Gestalten – Gesunden: Zur Salutogenese in den Künstlerischen Therapien 9783495817995, 9783495488935


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Table of contents :
Inhalt
Vorwort
Literatur
I. Psychologische Zugänge zum Verständnis von Gesundheitshandeln
Heinfried Duncker & Astrid Hirschelmann: Der Rupturbegriff in der Psychopathologie und seine Folgen
Die agnostische Position und ihre Konsequenzen
Die Definition des Pathologischen und das Menschenbild
Menschenbild und Versorgungslandschaft
Schlusswort
Literatur
Susanne Guski-Leinwand: Kunstpsychologie und ihr Beitrag zur Ressourcenorientierung
Paul Plaut: Der Vater der empirischen Kunstpsychologie
Paul Plauts »Prinzipien und Methoden der Kunstpsychologie«
Paul Plauts Produktivitätsbegriff als früher Ansatz zur Resilienzforschung
Die Ansätze Paul Plauts als Ressource für Kunsttherapie und Resilienzforschung
Literatur
Karl-Heinz Menzen: Fortschritte der Kunsttherapie
1. Das Bild ist vor dem Subjekt
2. Am Anfang ist die Farbe: ›Colour Beginning‹
3. Bild-Zeichen werden zu Objekten
4. Wenn Bedeutungen Schnittpunkte bilden
5. Von Assoziationen, die sich verbinden
6. Heilsame Synthesebildung und neuronale Assistenz
Literatur
Dorothee Wiewrodt: Kunst als Lebensmittel, Kunst als Überlebensmittel
Literatur
II. Künstlerische Therapien im Kontext der Salutogenese
Georg Franzen: Kunst & Psyche – psychologische Aspekte künstlerischer Therapien
Die Künstlerin
Kunst als Ritual
Symbolische Erfahrung
AUGE
SCHLANGE
SPINNE
KOPF
KÖRPER
VOGEL
SONNE
MOND
ELEFANT
Literatur
Ruth Hampe: Zur Salutogenese des Bildlichen
Zur Metaphorik des Bildnerischen
Bilder in der Verarbeitung von Missbrauchserfahrungen
Prozessorientiertes kunsttherapeutisches Gestalten
Spiegelmetaphern des Bildnerischen und das dialogische Spiel
Zusammenfassung
Literatur
Abbildungen
Ria Kortum: Salutogene Ressourcen in der kunsttherapeutischen Praxis und Forschung, Schwerpunkt Kinder und Jugendliche
Einleitung
Salutogene Ressourcen in der Kunsttherapie
Persönlichkeitsressourcen: »Herr der Lage sein«
Soziale und interaktive Ressourcen: Nähe, Zusammenhalt, Konfliktfreiheit
Selbstregulations- und Bewältigungsressourcen: Erholungsfähigkeit und Kreativität
Erholungsfähigkeit
Kreativität
Euthyme Ressourcen: Genuss, Wohlbefinden, Lachen/Humor und »Flow«
Übertragung in die Praxis, exemplarisch aufgezeigt am Beispiel der Kinderkardiologie
Fazit
Literatur
Eric Pfeifer: »Salut, Rock!« – »O, Genese!«
Einleitung
Etymologie, Begriffsklärungen und Relationen
Salut und Sound, Gesundheit und Musik
Therapie und Musiktherapie
Salutogenese und Musiktherapie
Standortbestimmung Salutogenese
Salutogene Gedanken zu Musik und Musiktherapie – oder sind AC/DC musikalische Salutogenerika?
Konstruktion eines Gedankenexperimentes – Betrachtung eines Musikgenres als kollektiv-salutogene, musiktherapeutische Errungenschaft einer Gesellschaft
Resümee
Literatur
Dana Rufolo: Aesthetic Empathy and Salutogenesis through Beauty
Literature
III. Praxisfelder Künstlerischer Therapien
Anne Engler: Balance – Kreativtherapie im Spiegel der Salutogenese-Forschung
1. Einleitung
2. Handlungstechnische Fragen zur Indikation von Kunsttherapie
a. Die Identifikation der Stressoren
b. Die Biografiearbeit
c. Die Vitalisierung
d. Das Identitätserleben
e. Die Psychoedukation
f. Die Lösungsorientierung
3. Prozessreflexion in Bezug auf die Forschungsfragen
Kunsttherapeutische Methodik
4. Grundlegendes zum Thema Balance und Kreativität
a. Betrachtungsweisen: Mobiles und Netzwerke
Mobile
Netzwerk
Impulsfragen
b. Erschütterungen und Gleichgewichtsprobleme
Umbauarbeiten
Bedürfnis nach Autonomie
Unruhe und Betroffenheit
Auswirkungen im Sozialen
c. Ein neuer Raum ermöglicht Regeneration
d. Aktivierung
e. Ein fachliches Beispiel für Regeneration: Spontanremission
5. Praktische Beispiele für kreative Wege
a. Ziele der Kunsttherapie bzw. der kunsttherapeutischen Methodik
b. Der Zeitpunkt der Diagnosestellung
c. Auseinandersetzung mit Hilfsmitteln am Beispiel der Trachealkanüle
d. Raum und Beziehungsraum
e. Lebensperspektive – Tod und Sterben
6. Schlussfolgerungen
Literatur
Abbildungen
Wolfgang Domma: Kunsttherapie in Limboland
Literatur
Ruth Hampe: Ästhetische Gestaltungsprozesse von Kindern und die Bewältigung somatischer Beschwerden
Mädchen an der Primarschule mit unbestimmten Bauchschmerzen
Junge in der stationären Kinder- und Jugendpsychiatrie mit Problemen der Enkopresis (Einkoten)
Ausblick
Literatur
Lony Schiltz: Kunsttherapie und Identitätsfindung
1. Einleitung
2. Identitätskrisen und Psychotherapie
3. Methodik
4. Vergleichsstudie zwischen der Adoleszenz, dem mittleren Erwachsenenalter und dem reifen Erwachsenenalter
4.1. Qualitative Ergebnisse
a) Aktuelle Konflikte/unerfüllte Träume
b) Zeitliche Perspektive
c) Fähigkeit zur Distanzierung
d) Stellenwert der Liebe
e) Zahl der Protagonisten
4.2. Vergleichsstudie der Verarbeitungsstrategien
5. Fallbeispiele
a) Adoleszenz
b) Mittleres Erwachsenenalter
c) Reifes Erwachsenenalter
6. Schlussfolgerung
Literatur
Henriette Schwarz & Monika Wigger: Rezeptionsorientierte und gestaltende Kunsttherapie in der Onkologie – oder: Was hat Kunstrezeption mit Onkologie zu tun?
1.
2.
3.
4.
5.
Literatur
Gabriele Weiss: »Da hab ich mich beschützt gefühlt« – Künstlerische Impulse im Rahmen einer Gesprächsgruppe mit Menschen mit geistiger Behinderung
Anlass
Teilnehmerinnen und Teilnehmer
Exkurs: Traumatisierung und Traumapädagogik für Menschen mit besonderen Bedürfnissen
Das Gruppenangebot: Künstlerische Impulse und Gesprächsthemen:
Die Einstiegsrunde
Künstlerische Aktivitäten und Themen
Fazit
Literatur
Verzeichnis der Autorinnen und Autoren
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Gestalten – Gesunden: Zur Salutogenese in den Künstlerischen Therapien
 9783495817995, 9783495488935

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Kultur Kunst Therapie Ideengeschichte und Praxis Heinfried Duncker / Ruth Hampe / Monika Wigger (Hg.)

Gestalten – Gesunden Zur Salutogenese in den Künstlerischen Therapien

VERLAG KARL ALBER

https://doi.org/10.5771/9783495817995

.

B

VERLAG KARL ALBER

A

https://doi.org/10.5771/9783495817995 .

Kultur Kunst Therapie Ideengeschichte und Praxis Herausgegeben von Karl-Heinz Menzen, Ruth Hampe und Manfred Schmidbauer Wissenschaftlicher Beirat: Senta Connert, Heinfried Duncker, Georg Franzen, Gunter Herzog, Markus von Hummel, Peter Pörtner, Rolf Schanko, Johanna Schwanberg, Gerald Trimmel, Till Velten, Marion Wendlandt-Baumeister

Band 2

https://doi.org/10.5771/9783495817995 .

Heinfried Duncker Ruth Hampe Monika Wigger (Hg.)

Gestalten – Gesunden Zur Salutogenese in den Künstlerischen Therapien

Verlag Karl Alber Freiburg / München

https://doi.org/10.5771/9783495817995 .

Heinfried Duncker Ruth Hampe Monika Wigger (Eds.) Creating and Healing On salutogenesis in art therapies Aaron Antonovsky states that feelings of comprehensibility, manageability, and meaningfulness are the substantial components of salutogenesis. Expressive therapy can strengthen these resilience factors and activate resources. This creative formative processing of every day and life experiences has health maintaining and health enhancing effects on our wellbeing. This is discussed in contributions from the areas of arts therapies, medicine, pedagogy, psychology and neurosciences.

The Editors: Professor Dr Heinfried Duncker, medical specialist for psychiatry and psychotherapy as well as psychosomatic medicine, was doctor in charge at several psychiatric clinics. He is board member at the German Association for Arts Therapies (DGKT) and the German section of the International Association for Art, Creativity and Therapy (IAACT) – as are the two other editors. Professor Dr Ruth Hampe, art and culture psychologist, psychotherapist for children and adolescents, trained in guided affective imagination as well as in art therapy. She has been working in the area of rehabilitation and art therapy in the faculty of inclusive education at the Catholic University in Freiburg. Professor Dr Monika Wigger, art therapist, inclusive pedagogist, psychotherapist and graphic designer, working in the area of aesthetics and communication with the focus of creative design. In addition she is director in training »Socio- and inclusive pedagogical art therapy« at the Institute for Applied Research, Development and Training (IAF) at the Catholic University in Freiburg.

https://doi.org/10.5771/9783495817995 .

Heinfried Duncker Ruth Hampe Monika Wigger (Hg.) Gestalten – Gesunden Zur Salutogenese in den Künstlerischen Therapien Gefühle der Verstehbarkeit, der Handhabbarkeit und der Sinnhaftigkeit sind nach Aaron Antonovsky die wesentlichen Komponenten der Salutogenese. Mit Hilfe der Künstlerischen Therapien können diese Resilienzfaktoren gestärkt und Ressourcen aktiviert werden. Diese gestaltbildende Verarbeitung von Alltags- und Lebenserfahrungen hat gesundheitserhaltende und gesundheitsfördernde Wirkungen auf das Wohlbefinden und wird in Beiträgen aus den Bereichen der Künstlerischen Therapien, Medizin, Pädagogik, Psychologie und Neurowissenschaften thematisiert.

Die Herausgeber: Professor Dr. Heinfried Duncker, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie sowie Psychosomatische Medizin, war leitender Arzt an mehreren psychiatrischen Kliniken. Er ist Vorstandsmitglied sowohl in der Deutschen Gesellschaft für künstlerische Therapieformen (DGKT) und der Deutschen Sektion der IGKGT – wie auch die beiden anderen Herausgeber. Professorin Dr. phil. habil. em. Ruth Hampe, Kunst- und Kulturpsychologin, Pädagogin. Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin, ausgeb. im Katathymen Bilderleben sowie grad. Kunsttherapeutin. Ab 2006 im Studiengang Heilpädagogik der KH Freiburg für Rehabilitation und Kunsttherapie tätig. Professorin Dr. rer. medic. Monika Wigger, grad. Kunsttherapeutin, Heilpraktikerin, Psychotherapeutin und Grafikdesignerin. Ab 2014 Professorin für den Bereich Ästhetik und Kommunikation mit dem Schwerpunkt bildnerisches Gestalten und Leitung der wissenschaftlichen Weiterbildung »Sozial- und Heilpädagogische Kunsttherapie« am Institut für Angewandte Forschung, Entwicklung und Weiterbildung (IAF) an der KH Freiburg.

https://doi.org/10.5771/9783495817995 .

Originalausgabe © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2018 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Satz und PDF-E-Book: SatzWeise, Bad Wünnenberg Herstellung: CPI books GmbH, Leck Printed in Germany ISBN (Buch) 978-3-495-48893-5 ISBN (PDF-E-Book) 978-3-495-81799-5

https://doi.org/10.5771/9783495817995 .

Inhalt

Vorwort

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

11

I. Psychologische Zugänge zum Verständnis von Gesundheitshandeln Heinfried Duncker & Astrid Hirschelmann Der Rupturbegriff in der Psychopathologie und seine Folgen . .

17

Susanne Guski-Leinwand Kunstpsychologie und ihr Beitrag zur Ressourcenorientierung. Zu den Anfängen eines fast vergessenen Teilgebietes der Psychologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

30

Karl-Heinz Menzen Fortschritte der Kunsttherapie. Wie semantische, psychoanalytische und neurologische Aspekte im therapeutischen Bild zusammenkommen . . . . . . . . . .

39

Dorothee Wiewrodt Kunst als Lebensmittel, Kunst als Überlebensmittel. Ein Pilotprojekt zwischen der Neurochirurgie des Universitätsklinikums, dem Kunstmuseum Pablo Picasso und der Malwerkstatt Münster . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

49

7 https://doi.org/10.5771/9783495817995 .

Inhalt

II. Künstlerische Therapien im Kontext der Salutogenese Georg Franzen Kunst & Psyche – Psychologische Aspekte künstlerischer Therapien: Die Grotte von Niki de Saint Phalle in den Herrenhäuser Gärten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

61

Ruth Hampe Zur Salutogenese des Bildlichen . . . . . . . . . . . . . . . .

75

Ria Kortum Salutogene Ressourcen in der kunsttherapeutischen Praxis und Forschung, Schwerpunkt Kinder und Jugendliche . . . . . . . .

97

Eric Pfeifer »Salut, Rock!« – »O, Genese!« Eine Crossover-Collage als Betrachtung einer salutogenen Musiktherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

115

Dana Rufolo Aesthetic Empathy and Salutogenesis through Beauty . . . . . .

130

III. Praxisfelder Künstlerischer Therapien Anne Engler Balance – Kreativtherapie im Spiegel der Salutogenese-Forschung Künstlerische Wege im Umgang mit einer lebensbedrohlichen Erkrankung entdecken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

143

Wolfgang Domma Kunsttherapie in Limboland. Ein Gespräch mit Renée Bertrams, Kunsttherapeutin im Therapiezentrum für Folteropfer in der Caritas Flüchtlingsberatung Köln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

165

Ruth Hampe Ästhetische Gestaltungsprozesse von Kindern und die Bewältigung somatischer Beschwerden . . . . . . . . . . .

183

8 https://doi.org/10.5771/9783495817995 .

Inhalt

Lony Schiltz Kunsttherapie und Identitätsfindung. Eine vergleichende Studie zur Anwendung der Kunsttherapie in den Identitätskrisen der Adoleszenz, des mittleren Erwachsenenalters und des reifen Erwachsenenalters. . . . . .

199

Henriette Schwarz & Monika Wigger Rezeptionsorientierte und gestaltende Kunsttherapie in der Onkologie – oder: Was hat Kunstrezeption mit Onkologie zu tun? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

211

Gabriele Weiss »Da hab ich mich beschützt gefühlt« – Künstlerische Impulse im Rahmen einer Gesprächsgruppe mit Menschen mit geistiger Behinderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

222

Verzeichnis der Autorinnen und Autoren

. . . . . . . . . . . 235

9 https://doi.org/10.5771/9783495817995 .

https://doi.org/10.5771/9783495817995 .

Vorwort

Im Hinblick auf Gesundheit, Krankheit und Behandlungseffekte geht es um gesundheitserhaltende, gesundheitsfördernde Aspekte bezogen auf die Wirksamkeit ästhetischer Gestaltungsansätze. Salutogenese als das Verständnis von Verstehen, Handhabbarkeit und Sinngebung nach Aaron Antonovsky (1997) bildet angesichts neuer Anforderungen an das Gesundheitssystem eine Ausrichtung der Künstlerischen Therapien hinsichtlich Präventions- und Interventionsprozessen. Die Stärkung von Resilienzfaktoren, die Aktivierung von Ressourcen sowie von Stabilisierungs- und Verarbeitungsformen sind verbunden mit Ausdrucksformen ästhetischer Gestaltungen. In dem Zusammenhang erscheint Gesundung auch als gestaltbildende Verarbeitung von Alltags- und Lebenserfahrungen. Victor von Weizsäcker (1950) hat die implikative Einheit von Wahrnehmen und Bewegen als komplementäre Beziehung herausgestellt und dies als Grundidee des Gestaltkreises verstanden. Der Ausdruck ›Bewegung ist Selbstbewegen‹ entspricht den Handlungsprozessen, die das Gesunden als subjektives Erleben begleiten und steht in Kohärenz von Ich und Umwelt (vgl. Christian 1987, S. 73). Es beinhaltet zugleich die Einbeziehung des Subjekts in die Medizin. Wenn Maurice Merleau-Ponty (1966) vom Leib als integraler Einheit ausgeht, so bestimmen Struktur und Gestalt sein Verständnis des Leibes in der Welt. Diesem Verständnis zufolge geht Wahrnehmung über die Grenzen des Leiblichen hinaus, und der Leib fungiert zugleich als Sinn-Sucher und Sinn-Erschaffer, wobei eine scharfe Trennung zwischen Subjekt und Objekt in der Phänomenologie der Lebenswelt aufgehoben wird. Dem kommt auch das bio-psycho-soziale Krankheitsmodell nahe, wie es u. a. Thure von Uexküll (2001) vertritt, d. h. in der Vermittlung eines ganzheitlichen Ansatzes, in dem das Subjekt in seinen sozialen Umweltbezügen reflektiert wird. Im Hinblick auf neurowissenschaftliche Zugänge bilden im übertragenen Sinn die Sozialität des Menschen und ein Verstehen des 11 https://doi.org/10.5771/9783495817995 .

Vorwort

Gehirns als Sozialorgan (vgl. Hüther 2004) bedeutsame Bezüge, die den Erlebens- und Handlungsprozessen im Alltäglichen eine besondere Gewichtung verleihen können. Das ästhetische Gestalten fungiert in dieser Interaktionspraxis von Wahrnehmen und Handeln in der Objektivierung innerer Bilder und der Setzung von Spuren im Sich-Bewegen. Es ist – wie auch immer – an Aktivierungsprozesse gebunden bzw. folgt der ästhetischen Geste im Handeln. Damit symbolisiert es zugleich eine Teilnahme am Lebendigen, ist Mittel der Ausdrucksgebung und der Verwandlung. In dem Spannungsbezug von Symbolisierung, Re- und Desymbolisierung werden subjektive Umsetzungsformen erprobt. Nicht das Produkt zählt, sondern der Prozess des Gestaltens und des subjektiven Erlebens, um zu Neufindungen und zu kreativen Setzungen des Ichs in der Welt zu gelangen. Auseinandersetzen und Versöhnen, Ausagieren und Entspannen, Wiederfinden und Transformieren etc. bilden Teilaspekte im Prozessverlauf, der ein Pendant zum inneren Verarbeiten darstellt. Wenn also von Gestalten – Gesunden als zwei Synonymen gesprochen wird, ist damit nicht unmittelbar eine Folge gemeint, sondern vielmehr eine Herausforderung in dem Finden von Gestalt im Gegensatz zur ›verhinderten Gestalt‹ im sozialen Umfeld in Anlehnung an von Weizsäcker bzw. ein Verstehen des Krankheitsgeschehens als zeitliche Struktur, die sich als biologischer Akt gestaltkreisartig ausdrückt, d. h. als Krankheitssyndrom im Kontext der eigenen Biografie. In Hinblick darauf kann dem ästhetischen Gestalten im Spannungsbezug von gelebtem und ungelebtem Leben eine Brückenfunktion zukommen. In der Schaffung gewandelter Sinnbezüge und im subjektiven Verstehen eigener Gestaltungsverläufe vermag sich ein Gesunden neu zu entfalten, und zwar bezogen auf eine Relativität im Verständnis von Gesundheit. Unter dem Aspekt, Wandlungsprozesse herauszufordern und an Beeinträchtigungen im Lebensverlauf wachsen zu lernen, eröffnet sich ein anderer Zugang in der Annahme und der Bewältigung von körperlichen als auch psychischen Einschränkungen. Es ist eine Veränderung der inneren Haltung und das Finden gewandelter Sinnbezüge, was zu neuen Gestaltungsprozessen im Lebensverlauf herausfordert. Dem Ästhetischen in seiner sinnlichen Vielfalt als Erlebenskonstante kommt in dem Sinne eine Übergangssymbolik zu. Mit diesem interdisziplinären Themenband soll dem ansatzweise entsprochen werden in der Darlegung aktueller theoretischer Zugänge, künstlerisch-therapeutischer Konzepte und Praxisbeispiele. 12 https://doi.org/10.5771/9783495817995 .

Vorwort

Der Themenband ist nach drei Bereichen gegliedert: Psychologische Zugänge zum Verständnis von Gesundheitshandeln, Künstlerische Therapien im Kontext der Salutogenese und Praxisfelder Künstlerischer Therapien. Die Autoren und Autorinnen stellen mit ihren Beiträgen originäre Zugänge zur jeweiligen Thematik vor und vermitteln exemplarisch vielschichtige Verstehensformen. Sie laden ein zur Reflektion und kontroversen Auseinandersetzung, aus der sich gewandelte Umsetzungsformen generieren mögen. In der Multimodalität der künstlerisch-therapeutischen Ansätze wird zudem klientenund adressatenbezogenen Angeboten entsprochen und ein Spannungsbogen von klinischen zu pädagogischen Anwendungsformen erstellt bzw. werden Gestaltungs- und Gesundungsprozesse neu verortet. Ruth Hampe

Literatur Antonovsky, A. (1997). Salutogenese. Zur Entmystifizierung der Gesundheit. Tübingen: Dgvt-Verlag. Christian, P. (1987). Der »Gestaltkreis« von Victor von Weizsäcker. In: P. Hahn et al. (Hrsg.). Victor von Weizsäcker zum 100. Geburtstag. Berlin/Heidelberg: Springer, S. 72–79. Hüther, G. (2004). Die Bedeutung sozialer Erfahrungen für die Strukturierung des menschlichen Gehirns. Zeitschrift für Pädagogik 50 (2004) Nr. 4. S. 487–495. Merleau-Ponty, M. (1966). Phänomenologie der Wahrnehmung. Berlin: Walter de Gruyter. Uexküll, Th. v. (2001). Von der Psychosomatik zur Integrierten Medizin. Göttingen: Vandenhoeck u. Ruprecht. Weizsäcker, V. v. (1973). Der Gestaltkreis – Theorie der Einheit von Wahrnehmen und Bewegen (1950). Frankfurt a. M.: Suhrkamp.

13 https://doi.org/10.5771/9783495817995 .

https://doi.org/10.5771/9783495817995 .

I. Psychologische Zugänge zum Verständnis von Gesundheitshandeln

https://doi.org/10.5771/9783495817995 .

https://doi.org/10.5771/9783495817995 .

Heinfried Duncker & Astrid Hirschelmann

Der Rupturbegriff in der Psychopathologie und seine Folgen

Die folgenden Überlegungen haben sich im Zuge des Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Psychosomatische Medizin und Ärztliche Psychotherapie (DGPM) und des Deutschem Kollegiums für Psychosomatische Medizin (DKPM) im Jahr 2007 in Nürnberg entwickelt. Eine der Podiumsdiskussionen beschäftigte sich mit der Fragestellung, ob Deutschland im Bereich der psychosomatischen Medizin eine Schlusslicht- oder eine Spitzenposition innehabe. Von den Kollegen aus Luxemburg, Norwegen und der Schweiz wurde sehr offen darüber diskutiert, dass es sich hier um eine deutsche Spezialität handelt. Alle drei Kollegen berichteten, dass ein derart fragmentiertes Versorgungssystem für psychisch kranke Patienten und Patientinnen einerseits und psychosomatisch erkrankte Patienten und Patientinnen andererseits nicht mit der Spezifizität des Faches der psychosomatischen Medizin einhergehe. Alle drei konnten sich für die praktische Versorgung in ihren Ländern eine solche Aufspaltung der therapeutischen Angebote nicht vorstellen. Insbesondere der luxemburgische Kollege wies darauf hin, dass die psychosomatische Medizin kein Fachgebiet sei, sondern eine grundlegende Position zu Fragen von Krankheit und Gesundheit im Sinne einer biopsychosozialen Konzeption menschlicher Existenz und des damit verbundenen Krankheitsverständnisses darstelle. Der norwegische Kollege verwies in seinem Beitrag darauf, dass aus seiner Sicht die Schaffung einer psychosomatischen fachärztlichen Ausbildung und eines damit verbundenen Behandlungsansatzes nicht den grundlegenden Konzepten psychosomatischer Betrachtungsweisen entspräche, sondern in direktem Zusammenhang mit der deutschen Psychiatriegeschichte gesehen werden müsse. Er verwies in seinem Beitrag auf die agnostische Position der biologischen Psychiatrie, die mit einem psychosomatischen Grundverständnis nicht vereinbar sei. Diese Überlegungen waren Ausgangspunkte, sich mit den Fragen der Entwicklung der agnostischen Position in der deutschen 17 https://doi.org/10.5771/9783495817995 .

Heinfried Duncker & Astrid Hirschelmann

Psychiatrie und den daraus abzuleitenden Konsequenzen für psychopathologische Modelle auseinanderzusetzen und diese dem biopsychosozialen Verständnis einer psychosomatischen Krankheitslehre gegenüberzustellen.

Die agnostische Position und ihre Konsequenzen In der Psychiatrie des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts herrschte nicht nur in Deutschland eine im Wesentlichen agnostische Position vor. Psychiater hatten für psychiatrische Erkrankungen keine Ursache gefunden, unterstellten aber, dass sie biologischen oder auch genetischen Ursprungs sei. Der hiermit zusammenhängende Begriff der Diathese betraf nicht die Krankheit selbst, sondern etwas, das die Erkrankung hervorruft, also das Gegenteil einer umschriebenen Verletzung, vielmehr eine Disposition, eine Erkrankungsneigung im Allgemeinen, etwas, das mit Veranlagung oder Vererbung zu tun habe (vgl. Gauchet & Swain, 1997). Bis heute werden beobachtete biochemische und neurologische Veränderungen und Befunde häufig als Ursprung des Störungsbildes betrachtet. Dies ist eine bis dato durchaus kritisch zu betrachtende Sichtweise, wie dies u. a. der französische Neurobiologe Gonon (2011) im Beitrag Biologische Psychiatrie: eine wissenschaftliche Blase? deutlich macht, in dem er die wissenschaftliche Erforschung der ADHS-Problematik kritisch würdigt. In der deutschen Psychiatrie basieren die Entwicklungen der agnostischen Position, die mit dem Begriff der Ruptur verbunden sind, auf psychopathologischen Überlegungen, die Jaspers 1910 vorstellte. In diesem grundlegenden Artikel beschreibt er für die Psychosen – in Übereinstimmung mit den Sichtweisen von Kraeplin und Bleuler – die Unterschiede zwischen den chronisch schizophrenen und den chronisch nicht-schizophrenen Psychosen. Letztere entwickeln ihre wahnhafte Dynamik, Inhalte und Komplikationen in Kontinuität mit der vorherigen Persönlichkeit. Erstere entwickeln sich scheinbar in einer gewissen Ruptur zum bisherigen Leben und zur vorherigen Persönlichkeit. In diesem Sinne beschreibt er das, was die sich auf Bleuler und Kraeplin berufende französische Psychopathologie übereinstimmend bestätigt (vgl. Clérambault, 1942; Lacan, 1932). Auch Jaspers beschreibt die progressive psychotische Entwick18 https://doi.org/10.5771/9783495817995 .

Der Rupturbegriff in der Psychopathologie und seine Folgen

lung der sogenannten ›leidenschaftlichen Psychosen‹ als kontinuierlichen Prozess der Erkrankung. Der Wahn gehe von einer fixen Idee aus, habe leidenschaftliche Inhalte. Die Entwicklung bleibt in der Kontinuität der Persönlichkeitsstruktur und bedient sich deren Eigenschaften und deren Qualitäten in seiner Entwicklung. Dieser Wahn klebt an der Realität. Er ist verständlich, meist logisch, aber er ist nichtsdestotrotz ein Wahn. Getrennt hiervon schreibt Jaspers den schizophrenen Psychosen wahnhafte und halluzinatorische Erlebensweisen zu, die zumindest zunächst nicht logisch erscheinen. Sie sind auch nicht unbedingt verständlich und stehen scheinbar nicht direkt in Verbindung mit der Lebensgeschichte der Patienten und Patientinnen. In diesem Sinne sind die bei dieser Erkrankung gefundenen Symptome nicht sofort verständlich und logisch. In der weiteren Entwicklung werden die hier initial beschriebenen unterschiedlichen psychotischen Erkrankungsbereiche auf den Typ des schizophrenen Wahns als wahnhafte Erkrankung reduziert. Zunehmend werden wahnhafte und halluzinatorische Erlebnisweisen als Phänomene beschrieben, die nicht einfühlbar seien. Kriterien der Unverständlichkeit, der fehlenden Logik, werden als wesentliche Symptome beschrieben und hieraus wird das Konzept der Ruptur gebildet, nach dem sich das wahnhaft halluzinatorische Erleben wie eine Art Fremdkörper in ein vorher geordnetes Leben hineinzwängt. Diese Grundkonzeption hat u. a. zur Konsequenz, dass es unnötig ist, dem Beschreiben von halluzinatorischen oder wahnhaften Phänomenen zuzuhören, da sie nicht verständlich sind und mit dem vorherigen Leben des Patienten bzw. der Patientin nichts zu tun haben. In der weiteren Entwicklung führt dies dazu, dass Rauch (1960) das Phänomen der psychiatrischen Krankheit mit der Unverständlichkeit direkt verbindet und bezüglich der Bewertung eines Phänomens als krankhaft festhält, dass ein Phänomen umso weniger krankhaft sei, je verständlicher es scheine. Dabei darf – was für die Frage des später noch zu erörternden Menschenbildes wichtig sein wird – nicht übersehen werden, dass er über die Untersuchungen an Schädeln vergaster jüdischer Kinder habilitierte (vgl. Hildebrandt & Priol, 1988). Hier kommen wir, was beispielsweise die deutsche und französische Diagnostik betrifft, zu einem wesentlichen Unterschied in der Definition des Wahns. Folgt man Rauch, definiert sich der Wahn über seine Unverständlichkeit. Folgt man der französischen Diagnostik, definieren sich der Wahn und die Halluzination darüber, dass der 19 https://doi.org/10.5771/9783495817995 .

