschlossene Organisationsform auf. Vielmehr handelt es sich um eine spezifische Lebensauffassung, die den heterogenen Gruppen gemein ist (Frecot 1976, 138). Das Spektrum der Reformbewegungen reicht von Kleidungsreform und Freikörperkultur über Ernährungsreform, Antialkohol- und Antinikotinbewegung, Naturheilkunde und Reformpädagogik bis hin zu Bodenreform- und Gartenstadtbewegung. Den inhaltlich heterogenen, teils sogar widersprüchlichen Bewegungen ist an der Oberfläche zunächst die Suche nach einem alternativen, einem besseren Leben gemein: Die Lebensreform richtet sich zur Zeit der Jahrhundertwende konstitutiv gegen eine fehlgeleitete Moderne. Ziel ist – mit einer Formulierung Wolfgang R. Krabbes – die ‚Gesellschaftsreform durch Selbstreform‘ (vgl. Krabbe 1998, hier 74, sowie Krabbe 1974): Die Lebensreform intendiere zunächst auf der je individuellen Ebene eine Erneuerung des Lebens in ganzheitlicher Hinsicht. Damit erstrebe sie zugleich eine Reform der Gesellschaft, vermittelt eben über die Verbesserung der Lebensbedingungen jedes Einzelnen. Die Lebensreform privatisiere also die soziale Frage, indem sie individualreformerischen Zielen Priorität einräume (vgl. Krabbe 1998, 171–172). Immer nach Hause arbeitet sich auf der Ebene des Erzählten in einem ersten Zugriff schlicht an verschiedenen Strömungen der Lebensreform ab. Mia Hesse trägt Reformkleider aus hellem Kattun (vgl. Lang 2016, 68), Hesse „hat jetzt große Lust, zu den Naturmenschen zu gehen“ (Lang 2016, 87), auf dem Monte Verità laufen „Frauen in einfachen weißen Gewändern und mit Bändern im Haar“ (Lang 2016, 92) herum, „[e]in paar Unempfindliche tanzen barfuß“ (Lang 2016, 92), gelesen wird die „Vegetarische Warte“ (Lang 2016, 112), im immerhin eingezäunten Garten wird „nackt gearbeitet“ (Lang 2016, 95). Es entfaltet sich mithin ein ganzes Spektrum lebensreformerischer Ideen und Bewegungen vor dem Auge des Lesers. Nicht zuletzt treten eine Reihe historischer Protagonisten der Lebensreformbewegung im Roman auf, von den Mitbegründern der ‚vegetarischen Kooperative‘ Monte Verità Ida Hofmann und Henri Oedenkoven über den Maler Fidus und den Naturheilkundler Arnold Ehret bis hin zu den Brüdern
3 Zu Hesses literarischer Verarbeitung der Lebensreform in Der Weltverbesserer und Doktor Knölges Ende vgl. meine Ausführungen in (Brasch 2017, 332–338). 4 Zur Lebensreformbewegung gibt es in der Geschichtswissenschaft inzwischen zahlreiche Studien; immer noch einschlägig: Krabbe (1974), Krabbe (1998) und Frecot (1976). In jüngerer Zeit exemplarisch: Cluet und Repussard (2013) sowie Wedemeyer-Kolwe (2017).
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Karl und Gusto Gräser. Letzterer kreuzt den Weg Hesses bei seiner Anreise auf den Monte Verità: „Aus der Seitenstraße tritt ein junger, schlanker Mann mit vollem Bart und langem braunem Haar, durch das sich ein Lederbändchen zieht. Er trägt eine naturweiße Frieskutte, die über den Hüften von einem Strick gehalten wird, und Sandalen an den nackten Füßen.“ (Lang 2016, 84) Nicht nur Gusto Gräser, auch andere Lebensreformer wie Gräsers Lehrer Diefenbach und der Maler Fidus tragen um 1900 mit Kutte, Sandalen und langem Haar die ‚Jesustracht‘, inszenieren sich mithin als Erlöserfiguren. In dieser Selbstinszenierung verdichtet sich zugleich das der Lebensreform eigene starke Sendungsbewusstsein – der „Lebensreformer […] fühlte sich dazu aufgerufen, die ‚irrenden Mitmenschen‘ zu bekehren“ (Krabbe 1974, 169). Wenn in Hesse dann im Anblick des Lebensreformapostels Gräser die „ganze fromme Welt seiner Kindheit erwacht“ (Lang 2016, 85), er den ‚guten Hirten‘ (vgl. Lang 2016, 85) vorbeigehen sieht und es ihn „einige Kraft [kostet], sich vom inneren Aufsagen des biblischen Psalms loßzureißen“ (Lang 2016, 85), dann erschöpft sich diese Szene nicht mehr in einem bloß motivischen Rekurs auf die Lebensreform. Vielmehr werden hier die ersatzreligiöse Struktur und damit die tiefenstrukturelle Organisation der Lebensreformbewegung und ihrer Lehren um 1900 herausgestellt. So teilt die Lebensreform, wie Krabbe gezeigt hat, im Kern eine säkularisierte gnostisch-eschatologische Erlösungslehre. Ihr dialektisches Geschichtsmodell verläuft nach dem Dreierschritt Paradies – Sündenfall – Erlösung, wobei die Abkehr von den natürlichen Grundlagen des Daseins als der fundamentale Sündenfall angesehen wurde. Die quasi-naturgesetzliche Struktur dieser Dialektik bedingte den Anspruch exakter Extrapolation auf die zukünftige Entwicklung. (Krabbe 1998, 74)
Tiefenstrukturell ist die Lebensreform entsprechend über den kulturkritischen Reflexionsmodus der Moderne (Bollenbeck 2007, 10–11) und dessen triadisches Geschichtsmodell Paradies Vormoderne – Sündenfall Moderne – Erlösungshoffnung organisiert. Für die ersatzreligiösen Strukturen der Lebensreformbewegung können neben der Selbststilisierung zum Erlöser auch Fidus’ Lichtgebet ebenso wie August Engelhardts bekanntes Kokosevangelium – Engelhardt inszeniert sich hier selbst als ‚Kokosnussapostel‘ – als besonders prägnante Beispiele gelten. Zugleich wird an diesen Beispielen, am Kokosnussevangelium und dem Lichtgebet, auch die wesentliche Differenz zur christlichen Heilslehre deutlich: Die Lebensreform erwartet als säkularisierte Heilslehre […] die Erlösung […] nicht im Jenseits. Sie strebte eine Veränderung der Gesellschaft an, die Optimierung der menschlichen Lebensverhältnisse. […] Sie […] strebte nach religiösem Vorbild die Änderungen des einzelnen an, um durch Multiplikation schließlich die Gesellschaft insgesamt nach ihren Vorstellungen umgeformt zu haben. (Krabbe 1998, 74)
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Die weltanschaulich-kulturkritischen Erlösungshoffnungen der Jahrhundertwende stehen damit am Ende des tiefgreifenden Transformationsprozesses, den der Erlösungsbegriff innerhalb des größeren Kontextes der Säkularisierung im Verlauf des langen 19. Jahrhunderts durchläuft (vgl. Brasch 2017, 54). Wenn Hesse in Immer nach Hause an späterer Stelle Gusto Gräser mit Franz von Assisi vergleicht, dabei aber zugleich einen zentralen Unterschied herausstellt, dann markiert der Text genau diese Verschiebung der Heilslehre ins Diesseits: Ohne die eigene Überheblichkeit zu bemerken, vergleicht er [i. e. Hesse] ihn [i. e. Gräser] mit Franz von Assisi. Wenn es stimmt, was die Leute von Gräser erzählen, gibt es einige Gemeinsamkeiten […]. Aber Franziskus folgte einem göttlichen Gesetz, Gräser folgt seinen eigenen Regeln. (Lang 2016, 158–159)
Zugleich wird hier gegenüber Lebensreformromanen der Jahrhundertwende wie Hermann Poperts Helmut Harringa, dessen Protagonist durch seine Alkoholabstinenz als Lebensreformer markiert ist, eine signifikante Verschiebung deutlich: Die Lebensreformromane sind als Unterform des weltanschaulichkulturkritischen Romans der Jahrhundertwende5 zu verstehen. Entsprechend sind Romane wie etwa Poperts Antialkoholroman Helmut Harringa oder Friede Krazes Heim Neuland, der an Vorstellungen der Gartenstadt ebenso wie an solche der ‚Gesellschaftsreform durch Selbstreform‘ anknüpft, tiefenstrukturell über das triadische Modell der Kulturkritik (vgl. Bollenbeck 2007, hier etwa 20) organisiert, das insbesondere über die Biographie der Protagonisten abgebildet wird: Die Kindheit in der Provinz entspricht in diesem Narrativ dem Paradies Vormoderne, der Gang in die Großstadt dem Sündenfall Moderne und der abschließende Rückzug von der Moderne, die Selbstreform und Hoffnung auf Gesellschaftsreform der Erlösung in der Zukunft. Langs historischer Lebensreformroman hingegen stellt eine Beobachterfigur ins Zentrum, genauer einen teilnehmenden Beobachter, der eben kein Lebensreformapostel ist, sondern eine gewisse Distanz zu den Protagonisten des Romans und deren Ideen hat. Entsprechend ist dieser Text tiefenstrukturell auch nicht mehr über das triadische Erzählmodell organisiert, er beobachtet vielmehr die Funktionsweise des Diskurses.6 Vor diesem Hintergrund greift Immer nach Hause nicht zuletzt auf das Konzept der Gesundheit zurück. Das gilt zunächst ganz schlicht für die individuelle Gesundheit (respektive Krankheit) Hesses, dessen Gastroenteritis (vgl. Lang 2016, 33)
5 Vgl. hierzu im Detail meine Dissertation: Brasch (2017, hier insb. Abschnitt IV). 6 Insofern steht der Roman in einer gewissen Tradition zu Texten, die bereits seit dem beginnenden 20. Jahrhundert den Texttypus Weltanschauungsroman literarisch reflektieren. Vgl. hierzu Brasch (2017, 328–367) und Brasch (2020) sowie Schwarzwälder (2019) und Schwarzwälder (2020).
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und Alkoholismus ihn überhaupt erst auf den Monte Verità bringen. Das gilt weiterhin für jenes Konzept von Gesundheit, das der historischen Lebensreform eingeschrieben ist. Auf dem Weg auf den Monte Verità, die vielleicht bekannteste Lebensreformkolonie Anfang des 20. Jahrhunderts, beginnt Hermann Hesse – genauer: Thomas Langs Hermann Hesse im Roman Immer nach Hause – zu zweifeln: Also weg aus dem regnerischen Tessin, weg von den trügerischen Verlockungen – zurück nach Hause. Doch während er sich die Worte zusammensucht, mit denen er dem Bauern die Änderung seiner Pläne verständlich machen wollte, fällt sein Blick auf die sonnenbraunen Hände des Mannes, auf sein dunkles freundliches Gesicht. (Lang 2016, 83)
In dieser knappen Passage verdichtet sich jenes Konzept von Gesundheit, das der Lebensreformbewegung der Jahrhundertwende als positives Ideal zugrunde liegt. Gesundheit wird denjenigen Menschen zugeschrieben, die – selbstredend aus Perspektive der Reformer und der Sympathisanten – ein ursprüngliches, ein naturnahes, ein arbeitsames Leben abseits der Zentren der Moderne, sprich: abseits der Großstädte führen. Es ist dies das Konzept einer je individuellen Gesundheit, die ihrerseits an externe Lebensbedingungen rückgekoppelt wird. Das verdeutlicht auch ein Gespräch, das Hesse mit dem Naturheilkundler Arnold Ehret auf dem Monte Verità führt und das im Folgenden ein wenig ausführlicher zitiert werden soll: „Und was ist, Ihrer Meinung nach, die Ursache aller Krankheiten?“ „Das sogenannte gute Essen.“ Ehret bleibt absichtlich noch vage. […] „Verstehen Sie mich nicht falsch, ich erkläre dem Fleisch und dem Alkohol absolut den Krieg. Fleisch ist verfaulendes Eiweiß, ein Reizmittel, das dem Körper einen Energiegewinn bloß vortäuscht.“ Hesse nickt nachdenklich in die Pause zwischen zwei Liedern. „Nur ist das Vielessen eben viel schlimmer. Fleisch“, er geht jetzt davon aus, dass Hesse es nicht mag, „und stärkehaltige Lebensmittel erzeugen im Körper Schleim. Je mehr einer isst, desto mehr Schleim sammelt sich an. Das ist die Ursache aller Krankheiten. Schleim, der von den natürlichen Ausscheidungsorganen nicht mehr bewältigt wird, in das Blut übergeht und an der betreffenden Stelle, wo daß Gefäßsystem vielleicht durch eine zu starke Abkühlung verengt ist, Hitze, Entzündung, Schmerz oder Fieber erzeugt. Alle Krankheiten sind ein Bestreben des Organismus, Schleim und Eiter, also zerfetztes Blut auszuscheiden.“ „Was ist mit den Bazillen?“ „Das ist nichts als ein fortgesetzter Dämonenglaube! Bazillen sind das Produkt einer Krankheit, nicht ihre Ursache.“ Ehret ist nun in Fahrt. Mit einiger Anschaulichkeit wickelt er verbal den zehn Meter langen menschlichen Verdauungstrakt vor Hesse aus.
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„Die meisten Vegetarier“, sagt der Heiler und senkt erneut die Stimme, um deutlich zu machen, dass sein überlegener Standpunkt hier nicht von jedem gern gehört wird, „sind nicht gesund, weil sie Brot, Brei, Milch, Butter, Eier, Käse, Mehlspeisen und besonders Stärkemehlnahrung zu sich nehmen.“ „Aber man muss doch essen?“, fragt Hesse skeptisch. „Eben nicht! Der Mensch ist umso gesünder, je weniger er isst. Denken Sie an die Propheten, die Religionsstifter, die waren allesamt Asketen. Ist das denn Kultur, dass man in Berlin wohnt und dreimal täglich fein diniert?“ (Lang 2016, 119–120)
Die Figur Ehret rekurriert hier auf jenes doppelte Gesundheitskonzept, das im Zentrum der historischen Lebensreform steht. Gemeinsam ist den heterogenen Bewegungen zunächst ein Konzept je individueller körperlicher Gesundheit bzw. Genesung, die je nach spezifischer Lebensreformbewegung durch vegetarische Ernährung, Verzicht auf das Korsett usw. erreicht würden. Vor diesem Hintergrund plausibilisiert sich im Übrigen auch der ausgeprägte Körperkult der Lebensreformbewegung. Zugleich ist der Gesundheitsdiskurs der Lebensreform konstitutiv an die fehlgeleitete, die ‚kranke‘ Moderne gebunden: Die Lebensbedingungen der industrialisierten Moderne machen den einzelnen Menschen krank, sodass Genesung allererst notwendig wird. Die Argumentation kann sich dabei wahlweise – wie etwa bei der Gartenstadtbewegung – gegen die katastrophalen Lebensbedingungen in der modernen Großstadt, namentlich Berlin, richten oder aber – wie die zitierten Ausführungen Ehrets bezeugen – gegen den Überfluss der Oberschicht. Das Gesundheitskonzept der historischen Lebensreform erschöpft sich dann nicht in der individuellen Gesundheit: Aus dem Grundanspruch der ‚Gesellschaftsreform durch Selbstreform‘ leitet sich darüber hinaus das übergeordnete Ziel einer gesamtgesellschaftlichen ‚Gesundheit‘ ab. Auch diese lebensreformerische Leitidee arbeitet Immer nach Hause heraus: Andere suchen Gesundheit. In den nächsten Wochen wird er viele solche Geschichten hören. Sie sind die Vorboten einer besseren Welt, als das nervöse industrielle Zeitalter mit seiner Hektik, Bewegungs-, Freiluft- und Lichtarmut sie bietet. Sie erträumen ein schöneres, vollendetes Menschentum. (Lang 2016, 92)
Wenn also die Lebensreformkolonie Monte Verità auch „Sanatorium Monte Verità“ heißt, dann ist das Ausdruck dieses doppelten Genesungs- und Gesundheitskonzeptes der Lebensreform, das auf individuelle und gesellschaftliche Genesung und Gesundheit zielt. Insofern lässt sich das bereits skizzierte kulturkritische Geschichtsmodell der Lebensreform über die Begriffe Krankheit und Gesundheit reformulieren: Auf einen vermeintlich ursprünglichen gesellschaftlichen Zustand der Gesundheit folgte ein Zustand der gesellschaftlichen Krankheit. Erhofft werden
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eine Erlösung durch individuelle und dadurch gesellschaftliche Genesung und ein künftiger Zustand gesellschaftlicher ‚Gesundheit‘. Nun kann die Tatsache, dass Langs Darstellung der Lebensreformbewegung und ihrer Gesundheitskonzepte historisch gedeckt ist, nicht über eine gleichzeitige Distanz gegenüber dem Erzählten hinwegtäuschen – ganz im Gegenteil: Der Roman arbeitet in der historischen Perspektive gerade die inneren Widersprüche, die bisweilen absurden Ideen, die Richtungskämpfe etwa zwischen Karl Gräser und Ida Hofmann und Henri Oedenkoven heraus. Narrativ realisiert wird dies – auch das lässt sich am Beispiel des Auszugs aus dem Gespräch zwischen Hesse und Ehret deutlich erkennen – erstens über eine hochgradig ironische Erzählinstanz, die in Formulierungen wie „Ehret ist nun in Fahrt. Mit einiger Anschaulichkeit wickelt er verbal den zehn Meter langen menschlichen Verdauungstrakt vor Hesse aus“ deutlich wird. Zweitens etabliert der Text mit dem Roman-Hesse eine ‚skeptische‘ Beobachterfigur, die man als beobachtenden Teilnehmer beschreiben kann: „‚Aber man muss doch essen?‘, fragt Hesse skeptisch“. Mit den „Bazillen“ bringt er darüber hinaus einen schulmedizinischen Erklärungsansatz ins Gespräch ein. Diese der Lebensreform gegenüber skeptische Haltung ist ihrerseits bereits in den die Lebensreform behandelnden Texten des historischen Hesse angelegt, auf die der Roman Immer nach Hause seinerseits im intertextuellen Spiel verweist: Eines von Langs Kapiteln trägt etwa den Titel In den Felsen, den Titel eines kurzen autobiographisch geprägten Textes Hesses, der die Monte Verità-Zeit verarbeitet.7 Der Roman arbeitet mithin Heterogenität, innere Widersprüche und fehlgeleitete Vorstellungen der alternativen Strömungen um 1900 mithilfe der eine Beobachterfigur, eine ironische Erzählhaltung und ein intertextuelles Spiel umfassenden narrativen Gesamtanlage heraus. Zugleich perspektiviert er die historische Lebensreform so auf eine spezifische Art und Weise.
7 Der kurze Text trägt den Untertitel „Notizen eines ‚Naturmenschen‘“ und erzählt vom Rückzügler-Leben: „Die ersten Tage meiner Einsiedlerschaft sind schrecklich gewesen. Jetzt, da sie vorüber sind, fühle ich mich sicher und beinahe behaglich. Ich schreibe diese Worte in meiner Bretterhütte am Boden liegend, es regnet heftig und ist so kühl, daß ich mich bis unter die Arme in meine Wolldecke gewickelt habe. Nun bin ich doch froh, daß ich Papier und Bleistift mitgenommen habe, obwohl diese Art von Zeitvertreib eigentlich wider mein Vorhaben ist.“ (Hesse 2003, 314). Mit Blick auf das von Thomas Lang „In den Felsen“ übertitelte Kapitel ist wohl vor allem der folgende Satz Hesses relevant: „Ich suchte hohe, steile Felskuppen auf, von denen ich senkrecht tief in die warme Meerbläue hinabschauen konnte […].“ (Hesse 2003, 314) Hierauf wird zurückzukommen sein: Vgl. zu Langs literarischer Ausgestaltung der Hesseschen Felsenbesteigung den nachfolgenden Abschnitt „Durchs Wurmloch in die Gegenwart: Gesundheitskonzepte 1900/2000“.
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3 Durchs Wurmloch in die Gegenwart: Gesundheitskonzepte 1900/2000 Alles bisher Gezeigte bezieht sich nun lediglich auf die historische Lebensreform im Roman. Eingangs wurde aber die These aufgestellt, dass die Konjunktur der Beschäftigung mit der Lebensreform in den vergangenen Jahren zugleich vor dem Hintergrund der gegenwärtigen Gesundheitsdiskurse zu verstehen ist. Um diese These zu stützen, soll die Aufmerksamkeit im Folgenden auf einige der auf den ersten Blick irritierenden bis verstörenden Ausbrüche aus dem Erzählfluss gelenkt werden, die insbesondere im zweiten Abschnitt des Romans zu finden sind, dessen Handlung im Kontext der Lebensreform situiert ist. Vielleicht ist er [i. e. Hesse] auch wieder abgelenkt von dem angebissenen Apfel, den er jetzt erst vor Ehret auf dem Tisch stehen sieht und der aus sich heraus zu leuchten scheint. Es handelt sich um eine exotische, nämlich kanadische Sorte, den McIntosh. Dieser Apfel ist das Wurmloch, durch das Hesse und Ehret in einem parallelen Universum gerade in die Zukunft rauschen. Es ist der Apfel auf unseren iPhones und Notebooks, der uns nicht das Paradies vorgaukelt, aber gewissermaßen den bestmöglichen Ersatz. Es ist der Apfel, der Hesse mit seinem späteren Fan, dem LSD-Verehrer und Menschheitsentwickler Timothy Leary verbindet. Es ist der Apfel, in den Steve Jobs gebissen hat, auf der Flucht vor Fleisch und Stärke und zu viel Essen, denn Jobs war Ehretist, und seine Jünger diskutieren in Internetforen darüber, ob die extreme Diät des Computermannes nun zu seinem Bauchspeicheldrüsenkrebs geführt habe oder vielmehr dazu, dass er dem Karzinom zum Trotz noch so viele Jahre leben konnte (er ist mit sechsundfünfzig Jahren gestorben, im gleichen Alter wie sein Guru Arnold E.). (Lang 2016, 123)
Auf den ersten Blick ist dies eine einigermaßen überraschende Passage – von der Kritik ist sie bisweilen schlichtweg nicht verstanden worden (vgl. Singer 2017). Nachfolgend soll gezeigt werden, dass es sich hier gerade nicht, wie Gesa Singer meint, nur um „eine jähe Vorausschau […], als der Verfasser von einem Apfel mit dem Namen McIntosh zu schwadronieren anfängt“, handelt. Vielmehr wird hier eine ganz neue Ebene der Lektüre eröffnet, über die historische Lebensreform und gegenwärtige Gesundheitsdiskurse miteinander in Beziehung gesetzt werden. Der Leser kann diesem Rezeptionsangebot folgen, ohne dass dies für ein Verständnis der Ehegeschichte der Hesses zwingend notwendig wäre. Tatsächlich exponiert der Roman, wie im Folgenden gezeigt werden soll, hier seine eigene Poetologie. Ein Wurmloch ist zunächst bekanntlich ein theoretisches Konzept aus der Physik, das auf der Allgemeinen Relativitätstheorie basiert. Der Theorie nach kann bei einer extremen Krümmung des Raums durch ein System von zwei Schwarzen Löchern ein Raumzeit-Tunnel entstehen, der eine Abkürzung zwischen zwei im nichtgekrümmten Raum weit auseinanderliegenden Punkten bil-
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det: Die Strecke zwischen zwei Punkten im Raum verkürzt sich so und es entsteht der Eindruck, dass sich etwas im Universum mit Überlichtgeschwindigkeit bewegt. Der Begriff ist eine Analogie zum Wurmloch im Apfel: Der Wurm frisst sich durch den Apfel durch und nimmt so gegenüber der Strecke auf der Apfeloberfläche gewissermaßen eine Abkürzung. Im Bereich der Science-Fiction wird das Konstrukt des Wurmlochs gerne herangezogen, um extreme Geschwindigkeiten bei interstellaren Reisen durch den Weltraum zu plausibilisieren. Auch Vorstellungen von Zeitreisen werden gerne mit der Wurmloch-Theorie begründet, sind tatsächlich allerdings nur unter sehr spezifischen Konstellationen theoretisch überhaupt denkbar. Dies vor Augen, stolpert der Leser von Immer nach Hause im zweiten Teil des Romans an verschiedenen Stellen über Passagen raumzeitlicher Relativität, so zum ersten Mal gut 40 Seiten nach der Etablierung des Wurmlochs: Hesse unternimmt im Jahr 1907 eine Wanderung vom Monte Verità aus. Dabei klettert er auf einen Felsvorsprung. Angelockt von dem grandiosen Panoramablick, wagt sich Hesse auf einen Felsenvorsprung hinaus und schaut ins weite Land. […] Über dem Langensee brummt ein Aeroplan. Weit weg, kaum größer als der dunkle Punkt, den er am Vormittag für einen Adler hielt. Hesse nimmt das Flugzeug ins Visier, so scharf es eben geht. Vielleicht kann die Vorstellung vom Fliegen seine Höhenangst überwinden. […] Da gerät die Maschine vor ihm ins Trudeln. Sie scheint in die Tiefe gerissen zu werden, dreht sich in einer steilen Vrille um den rechten Flügel abwärts. Hesse sieht vor allem die Abgasspirale, den schnellen Sturz des dunklen Flecks im Blau. Wie ein Kunststück sieht das aus, die Tollkühnheit eines übermütigen Piloten, und gleichzeitig wie vollkommene Hilflosigkeit. Er muss die Augen schließen, unser Hesse, er tastet sich mit Minischrittchen vom Felsvorsprung zurück und gleichzeitig vor in der Zeit, es ist nun (Lang 2016, 167) Sommer neunzehnhundertzehn und er wandert nicht länger allein.8
Hat der Text die Möglichkeit einer Reise durchs Wurmloch, durch den Raumzeit Tunnel, im ersten Textauszug theoretisch etabliert, wird an dieser Stelle der Protagonist selbst durch das Wurmloch geschickt. Das Trudeln des vorgestellten Flugzeugs deutet die Raumkrümmung an. Hesse reist in Überlichtgeschwindigkeit von seinem Felsen bei Ascona zu einem anderen Punkt im Universum, genauer auf einen Felsen in den Bergen bei Amden, und landet im Jahr 1910. Den Rest des Kapitels wandert er ebenda mit Frau Mia. Das nachfolgende Kapitel setzt dann wiederum im Jahr 1907 ein, genauer bei seiner Rückreise vom Monte Verità nach Gaienhofen. Er reist hier mit der Bahn durch den Gotthard und damit bezeichnenderweise gerade durch einen Tunnel. Unmittelbar mit dieser Tunnel-Reise verbunden ist eine neuerliche Zeitreise: Im 8 Der Stand auf dem Felsvorsprung erinnert hier sicher nicht zufällig an Fidus’ Lichtgebet.
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Speisewagen springt die „Timeline“ (Lang 2016, 173) nun fünf Jahre in die Zukunft, Hesse trifft auf D. H. Lawrence und führt mit ihm unter Drogengenuss ein Gespräch über Psychologie, Liebe und Sex. Wenn der Roman nun aber das Raum-Zeit-Kontinuum über eine Poetologie des Wurmlochs auflöst, dann lohnt ein genauerer Blick auf die Zeitschichten, die auch über diese offensichtlichen Zeitsprünge hinaus in den Roman eingeschrieben sind. Zu nennen wären insbesondere die Zeitdimensionen, die zusätzlich zur Zeit des Haupterzählstrangs über das für den Roman zentrale intertextuelle Spiel eingeführt werden. An dieser Stelle seien nur einige wenige Beispiele genannt: Der Titel des Romans – Immer nach Hause – ist ein Zitat aus Novalis’ Heinrich von Ofterdingen. Für die Zeit des Beginns des 20. Jahrhunderts eröffnen, das liegt auf der Hand, die Texte des historischen Hesse einen intertextuellen Raum. Neben impliziten Bezugnahmen, etwa auf den bereits erwähnten Text In den Felsen, werden beispielsweise Unterm Rad (exemplarisch Lang 2016, 355), Diesseits (exemplarisch Lang 2016, 93), Gertrud (exemplarisch Lang 2016, 35), Roßhalde (exemplarisch Lang 2016, 227) explizit als Intertexte markiert. Im bereits erwähnten Kapitel der Rückreise durch den Gotthard-Tunnel wird, dies wiederum unmarkiert, Gerhart Hauptmanns Novelle Der Apostel heranzitiert, wenn Hesse „kaum einmal an die gewaltigen Felsmassen über seinem Kopf“ denkt und er „Zutrauen zu den Werken der Ingenieure“ (Lang 2016, 173) hat. Im Gespräch mit D. H. Lawrence fungieren – und das macht die Passage für die Frage der Auflösung des Raum-Zeit-Kontinuums interessant – unter anderem dessen erst Jahre nach 1912 veröffentlichte Romane Lady Chatterley’s Lover (Lang 2016, 179) und Mr Noon (Lang 2016, 179) als Intertexte. Schließlich reichen die intertextuellen Bezüge bis in die Gegenwart, wenn der Magd Karoline mit „‚Reise, reise, Seemann, reise, jeder tut’s auf seine Weise … ‘“ (Lang 2016, 45) eine Liedzeile der Band Rammstein in den Mund gelegt wird – vom Erzähler kommentiert mit „Leise singt sie das Lied, das ihr in den Sinn gekommen ist“ (Lang 2016, 45). Damit wird zugleich eine zentrale Funktion des intertextuellen Spiels für den Roman deutlich: Der Magd Kalinde kommt ein ‚Lied in den Sinn‘, dass erst 2004 und damit knapp hundert Jahre nach der Handlungszeit des Romans veröffentlicht wird. Auch über das intertextuelle Spiel wird hier mithin die Raumzeit relativ, fallen Zeitschichten, die im vierdimensionalen Raum-Zeit-Kontinuum nacheinander liegen, zusammen: Wie schon der angebissene McIntosh-Apfel auf dem Monte Verità und der Gotthard-Tunnel auf Hesses Rückreise fungiert der Intertext als ‚Wurmloch‘ in die Zukunft. Vor diesem Hintergrund lohnt ein neuerlicher Blick auf die Passage, in der die Poetologie des Wurmlochs allererst etabliert wird. Hier werden verschiedene Zeitschichten aufgemacht und also unterschieden und gleichzeitig über die raumzeitliche Relativität ineinander geblendet. Der Text rekurriert auf den Ex-Harvard-
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Dozenten und Guru der Hippie-Bewegung Timothy Leary. Er hat Hesse in den USA populär gemacht; zugleich unterstellte Leary Hesse – wohl fälschlicherweise – Drogenkonsum und legte seine Werke als Drogenvisionen aus. So bemerkt Leary in dem gemeinsam mit Ralph Metzner in der Psychedelic Review publizierten Beitrag “Hermann Hesse: Poet of the Interior Journey”: Those who have taken one of the psychedelic drugs may recognize Govinda’s vision as a classic LSD sequence. […] The similarity to the consciousness-expanding drug experience is startling. […] Did Hesse reach this visionary state himself? By mediation? Spontaneously? Did H.H. the novelist himself use the chemical path to enlightenment? The answer to these questions is suggested in the next lesson on the master: Steppenwolf […]. (Leary und Metzner 1963, 170)
Und weiter: “It seems clear that Hesse is describing a psychedelic experience, a drug-induced loss of self, a journey to the inner world.” (Leary und Metzner 1963, 172) Schließlich kurz vor Ende des Beitrags: “At another level Hesse is the master guide to the psychedelic experience and its application. Before your LSD session, read Siddhartha and Steppenwolf. The last part of the Steppenwolf is a priceless manual.” (Leary und Metzner 1963, 181) Vor diesem Hintergrund wird nicht nur das Kapitel des Drogengesprächs zwischen Hesse und Lawrence (Lang 2016, 179–184) verständlich, welches auf den ersten Blick ähnlich irritierend wirkt wie der Wurmlochexkurs. Darüber hinaus verweist der Name Timothy Leary auf die Zeitebene der Hesserezeption der 1960er Jahre in den USA, und zwar der Rezeption durch eine ganz bestimmte soziale Gruppierung: nämlich durch die Hippies, also durch eine neue alternative Bewegung. Dies wiederum eröffnet ganz explizit eine Lesart des Textes, in dem die historische Lebensreform zum Archiv für spätere alternative Bewegungen wird und in der jene Konjunkturen alternativer Lebensformen im Verlauf des 20. Jahrhunderts – von Lebensreform über Hippie- und Umweltbewegung bis hin zu zeitgenössischen Gesundheits-, Nachhaltigkeits- und Selbstoptimierungsdiskursen – in eine historische Linie eingeordnet werden. Der „Apfel auf unseren iPhones und Notebooks“ markiert in diesem Zusammenhang den Fluchtpunkt Gegenwart. Mit Steve Jobs, der im Laufe seines Lebens verschiedene Ernährungskonzepte wie Fruitarismus und Veganismus vertrat und der eine Zeitlang Arnold Ehret-Anhänger war, wird zudem ganz konkret dem Fortwirken der Lebensreformbewegungen bis in die jüngste Vergangenheit nachgespürt. Damit aber werden die historische Lebensreform und die damit verknüpften Gesundheitskonzepte zugleich zur Folie für die Gesundheitsdiskurse der Gegenwart: Immer nach Hause stellt die historische Lebensreform wie gezeigt gerade in den Ausprägungen ihrer eben auch eigentümlich anmutenden Vorstellungen und inneren Widersprüchen dar, indem er einen ironischen Erzähler etabliert
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und eine skeptische Beobachterfigur einführt. Jene gleichermaßen teilnehmende wie distanzierend-beobachtende Haltung, die der Roman-Hesse auf dem Monte Verità einnimmt, lässt sich dann auf die Gesundheitsdiskurse der Gegenwart übertragen, deren Selbst- und Lebensoptimierungsanteile ebenfalls die „Erwartung von Heil“ (Honecker 2008, 134) miteinschließen und die insofern zwar nicht im engeren Sinn als ‚Gesundheitsreligion‘9 verstanden werden können, die aber gleichwohl ihrer Anlage nach durchaus Parallelen zur säkularisierten Erlösungslehre der Lebensreformbewegung der Jahrhundertwende aufweisen. Dies vor Augen, lässt sich auch im Detail eine erstaunliche Nähe gewisser Vorstellungen von 1907 und 2016 beobachten. Ehrets ‚schleimfreie Diät‘ etwa mit ihrem Konzept der inneren Giftstoffe, die durch falsche Ernährung entstehen und die der Körper nicht hinreichend abbauen könne, erinnert frappierend an jene in heutigen populären Gesundheitsdiskursen unter dem Schlagwort ‚Detox‘ propagierten Entgiftungskuren – um nur ein Beispiel der zahlreichen zeitgenössischen Selbstkuren, Ernährungsempfehlungen und Gesundheitsversprechen aufzurufen. Exemplarisch für viele andere sei die Zeitschrift Fit for Fun mit einem Beitrag „Detox: Körper entgiften, Energie gewinnen – so geht’s!“ zu Detox und Basendiät herangezogen. Eine Basendiät soll den Säure-Basen-Haushalt wieder ins Gleichgewicht [bringen], der durch die hohe Aufnahme von säurebildenden Lebensmitteln gestört wird. Das funktioniert mit einer Ernährung aus frischen und basischen Lebensmitteln. Zu den basischen Lebensmitteln zählen zum Beispiel Bananen, Aprikosen, Kartoffeln, Spinat, Möhren, Kohlrabi, Fenchel, Petersilie, Rucola, Rosinen und getrocknete Feigen. Du verzichtest auf Fleisch, Käse, Weißmehl, Süßigkeiten, Alkohol, Nikotin und Kaffee. Durch den Verzicht auf solche säurebildenden Lebensmittel stabilisiert sich der Säure-Basen-Haushalt, wodurch die Entgiftung stattfindet. (Sörensen und Nadolny 2018)
Man muss hier nur ‚Säuren‘ durch ‚Schleim‘ ersetzen und man könnte die Worte Langs Ehret in den Mund legen. Die Theorie von der Übersäuerung des menschlichen Körpers entbehrt im Übrigen genauso jeglicher wissenschaftlicher Grundlage wie die Schleimtheorie Ehrets: De facto entgiften bei einem gesunden Menschen Leber und Niere ganz ohne ‚Detox‘, der Säure-BasenHaushalt ist immer ausgeglichen – und ist er es nicht, liegt eine schwere Erkrankung vor, etwa eine dialysepflichtige Nierenkrankheit oder eine intensivpflichtige Sepsis, bei der akute Lebensgefahr besteht.10
9 Mit dieser überspitzten Formulierung kritisiert Manfred Lütz seit Jahren gegenwärtige Gesundheitsdiskurse und -erwartungen (vgl. exemplarisch Lütz 2008). In kritischer Auseinandersetzung mit Lütz’ Verwendung des Religionsbegriffs vgl. Baltes (2008). 10 Das Blut braucht einen bestimmten pH-Wert von 7,4. Schon 7,3 ist pathologisch, 7,0 lebensbedrohlich und intensivpflichtig.
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Neben solchen eher impliziten Parallelen markiert Langs Roman aber auch signifikante Verschiebungen zwischen den 1900er und den 2000er bzw. 2010er Jahren. Notebook und Smartphone sind in dieser Perspektive nicht nur als Verlängerung der Zeitachse bis in die Gegenwart zu lesen, sie stehen zugleich für die Verschiebung des Ortes populärer Gesundheitsdiskurse in den digitalen Raum. Die ‚Gesundheitsapostel‘ der Gegenwart heißen nun Influencer, sie gründen nicht mehr, wie vormals die Lebensreformapostel der Jahrhundertwende, in aller Abgeschiedenheit Kolonien, sondern nutzen Blogs, YoutubeKanäle und Instagram, um der interessierten Community der Gesundheits- und Fitnessbegeisterten ihre mehr oder weniger fundierten Lehren zu verkünden. Zugleich wird auch mit Blick auf die eigene Gegenwart eine ironisch-distanzierende und kontextualisierende Perspektive eingenommen, indem die Erzählinstanz hervorhebt, dass „der Apfel auf unseren iPhones und Notebooks […] uns nicht das Paradies vorgaukelt, aber gewissermaßen den bestmöglichen Ersatz“.
4 Engführung Der vorliegende Beitrag hat gezeigt, dass Thomas Langs Immer nach Hause nicht nur als Künstler- und Eheroman, sondern auch als historischer Lebensreformroman gelesen werden kann. Auf der Ebene des Erzählten rekurriert er zunächst schlicht auf die verschiedenen Reformbewegungen, historischen Protagonisten und Ideen der Lebensreform. Auf der Ebene des Erzählens operiert er zunächst mit der Etablierung einer teilnehmenden Beobachterfigur, die der Lebensreform mit Skepsis begegnet, was über die durch den Erzähler vermittelte Figurenwahrnehmung transportiert wird. Unterstütz wird die skeptische Perspektivierung des Weiteren durch einen zutiefst ironischen Erzähler, der eine kritische Distanz zu den lebensreformerischen Ideen etabliert. Nicht zuletzt arbeitet der Roman die tiefenstrukturelle Organisation, welche das Geschichtsverständnis der Lebensreformbewegungen und die in ihrem Umfeld entstandenen literarischen Resonanzeffekte teilen, heraus. Damit legt der Roman mit dem historischen Abstand von einhundert Jahren zugleich die Funktionsweise des Diskurses offen. Der Text belässt es dann aber nicht bei einer historischen Betrachtungsweise der Lebensreform. Vielmehr etabliert er bei genauerer Betrachtung eine Poetologie des Wurmlochs und ein daran gekoppeltes intertextuelles Spiel, welche es ermöglichen, im Medium des historischen Lebensreformromans zugleich eine transhistorische Engführung von Lebensreform, Hippie- und Umweltbewegung, Nachhaltigkeits- und Selbstoptimierungsdiskursen zu leisten. Damit aber
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perspektiviert der Roman Langs nicht nur die historische Lebensreformbewegung, sondern auch die Gesundheitsdiskurse der Gegenwart.
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Julian Menninger
Ewiges, gesundes Leben? Transhumane Heilserzählungen und fiktionale Gegenentwürfe „Neue Perspektiven für ein gesundes Leben“ titelt eine Themenbeilage der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 28. September 2018 (Seidinger 2018, 1). Dem Text hinterlegt ist das Bild eines verheißungsvollen Sonnenaufgangs, in dessen sakral anmutendem, morgendlich-goldenem Licht fünf perlmuttfarben schimmernde, weit geöffnete Türen Blickachsen auf den Horizont dahinter freigeben. Inhaltlich behandelt die Zeitungsbeilage aktuelle diagnostische Verfahren zur Krankheitsfrüherkennung und neuartige Präventionsmaßnahmen, die Krankheiten sukzessive gänzlich obsolet machen sollen. Der Verheißungscharakter vieler der in der Beilage vorgestellten medizinischen, juristischen und ethischen Perspektiven auf neue medizintechnische Möglichkeiten wird dabei durch die bis zur Farbgebung hin symbolisch kohärente Illustration ebenso inszeniert wie reflektiert. Denn die Türen eröffnen nicht nur alle den Blick auf eine strahlende Zukunft, sie laden auch zum Durchschreiten ein und erscheinen als Sinnbild dieses Heilsversprechens. Ein ähnliches Versprechen geben zahlreiche gegenwärtig mit Gesundheit assoziierte Praktiken: Auf Instagram beworbene Nahrungsergänzungsmittel, mit EKG ausgestattete Fitnesstracker und viele andere Komponenten eines medial vermittelten ‚healthy lifestyle‘ sind Indizien eines sich veränderten Gesundheitsverständnisses, bei dem der Optimierungsidee eine immer größere Rolle zukommt. Dabei verschieben sich Gesundheitsvorstellungen auf normative Weise, denn solche Praktiken stellen nicht nur ein besseres und gesünderes Leben in Aussicht, sondern lassen auch die Partizipation an ihnen als Grundbedingung einer gesunden Lebensführung erscheinen. Längst hat sich dabei der neoliberale Grundsatz der Leistungssteigerung und Selbstverbesserung vom Arbeitsbereich auf den Körper hin ausgedehnt. Optimierungs- und Transformationsbereitschaft werden dabei zum Ausweis von Selbstdisziplin und Leistungsfähigkeit (Duttweiler 2018, 113), beeinflussen entscheidend die Selbstwahrnehmung und dienen nicht zuletzt auch dazu, die Arbeitsleistung des Individuums angesichts des demographischen Wandels länger aufrechtzuerhalten.1 Die Konflikte, welche sich als Folge einer solchen
1 Peter Miller und Nicholas Rose beschreiben in ihrem Aufsatz Production, identity, and democracy die weitreichenden Konsequenzen für das Selbstbild von Individuen, die in einem Arbeitsumfeld sozialisiert werden, das ihnen kontinuierliche Verbesserung, Innovation und https://doi.org/10.1515/9783110747928-013
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Julian Menninger
bereits erfolgenden Verschiebung der Gesundheitssemantik abzeichnen, machen die Brisanz futuristischer Szenarien aus dem Bereich der Populärwissenschaft und der Wissenschaftskommunikation deutlich, die von der Abschaffung der Krankheit träumen und eine potentielle Transzendierung des Menschen sogar bis hin zur Unsterblichkeit in Aussicht stellen. Anhand solcher Zukunftsdarstellungen, die Gesundheit als etwas Steigerbares und gesellschaftlich Erstrebenswertes konzeptualisieren, lässt sich eine wesentliche These dieses Bandes veranschaulichen: nämlich, dass Gesundheit in der Moderne zunehmend nicht mehr ausschließlich als natürlicher Zustand konzeptualisiert ist, welcher vom berichtenswerten Ausnahmezustand Krankheit gestört wird, sondern selbst zu etwas sprachlich Markiertem und Erzählenswertem wird. Dieser Beitrag widmet sich den spezifisch erzählerischen, affirmativen Ausgestaltungen solcher Visionen, wie sie in populärwissenschaftlichen Genres zu finden sind, und dem weiten Feld kritischer Gegenstimmen, die sich in künstlerischen und fiktional erzählenden Genres artikulieren. Es soll aufzeigt werden, wie sich in diesen Erzählungen die Semantik der Gesundheit verschiebt respektive wie eine solche Verschiebung thematisiert wird, welche Implikationen diese Visionen dabei für die Perspektivierung des Verhältnisses von Krankheit und Gesundheit haben und welche normativen Vorstellungen mit ihnen verbunden sind. Hierfür wird zunächst auf Parallelen zur christlichen Erlösungserzählung eingegangen. Daran anschließend werden anhand des vom Futurologen Ray Kurzweil und dem Arzt Terry Grossman verfassten Ratgebers Transcend. Nine steps to living well forever (2009) einige ideologische Hintergrundannahmen der genannten semantischen Verschiebung herausgearbeitet. Ebenfalls relevant wird dabei, wie der Text auf narrative Techniken zurückgreift, um persuasiv weltanschauliche Positionen zu vermitteln. Überblickshaft sollen danach in der zweiten Hälfte dieses Beitrags die in zahlreichen literarischen und filmischen Dystopien imaginierten Konsequenzen eines solchen neuen Gesundheitsverständnisses anhand einer Reihe von Beispielen umrissen werden. Zu diesen Konsequenzen zählen etwa staatliche Überwachungsmöglichkeiten, entindividualisierende Tendenzen und eine zunehmende Überforderung des Subjekts. Eine herausgehobene Position kommt dabei Juli Zehs Roman Corpus Delicti (2009) zu. In dem vielbeachteten literarischen Debattenbeitrag werden die normativen Dimensionen einer Umwertung der Begriffe Gesundheit und Krankheit zentral verhandelt. Der Roman nimmt dabei eine dekonstruierende Haltung zu den utopisch-technozentristischen Heilserzählungen ein, welche
Selbstoptimierung abverlangt und sowohl die Stabilität der eigenen Identität wie auch materielle Sicherheit an diese Flexibilität knüpft (Miller und Rose 1995, 455–457).
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die fiktionsinterne Gesellschaft prägen. Zehs Gesundheitsdystopie soll dabei wie auch Kurzweils und Grossmans Text auf den Einsatz von narrativen Techniken untersucht werden. In einer abschließenden Gegenüberstellung der beiden Texte werden etwaige gemeinsamen narrativen Strategien in den beiden unterschiedlichen kommunikativen Formaten aufgezeigt.