Heinfried Duncker & Astrid Hirschelmann

Patient bzw. die Patientin einen unerschütterlichen und unverrückbaren Glauben an eine falsche Konzeption der Realität hat, die sich vom Irrtum durch seinen unerschütterlichen, unkorrigierbaren Charakter, der jeglichen Zweifel an seiner Realität ausschließt, unterscheidet. Dieser Auffassung gegenüber ist jeglicher Beweis oder jedes andersartige Erleben untauglich, um es infrage zu stellen (vgl. Duncker & Kulhanek, 1987). In Deutschland werden in den auf diese Beschreibung folgenden Entwicklungen die Paranoia und die leidenschaftlichen Psychosen zu einem Problem, das sich immer stärker auf die zugrundeliegenden schweren Störungen der Persönlichkeit reduziert, die bereits vor der wahnhaften Entwicklung existieren. Wenn der Wahn sich durch seine Unverständlichkeit definiert, braucht man ihm nicht zuzuhören, und wenn man ihm nicht zuhört, verschwindet auch nach und nach die Unterscheidung zwischen den Wahnzuständen, die eine logische Verbindung mit der Realität haben, und denjenigen, die diese Verbindung nicht haben. Das führt dazu, dass alle psychotischen Zustände – außer den manisch-depressiven Zustandsbildern – dem Bereich der schizophrenen Störung zugeordnet werden. Die Paranoia wird damit zu einem Problem, das sich auf eine Persönlichkeitsstörung reduzieren lässt, was die psychopathologische Entwicklung Anfang der dreißiger Jahre umreißt. Die grundlegende Position besagte, dass die Geisteskrankheit der Einbruch des Unverständlichen, Nichtnachvollziehbaren und Nichteinfühlbaren in das vorher geordnete Leben darstelle. Diese Konzeption der Geisteskrankheit war auch die Basis für die wissenschaftliche Begründung der Euthanasie und die Erklärung ihres ›entgegenkommenden‹ Charakters. Gleichzeitig hatte sich mit dieser definitorischen Entwicklung das diagnostische Feld der Schizophrenien immens erweitert. Diese Konzeption verwies die anderen psychiatrischen Störungen in das Feld, das von Schneider (1966) als Variation der Norm beschrieben wurde. Diese ›Variationen‹ wurden sehr wohl als Störungen eingestuft und von Schneider auch sehr plastisch beschrieben. Liest man die Beschreibungen allerdings genau, fällt auf, dass in den Darstellungen moralisierende Begrifflichkeiten eine erhebliche Rolle spielen. Die Störungen wurden nicht unbedingt als krankhaft, auch eine Behandlung wurde nicht als zwingend erforderlich betrachtet. Sie waren zu behandeln, wenn der Patient bzw. die Patientin krankheitseinsichtig und behandlungswillig war. Sie waren ansonsten eine moralische Belastung, wenn dies nicht der Fall war. Diesem Bereich der Variation der Norm wurden insbesondere auch die Abhängig20 https://doi.org/10.5771/9783495817995 .

Der Rupturbegriff in der Psychopathologie und seine Folgen

keitserkrankungen, die sexuellen Deviationen und auch jene Störungsbilder zugerechnet, die heutzutage per International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems (ICD) oder Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (DSM) im Bereich der Persönlichkeitsstörungen klassifiziert werden. Die betroffenen Patienten und Patientinnen wurden als haltlos, gegebenenfalls unmoralisch oder minderwertig betrachtet. Sie bedurften der pädagogischen Führung und der Nacherziehung, möglicherweise der Disziplinierung. Sie stellten – außer bei konkreter Krankheitseinsicht und Behandlungswilligkeit – eine Patientengruppe dar, auf die psychiatrische Angebote nicht zutrafen. Diese in Deutschland gängige Position war auch durchaus offizielle Lehrmeinung in Frankreich, wo Ey (1978) diese Personen sowohl für die psychiatrische wie für eine strafende Behandlung ungeeignet hielt. Als Folge des Rupturbegriffes gibt es somit eine Spaltung der psychiatrischen Klientel in zwei Bereiche: Einerseits gibt es die wahren psychisch Kranken, die – außerhalb der affektiven Psychosen – an den verschiedenen Formen der Schizophrenie leiden, der einige andere wahnhaft-halluzinatorische Störungen zugerechnet werden. Andererseits gibt es Personen, die einige Störungen haben, die der Variation der Norm zugerechnet werden und entweder gar nicht als krank definiert werden (vgl. z. B. die derzeitige Diskussion über die sog. Dissozialen Persönlichkeitsstörungen) oder nur dann als Krankheit definiert werden, wenn eine Krankheitseinsicht und Behandlungswilligkeit besteht (vgl. Charrier & Hirschelmann, 2004). Patienten und Patientinnen mit diesen Störungsbildern hatten kein Recht auf oder keinen Zugang zur Versorgung. In der Praxis galt dies bis in die 1960er Jahre für Alkoholkranke und für Personen, die unter schweren Persönlichkeitsstörungen litten. Die Anerkennung der Alkoholabhängigkeit als Erkrankung erfolgte 1968 und ist Ergebnis einer veränderten Rechtsprechung, nicht einer psychiatrischen Neubewertung. Ein besonderes Augenmerk muss in diesem Zusammenhang auf den spezifischen Bereich der zur Variation der Norm gehörenden posttraumatischen Belastungsstörung gerichtet werden. In Anbindung an die Paradigmen der Ruptur gab es in den psychopathologischen Konzepten bis Ende der 1950er Jahre entweder die Möglichkeit einer Geisteskrankheit als Einbruch des Unverständlichen in das intakte vorherige Leben oder es handelte sich um eine Variation der 21 https://doi.org/10.5771/9783495817995 .

Heinfried Duncker & Astrid Hirschelmann

Norm. Wenn man dieses Paradigma auf die psychoreaktiven Störungen nach gravierenden Traumata anwendet, dann schließt dies das Vorliegen einer solchen Störung aus. Denn – so die Logik dieses Paradigmas – wenn dieser Bruch nicht bereits implizit vorher in der Person (als inhärente Anlage) vorhanden gewesen wäre, dann hätte das Trauma nicht derartige pathologische Konsequenzen haben können. Somit gab es bereits vor dem Trauma eine Persönlichkeit, die Keime der Ruptur in sich trug, und wenn dies der Fall sei, dann basiere die posttraumatische Belastungsstörung auf diesem Keim und nicht auf einem Trauma (vgl. dazu die Arbeiten von Pascal Pignol, zur psychischen Behandlung von Opfern, 2011, und über die Vorgeschichte der Psychotraumatologie, 2014). Die deutsche Psychiatrie verfolgte dieses Paradigma nach dem Ende des Ersten Weltkrieges weiter. Folgt man den Überlegungen von Leonhard (2002), dann hatte sich ein medizinisch-militärischer oder psychiatrisch- militärischer Komplex gebildet, der die psychiatrische Diskussion stark bestimmte. Es galt um jeden Preis zu vermeiden, dass Soldaten, die traumatisiert von den Schlachtfeldern von Verdun zurückkamen und als ›Kriegszitterer‹ der Behandlung bedurften, als traumatisiert anerkannt wurden. Leonhard wählte seinen Begriff ausdrücklich wegen des Verweises auf analoge Konzepte in der UdSSR und den USA. Dies ist nicht unerheblich, wenn man sich die Konsequenzen für die ›Kriegszitterer‹ in den dreißiger Jahren vor Augen hält, wurden sie doch bei Fortbestehen der Störung und der damit verbundenen Unfähigkeit zum Militärdienst wie Deserteure behandelt (vgl. Croq, 1999). Diese diskriminierende Praxis erlebte nach dem Zweiten Weltkrieg in Zusammenhang mit den Fragestellungen einer Entschädigung der Holocaustopfer durch Venzlaff (1958) eine entscheidende Korrektur. Venzlaff beschrieb nicht nur ausführlich die Symptomatologie der psychoreaktiven Störungen nach traumatisierenden Erlebnissen, sondern er kritisierte in diesem Zusammenhang auch die grundlegenden Konzepte der Heidelberger Schule. Seine Arbeit war zwar die Grundlage für Entschädigungsprozesse der Opfer von Konzentrationslagern, führte allerdings nicht zu einer grundlegenden Korrektur der mit der Heidelberger Schule verbundenen Grundhaltungen.

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Der Rupturbegriff in der Psychopathologie und seine Folgen

Die Definition des Pathologischen und das Menschenbild Das Paradigma des Bruchs als Basis für die Psychopathologie repräsentiert eine Reduktion, die intensiv mit einem zugrunde liegenden Menschenbild verbunden ist. Natürlich darf bei dieser Reduktion nicht vergessen werden, dass es sich von der Überzeugung her um einen Prozess mit biologisch-organischer Grundlage handelt. Festgestellte organische Veränderungen werden in dieser Betrachtungsweise schnell zur Grundlage beobachteter Entwicklungen erhoben und dieser Automatismus ist in vielen neurobiologischen Untersuchungen reflexartig als Schlussfolgerung zu finden. Der Begriff der Ruptur basiert aber nicht nur auf Hypothesen, die eine organische Grundlage für die Geisteskrankheiten unterstellen, als seien sie genetischer oder biochemischer Natur. Der Begriff der Ruptur beschreibt insbesondere auch, dass die von der Krankheit betroffenen Personen durch die Krankheit aus der gedanklichen Kontinuität ihres Lebens herausgerückt werden. Der Einbruch des Unverständlichen, Unlogischen, Nichteinfühlbaren in das zuvor geordnete Leben trennt diese Person quasi von ihrem bisherigen Lebenslauf. In dieser Konzeption wird die Person durch die Krankheit außerhalb all dessen gerissen, was sie mit der sprachlichen und damit historischen Umgebung verbindet. Indem Unverständlichkeit und Uneinfühlbarkeit unterstellt werden, entzieht sich das außerhalb der menschlichen Kommunikation ablaufende Krankheitsgeschehen jeder Möglichkeit empathischer Einfühlung. Ohne logische Abfolge der Gedanken wird die Krankheit zum Einbruch, der diesen Menschen außerhalb der kommunikativen Fähigkeiten rückt. Dies betrifft auch seine historische Existenz als Mensch. Über diese Konstruktion wird der Mensch als Kranke bzw. Kranker außerhalb der conditio humana gerückt, wenn man hierfür als Definition die Überlegungen von Legendre (1989) heranzieht. Hier beschreibt er, dass der Mensch sich nicht über seine Genetik als Mensch definiere, sondern über die Tatsache, dass er einerseits dem Tabu des Inzests und andererseits dem Gesetz der Sprache unterworfen sei. Ihm zufolge ist die Conditio humana über die Sprache definiert, die das Verbot des Inzests übermittelt und zum Ergebnis hat, dass alle Menschen, auch die Väter, nichts anderes sind als Brüder, die dem gleichen Recht unterliegen. Legendre führt detailliert aus, inwieweit und mit welchen Konsequenzen die Nazi-Ideologie zu einer Reduktion menschlicher Existenz führte, indem Menschsein 23 https://doi.org/10.5771/9783495817995 .

Heinfried Duncker & Astrid Hirschelmann

auf eine Frage der Gene und des ›Fleisches‹ reduziert wurde. Er nennt dies eine ›schlächterische Version‹, die zu Lösungen des Ausschlusses führe, indem das ›schlechte‹ Fleisch – zum Beispiel über ›Lösungen‹ wie das Konzentrationslager oder die Euthanasie – ausgeschlossen wurde. Legendre besteht ausdrücklich darauf, dass es sich hier nicht um eine deutsche Spezialität handle, sondern dass derartige Auffassungen menschlicher Existenz konzeptionell auch in anderen Ideologien verankert sind oder darin wieder auftauchen können. Es ist die Reduktion des Menschen auf seine äußeren Stigmata. Bei dieser Frage sind wir erneut in der Psychiatrie angelangt. Dieses Problem ist keineswegs ein deutsches, sondern ein allgemeines, von der Psychiatrie unbemerktes Phänomen – dass sich nämlich jene Nazi-Ideologie unbemerkt in die tautologischen Erklärungen der internationalen Klassifikation des ICD-10 oder DSM IV eingeschlichen hat. Die Basis der hier beschriebenen Konzeptionen unterstellt einen Bruch in der Historizität der menschlichen Existenz. Dieser Prozess ist nicht mehr im Sinne eines sprachlichen Prozesses verständlich, sondern es werden lediglich die äußeren Stigmata außerhalb ihrer historischen Entwicklung bewertet. Die vorgebliche Unverständlichkeit führt zu einem Menschenbild, in dem Geisteskrankheit aus dem sprachlichen Feld ausgeschlossen ist und somit lediglich als eine Frage des ›Fleisches‹ behandelt wird. Erkrankungen werden in ihrer Phänomenologie nicht verstanden, sondern sie werden ausschließlich in ihren sichtbaren Eigenschaften beschrieben. So gerät Krankheit – zumindest für die Zeit der akuten Erkrankung – außerhalb des sozialen und historischen Diskurses. Während dies die psychiatrischen Krankheiten im eigentlichen Sinne betrifft, wird gegenüber der sog. Variation der Norm eine Reduktion vollzogen, bei der die Symptome ohne Kontext zur lebensgeschichtlichen Entwicklung des Betreffenden isoliert werden. Damit wird auch diese Erkrankung außerhalb der lebensgeschichtlichen Entwicklung positioniert, ohne die menschliche Geschichte und eine conditio humana nicht denkbar sind. Es gibt keine Geschichte ohne Sprache, weder individuell noch kollektiv. Geschichte ist nur verständlich, wenn sie Empathie und Einfühlbarkeit beinhaltet. Eine grundsätzliche Kritik dieser Konzeption gab es zum einen, wie bereits erwähnt, durch Venzlaff, aber auch u. a. durch Dörner und Plog (1978).

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Der Rupturbegriff in der Psychopathologie und seine Folgen

Menschenbild und Versorgungslandschaft Die Grundlagen dieses Krankheitsverständnisses und Menschenbildes haben sich hierzulande ohne explizite Erklärung in vielfältigen Angeboten der Versorgungsstrukturen und Versorgungsangeboten für psychisch Kranke niedergeschlagen. Dabei vermengen sich scheinbar logische, automatisierte Angebotsstrukturen, die aus vielfältigen Gründen heraus zu einer Zersplitterung der Versorgungsangebote und der Versorgungsabläufe führen. Die Spezialisierung ähnelt der in der somatischen Medizin vorfindbaren, was dem zuvor aufgezeigten historischen Menschenbild widerspricht, das auch den psychisch Kranken – und zwar sowohl den psychotischen als auch den nichtpsychotischen Patienten und Patientinnen – eine historisch, gesellschaftlich und psychosozial eingebettete Entstehung und Therapie der Erkrankung zuschreibt. Ein grundsätzlich biopsychosoziales Menschenbild, das im Sinne salutogenetischer Betrachtungsweisen davon ausgeht, dass Krankheit nicht Folge eines Bruchs, sondern Folge eines zu weiten Auseinanderklaffens von Belastungen und Ressourcen in den Bereichen der somatischen, psychischen und sozialen Belastungen ist, hat sich hier also nicht durchgesetzt. Vor der Psychiatrie-Enquête war die psychiatrische Versorgungslandschaft in der Bundesrepublik Deutschland im Wesentlichen ohne rehabilitative Zielsetzungen und eher verwahrend (karzeral) ausgerichtet. Die Einführung einer psychosozialen Sichtweise und eines rehabilitativen Ziels in der Psychiatrie entstand aber nicht auf der Grundlage eines globalen interdisziplinären Verständnisses von Behandlung und Betreuung im Sinne eines salutogenetischen Krankheitskonzeptes. Es handelte sich eher um das Nebeneinander von Detailkonzepten, in denen jedes spezialisierte Angebot eine Zielsetzung hatte und die Zielsetzung wichtiger war als die Kontinuität der personalen Bindung im Sinne einer Beziehungskontinuität in der Wiederherstellung historischer Kontinuität. Die Politik der kleinen Schritte sah vor, dass es Institutionen der Tagesbehandlung, der Nachbehandlung, ambulante Betreuungs- und Behandlungsangebote gab, in denen jeder Fortschritt, den ein Patient bzw. eine Patientin machte, mit dem Nachteil verbunden war, Bindungsqualitäten im Sinne sprachlich-kommunikativer Vertrauensprozesse aufgeben zu müssen. Modelle einer Beziehungskontinuität durch Wahrung therapeutischer Bindung, wie sie die Basis der Sektorisierung in Frankreich oder der italienischen Sozialpsychiatrie darstellten, wurden nicht auf25 https://doi.org/10.5771/9783495817995 .

Heinfried Duncker & Astrid Hirschelmann

gegriffen. Die deutsche Version einer Reform der psychiatrischen Versorgung sah eine technokratische Umsetzung kleiner Schritte vor, in deren Verlauf die Patienten und Patientinnen nicht durch die Orte unterschiedlich intensiver Betreuung begleitet, sondern von einem Ort zum anderen verpflanzt (›verlegt‹, ›überwiesen‹) wurden. Die Probleme, die ein derartig abgestuftes Behandlungskonzept in der forensischen Psychiatrie hervorrufen kann, wurden von Rasch (1984) ausführlich in der Beschreibung der Versorgungsangebote des damaligen Westfälischen Landeskrankenhauses Eickelborn beschrieben. Hier wurde deutlich, dass die Strategien der Behandlung psychisch Kranker eher den Automatismen der somatischen Medizin ähnelten, als den Bedürfnissen einer Beziehungskontinuität. Wenngleich dies in Raschs Analysen nicht explizit herausgearbeitet wurde, könnte man in dieser Art Versorgungssystem durchaus einen gewichtenden Automatismus erkennen, der dann verständlich wird, wenn man die Erkrankung als Einbruch des Unverständlichen, Nichteinfühlbaren auffasst. Auch gegen den Willen vieler Psychiater und Psychiaterinnen entwickelte sich im Bereich der Versorgung chronisch psychisch Kranker im Unterschied zur Versorgung somatisch Kranker ein System, das mit der Weigerung der Krankenkassen zur Übernahme bestimmter Kosten in Zusammenhang stand. Im Unterschied zu chronischen somatischen Erkrankungen sahen die Krankenkassen ihre Aufgabe nicht darin, auch chronisch psychisch Kranke – wie verfassungsgemäß gefordert – bei Bedarf genauso langfristig stationär behandeln zu lassen wie somatisch Kranke. So entwickelte sich ein System, in dem diese Kosten zunächst progressiv zulasten der Sozialhilfe, später dann in den Bereich der Pflegeversicherungen verlagert wurden. Hier wird implizit eine Forderung erfüllt, die bereits Mitte der dreißiger Jahre vorsah, dass die Versorgung psychisch Kranker nur die Hälfte der Versorgung somatisch Kranker kosten durfte. Die Spaltungsprozesse in den Versorgungsangeboten betreffen aber nicht nur den Verlauf der Behandlung des einzelnen Patienten oder der einzelnen Patientin mit den oben beschriebenen Wechseln durch die Behandlungsinstitutionen. Sie betreffen alle Patienten und Patientinnen, weil je nach Erkrankung unterschiedliche Kostenträger und somit unterschiedliche Leistungsanbieter zur Verfügung stehen. Hier ist exemplarisch die Spaltung zwischen den Krankheiten zu benennen, deren Behandlung durch die Krankenkassen bezahlt wird, und den Krankheiten, für deren Behandlungsmaßnahmen die Ren26 https://doi.org/10.5771/9783495817995 .

Der Rupturbegriff in der Psychopathologie und seine Folgen

tenversicherungen zuständig sind. Implizit hat sich in der Praxis eine Spaltung vollzogen, die weitgehend dafür sorgt, dass die psychotisch Kranken – im Sinne des zuvor beschriebenen Rupturbegriffes – in den Institutionen der psychiatrischen sektorisierten Versorgung auf Kosten der Krankenkassen – bzw. der Sozialhilfe oder der Pflegeversicherung – versorgt werden. Die Patienten und Patientinnen, die weitgehend in den Bereich der sogenannten Variation der Norm fallen, insbesondere die Suchtkranken und die psychosomatisch Kranken, werden überwiegend in Einrichtungen der medizinischen Rehabilitation versorgt, für die die Rentenversicherungen zuständig sind. Hier wird deutlich, dass in den Versorgungsangeboten selbst, ohne dass dies explizit fachlich begründet wäre, latente Konzeptionen einer Variation der Norm weiter tonangebend sind. Maßnahmen der medizinischen Rehabilitation werden primär nicht nur zur Behandlung der Erkrankung, sondern zur Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit gewährt. Ihre Genehmigung hat zur Grundlage, dass der Patient bzw. die Patientin krankheitseinsichtig ist und an der Behandlung mitwirken will, also auch behandlungsmotiviert ist, und dass der Erfolg seiner bzw. ihrer arbeitsrehabilitativen Wiedereingliederung wahrscheinlich ist. Gerade im Bereich der suchtkranken Patienten und Patientinnen macht dies die frühere moralische Wertung wieder überdeutlich. Sind sie krankheitseinsichtig und behandlungswillig, werden sie als Patienten und Patientinnen behandelt. Sind sie das nicht, haben sie einen moralischen ›Fehler‹, an dem sie selbst zunächst arbeiten müssen. Außerdem sind diese Rehabilitationseinrichtungen zentralisiert. Es gibt keine systematische und schon gar keine personelle kontinuierliche Wiedereingliederung und Nachsorge, d. h. die lebens- und beziehungsgeschichtliche Kontinuität ist im Versorgungsangebot von der Struktur her aufgehoben.

Schlusswort Vor diesem Hintergrund erscheint es dringend notwendig, dass eine grundsätzliche Diskussion über ein psychosomatisches und salutogenetisches Krankheitsverständnis geführt wird, denn nur so wird es möglich, die Lücken und Spaltungen im Versorgungssystem anzusprechen und dafür Sorge zu tragen, dass die Patienten und Patientinnen, insbesondere die ›schwierigen‹, nicht in die Leerstellen zwi27 https://doi.org/10.5771/9783495817995 .

Heinfried Duncker & Astrid Hirschelmann

schen den verschiedenen aufgespaltenen Versorgungsangeboten fallen. Dies betrifft insbesondere hoch spezialisierte psychotherapeutische Angebote in der psychosomatischen und suchtmedizinischen Rehabilitation. Ansonsten werden Patienten und Patientinnen in Irrwegen der Versorgungsangebote verlorengehen. In den spezialisierten Rehabilitationskliniken steht das therapeutische Angebot an erster Stelle und nicht die räumliche Zuständigkeit für ein Versorgungsgebiet. So kann es tatsächlich geschehen, dass der Patient bzw. die Patientin nicht nur wegen des zentralen Angebotes seine soziale Einbindung nicht bearbeiten kann, sondern, wie in einem Einzelfall geschehen, folgende Irreführung erfolgt: Ein depressiver Patient mit multiplen Problemen wird zunächst in eine Abteilung für psychosomatische Medizin verlegt. Beim Aufnahmegespräch ist er aus Sicht der Einrichtung für die therapeutischen Angebote zu wenig depressiv. Außerdem wird ein zusätzliches Suchtproblem diagnostiziert, weswegen eine Verlegung in eine darauf spezialisierte Klinik eingeleitet wird. Dort wird schnell deutlich, dass er hinsichtlich der Anforderungen der arbeitstherapeutischen Angebote zu passiv ist. Er wird allerdings nicht als depressiv erkannt, sondern lediglich als behandlungsunwillig beurteilt, sodass die Rehabilitationsbehandlung abgebrochen wird. Spätestens hier wird deutlich, dass eine integrative und ganzheitliche psychiatrische Versorgung, die den psychisch Kranken bzw. die psychisch Kranke sozialpsychiatrisch in seiner Gemeinde abholt, bei einem solchen Ausmaß an Spezialisierung keinesfalls Versorgungsrealität werden kann. Außerdem werden bestimmte psychiatrische Störungsbilder nur bedingt als krankhaft gesehen. Sie sind, wie im Bereich der Suchterkrankung deutlich wird, weitgehend aus der psychiatrischen Versorgungslandschaft ausgeschlossen, denn gerade bei diesem Störungsbild übernehmen die Krankenkassen nur noch die Kosten für eine stationäre Entgiftungsbehandlung. Hier erscheinen die Spezialisierungen der deutschen Psychiatrie und Psychosomatik zutiefst von den in der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts herrschenden Ideologien zum Krankheitsbegriff geprägt. Diese implizite Prägung ist nie aufgearbeitet worden. Kurt Schneider konnte auch nach dem Krieg die Gedankenwelt der deutschen Psychiatrie weiterhin prägen, ohne dass seine Arbeit als beratender Psychiater der Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg kritisch hinterfragt wurde. Rauch ist weiterhin mit seinem Paradigma der Unverständlichkeit prägend, ohne dass dieses Defizitmodell kritisch hinterfragt oder durch eine andere Definition des Wahns ersetzt würde. 28 https://doi.org/10.5771/9783495817995 .

Der Rupturbegriff in der Psychopathologie und seine Folgen

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Susanne Guski-Leinwand

Kunstpsychologie und ihr Beitrag zur Ressourcenorientierung Zu den Anfängen eines fast vergessenen Teilgebietes der Psychologie Paul Plaut: Der Vater der empirischen Kunstpsychologie Der deutsch-jüdische Psychologe Paul Plaut wurde am 19. Februar 1894 in Berlin geboren. Seine Eltern waren Hermann Plaut (1849– 1909) und Ernestine Plaut, geb. Loewenthal (1864–1942). Er hatte zwei Brüder und eine Schwester. Während seine Brüder und er sich vor der Gewaltherrschaft der Nationalsozialisten ins Ausland retten konnten, wurden seine Mutter und seine Schwester ermordet. Von der Mutter ist überliefert, dass ihr Leben in Theresienstadt 1942 beendet wurde, das Todesdatum der Schwester ist mit 1943 angegeben (vgl. Ulrich, 1996). Paul Plaut erlebte während seines Lebens unterschiedliche Formen des Antisemitismus in Deutschland. Von allen diesen Formen dürfte der sogenannte »wissenschaftliche Antisemitismus« (Levinstein, 1896; vgl. Guski-Leinwand, 2013; Guski-Leinwand, 2017) für Plaut besonders schwer zu ertragen gewesen sein. Vielleicht erklärt diese Ausgrenzung innerhalb der eigenen Fachkreise, warum Plaut die Forschungsinhalte, denen er sich mit hoher Passion als junger Mensch in Deutschland verschrieben hatte, seit seiner Zeit im Exil nicht mehr verfolgte, obwohl er große Teile seines Forschungsmaterials hatte retten und bei sich archivieren können. Nicht erklärt ist aber damit, warum an Plaut und auch andere Psychologinnen und Psychologen seiner Zeit innerhalb der scientific community in Deutschland nach 1945 nicht angeknüpft wurde bzw. ihre Arbeiten weitestgehend dem Vergessen anheim gestellt wurden. Von 1912 bis 1915 studierte er Philosophie und Literatur in Berlin. Dieses Studium wurde durch seinen Kriegsdienst als Freiwilliger im Ersten Weltkrieg unterbrochen. Hier arbeitete er u. a. im Sanitätsdienst. Zusammen mit Otto Lipmann und William Stern entwickelte er die Methode der Psychographie für kriegspsychologische Unter30 https://doi.org/10.5771/9783495817995 .

Kunstpsychologie und ihr Beitrag zur Ressourcenorientierung

Paul Plaut 1940 in seinem Arbeitszimmer 12 York Gate in London (Copyright: Becky Allen, London)

suchungen (Plaut, 1920; Plaut, 1928a). 1920 folgte die Promotion zum Dr. phil. in Greifswald. Zwei Jahre später, 1922, und vermutlich geprägt durch die Erfahrungen im Sanitätsdienst, nahm Plaut das Studium der Medizin auf und promovierte 1927 zum Dr. med. in Berlin. Kurz nach Aufnahme dieses zweiten Studiums heiratete er 1923 Thekla Delphine Kneip (1899–1980). Aus der Ehe ging eine Tochter hervor. Ehefrau und Tochter ist zu verdanken, dass viele Forschungsunterlagen und persönliche Notizen von Paul Plaut noch erhalten sind. Ab 1923 war er als Assistent an dem von William Louis Stern und Otto Lipmann aus privaten Mitteln gegründeten Institut für angewandte Psychologie und psychologische Sammelforschung in Berlin sowie als Assistenz-Arzt am Berliner Krankenhaus Wittenau tätig. Zusätzlich arbeitete er von 1927 bis 1933 als gerichtlicher Sachverständiger. Dieser Aufgabe konnte er ab 1933 nicht mehr nachkommen, da er auf Grund seiner jüdischen Vorfahren von allen Ämtern entlassen wurde. Als im Ersten Weltkrieg mit dem Eisernen Kreuz zweiter Klasse hoch dekoriertem Frontkämpfer konnte er sich nicht vorstellen, im mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten neu entstandenen ›Soldatenstaat‹ verfolgt zu werden. Er verleugnete, im Gegensatz zu seiner Frau Thekla, bis 1938 die – durch die immer drastischere Formen annehmende Judenhetze – wachsende Gefahr für sich und seine Familie. Durch den Einsatz seiner Ehefrau Thekla 31 https://doi.org/10.5771/9783495817995 .