1 Neue Heilserzählungen und ihr Einfluss auf die Gesundheitswahrnehmung Die Nähe zwischen prognostischen Texten, die sich affirmativ mit einem sich verschiebenden Gesundheitsverständnis befassen, und der christlichen Erlösungserzählung ist evident. Die Überwindung der finalen Grenze des menschlichen Körpers, welche im Altern und der daraus resultierenden zwangsläufigen Sterblichkeit des menschlichen Körpers liegt, wird dabei zur neuen Erlösungsphantasie, die nicht mehr auf ein „postmortales Paradies“ angewiesen ist, sondern die Befreiung von Leid als „technische Machbarkeit auf Erden prognostiziert und propagiert“ (von Becker 2015, 26). Die moderne Gesundheitserzählung tritt damit in die Nachfolge einer Reihe von Heilsversprechen, die alle den „menschlichen Wunsch nach Gutsein, Besserwerden und Vervollkommnung“ (Schmidt 2017, 160) zum Ausdruck bringen und über das Christentum, die französischen Revolution bis hin zur Aufklärung und dem Marxismus reichen (Kühn 2014, 29; Schmidt 2017, 160). Sie vermittelt die hoffnungsstiftende Geschichte eines vom Menschen selbst geschaffenen paradiesischen Zustandes (Kühn 2014, 29) und soll das Individuum motivieren, sich selbst als Wegbereiter einer freudigen Gegenwart und Zukunft im Diesseits zu betrachten (Schmidt 2017, 160). Die semireligiöse Komponente dieser Transzendierungsabsicht reflektiert etwa der Titel von Yuval Noah Hararis Homo Deus. A Brief History of Tomorrow (2016). In seiner prognostischen Geschichtsschreibung öffnet der Historiker eine umfassende Perspektive auf das 21. Jahrhundert, bei der er eine deutlich gesteigerte Lebenszeit des Menschen und dessen gesundheitliche Optimierung als das nächste große Projekt der Menschheit in den Mittelpunkt seiner Ausführungen rückt. Neben den inhaltlichen und funktionalen Parallelen, die in der Hoffnung stiftenden Thematisierung von Unsterblichkeit liegen, sind in solchen Narrationen auch strukturelle Vergleichspunkte zur teleologischen christlichen Erlösungserzählung auszumachen, welche die Erzählweise betreffen. Bei der Auseinandersetzung mit Kurzweils und Grossmans Ratgeber Transcend sollen diese herausgestellt werden. Als ein Beispiel für medizintechnische Entwicklungen, die Firmen wie Janssen Pharmaceutica öffentlichkeitswirksam von einer „Welt ohne Krankheiten“
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(Janssen-Cilag GmbH 2019) träumen lassen, kann die sogenannte Disease Interception beziehungsweise prädikative Medizin angeführt werden. Es handelt sich dabei um das Bestreben, Krankheiten bereits vor ihrem Ausbruch zu diagnostizieren und in der Folge präventiv zu behandeln. Ein durch solche Praktiken gewonnenes Wissen lässt dabei nicht nur eine Verhinderung von Krankheiten zu und trägt insofern zu der in einer humanistischen Tradition stehenden Vision einer Verbesserung des Menschen bei; es wirft gleichzeitig auch eine Vielzahl potentieller ethischer wie rechtlicher Fragen auf. Einerseits ermöglicht dieses Wissen eine Identifikation von Risikomarkern für den Ausbruch bestimmter Krankheiten und kann so zur Erhaltung von Gesundheit beitragen, andererseits kehrt es das Vorzeichen vor gesunden Körpern um und versieht diese auf der Basis einer Risikowahrscheinlichkeit – und nicht auf der Basis manifester Symptome – mit dem Stigma eines pathologischen Befundes. Es stellt sich dabei unter anderem die Frage, welche psychischen Konsequenzen die Diagnose einer Krankheit bei Menschen hat, die de facto von dieser noch gar nicht betroffen sind, und ab welchem Zeitpunkt und welcher Wahrscheinlichkeit ein Arzt deshalb über einen potentiellen Krankheitsausbruch informieren sollte (Winkler 2018, 1). Zentral für ein aus solchen Erlösungsversprechen resultierendes Gesundheitsverständnis ist also die ihm inhärente Kontradiktion, dass Gesundheit – angesichts von in Aussicht gestellten Norm- und Idealkörpern – immer schwerer mit dem durchschnittlichen und nun heilungsbedürftig wirkenden Körper in Einklang zu bringen ist.2 Daraus leitet sich eine Reihe von Verunsicherungen ab. Zunächst erodiert zunehmend die Möglichkeit einer klaren Unterscheidung und objektiven Grenzziehung zwischen den normativ aufgeladen und sich vormals dichotom gegenüberstehenden Begriffen Gesundheit und Krankheit (Weber und Zoglauer 2015, 20–21). Weiterhin stellt sich die Frage, was als pathologisches und einen Eingriff rechtfertigendes Symptom und was als charakteristische menschliche Schwäche im Rahmen der conditio humana zu bewerten ist (Wagner 2018, 120). Entsprechend kann in solchen Zusammenhängen auch nicht eindeutig zwischen einer notwendigen Praxis der Heilung und der fakultativen Optimierung unterschieden werden (Wolpe
2 Einen ausführlichen Überblick zum sich historisch wandelnden Gesundheitsverständnis bis hin zum Zeitalter prädikativer Medizin und Enhancement gibt das Kapitel Körperbild und Leibverständnis in Geschichte und Gegenwart in Axel W. Bauers Monographie Normative Entgrenzungen. Themen und Dilemmata der Medizin und Bioethik in Deutschland. (Bauer 2017, 63–80, insbes. 76–79).
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2002, 389).3 Zusammenfassend lässt sich feststellen: Während der gesunde Körper immer mehr zum Projekt und Sehnsuchtsobjekt avanciert, verliert er zusehends seine Präsenz in der alltäglich erlebbaren Welt. Eine zunehmende Umwertung ‚normaler‘ Körper zu defizitären, optimierungsbedürftigen und mit gesundheitlichen Problemen behafteten ist die Folge. Gesundheit hat sich im Kontext dieser Prozesse und Perspektiven zu etwas entwickelt, das erarbeitet oder hergestellt werden muss und das nicht mehr umstandslos als etwas Normales, Unsichtbares und Gegebenes angesehen wird. Gesundheit tritt somit aus dem von Gadamer beschriebenen „Verborgenen“ (1993)4 und wird zum Ideal und markierten Ausnahmezustand, von dem es fraglich ist, ob er überhaupt erreichbar ist – weshalb er von Stefanie Duttweiler bildhaft als „ewige Baustelle“ konzeptualisiert wird (2018, 107).
2 Transcend: Selbstverbesserung als Imperativ Als zunächst einigermaßen ungewöhnliches Kooperationsprojekt erscheint die Zusammenarbeit des bekannten Futurologen Ray Kurzweil, welcher als Director of Engineering für Google arbeitet, mit Terry Grossman, dem Leiter einer Privatklinik. Gemeinsam haben Kurzweil und Grossman bereits zwei Publikationen vorgelegt. Beide Texte sind als Anleitungen für ein besseres und gesünderes Leben zu verstehen und dem Selbsthilfegenre zuzuordnen. Insbesondere aufgrund der Prominenz von Ray Kurzweil und dessen herausragender Stellung als Pionier im Bereich der künstlichen Intelligenz nehmen die beiden Publikationen eine wichtige Rolle im technologisch geprägten Selbstverbesserungs- und Longevity-Diskurs ein. Im 2005 erschienenen Ratgeber Fantastic Voyage: Live Long Enough to Live Forever verknüpfen die Autoren die Thematik einer durch Sport, Ernährung und andere Vorsorgemaßnahmen erzielten Lebenszeitverlängerung kausal mit einem in Aussicht stehenden ewigen Leben. Die Lektüre soll den Lesern dabei Möglichkeiten aufzeigen, um – wie es im Titel formelhaft expliziert wird – so lange zu leben, bis sie in den Genuss neuer medizintechnischer und von den Verfassern für die nahe Zukunft angekündigten Möglichkeiten kommen können, das Leben ins Unendliche zu verlängern. Im Titel des Nachfolgebuchs
3 Während die Möglichkeit einer klaren Grenzziehung zwischen behandelnden und optimierenden medizinischen Eingriffen hinterfragt werden kann, versuchen sich einige Beiträge dennoch daran, Differenzierungsmöglichkeiten aufzuzeigen. Siehe u. a. Juengst (1997, 126). 4 Zur lange vorherrschenden Perspektivierung von Gesundheit als unmarkierter Zustand siehe auch die Einleitung dieses Bandes.
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Transcend. Nine steps to living well forever (2009) hat sich der Zusammenhang zwischen den beschriebenen Praktiken und dem versprochenen Effekt der Transzendierung von der Perspektivierung als Voraussetzung hin zu einer gezielt einsetzbaren Praxis verschoben. Das Erreichen des Ziels erscheint nun weniger prekär und die Möglichkeit des Scheiterns wird nicht mehr im Titel impliziert. Während die zugrundeliegende Vorstellung der beiden Buchtitel dieselbe ist – nämlich dass durch sukzessive Lebenszeitseigerung die Leserschaft noch eine Zeit erleben kann, in der Alterungsprozesse schließlich vollständig ausgeschaltet oder gar rückgängig gemacht werden können –, erscheint in diesem späteren Titel der vermeintlich notwendige Schluss vom Verhalten (living well) auf den Effekt (living forever) noch sehr viel deutlicher. Die neun Buchstaben des Titelworts Transcend bilden dabei ein Akronym aus den Schritten, welche den Autoren zufolge nötig sind, um das so verbalisierte Heilsversprechen eines ewigen gesunden Lebens Realität werden zu lassen. Als diese führen die beiden Autoren an: „Talk with your doctor“, „Relaxation“, „Assessment“, „Nutrition“, „Supplements“, „Calorie Reduction“, „Exercise“, „New Technologies“ und „Detoxification“ (Kurzweil und Grossman 2011 [2009], vii). Das auf dem Titelblatt einiger Auflagen (u. a. Kurzweil und Grossman 2011 [2009]) sogar grafisch umgesetzte Wortspiel ist als suggestive Technik zu bewerten, welche die scheinbare Logik der Ableitbarkeit von buchkonformer Lebensweise und Transzendierung illustrativ veranschaulicht. Der listenhafte Charakter der auch als Unterkapitel des zweiten Buchteils wiederkehrenden Punkte sowie eine von den Autoren gewählte dichotome Gegenüberstellung der beiden Teile des Buches „Part I – The Problem“ – „Part II – The Plan“ (Kurzweil und Grossman 2011 [2009], vii) unterstützten die kommunikative Absicht des Buches, die Befolgung der dort vorgeschlagenen Schritte als endgültige Lösung des ‚Problems‘ des Alterns zu inszenieren. Die nachfolgenden Betrachtungen werden sich besonders auf das neuere und sich noch selbstbewusster gerierende der beiden Bücher fokussieren. Da für die Perspektivierung der in Transcend getroffenen Prognosen und der daraus resultierenden Handlungen bzw. Handlungsanweisungen die dahinterstehenden ideologischen Grundannahmen entscheidend sind, ergeben sich zwei Fragen: Warum wird Altern von den Autoren als Problem angesehen und ein andauerndes Leben angestrebt? Wie kommen die Autoren zu der Prognose, dass eine solche Entwicklung tatsächlich einsetzen wird? Für die Beantwortung der ersten der beiden Fragen erscheint eine Kontextualisierung der Bücher im Zusammenhang der boomenden Ratgeberliteratur zum Thema Erfolgs- und Selbstmanagement erkenntnisfördernd. Gesundheitliche Selbstoptimierung und die Vorstellung einer Transzendierung des Individuums zum omnipotenten Herrscher über den eigenen Körper können dabei als Teile eines Identitätsentwurfs angesehen werden, den Ulrich Bröckling „unternehmerische[s] Selbst“ (2007) nennt. In diesem Identitätsentwurf verdichten
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sich Bröckling zufolge „sowohl normatives Menschenbild wie eine Vielzahl gegenwärtiger Selbst- und Sozialtechnologien, deren gemeinsamen Fluchtpunkt die Ausrichtung der gesamten Lebensführung am Verhaltensmodell der Entrepreneurship bildet.“ (Bröckling 2019 [2007], 47) Die „Reproduktion und Sanierung des eigenen Humankapitals“ (Bröckling 2019 [2007], 59) wird dabei zur Maxime, weshalb die Steigerungslogik im Traum vom ewigen Leben als konsequente Fortsetzung des von Bröckling diagnostizierten „Imperativ[s] eines unabschließbaren Wachstums“ (Bröckling 2019 [2007], 61) erscheint: Die Individuen sollen ihre Macht über sich selbst, ihr Selbstwertgefühl und Selbstbewusstsein und ihre Gesundheit ebenso maximieren wie ihre Arbeitsleistung und ihren Wohlstand; sie sollen das umso besser können, je aktiver und selbstverantwortlicher sie ihr Leben in die Hand nehmen […]. (Bröckling 2019 [2007], 61)
Die Annäherung an die nicht als empirische Entität existierende Realfiktion des unternehmerischen Selbst diktiert Bröckling zufolge einen „Prozess kontinuierlicher Modifikation und Selbstmodifikation“ (Bröckling 2019 [2007], 46), der schließlich zwangsläufig auch den Körper miteinbezieht. Denn Altern bedeutet in diesem Kontext eine Reduktion der Leistungsfähigkeit und muss konsequenterweise unterbunden werden. Die dabei hervorgehobene Eigenverantwortlichkeit findet sich auch in Transcend prominent wieder. In der Einleitung betonen die beiden Autoren diesen Emanzipationsgedanken: „[Y]ou’ll need to take control of your own healthcare, become your own doctor in a sense. You can’t rely on anyone else – not even your physicians, although they can still be a big help.“ (Kurzweil und Grossman 2011 [2009], xii) Hinter dem Bestreben, den eigenen Alterungsprozess zu arretieren, steht der Wunsch, den Status als leistungsstarkes Individuum nicht zu verlieren. Das Bestreben, ewig zu leben, wirkt vor diesem Hintergrund nicht einmal so selbstzentriert, wie es vielen Kritikern möglicherweise erscheinen mag, sondern bringt insbesondere den Wunsch zum Ausdruck, sich weiterhin als hilfreiches und aktives Mitglied („active citizen“, Miller und Rose 1995, 455) einer Leistungsgesellschaft zu sehen und so vor allem das eigene Selbstbild aufrechtzuerhalten und empfundene Anforderungen erfüllen zu können. Die zweite Ursache für das Bestreben, Alterungsprozesse zu stoppen, beruht auf der Annahme der beiden Autoren, das Altern ein per se fehlerhaftes Konzept sei. Kurzweil und Grossman setzen den menschlichen Körper dabei mit einem veralteten Rechnersystem gleich, welches ein Update benötigt: „Consider how frequently you update the software on your computers. Yet the software in our bodies – our genetic code – has not been updated for millennia.“ (Kurzweil und Grossman 2011 [2009], xvi) Hier kommt das bei beiden vorhandene transhumanistische Gedankengut zum Tragen, welches die Reduktion menschlichen Leidens und ein Streben nach Verbesserung als mo-
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ralische Notwendigkeiten ansieht. Altern an sich wird dabei als Krankheit angesehen und begrifflich vom älter werden abgegrenzt: Part I of this book describes the Problem – the fact that we are genetically programmed to age, to enjoy optimal health for a relatively short period of time, and then are forced to spend much of the rest of our lives dealing with the effects of aging, a process that has as its sole purpose the destruction of our health and our ultimate demise. Before we begin our discussion of the various processes associated with aging, it is important to realize that growing older (and wiser!) is not the same thing as aging. Everyone grows older all the time, but we aren’t necessarily aging as we do so since, by definition, the aging process is one of deterioration. (Kurzweil und Grossman 2011 [2009], 3)
Gesundheit wird so von den beiden Autoren zu einem anzustrebenden, zukünftigen Zustand erklärt, in dem der Verschlechterungsprozess des Alterns ausgehebelt und der kranke Leib durch eine Metamorphose beziehungsweise Reinigung in einen heilen und ‚verklärten Leib‘ verwandelt wird (Asmuth 2016, 129).5 Um der zweiten der beiden Fragen nachzugehen und die Ursache für die enthusiastische Überzeugung Kurzweils und Grossmans von der baldigen Erfüllung ihres Transzendierungswunsches auszumachen, lässt sich an die im letzten Abschnitt beschriebene Gleichsetzung des menschlichen Körpers mit einer biologischen reparatur- bzw. updatebedürftigen Maschine anknüpfen. Es ist der Glaube, technische Entwicklungen würden auch die ‚Maschine‘ Mensch optimierbar machen, der bei den beiden Autoren zu der Prognose führt, dass sie selbst noch von dem von ihnen beschriebenen exponentiellen Fortschritt im Gesundheitswesen profitieren werden. (Kurzweil und Grossman befinden sich zum Zeitpunkt der Ersterscheinung von Transcend in ihren Sechzigern.) Aus dem technischen Verständnis des menschlichen Körpers resultiert – so soll gezeigt werden – nicht nur das Bedürfnis nach gesundheitlicher Transzendierung, sondern auch die im Buch vorgeschlagene Herangehensweise zur Befriedigung dieses Wunsches und die interdisziplinäre Zusammenarbeit zwischen dem Mediziner Grossman und dem KI-Forscher Kurzweil. Entwicklungen im Bereich der Informationstechnologien werden dabei mit medizinischen Entwicklungen verschränkt und Medizin zur Informationswissenschaft erklärt (Kurzweil und Grossman 2011 [2009], xvii). Eine für die nahe Zukunft vorhergesagte exponentielle Weiterentwicklung in der Computertechnologie würde deshalb der Argumenta-
5 Christoph Asmuth überträgt den urchristlichen Körperdualismus auf technozentristische Körperbilder und unterscheidet analog zwischen dem weltlichen, bedürftigen und zerstörbaren sowie dem erlösten, gereinigten und ‚verklärten Leib‘. (Asmuth 2016, 122). Die bereits thematisierten Parallelen zu religiösen Heilsvorstellungen werden hier abermals deutlich. Beide Sichtweisen perspektivieren den Körper als defizitäre Hülle, die es zu transformieren oder abzustreifen gilt.
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tion der beiden Autoren zufolge einen exorbitanten Fortschritt in der Medizintechnik und vor allem im Hinblick auf unser Wissen über Krankheiten und die Funktionsweise unseres Körpers ermöglichen. Die beiden Autoren behaupten, dass diese Entwicklung zu neuen und momentan noch unvorstellbaren Behandlungsmethoden führen werde. Unter anderem sprechen sie von einem Update für den menschlichen Körper, das in Form einer Reprogrammierung erfolgen soll. Sie meinen dabei beispielsweise die gezielte Ausschaltung bestimmter, für heutige Zwecke unpassend erscheinender und negative Effekte zeitigender Gene, wie etwa die Effekte des von den Autoren salopp als „fat insulin raptor gene“ bezeichneten Gens (Kurzweil und Grossman 2011 [2009], xiv–xvi). Dessen ursprünglich wichtige Funktion, dafür zu sorgen, dass Kalorien für Notfallsituationen wie Hungersnot oder anhaltende Belastungen gespeichert werden, ist – so die Autoren – im Zeitalter von Überfluss der Auslöser zahlreicher Zivilisationskrankheiten. Die Ausschaltung der Gensequenz würde es ermöglichen, so viel Nahrung aufzunehmen, wie man will, ohne dass der Körper unnötige Reserven in Form von Fettpolstern oder auch Ablagerungen in den Arterien oder an anderen Orten bildet. Die exponentielle Wachstumskurve im Bereich der Informationstechnologie, auf die sich die beiden Autoren berufen, ist der beobachtete Effekt einer seit langer Zeit mehr oder weniger konstanten Verdopplung der Prozessorleistung alle ein bis zwei Jahre. Erstmals wurde die Entwicklung 1965 vom späteren Intel-Präsidenten Gordon Moore in einem Aufsatz mit dem Titel Cramming more components onto integrated circuits (1965) beschrieben, und tatsächlich hat sich seine als Moore’sches Gesetz bekanntgewordene Prognose eines zunächst langsamen und dann immer schneller voranschreitenden Anstiegs bis heute als richtig erwiesen. Ein handelsübliches Smartphone besitzt heute die einhunderttausendfache Leistung des Steuercomputers des Apollo-Mondprogramms, wie viele Vergleichsrechnungen bildhaft illustrieren.6 Zu der Zeit, als Moore seine Theorie verfasste, erschien eine solche Steigerung jedoch einigermaßen utopisch. Auch wenn diese Entwicklung nun langsam an ihre ebenfalls schon 1965 prognostizierten physikalischen Grenzen gerät (Mulay 2016, 38), haben neue technische Entwicklungen gezeigt, dass der die Rechenkapazität steigernde Trend nicht etwa abgeebbt ist, sondern sich voraussichtlich durch neu hinzugekommene Faktoren in noch gesteigerter Form fortsetzen wird (Lambrechts, Sinha
6 Der hier genannte Faktor beruht auf den Berechnungen von Graham Kendall (Kendall 2019, o.S.). Der Vergleich findet sich wiederholt in der Literatur und wird in vielen populären Wissenschaftsformaten reproduziert. Dabei werden in der Regel eine Reihe sich auf die Performance auswirkender Faktoren berücksichtigt (unter anderem die Anzahl der Transistoren sowie ihre Verarbeitungsgeschwindigkeit, aber auch die verwendete Software), was in unterschiedlichen Vergleichsaufstellungen zu unterschiedlichen Ergebnissen führt.
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und Abdallah 2018, 20–27). Diese anhaltende Entwicklung nimmt Kurzweil als Ausgangspunkt und baut sie zu einer simplen Logik um, welche die Grundlage seiner sogenannten Singularitätstheorie ist: Sollte der Trend genau so weitergehen wie bisher beobachtet, wäre es seiner Ansicht nach nur eine Frage der Zeit, bis echte künstliche Intelligenz technisch realisierbar wird. Diesen Kulminationspunkt technischer Entwicklung bezeichnet Kurzweil als Singularität. Der Verfasser einer Reihe von einschlägigen und als Bestseller rezipierten Publikationen zu diesem Thema ist überzeugt, dass durch diese Entwicklungen gegenwärtig unrealistisch erscheinende Projekte wie die menschliche Unsterblichkeit beziehungsweise die Aushebelung von Alterungsprozessen realisierbar werden.7 Den Leser direkt adressierend beschreiben Kurzweil und Grossman diesen Prozess als in kleinen aber immer schneller werdenden Schritten erfolgenden Selbstläufer: Keep in mind that we will not jump into the future world we describe in one big leap. Rather, it will come in countless small steps. Now that health technology is an information technology and subject to the exponential progress that underlies all information technology, these steps will come faster and faster. (Kurzweil und Grossman 2011 [2009], xix)
Neben den inhaltlichen und weltanschaulichen Besonderheiten des Textes, die mit der Pathologisierung des Default-Zustands eines alternden menschlichen Körpers eine klare normative Umwertung der Konzepte Gesundheit und Krankheit erkennen lassen, sind dessen auf der discours-Ebene angesiedelten strukturellen Charakteristika hervorzuheben. Die vorangegangene Beschreibung hat gezeigt, wie das in Transcend gegebene Heilsversprechen in Einzelschritte zerlegt ist. Auf dem Weg dahin gibt es folglich viele Streckenerfolge zu feiern, was einerseits die optimistische Grundhaltung des Textes bedingt und andererseits eine argumentative und teleologische Struktur der Erzählung ermöglicht, die von diesem Weg berichtet. Während der Hauptteil des Ratgebers viele konkrete Handlungsanweisungen und Tipps bis hin zu Rezepten und bebilderten Sportübungen enthält, sind für die Perspektivierung dieses Beitrags insbesondere die narrativen Passagen des Buches bedeutsam. Dort treten die beiden Autorfigurationen Ray und Terry sowie deren Alter Egos aus den Jahren 2023 und 2034 in einen fingierten Dialog mit dem von den Autoren als Figur ausgestalteten implied reader und kompilieren unterschiedliche Themengebiete des Buches. Als futurische Gewährsmänner berichten sie so retrospektiv von der Entwicklung hin zu einer strahlenden Zukunft. Die von den Autorfiguren geschilderte und für
7 In seinen Büchern The Age of Intelligent Machines (1990), The Age of Spiritual Machines (1999), The Singularity Is Near (2005) und How to Create a Mind. The Secret of Human Thought Revealed (2012) setzt sich Kurzweil wiederholt mit dem Konzept der Singularität auseinander.
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die Argumentation des Buches zentrale medizintechnische Entwicklung in drei Phasen wird durch diese narrative Vermittlungsform personifiziert und greifbar. Der Text macht sich dabei die prinzipiell persuasive Wirkung von Erzählungen zu Nutze; diese beruht im wesentlich auf deren Partikularität (vgl. Sukalla 2019, 14) – also der Anschaulichkeit evozierenden Konkretheit bzw. Einzigartigkeit des Geschilderten – und auf der von den Reflektorfiguren hervorgerufenen Erfahrungshaftigkeit (vgl. Fludernik 1996, 12). Durch Scherze und wechselseitige Komplimente wird zusätzlich eine Bindung zwischen der Leserfigur und den Stellvertretern der Autoren hergestellt. Diese suggerierte Bindung wiederum täuscht über die argumentative Übermacht hinweg, der sich die Leserfigur stellen muss. Immerhin sind es sechs Erzähler, welche sie von ihrem Anliegen zu überzeugen versuchen. Dass vier davon über exklusives und scheinbar nicht zu hinterfragendes Wissen aus der Zukunft verfügen, steigert noch die Asymmetrie der Kommunikationssituation. Hinzu kommt, dass der Dialog mit den zukünftigen Versionen der bereits recht alten Autoren überhaupt erst unter der Prämisse plausibel ist, dass diese mit ihren Voraussagen einer steigenden Lebenszeit recht behielten. Eine solche Immunisierungsstrategie offenbart den einseitigen Charakter des Dialogs. Darüber hinaus ist die der Meinungsbildung zugrundeliegende dialogische Struktur grundsätzlich zu hinterfragen, denn abgesehen davon, dass die Figur des implied reader ohnehin nur ein weiterer ‚Avatar‘ der Autoren ist, werden von dieser Figur auch kaum eigene Argumente oder Gedanken formuliert. Stattdessen fungiert die Leserfigur durch ihre Nachfragen meist als Stichwortgeber (z. B. „That sounds like a lot of progress.“; „So cancer is cured?“ (Kurzweil und Grossman 2011 [2009], 143)) oder nimmt eine affirmative Haltung zum Dargestellten ein (z. B. „Sounds worth waiting for.“ (Kurzweil und Grossman 2011 [2009], 111); „I see.“ (Kurzweil und Grossman 2011 [2009], xxi)). Der einseitige und wenig interaktive ‚Dialog‘ stellt folglich eher eine Plattform für die fingierten mündlichen Erzählungen der beiden Autoren und ihrer zukünftigen Zweit- und Drittidentitäten dar. Die Präsenz einer Ansprechperson erzeugt einen Erzählanlass, der es den Autoren erlaubt, die Prognosen des Buches aus der Perspektive der Ko-Erzähler als historische Entwicklungen zu framen und erzählerisch zu ‚rekonstruieren‘. Eine historisierende Darstellungsform ist – wenn dies zunächst auch kontraintuitiv erscheinen mag – nicht unüblich für prospektive Sachtexte (vgl. Rohbeck 2013, 46–47) und kann u. a. durch die für Rückschauen charakteristische analytische Perspektive auf Ursache-Wirkung Zusammenhänge den Eindruck erwecken, das Geschilderte sei die notwendige Konsequenz aktueller Gegebenheiten. In Transcend hat die Kopplung dieser Schilderung an homodiegetische Erzählinstanzen zudem eine immunisierende Wirkung, denn gegen die als Erfahrungen der fiktiven Figuren verpackten Ausführungen lassen sich nur schwer Einwände erheben.
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Über die erste Phase, die als Ziel die Verlangsamung von Alterungsprozessen verfolgt, berichten die Erzähler Ray und Terry von ihren gegenwärtigen Bemühungen, Prozesse zu stoppen, die zu Krankheit und Alter führen. Hierzu beschreiben sie die Anwendung und den Erfolg von Entspannungstechniken zur Stressreduktion, wie sie Grossman seinen Patienten empfiehlt (Kurzweil und Grossman 2011 [2009], 185–186) oder auch ihre eigenen Versuche, Schlaf möglichst erholsam zu gestalten (Kurzweil und Grossman 2011 [2009], 23–25). Die Einnahme zahlreicher Präparate, eine spezielle Ernährungsweise, sportliche Betätigung sowie das Austesten neuer medizinischer Verfahren werden in Transcend gleichfalls dieser Phase zugerechnet, allerdings nicht von den Autorfigurationen Ray und Terry thematisiert – dies wird von ihren zukünftigen Versionen übernommen, die in ihrer im Präteritum formulierten Rückschau die Bemühungen dieser Phase als „old-fashioned way“ (Kurzweil und Grossman 2011 [2009], 111) des Gesundheitserhalts beschreiben. An dem grundsätzlich höheren Redeanteil der futurischen Alter-Ego-Figuren zeigt sich, dass der Schwerpunkt auf den prognostischen Inhalten liegt, die vom Kunstgriff der fingiert-mündlichen Erzählsituation greifbarer gemacht werden. Von der zweiten Phase, die von den Autoren als Hochphase der biotechnischen Revolution beschrieben wird (Kurzweil und Grossman 2011 [2009], xx), erzählen deshalb auch Ray2023 und Terry2023 und berichten von den Möglichkeiten einer umfassenden Reprogrammierung des menschlichen Körpers durch Genveränderungen. Die sequenzielle narrative Darstellung der Erzählpassagen ermöglicht es dabei, Gegenwärtiges mit Zukünftigem zu verbinden. Ray 2023: We are now at the mature phase of biotechnology revolution. Back in your day, medicine was basically hit-or-miss. Drug development was called drug discovery, basically just finding things that appeared to work, often with severe side effects. Several developments occurred around your time that turned medicine into an information technology. We finished mapping the human genome in 2003, so we had the software code of human life. Techniques to actually change our genes were also developed: RNA interference to turn genes off and new forms of gene therapy to add new genes. […] [N]ow, in 2023, these information-based medical technologies are about 30000 times more powerful than they were in your day. (Kurzweil und Grossman 2011 [2009], xxii)
Wie der Arzt Terry2023 resümierend feststellt, haben die beschriebenen Veränderungen dann unter anderem zu neuartigen Diagnosemöglichkeiten geführt (Kurzweil und Grossman 2011 [2009], 163). Auch der Kampf gegen den Krebs und die Etappensiege bis hin zu seiner endgültigen Bekämpfung werden – immer wieder durch Zwischenfragen der Leserfigur unterbrochen – von den fingierten Augenzeugen geschildert (Kurzweil und Grossman 2011 [2009], 140–143). Die Entwicklung von 2023 bis 2034 erzählen schließlich Ray2034 und Terry2034. Sie berichten von einer nanotechnologischen Revolution, die unter anderem durch den Einsatz
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von Nanorobotern in den Blutbahnen die Limitationen der biologischen Determinierung endgültig sprengen soll. An dieser Etappenstruktur wird deutlich, wie die Alter-Ego-Figuren in Transcend eingesetzt werden, um die von den Autoren prognostizierte Verknüpfung zwischen technologischem Fortschritt und einer sukzessiven Verbesserung der Gesundheit zu veranschaulichen. Durch die narrative Vermittlungsform sollen Wechselbezüge zwischen zukünftigen Entwicklungen aus verschiedenen Bereichen wie zum Beispiel Computertechnologie und Genforschung unterhaltsam dargestellt, kompiliert und gleichzeitig glaubhaft modelliert werden. In der Vergangenheitsform über unsere Gegenwart sprechende Erzähler zielen mit den Berichten aus ihrer Gegenwart und näheren Vergangenheit auf eine glaubhaftere Wirkung als dies durch eine prospektive und so bereits sprachlich den hypothetischen Charakter zum Ausdruck bringende Erzählweise möglich wäre. Tatsächlich machen die Autoren den strategischen Einsatz narrativer Techniken bereits in der Einleitung ihres Buches explizit und rechtfertigen die Gestaltung ihres Sachbuchs unter Berufung auf die ‚poetischen Lizenzen‘ ihres Textes (Kurzweil und Grossman 2011 [2009], xxi). Wenn auch ihre Bezugnahme auf die poetische Lizenz ein Missverstehen der fiktionstheoretischen Prämissen des dahinterstehenden Konzepts zu Ausdruck bringen mag (immerhin beeinflussen die durch sie verliehenen Freiheiten auch Faktoren wie die Glaubhaftigkeit des Dargestellten), wird ihr Selbstverständnis als Erzähler dadurch deutlich. Die erzählerische Darstellung erfüllt neben der Persuasionsfunktion noch eine zweite wichtige Aufgabe. Im Gegensatz zu einer rein thesenartigen Vermittlung zielt die sequenzielle – also zeitlich strukturiere – und an erlebende Figuren geknüpfte Darstellung der schrittweisen Annäherung an das von den Autoren ausgegebene Ziel des ewigen Lebens darauf ab, ein Muster aus Verheißung und Erfüllung zu etablieren und in der Vorstellung des Lesers zu verankern. Verheißung sind dabei die gegenwärtigen Durchbrüche in der Medizin; Erfüllung sind die neuen und imaginierten, in der Zukunft liegenden technischen Möglichkeiten, die auf diesen Erfolgen aufbauen. Diese teleologische Struktur wird durch die bereits erwähnte Zweiteilung des Buches noch unterstützt. Parallel zur christlichen Heilserzählung ist es der zweite Teil The Plan, der in Transcend den Weg zur Erfüllung dieser Verheißung des ewigen Lebens beschreibt. Im Schlusskapitel kulminieren schließlich die Parallelen zwischen Form und Inhalt in der von den Erzählern vorgebrachten Anregung, das Buch wieder und wieder zu lesen und damit ein Ende der Lektüre zu vermeiden (Kurzweil und Grossman 2011 [2009], 423). Dadurch kommt einerseits der praxeologische Charakter des Buches zu Ausdruck, das einen sich in die Ewigkeit perpetuierenden Prozess der gesundheitlichen Selbstoptimierung anstoßen will, andererseits mani-
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festiert sich hier die dem Transzendierungsdenken zu Grunde liegende Angst vor der Vergänglichkeit. Denn die Erzählerfiguren äußern die Hoffnung mit dem Ende der Lektüre nicht ‚gehen‘ zu müssen, sondern noch länger bleiben zu können. (Kurzweil und Grossman 2011 [2009], 423) Der beschriebene Einsatz erzähltechnischer Mittel unterstreicht den – trotz erkennbar humanistischer Intentionen – normativen Ansatz des Textes. Dieser ist eng mit den Optimierungszwängen einer Leistungsgesellschaft verknüpft, deren immanente Antagonismen geleugnet oder zumindest heruntergespielt werden. Nicht nur, dass die dargestellten, zumeist kostspieligen und zeitaufwendigen Lösungen nur für eine privilegierte Gruppe zugänglich sind (Schmidt 2017, 159); auch die Verteilung von Agency zwischen Leserfigur und omnipotentem Erzählerkollektiv kann als erdrückend empfunden werden – und bildet damit eine Entsprechung zu den in der Debatte um Gesundheitsoptimierung vorhandenen Ängsten vor Bevormundung und Kontrollverlust.
3 Fiktionale Gegenerzählungen Die dargestellten normativen Implikationen der auf technischen Entwicklungen aufbauenden Gesundheits- und Heilsversprechen, die mit der Umwertung der Begriffe Gesundheit und Krankheit einhergehen, werden in vielen fiktionalen Formaten aufgegriffen und dystopisch gewendet.8 Sowohl in Film- und Fernsehproduktionen als auch in literarischen Medien lässt sich ein großer Widerhall dieser Thematik ausmachen. Eine extensive Auseinandersetzung mit den sozialen Folgen menschlicher Unsterblichkeit liefert unter anderem die 2018 ausgestrahlte Arte-Fernsehserie Ad Vitam. In sechs Folgen zeichnen die Serienmacher Manuel Schapira und Thomas Cailley dort eine nah an unserer Gegenwart situierte Gesellschaft, der es gelungen ist, Alterungsprozesse durch ein spezielles gentechnisches und in regelmäßigen Abständen zu wiederholendes Verfahren anzuhalten. Der Tod ist
8 Auch wenn dystopische Perspektiven die Mehrheit der fiktionalen Auseinandersetzungen mit dem Wunsch nach Optimierung und der Überwindung der eigenen Sterblichkeit ausmachen, gibt es auch Texte, die solche Visionen aufnehmen und dabei positiv-utopisch weiterdenken. Ein Beispiel wäre Dietmar Daths Roman Feldeváye. Roman der letzten Künste (2014): Das von realen Firmen wie Janssen Pharmaceutica angestrebte Ziel, das Phänomen der Krankheit komplett zu besiegen, ist in der weit in der Zukunft spielenden Romanhandlung längst Wirklichkeit geworden. Heute noch bedrohliche Erreger wie HIV werden dort unter anderem – ihrer ursprünglichen negativen Effekte beraubt – als virale Vehikel verwendet, um den menschlichen Körper zu modifizieren.
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für die in diese Gesellschaft Hineingeborenen so abstrakt und die Einlösung des vormals christlichen Heilsversprechens ad vitam aeternam so selbstverständlich geworden, dass es die Aufgabe einer speziellen Berufsgruppe ist, den Angehörigen von Unfalltoten oder Mordopfern dessen Bedeutung nahezubringen. Die wenigen, die sich bewusst für das Altern entscheiden, werden als abstoßend, krank und potentiell kriminell empfunden. Die Serie spekuliert darüber, wie die Praxis der Lebenszeitverlängerung zu massiver Überbevölkerung, Generationenkonflikten, überaus restriktiver Geburtenkontrolle und grundsätzlich sozialem Unfrieden führen könnte. Insbesondere widmet sich die Serie aber den individuellen – vor allem psychischen – Herausforderungen, denen sich die ewig lebenden Menschen unter anderem im Berufsleben, in der Partnerschaft und in familiären Strukturen stellen müssen. Im Mittelpunkt der Erzählung steht eine aktivistische Bewegung, die bewusst auf die Möglichkeit der Lebensverlängerung verzichtet und das Altern und Sterben als Form eines aktiven und lebenswerteren Lebens bevorzugt. Unter der Regie von Neill Blomkamp wird im Spielfilm Elysium (2013) eine noch deutlicher gespaltene Gesellschaft als Konsequenz ökologischer und politischer Entwicklungen gezeichnet. Die durch technologischen Fortschritt hinzugewonnenen Mittel der Gesundheitsvorsorge beziehungsweise -versorgung, die das Ende aller Krankheiten bedeuten, sind im Jahr der Filmhandlung 2154 nur für einen exklusiven Personenkreis verfügbar. Dieser lebt in einer im Erdorbit schwebenden Raumstation (ähnlich dem Stanford-Torus), während der Rest der Bevölkerung, in slumartigen Megastädten zusammengepfercht, sehnsüchtig zu dem silbrig schimmernden Ring im Himmel aufblickt. Im Film nimmt der medizintechnische Fortschritt in sogenannten Medical Bays Gestalt an, mit denen der Körper nach Krankheiten oder Alterungsprozessen gescannt und anschließend auf Zellebene rekonstruiert und erneuert werden kann. Wie genau diese medizinische Wundertat technisch möglich ist, thematisiert der Film nicht. Allerdings führt er vor Augen, wie sich soziale Ungleichheit durch diese Entwicklungen auf erschreckende Weise auch in den individuellen Körpern manifestiert und in Hinblick auf ihre jeweiligen körperlichen Voraussetzungen Menschen erster und zweiter Klasse geschaffen werden. Damit formuliert der Film nicht nur einen Kommentar zu möglichen zukünftigen Entwicklungen, sondern auch zu einem bereits verschobenen Gesundheitsverständnis in der privilegierten ‚Ersten Welt‘, für welche die militärisch abgesicherte Raumstation als Metapher zu verstehen ist. Während für die einen die Perfektionierung des Körpers auf der Agenda steht,
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müssen sich die anderen um die Versorgung ihrer basalen Bedürfnisse sorgen.9 Utopisch-humanistische Vorstellungen bergen – so lassen sich diese Bilder interpretieren – auch immer die Gefahr, genauso exklusiv zu werden wie die im Film real gewordene Utopie einer perfekten über den Wolken schwebenden Welt ohne Krankheiten. Der von Charlotte Kerner herausgegebene Sammelband Die nächste GENeration (2009) versammelt gleich mehrere Erzählungen, die sich mit dem Aspekt der Verlängerung des Lebens, der Optimierung des menschlichen Körpers und der Verschiebung des Verhältnisses von Gesundheit und Krankheit auseinandersetzen. Die fiktionalen Erzählungen, die unter anderem von der Suche nach dem würdigen Sterben in einer alterslosen Gesellschaft und der Ökonomisierung moderner medizinischer Techniken handeln, richten sich an ein jugendliches Publikum und werden durch Wissenschaftsjournalismus sowie fingierte Zeitungsmeldungen aus der Zukunft und andere dokufiktionale Inhalte ergänzt. Kazuo Ishiguros Roman Never Let Me Go (2005) portraitiert Heranwachsende, die in einem Internat darauf vorbereitet werden, ihre Organe zum Wohle der Gesundheit derjenigen zu spenden, deren Klone sie sind und die aufgrund ihrer finanziellen Potenz nach ewiger Gesundheit und einem langen Leben streben können. Ein ähnliches Szenario findet sich auch in dem im gleichen Jahr erschienenen Science-Fiction-Film The Island (2005). Ein weiteres und letztes Beispiel für eine künstlerische Auseinandersetzung mit den normativen Dimensionen medizinischer Heilsversprechen im Kontext technischen Fortschritts, Big Data und Implantationstechnologien liefert Eugen Ruges teilweise ins Satirische überzeichneter Roman Follower. Vierzehn Sätze über einen fiktiven Enkel (2016). Die in der Zukunft spielende Fortsetzung von Ruges mit dem deutschen Buchpreis ausgezeichneter Familiensaga In Zeiten des abnehmenden Lichts (2011) zeigt sich skeptisch gegenüber diesen Technologien und reflektiert vor allem ihre Konsequenzen für die individuelle Selbstbestimmung. Dabei hinterfragt Ruge die „neoliberale Großerzählung“ (Schmidt 2017, 159) autonomer und souveräner Subjekte, die unabhängig von wohlfahrtsstaatlicher Unterstützung und aufgrund eigener Entscheidungen auf die körperliche Selbstoptimierung ausgerichtet seien. In Ruges Roman wird dem Protagonisten Nio Schulz die gesunde Lebensweise stattdessen mehr oder
9 Dennoch sind es, wie Bettina Schmidt anmerkt, nicht nur die privilegierten Gesellschaftsschichten, mit vergleichsweise gutem Zugang zu gesundheitsfördernden Maßnahmen, welche bereitwillig die Geschichte eines eigenverantwortlichen und kontrollierbaren Gesundheitsstrebens perpetuieren. Auch eine breite Masse sozial weniger privilegierter Zuhörer rezipiert und reproduziert sie aus Sehnsucht nach einem besseren Leben und Agency (Schmidt 2017, 159–160).
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weniger erfolgreich durch die „residente Gesundheits-App“ (Ruge 2016, 198) anerzogen. Deren implantierte Sensoren schlagen Alarm, sobald sie ungesunde Ernährungsweisen oder andere potentiell gesundheitsgefährdende Veränderungen in Nios Organismus messen. Ruges Zukunftsvision führt dabei die Thematik des Überwachungsstaats mit der zunehmenden „Entdifferenzierung zwischen Gesundheit und Lebensstil“ (Duttweiler 2008, 134) eng. Der Imperativ der körperlichen Optimierung wird bei Ruge zu einer – situationell durchaus sinnvollen, in ihrer kategorischen Gültigkeit jedoch mitunter belastenden, wenn nicht gar zerstörerischen – Einschränkung der persönlichen Freiheiten. Bettina Schmidt betont bezüglich solcher Widersprüche in ihrer Monographie Exklusive Gesundheit. Gesundheit als Instrument zur Sicherstellung sozialer Ordnung (2017), dass der Mensch trotz der gesellschaftsschichtenübergreifenden „Sehnsucht nach einem guten, einem besseren Leben, das man selbst kontrollieren kann“ eben nicht der „pluripotente[] Gesundheitssouverän“ sei, der er gerne wäre (Schmidt 2017, 159–160).
4 Gesundheit als gesellschaftlicher Wahn – Juli Zehs Dekonstruktion normativer Körperbilder Der wohl prominenteste und am breitesten rezipierte deutschsprachige Roman, der sich mit den dargestellten Gesundheitsutopien auseinandersetzt und dabei in einem dystopischen Gegenentwurf die beschriebene Umwertung der Begriffe Gesundheit und Krankheit verhandelt, ist Juli Zehs Corpus Delicti (2009). Der im gleichen Jahr wie Kurzweils und Grossmans Text erschienene Roman imaginiert eine moderne Gesellschaft „in der Mitte des Jahrhunderts“ (Zeh 2009, 9), deren oberstes Ziel in der Erhaltung der Gesundheit und der körperlichen Perfektionierung der Bürger besteht. Dem Haupttext des Romans vorangestellt ist ein Ausschnitt aus der fingierten Propagandaschrift „Gesundheit als Prinzip staatlicher Legitimation“. Dort heißt es: „Gesundheit ist das Ziel des natürlichen Lebenswillens und deshalb natürliches Ziel von Gesellschaft, Recht und Politik. Ein Mensch, der nicht nach Gesundheit strebt, wird nicht krank, sondern ist es schon.“ (Zeh 2009, 7–8) Die Problematik einer Perspektive, bei der sich dem Optimierungsdruck Verweigernde schließlich zu Kranken erklärt werden, ist in diesem Text deutlich angelegt, der als ideologische Präambel der beschriebenen Gesellschaftsordnung mit dem Namen METHODE fungiert. Die Zuschreibung ‚krank‘ hat hierbei eine doppelte Konnotation: Einerseits diffamiert sie betreffende Personen als schädliche, quasi infektiöse Elemente der Gesellschaft und ruft dabei das Vokabular diktatorischer Regime auf; andererseits ist der Aus-
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druck im Verständnis der beschriebenen weltanschaulichen Haltung durchaus auch wörtlich zu nehmen: Das Gesundheitsverständnis hat sich in der erzählten Welt dahin verschoben, dass der Körper in seiner ‚Naturform‘ nicht als gesund wahrgenommen wird. Gesundheit wird in der ideologischen Präambel der beschriebenen Gesellschaftsordnung – vergleichbar mit dem Ansatz von Kurzweil und Grossman – dezidiert nicht als Durchschnitt, sondern als gesteigerte Norm und individuelle Höchstleistung konzeptualisiert (Zeh 2009, 7). Die Grußformel „Santé“ (u. a. Zeh 2009, 21), mit der sich die Protagonisten im Roman üblicherweise begrüßen, verbalisiert explizit diesen Gesundheitswunsch, der in der Fiktion im Mittelpunkt gesellschaftlichen Strebens steht. Anstelle einer Genrebezeichnung trägt Zehs Text den Untertitel Ein Prozess und ruft dabei nicht nur Kafkas Roman Der Process und eine Tradition politischer Romane als Prätexte auf, in denen ursprünglich systemangepasste Protagonisten durch eine politisch motivierte Gerichtsverhandlung am System scheitern (Schönfellner 2018, 69; Hernik 2017, 132). Der Begriff des Prozesses beschreibt neben dem Gegenstand auch die Gestaltungsform des Romans. Dieser besteht in einer retrospektiven Zusammenschau zu den Hintergründen der Verhandlung gegen die Protagonistin Mia Holl, die als Widerständlerin angeklagt ist. Über die Formel „Aus den folgenden Gründen … “ (Zeh 2009, 10), mit welcher das an den Beginn der Erzählung gestellte Gerichtsurteil zum Fall Mia Holl abbricht, wird die Erzählhandlung als Substitution einer juristischen Urteilsbegründung eingeleitet. So wird der Leser zum Geschworenen, der sich selbst ein Bild vom Geschehen machen soll. Große Strecken des Romans hält sich die auktoriale, heterodiegetische Erzählinstanz dabei mit Kommentaren zurück und verbleibt fokalisierungstechnisch nahe bei der Protagonistin oder anderen Nebencharakteren. An anderen Stellen greift sie ordnend in die Erzählung ein und kommentiert unter anderem den zum Zweck von Rückblicken vorgenommenen Wechsel von der Präsenserzählung zum Präteritum: „Wählen wir für ein paar Minuten die Vergangenheitsform.“ (Zeh 2009, 60) Hierbei fällt die Verwendung eines inklusiven und den Leser einbeziehenden wir in den kommentierenden Passagen auf.10 Der Leser wird durch die vermeintliche Kooperation mit der Erzählinstanz immer wieder metaleptisch in die Ausgestaltung der diegetischen
10 Diese Erzählhaltung ist in gewissem Umfang noch auf die Dramenfassung des Textes zurückzuführen, die als Auftragsarbeit für die Ruhrtriennale entstand. Während im Theaterstück jedoch eine auktoriale Wir-Instanz auftritt, um die autoritäre Gesellschaftsordnung der Erzählwelt zu Wort kommen zu lassen, ersetzt der Roman diese Instanz durch die Figur des Journalisten Heinrich Kramer (Weitin 2012, 79). Die Wir-Erzählinstant nimmt deshalb im Roman eine andere Funktion als in der Dramenfassung ein: Sie verfügt nur noch über begrenztes Wissen und wirkt vermittelnd statt normierend.