Susanne Guski-Leinwand

konnten er und die Familie 1938 über Amsterdam nach London emigrieren. Dort war Plaut wiederum zunächst als Gerichtsgutachter tätig. Von 1948 bis 1959 arbeitete er als Psychiater an der Portman Clinic im National Health Program. Er verstarb am 22. Januar 1960 in London. Insgesamt publizierte er mehr als 500 Artikel, Abstracts und Bücher (vgl. Ulrich, 1996; Köhne, 2014). Seine in Deutschland bis etwa Ende der 1920er Jahre entstandenen Forschungsansätze und Publikationen sind heute nur wenigen Psychologinnen und Psychologen bekannt. Zu Unrecht, denn sie stellen nicht nur erste empirisch-methodische Ansätze in einem Teilgebiet der Psychologie dar, das bis dato nicht in dieser Weise für die Forschung erschlossen war, sondern zeigen mit der damaligen Ergebnislage auch heute noch Aktualität, wie weiter unten aufgeführt wird.

Paul Plauts »Prinzipien und Methoden der Kunstpsychologie« Kunstpsychologie hat sich nicht als Teildisziplin etablieren können, war aber über die ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts ein umfassendes Forschungsfeld der damaligen Psychologenschaft (vgl. hierzu Lück & Guski-Leinwand, 2014). Als Persönlichkeitspsychologe interessierte sich Paul Plaut innerhalb seiner Forschungen weniger für die defizitären und destruktiven Anteile des Individuums als vielmehr für das Gegenteil: Künstlerische Werke aller Sparten (so z. B. der Musik, Poesie, Literatur, Bildhauerei, Malerei, darstellenden Kunst und auch Architektur) führten zum Forschungsinteresse von Paul Plaut und damit zunächst zu einer methodischen Untersuchung künstlerischer Prozesse durch Befragung von Künstlerinnen und Künstlern (Plaut, 1928b). In seine Publikation bezog er verschiedene Untersuchungen anderer Wissenschaftler ein, die sich ebenfalls mit dem künstlerischen Schaffen analysierend oder beobachtend auseinandergesetzt hatten. In seinen »Prinzipien und Methoden der Kunstpsychologie« interessierte Plaut sich – ausgehend von den Erkenntnissen seines fachlichen Zeitgenossen Emil Utitz 1 (1920) – für Emil Utitz musste ebenso wie Paul Plaut sowie dessen Kollegen William Louis Stern und Otto Lipmann sowie viele andere, die sich mit diesen und anderen Aspekten der (Persönlichkeits-)Psychologie beschäftigten, durch die Rassengesetze der Nationalsozialisten aus Deutschland fliehen. Utitz überlebte seine Haft in Theresienstadt und

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Kunstpsychologie und ihr Beitrag zur Ressourcenorientierung

den »Beziehungsreichtum des Kunstwerkes« (Plaut, 1928, S. 751): Sowohl nach innen bzw. aus dem Inneren des Künstlers oder der Künstlerin ließ sich eine Beziehung zwischen Kunstwerk und Kunstschaffendem untersuchen, als auch nach außen bzw. auf das Innere des Kunstrezipienten bzw. der Kunstrezipientin ließ sich ein In-Beziehung-Setzen zum Kunstwerk beobachten und erheben. Diese Aspekte waren seit dem ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts zunächst in verschiedenen Schriften über Kunst im Rahmen der Grundlegung der Kunstwissenschaft (Dessoir, 1906; Fiedler, 1913) erwähnt worden; Plaut widmete sich diesen jedoch konzeptionell-methodisch als Erster. Neben dem Ansatz, empirisch-methodisch die Prozessdynamik bei Entstehung und Rezeption eines Kunstwerkes zu untersuchen, gab es noch andere Ansätze, die von einer »Psychologie der Kunst« (Müller-Freienfels, 1992) oder auch nur dem »Versuch einer Psychologie der Kunst« (Kaplan, 1930) sprachen. Während Müller-Freienfels aus nationalistischer Deutung auf eine spezifisch deutsche Kunst und Psychologie 2 hinauswollte, versuchte Kaplan ausgehend von zunächst religionspsychologischen Überlegungen und als ein Schüler Sigmund Freuds (vgl. Kaplan, 1914) psychoanalytische Deutungen künstlerischer Motive und führte hierzu die »kontradiktorischen Tendenzen« (Introversion und Extraversion) des Menschen in ihren Auswirkungen als dynamische Affekte auf künstlerische Prozesse an. Andere Zeitgenossen bzw. psychologische Fachkollegen von Plaut, wie etwa Otto Lipmann, untersuchten dazu spezifische Berufsaspekte als »Psychologie der Berufe« (Lipmann, 1922), um sogenannte »Berufspsychogramme« zu erstellen. In der Persönlichkeitspsychologie zu Beginn des 20. Jahrhunderts suchte man nach herausstechenden Fähigkeiten bzw. Persönlichkeitseigenschaften unter Aspekten der Charakterologie und einer sogenannten Genieforschung (z. B. Lange-Eichbaum, 1927). Beide Aspekte interessierten Plaut jedoch nicht allein, ihn interessierte die Biografie des Individuums, die Umstände, innerhalb derer ein Kunstwerk entstand und sich ein künstlerischer Prozess mit allen emotionalen und intuitiven Momenten ereignete. Methodisch nutzte er dazu die sogenannte Psychographie (Stern, reflektierte dies in einer zugehörigen Publikation (Utitz, 1947). Otto Lipmann setzte unter großer Verzweiflung seinem Leben ein Ende, William Stern starb in der erzwungenen Emigration. 2 Richard Müller-Freienfels veröffentlichte während der Zeit des Ersten Weltkriegs verschiedene politische Artikel, in denen er eine Nationalpsychologie sowie eine differenzierte Volks- bzw. Völkerpsychologie forderte (vgl. Guski-Leinwand, 2010).

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Susanne Guski-Leinwand

1912; Plaut, 1920), die er zusammen mit William Stern für andere emotionale und interaktive Prozesse bei ausgewählten biografischen Ereignissen, wie z. B. dem Kriegsdienst an der Front, schon früh eingesetzt hatte, wie oben bereits erwähnt. Wenngleich Plaut zwar kein Anhänger einer biologistischen Forschung war (anders als zahlreiche Psychologen seiner Zeit), hatte er seine »Prinzipien und Methoden der Kunstpsychologie« dennoch innerhalb des »Handbuch der biologischen Arbeitsmethoden« von Emil Abderhalden veröffentlicht. Dies lässt sich insofern einordnen, als die inhaltliche Ausrichtung der Biologie auf »Ganzheit« lag (vgl. Hörmann, 1965) und auch die Psychologie sich dieser Ausrichtung – allerdings unter verschiedenen terminologischen Auslegungen des Ganzheitsbegriffes – angeschlossen hatte (Guski-Leinwand, 2017). Plauts Veröffentlichung zur Kunstpsychologie erschien separiert als Sonderdruck, jedoch nie als Monografie. Innerhalb seiner Ausführung – und das ist für eine Bezugnahme zu Kunst- und Musiktherapie interessant – rekurrierte Plaut auch Arbeiten aus dem klinischen Kontext, welche eine »Heilwirkung der Musik« (Kronfeld, 1927) unter Aspekten des »Wesen(s) der Musik« (Singer, 1927) an Kranken mit nervösen Störungen untersuchten. Unter diesem letzten Aspekt fand Singer einen positiven Zusammenhang zwischen nervösen Störungen und künstlerischen Begabungen. Mit diesem Aspekt zog Plaut auch eine Parallele zur Konzeption der Völkerpsychologie, wie sie Wilhelm Wundt verfolgt hatte 3, nämlich unter der Frage »aus welchen Motiven überhaupt die Kunsterzeugnisse geschaffen wurden« (Plaut, 1928, S. 958). Kunstpsychologische Untersuchungen wurden somit nicht nur als Forschung unter individual-psychologischer Perspektive durchgeführt, sondern zuvor auch als »Vorschläge zur psychologischen Untersuchung primitiver Menschen« von Plaut und seinen Kollegen wie Otto Lipmann am Institut für angewandte Psychologie (1912) in Berlin diskutiert. Aspekte zur Heilwirkung bzw. den Motiven zur Erstellung von Kunsterzeugnissen, wie sie hier schon zu Beginn des Nach dem Tode von Wilhelm Wundt wurde dessen Konzeption der Völkerpsychologie von seinem Lehrstuhlnachfolger, Felix Krueger, und anderen Schriftstellern und Fachkollegen in Richtung einer sogenannten »differentiellen Völkerpsychologie« (Jaensch, 1924) als Völkercharakterologie mit nationalen und nationalistischen bis biologistisch-rassistischen Betonungen umkonzipiert. Entwicklungspsychologie als Menschheitsentwicklung war von Felix Krueger bereits 1915 konzeptionell vorgelegt und von Wilhelm Wundt (1916) scharf zurückgewiesen worden (vgl. hierzu GuskiLeinwand, 2010; Guski-Leinwand, 2017).

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Kunstpsychologie und ihr Beitrag zur Ressourcenorientierung

20. Jahrhunderts vorgeschlagen wurden, sind innerhalb der kunsttherapeutischen Fachliteratur auch am Ende des 20. Jahrhunderts noch zu finden (vgl. Wichelhaus, 1993) und erfuhren etwa seit Beginn des 21. Jahrhunderts eine Reflexion auf gesundheitspsychologische bzw. gesundheitswissenschaftliche Aspekte (vgl. z. B. Hampe & Stalder, 2008).

Paul Plauts Produktivitätsbegriff als früher Ansatz zur Resilienzforschung In der Psychologie wird Resilienz im Sinne einer psychischen Widerstandsfähigkeit und als Erholungs- oder Verarbeitungsfähigkeit von schwierigen Lebenssituationen verstanden. Ein Synonym für Resilienz ist die »psychische Immunität«, wie sie erstmals Friedjung (1935) benannte und psychische Abwehrfähigkeiten als eine Art der »Gefeitheit« verstand, welche heute als Schutzfaktoren bezeichnet werden. Persönlichkeitsmerkmale (sog. traits) standen hierzu innerhalb der Resilienzforschung lange im Fokus. Produktivität bzw. Resilienz als Ergebnis innerhalb bestimmter Konstellationen (»Resilienzkonstellation« nach Greve, 2006) zu verstehen, ist noch nicht umfangreich erforscht. Hier steht die Frage im Zentrum, weshalb Entwicklung unter tendenziell gefährdenden oder belastenden Umständen dennoch gleichsam unbeeindruckt von diesen kontinuierlich und erfolgreich verläuft (Leipold & Greve, 2008) und wie sich der Kontext auf die Resilienz auswirkt (vgl. z. B. Petermann & Schmidt, 2006). Resilienz wird somit als Entwicklungsprodukt bzw. Entwicklungsergebnis verstanden (vgl. Greve, Leipold & Meyer, 2009). Zu diesem aktuellen Forschungskontext stellt sich Plauts Studie als Pionierarbeit dar, ohne den Resilienzbegriff jedoch zu verwenden: Plaut suchte nach einem Kriterium (»Wesenheit«) für die Produktivität, d. h. die Überwindung von schwierigen persönlichen und beruflichen Lagen (z. B. Misserfolge, Schwierigkeiten bei der Ideenfindung etc.). Damit wandte sich Plaut vom damals gängigen Geniebegriff ab, da er die psychischen Funktionen, die jeder produktiven Persönlichkeit zu Grunde liegen sollten, nicht berücksichtigte. Zwischen 1927 und 1929 erhielten rund 400 Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens dazu einen von Plaut entwickelten Fragebogen. Knapp 170 von ihnen beantworteten diesen bzw. legten ausführliche Selbst35 https://doi.org/10.5771/9783495817995 .

Susanne Guski-Leinwand

reflexionen in Briefform bei. Zu den Befragten gehörten William Stern, Max Dessoir und Charlotte Bühler als auch Prominente wie Albert Einstein, Sigmund Freud, Käthe Kollwitz, Wassily Kandinsky, Max Planck u. v. a. Sigmund Freud jedoch übte methodische Kritik und füllte den Fragebogen nicht aus. Er hielt ihn für eine solche Fragestellung als methodisch nicht geeignet. Im Ergebnis stellen viele Antworten die Eigenverantwortlichkeit im Umgang mit schwierigen Konstellationen heraus und zeigen unterschiedliche individuelle Faktoren als auch Faktoren der Umgebung als förderlich für die eigene Produktivität auf: Während manche KünstlerInnen die Bedeutung der freien Wahl des Arbeitsortes als mögliche Ursache für ihre Produktivität beschrieben, nannten andere die anregende Umgebung von Cafés, Natur oder die Inspiration durch die jeweils anderen Künste.

Die Ansätze Paul Plauts als Ressource für Kunsttherapie und Resilienzforschung Die unterschiedlichen Wirkfaktoren intrapersonaler als auch interpersonaler oder umgebungsspezifischer Art, welche Plaut mit seinen psychographischen Verfahren für die Forschung produktiver bzw. konstruktiver menschlicher Verhaltensweisen zu Tage gefördert hat, bergen noch unausgewertetes Forschungsmaterial und Forschungsansätze. Besonders die heute sogenannten Resilienzkonstellationen, die prinzipiell von Plaut schon in den verschiedenen Forschungsarbeiten zur Kunstpsychologie und produktiven Persönlichkeit erhoben wurden, könnten mit seinen Verfahren und Ansätzen auf heutige therapeutische Settings und Forschungsthemen Anwendung finden. Für verschiedene Anwendungsbereiche der Psychologie (z. B. der Gesundheitspsychologie) als auch Aufgabenfelder der Sozialen Arbeit (z. B. bei Wiedereingliederung von Menschen in Beruf oder soziales Umfeld) wie auch der Kunsttherapie bieten die methodischen Ansätze und Fragebögen Plauts eine sinnvolle Ergänzung. Für die Forschung bieten Plauts Ansätze aktuell attraktive Themen an, die für die Erforschung der Resilienzkonstellationen von Relevanz sind. Diese können für Konzepte einer nachhaltigen Umfeld- bzw. Umweltgestaltung, denen sich die Umweltpsychologie widmet, aber auch für Herausforderungen zur Gestaltung von Arbeitswelten zu neuen Konzepten als auch für die Forschung zu neuen Hypothesen führen. 36 https://doi.org/10.5771/9783495817995 .

Kunstpsychologie und ihr Beitrag zur Ressourcenorientierung

Literatur Dessoir, M. (1906). Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft. In den Grundzügen dargestellt. (EA; ZA 1926). Stuttgart: Enke. Online-Ressource: https:// archive.org/details/sthetikundallge00dessgoog Fiedler, K. (1913). Schriften über Kunst. München: Piper. Institut für angewandte Psychologie. (1912). Vorschläge zur psychologischen Untersuchung primitiver Menschen. Beiheft zur Zeitschrift für angewandte Psychologie, 5. Friedjung, J. K. (1935). Psychische Immunität und Erziehung. Acta Paediatrica, 17, 3, März, S. 411–425. Greve, W. & Staudinger, U. M. (2006). Resilience in later adulthood and old age: Resources and potentials for successful aging. In D. Cichetti & D. Cohen (Eds.), Developmental Psychopathology, 2. Aufl., Bd. 3, S. 796–840. New York: Wiley. Guski-Leinwand, S. (2010). Wissenschaftsforschung zur Genese der Psychologie vom ausgehenden 19. Jahrhundert bis Mitte des 20. Jahrhunderts. Münster: Lit. Guski-Leinwand, S. (2013). Gustav Levinstein. Unternehmer und Schriftsteller gegen »Wissenschaftlichen Antisemitismus«. Berlin: Hentrich & Hentrich Guski-Leinwand, S. (2015). Paul Plaut und die berufliche Resilienz. Psychoscope, 4, S. 13–15. Guski-Leinwand, S. (2017). Psychologie und Totalitarismus. Die Abwendung vom Humanitätsgedanken in der Psychologie und die Folgen (ca. 1895–1945). Beiträge zur Geschichte der Psychologie, Band 30. Frankfurt a. M.: Lang. Hampe, R. & Stalder, P. (Hrsg.) (2008). »Grenzüberschreitungen«. Bewusstseinswandel und Gesundheitshandeln. Berlin: Frank & Timme. Hörmann, M. (1965). Methodik des Biologieunterrichts. München: Kösel. (ZA; EA 1956) Kaplan, L. (1914). Grundzüge der Psychoanalyse. Wien: Deuticke. Kaplan, L. (1930). Versuch einer Psychologie der Kunst. Baden-Baden: Merlin. Köhne, J. B. (2014). Papierne Psychen. Zur Psychologie des Frontsoldaten nach Paul Plaut. In U. Heikaus & J. B. Köhne, Krieg! Juden zwischen den Fronten. 1914–1918. S. 76–82. Berlin: Hentrich & Hentrich. Kronfeld, A. (Hrsg.) (1927). Heilwirkung der Musik. Beiträge zur musikalischen Empfindungslehre. Kleine Schriften zur Seelenforschung. Heft 16. Stuttgart: Püttmann. Krueger, F. (1915). Über Entwicklungspsychologie. Ihre sachliche und geschichtliche Notwendigkeit. Leipzig, Wilhelm Engelmann. Lange-Eichbaum, W. (1927). Genie, Irrsinn und Ruhm. München: Reinhard. Leipold, B., Greve, W. & Meyer, T. (2009). Resilienz als Entwicklungsergebnis: Die Förderung der individuellen Adaptivität. In K. Baumann (Hrsg.), Salutotherapie in Prävention und Rehabilitation. S. 173–184. Wiesbaden: Deutscher Ärzteverlag. Levinstein, G. (1896). Wissenschaftlicher Antisemitismus. Vortrag von Gustav Levinstein – Groß-Lichterfelde. Berlin.

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Susanne Guski-Leinwand Lipmann, Otto (1922). Psychologie der Berufe. In G. Kafka, Handbuch der vergleichenden Psychologie. ZA. S. 459–508. München: Reinhardt. Lück, H. E. & Guski-Leinwand, S. (2014). Geschichte der Psychologie. Strömungen, Schulen, Entwicklungen. 7. überarb. Aufl. Stuttgart: Kohlhammer. Müller-Freienfels, R. (1922). Psychologie der Kunst. Eine Darstellung der Grundzüge. (ZA; EA 1912). Leipzig/Berlin: Teubner. Online-Ressource der Erstaufl.: https://archive.org/details/psychologiederk00fregoog Petermann, F. & Schmidt, M. H. (2006). Ressourcen – ein Grundbegriff der Entwicklungspsychologie und Entwicklungspsychopathologie? Kindheit und Entwicklung, 15, S. 118–127. Plaut, P. (1920). Psychographie des Kriegers. Zeitschrift für angewandte Psychologie, Beiheft 21, S. 1–123. Plaut, P. (1928a). Prinzipien und Methoden der Kriegspsychologie. In E. Abderhalden, Handbuch der biologischen Arbeitsmethoden, Abt. VI, Teil C, Band 1, S. 621–687. Plaut, P. (1928b). Prinzipien und Methoden der Kunstpsychologie. In E. Abderhalden (Hrsg.), Handbuch der biologischen Arbeitsmethoden. Abt. VI, Teil C/II, S. 745–966. Plaut, P. (1929). Die Psychologie der produktiven Persönlichkeit. Stuttgart: Enke. Singer, K. (1927). Vom Wesen der Musik. In A. Kronfeld (Hrsg.), Heilwirkung der Musik. Heft 7. Ulrich, B. (1996). Paul Plaut – Psychologe zwischen den Kriegen. In W. Bialas & B. Stenzel (Hrsg.). Die Weimarer Republik zwischen Metropole und Provinz. Intellektuellendiskurse zur politischen Kultur. S. 97–109. Köln: Böhlau. Utitz, E. (1920). Grundlegung der allgemeinen Kunstwissenschaft. (ZA; EA 1914). Stuttgart: Enke. Utitz, E. (1925). Der Künstler. Vier Vorträge. Stuttgart: Enke. Wichelhaus, B. (Hrsg.) (1993). Kunsttheorie, Kunstpsychologie, Kunsttherapie. Berlin: Cornelsen. Wundt, W. (1916). Völkerpsychologie und Entwicklungspsychologie. OnlineRessource: http://psychologie.biphaps.uni-leipzig.de/wundt/opera/wundt/ VEntwPsy/VPsych01.htm

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Karl-Heinz Menzen

Fortschritte der Kunsttherapie Wie semantische, psychoanalytische und neurologische Aspekte im therapeutischen Bild zusammenkommen

1.

Das Bild ist vor dem Subjekt

Das Bild ist vor dem Subjekt, – es zeigt sich als Gesicht, als Hände und Arme, die mich umfassen. Das, was sich mir da zeigt, sind Zeichen, die zu Objekten werden, zu bedeutungsvollen Objekten, die in ihren Schnittpunkten das ergeben, was wir ein Bild nennen, ein Bild von einem Menschen, der mich umfängt. Schon früh haben wir gelernt, Bedeutungen an dem zu messen, was sie mir an Wohlsein oder Unwohlsein erzeugen. Und diese Bedeutungen ändern sich, je nachdem, wie intensiv sie sich zeigen und wiederholen. Immanuel Kant hatte gesagt, das Bild sei ein Produkt der Einbildung, einer Kraft, welche die Bedeutungen zur Synthese zusammenzuführen in der Lage sei. Er sagte, das Bild sei in der Lage, die Einheit der Apperception zuwege zu bringen; es sei in der Lage, die Elemente der Wahrnehmung assoziativ, rekognitiv und reproduktiv so zu synthetisieren, dass sie uns bildhaft erschienen (Kant, KrdrV A125). Kants Interesse an dem Umstand, wie wir zu unseren Bildern kommen, war durchaus im Rahmen des Erkenntnisinteresses seiner Zeit: Um 1800 geschieht eine anthropologische Neudefinition in der Folge der amerikanischen, anglosächsischen und französischen Natur- und Grundrechtediskussionen, es geschieht eine Neudefinition des Bildes von der menschlichen Natur und von deren Kontext. Es ist ein Bemühen um die Erkenntnis, wie der Mensch nicht nur theoriegeschichtlich, sondern auch psychologiegeschichtlich zu seinen Bildern kommt. Einerseits ist da noch ein altes Bild von der menschlichen Natur, ist da noch die alte christlich-mittelalterlich geprägte Deutung und Einordnung der menschlichen Kreatur im Gesamt der abendländischen Schöpfungslehre. Eine klassisch philosophisch und literarisch geprägte Naturphilosophie und Rechtslehre stehen dafür. Goethes ›Edel sei der Mensch; hilfreich und gut‹ steht für diese Anschauung. Andererseits wird ein neues Bild von der menschlichen Natur ent39 https://doi.org/10.5771/9783495817995 .

Karl-Heinz Menzen

worfen, steht gegen das überholt scheinende Denken ein Entwurf des Menschen als der eines Selbsterzeugers und Weltingenieurs. Eine aufkommende Naturwissenschaft und Lehre des Konsensrechts suchen diesen Entwurf zu fundieren. Schillers Ausruf: »In den letzten Jahren bin ich ein völlig neuer Mensch geworden« (vgl. Seidel, G., 2009, Kap. Reise nach Weißenfels) fasst das neue Selbstverständnis zusammen. Eine subjektive Bildlehre: Wie der Mensch von Natur sein soll – unter diesem Label kommen Neuhumanisten wie Fichte, Schiller und Herbart zusammen –, eine neue Auffassung bricht sich Bahn, welche die Aufklärung in allen Bereichen des Lebens bestimmt. Besonders im Bereich der Psychologie, vornehmlich der Entwicklungspsychologie und ihrer Störungslehren, wird es nun möglich, bis zu diesem Zeitpunkt nicht statthafte Gedanken zu äußern; greift die Erkenntnis um sich, dass allgemeine und individuelle kulturelle Formen des alltäglichen Miteinanders und mit diesen Sinnes-, Empfindungs- und Gefühlselemente den Menschen anerzogen, gesellschaftlich übermittelt werden. Nicht nur in den Erkenntnislehren der Zeit, auch in den Vorstellungslehren und den künstlerisch-bildhaften Versuchen des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts sind die Gedanken darüber, wie wir zu unseren Bildern kommen, en vogue. Hand in Hand entwerfen Psychologen, Kunsttheoretiker und praktische Künstler eine Art grundlegender Bildlehre, wie wir aus unseren Einzelempfindungen heraus unbewusste Schlüsse ziehen (Hermann von Helmholtz, 1855); wie in solchen Akten unbewusst – analog dem künstlerischen Formungsund Gestaltungsvorgang – ein sichtbar zu werden in die Lage versetztes inneres Bild entsteht (Konrad Fiedler, 1887); wie das unserer Empfindung unmittelbar gegebene Elementare sich qualitativ zu einer Gestalt formt und als zusammenhängendes Komplexhaftes konstituiert (Gestaltslehre, seit 1900); wie die sich zeigende und in Folge gemalte Welt eine eigene Farb-Logik besitzt, die die Form, die Gestalt um mich herum prägt (Paul Cézanne, um 1905); wie der hier beschriebene Bildakt ein unbewusstes Interpretament bildet (Heinrich Wölfflin, 1915); wie der Künstler das Wesen dieser Dinge zur Form zu bringen versucht (Bauhausbewegung, um 1930) – und wie sich der Mensch angesichts der täglichen Reizflut in solchen Formgebungen entlastet (Arnold Gehlen, 1940).

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Fortschritte der Kunsttherapie

2.

Am Anfang ist die Farbe: ›Colour Beginning‹

William Turner malt 1819 ein Bild. Es heißt ›Colour Beginning‹ und ist wie vieles seiner Bilder eine malerische Szeno- und Topographie, die mit bloßen Farben, in diesem Fall mit einfachen Wasserfarben, die Form einer Meereslandschaft konturiert. Das Bild wird vorwegnehmen, was Paul Cézanne ein halbes Jahrhundert später wie folgt umreißen wird: Man müsse Maleraugen haben, die in der Farbe allein den Gegenstand sehen, sich seiner bemächtigen und ihn sich mit den anderen Objekten verbinden lassen (Cézanne, 1904/1988, 54–66). Eine solche Malerei, so Cézanne, müsse in sich verstummen lassen alle Stimmen der Voreingenommenheit, so dass sich aus der Abfolge von Farbflecken die Fülle der Welt einstelle, die Logik eines Farbtextes. Was hier bei Cézanne noch das subjektive Gefühl ausklammern möchte, wird bei Heinrich Wölfflin 1915 geradezu betont: Er ist der Auffassung, dass die logischen Bildrelationen etwas mit den Anschauungsformen des Menschen zu tun hätten, dass die Strukturen der Bildoberfläche die Strukturen des Sehens widerspiegelten (Wölfflin, 1915). Mit seinen Fachkollegen aus der Kunsttheorie, mit Wilhelm Worringer und Theodor Lipps, ist sich Heinrich Wölfflin einig: Ein Bild kann nicht nur überlogisch allgemein, d. h. in unverzerrter Eindrücklichkeit betrachtet werden, es will auch subjektiv einfühlsam betrachtet sein. Und hierbei, so Theodor Lipps, haben die unterschiedlichen Elemente des Bildes ihre unterschiedliche Bedeutung. Theodor Lipps ist sich mit Sigmund Freud, der ihn intensiv studiert, darin einig, dass die Bildelemente ihre jeweilige unbewusste Bedeutung an sich haben. Theodor Lipps spricht von Mischformen, Sigmund Freud von überdeterminierten Bedeutungen (vgl. Menzen 2017, Kap. 7.1). Das 19. Jahrhundert hatte mit Caspar David Friedrich davon gesprochen, dass der Maler die Bedeutungen der Welt zum Zweck der Erzeugung einer bestimmten Empfindung, eines bestimmten Gefühls, aus seiner Sicht zusammenzusetzen habe: Caspar David Friedrich (1774–1840) hatte gesagt: »Die Mahler üben sich … im Componiren wie sie’s nennen; heißt das nicht etwa mit andern Worten? Sie üben sich im Stüken und Pflikken. Ein Bild muß nicht erfunden sondern empfunden seyn.« (Eimer 1999, 36; Menzen, 2017). Er spricht von Grundtönen der Natur, die sich im Gemüt des heranwachsenden Kindes wie des erwachsenen Menschen widerspiegeln; die kompositorisch zusammenzusetzen sind, die die Facetten der Gemütsempfin41 https://doi.org/10.5771/9783495817995 .

Karl-Heinz Menzen

dungen in der Folge auf die Vorstellung übertragen. In seinem Malentwurf sind die Raum-, Farb-, Licht, Flächen-, Bewegungs- und Formelemente so zu komponieren, dass sie einen empfindungs- und gefühlshaften Wirkzusammenhang konstellieren. Caspar David Friedrich begründet mit solcher Ansicht die Anfänge eines semiotischen Modells des künstlerischen Schaffens: in der Folge werden Signac, Pissarro, Segantini oder Seurat und viele andere versuchen, ihre Sinnesempfindungen und Gefühle malerisch zu focussieren. Georges Seurat (1859–1891) wird in seinem Atelier sorgsam komponierte Gemälde ausarbeiten, die in ihrer Farb-Räumlichkeit, besonders in den sich gegenseitig steigernden und kontrastierenden Komplementärfarben (Rot – Grün, Gelb – Violett, Blau – Orange), einen farbflächig-synthetisch verdichteten Eindruck hinterlassen. Giovanni Segantini (1858–1899) wird versuchen, seine »Empfindungen, auf die Leinwand (zu)übertragen« (Gottardo Segantini 1949, 52); er betont, dieses mit solcher Leidenschaft zu tun, dass die Stimmung, die er erzeugen will, von der Netzhaut des Betrachters solchermaßen rezipiert wird, dass die nebeneinander gesetzten Farben, jene komplementär verbundenen reinen Farben, miteinander verschmelzen.

3.

Bild-Zeichen werden zu Objekten

Anfang des 20. Jahrhunderts hatte Ludwig Wittgenstein (1889–1951) seine Bildtheorie auf der Analogie von Sprache und Bild begründet. Er meinte, ein Maler könne die Farbflecken so setzen, dass sie in derselben Relation zueinander stünden wie die entsprechenden Elemente in der Landschaft. Er war der Überzeugung, dass die gemeinsame interne Relation (Sprache – Bild) eine vergleichbare logische Form habe, in Entsprechung als zusammengesetzt zu syntaktisieren sei. Wittgenstein nahm auf, was Charles William Morris (1901–1979) mit seinem semiotischen Ansatz umschrieb: Dem Bild, sagte er, könne man eine Syntax (also eine grammatikalische Ordnung), eine Semantik (also ein Zueinander von Bedeutungen) und eine Pragmatik (also eine soziale Funktion) zuschreiben (Morris; vgl. Wiesing 1997, 23). Mit solcher Zuschreibung könne man auch die bildhaftkünstlerischen Exponate der Zeit u. a. semiotisch aufschlüsseln. Gegen Ende des Jahrhunderts wird der Soziologe Niklas Luhmann (1927–1998) diese Gedanken aufgreifen und von einer logischen bzw. 42 https://doi.org/10.5771/9783495817995 .

Fortschritte der Kunsttherapie

systemischen Referenz sprechen, davon, dass »das Kunstwerk … eine Vielzahl von Unterscheidungen (kombiniere) … Farben, Gewichte, Linienführung, Vordergrund/Hintergrund … Verschiedenheit der Perspektiven« (Luhmann 1990,16). Und alle hier zitierten Wissenschaftler waren sich darin einig, dass die zeichen- und symbolhafte Aneignung der Welt die Welt der Objekte, einschließlich der Menschen, zu spiegeln vermöchte.

4.

Wenn Bedeutungen Schnittpunkte bilden

Die Kunst der Zusammensetzung, der Komposition, die Caspar David Friedrich betrieb, leitet bis heute an. Es ist ein formal ästhetischsemiotischer Ansatz, der die Erkenntnistheorie und zunehmend die ästhetische Erkenntnistheorie und – wie bisher beschrieben – die Praxis des künstlerischen Schaffens wie deren theoretische Grundlegung bestimmt. Die visuellen Reize (Farbe, Form u. a. m.) werden wie die akustischen Reize (Laute, Töne u. a. m.) syntaktisch-grammatikalisch und semiotisch-bedeutungsvoll behandelt. Da wo sie aufeinandertreffen, also an den Schnittpunkten der Bedeutungen, erhalten sie Sinn. Die formhaften Bildzeichen des Caspar David Friedrich (horizontale und vertikale Zeichen-Setzung: Segelschiff auf ruhiger See) oder die farblichen Bildzeichen des William Turner (gelb-, ocker-, dunkelrot-farbige Inszenierung grauenhafter Übergriffe auf stürmischer See) werden formalistisch-/formal-ästhetisch »zu formalen Elementen erhoben« (Leonore Kühn 1909, 16 f.) und psychologisch entsprechend verwandt. Es ist u. a. Charles Sanders Peirce (1839–1914), der die Semiotik als Lehre von den Zeichen und der von den durch die Zeichen hervorgerufenen Ideen begründet und differenziert. Während sein erster Zeichentyp, der des Ikon, mit dem Gegenstand nur gewisse Züge gemeinsam hat, allenfalls Ähnlichkeitserfahrungen assoziiert, verweist sein zweiter Zeichentyp, der des Index, auf den Gegenstand in eindeutiger Weise, begründet darin eine kausale Beziehung und Wirkung, und integriert sein dritter Zeichentyp zuweilen ikonische und indexikalische Zeichen, hat aber keinen direkten Bezug zum Objekt und wird als symbolisch erst im interaktionellen Handlungszusammenhang und konsensuell dem Objekt unterlegt (substituiert). Wo dieseswegs Bedeutungen erst konsensuell sich objektivieren, betreten 43 https://doi.org/10.5771/9783495817995 .

Karl-Heinz Menzen

wir evolutionsbiologisch, aber auch entwicklungspsychologisch die Sphäre dessen, den wir einen Menschen nennen. Wir befinden uns, so der Psychosomatiker Thure von Uexküll (1908–2004), an den Grenzen von Bedeutungsunterstellung und Bedeutungserteilung, dort, wo Zeichen zwischen Menschen sinnhaft-angepasst oder gestört-unangepasst erscheinen und im letzten Fall gegebenenfalls der therapeutischen Hilfe bedürfen. Die großartige Leistung Thure von Uexkülls bestand darin, die von ihm so bezeichnete ›Passung‹ im kommunikativen Austausch von Menschen in den drei Weisen des ikonischen, indexikalischen und symbolischen Austauschs differenziert zu haben – und uns, den mit Bildern arbeitenden Therapeuten, ermöglicht zu haben, den zeichenhaften Ausdruck von Menschen gleichermaßen zu differenzieren – sei er ikonisch (Beispiel: im Koma liegend), indexikalisch (Beispiel: in der Psychose die Bedeutungen zu verknüpfen suchend) oder symbolisch (Beispiel: in der Essstörung den eigenen symbolischen Ausdruck nicht mehr verstehen könnend und je anders substituierend). Therapie bedeutete nach Uexküll, die Schnittpunkte des menschlich gestörten Ausdrucks wiederherzustellen, mit allen Mitteln der therapeutischen Kunst, auch mit den Mitteln der Bild- und Heil-Kunst (Menzen, 2017) an den gestörten Ausdruck des Menschen wieder anzudocken.

5.

Von Assoziationen, die sich verbinden

Es ist wie der Blitz in den Augen der Geliebten, »himmlischer, als jene blitzenden Sterne« – so die »Hymnen an die Nacht« des Novalis (1800), der uns darauf hinweist, wie sich die Romantik jenen oben geschilderten Zusammenfall der Bedeutungen denkt. Es ist eine Art der Verknüpfung von Gedanken, Ideen, Vorstellungen, die sich des Zufalls bedient, andererseits sich dieser Zufall nicht einstellen würde. Es ist ein Wissen um die Lehre von der Anziehung und der Abstoßung der Körper (Newton), welches nicht nur im Raum der Physik, sondern auch in dem der Psychiatrie breite Anwendung findet. Die Assoziation von Menschen, die ›aus der Reihe‹, die sozusagen aus dem sozialen Takt geraten sind (so ein Professor Wolfart, 1814), – das ist das Anliegen einiger weniger praktizierender Psychiater, beispielsweise von Johann Christian Reil in Halle, dem die Vereinigung von Molekülen zu einem Molekülkomplex vor Augen steht als einem 44 https://doi.org/10.5771/9783495817995 .

Fortschritte der Kunsttherapie

Modell seiner Gruppenbehandlungen. Die Assoziation erweist sich als das geeignete Modell für jene Menschen, die aus dem gesellschaftlichen Gesamtzusammenhang herausgefallen sind. Die Überlegungen der Zeit zielen darauf, im Takt der psychiatrisch organisierten Gruppentätigkeit, sei sie handwerklich (im Falle der betroffenen unteren Stände), diskursiv (im Falle der betroffenen oberen Stände) oder malerisch (im Falle des Mittelstandes), diesen Gesamtzusammenhang immer wieder abzubilden. Wir stehen am Beginn der bildnerischtherapeutischen Intervention, der Kunsttherapie. Philosophen wie Nietzsche oder Neurologen wie Freud werden an dieses Assoziationsmodell hohe Erwartungen stellen. Friedrich Nietzsche wird diesen ganzheitlichen, analoghaft: atomaren Molekülkomplex zur grundlegenden Hinsicht auf den Menschen erklären; Sigmund Freud wird erkennen, dass angesichts der Verwerfungen von Vorstellungen, die Menschen angesichts von schwer zu bewältigenden Situationen tätigen, jener Vorstellungskomplex wieder aufzudröseln, zu analysieren sei. Seine Assoziationsmethode wird darin begründet. Freud hatte diesen Hinweis, der seine psychoanalytische Praxis in Zukunft bestimmen sollte, von dem Phänomenologen Franz Brentano übernommen. Der hatte gesagt, dass wir Gefahr liefen, nicht akzeptable innere Vorstellungen ›zu verwerfen‹ und auf mühsamem Weg wieder genötigt seien, sie in Augenschein zu nehmen (Brentano). Sigmund Freuds Assoziationsverfahren wird auf der Suche nach Assoziations- und Komplexbildung darauf aus sein, beispielsweise die Verbindungen der visuellen und akustischen Objektassoziationen (Wort-, Klang-, Schriftbild) aufzuspüren (Freud, 1975,172). Er wird im Detail die Assoziationsbahnen auf dem Weg ihrer innerpsychischen Bedeutungserteilung verfolgen und versuchen, wie er in einem Brief an Wilhelm Fließ (vgl. Freud 1986) schreibt, das Krankheitsphänomen der Zeit, das »Zerrbild der Kunstschöpfung« sozusagen, wieder auf seine Reihe zu bringen (vgl. Freud, GW IX, 363). Auf der Suche nach dem die pathologische Reaktion auslösenden Bild begründet Freud seine Methode einer therapeutisch rekonstruierend-assoziativen Behandlung, deren Arbeit er wie folgt beschreibt: Sie bestehe »aus einzelnen … tiefer und tiefer laufenden Stücken« (Freud 1986, 177). Freud legt hiermit die Grundlage für die Erarbeitung inhalts- und formalästhetischer Bildassoziationen. Wenn auch kritisch diese Grundlage hinsichtlich ihrer Triebreduktionismen begleitend, schreibt C. G. Jung begeistert: »Die affektive Störung kann 45 https://doi.org/10.5771/9783495817995 .

Karl-Heinz Menzen

… anschaulich gestaltet werden. Patienten, die etwelche malerische oder zeichnerische Begabung haben, können dem Affekt durch ein Bild Ausdruck verleihen.« (C. G. Jung, 1916: Die transzendente Funktion. GW VIII, 168). Und Jolande Jacobi (1890–1973), seine Mitarbeiterin, wird versuchen, die Spuren des gestörten Affekts in den Zeichnungen ihrer Patienten aufzuspüren; sie wird zum ersten Mal in der Psychotherapiegeschichte versuchen, den gestörten affektiven Ausdrücken ihrer Patienten semiotisch zu begegnen und diese zur Synthese zu bringen.

6.

Heilsame Synthesebildung und neuronale Assistenz

Was wäre, wenn Freud auf der neurologischen Höhe unserer Zeit den Assoziationen seiner Patienten hätte nachspüren können? Was wäre, wenn er um die Notwendigkeit des Zusammenspiels der neuronalen, sprich: der visuellen, akustischen, taktilen usw. Frequenzen, die im Takt eingespielt werden und sich miteinander verbinden wollen, gewusst hätte; erfahren hätte, welchen Anteil unsere Netzhaut bei der Voreinstellung von Farb-, Form- und Bewegungstendenz all dessen, was wir sehen, welchen Anteil unser Zwischenhirn mithilfe der Areale des Corpus Geniculatum und des Pulvinar, des Precuneus und Gyrus Angelaris – wie die Mitspieler alle heißen – hat; wie diese Tendenzen der hinteren occipitalen Hirnrinde mitgeteilt werden, sodass diese die im Takt angelieferten Zell- sprich Wahrnehmungsimpulse zu Wahrnehmungsmustern, d. h. zu Bildgestalten zusammengesetzt werden können? Freud hätte wohl kaum seine Erkenntnis, die fantasmatischen Einsprüche früherer Ich-Bildungen mit ihrer Fähigkeit, diese Bildgestalten zuweilen bis zur Unkenntlichkeit zu verändern, aufgegeben. Diese wichtige Erkenntnis, von Franz Brentano stammend (vgl. Kraus 1919, 107), hieß: ehemalige, mich oft lebenslang begleitende unliebsame Impulse, Wahrnehmungseindrücke gegebenenfalls zu verwerfen und damit das einzuleiten, was wir Verdrängung oder Verleugnung nennen. Und also macht sich der Bildtherapeut an die Arbeit: begleitet die Bilder der Patienten, wie sie sich ihm erlebnis-, d. h. übertragungsgemäß zeigen. Sucht die Schnittpunkte, jene assoziativ möglichen Verbindungen, die ihm die Bilder der Patienten nahe legen. Lebt sich ein in das jeweilige Bild, in dessen Möglichkeiten, wahrgenommen 46 https://doi.org/10.5771/9783495817995 .

Fortschritte der Kunsttherapie

und erlebt zu werden. Bleibt, wenn er sich überhaupt äußert, an den synaptischen Andockstellen, die das Bild ihm und dem Patienten bietet. Auf dass der Patient in die Freiheit versetzt wird, jene Schnittund Anknüpfungspunkte im Bild zu sehen und eben diese zu wählen, die ihn aus den Sackgassen seines Lebens führen.

Literatur Cézanne, P. (1988): Montagne Sainte-Victoire (1904–1906). Eine Kunst-Monographie von Gottfried Boehm. Insel: Frankfurt a. M. Brentano, Fr. (2013): Psychologie vom empirischen Standpunkt: Erster Band (Philosophische Bibliothek). Meiner: Hamburg. Eimer, G. (Hg.) (1999): Caspar David Friedrich. Kritische Edition der Schriften des Künstlers und seiner Zeitzeugen I. »Äußerungen bei Betrachtung einer Sammlung von Gemählden von größtentheils noch lebenden und unlängst verstorbenen Künstlern« (Frankfurter Fundamente der Kunstgeschichte Bd. XVI). Gebr. Mann: Frankfurt a. M. Freud, S. (1940–1968): Gesammelte Werke (GW). Hgg. von A. Freud. London und Frankfurt a. M.: S. Fischer Verlag: Frankfurt a. M. Freud, S. (1975): Studienausgabe: Zehn Bände und ein Ergänzungsband. Bd. 3: Psychologie des Unbewußten. S. Fischer Verlag: Frankfurt a. M. 1969–1979. Freud, S. (1986): Briefe an Wilhelm Fließ. 1887–1904. Hg. von J. M. Masson. S. Fischer: Frankfurt a. M. Gehlen, A. (1965): Zeit-Bilder. Zur Soziologie und Ästhetik der modernen Malerie (1960). Athenäum: Frankfurt a. M. Helmholtz, H. v. (1867): Handbuch der physiologischen Optik, Leopold Voss: Leipzig. Jung, C. G. (1979): Die transzendente Funktion (1916). In: Ges. Werke Bd. 8: Die Dynamik des Unbewussten. Walter-Verlag: Solothurn. Kant, I. (1968): Werke (hg. v. Weischedel). 10 Bde. Wissenschaftliche Buchgesellschaft: Darmstadt. Kraus, O. (1919): Franz Brentano. Zur Kenntnis seines Lebens und seiner Lehre. Beck’sche Verlagsbuchhandlung: München. Kühn, E. (1909): Das Problem der ästhetischen Autonomie. Dissertation; veröff. in: Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft, 4, 16–77, hg. v. Max Dessoir. Lipps, Th. (1903/1906): Ästhetik, Psychologie des Schönen und der Kunst. Zwei Bände. Voss: Hamburg und Leipzig. Lipps, Th. (2015): Vom Fühlen, Wollen und Denken. Vero Verlag: Norderstedt. Luhmann, N., Baecker, D., Bunsen, F. (Hg.) (1990): Unbeobachtbare Welt: Über Kunst und Architektur. Haux Verlag: Bielefeld. Menzen, K.-H. (2017): Heil-Kunst. Entwicklungsgeschichte der Kunsttherapie. Alber-Herder: Freiburg.

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Dorothee Wiewrodt

Kunst als Lebensmittel, Kunst als Überlebensmittel Ein Pilotprojekt zwischen der Neurochirurgie des Universitätsklinikums, dem Kunstmuseum Pablo Picasso und der Malwerkstatt Münster Ein Kribbeln im Arm, Kopfschmerzen, Stimmungsschwankungen, Wesensveränderungen oder auch ein ganz dramatischer Beginn mit einem epileptischen Anfall. Und plötzlich steht die Diagnose eines Hirntumors im Raum. Das ganze Leben steht Kopf. Und das nicht nur für die Betroffenen selbst. Ca. 7000 Menschen in Deutschland erkranken jedes Jahr an einem Hirntumor. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) teilt die Hirntumoren in 4 Grade ein: Die langsam wachsenden und zumindest teilweise gut abgrenzbaren Tumore Grad I und II mit einer günstigeren Prognose sowie die schnell und infiltrierend wachsenden Hirntumore Grad III und IV. Zur Diagnosesicherung wird i. d. R. operiert und zumindest eine Gewebeprobe entnommen. Viele Patienten setzen vor der Operation eine Patientenverfügung auf und machen ihr Testament, da sie sich nicht vorstellen können, nach einem solchen Eingriff noch klar denken zu können. Tumore des zentralen Nervensystems gehören zwar zu den seltenen, aber auch besonders bösartigen Tumoren. Der häufigste Hirntumor ist leider auch der bösartigste, und ein Blick von den Betroffenen ins Internet genügt, um zu wissen: Das mediane Überleben beim Glioblastom WHO Grad IV liegt bei 14,6 Monaten (Stupp et al., 2005). Die Mitteilung, an einem Tumor zu leiden, löst bei fast allen Patienten und ihren Familien Gefühle von Hilflosigkeit, existentieller Bedrohung und tiefer Verzweiflung aus. Viele stellen sich die Frage »Was lohnt sich noch?« wie z. B. das geplante Haus zu kaufen, eine Beziehung einzugehen oder auch morgens noch aufzustehen. Die Patienten durchlaufen dabei ein Wechselbad der Gefühle und Phasen von »Nichtwahrhabenwollen«, »Verleugnen« oder auch »tiefer Depression«. Im Verlauf ihrer Erkrankung entwickeln etwa ein Drittel aller Krebspatienten behandlungsbedürftige psychische Störungen, 49 https://doi.org/10.5771/9783495817995 .

Dorothee Wiewrodt

wie z. B. Depressionen, Ängste oder ausgeprägte psychosoziale Beeinträchtigungen. Professionelle Unterstützung ist hier nötig, um nicht manifest an Depressionen oder Angststörungen zu erkranken. Bei Patienten mit Hirntumoren liegen die Werte noch etwas höher, wobei grundsätzlich gilt, dass der Schweregrad der Erkrankung oder die tumorbedingten Einschränkungen häufig nicht mit der Schwere des Leidens oder dem psychosozialen Unterstützungsbedarf korrelieren. Patienten mit gutartigen Tumoren können ebenfalls schwer belastet sein; und der Unterstützungsbedarf ist auch nicht zu jedem Zeitpunkt der Erkrankung gleich. Eine Analyse mittels Fragebogen unter 621 Hirntumorpatienten (Heese et al., 2010) zeigte, dass die Mehrheit der Patienten neben der Schulmedizin diverse Therapien zusätzlich in Anspruch nehmen. Oft genug auch ohne den behandelnden Mediziner darüber in Kenntnis zu setzen. Dabei reicht das Angebot von homöopathischen Mitteln und Vitaminsubstitution bis hin zu »Wundermitteln«. Dabei ist wesentlich, dass nicht die Unzufriedenheit mit den Ärzten zu teilweise fragwürdigen Heilversprechen greifen lässt, sondern in mehr als 80 % folgende Aspekte entscheidend waren: »Selber etwas zur Therapie beizutragen«, »Körperliche Widerstandskräfte aufzubauen«, »Die konventionelle Therapie zu unterstützen« und »Alles versucht zu haben«. Die neuroonkologische Forschung sieht ihren Mittelpunkt bislang in der somatischen Therapie bestehend aus möglichst weitgehender Resektion und wenn erforderlich, einer nachfolgenden Strahlen- und/oder Chemotherapie. Aufgrund der Lokalisation des Tumors im Gehirn, das für viele Menschen nicht nur Zentrum des Denkens und Handelns, sondern auch als Sitz der Persönlichkeit gilt, führt diese Erkrankung bei den Betroffenen häufig zu einem schweren Einschnitt in die körperliche und seelische Integrität. In einem systematischen Review von Rooney et al. (2011) konnte gezeigt werden, dass Patienten mit Hirntumoren je nach Screeninginstrument in bis zu 39 % der Fälle unter depressiven Symptomen litten und diese wiederum mit körperlichen Funktionseinschränkungen, kognitiven Beeinträchtigungen und reduzierter Lebensqualität einhergingen. In der ambulanten Nachsorge steht die Rezidivangst im Vordergrund. In einer Untersuchung von Arnold et al. (2008) wiesen 48 % der ambulanten Hirntumorpatienten deutliche Angstsymptome auf. Und auch im Langzeitverlauf wurde gezeigt, dass sowohl zu Beginn der Strahlen- bzw. Chemotherapie, aber auch nach 3 und 6 Monaten Hirn50 https://doi.org/10.5771/9783495817995 .

Kunst als Lebensmittel, Kunst als Überlebensmittel

tumorpatienten überschwellig belastet waren. Emotionale Probleme wurden hierfür am häufigsten genannt (Rooney et al. 2013). Diese Belastungen erschweren den Alltag und schränken die Lebensqualität der Betroffenen, aber auch der Angehörigen bzw. des sozialen Umfelds deutlich ein. Untersuchungen von Angehörigen von Hirntumorpatienten zeigen, dass sie ebenfalls unter Distress, Angst und Schlaflosigkeit leiden (Pawl et al, 2013). In einer großen Metaanalyse von Faller et al. (2013) konnte gezeigt werden, dass bei Tumorpatienten psychoonkologische Interventionen, wie z. B. psychotherapeutische Interventionen, Entspannungsverfahren oder auch künstlerische Therapien, gesundheitsbezogen Lebensqualität verbessern und psychische Belastungen und Depressivität senken konnten. Da die Hirntumorerkrankung häufig mit unterschiedlichsten Veränderungen der körperlichen, sinnlichen und geistigen Funktionen verbunden ist und der Erkrankungsverlauf häufig rasch fortschreitet, erfordert es von den Betroffenen und ihren Familien eine aktive Auseinandersetzung mit den zunehmenden Beeinträchtigungen. Dabei ist es leicht, eine »Fehlerfahndung« zu betreiben, denn es gibt genug, »was nicht mehr funktioniert«. Aber genau darum geht es in eben dieser häufig lebensbedrohlichen Situation nicht, d. h. – um es mit Eckhard Schiffer (2001) zu sagen – nicht nach Fehlern und Störungen zu suchen, sondern sich auf eine »Schatzsuche« zu begeben und die schöpferischen Kräfte, die seelische und körperliche Gesundheit ermöglichen und wieder herstellen, ausfindig zu machen. Das Ziel der Begleitung muss deshalb eine Entwicklung neuer Perspektiven, Zielen und Horizonte in einem neuen Alltag mit der Erkrankung sein. Im Rahmen der psychoonkologischen Versorgung am Hirntumorzentrum des Uniklinikum Münster (Sprecher: Prof. Dr. W. Stummer) entstand neben der psychoonkogisch/psychotherapeutischen Begleitung durch Gespräche und Entspannungsübungen (PD Dr. D. Wiewrodt) sowohl ein therapeutisches Angebot mit einem persönlichen Trainingsprogramm (R. Brandt) als auch ein kunsttherapeutisches Angebot (Prof. Dr. M. Wigger). Dieses umfasst neben der Kunsttherapie am Krankenbett, eine ambulante Kunstgruppe sowie regelmäßige Museumsbesuche im Kunstmuseum Pablo Picasso Münster. Der Impuls hierzu kam von einer 42-jährigen Glioblastompatientin, selbst Kunsthistorikerin, die annahm, dass »die Beschäftigung mit der Kunst und auch Museumsbesuche für Patienten wohl51 https://doi.org/10.5771/9783495817995 .

Dorothee Wiewrodt

tuend sein könnten.« Das Kunstmuseum Pablo Picasso Münster (Direktor: Prof. Dr. M. Müller) ließ sich auf dieses Experiment ein. Seit 2013 finden regelmäßig Führungen mit Workshops nur für Hirntumorpatienten und ihre Angehörigen, aber auch für Hinterbliebene unter der Leitung von Museumspädagogin B. Lauro statt. Da Menschen mit einem Hirntumor sich häufig in einer existenziellen Krisensituation befinden und ihr Leben sowohl privat als auch beruflich erschüttert wurde, brauchen diese Menschen Raum und Zeit, um neue Perspektiven entwickeln und soziale Kontakte knüpfen zu können. Für diese Herausforderungen kann neben Familie, Freunden und Therapeuten auch die Kunst eine Hilfe und Orientierung sein. Insbesondere der Museumsraum bietet einerseits einen sicheren und geschützten Ort, andererseits aber auch einen Ort der kulturellen und gesellschaftlichen Teilhabe. Dazu tragen sowohl die spezifische Atmosphäre im Museum als auch die besonderen Rezeptionsbedingungen künstlerischer Werke bei. Die atmosphärischen Bedingungen im Kunstmuseum Pablo Picasso werden bestimmt durch die Ausstellungs- und Werkstatträume, die darin ausgestellte Kunst und die Art der pädagogischen und therapeutischen Begleitung durch die Museumspädagogin. Sie machen das Museum zu einem Ort, an dem der Patient sich nicht nur in seiner Symptomatik, sondern auch in seinen individuellen Möglichkeiten als Person selber erleben kann. Die Begegnung mit künstlerischen Werken und Ausdruckformen ermöglicht dem Patienten, sich der Gegenwart sinnlichen Erlebens zu überlassen und Entlastung zu erfahren. Darüber hinaus haben die Museumsbesuche Einfluss auf die Kommunikation zwischen Patienten und Angehörigen, da sie in der Kunst einen neuen, sinnvollen Bezugspunkt und neue krankheitsunabhängige Themen finden können. Und schließlich haben die Betroffenen in der künstlerischen Arbeit die Möglichkeit, für existentielle Fragen künstlerische Formulierungen zu finden und dabei individuelle Coping-Strategien zu entwickeln. Darüber hinaus gibt es Gelegenheit zur Kommunikation unter den Betroffenen oder auch den Angehörigen. Positive Rückmeldungen zeigen den Wert dieses Angebotes, wie diese E-Mail verdeutlichen mag: »Am Ostermontag verstarb meine liebe Ehefrau […], und wenngleich wir nur wenige Male an den Führungen und Workshops im Picassomuseum teilnehmen konnten, hat meine Frau diese sehr genossen und die Besuche haben ihren Lebensmut angestachelt. Noch am Dienstag in der Karwoche hat sie ihre 52 https://doi.org/10.5771/9783495817995 .

Kunst als Lebensmittel, Kunst als Überlebensmittel

Kreativität beim Bemalen ausgeblasener Eier mit dem Enkel ausgelebt und genossen. Man konnte sie letztmalig richtig glücklich erleben. Ironie des Schicksals: Seit Karfreitag hängen zwei Drucke von ihren Werken aus dem Picasso-Museum in unserem oberen Flur. Beim Aufhängen gab es noch keinen Gedanken an einen nahen Tod … […] schöne Erinnerungen an das Leben an der Seite einer starken Frau.« Oder ein 51-jähriger Glioblastompatient, der aus dem Hospiz die Einladung zum nächsten Museumsbesuch aus zeitlichen Gründen absagen muss und anfügt: »[…] Ich würde wirklich gerne kommen, aber ich kann mich nun mal nicht zerreißen und klonen mit meinem Tumor, ist vielleicht auch nicht so schlau ;-).« In diesem Zusammenhang sei auf eine Stunde in der Malwerkstatt Münster hingewiesen, in der das Thema »Gehirn« im Mittelpunkt der Gruppe stand. Der Wunsch der Patienten war, das Thema mit Ton umzusetzen. Auffällig war, dass trotz Hirnoperation und Bestrahlung die Anwesenden das eigene Gehirn, als »ganz« wahrnahmen und kein Patient »seinen« Hirntumor modellierte (Abb. 1).

Abb. 1: Gehirne aus Ton

Manchmal geben die Museumsbesuche oder auch die Kunstgruppe Impulse, zu Hause selber kreativ zu werden, wie bei dieser 34-jährigen Hirntumorpatientin (JR), die durch die Strahlen- und Chemotherapie so beeinträchtigt war, dass sie das Haus kaum noch verlassen 53 https://doi.org/10.5771/9783495817995 .

Dorothee Wiewrodt

konnte. Sobald es ihr nur etwas besser ging, setzte sie sich zu Hause an ihren Tisch und fertigte Collagen an, die sie mir dann – nicht ohne Stolz – zumailte. Es entstand die Serie »Der Winter« bestehend aus fünf Materialcollagen. In der Serie werden die behandelnden Therapeuten der jungen Frau zu bedeutenden Protagonisten der eigenen Krankengeschichte (Abb. 2). Ihre Psychoonkologin bekommt die magischen Kräfte von »Superwoman« zugeteilt und ihr behandelnder Neurochirurg verwandelt sich (im Sinne seines Nachnamens) zum Wolf, der es mit dem Tumor aufnehmen kann. Chemo- und Strahlentherapeuten sind mit im Team und agieren ganz im Sinne einer guten Star Wars Episode, die auf einen erfolgreichen Sieg gegen den Feind hoffen lässt. Sie selber ist in der Serie das kleine Mädchen, das mal zeichnerisch dokumentierend, mal Hand in Hand mit Superwoman Teil der eigenen hoffnungsvollen Geschichte ist.