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Welt integriert. Auf Ungenauigkeiten, die sich in der Rekonstruktion der Ereignisse dadurch zwangsläufige ergeben, weist der Roman explizit hin: „Mia tritt in die Pedale und denkt an – was? Gehen wir der Einfachheit halber davon aus, dass sie an Moritz denkt. Die Wahrscheinlichkeit, dass wir richtig liegen, ist sehr hoch.“ (Zeh 2009, 79) Anhand dieser an sich vergleichsweise profanen Situation zeigt sich, dass die Erzählinstanz die fiktionsinterne ‚Wirklichkeit‘ nicht kongruent wiederzugeben vermag. Da die Erzählinstanz den Leser an der Konstruktion vermeintlich beteiligt, scheint die Stelle dazu aufzufordern, die eigene Konstruktionsleistung bei der Lektüre zu beobachten und zu reflektieren. Die Leser werden so indirekt dazu aufgefordert, nicht als passive Rezipienten zu agieren, sondern selbst zu urteilen und mitzudenken. Die vorliegende Beziehung zwischen der erzählten Welt der Romanhandlung und der extratextuellen Wirklichkeit des Lesers lässt sich mit dem in Transcend etablierten Dialog zwischen den Autorfigurationen und der Leserfigur vergleichen. Corpus Delicti erhebt einen vergleichbaren kommunikativen Anspruch wie Transcend: Der Roman erscheint als etwas, das die Leser direkt angeht und zur Interaktion auffordert. Übereinstimmend diagnostiziert die Forschung zu Corpus Delicti die Nähe des Romans zu gesellschaftspolitischen Frage- und Problemstellungen, die aus den im ersten Teil dieses Aufsatzes vorgestellten Entwicklungen und Perspektiven resultieren (u. a. Hernik 2017, 133; Weitin 2012, 71; Navratil 2019, 370–371). Die faktuale, von juristischer Expertise geprägte publizistische Tätigkeit (zum Beispiel zum Thema Überwachungsstaat, vgl. Trojanow und Zeh 2009) und das fiktionale Werk der „Dichterjuristin“ (Wagner 2015, 64) Juli Zeh sind folglich zwei Seiten der gleichen Medaille. Auf die sprachlichen Parallelen zwischen diesen beiden Bereichen ihres Schaffens – insbesondere auf die übereinstimmenden metaphorischen Bilder – hat Sabine Schönfellner hingewiesen (2018, 73). Im Vorwort zur publizierten Fassung von Juli Zehs Rede anlässlich der Tübinger Mediendozentur sprechen Bernhard Pörksen und Andreas Narr sogar von einer „Realität der Fiktion“ (Pörksen und Narr 2018, 7) in Zehs Texten, die „Gesellschafts- und Demokratietheorie mit literarischen Mitteln“ betrieben (Pörksen und Narr 2018, 9). Die gesellschaftliche Wahrnehmung von Zehs Romanen als politische Diskursäußerungen lässt sich an dieser Reaktion gut exemplifizieren. Pörksens und Narrs terminologische Verquickung der Begriffe Fiktion und Realität wirft aus fiktionstheoretischer Perspektive Probleme auf, lässt sich aber letztlich als Versuch begreifen, den thesenhaften Charakter vieler von Zehs Romanen zu charakterisieren. Zunächst ist Mia Holls Widerstand – gegen die staatlich oktroyierten regelmäßigen Gesundheitskontrollen, das verpflichtende Sportprogramm und kollektiv organisierte Maßnahmen wie etwa die gemeinsame Desinfektion der Wohngebäude – die Konsequenz eines depressiven Schubes, der durch den
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Selbstmord ihres Bruders ausgelöst wird. Tägliche Pflichten, denen Mia zuvor gewissenhaft nachkam, scheinen ihr dadurch plötzlich unerträglich. Im Verlauf der Romanhandlung und angesichts zunehmend restriktiver Reaktionen der Staatsgewalt auf Mias Verhaltens wird die aus dem Zustand der Apathie entstandenen Ablehnungshaltung jedoch um einen Erkenntnisprozess ergänzt. Dieser kulminiert in einem inneren Dialog (Zeh 2009, 141–146), bei dem Mia mit sich selbst streitet und abschließend Bilanz zieht: Natürlich weiß Mia, worum es geht. Die METHODE gründet sich auf die Gesundheit ihrer Bürger und betrachtet Gesundheit als Normalität. Aber was ist normal? Einerseits alles, was der Fall ist, das Gegebene, das Alltägliche. Andererseits aber bedeutet ‚normal‘ etwas Normatives, also das Gewünschte. Auf diese Weise wird Normalität zu einem zweischneidigen Schwert. Man kann den Menschen am Gegebenen messen und zu dem Ergebnis kommen, er sei normal, gesund und folglich gut. Oder man erhebt das Gewünschte zum Maßstab und stellt fest, dass der Betreffende gescheitert sei. Ganz nach Belieben. So lange man dazugehört, dient das Schwert der Verteidigung. Befindet man sich draußen, stellt es eine schreckliche Bedrohung dar. Es macht krank. (Zeh 2009, 145)
Juli Zehs Roman thematisiert in dieser Passage ganz zentral die normative Umwertung der beiden Begriffe Gesundheit und Krankheit im Kontext von Diskursen, die den menschlichen Körper in seiner Defizienz hervorheben. Sie bringen ein mechanistisches Verständnis zur Anwendung, das diesen, wie es die Protagonistin im Roman formuliert, weniger praktisch konstruiert als eine Saftpresse erscheinen lässt (Zeh 2009, 52). Der von Mia verbalisierte Vergleich beschreibt auch die Perspektive Kurzweils und Grossmans, die Abnutzungserscheinungen am Körper und vor allem den Prozess des Alterns als konstruktive Fehlleistungen begreifen, die es zu beheben gilt. Auch sie bemühen das Bild einer technisch nicht ausgereiften Maschine, wenn sie den menschlichen Körper mit einem veralteten Betriebssystem ausgestattet sehen (Kurzweil und Grossman 2011 [2009], xvi). Das Romankapitel „In der Kommandozentrale“ (Zeh 2009, 79–82) verdeutlicht noch einmal die von der Protagonistin vertretene Perspektive auf ihren Körper. Während diese auf dem Hometrainer in die Pedale tritt, gibt ein Bewusstseinsbericht Einblick in ihre Gedanken: „Der Körper ist eine Maschine, ein Fortbewegungs-, Nahrungsaufnahme- und Kommunikationsapparat, dessen Aufgabe vor allem im reibungslosen Funktionieren besteht.“ (Zeh 2009, 79) Die Überwindung der Beschaffenheit als Mängelwesen wird in Zehs Roman zur scheinbar erfolgreichen Staatsräson. Personen wie Mia Holl, die diese gesellschaftliche Ordnung und das ihr zugrundeliegendes Regelsystem gefährden, werden zu – durch die flächendeckende Erhebung von Gesundheitsdaten schnell enttarnten – Straftätern, denen vorgeworfen wird, die öffentliche Ordnung zu unterwandern. Wer nicht an der eigenen Gesundheit arbeitet, wird als asoziales und gruppenzersetzendes Element eingestuft. Was bei Kurzweil und Grossman als
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selbstbestimmte Praxis der Selbstoptimierung gedacht und gleichzeitig bereits als Imperativ (Transcend) gelesen werden kann, zeigt Zeh in seiner normativen und restriktiven Dimension. Die Vorsitzende über Mia Holls Fall sieht es dabei als Aufgabe des Rechts an, einen Rückfall in die Schrecken der Vergangenheit – die unsere Gegenwart meint – zu verhindern. Die Vorsitzende beschreibt diese Vergangenheit als Zeit, in der „Leben bedeutete, sich selbst beim langsamen Sterben zuzusehen.“11 (Zeh 2009, 58) Diese Angst des Systems bringt die Angeklagte Mia Holl hyperbolisch zum Ausdruck, wenn sie ihren Hausmitbewohner*innen zuruft: „Schaut mich nicht an […]. Wer mich anschaut, kriegt die Pest! Tuberkulose! Cholera! Leukämie!“ (Zeh 2009, 170) Der Name der aktivistischen Bewegung „R.A.K.“, die in Zehs Roman ein „Recht auf Krankheit“ einfordert (Zeh 2009, 83) und deren Anhängerschaft Mia im Roman von den Medien angedichtet wird, erinnert nicht zufällig an die linksextremistische terroristische Vereinigung RAF, welche die Bonner Republik erschütterte. Eine solche Benennung unterstützt das Szenario einer Gesellschaft, in der Bürger, die sich nicht den gesundheitszentrierten Normen beugen, als Staatsfeinde erscheinen; denn auf der von den Romanfiguren vielbeschworenen Perfektion und Unfehlbarkeit einer Gesellschaft, die am Ziel angekommen zu sein glaubt, beruht gleichzeitig auch die Störungsanfälligkeit der METHODE. Qua Selbstanspruch darf diese nie scheitern – und wird doch von Heinrich Kramer, dem Autor der fingierten Abhandlung „Gesundheit als Prinzip staatlicher Legitimation“ (Zeh 2009, 8), als „perfekt, auf wundersame Weise lebensfähig und stark wie ein Körper – allerdings ebenso anfällig“ beschrieben (Zeh 2009, 36).12 Die Aufrechterhaltung der Vernunft, welche als Abstraktum in Kramers Weltbild an die Stelle der veralteten demokratischen Idee getreten ist, legitimieren in der erzählten Welt die als totalitär zu bezeichnenden Schutzmaßnahmen (Ketels 2014, 114). Dementsprechend wird das von Zeh an den Romananfang gestellte Urteil auch „IM NAMEN DER METHODE [Hervorhebung im Original]“ (Zeh 2009, 9) und nicht im Namen des Volkes erlassen. Der Prozess richtet sich folglich gegen die individuelle Freiheit, um das invasive Gesundheitssystem der METHODE zu schützen (Schönfellner 2018, 69). Das kollektive Wohl und die daraus abgeleiteten normati-
11 Kurzweil und Grossman formulieren es weniger polemisch, vertreten aber letztlich die gleiche Auffassung (Kurzweil und Grossman 2011 [2009], xvii). 12 Es sei an dieser Stelle insbesondere auf die Parallele zu den Immunisierungsstrategien in Kurzweils und Grossmans Text hingewiesen. Der dort verhandelte Kerngedanke einer stufenweisen Weiterentwicklung erscheint ebenso störungsanfällig wie die Legitimationsversuche der METHODE in Zehs Roman. Das Streben nach Immunität spielt so in beiden Texten eine doppelte Rolle. Zum einen zielt die Transzendierugsideologie darauf, den Körper resistent gegen Krankheiten zu machen. Zum anderen soll auch die fragile argumentative Grundlage dieser Praktik gegen Widersprüche immunisiert werden.
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ven Anforderungen werden dabei über das Wohl des Einzelnen und dessen persönliche Bedürfnisse gestellt. Eine von der Person entkoppelte Sichtweise kommt auch im Romantitel zum Ausdruck. Der juristische Begriff Corpus Delicti (lat.: Körper des Verbrechens) wird vom historischen Juristen Heinrich Friedrich Kramer 1798 als die „Wahrheit und das würkliche Daseyn des Verbrechens ohne Rücksicht auf den Urheber“ (Kramer 1798, 300) definiert.13 Auf die gleiche Weise wird im Roman – ungeachtet der persönlichen Umstände – der Körper, der nicht nach Perfektion strebt, zum Verbrechen. Juli Zehs Romanfigur Mia Holl erfährt dabei am eigenen Leib die dem geschilderten System inhärente Paradoxie, die Zeh als Kritik herausarbeitet: Aus dem der gesellschaftlichen Struktur zugrundeliegenden Versuch, den eigenen Körper nach dem eigenen Willen zu formen, um dabei Souverän über denselben zu werden, erwächst die Gefahr, dass diese Souveränität zu einer totalitären Anforderung wird, der das Individuum nicht mehr nachkommen kann. Dies führt in Zehs Roman zunächst zu einem Gefühl des individuellen Souveränitäts- und Identitätsverlusts (Zeh 2019, 67–68; Hernik 2017, 133) und schließlich zur Kontrolle des individuellen Körpers durch den staatlichen Souverän. Die ursprünglich als Ziel anvisierte Selbstermächtigung resultiert letztlich in Abhängigkeit und Fremdbestimmung. Zehs Roman greift dabei mit Kurzweils und Grossmans Ansatz vergleichbare Selbstoptimierungsversuche auf und gibt den mit einem solchen „healthism“ verbundenen Befürchtungen Ausdruck, dass hiervon möglicherweise totalitäre Strukturen unterstützt oder erzeugt werden könnten (Skrabanek 1994 und Schroth 2014, 132). Auch in der Forschung zu Zehs Text nehmen die Bedenken, dass der „Körper- und Gesundheitskult der Gegenwart […] nicht nur gesellschaftlich, sondern juristisch zur Norm wird“ (Weitin 2012, 70), eine zentrale Position ein. Die totalitäre Entindividualisierung schlägt sich schließlich auch in der Namensgebung der fiktionsinternen Medienorgane nieder. Die Benennungen der Diskussionssendung „WAS ALLE DENKEN [Hervorhebung im Original]“ (Zeh 2009, 83) und des Tageblatts „GESUNDE[R] MENSCHENVERSTAND [Hervorhebung im Original]“ (Zeh 2009, 136) bringen zum Ausdruck, dass Abweichung keine Option darstellt. Andersdenkenden wird sogar die mentale Gesundheit abgesprochen. Juristische Termini wie „Desinfektionsordnung“ (Zeh 2009, 90) und das zweifelsohne für Gesundheitsstrafprozessordnung stehende Kürzel „GStPO“ (Zeh 2009, 103) unterstützen diese Atmosphäre der staatlichen Kontrolle und grei-
13 Ob die Namensverwandtschaft des Protagonisten Heinrich Kramer intendiert ist, bleibt fraglich. Bisher stellt die Forschung überaus schlüssig eine Verbindung zum namensverwandten Verfasser des Hexenhammers (1486) her (Klocke 2013, 192).
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fen nebenbei aktuelle diskursive Verschiebungen auf, die eine Verankerung und Stärkung des Gesundheitsbegriffs im juristischen Kontext erkennen lassen.14 In eine ähnliche Kerbe schlägt der Titel des fingierten ideologischen Positionierungstexts „Gesundheit als Prinzip staatlicher Legitimation“ (Zeh 2009, 8). Die dort betriebene biopolitische Parallelisierung und Verknüpfung der Fragilität des gesunden Staatskörpers mit dem Gesundheitszustand der Bürger führt in Zehs Roman zu einer „Marginalisierung des Individuums und seines Körpers“ (Schönfellner 2018, 83). Der vor staatlicher Kontrolle ungeschützte Körper erscheint dabei als das, was Giorgio Agamben als ‚nacktes Leben‘ bezeichnet (Agamben 2002).15 Ein solch intimer Eingriff des Staates wird vom Roman wiederkehrend herausgestellt. Bereits im ersten Kapitel zeigt sich der weitreichende biopolitische Zugriff des Staates auf seine Bürger in der Gerichtsverhandlung eines im Buch namenlos bleibenden Beschuldigten. Über die in diesem Zuge an die Wand geworfenen Bilder heißt es im Roman elliptisch: „Es erscheint die Photographie eines Mannes in mittlerem Alter. Ganzkörper, nackt. Von vorn und hinten. Von außen und innen. Röntgenbilder, Ultraschall, Kernspintomographie des Gehirns.“ (Zeh 2009, 14) Nacktheit, Objektifizierung und Transparenz sind dabei wirkmächtige Bilder, die auch bei einer angeordneten Gesundheitsuntersuchung der Protagonistin aufgerufen werden. Mia, die mit entblößtem Oberkörper vor dem Amtsarzt und Vertreter des Systems sitzt, wird an dieser Stelle mit einer zu scannenden „Bohnendose auf dem Kassenband“ (Zeh 2009, 49) verglichen. Das Bild bringt dabei nicht nur die demütigende Erfahrung der nummerischen Erfassung von Mias ungeschütztem Körper zum Ausdruck, der zum profanen Ding deklariert wird. Ebenso wie der Bohnendose auf dem Kassenband ein monetärer Wert zugeordnet wird, scheint sich der Wert und Nutzen Mias für die von Zeh beschriebene Gesellschaft an der Erhebung ihrer Gesundheitsdaten zu bemessen. Als Gegenpol zu dem im Roman gescheiterten, ursprünglich auf Leistungssteigerung und Selbstoptimierung beruhenden Souveränitätskonzept präsentiert der Roman eine alternative Perspektive auf einen souveränen Umgang mit dem eigenen Körper. In Mias Erinnerungen an ihren Bruder, welche die lineare Erzählhandlung analeptisch durchbrechen, begegnet dieser der medizinischen Kontrolle mit
14 Siehe dazu auch den Beitrag von Frank L. Schäfer in diesem Band. 15 Giorgio Agamben, der seine Überlegungen auf Foucaults Konzept der Bio-Macht aufbaut, wird zudem in einer Liste von Autoren genannt, die mit Werken in Mias Bücherregal vertreten sind. Bezeichnenderweise ist er der Einzige, über den es heißt, dass er ungelesen im Regal der ehemals treuen Anhängerin der METHODE steht (Zeh 2009, 128). Eine ausführliche Lektüre von Corpus Delicti als „literarische Ausarbeitung einer zukünftigen Biopolitik im Sinne Foucaults“ findet sich bei Achim Geisenhanslüke (2013, 232).
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einer Praxis der Selbsterfahrung und bewussten Gesundheitsgefährdung. Zeh lässt ihn hierzu in direkter Figurenrede zu Wort kommen: Im Gegensatz zum Tier kann ich mich über die Zwänge der Natur erheben. Ich kann Sex haben, ohne mich vermehren zu wollen. Ich kann Substanzen konsumieren, die mich für eine Weile von der sklavischen Ankettung an den Körper erlösen. Ich kann den Überlebenstrieb ignorieren und mich in Gefahr bringen, allein um den Reiz der Herausforderung willen. Dem wahren Menschen genügt das Dasein nicht, wenn es ein bloßes Hier-Sein meint. Der Mensch muss sein Dasein erfahren. Im Schmerz. Im Rausch. Im Scheitern. Im Höhenflug. (Zeh 2009, 92)
Die durch gesundheitliche Prävention und Selbstkontrolle angestrebte Selbstermächtigung führt in Moritz’ Augen aufgrund der mit ihr verbundenen normativen Umwertung zum Gegenteil des ursprünglich Erhofften. So polemisiert er gegenüber seiner Schwester: Weißt du, wann unsere Welt endlich sicher sein wird? Wenn alle Menschen in Reagenzgläsern liegen, eingebettet in Nährlösung und ohne Möglichkeit, einander zu berühren! Was soll denn das Ziel dieser Sicherheit sein? Ein Dahinvegetieren im Zeichen einer falsch verstandenen Normalität? Erst wenn eine einzige Idee über die der Sicherheit hinausgeht, erst dort, wo der Geist seine physischen Bedingungen vergisst und sich auf das Überpersönliche richtet, beginnt der allein menschenwürdige, im höheren Sinn folglich der allein normale Zustand! (Zeh 2009, 93)
Den als fingierte Dokumente abgefassten Passagen des Romans, die ein normatives Gesundheitsverständnis erörtern, setzt Zeh so ein in direkter Rede formuliertes, empathisch vorgetragenes Plädoyer zur Verteidigung von Individualität und Freiheit entgegen.16
5 Fazit Die Analyse des Ratgebers Transcend und des Romans Corpus Delicti hat gezeigt, dass sich die Texte trotz ihres unterschiedlichen Geltungsanspruchs, der mit den jeweiligen Textformaten einhergeht, auf vergleichbare Weise als Beiträge zur Debatte um ‚Gesundheitsoptimierung‘ verstehen lassen. Die beiden Texten gemeinsame Vermittlungsabsicht drückt sich dabei vor allem in der Thesen- und Argumentationslastigkeit des Romans respektive der Anschaulichkeit und Narrativität des Ratgebers aus. An der breiten Anhängerschaft von Ray Kurzweil und der öffentlichkeitswirksamen Rezeption von Zehs Roman als politische Streitschrift wird der Erfolg der jeweiligen Zielsetzungen deutlich. Eine
16 Die hohe Anzahl von Monologen und Dialogen im Roman und deren Bedeutung für Schlüsselmomente der Handlung ist wohl auf die Transponierung aus der Dramenfassung zurückzuführen.
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weitere Gemeinsamkeit der Texte besteht darin, dass sie bereits auf Textebene Interaktionen zwischen den Leser*innen und den Erzählinstanzen simulieren und dadurch emotionale Involviertheit anzuregen vermögen. In Corpus Delicti kommt hierfür ein kollektivierendes Sprecher-Wir zum Einsatz. Transcend dagegen lässt den Leser gar direkt als Figur auftreten. In vergleichbarer Weise setzten beide Texte die persuasive Wirkung von Erzählungen ein, um überzeugungskräftige Zukunftsmodelle zu kreieren, die Vorstellungskraft des Lesers anzuregen, zu emotionalisieren und letztlich für ihren je eigenen Standpunkt zu werben. Während also die vom Autorenduo respektive von der Autorin vertretenen Positionen auf nicht zu übersehende Weise in Opposition zueinanderstehen, ähneln sich beide Zukunftsentwürfe in Hinblick auf den funktionellen Einsatz des Erzählens. Die Analyse der Textgestaltung von Transcend hat die Einordnung des Werkes als Heilserzählung dahingehende bestätigt, dass es nicht nur eine utopische und technikaffine Vision der Möglichkeiten moderner Medizin entwirft und das religiöse Versprechen der Unsterblichkeit ins Diesseits vorverlegt, sondern auch unter narratologischen Gesichtspunkten Parallelen zu religiösen Heilserzählungen aufweist. Sowohl das im Text etablierte Muster aus Verheißung und Erfüllung als auch die allwissenden übermächtigen Erzählerfiguren sind hier hervorzuheben. Juli Zeh wiederum dekonstruiert den von Kurzweil und Grossman in Anschlag gebrachten Gesundheitsbegriff, dessen Argumentationsmuster und weltanschauliche Prämissen. Ihre Erzählung macht die propagierten Konzepte zum Leitbild eines fiktiven Staates, dessen Schwachstellen – und insbesondere dessen Ungerechtigkeiten – im dystopischen Roman seziert werden. So fokussiert Corpus Delicti die normative Umwertung des Begriffs Gesundheit von einem Default- zu einem erstrebenswerten Idealzustand (wie sie auch in Transcend beobachtbar ist). Wenn Zeh die Protagonistin ihres Romans von einem Vertrauensverlust in ihren eigenen, nach gesellschaftlichen Zwängennormierten Körper sprechen lässt, dann schwingt der Argwohn gegenüber Transzendierungsaufforderungen, wie sie Kurzweil und Grossman formulieren, deutlich mit: „Ich entziehe einem Körper das Vertrauen, der nicht mein eigenes Fleisch und Blut, sondern eine kollektive Vision vom Normalkörper darstellen soll.“ (Zeh 2009, 186) Gerade in der Gegenüberstellung mit Transcend wird deutlich, dass Zehs Roman nicht nur als überspitze satirische Darstellung und Kritik gegenwärtigen Gesundheitsstrebens zu lesen ist, sondern insbesondere auch einen expliziten Kontrapunkt zu prognostisch ausgerichteten Heilserzählungen setzt. Zehs Roman bringt dabei die Ängste, die angesichts von zunächst durchaus humanistisch motivierten Visionen entstehen, in eine prägnante narrative Form und spannt sie in ein intertextuelles Geflecht theoretischer Reflexionen ein. Da das so geäußerte Misstrauen gegenüber den gesundheitsorientierten Heilserzählungen kein Einzelfall ist, sondern von einer großen Zahl durchaus varianten-
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reicher fiktionaler Erzählungen geteilt wird, kann fast schon von einem Genre der Gesundheitsdystopie gesprochen werden. Die zugehörigen Texte, Filme und Serien lassen sich dabei als Teil einer Gegenbewegung zur Wirkmächtigkeit gesellschaftlicher Bestrebungen in Richtung einer kollektiven Gesundheitsoptimierung verstehen.