Abb. 2: Die Superhelden bekämpfen den Kraker (farbige Abbildung im Anhang)

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Kunst als Lebensmittel, Kunst als Überlebensmittel

Als weiteres Beispiel sei noch folgende Szene gezeigt, von der sie selber sagt: »Dann kam noch diese Zwischenszene (Abb. 3). Das Labyrinth als Symbol für die Verzweiflung, die Hilflosigkeit, das Aussichtslose. Aber auch die Begleitung. Und der Wolf, der vielleicht den Weg zeigt und sagt, hier geht es raus«.

Abb. 3: Das Labyrinth (farbige Abbildung im Anhang)

Zu der Entstehung der Bilder sagt sie selber: »Für mich ist das Kreative keine Ablenkung, sondern intensive Auseinandersetzung mit einem Thema. Ich habe ganz viel Spaß daran. Die Bilder formen sich im Kopf – und dann setzte ich sie um. Wenn sie fertig sind, sind sie fertig – und sie dürfen dann auch mal nicht perfekt sein. Ich bin stolz auf meine Bilder«. Die Bilder dieser jungen Frau sind intensive Auseinandersetzung mit dem Medium, mit dem persönlichen Thema und mit einem lebendigen künstlerischen Gestaltungsdrang. Der Maler Dubuffet fasste die spezifische Qualität oder Kraft des Kunstschaffens folgendermaßen in Worte »So viel ist sicher: Ein Bild 55 https://doi.org/10.5771/9783495817995 .

Dorothee Wiewrodt

interessiert mich in dem Maße, wie es mir gelingt darin eine Art Flamme zu entfachen – die Flamme des Lebens, des Daseins oder der Existenz oder der Realität, je nachdem was wir unter diesen Wörtern verstehen. Gewiss passiert es mir oft, dass meinen Bildern diese Qualität fehlt … So oder so arbeite ich weiter, ich füge hinzu und nehme weg, ich verändere und revidiere (beachten Sie, dass ich empirisch arbeite, wie ein Blinder, und mit allen möglichen Mitteln experimentiere) bis in dem Bild eine gewisse, außergewöhnliche Freisetzung stattfindet und von da an scheint es mir mit diesem Leben, Verzeihung mit dieser Realität ausgestattet zu sein. Wie ist das zu erklären? Ich habe keine Ahnung …« (Dubuffet 1957. In: Miller 1988). Die Erzählungen der Patientin über die Entstehungsprozesse ihrer Werkgruppe ist durchaus von vergleichbarer Qualität: Suchen – Herantasten – Ausprobieren – Verwerfen – Finden – Annehmen und verknüpft mit der Hoffnung auf ein gutes Ende der Geschichte. Charakteristisch seien in den intensiven Gestaltungsphasen markante »Schnipsel« aus diversem Collagenmaterial an ihren Wollsocken. Diese sind Fragmente aus dem Fundus und Materialkosmos, in den die junge Frau beim Herstellen ihrer Collagen eintaucht. Die Schnipsel sind Relikte dieses Prozesses, vergleichbar mit einem Herbstblatt unter dem Schuh nach einem Spaziergang in der Natur. Das körperliche Befinden während der intensiven Schaffensphase kann laut der jungen Patientin dabei sehr konträr gegenüber dem sonstigen Allgemeinbefinden sein und viel Energie freisetzen. »Mit der Fähigkeit zur Imagination und zur Fiktion ist eine ungeheure Freiheit gewonnen, ein unbegrenztes Reich des Möglichen eröffnet. Für Schiller (1801) ist der Mensch dort frei, »wo alles Wirkliche seinen Ernst verliert«, also seinen unmittelbar-nötigenden Charakter, und wo er mit den Möglichkeiten spielen kann. Im Spiel und in der Kunst betritt er eine Welt des Als-ob, eine Welt des Scheins nicht im illusionär-täuschenden Sinn, sondern im Sinne der Freiheit von unmittelbarem Realitätsdruck. Der Wirklichkeitssinn erweitert sich um einen »Möglichkeitssinn«, wie Musil es nannte. Wir sehen nicht nur das Faktische, sondern zugleich immer auch das Mögliche im Faktischen. Die bildnerische und überhaupt künstlerische Produktion ist die Veräußerlichung dieser inneren Freiheit, die Rückübertragung der Imagination in die stoffliche und sichtbare Welt – ein Handeln, das dabei doch immer ein »Probehandeln« bleibt, da es sich »im Rahmen der Kunst bewegt« (Fuchs, 2016). Nahezu alle Hirntumorpatienten teilen ihr Leben ein in ein Le56 https://doi.org/10.5771/9783495817995 .

Kunst als Lebensmittel, Kunst als Überlebensmittel

ben »vor der Diagnose« und ein Leben »nach der Diagnose«. Viele berichten, dass die Unbeschwertheit verloren gegangen und das Leben schwieriger geworden sei. Neben einer exzellenten medizinischen Versorgung der Hirntumorpatienten am Universitätsklinikum Münster haben sich Gesprächs-, Sport- und Kunsttherapie als wichtiger Teil im Gesamtkonzept der Hirntumortherapie etabliert. Der Betroffene kann wählen, ob und welche Angebote er ausprobieren oder nutzen möchte, und immer geht es darum, die gesunden Anteile zu betonen und seinen Alltag trotz und mit der Erkrankung besser meistern zu können. Dieses spiegelt auch das folgende Statement wieder, das eine 51jährige Patientin zu dem kunsttherapeutischen Gruppenangebot schrieb: »Ich lasse wieder positive Gefühle zu: Ich lache und genieße wieder. Dass das geht, habe ich in der (Kunst-)Therapiegruppe gelernt. Gemeinsam kann man unsere Erkrankung besser ertragen. Es gibt ein Leben nach dem Hirntumor.«

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Dorothee Wiewrodt Rooney, A. G., McNamara, S., Mackinnon, M., Fraser, M., Rampling, R., Carson, A. & Grant, R. (2011). Frequency, clinical associations, and longitudinal course of major depressive disorder in adults with cerebral glioma. In: J Clin Oncol. 29 (32): 4307–12. Rooney, A. G., McNamara, S., Mackinnon, M., Fraser, M., Rampling, R., Carson, A. & Grant, R. (2013). The frequency, longitudinal course, clinical associations, and causes of emotional distress during primary treatment of cerebral glioma. In: Neuro Oncol. 15 (5): 635–43. Schiffer, E. (2001). Wie Gesundheit entsteht: Salutogenese: Schatzsuche statt Fehlerfahndung. Weinheim: BELTZ Taschenbuch. Schiller, F. (2000). Über die ästhetische Erziehung des Menschen, 15. Brief (1801). Stuttgart: Reclam. Stupp, R., Mason, W. P., van den Bent, M. J., Weller, M., Fisher, B., Taphoorn, M. J., Belanger, K., Brandes, A. A., Marosi, C., Bogdahn, U., Curschmann, J., Janzer, R. C., Ludwin, S. K., Gorlia, T., Allgeier, A., Lacombe, D., Cairncross, J. G., Eisenhauer, E., Mirimanoff, R. O., European Organisation for Research and Treatment of Cancer Brain Tumor and Radiotherapy Groups & National Cancer Institute of Canada Clinical Trials Group (2005): Radiotherapy plus concomitant and adjuvant temozolomide for glioblastoma. In: N Engl J Med, Mar 10;352 (10): 987–96.

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II. Künstlerische Therapien im Kontext der Salutogenese

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Georg Franzen

Kunst & Psyche – psychologische Aspekte künstlerischer Therapien Die Grotte von Niki de Saint Phalle in den Herrenhäuser Gärten Die Künstlerin Die französische Malerin, Bildhauerin, Architektin und Aktionskünstlerin Niki de Saint Phalle (1930–2002) zählte zu den produktivsten und bekanntesten Popartistinnen der internationalen Kunstszene. Weltberühmt machten sie ihre Darstellungen der farbigen, breithüftigen und großbrüstigen Frauenskulpturen, der »Nanas«. Niki de Saint Phalle hat vor dem Hintergrund des eigenen psychischen Leidens und ihrer künstlerischen Intentionen archetypische Ebenen in ihren Kunstwerken transformiert. Sie thematisiert in ihren Arbeiten die Aufarbeitung des eigenen Traumas (Missbrauch durch den Vater) und die schmerzhaften Rollen der Frau. Bevor Niki de Saint Phalle ihre Nanas erschuf, durchlebte sie die schmerzhafte Phase ihrer Kunst. Sie beschäftigte sich mit den verschiedenen Rollen der Frau. »Von der Provokation zog ich mich in eine innere, weibliche Welt zurück. Ich fing an Bräute, Herzen, Gebärende, Huren zu machen, verschiedene Rollen, die Frauen in der Gesellschaft haben können« (Kunst- und Ausstellungshalle Bonn 1995, S. 164). So entstehen ihre Nanas aus der authentischen Auseinandersetzung der Künstlerin »mit ihren tiefen Verletzungen im Selbstgefühl und im Selbstbild. Sie symbolisieren eine weiche, liebe- und machtvolle, matriarchalisch anmutende Urmutter« (Niemeyer-Lange (2004, S. 77). In späteren Ausführungen nimmt die Künstlerin im Rückblick auf ihr künstlerisches Werk Bezug auf den Mutter-Archetyp. »Als ich die ›Nanas‹ machte, wusste ich nichts über die ›Venus von Willendorf‹, einer der ersten Skulpturen, die in der matriarchalischen Gesellschaft entstanden sind. Sie stellte die Göttin der Fruchtbarkeit dar und sieht genau wie eine meiner Nanas aus. Als ich die Bilder von dieser Venus sah, war ich fasziniert. Die unbewussten Träume der Menschen, die vor mehr als dreißigtausend Jahren lebten, waren mit 61 https://doi.org/10.5771/9783495817995 .

Georg Franzen

Abbildung 1: Niki Saint Phalle, Grotte (farbige Abbildung im Anhang)

meinen identisch« (Krempel 2001, S. 50). Bezeichnenderweise haben die Skulpturen von Niki de Saint Phalle ähnliche Rundungen, sie erinnern an gebärende Frauen, an Schwangerschaft und an das haltgebende Mütterliche. »Nach der Erfindung der Nanas, ihren poetisch-wilden Frauenfiguren, trat zum malerischen Werk der Künstlerin die Dimension der Skulptur und des Raumes« (Krempel 2003, S. 20). Vor allem begehbare Skulpturen im Innen- wie Außenraum nahmen einen wichtigen Aspekt im Werk der Künstlerin ein (vgl. Krempel 2003, S. 23), u. a. der bekannte Tarot-Garten in der Toskana. Die Symbolik der »Nanas« findet sich auch in einem ihrer letzten realisierten Kunstprojekte: Die Grotte in den Herrenhäuser Gärten. Sie gehört zu den eindrucksvollen begehbaren Kunstobjekten der Künstlerin, in der Kunst dreidimensional erfahrbar ist und ihr damit auch eine besondere rituelle Funktion zukommt.

Kunst als Ritual Niki de Saint Phalle gestaltete in den Herrenhäuser Gärten in Hannover eine 1676 erbaute Grotte neu, wobei diese Räume schon damals als Ort der Verzauberung, als Behausungen von Nymphen und Waldgöttern und als Rückzugsmöglichkeit an heißen Sommertagen 62 https://doi.org/10.5771/9783495817995 .

Kunst & Psyche – psychologische Aspekte künstlerischer Therapien

dienten (vgl. Preissel 2003, S. 12). Nach ihrer Restaurierung zur Expo 2000 wurde die Grotte 2001 bis 2003 nach den Plänen von Niki de Saint Phalle neu ausgestaltet. Seit 1999 arbeitete die Künstlerin an dem Kunstobjekt. Ein Jahr vor der Fertigstellung verstarb die Künstlerin. Die Wände und Decken der Grotte wurden mit Glasfasergewebe ausgespritzt. Danach wurde das Material mit Spiegeln und Glas beklebt und anschließend die Polyesterfiguren aufgeklebt (vgl. Clark u. Heidrich Peiers 2003, S. 25 ff.). Der achteckige Mittelraum und die beiden rechts und links anschließenden Räume der Grotte wurden durch Mosaike aus buntem Glas und Spiegeln, mit Kieseln und zahlreich bemalten, plastischen Figuren geschmückt. Zunächst schwebte Niki vor, die drei Grotten jeweils einem der drei Altersabschnitte des Menschen zu widmen: der Jugend, dem reifen und dem hohen Alter. Das war ihre ursprüngliche Idee. »Mit der Zeit nahm die Sache für sie eine kosmischere Dimension an. Sie äußerte sich sehr klar, direkt – gerade als würde sich alles vor ihrem geistigen Auge entfalten. Wie einer inneren Notwendigkeit, einer starken Vision folgend, ergab sich ein Gedanke aus dem anderen. An jenem Tag zählte sie mir ihre Symbole der drei Altersabschnitte des Menschen auf. Sie war die Magierin, ich der Schreiber und ich schrieb …« (Lejeune 2003, S. 37). Die Künstlerin hat die Grotte in drei Räume gestaltet: den Spiegelraum »Tag und Leben«; den Mittlere Raum »Spiritualität« und den Blauen Raum »Nacht und Kosmos«. Die spiralförmigen Ornamente um die Säule in der Eingangshalle sollen Spiritualität symbolisieren. Der Spiegelraum mit dem Thema Tag und Leben zeigt mit über 40 Relieffiguren Bespiele aus fast allen Schaffensperioden der Künstlerin. Neben den Allegorien des Lebens werden auch alle persönlichen und künstlerischen Erfahrungsebenen der Künstlerin symbolisch ausgedrückt: Trauma, Krisen, Glücksmomente, Wandlungen, Spiritualität und Transzendenz. Der Blaue Raum ist der Nacht und dem Kosmos gewidmet. Bunte Frauenfiguren tanzen in den nachtblauen Himmel und greifen nach den Sternen. »Es ist ein Repertoire von wiedererkennbaren Zeichen und Symbolen, dabei eine Bildsprache von Leben und Tod. Plastisch kräftig, starkfarbig, ist es von einem unendlichen Bedürfnis nach Schönheit erfüllt, nach grellen Kontrasten und tröstlicher Vitalität, unangepasst und unabhängig wie Niki de Saint Phalle selbst« (Bode 2003, S. 49). Die Fenster und Türen der Grotte sind mit speziell von Niki de Saint Phalle entworfenen Gittern versehen, die ebenfalls 63 https://doi.org/10.5771/9783495817995 .

Georg Franzen

Abbildung 2: Niki de Saint Phalle, Grotte

mit Glas und Spiegeln beklebt sind. Niki hat die Grotte in einen Ort des Staunens zurückverwandelt (vgl. Bode 2003, S. 46). Wenn die Sonne von außen durch die Fenster hineinscheint, wird der Raum von einem besonderen Zauber umgeben, da die Farben sich noch intensiver spiegeln. »Wer die Grotte betritt, wird – eine gewisse Empfänglichkeit vorausgesetzt – in ihren Zauber hineingezogen. Und er fühlt sich zwischen Licht- und Farbbewegungen, zwischen Schlieren und Schleiern und dichten Verknüpfungen von Rot-Orange, Gelb und Silber als Teil eines seltsam lebendigen Kunstwerks, das nebenbei und durchaus suggestiv vorführt, wie die Idee des entfesselten Elements Licht und Feuer abstrakte Gestalt annehmen kann« (Bode 2003, S. 51). Die Grotte hatte ursprünglich eine rituelle Funktion. Sie diente als ein Ort des Rückzuges, der Verzauberung und der Imagination. Niki de Saint Phalle hat diesen archetypischen Charakter durch ihre Gestaltung wiederbelebt. Durch das Begehen bzw. Durchschreiten des Kunstwerks wird diese Tradition gleichsam wieder64 https://doi.org/10.5771/9783495817995 .

Kunst & Psyche – psychologische Aspekte künstlerischer Therapien

erfahrbar, wobei mit der künstlerischen Umsetzung des Innenraums die Tiefendimension von visuellen und imaginativen Erfahrungen erweitert wird. Kunsträume bieten eine rituelle Teilhabe, in der eine »symbolische Botschaft« (vgl. Schuster 2008, S. 154) erfahren werden kann. Im Mittelpunkt eines Rituals steht im Sinne der Analytischen Psychologie C. G. Jungs die Integration von unbewussten seelischen Inhalten. Affekte, Symbole und Komplexe gelangen durch eine gleich ablaufende Handlungsfolge oder einen künstlerischen Gestaltungsprozess zu einer Vereinigung. Beim Betrachten eines Kunstraumes ist es möglich, über eine symbolische Erfahrung und Imagination an der künstlerischen Ritualisierung teilzuhaben. Der rituelle Prozess von Kunst vollzieht sich in verschiedenen Phasen, die folgende mögliche Ebenen beinhalten: Einstimmung/Einfühlen/Empathie Loslassen/Entspannung Imagination Offenbarung Assoziation Katharsis. Empathie kann bezogen auf die Kunst definiert werden, als ein SichEinfühlen bzw. als ein zunächst spontanes, unvoreingenommenes Sich-Einlassen bei der Betrachtung eines Kunstwerkes. Dabei sind subjektive psychische Qualitäten wie die Intuition gefragt. Es geht darum Gedanken, Wünsche, Gefühle und Phantasien zu erfassen. Dennoch ist ja gerade die Einfühlung in das Kunstwerk eine wichtige Voraussetzung, um den »Sinn-Gehalt« zu verstehen und etwas von der »Psychischen Energie« des Kunstwerkes aufzunehmen. Die Erzeugung innerer Vorstellungen und Bilder kann das psychische Wohlbefinden, das Selbstwertgefühl und das Auftreten eines Menschen wesentlich beeinflussen. Hier steht daher auch die Imaginationstherapie im Vordergrund der Behandlung, um z. B. einen »Inneren sicheren Ort« herzustellen. Hanscarl Leuner (1994, S. 126) spricht im Zusammenhang mit der Katathym-Imaginative Psychotherapie bzw. mit der Tagtraumarbeit von einer Mikro-Katharsis. »Die Mikro-Katharsis ist bei einer großen Gruppe von Patienten eine natürliche Begleitreaktion des Tagtraumes. Sie wirkt entlastend und fördert den therapeutischen Prozess in hohem Maße. Abreaktionen im engeren Sinne stellen eine Steigerung dessen dar, indem etwa 65 https://doi.org/10.5771/9783495817995 .

Georg Franzen

Ängste, Missstimmungen, Befürchtungen, depressive Reaktionen angesichts entsprechender anderer Motive, szenischer Abläufe oder Begegnungen mit Symbolgestalten freigesetzt werden (Leuner 1994, S. 126). Kunsträume, wie die Grotte von Niki de Saint Phalle, bieten insbesondere die Möglichkeit Imaginationen zu entfalten. Kreitler und Kreitler (1980, S. 31) erklären, dass das Kunsterlebnis von Spannungen motiviert wird, die zwar vor seinem Eintreten existieren, aber von der Erzeugung neuer Spannung durch das Kunstwerk aktiviert werden. »Ein kennzeichnender Gesichtspunkt des Kunsterlebnisses besteht aus dem persönlichen Beteiligt sein, wobei Beteiligt sein die Erweiterung des Erlebnisses der hervorgerufenen Spannung und Entspannung und der persönlichen Relevanz der erarbeiteten Bedeutung impliziert« (Kreitler und Kreitler 1980, S. 419). Die Skulpturen von Niki de Saint Phalle implizieren zugleich eine Bewegung, die eine psychische Bewegung in das Körperliche überführt. Da der Kunstraum begehbar ist vollziehen sich die Bewegungen auf zwei Ebenen. Sie können dementsprechend nachgelebt und nachgestellt werden. Damit können intrapsychische Spannungen des Betrachters gleichsam aufgelöst werden, d. h. es kann bereits nur durch die alleinige Betrachtung auch zu einer Auflockerung des Muskeltonus kommen. Nach der Definition von Thomas Scheff (1972, S. 114) können Spannungszustände vollständig durch Katharsis gelöst werden. Katharsis (Läuterung) bezieht sich »auf das Wiedererleben vergangener emotionaler Krisen in einer sicheren Umgebung«. Bei der ästhetischen Distanz besteht ein Gleichgewicht (Balance) von Denken und Fühlen. Gefühle und Stimmungen, die in der rituellen Erfahrung von Kunst möglich sind: Wut Schmerz Fröhlichkeit Auch die Neuroästhetik beschäftigt sich zunehmend mit dem stabilisierenden Einfluss von Kunstwerken. Neben den neuronalen Grundlagen des Kunstschaffens rücken in den letzten Jahren unter dem Schlagwort der Neuroästhetik vor allem neurowissenschaftliche Aspekte der Rezeption von Kunst in den Blickpunkt der Forschung (vgl. Dressler 2009, S. 25). Zusammenfassend ließ sich feststellen, dass sich die objektive Ästhetik von Kunstwerken von ihrer individuellen subjektiven Bewertung unterscheiden lässt und sich dieser Unter66 https://doi.org/10.5771/9783495817995 .

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schied in der Betrachtungsweise zugrundeliegender neuronaler Aktivität widerspiegelt (vgl. Dressler 2009, S. 27). Hier bestätigt Kersten (2009, S. 42) im Rahmen seiner neuropsychologischen Forschungen, dass in der Kunstwahrnehmung die gesteigerte Aufmerksamkeit, die unmittelbar emotionale Wirkung und die metaphorische Bedeutung der Bildwerke von besonderer Bedeutung sind. Für Schurian ist Kunst weiterhin dadurch gekennzeichnet, dass sie autopoetisch wirkt: Wie es »Poiesis« wörtlich ausdrückt, ist es die schöpferische Kraft, die der Kunst zufällt und von ihr ausgeht (Schurian, 1993, S. 7). Damit sind Begrifflichkeiten wie das bewusste Erleben von Kunst gemeint, die eher der phänomenologischen Psychologie zugerechnet werden können. Ohne die wahrnehmende und emotionale Beteiligung der Betrachter ist Kunst unvollkommen. Im Zusammenwirken von Betrachtern und Künstlern vollzieht sich nicht nur die Wandlung eines zweidimensionalen Abbildes auf einer Leinwand zur dreidimensionalen Abbildung der sichtbaren Welt – die Betrachter interpretieren auch ganz individuell, was sie auf der Leinwand sehen, und weisen dem Bild damit Bedeutungen zu (vgl. Kandel 2012, S. 230). Die Betrachtung von Kunstwerken kann im Rahmen der rezeptiven Kunsttherapie und in imaginativen Verfahren genutzt werden, um emotionale Erlebnisinhalte und Rückblicke auf die eigene Biographie besser zu verbalisieren.

Symbolische Erfahrung Rollo May (1987, S. 8) spricht in diesem Zusammenhang von der Begegnung zwischen bewusster und unbewusster Erfahrung. Für C. G. Jung (G.W. 9/1, § 291) entstehen die Symbole des Selbst in der Tiefe des Körpers und drücken dessen Stofflichkeit ebenso sehr aus wie die Struktur des wahrnehmenden Bewusstseins. Ähnlich wie bei der Traumdeutung können dann künstlerische Symbole auf der Subjekt- oder Objektstufe erlebt werden, d. h. auch als Bedeutungsträger für eigene subjektive Erfahrungen stehen, die sich symbolisch vermitteln. Im Gegensatz zum Traum aber enthält das Kunstwerk einen ganz erheblichen Anteil von wacher und bewusster Verarbeitung und ist somit bereits eher als eine Kompromissbildung zwischen Bewusstsein und Unbewusstem aufzufassen (vgl. Dieckmann 1981, S. 36). In der modernen Kunstpsychologie zeichnen sich Kunstwerke durch 67 https://doi.org/10.5771/9783495817995 .

Georg Franzen

Abbildung 3: Niki de Saint Phalle, Grotte (farbige Abbildung im Anhang)

Selbsterhaltung, Selbstveränderung und Selbstkatalyse aus. »Emanation ist ein Kriterium für die Selbsterhaltung desjenigen Anteils des Kunstwerks, das lebt: das sich verändern kann, unmodern, vergessen werden, vergehen, erst entdeckt werden und dann wieder Wirkung zeigen kann. Dies alles geschieht über die Ausstrahlung jener Energie, die einmal in es hinein geformt wurde« (Schurian 1992, S. 89). Die symbolische Erfahrung der Kunstbetrachtung ist daher mit psychischer Energie besetzt. Diese psychische Energie vermittelt sich dann über das Kunstwerk. Der Betrachter kann sich auf die Bilderwelten einlassen und einen energetisch besetzten Beziehungsraum erleben, der dann zugleich bewusste und unbewusste Prozesse auslösen oder in Gang setzen kann. Diese Wirksamkeit belebt damit ebenso die symbolische Erfahrung von Kunst. Niki de Saint Phalle hat die Grotte mit zahlreichen Symbolen ausgestattet, die in der Tiefendimension folgende Bedeutungsinhalte besitzen:

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Abbildung 4: Niki de Saint Phalle, Grotte

AUGE Allwissenheit; Erleuchtung; Wissen; Schutz; Intuition; Organ des Lichts Symbolisch verbunden mit unserer Bewusstheit über unsere Gefühle Das Auge gewährt Zugang zu unserer Seele Sehen, Beobachten, Gesehen werden

SCHLANGE Symbol der psychischen Energie; Wandlung; Veränderung Ambivalenz zwischen männlicher und weiblicher Sexualität Kräfte aus ich-fremder Seelentiefe; unbewusste Lebensenergie Uroboros-Kreislauf der Lebensenergie

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Abbildung 5: Niki de Saint Phalle, Grotte

SPINNE Zentrierung der psychischen Energie auf die Mitte Nervensystem, Überlastung Symbol für Abhängigkeiten in Beziehungen Ungelöste Mutterbindungen, Sexualität Opfersymbol, Sexuelle Bedrohung

KOPF Sitz der Lebenskraft; Weisheit; Geist Beherrschung; Herrschaft Ianus: Zweiköpfige Figuren symbolisieren Anfang und Ende; Ambivalenz; Gespalten sein; Vergangenheit und Zukunft Bewusstsein; Denkvermögen und intellektuelle Fähigkeiten; Abspaltung von Gefühlen

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KÖRPER Symbolisiert die Funktion des seelischen Gleichgewichts Funktionsfähigkeit Ganzheitssymbol Darstellung des Selbst Abgrenzung

VOGEL Transzendenz der Seele; Offenbarung; Macht der Seele, Symbol der Seele Bewusste und unbewusste Gedanken und Phantasien Sexuelle, erotische Gefühle Gedankenflüge, Freiheit des Geistes

SONNE Die höchste kosmische Macht; Zentrum des Seins; Intuitive Erkenntnis; Urkraft für alles Lebendige Bewusstsein, Energie, Tatkraft Leidenschaft

MOND Symbolisch für die intuitiv-weibliche Seite Weiblicher Zyklus Halbmond ist das Symbol der großen Mutter Ist die Sonne, »el Sol«, der große Herr des Tages und seiner klaren Bewusstheit, bleibt der Mond – in den meisten Sprachen – als »Luna« die milde Herrscherin der Nacht, das Licht des Unbewussten Sonne und Mond Synthese

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Abbildung 6: Niki de Saint Phalle, Grotte

ELEFANT Der Gott Ganesha wird elefantenköpfig dargestellt; die Stärke der heiligen Weisheit; Klugheit Geduld Symbol der Mutter Erde, die uns trägt Schwere und Lasten des Lebens Symbole sind ein Schlüssel zu den subjektiven Lebensentwürfen, sie bieten einen Weg, um das Leiden zu verstehen, es über Assoziationen zu erschließen und an neuen Mustern zu arbeiten, perspektivisch neue Pläne zu entwerfen, die eine größere Lebenszufriedenheit ermöglichen. Bei der Begehung des Kunstwerks mit Patienten mit einer chronisch depressiven Grunderkrankung stellten sich spontan Assoziationen von »mütterlicher Geborgenheit und Lebensfreude« ein. Gleichzeitig schien auch die ursprünglich rituelle Funktion der Grotte wiederbelebt, als Ort der Verzauberung und Imagination. Das Erle72 https://doi.org/10.5771/9783495817995 .

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ben im Kunstraum bot einigen Patienten Parallelen zu einem imaginierten »Inneren sicheren Ort«. Diese Erfahrungen konnten als Sinnbilder von den Patienten mitgenommen werden, denn künstlerische Produktionen bieten dieses weite Spektrum und liefern Perspektiven zur seelischen Gesundung (vgl. Franzen 2003, S. 2009).

Literatur Bode, U. (2003). Die Sprache von Leben und Tod. In: Landeshauptstadt Hannover (Hg.): Niki de Saint Phalle. La Grotte, S. 45–52. Hannover u. OstfildernRuit: Hatje Cantz. Clark, R. u. Heidrich-Peiers, B. (2003). Die künstlerische Ausgestaltung der Grotte durch Niki de Saint Phalle. Chronologie eines Projektes. In: Landeshauptstadt Hannover (Hg.): Niki de Saint Phalle. La Grotte, S. 25–34. Hannover u. Ostfildern-Ruit: Hatje Cantz. Dieckmann, H. (1981). Archetypische Symbolik in der modernen Kunst. Hildesheim: Gerstenber. Dresler, M. (Hrsg.) (2009). Neuroästhetik. Kunst-Gehirn-Wissenschaft. Leipzig: E. A. Seemann. Franzen, G. (Hg.) (2009). Kunst und seelische Gesundheit. Berlin: MedizinischWissenschaftliche Verlagsgesellschaft. Franzen, G. (Hg.) (2009). Katathymes Bilderleben und künstlerische Therapien. Themenheft »Musik-Tanz-und Kunsttherapie« 4/2009. Göttingen: Hogrefe. Franzen, G. (2012). Kunst & Psyche – psychologische Aspekte künstlerischer Therapien. In: Wulf Rössler u. Birgit Matter (Hg.): Kunst- und Ausdruckstherapien, S. 66–75. Stuttgart: Kohlhammer. Jung, C. G. (1995). Gesammelte Werke (Sonderausgabe) Düsseldorf: Walter. Kersten B (2006). Kunstwahrnehmung. Wie es uns gefällt. In: Gehirn & Geist. Nr. 3/2006, S. 50–57. Heidelberg: Spektrum der Wissenschaft. Kandel, E. (2012). Das Zeitalter der Erkenntnis. Die Erforschung des Unbewussten in Kunst, Geist und Gehirn von der Wiener Moderne bis heute. München: Siedler. Krempel, U. (Hg.) (2001). La Féte. Die Schenkung Niki de Saint Phalle. Werke aus den Jahren 1952–2001. Hannover u. Ostfildern-Ruit: Hatje Cantz. Krempel, U. (2003). Grotten; Höhlen, begehbare Skulpturen im Werk der Niki de Saint Phalle. In: Landeshauptstadt Hannover (Hg.): Niki de Saint Phalle. La Grotte, S. 19–24. Hannover u. Ostfildern-Ruit: Hatje Cantz. Kreitler, H. u. Kreitler S. (1980). Psychologie der Kunst. Stuttgart: Kohlhammer. Landeshauptstadt Hannover (Hg.) (2003). Niki de Saint Phalle. La Grotte: Hannover u. Ostfildern-Ruit: Hatje Cantz. Lejeune, P. M. (2003). Wo das Magische greifbar wird. In: Landeshauptstadt Hannover (Hg.): Niki de Saint Phalle. La Grotte, S. 37–44. Hannover u. Ostfildern-Ruit: Hatje Cantz.

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Georg Franzen Leuner, H. (1994). Lehrbuch der Katathym-imaginativen Psychotherapie. Göttingen: Hans Huber. May, R. (1987). Der Mut zur Kreativität. Paderborn: Junfermann. Müller, L. u. Müller, A. (Hg.) (2003). Wörterbuch der Analytischen Psychologie. Düsseldorf: Patmos. Niemeyer-Langer, S. (2003). Der kreative Dialog der Künstlerin Niki de Saint Phalle. Eine psychodynamische Betrachtung. Psychosozial-Verlag: Gießen. Preisel, H. G. (2003). Der große Garten zu Herrenhausen mit seiner historischen Grotte. In: Landeshauptstadt Hannover (Hg.): Niki de Saint Phalle. La Grotte, S. 9–19. Hannover u. Ostfildern-Ruit: Hatje Cantz. Hulten, P. (1995). Niki de Saint Phalle in der Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland in Bonn. Bonn: Kunst- und Ausstellungshalle. Scheff, T. J. (1972). Explosion der Gefühle. Über die kulturelle und therapeutische Bedeutung kathartischen Erlebens. Weinheim. Schurian, W. (1992). Kunst im Alltag. Kunst und Psychologie. Bd. 1, Göttingen, Stuttgart: Verlag für angewandte Psychologie. Schurian W. (1993). Kunstpsychologie heute. Kunst und Psychologie 2. Göttingen: Verlag für angewandte Psychologie. Schuster, M. (2000). Kunstpsychologie: Kreativität – Bildkommunikation – Schönheit. Hohengehren: Schneider-Verlag. Schuster, M. (2008). Rituale, Kunst und Kunsttherapie. Berlin: MedizinischWissenschaftliche Verlagsgesellschaft.

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Ruth Hampe

Zur Salutogenese des Bildlichen

Zur Metaphorik des Bildnerischen Bilder sind nicht nur der Ausdruck inneren Erlebens oder der Wahrnehmung von Realität, sondern in ihnen spiegelt sich vielmehr eine intuitive Auseinandersetzung mit dem Innen und Außen, was zu schöpferischen Neugestaltungen von Wirklichkeiten führen kann. Sie sind Teil eines Prozesses im Werden und Vergehen von Gestaltungen, denen ein Augenblicksbezug anhaftet im Verschmelzen von Vergangenem, Gegenwärtigem und Zukünftigem. Der visionäre Gehalt folgt dem Prozess des Schaffens, ist eingebettet in dem zufälligen Finden von Formen und Kompositionen in der zeitlichen Folge des sich darauf Einlassens. So sind auch Bilder in Selbstfindungsanlässen an Phasen von Serien und Zyklen gebunden. Sie folgen der Veränderung in der Bearbeitung unter prozesshaften Gegebenheiten bzw. sind mit ihnen verstrickt. Auch Künstler haben in ihren Gestaltungsprozessen diesen Aspekt der Serie bedacht wie beispielsweise Miro, der in den späten Jahren gleichzeitig an Bildern in ungerader Anzahl gearbeitet hat. Andere haben anhand einer thematischen Setzung oder in narrativer Bildfolge ein prozessorientiertes Arbeiten vertreten. Wiederum andere – orientiert an einem Material, an einer gestalterischen Technik u. ä. – haben eine Reihung von Bildfolgen erschaffen. Dazu zählen beispielsweise Arbeiten von Max Ernst mit einer Frottagetechnik, von Gerhard Richter mit einer Spachteltechnik, von Robert Longo mit Graphitbildern oder von William Kentridge mit seinen Kohlezeichnungen in Trickfilmfolge, um nur einige wenige zu nennen. Auch in therapeutischen Kontexten ist ein Arbeiten in Serie anhand einer Thematik hilfreich, um sich unbewussten Gestaltungsimpulsen immer wieder neu zu stellen. Bereits Joseph Beuys hat die Beziehung von Kunst und Heilkunde hervorgehoben. Nicht nur seine visionären, eigenen Erfahrungen, nach einem Flugzeugabsturz wäh75 https://doi.org/10.5771/9783495817995 .

Ruth Hampe

rend des 2. Weltkrieges, von Mongolen in Filz und Fett eingepackt worden zu sein und derart eine heilsame Wirkung erlebt zu haben – was dann auch Material seiner Kunstaktionen geworden ist –, bedingen seinen Ansatz von Kunst und Leben. Er hebt eine Auseinandersetzung mit einer Realität hinter der Materialität hervor, einer Dimension, bevor der Gedanke zustande kommt – also auch die Inspiration und Intuition betreffend. Sein Ausspruch: »Jeder Mensch ist ein Künstler« bezieht sich auf die Selbstheilungskräfte des Menschen und die kreativen Fähigkeiten, ein Leben wie ein Kunstwerk bzw. eine soziale Plastik zu gestalten. Bezogen auf einen alchemistischen Umwandlungsprozess werden elementare Erfahrungen und Stofflichkeiten benutzt in der Symbolik und Metaphorik von der Geburt bis zum Tod. In der Hinsicht werden die gestalteten Objekte oder Relikte von Handlungen zu Erinnerungsstützen von Denkansätzen. Sie sind ästhetische Zeugen eines gedanklichen Prozesses, der mit der Verschmelzung von Raum und Zeit arbeitet. Mit seinem Ausspruch von 1984 »Kunst ist Therapie« hat Beuys eine Dimension von Kunst angesprochen, der eine Vermittlerfunktion wie in einem schamanistischen Ritual zukommen kann. Heutzutage wird vom ›Flow‹ (vgl. Csíkszentmihályi 2000; 2014) – dem zum-Fließen-Bringen – im kreativen Prozess gesprochen bzw. dem Erleben eines Einheitsbezuges.

Bilder in der Verarbeitung von Missbrauchserfahrungen Als Alice Miller (vgl.1985) ihre zufällig entstandenen kleinen Klecksbilder graphisch und malerisch weiter bearbeitete, erlangten sie in den Assoziationen einen projektiven Gehalt. Sie eröffneten einen Zugang zu frühkindlichen Erfahrungen, die sprachlich nicht erfassbar waren. Zudem ermöglichten sie ihr mittels dieser Zufallstechnik eine Wahrnehmung von Verdrängtem und Abgewehrtem, von frühkindlicher Missbraucherfahrung, die bildsymbolisch integrierbar wurde. Nicht die Direktheit, sondern die Unbestimmtheit in der Aufdeckung verdrängter gefühlsbestimmter Anteile ließen das Unfassbare in der Bildgestaltung fassbar werden (Abb. 1–3). Der Objektbezug des Gestalteten bedingte eine Handhabbarkeit, die in dem situativen Erleben verhindert war, ein Verstehen unbewusster Muster, denen eine Sinnhaftikeit zugesprochen werden konnte. Wenn Aaron Antonovsky (vgl.1997) von Verstehen, Handhabbarkeit und Bedeutungsgebung 76 https://doi.org/10.5771/9783495817995 .

Zur Salutogenese des Bildlichen

in Bezug auf den Kohärenzsinn spricht, so lässt sich dies auf besondere Art und Weise in ästhetischen Gestaltungsprozessen finden. Dabei geht es nicht unbedingt um die Direktheit und Offenlegung des Gewesenen, sondern vielmehr um die emotionale Integration und Annahme dessen, was nicht ungeschehen gemacht werden kann. So bildet sich im bildnerischen Ausdruck eine Bildsprache heraus, die Schritte einer Verarbeitung aufzeigt, die versöhnlich wirkt in der Transformation zu etwas Zukünftigem, ein Loslassen von der Beherrschung durch das Vergangene. Alice Miller, die Autorin von »Das Drama des begabten Kindes« (1979) und »Am Anfang war Erziehung« (1980), führt in der Einführung zu ihrem Buch »Bilder einer Kindheit« (1985) aus, dass sie fünf Jahre, nachdem sie mit dem spontanen Malen 1973 begann, anfing ihre Bücher zu schreiben, um dann weiter zu malen als eine kreative Tätigkeit der Bewältigung von innerem Chaos und Angst (vgl. Miller 1985, S. 11). Auch die Künstlerin Monika Auer hat in ihren ästhetischen Gestaltungen Anteile von sich neu entdeckt und ihre Lebensgeschichte anders bewältigen können. Die Auseinandersetzung mittels des künstlerischen Ausdrucks ist auch bei ihr biographisch geprägt. Es ist die Bearbeitung traumatisch erlebter Kindheitserfahrungen von sexuellen Übergriffen in der Familie bis zum 12. Lebensjahr, die sie über den ästhetischen Prozess neu zu integrieren versucht und die mit 38 Jahren einen Wendepunkt herbeigeführt haben mit dem Ausstieg aus ihrem Berufsleben. So kam diese existentielle Krise mit der Infragestellung des eigenen Selbst in der Welt einer Entscheidung zwischen Leben und Tod gleich, worüber sie einen Neuanfang zu initiieren vermochte. Es beinhaltete beispielsweise ein prozesshaftes bildnerisches Arbeiten über ein Jahr als Bewältigung traumatischer Kindheitserlebnisse mit den Auswirkungen auf spätere Lebensphasen – hin zu einer Neugeburt. Fast schonungslos geht sie auf ihre authentischen Erfahrungen ein, die heutzutage auch für 15–30 % aller Mädchen und für 5–15 % der Jungen zutreffen können und thematisiert die Auswirkungen von Borderline-Erlebnissen, Depersonalisierungen und Depressionen. Kunst wird für sie zum Ausdrucksmittel des Unaussprechlichen, das vor der sprachlichen Erfassung im gefühlsmäßigen Erleben liegt. Immer wieder thematisieren ihre Arbeiten ein sexuelles Trauma und eine mythische Selbstvergewisserung, Teil von Mutter Erde zu sein und ihre Heilkräfte zu spüren. Selbstzerstörerische Anteile werden zum Ausdruck gebracht ähnlich wie in apotropäischer Bedeutungs77 https://doi.org/10.5771/9783495817995 .

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gebung – also Unheil abwehrend – und damit gebannt. Das ästhetisch Gestaltete wird zu einem Gegenüber, wird aus dem diffus Beängstigenden und Belastenden geholt und wieder integrierbar. Es erscheint wie ein Hinabsteigen des Selbst in tiefe abgespaltene Erlebnishorizonte, die die Ohnmacht des verletzten Kindes hervortreten lassen und gleichzeitig in der Bewusstwerdung von Depersonalisationen die Bedeutung des eigenen Leibes als Ort des Lebens neu benennen (Abb. 4–6). Elementare Wünsche nach Geborgensein, Vertrauen und Liebe werden wieder zugelassen und die eigene Sexualität neu wahrgenommen. In dem Sinne vermittelt dieser ästhetische Prozess etwas Versöhnendes in der Aufdeckung des Bedrohlichen und Abgewehrten. Der Integrationsprozess der Missbrauchserfahrungen führt zu einem gewandelten Selbst- und Weltbezug (Abb. 4–9).

Prozessorientiertes kunsttherapeutisches Gestalten Dieses intensive Arbeiten in Serien, die den Prozess in den einzelnen Schritten festhalten, kann auch im kunsttherapeutischen Setting genutzt werden. Gerade das Festhalten und Sich-Vergewissern der einzelnen Schrittfolgen ist hilfreich, um Prozessfolgen nachzuvollziehen. Im Hinblick auf das digitale Medium der Fotografie in dem zwischenzeitlichen Aufzeichnen eines Gestaltungsmomentes – wie in der Folge einer Trickfilmerstellung – kann der intuitive Handlungsprozess vertieft werden, und zwar im Innehalten und im Wechsel der Akteure, d. h. zum Beispiel von Klient und Therapeut. Ähnlich wie Gaetano Benedetti (vgl. 1994) bezogen auf das progressive therapeutische Spiegelbild in der ressourcenorientierten Unterstützung das Bild des Patienten im Pausverfahren minimal verändert hat, so kann auch im wechselnden Gestalten eine therapeutische Intervention erfolgen. Zugleich wird eine empathische Basis im spielerischen Miteinander geschaffen und Gestaltungsanlässe werden neu herausgefordert. Die Niedrigschwelligkeit dieses Tuns ist hilfreich, um einem Versagen im ästhetischen Ausdruck entgegenzuwirken. Wesentlich ist der intermediäre Raum, wie ihn auch Donald Wood Winnicott (vgl. 1973) betont, einhergehend mit einem Spiegelprozess über den Therapeuten als Teilhabenden. Auch für Künstler ist der gestalterische Prozess ein offener im Durchlaufen von skizzenhaften Findungsprozessen, im wieder Verwerfen und einer neuen Konstitu78 https://doi.org/10.5771/9783495817995 .

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ierung. So gibt der Klient jeweils das Ausgangsbild als Motiv vor, das dann vom Therapeuten vor dem Klienten leicht verändert wird, um dann wiederum vom Klienten eine Weiterführung zu erhalten usw. Das Arbeiten mit schwarzen Papierschnipseln auf weißem Papier hat sich in dem Hell-Dunkel-Kontrast als sinnvoll ergeben. Dabei können die Schnipsel entweder einheitlich in unterschiedliche Formen geschnitten oder nur gerissen sein. Es ist das Zufällige des Verschiebens und des neuen Findens, was im Prozess des Gestaltens bedeutungsvoll ist (Abb. 10). William Kentridge hat beispielsweise in seinen Trickfilm-Arbeiten dazu künstlerische Darstellungen geschaffen (vgl. Rosenthal 2010). Andererseits ist diese Art der verändernden Intervention auch mit dem Medium Sand möglich, indem mit trockenem Sand auf einer andersfarbigen Grundfläche mit den Händen gearbeitet wird. Im Verschieben des Sandes öffnet sich die untere Fläche und ermöglicht in der Sandmalerei das Entstehen von Bildformationen, die mit jeder Handbewegung wieder neue Formgestalten hervorbringen ohne den Anspruch eines abschließenden Bildproduktes (Abb. 11). Auch andere Legespiele z. B. mit Naturmaterialien – wie Blätter, Blüten etc. – sind als Wechselspiel möglich und nicht nur an Innenräume gebunden (Abb. 12). Entscheidend ist das Wechselspiel zwischen Klient und Therapeut und die Animation zum projektiven Assoziieren und emphatischen Miterleben im Wandel der Gestaltungsverläufe. Es ist die ressourcenorientierte Unterstützung durch den Therapeut im Kleinsten, die den Spielprozess mitträgt. Wie eine narrative Reihung kann sich aus dem Ausgangsbild eine spielerische Verwandlung in Episoden vollziehen, ohne dies dabei sprachlich zu kommentieren. Die Dokumentation der Einzelbilder im Wechsel kann später wie in einem Trickfilm, z. B. im Programm Movie-Maker, zusammengestellt werden, um damit den Gestaltungsprozess gemeinsam nachzuvollziehen und zu versprachlichen. Das schweigende Gestalten und Abändern der jeweiligen Ausgangsbilder eröffnet einen Raum zum unkommentierten Verändern im Rahmen des interaktiven Miteinanders. Erst im Nachhinein wird der Prozess besprochen bzw. auf Erlebensprozesse eingegangen. Dabei geht es stets um ein gestaltetes Bildmotiv, das für sich im Wechsel steht. Darin unterscheidet es sich beispielsweise vom interaktiven Malen als kunsttherapeutischem Gruppenprozess (vgl. Hanus 2014). Es ist dieses Innehalten im Wechsel, auch hinsichtlich der Achtung des Entstandenen, das diesen spielerischen Verlauf prägt und zu kreativen Neuschöpfungen führen kann. Wie ein Ein79 https://doi.org/10.5771/9783495817995 .

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stiegsritual kann es dazu beitragen, in einen weiterführenden Gestaltungsprozess einzusteigen, um ausgehend davon ein eigenes Bild bzw. eine Objektgestaltung zu entwickeln. Es ist also nicht die Dauer von Bedeutung, sondern vielmehr der Einstieg in bzw. die Mobilisierung des Ausdrucksvermögens. Serien verweisen auf Veränderungsprozesse aus dem Unbewussten, wie sie auch im Mess-Painting sichtbar werden (vgl. Schottenloher 1994), aber ohne Taktvorgabe in der zeitlichen Terminierung der Gestaltung. Diese ergibt sich vielfach aus dem spielerischen Wechselbezug zwischen Klient und Therapeut. Gerade bezogen auf belastende Lebensereignisse, die keine unmittelbare Verbalisierung zulassen, sind diese Art von spielerisch gestalteten Legebildern mit Papierschnitzeln, Naturmaterialien etc. oder Spurenbilder mit dem taktilen Element Sand hilfreich, um sich auszudrücken, ohne sich festzulegen. Die empathische Haltung des Therapeuten im Wechselspiel trägt diesen Prozess und ermöglicht ein Zulassen von Unaussprechlichem in dem projektiven Gehalt der Gestaltverdichtung. Die Möglichkeit der Veränderung, des Nicht-Festlegens kann sich dabei als Vorteil erweisen, indem das Aufgedeckte zugleich wieder verdeckt wird, bis es integrierbar wird. Es ist der Vor-Schein – wie Ernst Bloch (vgl. 1974) dies für das Ästhetische hervorhebt –, der uns in der Kunst zu berühren vermag.

Spiegelmetaphern des Bildnerischen und das dialogische Spiel Allgemein sind Bilder Ausdruck inneren Empfindens und Verarbeitens. Sie sind nicht nur Dokument eines Zustandes, sondern verweisen zugleich auf ein Anderes, etwas Atmosphärisches, welches sie bestimmt. In dem Zusammenhang sind sie Zeugnis eines Erinnerns im spielerischen Tun, fangen Unsagbares ein und verwandeln es in Neologismen der ikonischen Sprachgebung. So bleiben die Bildmetaphern in dem einjährigen Prozessverlauf von Monika Auer im Uneindeutigen, skizzieren nur, wo Schmach, Widerstand und Neuanfang sichtbar werden. Gerade dies macht sie reizvoll und transformiert das Geschehene in farbige Zeichen einer Prozessverarbeitung, die nicht der Sprache bedarf. So verliert sich auch in ihren Bildern die sprachliche Festschreibung, der Verweis auf das zu Enthüllende in den Metaphern zeichnerischer Verknüpfung. In der Hinsicht sprechen die Bil80 https://doi.org/10.5771/9783495817995 .

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der unabhängig von dem persönlich Geprägten etwas Allgemeinmenschliches an. Es beinhaltet eine Dekonstruktion des Erlebten, eine Überwindung von Grenzziehungen in der Vielschichtigkeit des projektiven Gehaltes im Bildnerischen. In einer Abhandlung zu Cy Twombly hebt Roland Barthes die Linie, den Duktus im Sinne einer Schrift hervor: »Ob Leinwand, Papier oder Mauer: es handelt sich um einen Schauplatz, wo etwas daherkommt (…). So muß man das Bild als eine Art Theater nehmen: der Vorhang öffnet sich, wir schauen, wir warten, wir vernehmen, wir verstehen; und ist die Szene vorbei, das Bild verschwunden, dann erinnern wir uns …« (Barthes 1983, S. 65). Vielfach sind Bilder Ausdruck einer Art Spurensuche von der Destruktion, Fragmentierung hin zum Finden einer Formgestalt. Sie stehen in Resonanz zum inneren Erleben, der Erinnerung an Vergangenes im Kontext von neuen Erfahrungen. Das Kontextuelle bildet die Bühne, auf der die Zeichen eines Neuanfangs auftauchen. Das Anderssein als das geschriebene Wort macht den Vorschein-Charakter des Bildlichen aus. Das Unausgesprochene umgibt eine andere Dimension als das Wort in dem Versuch des Erfassens von Handlungsmustern, denen es zu entfliehen gilt. Das menschliche Miteinander im gefühlsbestimmten bildnerischen Ausdruck rückt in den Vordergrund und verweist auf Integrationsprozesse in der schemenhaften Andeutung. Dies macht Bilder interessant und hilft die biographische Aufarbeitung zu transformieren. Gerade in Phasen psychischer Belastung ist ein spielerisches und stützendes Gestalten im empathischen Zusammenspiel mit dem Therapeuten von Bedeutung. Die Methode des abwechselnden Legens bzw. Formens vermag eine Brücke zur Ausdrucksgebung innerer Befindlichkeiten zu geben und beinhaltet gleichfalls die Möglichkeit, etwas ungeschehen zu machen in der Auflösung des Gestalteten. Nur das digitale Bild bleibt als Dokument für eine spätere Betrachtung des Prozessverlaufes bestehen. Es ist ein dialogisches Spiel, das jeweils neue Anfänge setzt im Neugestalten des Gelegten bzw. des Spurenbildes. In dem Sinne verweist es auf einen Spannungsbogen zwischen Klischee, Zeichen, Proto-Symbol und Symbol (vgl. Hampe 1999, S. 202 ff.). Es knüpft an den frühen bildnerischen Ausdruck der Kindheit an und aktiviert elementare sensorische Wahrnehmungsaspekte im taktilen Handlungsbezug – oder wie Sergei Tretjakow ausführt: »Erinnern wir uns: Jeder Mensch zeichnet in seiner Kindheit, tanzt, denkt sich treffende Wörter aus und singt. Warum dann aber 81 https://doi.org/10.5771/9783495817995 .

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genießt er, wenn er erwachsen ist, selbst extrem ausdrucksarm geworden, nur manchmal die ›Schöpfung‹ eines Künstlers?« (Tretjakow, 1972, S. 12). Im Hinblick darauf geht es um die Schaffung von Spielanlässen, um im freien Gestalten neue Zugänge zu sich selbst und dem anderen zu erlangen. Wenn Johan Huizinga (2004) vom Spielelement in der Kultur spricht, so betrifft es auch diesen therapeutischen Aspekt in dem spielerischen Austausch von Gestaltungsformen. Für ihn ist das Spiel ein zentraler, selbstständiger Kulturfaktor, und die Neigung zum Spiel wird als Ursprungsort aller großen kulturellen Bildungen gedeutet. Bezogen auf die Salutogenese geht damit ein Erleben von Selbstwirksamkeit einher, indem es im Spielerischen geprägt ist von einem inneren Verstehen bzw. es sinnerfüllt wird. Im spielerischen Prozess spiegelt der Therapeut das Gestaltete im Gegenüber oder wie Gerhard Damman (2012) in Anlehnung an Gaetano Benedetti und Marizio Peciccia (1994) für das progressive therapeutische Spiegelbild hervorhebt, besteht eine narrative Spannung zwischen Symmetrie oder Asymmetrie im Gestaltungsverlauf von Klient und Therapeut, gerade auch bezogen auf das Phänomen der Spiegelneuronen (vgl. Bauer 2004). Unter dem Aspekt wird etwas therapeutisch initiiert, das im Betrachten des narrativen Verlaufes in den einzelnen Sequenzen eine Mentalisierung erfahren kann. Im Prozess des Gestaltens erfolgt eine Rahmensetzung im spielerischen Regelverlauf, worüber Halt und eine sichere Basis gegeben wird. Das sich Verflüchtigende im Gestalten wird digital festgehalten und kann im Nachhinein Anlass der Betrachtung und der gemeinsamen Reflektion werden.

Zusammenfassung Im prozessorientierten dialogischen Gestalten mittels digitaler Dokumentation der Einzelgestaltungen im Wechsel kann in der therapeutischen Interaktion eine spielerische Aktivierung im Ausdruck gestützt werden. In der nonverbalen Kommunikation mit späterer Mentalisierung über die erstellte Reihung, beispielsweise in Movie Maker, ist eine Integration von Abgewehrtem und Verdrängtem möglich bzw. wird in der ressourcenorientierten Intervention durch den Therapeuten ein intermediärer Raum geschaffen. Dies beinhaltet 82 https://doi.org/10.5771/9783495817995 .

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einen elementaren basalen Zugang in der spielerischen Visualisierung mittels der immer wieder neu zu gruppierenden Materialvorgabe. Nicht das abschließende Bild steht im Fokus, sondern der Prozess der Gestaltung in der Veränderung von Bestehendem und im Finden neuer Zugänge. Die Empathie des Therapeuten in der spielerischen Veränderung der Vorgaben des Klienten bedingt den Gestaltungsprozess in der Einbindung gewandelter Bildgestaltungen. Der basale sensorische Zugang durch das Legen mit Papierschnipseln, mit Naturmaterialien, das Verändern mit trockenem feinen Sand oder auch das Verschmieren und Überzeichen mit Kohlestiften nimmt dem gestalteten Bild die Dauer und aktiviert zugleich unbewusste Impulse im psychomotorischen, haptischen Prozessverlauf. Nicht die Perfektion steht im Vordergrund, sondern der kreative Dialog auf das Vorgegebene. Das Format bildet den Rahmen, in dem sich das Gestalten vollzieht und in der narrativen Folge zur Symbolisierung verhelfen kann. Einerseits erfolgt darüber eine Aktivierung und andererseits können innere Impulse zum Ausdruck gebracht werden. Mit jeder neuen Gestaltung wird das Vorhergehende leicht verändert, ähnlich einem Spiegelbild, das sich in seinen Seiten progredient verkehrt bzw. einen narrativen Verlauf stützt. Es bewegt sich im Spannungsfeld von Desymbolisierung und Symbolisierung, schafft eine Brücke zu Verfestigungen und zur Auflösung.

Literatur Antonovsky, A. (1997). Salutogenese. Zur Entmystifizierung der Gesundheit. Tübingen: dgvt-Verlag. Bauer, J. (2004). Warum ich fühle, was du fühlst. München: Heyne. Barthes, R. (1983). Cy Twombly. Berlin: Merve Verlag. Benedetti, G. & Peciccia, M. (1994). Symbol und Schizophrenie. In: G. Schottenloher (Hrsg.). Wenn Worte fehlen, sprechen Bilder. München: Kösel. S. 107– 118. Bloch, E. (1974). Ästhetik des Vorscheins I + II, G. Ueding (Hrsg.). Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Csíkszentmihályi, M. (2000). Das Flow-Erlebnis. Jenseits von Angst und Langeweile im Tun aufgehen (1975) (8. Aufl.). Stuttgart: Klett-Cotta. Csíkszentmihályi, M. (2014). Flow und Kreativität (1996). Stuttgart: Klett-Cotta. Damman, G. (2012). Wirkfaktoren des Progressiven Therapeutischen Spiegelbilds im Lichte neuer psychodynamischer Prozesstheorien. In: G. Damman &

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Abbildungen

Abb. 1 »Ich hatte erst vor dreizehn Jahren zu malen angefangen, obwohl ich es mir mein ganzes Leben gewünscht hatte, ohne daß sich dieser Wunsch deutlich genug hätte durchsetzen können … als ich in den Bildern, die vor mir entstanden, einer mir bis dahin unbekannten Welt begegnet bin: der Welt meiner Kindheit.« (A. Miller 1985. S. 12, Abb. 38)

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Abb. 2 »Zwar hatte ich an meine ersten fünf Jahre keine einzige Erinnerung und auch an die darauffolgenden nur sehr spärliche, was auf eine sehr starke Verdrängung, die niemals grundlos ist, hinweist.« (A. Miller 1985. S. 13, Abb. 42)

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Abb. 3 »In meinen Bildern tauchten die bisher verdrängten Gefühle meiner Kindheit auf, die Angst, die Verzweiflung, die totale Einsamkeit …« (A. Miller 1985. S. 17, Abb. 52)

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Abb. 4 Monika Auer: »The Rape« 2004 (Die Vergewaltigung). Mischtechnik: Acryl, Kreide, Bleistift, Zeitungspapier, Honig auf Papier, 70 � 50 cm. (farbige Abbildung im Anhang)

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Abb. 5 Monika Auer: »Leaving the Body« 2004 (Den Körper verlassen). Mischtechnik: Acryl, Kreide, Bleistift auf Papier, 70 � 50 cm.