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Perspektiven einer narratologischen Gesundheitsforschung Angesichts der vielfältigen Zugriffsmöglichkeiten auf das Phänomen Gesundheit, die in diesem Band diskutiert wurden, kann es nicht der Anspruch eines abschließenden Textes sein, alle relevanten Ergebnisse noch einmal zusammenzufassen oder gar ein Fazit zu ziehen. Im Rahmen der Vorträge und Diskussionen auf der Tagung Gesundheit erzählen. Ästhetik, Performanz und Ideologie seit 1800 sowie innerhalb der einzelnen Beiträge des Bandes haben sich allerdings einige wiederkehrende Fragen zum Zusammenhang von Gesundheit und Erzählen herauskristallisiert, die es unserer Meinung nach verdienen, abschließend festgehalten zu werden. Die folgenden Ausführungen verstehen sich einerseits als Bündelung übergreifender Beobachtungen zum Verhältnis von Gesundheit und Erzählen. Andererseits sollen mögliche Perspektiven für die weitere narratologische Beschäftigung mit dem Phänomen Gesundheit aufgezeigt werden. Im Rahmen der Tagung Gesundheit erzählen wurde erstens der Versuch unternommen, Gesundheit als ein eigenständiges Konzept und Phänomen und nicht als bloße Differenzkategorie zur Krankheit zu begreifen; zweitens wurde Gesundheit in ihrem Verhältnis zu narrativen Prozessen betrachtet; und drittens schließlich wurde der Zusammenhang von Gesundheit und Erzählen unter besonderer Berücksichtigung der Kategorien Ästhetik/Performanz/Ideologie untersucht. Über die verschiedenen Beiträge hinweg zeichnete sich dabei ab, dass insbesondere im Bereich ‚Ästhetik‘ – also hinsichtlich der Darstellung, Deskription und Definition von Gesundheit – nach wie vor Konzepte der Gesundheit dominieren, die stark von Komplementärkonzepten der Krankheit abhängig sind; die Frage, was Gesundheit ist, scheint sich nur bedingt ohne Rekurs auf die Krankheit beantworten zu lassen. Eine stärkere Eigenlogik als im Bereich der Ästhetik bilden Diskurse der Gesundheit hingegen, so wurde im Laufe der Tagung erkennbar, in den Bereichen Performanz und Ideologie aus: Im Zusammenhang der performativen Herstellung, Steigerung oder Optimierung von Gesundheit ergeben sich zahlreiche Forschungsfragen für eine narratologisch orientierte Gesundheitsforschung. Was speziell den Zusammenhang von ‚Gesundheit erzählen‘ und Ideologie betrifft, so zeichnete sich ab, dass gerade fiktionale Gesundheitserzählungen geeignet sind, die ideologischen Implikationen bestimmter Konzepte von Gesundheit kenntlich zu machen und diese Konzepte einer kritischen Prüfung zu unterziehen. https://doi.org/10.1515/9783110747928-014
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Im Folgenden sollen diese mehr allgemeinen Beobachtungen anhand einer Reihe konkreter Forschungsfelder und Einsatzbereiche einer narratologisch orientierten Gesundheitsforschung substantiiert werden. Die anschließenden Ausführungen haben dabei erklärtermaßen tentativen Charakter. Es soll hier nicht darum gehen, bestehende Forschungsansätze zu systematisieren; stattdessen werden anhand einer mehr essayistischen Exploration des Zusammenhangs von Erzählen und Gesundheit mögliche Fragestellungen, Ausgangsbeobachtungen und methodologische Ansätze für eine narratologische Gesundheitsforschung angezeigt.
1 Alternative Gesundheitskonzepte: Gesundheit ohne Krankheit als ihr Anderes Konventioneller Weise wird die Krankheit als das Andere der Gesundheit angesehen. Mit Blick auf die vielfältigen realen Verwendungsweisen des Gesundheitsbegriffs kann allerdings die Frage gestellt werden, ob die schlichte Opposition von Gesundheit und Krankheit wirklich die gesamte Bandbreite dessen abzudecken vermag, was als ‚Gesundheit‘ bezeichnet oder mit diesem Begriff in Verbindung gebracht wird. So gibt es auf der einen Seite körperliche und/oder seelische Zustände, die sich zwar – um die bekannte Gesundheits-Definition der Weltgesundheitsorganisation aufzunehmen – nicht als „Zustand vollkommenen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlbefindens“ begreifen lassen, die aber gleichwohl keine Formen von „Krankheit oder Gebrechen“ (Weltgesundheitsorganisation 2014) bilden: Zu denken wäre etwa an Schwangerschaft, an die Lebensphasen der Pubertät oder an hohes Alter, welche sämtlich aus einem engnormativen Gesundheitsbegriff herausfallen, ohne deswegen schon Formen von Krankheit zu bilden. Praktisch relevant werden diese nicht-krankheitsförmigen Beeinträchtigungen der Gesundheit beispielsweise für das Gesundheitsrecht oder im Rahmen von Krankenkassenregelungen.1 Auch manche Formen von Behinderung – etwa das Down-Syndrom – lassen sich weder in einen konventionellen Gesundheits- noch in einen konventionellen Krankheitsbegriff integrieren, sondern bilden eher eine eigene Klasse alterierter oder alternativer Gesundheit. Damit wird die weiterreichende Frage berührt, welches Verständnis von Gesundheit in Situationen zugrunde gelegt werden sollte, in denen Menschen zwar keinen Leidensdruck empfinden, zu-
1 Siehe hierzu den Beitrag von Frank L. Schäfer.
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gleich aber offenkundig aus einem konventionellen Gesundheitsverständnis herausfallen und möglicherweise der medizinischen Versorgung oder Pflege bedürfen: so etwa Komapatient*innen, Menschen mit bestimmten geistigen Behinderungen oder Alzheimer-Patient*innen im fortgeschrittenen Stadium, die mitunter gar nicht mehr über bewusste Konzepte von Krankheit und Gesundheit verfügen. In den letzten Jahren haben die Disability Studies in diesem Bereich wichtige Grundlagenarbeit geleistet; eine narratologische Gesundheitsforschung wird hier plausible Anknüpfungspunkte finden können. Gleichzeitig schließen Zustände, die aus medizinisch-diagnostischer Sicht als Krankheiten klassifiziert werden, eine subjektive Erfahrung von Gesundheit nicht notwendigerweise aus. So zeigen qualitative Untersuchungen der Erzählungen (chronisch) erkrankter Menschen, dass Krankheitszustände häufig nicht auf uniforme Weise als krank erlebt werden, sondern mitunter auch Zustände umfassen, die von den Erkrankten selbst als gesund wahrgenommen werden.2 Ein Beispiel hierfür wäre die erzählerische Vermittlung des Umgangs mit Depressionen auf Internet-Blogs: Von manchen Betroffenen wird die eigene Depression dort nicht als Krankheit begriffen, sondern vielmehr als integraler Teil des eigenen Lebens beschrieben und als emotionaler Default-Zustand geframt. Statt um ‚Heilung‘ geht es den Betroffenen um Lebensqualität, das Gefühl sozialer Zugehörigkeit und subjektives Wohlempfinden.3 Dabei kann unter Umständen sogar der bewusste Verzicht auf eine konventionelle Form der Gesundheit – die im Einzelfall mitunter schlicht nicht zu erlangen ist – als ein Schritt in Richtung einer subjektiven Variante von Gesundheit begriffen werden, die innerhalb der Krankheit selbst verortet ist. Es stellt sich mithin zum einen die Frage nach alternativen Konzepten von Gesundheit: Offenbar sind dichotomische Konzeptualisierungen von Gesundheit nicht notwendigerweise auf die Krankheit als ihr Anderes angewiesen. Stattdessen kann Gesundheit auch in Spannung etwa zum ‚Hässlichen‘, ‚Nicht-Fitten‘, zum ‚Alten‘, zu Stress oder zu Abhängigkeit gesetzt werden – was differenzlogisch jeweils auch das Verständnis der Gesundheit selbst mitkonfiguriert (Gesundheit als Schönheit, Gesundheit als Autonomie etc.4). Zum anderen ist danach zu fragen, ob und in welcher Weise diese alternativen Definitionen oder (impliziten) Konzepte von Gesundheit sich über (Selbst-)Narrationen vermitteln lassen und inwiefern möglicherweise sogar narrative Techniken selbst
2 Siehe hierzu die Beiträge von Lisa Müller und Christopher Koppermann. 3 Siehe hierzu den Beitrag von Marcella Fassio. 4 Mit der Assoziation von Gesundheits- und Schönheitsversprechen im Bereich der plastischen Chirurgie beschäftigte sich Paula-Irene Villa im Rahmen ihres Abendvortrags am 25. Oktober 2018.
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als Formen einer ‚Produktion‘ alternativer Gesundheitsvarianten angesehen werden können. Es steht zu vermuten, dass gerade erzählerische Einkreisungen des Phänomens Gesundheit geeignet sind, ein deutlich individualisiertes Verständnis dessen, was gesund ist – respektive als gesund empfunden oder gedeutet wird –, auszubilden oder anzuzeigen. Ähnlich wie Krankheitserzählungen etwa im Genre der Krankheitsmemoiren können auch Gesundheitserzählungen genutzt werden, um einen individuellen Zugriff auf die jeweiligen Phänomene zu eröffnen und für Andere plausibel zu machen.5 Abhängig von Situation und Kontext kann das Erzählen der (respektive der je eigenen) Gesundheit sogar als widerständiger Akt gedeutet werden, mit dem sich Individuen gegen eine von außen oktroyierte Gesundheitsvorstellung zur Wehr setzen.6 Gesundheitserzählungen vermögen dabei als Formen der subjektiven Ermächtigung gegenüber den Zumutungen eines protonormalistischen Gesundheitsbegriffs zu fungieren, welcher qua normativer Setzung, statistischer Normierung oder staatlicher Verordnung ein je individuelles Verständnis der Gesundheit zum Verschwinden zu bringen sucht. In diesem Zusammenhang eröffnen sich weitreichende diskurs- und anerkennungspolitische Fragestellungen: Welche Instanz ist mit der Deutungshoheit ausgestattet, Gesundheit und Krankheit zu definieren? Wann und in welcher (narrativen) Form vollzieht sich die Klassifikation eines Menschen als gesund oder nicht-gesund durch diesen Menschen selbst, und wann erscheint sie als Zuschreibung von außen – und wann treten diese beiden Perspektiven in Spannung zueinander? Welche Rolle spielen schließlich persönliche oder gruppenspezifische Gesundheitserzählungen für die Präsentation und Legitimierung flexibel-normalistischer Gesundheitskonzepte?7 Des Weiteren gälte es zu fragen, ob und in welcher Weise sich Konzeptionen und Erzählungen von Gesundheit abhängig von Alter, Geschlecht, Ethnie, Religionszugehörigkeit, sozialem Status, Einkommen oder anderen soziologischen Kategorien unterscheiden. Gibt es etwa ein – kulturell, physiologisch, psychologisch oder durch andere Faktoren bedingtes – spezifisch ‚weibliches‘ Gesundheitsverständnis, das sich von einem ‚männlichen‘ Gesundheitsverständnis unterscheidet? Und daran anknüpfend: Wann erscheinen derartige Gender-relative Konzepte und Narrative von Gesundheit als politisch oder sozial diskriminierende Zuschrei-
5 Siehe hierzu den Beitrag von Monikas Class. 6 Mit dem Thema Norm, Normalität und Selbstnormalisierung speziell im deutschen Kaiserreich beschäftigte sich Cornelia Brink im Rahmen ihres Keynote-Vortrags am 26. Oktober 2018. 7 Mit fiktionalen Darstellungen von Amputation – wobei die (freiwillige) Amputation mitunter sogar als Schritt hin auf ein subjektives Gesundheitsideal wahrgenommen wird – beschäftigte sich Stefan Willer in seinem Keynote-Vortrag am 27. Oktober 2018.
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bungen – und wann erfüllen sie eine positive Funktion, etwa indem sie zu einer geschlechtersensitiven Form der Gesundheitsvorsorge beitragen? Das Untersuchungsspektrum alternativer Gesundheitskonzepte weitet sich noch einmal beträchtlich aus, wenn nicht-westliche und/oder nicht moderne Gesellschaften mitberücksichtigt werden. Während in westlich-modernen Kulturen die Diskussion über Gesundheit und Krankheit fast selbstverständlich in einem medizinischen Diskurs verortet wird, nehmen kulturell alteritäre Gesellschaften hier mitunter andere diskursive oder institutionelle Rahmungen vor. So sind beispielsweise in vielen Kulturen gesundheitsassoziierte Praktiken und Narrationen sehr viel stärker in einen religiösen Kontext eingebunden.8 Für eine narratologische Gesundheitsforschung von Interesse ist hier unter anderem die Frage, wie institutionelle Framings, Diskursverflechtungen oder systemische Zuordnungen das Erzählen und die Erzählungen von Gesundheit beeinflussen – und in welcher Weise sich diese Gesundheitserzählungen dann wiederum auf den physischen oder psychischen Gesundheitszustand der Individuen auswirken.
2 Gesundheit als Ursprung oder Telos Vom Unverändlichen, Statischen, in sich Abgeschlossenen kann man nicht erzählen. Texte und andere Medien bedürfen eines Mindestmaßes an Handlung, Dynamik oder Zustandsveränderung, um als Erzählungen gelten zu können (Martínez 2017, 2). Versteht man entsprechend Gesundheit als rein statischen Zustand bar jeder Ereignishaftigkeit, so scheint sie sich kaum als Erzählgegenstand anzubieten. Nun lassen sich allerdings Formen eines dynamischen Verständnisses von Gesundheit anführen, die mit dem ebenfalls dynamischen Begriff des Erzählens durchaus kompatibel sind. Einige Varianten einer solchen Dynamisierung von Gesundheit, welche zugleich auch die Möglichkeit einer narrativen Vermittlung von Gesundheit eröffnet, seien im Folgenden angeführt. Gesundheit vermag zum Gegenstand des Erzählens zu werden, indem sie entweder als Zielpunkt einer Entwicklung oder aber umgekehrt als Initialzustand einer konsekutiven Verfallsgeschichte betrachtet wird. So ist etwa die (Anti-)Dekadenzliteratur der Jahrhundertwende um 1900 voll von Geschichten, in denen sich Personen, Familien oder ganze Gesellschaften und Völker auf
8 Mit dem Zusammenhang von Gesundheitsperformanz und gottesdienstlichem Handeln in Namibia beschäftigte sich Yannick van den Berg in seinem Vortrag am 26. Oktober 2018.
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einen Zustand der Gesundheit zu- oder aber von einem solchen fortbewegen.9 Detaillierte Textanalysen zeigen dabei, dass Gesundheit hier oftmals nicht einfach nur das Gegenteil von Krankheit bildet, sondern auf komplexe Weise überkodiert ist, indem sie etwa mit bestimmten weltanschaulichen Philosophemen angereichert oder politisch-ideologisch semantisiert wird.10 Auch in der Gegenwart lassen sich vielfach Konzepte von Gesundheit als Ursprung oder Telos beobachten. Ernährungsweisen wie die Paläodiät oder der Vegetarismus, der bewusste Verzicht auf Laufschuhe beim Joggen oder die Stress-Management-Methode des Waldbadens werden nicht selten anhand der (impliziten oder expliziten) Annahme legitimiert und propagiert, dass ein ‚ursprünglicherer‘ Zivilisationszustand des Menschen der Gesundheit eher zuträglich sei als die ‚entfremdete‘ Lebensweise der Gegenwart.11 Solche (populär-)wissenschaftlichen, philosophischen oder künstlerisch-fiktionalen Ursprungserzählungen der Gesundheit haben eine lange Geschichte, die noch weit über Jean-Jacques Rousseaus einflussreiche Reflexionen zum Naturzustand hinausreicht: Bereits das Alte Testament kennt in der Genesis-Erzählung um Adam und Eva die Idee eines Urzustands des Menschen, der sich sowohl durch Harmonie mit der Natur als auch durch vollkommene Gesundheit auszeichnet. Kulturhistorische oder kulturvergleichende Studien könnten hier ansetzen, indem sie einerseits die Spezifität kulturell unterschiedlicher Ursprungserzählungen der Gesundheit, andererseits aber auch deren etwaige strukturelle Gemeinsamkeiten herausarbeiten. Als ein besonders prominenter narrativer Bereich, in dem eine teleologische Konzeption von Gesundheit – die Vorstellung also, Gesundheit bilde den Zielpunkt einer persönlichen oder gesellschaftlichen Entwicklung – zum Tragen kommt, kann das utopische Denken gelten. Utopische Gesellschaftsentwürfe, gleich ob fiktionaler oder faktualer Natur, umfassen häufig die Vorstellung einer instrumentellen Verfügbarmachung von Gesundheit. Im Abgleich zwischen imaginierter Idealgesellschaft und defizitärer Gegenwart erscheint letztere dabei nicht selten als krank, im metaphorischen oder wörtlichen Sinne; dieser Zustand der Krankheit soll in Richtung einer wiederum metaphorisch ‚gesunden‘ oder ganz real gesundheitsfördernden Gesellschaftsorganisation überwunden werden. Während unter den fiktionalen Erzählungen der Gegenwart Dystopien gegenüber Utopien eindeutig überwiegen, wird im faktualen Bereich nach wie vor häufig auf utopische Modelle zurückgegriffen. Träume einer Ausrottung von Krankheit, Konzepte einer genetischen, pharmakologi-
9 Siehe hierzu den Beitrag von Claudia Müller. 10 Siehe hierzu die Beiträge von Michael Navratil und Jana Vijayakumaran. 11 Siehe zum Waldbaden den Beitrag von Inga Wilke.
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schen oder transhumanistischen Optimierung des Menschen oder gar Ideen einer Abschaffung des Todes operieren nicht selten mit der Vorstellung einer teleologischen Entwicklung auf einen utopischen Endpunkt hin, an dem die natürliche Spannung zwischen Gesundheit und Krankheit durch eine technisch herstellbare Form ewiger Gesundheit aufgelöst wird.12
3 Gesundheit als skalare Größe Eine zweite Möglichkeit, Gesundheit zu dynamisieren und damit zum Gegenstand von Erzählungen werden zu lassen, besteht in einer Skalierung von Gesundheit, also in der Annahme, es könne ein Mehr-oder-weniger an Gesundheit oder unterschiedliche Qualitäten von Gesundheit geben. Diese Vorstellung spielt gegenwärtig insbesondere im Kontext von Gesundheitssport, Fitness-Training oder der Achtsamkeitsbewegung eine Rolle: Die körperliche oder seelische Optimierung, die mit den genannten Praktiken erzielt werden soll, hat nicht so sehr die Kuration von Krankheit respektive die Restitution von Gesundheit zum Ziel (wer bereits krank ist, sollte mitunter gar keinen Sport mehr treiben), sondern eher den Erhalt (Prävention) oder aber die Optimierung der Gesundheit selbst. Manche Fitness-Apps etwa geben den Gesundheitsgrad ihrer User auf Skalen an, welche den Bereich ‚unhealthy‘ oder ‚sick‘ gar nicht anführen, sondern stattdessen eher den Begriff der Gesundheit selbst ausdifferenzieren oder hypertrophieren: etwa mit Kategorien wie ‚balanced‘, ‚perfect‘ oder ‚premium health‘.13 In der Logik der Selbstoptimierung erscheint Gesundheit dabei gerade nicht als statischer Zustand, sondern als eine Eigenschaft, die beliebige Binnendifferenzierungen sowie eine potenziell unendliche Steigerung zulässt. Die Bewegung in Richtung eines Idealzustands der Gesundheit wird im Rahmen der Fitness-Kultur gerade dadurch am Laufen gehalten, dass dieser Zustand nie erreicht oder zuverlässig konserviert werden kann. Gesundheit gerät damit zur bloß regulativen Idee einer tendenziell unendlichen Anstrengung, Gesundheit zu erlangen respektive zu erhalten. In Parallele zu vielen anderen institutionalisierten Feldern der Moderne scheint somit auch die Gesundheit derzeit in einen Modus der ‚dynamischen Stabilisierung‘ überzugehen (Rosa 2005): Aufrechtzuerhalten ist sie allein durch permanent steigende Investitionen an Finanzmitteln, motivationaler Energie und vor allem Zeit.
12 Siehe hierzu den Beitrag von Julian Menninger. 13 Mit dem Phänomen der Gesundheits-Apps und dem damit verbundenen Konzept von Gesundheit beschäftigte sich Matías Martínez in seinem Keynote-Vortrag am 25. Oktober 2018.
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Versuche einer Skalierung und immanenten Modifikation von Gesundheit sind jedoch keine spezifisch gegenwärtigen Phänomene. Ideologie- und kulturhistorisch betrachtet lassen sich Wearables, Gesundheits-Apps, die zeitgenössische Fitness-Kultur sowie weite Teile der Achtsamkeitsbewegung als Nachfolger einer Optimierungstendenz betrachten, die sich in ähnlicher Weise bereits im Rahmen der Lebensreformbewegung zu Beginn des 20. Jahrhunderts ausgebildet hatte.14 Für eine narratologische Gesundheitsforschung von Interesse ist in diesem Zusammenhang unter anderem die Frage, wie sich iterative Prozesse des Gesundheitserhalts narrativ darstellen lassen, welche strukturellen Parallelen und Differenzen sich hierbei zwischen verschiedenen Kulturen, Literaturen und historischen Zeiträumen aufzeigen lassen und welchen Einfluss Narrative einer (unendlich) optimierbaren Gesundheit auf Erleben und Verhalten der Individuen ausüben. Über den Bereich der (Selbst-)Optimierung hinaus können graduelle oder skalare Konzepte von Gesundheit auch bei der Beschreibung von Krankheitszuständen zum Einsatz kommen, etwa um darauf hinzuweisen, dass Krankheit fast nie den gesamten Menschen erfasst, sondern sich immer auf bestimmte Organe, Funktionen oder Dimensionen der Selbstdeutung beschränkt, während andere weitgehend unberührt und weiterhin ‚gesund‘ sind. Einem solchen Verständnis zufolge wäre selbst ein Sterbenskranker nicht vollständig krank, sondern würde immer noch Anteile von Gesundheit in sich tragen. Diese Sichtweise ermöglicht eine Verschiebung von der Defizitorientierung des Krankheitsfokus hin zu einer Ressourcenorientierung, welche eher die (partielle) Gesundheit der erkrankten Person zu würdigen sucht. Als Heuristik aus dem Bereich der Medizinsoziologie bietet sich hier – insbesondere mit Blick auf die performative Dimension von Gesundheitserzählungen – Aaron Antonovskys Konzept der ‚Salutogenese‘ an (Antonovsky 1997), welches im Gegensatz zum verbreiteteren Modell der Pathogenese nicht primär die Entstehung von Krankheiten, sondern die Entstehung der Gesundheit in den Blick nimmt (wobei sich beide Perspektiven durchaus produktiv ergänzen können). Für eine narratologische Gesundheitsforschung von Interesse sind in diesem Zusammenhang beispielweise Empowerment-Strategien, Techniken der Psychohygiene, die Resilienzforschung und Ansätze der positiven Psychologie. Speziell für die Narratologie relevant ist schließlich auch die Frage, wie Einzelzustände sich zu zusammenhängenden Narrationen von Gesundheit oder Krankheit sequentialisieren oder systematisieren lassen. Welche Abstraktionsleistungen, Ausblendungen, Schwerpunktsetzungen und Wertungen sind nötig, um einen
14 Siehe hierzu die Beiträge von Anna S. Brasch und Claudia Müller.
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konkreten, in seinen Einzelaspekten potenziell disparaten körperlichen oder seelischen Zustand als insgesamt ‚gesund‘ oder ‚krank‘ wahrzunehmen oder zu markieren? Wie müssen – beispielsweise in (auto-)biografischen Erzählungen – (narrative) Framings verändert werden, um denselben Zustand als eher krank oder aber als eher gesund erscheinen zu lassen?
4 Gesundheit als Phänomen Eine verbreitete Konzeption von Gesundheit begreift diese als unmarkierten Hintergrundzustand, der selbst nur in der Erfahrung einer Störung durch die Krankheit erfahrbar wird. Gesundheit bildet dieser Konzeption zufolge kein eigenständiges Phänomen, sondern wird, um eine Formulierung von René Leriche aufzunehmen, verstanden als „das Leben im Schweigen der Organe“ (Canguilhem 1974, 58). Für die Erzählbarkeit von Gesundheit stellt diese Ereignislosigkeit der Gesundheit, wie oben bereits ausgeführt wurde, offenkundig ein Problem dar. Man kann allerdings die Frage stellen, ob Gesundheit wirklich immer und überall phänomenologisch hintergründig bleibt oder ob sich nicht auch spezifische Situationen und Kontexte angeben lassen, in denen Gesundheit selbst erfahrbar wird. So umfasst etwa der Bereich der Fitness – der mit dem Bereich der Gesundheit zwar nicht deckungsgleich ist, aber eine enge Bindung an diesen aufweist – mitunter körperliche und seelische Eindrücke, Veränderungen oder Zustände, die durchaus aktiv spürbar sind und die sich entsprechend auch narrativieren lassen, vom runner’s high beim Joggen über die produktive Anstrengung beim Muskeltraining bis hin zur ‚wohligen Erschöpfung‘ nach dem Sport. Phänomenal wirksam wird Gesundheit darüber hinaus im Kontext bestimmter ‚gesunder‘ oder gesundheitsassoziierter Ernährungsweisen, und zwar sowohl hinsichtlich der Erfahrung des Essens und Trinkens selbst als auch in Bezug auf den psychischen Gesamteindruck, dem eigenen Körper durch die Zuführung (oder durch den Vorenthalt) bestimmter Lebensmittel ‚etwas Gutes zu tun‘. Überhaupt bilden Diäten, Fastenkuren und andere Ernährungsvarianten ein produktives Forschungsgebiet für die narratologische Gesundheitsforschung, nicht nur im Hinblick auf die gesundheitsassoziierte Phänomenalität spezifischer Ernährungsweisen, sondern auch bezüglich der mit diesen Ernährungsweisen einhergehenden ideologischen Implikationen: Die Erzählforschung könnte etwa untersuchen, welche (Selbst-)Narrativierungen von Ärzt*innen, Heilpraktiker*innen, Ernährungsberater*innen oder Food-Blogger*innen eingesetzt werden,
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um eine bestimmte Ernährungsweise als besonders gesund darzustellen und anderen Personen zu empfehlen?15 Neben der deskriptiven Dimension dieser Gesundheitserzählungen – der Frage also, was überhaupt als gesund angesehen wird – müssten hier vor allem die persuasiven Strategien der Erzählungen in den Blick genommen werden: Inwiefern, so wäre zu fragen, erscheint ‚Gesundheit erzählen‘ als Form der Überredung dazu, ein bestimmtes Verständnis von Gesundheit zu adaptieren oder das eigene Gesundheitsverhalten zu modifizieren? Auch im sexuellen Bereich entfaltet Gesundheit mitunter eine deutlich phänomenale Qualität. Einerseits bildet gelebte Sexualität für viele Menschen eine wichtige (wenn auch nicht notwendigerweise intentional eingesetzte) Praxis der Herstellung und des Erhalts von Gesundheit. Attraktion und Attraktivität, sexuelle Erregung, Erregbarkeit und Handlungen stehen dabei in enger Verbindung mit der Selbstinterpretation und dem subjektiven Erleben von Individuen. Generell eröffnen sich im Zusammenhang mit dem Thema Sexualität vielfältige Untersuchungsfelder, die für eine narratologisch orientierte Gesundheitsforschung relevant sind, sei es im Bereich der Untersuchung (medizin-)historischer, juridischer oder politisch-aktivistischer Narrative einer (De-)Pathologisierung und (Ent-) Kriminalisierung bestimmter sexueller Handlungen (‚Perversionen‘) oder sexueller Identitäten, bei den Verknüpfungen von Gesundheit und Sexualität im medizinischen, psychologischen und therapeutischen Diskurs oder im weiten Feld der fiktionalen Verhandlungen von Sexualität. Für eine phänomenologische ebenso wie für eine narratologische Auseinandersetzung mit Gesundheit von großem Interesse sind schließlich die Zeitstrukturen, welche sich mit der Erfahrung von Gesundheit verbinden. Gibt es spezifische Zeiterfahrungen, die präferiert mit Gesundheit assoziiert werden, beispielsweise Flow-Erlebnisse oder Muße? Lassen sich diese Zeiterfahrungen erzählerisch darstellen? Und gibt es gar Formen von Erzählungen, die selbst zu einer ‚gesunden‘ Zeiterfahrung verhelfen – etwa indem sie beruhigen, Achtsamkeit steigern oder aber im Gegenteil das eigene Zeiterleben gerade aus dem Bewusstsein treten lassen? In welchem Verhältnis stehen ferner Erfahrung und Eindruck von Gesundheit zur Erfahrung bestimmter Lebensrhythmen oder der Zeitlichkeit des Lebens als Ganzem, inklusive dem Bewusstsein seiner Endlichkeit? Ausgehend von dieser letzten Frage bieten sich vielfältige Verbindungen einer narratologischen Gesundheitsforschung etwa zu Martin Heideggers Phänomenologie der Sorge, zu Konzeptionen des Todestriebs bei Sigmund Freud, Jacques Lacan oder Slavoj Žižek und zu Ansätzen der existenziellen Psychotherapie.
15 Siehe zu Gesundheitsdiskursen um Fleischverzehr und Fleischverzicht den Beitrag von Sophia Burgenmeister.
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5 Pathogene Gesundheit Dass Definitionen der Gesundheit oftmals – wenn auch keineswegs immer – von Komplementärkonzeptionen der Krankheit abhängen, dürfte offenkundig sein. Darüber hinaus kann Gesundheit allerdings auch auf eine im engeren Sinne dialektische Weise auf Krankheit bezogen sein, insofern nämlich, als ein übertriebener Nachdruck auf Gesundheit mitunter selbst pathogen wirkt. So mag ein bestimmtes Maß an sportlicher Betätigung der Gesundheit zuträglich sein; zugleich besteht aber auch die Gefahr einer Schädigung der Gesundheit durch Overdoing oder durch die Ausübung besonders riskanter Sportarten. Ein psychologisch interessantes Beispielphänomen der Dialektik von Krankheit und Gesundheit bildet die psychische Störung Hypochondrie, bei der die übertriebene Angst vor Krankheit persönliches Wohlbefinden und mitunter auch Alltagsvollzüge in einer Weise beeinflusst, die selbst den Charakter des Krankhaften hat. Die Hypochondrie wirft dabei die phänomenologisch relevante Frage auf, in welchem Verhältnis Gesundheit zu Bewusstheit steht. Während Gesundheit als Zustand – anders als Krankheit – keine oder nur eine geringe phänomenale Qualität aufweist, scheint der Erhalt der Gesundheit durchaus bis zu einem gewissen Grade der bewussten Steuerung zu unterliegen, insofern er von bestimmten Verhaltensweisen des Individuums sowie von Institutionenhandeln abhängig ist. Eine exzessive Sorge um die Gesundheit kann jedoch selbst wiederum krankheitsbildend wirken oder zumindest einen deutlichen Leidensdruck erzeugen. Für die Erzählforschung interessant sind derartige dialektische Prozesse der Krankheits- und Gesundheitswahrnehmung deshalb, weil Gesundheit und Krankheit hier nicht einfach ‚vorhanden‘ sind – etwa in Form bestimmter organischer Zustände –, sondern sich allererst anhand dynamischer Prozesse der Selbstauslegung ergeben. Einen anthropologisch wie auch sozial besonders bedeutenden Bereich, in dem die Dialektik von Gesundheit und Krankheit zum Tragen kommt, bildet die Arbeitswelt. Während einerseits Überarbeitung eine potentielle Gefahr für die Gesundheit darstellt – sei es aufgrund schierer körperlicher Belastungen oder aber durch psychische Erkrankungen wie Burnout –, wirkt sich andererseits ein unfreiwilliger Entzug von Arbeit – etwa durch Kündigung oder plötzlich eintretende Arbeitsunfähigkeit – oft ebenfalls negativ auf die Gesundheit aus. Offenbar fällt die Gesundheit nicht nur auf eine Seite der Live-work-balance, sondern bedarf selbst der sorgfältigen Tarierung von Arbeit und Nicht-Arbeit, wobei die konkrete Form dieses Ausgleichs wiederum individuell und kulturell höchst unterschiedlich ausfallen kann. Für narratologisch arbeitende Disziplinen ist in diesem Zusammenhang etwa die Frage von Interesse, wie Arbeit und Freizeit, Stress und Muße individuell sowie kollektiv-kulturell ins Verhältnis zueinander
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gesetzt werden. Welche narrativen Framings lassen die eigene Arbeit als sinnvoll erscheinen? Welche narrativen Strategien werden eingesetzt, um exzessives Arbeiten oder aber einen (zwangsweisen) Verzicht auf Arbeit zu legitimieren? Angesichts der beständig wachsenden Zahl von Rentner*innen in westlichen Gesellschaften sowie im Zusammenhang der Diskussion um das bedingungslose Grundeinkommen stellt sich des Weiteren die Frage, wie positive Selbstnarrationen aussehen könnten, in denen Arbeit nicht (mehr) als integraler Teil des eigenen Lebens figuriert. Sind körperliche Gesundheit und eine intakte narrative Identität ganz ohne Bezug auf Arbeit überhaupt denkbar? Und wenn nicht, welche Form von Tätigkeit könnte dann nötigenfalls an die Stelle der Erwerbsarbeit treten? Es bieten sich hier nicht zuletzt vielfältige Verbindungslinien zwischen einer narratologisch orientierten Gesundheitsforschung und dem in den letzten Jahren in den Literaturwissenschaften verstärkt untersuchten Zusammenhang von Literatur und Ökonomie (Vogl und Wolf 2019). Generell stellt sich bei Gesundheitssport, gesunder Ernährung, der Life-workbalance und anderen gesundheitsassoziierten Alltagsphänomenen und -praktiken die Frage nach der Verhältnismäßigkeit von Maßnahmen zur Steigerung oder Konservierung von Gesundheit einerseits und anderen, vordergründig nicht gesundheitsassoziierten Lebensprioritäten andererseits – wobei Einseitigkeiten in jedwede Richtungen der Gesundheit letztlich schaden können. Der Versuch etwa, ein vollständig und kompromisslos ‚gesundes‘ Leben zu führen, droht sich selbst zu annullieren, insofern er fast unausweichlich mit einer massiven Einbuße an Lebensqualität einhergeht und darüber hinaus auch politisch bedenkliche Vereinseitigungen produziert. Der Kulturphilosoph Robert Pfaller bemerkt diesbezüglich: Wenn Prioritäten wie Sicherheit, Gesundheit, Kosteneffizienz oder der sogenannte „europäische Hochschulraum“ in der Kultur der Gegenwart als höchste Güter behandelt werden, dann geschieht es nicht selten, dass Lebensqualitäten wie Bürgerrechte, soziale Absicherung, Genuss, Würde, Eleganz und Intellektualität ohne Zögern und ohne jede Diskussion geopfert werden. (Pfaller 2014 [2011], 9)
So plausibel es also sein mag, Gesundheit als wichtige Bedingung eines genussvollen, freien und würdevollen Lebens anzusetzen, so droht umgekehrt eine Verabsolutierung der Gesundheit die Möglichkeit gelingenden Lebens gerade zu unterminieren. Ein kompletter Verzicht etwa auf Alkohol, Schokolade, direkte Sonneneinstrahlung, aber auch auf durchwachte Nächte oder intensive Arbeitsphasen wäre für die meisten Menschen nicht nur praktisch nicht zu leisten; eine solche ‚maßlose Mäßigung‘ (vgl. Pfaller 2014 [2011], 26–27) stünde vielfach auch der persönlichen Vorstellung des guten Lebens entgegen, welches möglicherweise nicht in allen seinen Einzelmomenten, wohl aber in seiner Gesamtheit als ‚gesund‘ emp-
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funden wird. Freilich sind die individuellen und kulturellen Aushandlungsprozesse hier überaus komplex. Eben weil sich dialektische Prozesse der Generierung und Desintegration von Gesundheit einer starr-definitorischen Festlegung entziehen, erscheinen induktiv-einkreisende oder eben narrative Formen der Annäherungen hier vielversprechend. Mit besonderer Deutlichkeit zeigen sich die Gefahren eines dialektischen Umschlags von Gesundheit in Krankheit im Bereich der politischen Geschichte: Diktatorische Regime verfolgen häufig eine aggressive Biopolitik, die unter dem Vorwand, Gesundheit zu schützen oder zu steigern, die Gesundheit und das Leben bestimmter Individuen oder gar ganzer Volksgruppen aktiv zerstört. Die Rassenpolitik der Nationalsozialisten bildet hier ein historisches Extremum. Aber auch die Zwangseinweisung politisch oder sozial nonkonformer Frauen in sogenannte ‚Tripperburgen‘ in der DDR kann als ein Beispiel der politisierten und darüber hinaus zum Teil auch sexualisierten Gewaltausübung des Staats gegenüber seinen Bürger*innen im vermeintlichen Dienste der Gesundheit gelten.16 Versuche einer biopolitischen Administration der Bevölkerung sind freilich nicht auf diktatorische Regime beschränkt: Auch demokratische Staaten machen explizite oder implizite Vorgaben in Bezug auf das Gesundheitsverhalten der Bürger*innen, Vorgaben, die von den Individuen mitunter als übergriffig oder sogar als gesundheitsschädigend empfunden werden. Themen, die in diesem Zusammenhang historisch bedeutsam waren und auch in der Gegenwart weiterhin für kontroverse Diskussionen sorgen, sind etwa die Impfpflicht oder Quarantänevorschriften im Seuchenfall. Eine narratologische Gesundheitsforschung könnte genauer in den Blick nehmen, welche Erzählungen, rhetorischen Strategien und Argumente vonseiten des Staates oder des Gesundheitssystems eingesetzt werden, um die Bevölkerung von gewissen gesundheitspolitischen oder gar -polizeilichen Maßnahmen zu überzeugen, und auf welche Weise in Gegensatz dazu eine persönliche oder gruppenspezifische Widerständigkeit gegenüber ebendiesen Maßnahmen gerechtfertigt oder gefordert wird.
6 Gesundheit erzählen als Doing Health Besonders naheliegend ist eine Untersuchung des Zusammenhangs von Gesundheit und Erzählen da, wo narrative Praktiken fokussiert werden, welche selbst zum Erhalt, zur Wiederherstellung oder zur Steigerung von Gesundheit beitragen. Eine
16 Mit diesem Thema beschäftigte sich Florian Steger in seinem Abendvortrag am 26. Oktober 2018. Siehe auch Steger und Schochow (2015).
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Verschiebung des Fokus von Gesundheit als passivem Zustand – im Sinne von being healty – auf die (narrativen) Tätigkeiten der Gesundheitsbeeinflussung – also die Praktiken eines Doing Health (Pelters 2012) – trägt dabei wiederum zu einer Dynamisierung der Kategorie Gesundheit bei. Für eine narratologische Gesundheitsforschung stellt sich in diesem Zusammenhang einerseits die Frage, auf welche Weise und mit welchen Intentionen Praktiken des Doing Health selbst narrativ vermittelt werden, beispielsweise in gesundheitsassoziierten Sachbüchern, in den (digitalen) Erzählungen von Fitness-Influencer*innen oder in fiktionalen Erzählungen.17 Zum anderen ist danach zu fragen, welchen Einfluss das Erzählen selbst auf die Gesundheit ausübt, wie also Gesundheit narrativ-performativ modifiziert oder gar hergestellt werden kann. Ein besonders naheliegendes Beispiel der Gesundheitsgenerierung qua Erzählung, zu dem auch bereits eine Reihe von Studien vorliegen, bildet das Feld der Psychotherapie sowie generell der Bereich der narrativen Medizin.18 In allen gesprächsbasierten Formen der Psychotherapie kommt dem Erzählen zentrale Bedeutung zu, wobei neben dem Inhalt der Erzählungen häufig auch die Form oder der Akt des Erzählens selbst von Interesse ist. Während etwa die Unfähigkeit oder fehlende Bereitwilligkeit der Partient*innen, (kohärent) von bestimmten Ereignissen zu erzählen, in der Psychotherapie als Hinweis auf ein Trauma oder einen schwelenden psychischen Konflikt gedeutet werden kann, lässt sich die Fähigkeit zur flüssigen Narration sowie zum narrativen Framing bestimmter Ereignisse als Anzeichen von Gesundheit interpretieren: Gesundheit manifestiert sich hier mitunter direkt über die „gute Geschichte“ (Coetzee und Kurz 2016). Gerade für eine narratologisch orientierte Gesundheitsforschung ergeben sich in diesem Kontext reizvolle Perspektiven der interdisziplinären Zusammenarbeit: In welchem Verhältnis stehen etwa Vorstellungen einer ‚guten Geschichte‘ in der Psychotherapie zu Konzeptualisierungen des kohärenten, erfolgreichen oder ästhetisch ansprechenden Erzählens in den Forschungsfeldern der Linguistik, Literaturwissenschaft oder philosophischen Ästhetik? Speziell für die Literatur- und Medienwissenschaften von Interesse ist des Weiteren die Frage nach der Vermittlung von Prozessen des Doing Health in fik-
17 Mit Gesundheitsnarrativen in zeitgenössischen Sachbüchern beschäftigte sich Letizia Dieckmann in ihrem Vortrag am 26. Oktober 2018. Mit Christoph Wilhelm Hufelands aufklärerischer Gesundheitsschrift Makrobiotik befasste sich Anthony Mahler im Rahmen seines Vortrags am 26. Oktober 2018. 18 Mit den Methoden der narrativen Medizin setzten sich Carl Eduard Scheidt und Lisa Schäfer-Fauth in ihrem Keynote-Vortrag am 26. Oktober 2018 auseinander. Für einen Überblick zur psychologischen Bedeutung von Erzählprozessen im Rahmen der Bewältigung von traumatischen und leidvollen Erfahrungen siehe Lucius-Hoene und Scheidt (2017).
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tionalen Medien: In welches Verhältnis treten in fiktionalen Erzählungen des Doing Health erzählte Zeit und Erzählzeit, beispielsweise die (reale) Dauer einer psychotherapeutischen Sitzung auf der Ebene der histoire und deren narrative Raffung, Dehnung oder elliptische Präsentation auf der Ebene des discours? Welchen Einfluss nehmen fiktionale Darstellungen psychotherapeutischer Praxis (die Beispiele sind hier zahllos und reichen von den Komödien Woody Allens über die historischen Sachromane Irvin Yaloms bis hin zu Serien wie In Treatment [2007–2010] oder Freud [2020]) auf die Ausformungen populären Wissen über die Psychoanalyse und andere Formen der Psychotherapie? Und wie wirkt dieses fiktional vermittelte Wissen wiederum auf die realen Überzeugungen und Verhaltensweisen der Rezipient*innen zurück, etwa auf die Stigmatisierung oder Akzeptanz psychisch erkrankter Menschen oder die Bereitschaft, sich selbst in Therapie zu begeben? Ein weiteres Einsatzfeld einer narratologisch orientierten Gesundheitsforschung bildet die Rezeptions- und Leseforschung, welche empirisch fundierte Antworten auf die – stark vereinfachend formulierte – Frage geben könnte: Ist Lesen gesund? Welche psychologischen oder somatischen Effekte sind etwa mit der Rezeption narrativer Texte verbunden? Wie wirkt sich die Immersion in Storywolds auf den eigenen Gesundheitszustand oder das eigenen Gesundheitsempfinden aus? Welchen Effekt haben – potenziell auch somatisch wirksame – Identifikationen mit gesunden oder kranken Figuren beispielsweise auf die Steigerung oder auf den Abbau von Stress? Lässt sich die These von der ‚tröstenden Wirkung der Literatur‘ empirisch erhärten? Und wenn ja, korrespondiert die unterschiedliche Wirksamkeit von Erzählungen hier mit Kategorien, die auch für Linguistik, Literaturwissenschaft oder Ästhetik von Bedeutung sind: etwa Happy End, Tragik oder Kitsch?
7 Gesundheit erzählen in Zeiten von Corona Als die Beiträge des vorliegenden Bandes entstanden, konnte noch niemand ahnen, dass sich die Welt kurze Zeit später mit einer Gesundheitskrise ungekannten Ausmaßes konfrontiert sehen würde. Die rasante globale Ausbreitung des SARS-Coronavirus-2, die damit zusammenhängende COVID-19-Pandemie und die staatlichen Maßnahmen zu ihrer Eindämmung haben das private und öffentliche Leben seither in dramatischer Weise verändert. Zum jetzigen Zeitpunkt, im Januar 2021, ist die weitere Entwicklung der Situation nach wie vor nicht klar abzusehen. Da es sich bei der Coronavirus Disease 2019 offenkundig um eine Manifestation von Krankheit und nicht von Gesundheit handelt, könnte sie in einem Band
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zum Thema ‚Gesundheit erzählen‘ leicht gänzlich übergangen werden. Allerdings zeichnet sich bereits jetzt ab, dass die Corona-Krise, mit ihren spürbaren Auswirkungen in fast allen Lebensbereichen, das Nachdenken über Krankheit und auch über Gesundheit in den kommenden Jahren massiv beeinflussen wird. Angesichts der hohen Relevanz des Themas für die übergeordnete Fragestellung des vorliegenden Bandes erscheint es uns daher sinnvoll, über mögliche Zusammenhänge zwischen dem Komplex ‚Gesundheit erzählen‘ und der COVID-19-Pandemie nachzudenken – im vollen Bewusstsein, dass diese Überlegungen nur vorläufiger Natur sein können und zum Zeitpunkt des Erscheinens dieses Bandes bereits teilweise überholt sein mögen. Viele der obigen Überlegungen zum Zusammenhang von Krankheit und Erzählen respektive der Erzählbarkeit von Gesundheit können auch für die Covid-19Erkrankung Gültigkeit beanspruchen. Spezifisch für die Corona-Krise ist allerdings der enorme Einfluss, den die bloße Möglichkeit einer Ansteckung und die Maßnahmen zum Erhalt der eigenen sowie der kollektiven Gesundheit auch auf das Leben von Menschen ausüben, die selbst (noch) gesund sind. Quarantäne, Ausgangsbeschränkungen, die deutliche Reduktion von (physischen) Sozialkontakten, Homeoffice etc. versetzen viele Menschen in vormals ungekannte Lebenssituationen, die selbstverständlich auch narrative Bearbeitungen erfahren. So veröffentlichte der österreichische Schriftsteller Thomas Glavinic bereits am 19.03.2020 auf welt.de den ersten Teil eines als täglicher Fortsetzungsroman angekündigten „CoronaRoman[s]“ (Glavinic 2020). In den kommenden Jahren ist mit einer großen Zahl weiterer (fiktionaler) Corona-Erzählungen zu rechnen. Die Erfahrungen im Kontext der Corona-Krise werden allerdings nicht nur auf der inhaltlichen Ebene von Erzählungen relevant. Auch das Erzählen selbst bildet eine wichtige Kulturtechnik, um die psychischen und anderweitigen Belastungen der Isolation abzufedern. Der italienische Schriftsteller Paolo Giordano etwa stellt sich in seinem in Reaktion auf die Corona-Krise veröffentlichten Essay In Zeiten der Ansteckung [Nel Contagio] (2020) erzählerisch der Krise entgegen. Teilweise wissenschaftlich nüchtern, teils mit erkennbar subjektiver Färbung schreibt er gegen die eigenen Ängste an und reflektiert dabei auch über die Funktion des eigenen Schreibens: Ich habe mich in einem unerwarteten leeren Raum wiedergefunden. Diese Realität ist vielen gemeinsam: Wir durchleben eine Zeit der Suspendierung des Alltags, eine Unterbrechung des Rhythmus, wie manchmal in Songs, wenn das Schlagzeug verstummt und es wirkt, als würde die Musik angehalten. Schulen und Universitäten geschlossen, wenige Flugzeuge am Himmel, einsam hallende Schritte in den Museen, überall mehr Stille als normal.