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Abb. 6 Monika Auer: »I said No« 2004 (Ich sagte Nein). Mischtechnik: Acryl, Kreide, Bleistift, Zeitungspapier, Honig auf Papier, 70 � 50 cm. (farbige Abbildung im Anhang)

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Abb. 7 Monika Auer: »Transformation« 2004 (Verwandlung). Acryl, Kreide, Zeitungspapier auf Leinwand 150 � 150 cm.

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Abb. 8 Monika Auer: »The Prison« 2004 (Das Gefängnis). Mischtechnik: Acryl, Kreide, Bleistift, Zeitungspapier auf Papier, 70 � 50 cm. (farbige Abbildung im Anhang)

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Abb. 9 Monika Auer: »Unity – Virginity« 2004 (Ganzheit – Jungfräulichkeit). Mischtechnik: Acryl, Pastellkreide, Zeitungspapier auf Leinwand, 155 � 105 cm. (farbige Abbildung im Anhang)

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Ruth Hampe

Spiel mit Papierschnipseln Depressiver Klient mit Mobbing-Erfahrung (19 Jahre)

Klient (männlich) 19 Jahre

Therapeutin

Klient (männlich) 19 Jahre Abb. 10

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Abb. 11 Dialogische Sandbilder

Abb. 12 Gesichter aus Naturmaterialien

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Abb. 13 Sandspielarbeit als Gruppenbild

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Salutogene Ressourcen in der kunsttherapeutischen Praxis und Forschung, Schwerpunkt Kinder und Jugendliche Einleitung Die Auseinandersetzung mit der Definition und Bedeutung von Ressourcen in der Kunsttherapie ist in Anbetracht aktueller Entwicklungen zeitgemäß und unabdingbar. Das Verständnis von Gesundheit und Krankheit hat sich unter anderem durch Antonovskys Modell der Salutogenese (1991; 1997) grundlegend verändert und erweitert. Der Blick wird seither in der Theorie, Praxis und Erforschung von Gesundheit, Krankheit und Behandlungseffekten vermehrt auf gesundheitserhaltende und gesundheitsfördernde Momente gerichtet. Gleichzeitig gibt es neue Anforderungen an das Gesundheitssystem, z. B. durch vermehrte Auseinandersetzungen mit gesunden Lebensweisen (vgl. Bundesministerium für Gesundheit, 2013), durch die Verabschiedung des Präventionsgesetzes (vgl. Deutscher Bundestag, 2015), durch das Älterwerden der Menschen und die Verschiebung von akuten zu chronischen Erkrankungen (Reinhardt & Petermann, 2010), denen sich auch die Kunsttherapie stellen muss. Grundsätzlich ist Kunsttherapie hervorragend geeignet, Ressourcen bewusst zu machen, sie zu aktivieren und zu fördern. Dies zeigt sich in verschiedenen Anwendungsfeldern, in denen sie besonders in den Vordergrund gestellt werden, wie in der Palliativmedizin (vgl. Kortum et al., 2017; 2018), der Kinderkardiologie (vgl. Mathar, 2010; Kortum, 2010; 2013; 2015) oder der Onkologie (vgl. Hopf, 2014). Auch in der kunsttherapeutischen Forschung finden sie zunehmend Erwähnung. Häufig werden dabei ressourcenorientierte mit symptombezogenen Erhebungsverfahren kombiniert, z. B. in der Kunsttherapie bei Kindern mit Asthma (vgl. Beebe et al., 2010), mit Hirntumoren (vgl. Madden et al., 2010) oder mit Lernschwierigkeiten (vgl. Ottarsdottir, 2010). Welche Ressourcen wichtig für die Gesundheit sind und wie sie in Bezug zur Kunsttherapie gesetzt werden können, wird hier theoretisch aufgearbeitet, mit Verweisen zu ersten Studienergebnissen 97 https://doi.org/10.5771/9783495817995 .

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verknüpft und durch Beispiele aus der Praxis im Rahmen einer Pilotstudie konkretisiert.

Salutogene Ressourcen in der Kunsttherapie Salutogene, gesundheitserhaltende Ressourcen können in der Kunsttherapie unterschiedlich offenbart und genutzt werden. Nicht nur Herausforderungen, sondern auch Kompetenzen und Ressourcen, damit umzugehen, können bewusst gemacht und weiterentwickelt werden. Ein Beispiel zeigt diese Gleichzeitigkeit auf (Abb. 1).

Abb. 1: »Schiff auf einer riesigen Welle, das niemals herunterfällt«, Sarah 1, 8 J. (farbige Abbildung im Anhang)

Sarah, 8 Jahre alt und chronisch herzkrank, aber durch Medikation gut eingestellt, malt eine Szene, in der ein Schiff von einer riesigen Welle aus dem Meer heraus in die Höhe gehoben wird. Wie unermesslich hoch diese ist, zeigt sich dadurch, dass das Schiff beinahe den Rand des Blattes erreicht. Damit ist es fernab vom Meeresspiegel. Es hat auch keinen sicheren Meeresboden unter sich, wie die Stelle zeigt, an der sich Schiff und Wasser berühren. Aus dem Gespräch nach der Gestaltungsphase geht hervor, dass die Situation von Sarah 1

Die Namen aller Kinder im Text wurden geändert.

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jedoch nicht als bedrohlich gesehen wird. Sarah sagt: »Das Schiff bleibt auf der Welle, es geht nie unter.« Gleichzeitig erklärt sie, dass es auch keine Lösung für die Situation gibt – die Wogen werden sich nicht einfach glätten, sodass das Schiff sanft wieder landen kann. Es bleibt dort oben in der riskanten Lage, und es kommt dort aktuell auch gut zurecht. Damit drückt Sarah indirekt aus, wie sie ihre momentane Lebenssituation wahrnimmt und empfindet. Interessant ist aber, dass das Schiff von drei Personen gesegelt wird. Der Kapitän/Die Kapitänin ist nicht alleine unterwegs. Und auch Sarah ist, als eine von drei Schwestern aus guten familiären Verhältnissen, nicht alleine in ihrer Situation. Sie verfügt über gute, vor allem familiäre und kreative Ressourcen, auf die sie auch in schwierigen Situationen rund um ihre Erkrankung zurückgreifen kann. Das Verständnis von Ressourcen ist dabei grundsätzlich weit gefasst und individuell. Ressourcen können als Momente verstanden werden, die eingesetzt werden, um etwas zu ermöglichen oder zu erreichen (vgl. Schiepek & Cremers, 2003). Sie gelten aber auch als Potentiale, die der Befriedigung von Grundbedürfnissen und der Erreichung von Identitätszielen dienen und als Kraftquellen oder Anschub für Erfolge in der Therapie bedeutsam sind (vgl. Klemenz, 2003; Smith & Grawe, 2003). Petermann und Schmitt (2006) sehen in ihnen zudem Potentiale, die die allgemeine Entwicklung unterstützen. Es liegen zahlreiche Versuche der Kategorisierung und Klassifizierung vor (vgl. Viehhauser 2000 u. a.), die Ressourcen nach zugehörigen Bereichen (z. B. Person-/Individualressourcen, Umfeld-/ Umweltressourcen oder interne und externe Ressourcen), nach Funktionen (z. B. Ressourcen der Bewältigung oder der Stressregulation), nach Ursprung (erworben oder genetisch bedingt) oder auch nach Verfügbarkeit differenzieren. Je genauer die Systeme potentielle Ressourcen erfassen, desto komplexer und z. T. unübersichtlicher werden sie. Weitestgehend Einigkeit besteht in der Differenzierung nach Personalen Ressourcen, also z. B. Wesens- und Temperamentsmerkmalen, Intelligenz und Kreativität (Interessen und Hobbies; sozialen und interaktiven Kompetenzen; Selbstkognition und -attributionen), und Sozialen oder Umwelt-Ressourcen, z. B. familiären Bedingungen, dem sozialen Netzwerk, der Qualität der sozialen Beziehungen, materiellen Ressourcen (vgl. Schneider & Pickartz, 2004). In der Kunsttherapie ist es hilfreich, sich mit den unterschiedlichen Ressourcenklassifikationen auseinanderzusetzen, um sie individuell beim Gegenüber erkennen zu können. Aus diesen Ansätzen 99 https://doi.org/10.5771/9783495817995 .

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können beispielhaft einige hervorgehoben werden, die in engem Bezug zu Prozessen in der Kunsttherapie mit Kindern und Jugendlichen stehen und deren Aktivierung und Förderung deshalb in dieser Therapieform besonders in den Fokus gerückt werden können.

Persönlichkeitsressourcen: »Herr der Lage sein« Der Kohärenzsinn, als Mittelpunkt des salutogenen Modells nach Antonovsky, umfasst als längerfristige, grundlegende Lebenseinstellung und innere Überzeugung die Gefühle der Handhabbarkeit, der Verstehbarkeit und Sinnhaftigkeit der Dinge (vgl. Antonovsky, 1991; 1997). Die Begrifflichkeiten rund um ein solches Grundgefühl, »Herr der Lage zu sein«, (Viehhauser, 2000, S. 142) wurden unterschiedlich aufgegriffen und weiterentwickelt, z. B. als Erleben der eigenen Selbstwirksamkeit und des Kompetenzgefühls, und werden als wichtige gesundheitliche Protektivfaktoren verstanden (vgl. Viehhauser, 2000; Klemenz, 2003; Schipiek & Cremers, 2003; Schneider & Pickartz, 2004; Hampel & Petermann, 2003; Antonovsky, 1997). In der Kunsttherapie, die per se handlungsaktivierend ausgerichtet werden kann, kann man sich als »Verursacher des Gestaltungsprozesses« (Richter-Reichenbach, 1992, S. 89–90) erleben. Im Umgang mit den verschiedenen künstlerischen Medien, möglichen Themenvorgaben und darin enthaltenen Herausforderungen kann ein Kind »[…]nicht nur Stolz und Freude [erleben, Aut.], daß es ein Medium beherrscht, es gewinnt auch die Erkenntnis, daß es selbst etwas tun kann, und zwar gut« (Rubin, 1993, S. 290). Um dieses Erfolgserlebnis gezielt anzuregen, ist es wichtig, dass eine gewisse Herausforderung vorliegt, die jedoch individuell auf die Situation und Fähigkeiten des Kindes ausgerichtet werden muss, um Überforderungen zu vermeiden. Bei geringen Erfahrungen im Umgang mit künstlerischen Medien oder hohem Belastungsgrad können auch entspannende, experimentelle oder gängige kreativitätsfördernde Techniken eingesetzt werden, die schnell zu ästhetisch befriedigenden Ergebnissen führen und ebenso dem Gefühl, »Herr der Lage« zu sein, zuträglich sind (vgl. Reichelt, 2008). Dass Kunsttherapie das Selbstwertgefühl Heranwachsender tatsächlich verbessern kann, zeigen unterschiedliche Studien auf, z. B. bei Kindern mit Asthma (vgl. Beebe et al., 2010), bei Jugendlichen mit niedrigem sozialen Status in Erziehungseinrichtungen (vgl. Jang, 2012), bei Kindern mit Herzerkrankungen (vgl. Kor100 https://doi.org/10.5771/9783495817995 .

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tum, 2013) oder bei Kindern mit Autismus (vgl. Schweizer et al., 2014). Kunsttherapie in diesem Sinne kann ebenso dazu genutzt werden, um die eigenen Stärken, Interessen, Hobbies, positiven Erinnerungen und Freundschaften etc. zu thematisieren und sie für sich und das unmittelbare Umfeld bewusst machen zu können, wie in Abbildung 2–4 geschehen, in denen die Beziehung zu einem Pflegepferd, das gemeinsame Spiel mit dem Vater oder die Freude beim Musikhören dargestellt wurden (Abb. 2–4).

Abb. 2–4: »Das bin ich… mit meinem Pflegepferd«, Tina, 15 J.; »Mit Papa beim Fußballspielen«, Sabine, 7 J.; Körperumrissgestaltung »Ich beim Musikhören«, Vanessa, 13 J.

Soziale und interaktive Ressourcen: Nähe, Zusammenhalt, Konfliktfreiheit Die Bedeutung von sozialen Ressourcen für die Gesundheit im Sinne von Rückhalt, Unterstützung, Nähe und Zugehörigkeit ist unbestritten. In Studien wurde nachgewiesen, dass diese Faktoren den Gesundheitszustand positiv beeinflussen: »Insbesondere das Erleben von emotionaler Nähe, Intimität, Zusammenhalt und Konfliktfreiheit in den Beziehungen zu nahestehenden Bezugspersonen bzw. ein generalisiertes Gefühl der Akzeptanz durch Andere« (Viehhauser, 2000, S. 95) ist förderlich für Gesundheit und Wohlbefinden. Voraussetzung hierfür ist, dass die soziale Beziehung auch angenommen werden kann, was wiederum durch Selbstenthüllungsbereitschaft, positives Selbstwerterleben, fremdbezogene Wertschätzung, interpersonales Vertrauen, die Wahrnehmung und den adäquaten Ausdruck von Gefühlen und die Fähigkeit zu einer humorvollen Interaktion (vgl. Viehhauser, 2000) sowie eine gute Balance zwischen 101 https://doi.org/10.5771/9783495817995 .

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Anpassung und Durchsetzung begünstigt wird. Gleichzeitig spielt die subjektive Wahrnehmung und Bewertung der Qualität der Beziehung eine wichtige Rolle, um sie als positiv und nicht als Stressor zu erleben (vgl. Viehhauser, 2000; Schneider & Pickartz, 2004). In der Kunsttherapie können verschiedene Formen der Begegnung und Interaktion geschaffen werden, um soziale und interaktive Ressourcen zu aktivieren und zu erfahren. Dies ist in Einzeltherapien im Dialog zwischen Patient und Therapeut, weitergehend jedoch in der kunsttherapeutischen Gruppe möglich. In gemeinsamen Gestaltungen oder Projekten können jegliche Formen der Interaktion, wie Annäherung, Begegnung und Verschmelzung, aber auch Abweisung, Abgrenzung, Distanzierung oder Angriff, stattfinden (vgl. Wichelhaus, 1999), sodass ein Ausprobieren verschiedener Verhaltensweisen möglich ist und sich neue Interaktionsformen entwickeln können (Abb. 5–6).

Abb. 5–6: Abgrenzendes und integrierendes Gestalten in Gruppenbildern

Die Gruppe kann dabei herausfordernd, aber auch unterstützend auf unterschiedlichen Ebenen sein, wie auf der emotionalen, der Handlungs- oder der Reflexionsebene. Gelingt ein guter Austausch nicht nur mit dem Therapeuten, sondern auch zwischen Betroffenen, kann der Kontakt untereinander dazu beitragen, die eigenen Erlebnisse besser zu verstehen und die Akzeptanz der eigenen Erkrankung zu erhöhen. Dies wird bestätigt in Studien, in denen die Erfahrung, sich in der Kunsttherapie zu begegnen und auszutauschen, beispielsweise von ¾ der Befragten einer Kunsttherapiegruppe in der Onkologie (vgl. Geue et al., 2011), aber auch von Eltern herzkranker Kinder als wesentlich herausgestellt wurde (vgl. Kortum, 2013). Auch Auswirkungen von Kunsttherapie auf das soziale und interaktive Verhalten sind in ersten Studien, z. B. bei Kindern mit Hörschäden (vgl. Ameln-

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Salutogene Ressourcen in der kunsttherapeutischen Praxis und Forschung

Haffke et al., 2012), schulischen Problemen (vgl. Regev & Reiter, 2011) oder Autismus (vgl. Schweizer, 2014), aufgezeigt worden.

Selbstregulations- und Bewältigungsressourcen: Erholungsfähigkeit und Kreativität Ressourcen der Selbstregulation und Bewältigung enthalten »handlungsbezogene Kompetenzen, Fähigkeiten und Fertigkeiten im Sinne gelernter (Coping-)Strategien« (Viehhauser, 2000, S. 96), die davor schützen können, dass Belastungen zu groß werden. Für die Kunsttherapie sind beispielhaft die Erholungsfähigkeit und Kreativität als selbstregulative Aspekte und Formen der Bewältigung interessant, die im Prozess des Gestaltens aktiviert werden können: Erholungsfähigkeit Die Erholungsfähigkeit des Menschen ist eine Ressource der Selbstregulation. Sie stellt Bewältigungsmöglichkeiten bei Stress zur Verfügung, um kompensatorische oder präventive Wirkungen zu erzeugen und dadurch Gesundheit zu fördern (vgl. Allmer, 1996). Dabei ist der Begriff der Erholung nach Allmer (1996) weiter gefasst und bezieht sich nicht nur auf belastende Überforderungen, nach denen Erholung bedeutet, »Energie zu tanken« oder »zur Ruhe zu kommen«, sondern auch auf Unterforderungen von kognitiven und emotional strukturierten Handlungsmöglichkeiten. Dann kann Erholung auch meinen, »etwas Anregendes [zu] tun«, z. B. bei Unterforderung und Langeweile, Monotonie, Interesselosigkeit und Trägheit, oder »etwas Sinnvolles [zu] tun«, z. B. bei Beanspruchungen durch einförmige Tätigkeiten oder durch geringe Anreize, verbunden mit Unlust, Unzufriedenheit, Widerwillen und Abneigung (vgl. Allmer, 1996, S. 42– 48). In beiden Fällen finden Spannungsabbau oder -regulation statt, wodurch individuelle Handlungsvoraussetzungen wiederhergestellt und Energien freigesetzt werden, die der Bewältigung von Krankheitsprozessen zugutekommen können. Dies zeigt sich vor allem in der Beobachtung von Verhalten im Gestaltungsprozess, wenn z. B. träges Vorgehen in mehr Aktivität übergeht, hektisches Agieren in ruhiges Gestalten mündet oder wenn sich, wie in Abb. 7–9, aus dem Haptisch-Spielerischen heraus konzentrierte Gestaltungsprozesse verdichten. 103 https://doi.org/10.5771/9783495817995 .

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Abb. 7–9: Wechsel der Stimmungsqualitäten innerhalb einer Stunde, Sarah, 8 J. (farbige Abbildungen im Anhang)

Allgemeine Strategien der Erholung und Regulation zu kennen und nutzbar zu machen, z. B. durch regressive, agierende, beruhigende und entspannende oder aktivierende, sinnstiftende Anteile, kann auch in kunsttherapeutischen Prozessen sinnvoll sein, um rechtzeitig von Beanspruchung auf Erholung und umgekehrt umzustellen. Wird der Wechsel zwischen unterschiedlichen Beanspruchungsniveaus nicht eingehalten, können überdauernde Belastungen ohne Distanzierungsmöglichkeiten das Stresserleben problematisch verstärken (vgl. Allmer, 1996, S. 42–48). In der aktuellen Forschung wird daher die Bedeutung der Kunsttherapie für die Erholung (vgl. van Lith et al., 2011) bzw. für die Veränderung von Stimmung und Emotionen vermehrt untersucht und positive Korrelationen werden bestätigt (vgl. Hill & Lineweaver, 2016; Kimport & Robbins, 2012; Van der Vennet & Serice, 2012), z. B. auch mit ersten Nachweisen für eine positive Reduktion des Cortisol-Levels (vgl. Kaimal; Ray & Muniz, 2016). Kreativität Der Begriff der Kreativität ist äußerst komplex und wird auf viele Bereiche bezogen betrachtet. An dieser Stelle sollen nur verkürzt Aspekte der Kreativität als Ressource für die Gesundheit hervorgehoben werden. Besonders interessant für die Begründung der Kunsttherapie als eindeutig ressourcenorientiert ist, dass »Kreativität« genauso wie »künstlerische Fähigkeiten« in mehreren Ressourcenkategorisierungen als wichtige Ressourcen aufgeführt sind (vgl. Klemenz, 2003; Vogt-Hillmann, 2002; Schneider & Pickartz, 2004). Dies liegt sicherlich daran, dass Kreativität »für die Menschen seit jeher ein wichtiges Mittel der Anpassung an ihre Umwelt und ein Mittel zur Lösung 104 https://doi.org/10.5771/9783495817995 .

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individueller Lebensaufgaben« (Kruse, 1997, S. 15) ist. Es fällt kreativen Menschen leichter, sich auf neue Situationen einzulassen, sie umzudenken, umzudeuten, Lösungen zu finden sowie der Realität flexibel, spontan und offen zu begegnen, um zu verhindern, sich von Eindrücken, Stressoren und Anforderungen überfordert zu fühlen. Dabei verfügen sie über die »Fähigkeit[,] sich fast jeder Situation anzupassen und sich mit dem zu behelfen, was gerade zur Verfügung steht, um ihre Ziele zu erreichen« (Csikszentmihalyi, 2010, S. 80). Kreative Potentiale freisetzen bedeutet in diesem Sinne, sie zur Problemlösung zur Verfügung zu stellen. Das Problem, die Problemsicht und durch das Problem hervorgerufene Stressempfindungen können durch kreative Prozesse verändert werden (vgl. Lutz, 1990). In der Kunsttherapie können sogar »neue Wirklichkeiten« entwickelt werden, die geeignet sind, Lebensentwürfe unter schwierigen Bedingungen zu kreieren (vgl. Wichelhaus, 2009, S. 39). Gleichzeitig können die eigene Schöpferkraft und künstlerisch-kreative Fähigkeiten in der Kunsttherapie überhaupt erst als Ressource und besondere Kompetenz bewusst und erlebbar gemacht werden. Sich selbst als »Verursacher des Gestaltungsprozesses« (Richter-Reichenbach, 1992, S. 89 f.) zu erleben, steht im klaren Bezug zum eigenen Tun. Gestaltungsaufgaben erfolgreich zu bewältigen, ist wiederum dem gesundheitsrelevanten Gefühl, »Herr der Lage« zu sein (s. o.), zuträglich und kann durch innere Zufriedenheit oder Anerkennung innerhalb der Gruppe mit positivem Stolz und Kompetenzerleben verbunden sein. Überraschende, kreative Gestaltungen zeichnen sich z. B. durch besondere Originalität, Ausdrucksstärke, Flexibilität oder Elaboration aus. Diese können sich durch gezielte Impulse im Rahmen kunsttherapeutischer Interventionen auch weiterentwickeln und bewusst gemacht werden. Ein Beispiel hierfür ist die Aufgabe »Verzaubere die Welt so, wie sie Dir gefällt – den Himmel vielleicht rosa, die Wiese gelb usw.«, in deren Rahmen Sarah, 8 Jahre, erstmalig Pastellkreiden ausprobierte und einen »Wunderwald« gestaltete (Abb. 10). Die spontanen Um-/Weitergestaltungen bei Sabine zeigen ihren flexiblen Umgang mit zufällig entstandenen Krakeln oder Störenfrieden in ihren Bildern (Abb. 11–12).

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Abb. 10: Originalität: Expression und Ausdruck, »Wunderwald«, Sarah, 8 J. (farbige Abbildung im Anhang)

Abb. 11–12: Flexibilität: Aus Gekritzel wird ein Baum mit Vogelmama und Vogelkind; aus einem unabsichtlich entstandenen Fleck wird eine Palme mit Dinosaurier, Sabine, 7 J.

Letztlich, als dritter Aspekt, kann auch der kreative, schöpferische Prozess an sich indirekt auf die Gesundheit wirken, wenn positives Erleben und Wohlbefinden (s. u.) einsetzen. Die Anregung von Kreativität, Fantasie und Schöpferkraft mit ihren unterschiedlichen Auswirkungen ist in der Kunsttherapie inbegriffen. Dies wird auch von Patientengruppen erkannt, die darin in Befragungen eine der wesentlichen Bedeutungen dieser Therapieform sehen (vgl. Geue et al., 2011; Mathar, 2010; Kortum, 2013).

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Salutogene Ressourcen in der kunsttherapeutischen Praxis und Forschung

Euthyme Ressourcen: Genuss, Wohlbefinden, Lachen/Humor und »Flow« Im Zusammenhang mit Kreativität und Erholungsfähigkeit (s. o.) wurde die Bedeutung der Emotionsregulation für das Gesundheitserleben bereits thematisiert, d. h. die Veränderbarkeit der unterschiedlichen Gefühlsqualitäten durch Kunsttherapie. Doch auch Emotionen als Momentaufnahme sind in der Kunsttherapie von Bedeutung. Gemeint sind positive Gefühle, »alles was der Seele gut tut« oder wie Lutz es benennt: »euthyme Ressourcen« (Lutz, 1990, S. 88), z. B. Freude, Kompetenzerfahrung, Glück, Wohlbehagen, Entspannung, Gelassenheit, Begeisterung, positive Erregung, Glücklich-Sein, angenehme Müdigkeit, Vitalität, Lustempfindungen, Frische oder aktuelle Beschwerdefreiheit (vgl. Becker, 1991). Sie können als unmittelbarer Belastungsausgleich, aber auch als Puffer fungieren. »Bei Kranken hilft das aktuelle Wohlbefinden dabei, Beschwerden und Schmerzen besser zu ertragen« (Abele, 1991, S. 311). Negative Emotionen können abgebaut werden (vgl. Völker, 2008). Solche positiven Momente, euthyme Ressourcen und Wohlbefinden, können in kunsttherapeutischen Prozessen durch die Vertiefung des Genusses, Versunkenheit und sinnlich-ästhetische Erfahrung unterstützt werden. Wird die Erfahrung gemacht, im »Flow« zu sein – d. h., dass Anforderungen und Fähigkeiten ausgeglichen sind und Handlungsschritte fließend ineinander übergehen sowie Aktivität und Aufmerksamkeit miteinander verschmelzen –, werden unmittelbar Glückserleben und Entspannung ausgelöst (vgl. Csikszentmihalyi, 1995; 2010; Chilton, 2013). Ein Beispiel hierfür ist das Bild »Der rote Funken« von Tina, 15 Jahre (Abb. 13).

Abb. 13: »Der rote Funke«, Tina, 15 J. (farbige Abbildung im Anhang)

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Ria Kortum

Das Mädchen war während der Gestaltungsphase völlig zufrieden mit sich und dem Materialauftrag beschäftigt und konnte sich von ihrem sonstigen Anspruch einer eher naturgetreuen Gestaltungsweise frei machen. In der Beobachtung solcher Prozesse ist oft eine innere Zufriedenheit zu erleben, positive Gesichtszüge, und einige begleiten das Malen durch leises Summen. Auch »humorvolle Interventionen« können die Stimmung in der Kunsttherapie heben, sie sollten allerdings behutsam und angepasst an die Situation eingesetzt werden, um die »Verletzungsgrenze des Gegenübers« nicht zu überschreiten (vgl. Völker, 2008). Solche Momente positiven Wohlbefindens sind letztlich nicht nur auf die Dauer des Prozesses der Gestaltung in der Kunsttherapie begrenzt, sondern können sich auf das allgemeine Wohlbefinden auswirken (vgl. Wilkinson & Chilton, 2013) und sich »ebenso im sinnlichen Medium als Erinnerung, als Kraft, als Ermutigung« (Titze, 2008, S. 16) widerspiegeln. Die Wirkung von Kunsttherapie auf das Wohlbefinden kann beispielsweise bei Kindern mit Lernschwierigkeiten (vgl. Ottarsdottir, 2010), aber auch schon bei einmaligen Interventionen, z. B. zur Burnout-Prophylaxe bei Lehrern, belegt werden (vgl. Oepen, 2014).

Übertragung in die Praxis, exemplarisch aufgezeigt am Beispiel der Kinderkardiologie In der Kunsttherapie bei Kindern mit angeborenen Herzerkrankungen und chronischen Verläufen nehmen Ressourcen eine wesentliche Bedeutung ein, da die mit der Krankheit verbundenen, besonderen Anforderungen an die Anpassungsleistungen von Kind und Familie das Risiko einer Entwicklung psychosozialer Probleme erhöhen (vgl. Robert Koch-Institut, 2014). Ziel begleitender, kunsttherapeutischer Interventionen ist deshalb einerseits die Reduktion unmittelbarer Belastungen und Anspannungen, aber vor allem auch das Stärken der Ressourcen für den Umgang mit der Erkrankung, den Behandlungsanforderungen und damit verbundenen Ängsten und Sorgen in der Gegenwart und der Zukunft. Im Rahmen einer Pilotstudie zur Kunsttherapie in der kinderkardiologischen Ambulanz wurde ein Behandlungskonzept entwickelt, in dem neben Themen, die zu einer Auseinandersetzung mit der besonderen Lebenssituation einladen, vor allem ausgewählte Ressourcen mit dem übergreifendem Ziel der 108 https://doi.org/10.5771/9783495817995 .