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Ich habe beschlossen, diese Leere mit Schreiben auszufüllen. Um die Vorahnungen in Schach zu halten und um einen Weg zu finden, über all dies genauer nachzudenken. Bisweilen kann Schreiben der Ballast sein, der einem hilft, mit den Füßen am Boden zu bleiben. (Giordano 2020, 11–12)
Freilich nutzen nicht nur professionelle Schriftsteller*innen Schreiben und Erzählen als Techniken, um mit der globalen Ausnahmesituation umzugehen. Im Alltag der meisten Menschen erfüllen Erzählungen eine wichtige Funktion bei der Bewältigung der Krise. Gemeinsame Erlebnisse und körperliche Kontakte, die aus Gründen der Infektionsprävention zeitweise unmöglich geworden sind oder reduziert werden müssen, werden durch Erzählungen ersetzt, etwa qua E-Mail, am Telefon oder per Video-Call. Die Kulturtechnik des Erzählens erfüllt hier eine ihrer zentralen Funktionen, nämlich die quasi-mimetische Evokation lebensweltlicher Erfahrung (Fludernik 1996, 12), die im konkreten Kontext teils für die reale Erfahrung einstehen muss. Mitunter wirkt die Corona-Krise sogar als kultureller Katalysator: Verstärkt entstehen digitale Kulturformate – unter anderem im Bereich tendenziell narrativer und performativer Kunstformen wie Theater, Oper oder Lesungen –, die vom heimischen Laptop aus rezipiert werden können und den Einbruch öffentlicher Kulturangebote zumindest teilweise zu kompensieren suchen. Generell steht zu vermuten, dass die plötzliche Notwendigkeit eines sehr weitreichenden Rückzugs in den digitalen Raum einen deutlichen Anstieg der digitalen Kompetenz und möglicherweise auch die Entstehung neuer digitaler Formate – etwa im Kulturbereich, in der schulischen und universitären Lehre oder in der Patient*innenbetreuung – mit sich bringen wird. Es wird zu prüfen sein, welche Rolle hier narrativen Verfahren zukommt, welche Veränderungen mit der Überführung narrativer Formate vom analogen in den digitalen Raum einhergehen und ob sich infolge der Corona-Krise möglicherweise sogar neue digitale Erzählformen ausbilden. Zwar werden nicht alle diese neu hinzukommenden oder intensiver verwendeten digitalen Formate Gesundheitserzählungen im engeren Sinne ins Zentrum stellen; wohl aber stehen diese Formate in enger Verbindung zur aktuellen gesundheitlichen Krise und erfüllen nicht zuletzt den Zweck, Solidarität, soziale Funktionalität oder eben auch persönliche Gesundheit in Zeiten der Krankheit zu befördern oder zu demonstrieren. Von der schwerwiegenden und global wirksamen Zäsur im Gesundheitsbereich, welche die Corona-Krise bedeutet, sind nicht zuletzt längerfristige Auswirkungen auf den Umgang mit Gesundheitsfragen in Gesellschaft und Politik zu erwarten. Während im vorliegenden Band ein Schwerpunkt auf individualisierte, dezidiert anti-normative Gesundheitskonzeptionen gelegt wurde, gewinnen im Rahmen der Krise kollektiv-biopolitische Entscheidungen und staatliche Maßnahmen der Gesundheitsfürsorge an Bedeutung, die unausweichlich eher
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auf normative Gesundheitskonzepte zurückgreifen und mitunter die Freiheiten des Individuums beträchtlich einschränken. Gesundheit als individualisierte und subjektive Größe tritt in der Krisensituation hinter Gesundheit als kollektive und biopolitische Größe zurück. Diese erkennbare Neubewertung der Gesundheit – inklusive ihrer politischen Folgeerscheinungen – provoziert gesellschaftliche Debatten über die Legitimität staatspaternalistischer Fürsorge, Eingriffe in Bürgerrechte und das Verhältnis von individuellem und gesellschaftlich-politischem Gesundheitshandeln. Es steht zu vermuten, dass eine Verbindung der Themen Gesundheit und Überwachung, wie sie bereits heute in diversen dystopischen Romanen aufscheint, zukünftig in fiktionalen und faktualen Gesundheitserzählungen an Relevanz gewinnen wird. Die Corona-Krise mag hier als realer Präzedenzfall bislang nur schwer vorstellbarer biopolitischer Restriktionen sowie als historische Legitimationsgrundlage etwaiger zukünftiger biopolitischer Eingriffe in die Rechte und Freiheiten des Einzelnen fungieren. Schließlich erscheint es naheliegend, dass während, vor allem aber im Nachgang der Corona-Krise Narrative der wiedergewonnenen Gesundheit, der glücklichen Genesung und der neu erlangten Freiheit an Bedeutung gewinnen werden. Für die meisten Menschen in westlich-modernen Gesellschaften stellen die Einschränkungen der Bewegungsfreiheit, die exponentiell steigende Zahl von Seuchen-Erkrankten und die Lebensgefährdung von Risikogruppen eine biografisch ein-, in jedem Fall aber erstmalige Erfahrung dar. Die schlussendliche Rückkehr zu dem, was vormals als normal galt, dürfte für den Großteil der Menschen einen neuerlichen, deutlich sprübaren Einschnitt bedeuten. In diesem Zusammenhang wird zu eruieren sein, wie Gesundheit erlebt, im Verhältnis zu anderen Werten hierarchisiert und vielleicht auch zelebriert wird, nachdem sie – konkret-individuell oder gesamtgesellschaftlich-metaphorisch – einmal gefährdet war. An der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Erzählungen von Sorge, Verlust und Sterben, aber eben auch von Überleben, Heilung und neuem Glück werden die narratologisch arbeitenden Disziplinen zweifellos ihren Anteil haben.
Literaturverzeichnis Antonovsky, Aaron (1997). Salutogenese. Zur Entmystifizierung der Gesundheit. Tübingen. Canguilhem, Georges (1974). Das Normale und das Pathologische [Übers. von Monika Noll und Rolf Schubert]. München. Coetzee, J. M. und Arabella Kurtz (2016). Eine gute Geschichte: Ein Gespräch über Wahrheit, Erfindung und Psychotherapie [Übers. von Reinhild Böhnke]. Frankfurt a. M. Fludernik, Monika (1996). Towards a ‘Natural’ Narratology. London.
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Glavinic, Thomas (2020). Der Corona-Roman (Teil 1). Kampf zwischen Verdrängungstalent und Beobachtungsgabe. https://www.welt.de/kultur/article206628297/Thomas-GlavinicCorona-Roman-Teil-1.html (31. März 2020). Giordano, Paolo (2020). In Zeiten der Ansteckung. Wie die Corona-Pandemie unser Leben verändert [Übers. von Barbara Kleiner]. Hamburg. Lucius-Hoene, Gabriele und Carl Eduard Scheidt (2017). „Bewältigen von Erlebnissen“. In: Matías Martínez (Hg.). Erzählen. Ein interdisziplinäres Handbuch. Stuttgart, 235–242. Martínez, Matías (2017). „Was ist Erzählen?“ In: Ders. (Hg.). Erzählen. Ein interdisziplinäres Handbuch. Stuttgart, 2–6. Pelters, Britta (2012). Doing Health in der Gemeinschaft. Brustkrebsgene zwischen gesellschaftlicher, familiärer und individueller Gesundheitsnorm. Bielefeld. Pfaller, Robert (2014 [2011]). Wofür es sich zu leben lohnt. Elemente materialistischer Philosophie. Frankfurt a. M. Rosa, Hartmut (2005). Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne. Frankfurt a. M. Steger, Florian und Maximilian Schochow (2015). Traumatisierung durch politisierte Medizin. Geschlossene Venerologische Stationen in der DDR. Berlin. Vogl, Joseph und Burkhardt Wolf (Hgg. 2019). Handbuch Literatur & Ökonomie. Berlin und Boston. Weltgesundheitsorganisation (2014). Verfassung der Weltgesundheitsorganisation. https:// www.admin.ch/opc/de/classified-compilation/19460131/201405080000/0.810.1.pdf (01. April 2020).
Autor*innen-Verzeichnis Anna S. Brasch. Studium der Deutschen Literatur, Politikwissenschaft, Kunst- und Medienwissenschaft in Konstanz und Roskilde (Dänemark). 2010 bis 2016 Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Bonn, 2016 Promotion ebenda zum Thema „Moderne – Regeneration – Erlösung. Der Begriff der ‚Kolonie‘ und die weltanschauliche Literatur der Jahrhundertwende“. 2016 bis 2019 PostDoc an der Universität Bonn mit einem Projekt zum Thema „Kurioses Erzählen. Kurzprosa 1650–1850“. Seit 2019 Wissenschaftliche Mitarbeiterin im Projekt „Wortgeschichte digital“ am Zentrum für digitale Lexikographie der deutschen Sprache (ZDL) an der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen. Forschungsschwerpunkte: Literatur und Weltanschauung; Kuriositätenliteratur der Frühen Neuzeit; Diskurs, Semantiken und Narrative des Boxens in der Moderne (aktuelles Monographieprojekt); Historische Semantik und Textproduktion. Sophia Burgenmeister. Studium der Philosophie, Literatur-, Kultur- und Medienwissenschaft an den Universitäten Freiburg und Nottingham. Anstellungen im Fachlektorat Philosophie des Verlags Karl Alber und am Institut für Medienkulturwissenschaft der Universität Freiburg. Seit 2018 Doktorandin an der Universität Freiburg. Seit 2019 Promotionsstipendiatin der HansBöckler-Stiftung. Forschungsschwerpunkte: Environmental Humanities, Cultural and Literary Animal Studies, Ernährung in der Literatur, Intermedialität, Gegenwartslyrik. Monika Class. Studium der Anglistik und Germanistik in Bamberg und Swansea. Promotion im Fach Anglistik an der Universität Oxford mit einer Arbeit über S.T. Coleridge und Kant. Nach der Promotion Marie-Curie Research Fellow und Lecturer in Medical Humanities am King’s College London, ab 2014 Fellow des Zukunftskollegs der Universität Konstanz. Seit 2016 Juniorprofessorin an der Universität Mainz. Forschungsschwerpunkte: Englischer Roman, Erzähl- und Rezeptionstheorie, Gender Studies und Körperdiskurse, Medical Humanities und Narrative Medizin, Literatur & Philosophie des 18. und 19. Jh., Interkulturalität & karibische Literatur. Letizia Dieckmann. Studium der Deutschen Sprach- und Literaturwissenschaft sowie Klassischer und Christlicher Archäologie an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg. 2019 Promotion an der Albert-Ludwigs-Universität mit der Promotionsschrift „Vergessen erzählen. Literarische Demenz-Darstellungen der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur.“ Forschungsschwerpunkte: Literarische Krankheitsdiskurse, Erzähltexte der Spätromantik und der Klassischen Moderne. Marcella Fassio. Studium der Germanistik und Anglistik in Oldenburg. 2020 Promotion an der Universität Oldenburg mit einer Arbeit zu Subjektivierungspraktiken in literarischen Weblogs. Von 2017 bis 2019 assoziierte Promovendin am DFG-Graduiertenkolleg „Selbst-Bildungen. Praktiken der Subjektivierung in historischer und interdisziplinärer Perspektive“ der Universität Oldenburg. 2017 bis 2020 Promotionsstipendiatin der Studienstiftung des deutschen Volkes. Seit 2020 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Center für lebenslanges Lernen der Universität Oldenburg. Forschungsschwerpunkte: Konzepte und Theorien der Autorschaft, digitale Literatur, Krankheitsnarrative, Subjekt- und Praxistheorie, Gegenwartsliteratur.
https://doi.org/10.1515/9783110747928-015
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Autor*innen-Verzeichnis
Christopher Koppermann. Studium der Psychologie in Saarbrücken und Paris. 2014 bis 2021 Ausbildungsteilnahme zum psychoanalytischen Psychotherapeuten. Von 2014 bis 2017 psychotherapeutische Tätigkeit in Fachkliniken im Raum Freiburg. Seit 2017 Dissertationsprojekt zu Agency-Rekonstruktionen im psychotherapeutischen Gespräch an der Universität Freiburg. Julian Menninger. Studium der Germanistik, ‚Neueren deutschen Literatur, Kultur, Medien‘ und Europäischen Ethnologie in Würzburg und Freiburg. Dissertationsprojekt zu spekulativem Erzählen am Beispiel Human Enhancement. Von 2017 bis 2020 wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Freiburg am DFG Graduiertenkolleg 1767 „Faktuales und fiktionales Erzählen“. Seit 2020 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Medienkulturwissenschaft der Universität Freiburg. Forschungsschwerpunkte: Fiktionstheorie, Erzählen in der Wissenschaftskommunikation und Technikfolgenabschätzung, Gegenwartsliteratur. Claudia Müller. Studium der Geschichte und Romanistik in Freiburg und Straßburg. Seit 2016 Mitarbeiterin im Sonderforschungsbereich 948 „Helden, Heroisierungen, Heroismen“ und Dissertationsprojekt zum Heroischen in französischen Sportromanen der Zwischenkriegszeit. Forschungsschwerpunkte: Sportliteratur, Gender Studies. Lisa Maria Müller. Studium der Psychologie in Jena, Sevilla und Freiburg. Seit 2017 wissenschaftliche Mitarbeiterin im SFB 1015 „Muße. Grenzen, Raumzeitlichkeit, Praktiken“ an der Universität Freiburg. Promotionsprojekt zu sprachlichen Verhandlungen von Muße in mündlichen Erzählungen von Menschen mit chronischen Erkrankungen. Forschungsschwerpunkte: Qualitative Sozialforschung, narrative Medizin und Gesundheitspsychologie. Michael Navratil. Studium der Germanistik, Anglistik und Philosophie in Freiburg, Oxford und Berlin. 2020 Promotion an der Universität Potsdam mit einer Arbeit zur Kontrafaktik als Verfahren politischen Schreibens in der Gegenwartsliteratur. Seit 2019 wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Potsdam. Forschungsschwerpunkte: Fiktionstheorie, politisches Schreiben, Literatur und Psychologie, Geschichte und Medialität des Dramas, Gender Studies sowie die Literatur der Frühen Moderne und Gegenwartsliteratur. Frank L. Schäfer. Dissertation in Heidelberg, Habilitation in Frankfurt am Main, 2007 Professor in Kiel. Seit 2015 Direktor der Germanistischen Abteilung des Instituts für Rechtsgeschichte und geschichtliche Rechtsvergleichung an der Universität Freiburg sowie Professor für Deutsche Rechtsgeschichte und Bürgerliches Recht. Forschungsschwerpunkte: Grundlagen des Rechts sowie dessen interdisziplinäre Bezüge und Privatrecht. Jana Vijayakumaran. Studium der Komparatistik und Theaterwissenschaft an der RuhrUniversität Bochum und Queen Mary University of London. Seit 2017 Wissenschaftliche Mitarbeiterin am DFG-Graduiertenkolleg „Gegenwart/Literatur“ der Universität Bonn; Dissertationsprojekt zur Figur des Selfmademans in der deutschsprachigen Literatur des 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Forschungsschwerpunkte: Zeitsemantiken und poetologische Selbstreflexion im 19. Jahrhundert, Literatur und Ökonomie sowie die Erzählliteratur der Frühen Moderne.
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Inga Wilke. Studium der Medien- und Kulturwissenschaft, Empirischen Kulturwissenschaft und Europäischen Ethnologie in Düsseldorf, Tübingen und Wien. Seit 2017 Wissenschaftliche Mitarbeiterin im Sonderforschungsbereich 1015 „Muße. Grenzen, Raumzeitlichkeit, Praktiken“ an der Universität Freiburg. Dissertationsprojekt zu Selbstsorge- und Selbstoptimierungsdiskursen in ‚Muße-Kursen‘. Forschungsschwerpunkte: Kulturanthropologische Zeitforschung, Arbeitskulturen, Körperanthropologie, Kulturerbestudien/Immaterielles Kulturerbe der UNESCO.
Personen- und Werkregister Agamben, Giorgio 9, 103, 295 Allen, Woody 315 Aristoteles 18 Austin, John Lanshaw 130 Baboumian, Patrik 223–226, 231 Baltzer, Eduard 216–219, 231–232 Baudelaire, Charles 62 – L’homme et le mer 62 Bayley, John 75–76, 81–82, 84, 86–90, 94–95, 97 – Iris: A Memoir of Iris Murdoch 75–76, 82, 84, 86–90, 94, 97 Bernoulli, Maria 258 Bertheaume, Marthe 235–254 – Sportive 235–254 Blomkamp, Neill 287 – Elysium 287 Blumenberg, Hans 4 Börne, Ludwig 3 Brasch, Anna S. 308 Bröckling, Ulrich 164, 166, 278–279 Brodkey, Harold 87 Brookes, Tim 86 – Catching My Breath 86 Bruner, Jerome 150 Büchner, Georg 4 Buhl, Marc 257 – Das Paradies des August Engelhardt 257 Burgenmeister, Sophia 310
Dehmel, Richard 257 Deleuze, Gilles 12 Di Fabio, Udo 103 Didion, Joan 83 – The Year of Magical Thinking 83 Didon, Joan – Blue Nights 83 Dieckmann, Letizia 314 Diefenbach, Karl Wilhelm 260 Diski, Jenny 83 Dubus, Andre 86 – Broken Vessels 86 Earl, Esther, Lori und Wane – This Star Won’t Go Out: The Life and Words of Esther Grace Earl 83 Ehret, Arnold 259, 262–265, 268–269 Engelhardt, August 260 Esposito, Roberto 12 Fassio, Marcella 303 Fidus 259–260, 266 – Lichtgebet 260, 266 Foucault, Michel 9–12, 75, 188–189, 295 Franz von Assisi 261 Freud, Sigmund 9, 20, 35, 84, 125, 310
Cailley, Thomas 286 Cailley, Thomas und Manuel Schapira – Ad Vitam 286 Carrière, Moritz 69 Coleman, Nick 83 – The Train in the Night: A Story of Music and Loss 83 Coleridge, Samuel 90 Cronenberg, David – A Dangerous Method 20
Gadamer, Hans-Georg 2–3, 6, 9, 76, 277 Gillies, Andrea 83 – Keeper: Living with Nancy, a Journey into Alzheimer’s 83 Giordano, Paolo 316–317 – In Zeiten der Ansteckung 316 Glavinic, Thomas 316 Goethe, Johann Wolfgang 10, 21, 49 Goffman, Erving 129 Gräser, Gusto 260–261 Gräser, Karl 264 Grealy, Andrea – Autobiography of a Face 86 Grealy, Lucy 86
Dath, Dietmar 286 – Feldeváye. Roman der letzten Künste 286
Haeckel, Ernst 35, 55 Hahn, Theodor 220
https://doi.org/10.1515/9783110747928-016
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Personen- und Werkregister
Harari, Yuval Noah 275 Haraway, Donna 12 Hardt, Michael 12 Hauptmann, Gerhart 267 – Der Apostel 267 Herrndorf, Wolfgang 187 – Arbeit und Struktur 187 Herzog, Rudolf 63 – Der Graf von Gleichen 64 – Die Stoltenkamps und ihre Frauen 67, 70 – Hanseaten 64–65, 67, 70–71 Hesse, Hermann 258–268 – Der Steppenwolf 268 – Der Weltverbesserer 258–259 – Diesseits 267 – Doktor Knölges Ende 259 – In den Felsen 259, 264, 267 – Roßhalde 267 – Siddhartha 268 – Unterm Rad 267 Hildmann, Attila 223–224, 226–227 Hofmann, Ida 259, 264 Hull, John 86 – Touching the Rock 86 Ishiguro, Kazuo 288 – Never Let Me Go 288 Jobs, Steve 265, 268 Kafka, Franz 13, 290 – Der Process 290 Kalanithi, Paul 83 – When Breath Becomes Air 83 Kant, Immanuel 8 Kerner, Charlotte 288 – Die nächste GENeration 288 Kierkegaard, Søren 9 Koppermann, Christopher 303 Kracht, Christian 257 – Imperium 257 Kraze, Friede 261 – Heim Neuland 261 Kren, Marvin – Freud 20, 315
Kriegel, Leonard 86 – Falling into Life 86 Kurzweil, Ray 22, 26, 274–275, 277–286, 289–290, 292–294, 296–297 Lacan, Jacques 310 Lang, Thomas 257–258, 262–271 – Immer nach Hause 257–259, 261–264, 266–268, 270 Lange, Oliver 257 – Das Sonnenfest 257 Lawrence, D. H. 267–268 – Lady Chatterley’s Lover 267 – Mr Noon 267 Leriche, René 2, 76, 81, 309 Levi, Hagai – In Treatment 20, 315 Liebig, Justus von 214, 222 Luhmann, Niklas 2 Mairs, Nancy 86 – Carnal Acts 86 – Plaintext 86 Mann, Heinrich 36 Mann, Thomas 4, 13, 66–68 – Buddenbrooks 33, 37, 66–68 – Der Erwählte 42, 46, 49 – Der kleine Herr Friedemann 38 – Der Tod in Venedig 39–42, 44, 46, 48 – Der Weg zum Friedhof 38 – Der Wille zum Glück 37 – Der Zauberberg 40–43, 47 – Die Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull 41–43, 46, 48–50 – Die Betrogene 33, 46–50 – Doktor Faustus 37, 39, 43–46, 49–50 – Tonio Kröger 38 – Tristan 38–39 – Vorwort zu einem Roman 13, 45 – Wälsungenblut 37 Mantel, Hilary 75–76, 81–83, 86–91, 94, 96–97 – Giving up the Ghost 75–76, 82, 84, 86–88, 90–91, 96–97 Marx, Karl 9
Personen- und Werkregister
McWilliam, Candia 83 – What to Look for in Winter: A Memoir in Blindness 83 Melle, Thomas 187 – Die Welt im Rücken 187 Menninger, Julian 103, 307 Merleau-Ponty, Maurice 77, 79–81 Milton, John 90 Moleschott, Jacob 214 Moore, Gordon 281 Müller, Claudia 306, 308 Müller, Lisa 303 Munro, Alice 17 – Als der Bär über den Berg kam 17 Navratil, Michael 40, 46, 291, 306 Negri, Antonio 12 Nietzsche, Friedrich 9, 21, 35–37, 41–42, 47, 59–61 Nordau, Max 21, 35, 53 Novalis 10, 62, 267 – Die Lehrlinge zu Sais 62 – Heinrich von Ofterdingen 267
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– Émile oder über die Erziehung 217 Ruge, Eugen 22, 288–289 – Follower 22, 288 Sacks, Oliver 83, 86 Said, Edward 88 Schäfer, Frank L. 295, 302 Schapira, Manuel 286 Schlaf, Johannes 54–64, 71, 73 – Aufstieg 63 – Das Fruchtmahl 63 – Peter Boies Freite 54–55, 62–63 Shakespeare, William 90 Sontag, Susan 1, 17, 48, 86, 92–93 Stein, Benjamin 22 – Replay 22 Struve, Gustav 216–219, 222, 231–232 Tóibín, Colm 83 Tolstoi, Leo 3 – Anna Karenina 3 Updike, John 86 – Self-Consciousness 86
Oedenkoven, Henri 259, 264 Pappenheim, Bertha 20 Pettenkofer, Max von 10 Popert, Hermann 261 – Helmut Harringa 261 Rammstein 267 Ricoeur, Paul 79–81 Rorty, Richard 89 Rosa, Hartmut 20, 165, 177, 180, 183, 307 Rose, Gillian 75–76, 81–82, 84, 86–89, 92–97 – Love’s Work 75–76, 82, 84, 86–88, 90, 92–93, 95–97 Roth, Philip 83 – Patrimony: A True Story 83 Rousseau, Jean-Jacques 217, 306
Vijayakumaran, Jana 306 Virchow, Rudolf 11 Voit, Carl 214 Wieland, Christoph Martin 17 Wilke, Inga 306 Wordsworth, William 90 Yalom, Irvin 20, 315 Zeh, Juli 21–22, 103, 114, 274–275, 289–297 – Corpus Delicti 21–22, 26, 103, 114, 274, 289, 291, 294–297 Žižek, Slavoj 8, 310