Salutogene Ressourcen in der kunsttherapeutischen Praxis und Forschung

Verbesserung der gesundheitsbezogenen Lebensqualität gezielt fokussiert wurden (Tabelle 1). 1. Belastungsreduktion, Krankheitsverarbeitung und -akzeptanz • • •

Entlastung und Entspannung bei Stress, Anspannung, Sorgen Auseinandersetzung mit der eigenen Lebenssituation, z. B. durch ästhetische Bearbeitung von Themen mit lebensgeschichtlicher Bedeutung Förderung eines selbstbewussten und offenen Umgangs mit der eigenen Herzerkrankung

2. Förderung ausgewählter salutogener Ressourcen • • • •

Entwicklung und Steigerung von Selbstwert- und Kompetenzgefühlen, Kohärenzsinn Verstärkung und Entfaltung künstlerisch-kreativer Ressourcen Vermittlung von »Flow-Erleben«, Genuss, Wohlbefinden, Erholung Anbahnung sozialer, interaktiver Kompetenzen z. B. durch Kommunikation innerhalb der Gruppe

3. Verbesserung der gesundheitsbezogenen Lebensqualität Tabelle 1: Zielsetzungen eines kunsttherapeutischen Konzeptes für die Ambulanz herzkranker Kinder

Um diese Ziele zu erreichen, wurden drei methodische Schwerpunkte gesetzt, in denen ausgewählte Verfahren kombiniert wurden. Motivbezogene Themen und aufgabengebundene Verfahren wie auch freie, selbst gewählte künstlerischen Aufgaben wurden einbezogen. Die Schwerpunkte waren: • Verfahren, wie Gruppenbilder und Gruppenprojekte, die zur Interaktion anregen, um die eigene Balance zwischen Anpassung und Durchsetzung innerhalb der Gruppe zu finden (z. B. Gruppenbilder und Gruppenprojekte; arbeitsteilige und arbeitsgleiche Verfahren; simultan oder im Wechsel gemalte Bilder; verbal begleitete oder nonverbal ausgerichtete Verfahren) • Verfahren, die zu Ressourcen-, Wahrnehmungs- und Kreativitätsförderung beitragen, die Freude am Gestalten wecken und Fähigkeiten bewusst machen (z. B. freies Gestalten; Gestalten nach Fantasiereisen und Fantasiegeschichten; experimentelle Materialerprobungen; zufallsabhängige Verfahren; biografisch orientierte künstlerische Auseinandersetzungen) • Themen und Prozesse, die zur Projektion und/oder Auseinandersetzung mit eigenen Erfahrungen und Erlebnissen anregen (z. B. Selbstdarstellungen, Selbstbegegnungen; 109 https://doi.org/10.5771/9783495817995 .

Ria Kortum

Körperwahrnehmungen und Körperinszenierungen; Wunschbilder, Wunschträume; Märchenmotive als Projektionsfläche; Verhüllen, Verstecken, Entdecken, Sichtbarmachen) Die Kombination belastungsreduzierender und ressourcenfördernder Verfahren hat sich in der Pilotstudie bei einer Stichprobe von neun Kindern und Jugendlichen, aufgeteilt in drei altershomogene Gruppen, bewährt. Positive Ergebnisse zeigten sich vor allem in qualitativ erhobenen Daten (Bildanalysen, Prozessbeobachtungen, Interviews mit den Kindern und Eltern) darin, dass negative Emotionen als Risikofaktor für die Gesundheit tendenziell abgeschwächt und vermindert wurden; gleichzeitig positive Emotionen, aber auch künstlerisch-kreative Fähigkeiten, ein bejahendes Selbstbild und soziale Kompetenzen aktiviert und ausgebaut werden konnten (vgl. Kortum, 2013). Dadurch wurde die Lebensqualität der Kinder, gemessen mit dem Fragebogen zur gesundheitsbezogenen Lebensqualität (KINDLR) (vgl. Ravens-Sieberer & Bullinger, 2000) und berechnet mit dem Wilcoxon-Test, vornehmlich aus Sicht der Eltern verbessert – in Teilbereichen sogar signifikant (vgl. Kortum, 2013).

Fazit In diesem Beitrag wurden Bezüge zwischen gesundheitspsychologischen Systemen der Ressourcenklassifikation und Möglichkeiten und Prozessen der Kunsttherapie hergestellt, die sich, kombiniert mit krankheits- und belastungsspezifischen Ansätzen und übertragen in eine spezifische Behandlungsmethode, in der Praxis bewährt haben. Hierbei kann entlastenden präventiven, fördernden, rehabilitativen oder therapeutischen Schwerpunkten Rechnung getragen werden. Die Erforschung salutogener Ressourcen ist in die kunsttherapeutische Forschung bereits integriert und in einigen Anwendungsfeldern sind positive Effekte nachweisbar, an die in weiteren Studien angeknüpft werden könnte. Hierbei sei erweiternd noch darauf hingewiesen, dass es für die Diagnose von Ressourcen bei Kindern und Jugendlichen bisher zwar einige Verfahren (vor allem Fragebögen, Interviews) gibt, die sich bewährt haben. Diese Verfahren sind jedoch meist verbal und erfordern ein hohes Maß an kognitiven und reflexiven Fähigkeiten. Gerade bei Kindern und Jugendlichen könnten nonverbale bilddiagnostische Verfahren nicht nur zur Diagnose von 110 https://doi.org/10.5771/9783495817995 .

Salutogene Ressourcen in der kunsttherapeutischen Praxis und Forschung

Belastungen, sondern auch zur systematischen Erfassung von Ressourcen weiterentwickelt und als ergänzende oder erweiternde Erkenntnisquelle in der Ressourcendiagnostik eingesetzt werden (vgl. Kortum, 2013).

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Eric Pfeifer

»Salut, Rock!« – »O, Genese!« Eine Crossover-Collage als Betrachtung einer salutogenen Musiktherapie

Einleitung »Salut«, »Rock«, »O« und »Genese«? Was mag die Zusammensetzung dieser Fragmente im Titel wohl bedeuten? Tatsächlich liefert das der Überschrift inhärente Wortspiel bereits einen humorvollen Anstoß, welchem Bereich sich dieser Beitrag zuwenden wird. Die Titelaussagen schildern die Szenerie einer Begegnung, die, versehen mit einigen weiteren Zuschreibungen, eine ganz wunderbare sein mag und sich folgendermaßen ereignen könnte: Da grüßt das hübsche Fräulein Genese wimpernklimpernd und lieblich-verschmitzt den jugendlich-rebellenhaften Kollegen Rock. Der wiederum freut sich ganz besonders, dass die so wonniglich anzusehende Genese ihn herzlichst wohlwollend anspricht und begrüßt. Lassen wir unsere Phantasie kreisen und stellen uns frech und frei vor – und das genehmigen wir uns sehr wohl, bietet Rockmusik doch einen hervorragenden Rahmen, um über ›Mauerblümchen-Euphemismen‹ hinauszuschauen und sich die Bilder in ihrer holistischen Anzüglichkeit ausmalen zu dürfen –, was denn aus den beiden werden könnte, sollten sie einander besonders zugetan sein. Tatsächlich impliziert die geschilderte Szene eine vermutete, synergetische Beziehung zwischen Salutogenese und Rock, genauer gesagt Rockmusik bzw. Musik im Allgemeinen. Hier ereignet sich eine vielleicht anfänglich erst zaghafte Einzig(artig)keit, eine Begegnung, deren vorsichtige, jedoch spannungsgeladene Stille durch Gesten, und vor allem einen Gruß, durchbrochen wird, um schließlich in einem Beginn auch zu einem empathischen Miteinander zu finden. Oder, wie Heidegger dies formuliert: Die Einzigkeit des Einzigen bricht sich als das ereignete Gedächtnis in das Zu-einander der gegrüßten Grüßenden. Sie bringen einander den Gruß der Huld, damit sie miteinander das ungesagte Wort der Huld befreien in die

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Eric Pfeifer

dankende Stille, die sich ereignen muß [sic], damit sie gebrochen werden kann. Der Bruch der dankenden Stille ist der Beginn des lautenden Wortes der Sage, die sich aussagt in die Sprache (Heidegger, 1993, S. 16).

Ist bzw. kann diese Sprache auch eine musikalische sein? Welche Parallelen und Verbindungen lassen sich bezüglich, ›Gruß‹, ›Musik‹, ›Salut‹, ›Salutogenese‹ usw. formulieren und herleiten? Mit welchen Erkenntnissen aus Musik und Musiktherapie ergeben sich sinnvolle Anreicherungen dieser Relationen und Referenzen? Diese Aspekte sollen folgend diskutiert werden.

Etymologie, Begriffsklärungen und Relationen Salut und Sound, Gesundheit und Musik Es lohnt sich eine erste etymologische Annäherung an den Begriff ›Salut‹ : Zugrunde liegt lat. salūtem [sic], Akk. von lat. Salūs [sic] ›Unverletztheit, Gesundheit, Wohlergehen, Heil, Glück‹, in formelhaften Fügungen ›das gewünschte Wohlsein, Gruß‹, zu lat. salvus [sic] ›gesund, heil, wohlbehalten, gerettet‹ (Das Digitale Wörterbuch der deutschen Sprache, 2016).

Interessant ist, dass sich hier bereits Verbindungen zu ›Gesundheit‹, ›gesund‹, ›Heil‹, ›Glück‹, ›gewünschtem (!) Wohlsein‹ usw. ergeben. Direkt an diese Erkenntnis lässt sich eine weitere etymologische Feststellung anbinden, nämlich jene, dass zwischen dem deutschen Wort ›gesund‹ und dem englischen Begriff ›sound‹ (Klang) eine kaum zu überhörende sprachwissenschaftliche Verwandtschaft gegeben ist (Timmermann, 1999, S. 131). Sound, Klang und Gesundheit sind also sprachlich bereits eng miteinander ›verbandelt‹. Zumal das Musikverständnis in der Musiktherapie sehr weit gefasst ist (Schmidt & Kächele, 2011, S. 490), dürfen Sound und Klang an dieser Stelle durchaus als Musik verstanden werden. In weiterer Folge dieser Abhandlung sprachgeschichtlicher Entwicklungen liefert auch der Blick in die Menschheitsgeschichte relevante Einsichten in Bezug auf musikalisch-gesundheitliche Verbindungen. Musik ist seit jeher Bestandteil der Kulturen der Völker dieser Erde und dient gleichermaßen und ebenso lange schon der Seelsorge, Pflege der psychosozia-

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»Salut, Rock!« – »O, Genese!«

len Hygiene und als wichtiges Element traditioneller Heilungsrituale (Hüther, 2004, S. 5; Timmermann, 2008, S. 79–81).

Therapie und Musiktherapie In Anbetracht dessen, dass nun auch schon der historisch erörterte Einsatz von Musik zum Zwecke der Pflege der menschlichen Gesundheit dargelegt wurde, soll, als Konsequenz, auch einer Musik als Therapie auf den Zahn gefühlt werden. Hier ist aber allemal Vorsicht geboten, denn der Begriff ›Therapie‹ ist heutzutage nur zu häufig in Gebrauch – bisweilen fragt man sich gar, was denn nicht alles vielleicht noch die Bezeichnung ›Therapie‹ verdienen würde, schließlich beruhigt der Klempner gleichfalls meine Nerven, wenn er zu einer Notfall-Rohrbruch-Behandlung Samstag abends um 21 Uhr anrauscht, diese ›Störung‹ beseitigt und somit zur Wiederherstellung meines Wohlbefindens beiträgt. Ist er also möglicherweise auch ein Therapeut? 1 Tatsächlich wähnt Feuser bereits 1991 den Begriff ›Therapie‹ als verwässert. Er warte nur darauf, dass einer auf die Idee käme, mit einem behinderten Menschen in die Kneipe zu gehen, Bier zu trinken, um dies im Anschluss als ›Integrative Biertrink-Therapie‹ zu bewerben (Feuser, 1991, S. 332). Noch früher, im Jahre 1959, fragt sich Pontvik: »Was heisst [sic]: Therapie?« (Pontvik, 1959, o. S.). Pontvik mahnt – aus musiktherapeutischer Sicht – diesbezüglich zur Vorsicht: Musiktherapie ist im Begriffe so etwas wie eine Mode werden zu wollen. Leute, von denen man früher nichts gewusst hat, haben auf einmal begonnen ›Musiktherapie‹ zu treiben und eifern, zum grössten [sic] Erstaunen der Pioniere, unberührt von Fachkenntnissen und rein gewaschen vom Scheine lediglicher Bescheidenheit, um die Gunst der Patienten und – der Presse! (Pontvik, 1959, o. S.).

Was heißt (Musik-)Therapie also? Was ist bzw. bedeutet Therapie eigentlich? Therapie ist ursprünglich dem »[…] griech. therapeía Dies ist keinesfalls gegen den wichtigen Beruf des Klempners gerichtet, sondern als Anregung zu einem Nachdenken über den exponentiell steigenden Trend, möglichst alles als ›Therapie‹ zu bezeichnen, was auch nur im Entferntesten therapeutisch sein könnte, zu verstehen.

1

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[sic] (eigentlich »das Dienen, Dienst; Pflege«) entlehnt. Stammwort ist griech. therápōn [sic] »Diener; Gefährte«« (Alsleben, 2007, S. 846). Unter Berücksichtigung dieser Herleitung erhält Therapie ein mitunter so nicht (mehr) geläufiges Verständnis. Es geht um ein Dienen, um einen zu gewährleistenden Dienst. In anderen Worten ließe sich Therapie so auslegen, dass der Therapeut sich (selbst) und seine Methode in den Dienst des Patienten, seiner Bedürfnisse, Anliegen usw. stellt. Unter Methode sind hier sowohl therapeutische Verfahren wie Richtungen und deren spezifisch-immanente Techniken, Instrumente, Medien zu subsumieren. In der Musiktherapie wäre es somit der Musiktherapeut, der sich mitsamt der dieser Therapie innewohnenden Ressourcen, Besonderheiten, Möglichkeiten und Musiken dem Patienten ›dienend‹ zur Verfügung stellt. Dieses ›Dienen‹ darf dabei aber nicht im Sinne eines hierarchischen Gefüges missverstanden werden – auch in dieser Auslegung einer Definition von Therapie obliegt die therapeutische Beziehung einer achtsamen, wertschätzenden und respektvollen Begegnung auf Augenhöhe zwischen Patient und Therapeut. Daran anknüpfend definieren die drei großen musiktherapeutischen Berufsverbände in Österreich (ÖBM), Deutschland (DMtG) und der Schweiz (SFMT) Musiktherapie als eine Behandlungsform, die innerhalb einer therapeutischen Beziehung Musik gezielt einsetzt, um die/eine Wiederherstellung, Erhaltung und Förderung von körperlicher, seelischer und geistiger Gesundheit zu ermöglichen (Deutsche Musiktherapeutische Gesellschaft e. V. (DMtG), 1998; Österreichischer Berufsverband der MusiktherapeutInnen (ÖBM), 2016; Schweizerischer Fachverband für Musiktherapie (SFMT), 2016). Bevor hierzu aber weitere Querverbindungen und -überlegungen angestellt werden, soll nun noch der Terminus ›Salutogenese‹ ausführlicher behandelt werden, um diesen in die Collage, den Gesamtverbund der Begrifflichkeiten einflechten zu können.

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»Salut, Rock!« – »O, Genese!«

Salutogenese und Musiktherapie Standortbestimmung Salutogenese Bezogen auf Antonovskys ›Konzept der Salutogenese‹ führt Vogel (2010, S. 443) aus, dass Krankheit und Gesundheit nicht als voneinander getrennte, abgespaltene Zustände zu betrachten seien. Stattdessen würden diese viel eher eine Art Endpunkte eines Kontinuums bilden, innerhalb dessen sich ein Individuum bewegt. Entscheidenden Einfluss auf die jeweilige Position entlang dieses Kontinuums hätten vielfältig wirksame pathogene und salutogene Faktoren. Deshalb sei es für die Erhaltung und Pflege der Gesundheit besonders wichtig, ebendiese salutogenen, schützenden Faktoren zu fördern. Gesundheit (bzw. Krankheit) ist demnach nicht als endgültiges, in Stein gemeißeltes Faktum zu sehen. Es existieren nicht die endgültig erlangte Gesundheit und die ein für alle Mal erlittene Krankheit als abgeschlossene Prozesse oder unveränderbare Ergebnisse eines Weges. Stattdessen sind Gesundheit und Krankheit lediglich eine Art Marker als (äußere) Grenzen innerhalb eines stetigen Prozesses, Weges oder einer Bewegung selbst zu sehen. Das Klinische Wörterbuch Pschyrembel benennt zu Salutogenese adäquat: […] von A. Antonovsky geprägte Bez. für den individuellen Entwicklungsprozess von Gesundheit, der sich als zeitbezogenes Ereignis personaler Lern- und Reifungsprozesse, genet. Ausstattung, physiol. Verhaltens u. soziobiolog. Umweltfaktoren darstellt (Pschyrembel & Dornblüth, 2004, S. 1611).

Resümierend erscheint die Tatsache, zwischen Gesundheit und Krankheit einen vielfältigen Spielraum, einen sich stetig bewegenden Prozess wahrzunehmen, als bedeutsame, ressourcen- und lösungsorientierte Erkenntnis. Schwing & Fryszer (2015, S. 170–172), zum Beispiel, bieten hierzu einige interessante Anregungen. Ein solches Denken eröffnet die Chance eines Perspektivenwechsels – weg von einem auf pathologische Aspekte fokussierten Krankheitsverständnis und hin zu einem salutogenen Therapieverständnis (Frohne-Hagemann, 2004, S. 310).

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Eric Pfeifer

Den entsprechenden Soundtrack für einen solchen Perspektivenwechsel liefert die wunderbare Künstlerin Patti Smith in einer bildhaften, zugleich unverkennbaren Weise.

Salutogene Gedanken zu Musik und Musiktherapie – oder sind AC/DC musikalische Salutogenerika? […] the death of the machine gun, the birth and ascension of the electric guitar (Smith & Kaye, 1978).

Frei interpretiert und auf das Thema dieses Beitrages bezogen könnte eine Übersetzung folgendermaßen lauten: »Tod den pathogenen Faktoren! Ein Salut dem Protektiven und Salutogenen!« Ein Hoch also auf die wunderbare E-Gitarre und die Musik generell! Durch die vorangegangenen Überlegungen zu Salutogenese wurde deutlich, wie wichtig protektive und salutogene Faktoren zur Pflege, Aufrechterhaltung und Wiederherstellung von Gesundheit sind. Um dieses gedankliche Sammelsurium nun langsam zu konkretisieren und auf den Haupttitel dieser Schrift zurückzukommen, stellt sich die Frage: »Hilft es, wenn ich mir regelmäßig eine Dosis des Salutogenerikums Rockmusik einschmeiße, um gesund zu bleiben/ zu werden?« An dieser Stelle gilt es nun, Synergieeffekten genauer nachzuspüren, mögliche salutogene Kompetenzen von Musik und Musiktherapie zu erörtern und die vorangegangenen Schilderungen nochmals zu bündeln. Ein brachiales und deutliches Statement als Einstieg liefern uns hier die australischen Hardrock-Weisen von AC/DC: »For Those About to Rock (We Salute You)!« (Johnson et al., 1981). Ehre und Salut denen, die rocken. Etwas formaler auf die Absichten dieses Beitrags umgelegt, stellt sich die Frage, ob es entsprechende musiktherapeutische Publikationen und Forschungen gibt, die sich explizit auf das Konzept der Salutogenese berufen bzw. dieses einbinden und belegen können, dass Musik über salutogene Wirksamkeit verfügt. Diesbezüglich findet sich u. a. ein Beitrag von Hüther (2004), welcher die salutogenetischen Wirkungen von Musik auf das Gehirn thematisiert und hier deutliche positive Effekte erkennt. Durch Musizieren, Singen, Hören von angenehm empfundener Musik lassen 120 https://doi.org/10.5771/9783495817995 .

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sich Harmonisierung und Synchronisation von Aktivitäten in verschiedenen Hirnregionen erreichen, sowie eine vermehrte Ausschüttung von Botenstoffen, die wiederum förderlich und stützend für die Generierung und Aufrechterhaltung emotional besetzter synaptischer ›Verkabelungen‹ im Hirn sind. In der von Stegemann (2013) als Dissertation abgehandelten Untersuchung zu rezeptiver Musiktherapie im Kindes- und Jugendalter bieten sich wichtige neurobiologische Erkenntnisse in Hinblick auf den Einfluss von Musik auf Stress und Entspannung. An mehreren Stellen werden salutogenetische Gesichtspunkte angeführt und behandelt. Das Konzept bzw. auch der Begriff der Salutogenese ist in der deutschsprachigen musiktherapeutischen Literatur allerdings scheinbar noch etwas rar gesät. An dieser Stelle sei nochmals auf FrohneHagemann (2004, S. 310) verwiesen, sowie auch auf Kreusch-Jacob (2009, S. 38), die in ihrer Veröffentlichung ausdrücklich die salutogenetischen Wirkungen des Singens betont. Diese doch kleinere Auswahl an entsprechenden Werken bedeutet jedoch selbstverständlich nicht, dass es generell kaum musiktherapeutische Forschungsvorhaben und Publikationen gibt, die Wirkung, Beitrag und Möglichkeiten von Musik und Musiktherapie im Kontext von Gesundheit, Gesundheitspflege und -wiederherstellung thematisieren. Siehe hierzu z. B. die auch in deutscher Sprache verfügbaren Meta-Analysen und Reviews (Argstatter et al., 2007; KieseHimmel, 2012; Pesek, 2007). In Anerkennung der einleitenden Worte Heideggers, der etymologischen Heranführungen an Termini wie ›Salut‹ und ›Therapie‹, und unter Einbezug des Konzeptes der Salutogenese, scheinen sich hier mithilfe von Musik viele Möglichkeiten zu ergeben. Wie bereits zuvor erwähnt, stellen Krankheit und Gesundheit zwei Pole an den Enden eines Kontinuums dar. Bildlich und zeitlich gedacht mag dieses Kontinuum den Lebensweg eines Menschen veranschaulichen, auf dem dieser wandert. Verschiedene Faktoren haben Einfluss darauf, ob er sich nun etwas mehr in die eine oder andere Richtung bewegt. Metaphorisch gesprochen spielen da zum Beispiel äußere Einflüsse (Regen, Wind, Zustand des Pfades …) wie auch innere Gegebenheiten (Motivation, Tagesverfassung, Neugier …) eine Rolle. Und manchmal, ja manchmal, das ist nur allzu menschlich, folgt dieser unermüdliche Wanderer auch Verlockungen, die gar nicht so gut für ihn sind. Nun ist es aber so, dass es auch Faktoren gibt, die ihm Unter121 https://doi.org/10.5771/9783495817995 .

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stützung, Kraft, Ruhe, Widerstandsfähigkeit, Schutz u. v. m. eröffnen und spenden können. Musik mag durchaus ein solcher Faktor sein. Sie lässt sich gut praktizieren während so einer Wanderung (pfeifend, summend, singend), sie passt in jede noch so kleine Tasche (MP3Player, Handy, Wandergitarre, Flöte …), sie ist überall zu finden (Vogelgezwitscher, Blätterrauschen, Bachgeplätscher …), sie berührt, erinnert, vergisst nicht, kann aber auch ganz schön flüchtig und manchmal sogar ein einfühlsam stiller Weggefährte sein. In anderen Worten ist Gesundheit ein steter Entwicklungsprozess, eine sich in ständiger Bewegung und in ständigem Wandel befindliche Wanderung, so bietet sich Musik wunderbar als Begleiter an. Denn wie Hartogh & Wickel postulieren, ist Musik »[…] ein fester Bestandteil der Lebenswelten aller Altersgruppen […]« (Hartogh & Wickel, 2012, S. 203).

Konstruktion eines Gedankenexperimentes – Betrachtung eines Musikgenres als kollektiv-salutogene, musiktherapeutische Errungenschaft einer Gesellschaft Sofort sind wir wieder da. Plötzlich geht es einem gut. Ist das die Magie von Musik? (Speck, 2012, S. 1135)

Zu Beginn des Gedankenexperimentes soll eine Rückblende ins Deutschland der Zeit während des Zweiten Weltkrieges gewagt werden. Was in dieser Zeit an Missbrauch, Gewalt, Folter und Grausamkeiten auch mit und durch Musik bewerkstelligt wurde, kann nur schwer in Worte gefasst werden. So existierten mit aus KZ-Insassen zusammengestellte Musikgruppen, die dann aufspielen mussten, wenn ihre Leidensgenossen den Gang in die Gaskammern anzutreten hatten (Timmermann, 2010, S. 45). Gleichzeitig bestand seitens des Nazi-Regimes durchaus ein Bewusstsein für die immensen Wirkungen von Musik auf die menschliche Seele und Gefühlswelt und die daraus resultierenden Möglichkeiten der Manipulation dieser Bereiche durch den Einsatz von Musik (Simon, 2013, S. 221–222). Den manipulativen Einsatz von Marschmusik – seit jeher werden Marschkapellen z. B. auch an vorderster Front im Krieg eingesetzt – reflektiert Rau folgendermaßen:

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[…] das waren Klänge, die das genaue Gegenteil zur Marschmusik der Nazizeit darstellten. Durch das Offbeat-Erlebnis wurde plötzlich mein ganzes körperliches System in einen anderen Rhythmus gebracht. Marschmusik macht, dass sich die Schwachen noch schwächer und die Protzigen noch protziger fühlen. Im Swingjazz dagegen lernen die Lahmen zu gehen, und die Schwachen holen tief Luft und schöpfen neuen Mut. Die Protzigen aber marschieren ins Leere (Rau, 2013, Pos. 516).

Dem Missbrauch durch, von und mit Musik ist allerdings auch der äußerst (überlebens-)wichtige Gebrauch dieser entgegenzuhalten, was die Zeit des Nationalsozialismus anbelangt. So finden sich bei Rau (2013, Pos. 448–516) und Simon (2013, S. 226–229) mehrere Beispiele und Schilderungen, welch überlebenswichtige Funktionen Musik, gemeinsames Musizieren usw. innehatten – als existenzielles Bedürfnis (gemeinsames Singen von Liedern im KZ …), als Ausdruck des Widerstands (Swing-Jugend usw.), als Verkörperung der Freiheit usw. Gerade an dieser Stelle ergeben sich wiederum Parallelen zu Antonovskys Konzept der Salutogenese. In seinen Untersuchungen stieß er auf Erkenntnisse, welche Muster, Verhaltenstendenzen und Faktoren in entschiedenem Maße dazu beitrugen, dass es KZ-Insassen gelang, zu überleben bzw. auch die damit verbundenen, schweren Traumatisierungen zu verarbeiten und ein stabiles Leben führen zu können. Er kam zu dem Schluss, dass vor allem drei Faktoren (Verstehbarkeit, Handhabbarkeit, Bedeutsamkeit) bei diesen Menschen stärker ausgeprägt und für eine Gesundung mitverantwortlich waren, als dies bei anderen der Fall war (Schwing & Fryszer, 2015, S. 171–172). Nun, wie sollte es in Deutschland künstlerisch weitergehen nach einer Zeit der autoritär-suppressiven Bestimmung bezüglich Kunst und Musik, einer Zeit, in der der Begriff ›Entartete Kunst‹ jegliche Bestrebungen eines artistischen Freigeists im Keim erstickte? Sind Menschen und Gesellschaften Gewalt, gewalttätigen Verhaltensmustern und Mechanismen wie Krieg, Terror und Katastrophen ausgesetzt, so bilden sich darauf zurückzuführende Traumata und Symptome nicht ›nur‹ auf individueller, sondern auch auf kollektiver Ebene aus (Berger & Lahad, 2013, S. 16, 25). In anderen Worten bedeutet dies, dass ganze Gesellschaften auf kollektive Weise von pathogenen Faktoren betroffen sein können und als Reaktion entsprechende Traumata und Symptome entwickeln. Bezogen auf obige geschichtliche Ereignisse ist denkbar, dass hier eine gesamte Gesellschaft nebst 123 https://doi.org/10.5771/9783495817995 .

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vielen anderen Bereichen auch künstlerisch und musikalisch traumatisiert wurde/war: die Erlebnisse und Mechanismen während der nationalsozialistischen Regierung als traumatisierender Faktor und die Nachkriegszeit als Phase der posttraumatischen Reaktion. Rau (2013, Pos. 4209–4215) schildert in seinem autobiographischen Buch erste Hoffnungsschimmer, welche Macht und salutogenen Einflüsse Musik auf ihn gehabt hätten. So, laut eigener Aussagen, hätten ihn Blues und Jazz gar ›entnazifiziert‹ und von Depressionen geheilt. Nähern wir uns diesem Prozess neuerlich mit Gedanken und Worten Antonovskys. Oben wurde bereits dargestellt, dass Antonovsky nach Mustern suchte, die KZ-Insassen halfen diese grausame Zeit zu überleben (Schwing & Fryszer, 2015, S. 171–172). Möglicherweise bietet sich diesbezüglich auch ein intensiveres Nachdenken über Muster und Musterveränderung, Stabilisierung und über Heilung im Sinne von Selbstorganisation an. Erkenntnisse aus der Systemischen Therapie eröffnen dazu interessante Anregungen. Speziell, wenn es um das Erkennen und Verändern von Mustern geht bzw. auch um die Rahmenbedingungen, die nötig sind, damit ein solches Durchbrechen von Mustern überhaupt geschehen kann, ist ein Modell wie jenes der ›generischen Prinzipien‹ hilfreich (Rufer, 2013, S. 31–41). Um eine neue Ordnung zu bilden, müssen selbstorganisierende Systeme zunächst aus dem Gleichgewicht geraten. Solche »Zwischenzustände« sind durch kritische Instabilität gekennzeichnet (z. B. Turbulenzen in bio-psychosozialen Systemen) (Rufer, 2013, S. 32).

Kritische Instabilität ist also ein Element, das gleichwohl Möglichkeiten zur Veränderung schafft, etwas, das mit Sicherheit auch auf den Zustand der (künstlerischen) Gesellschaft Deutschlands der Nachkriegszeit zutraf – mit all den (zuvor) erfahrenen Erlebnissen (Massenmord, Traumatisierung, Niederlage, Entmachtung und Fremdbestimmung durch die Alliierten …). So schlimm diese Erfahrungen auch laste(te)n, so sehr boten sie zugleich einen Nährboden für eine unglaubliche Progressivität musikalischen Schaffens, eine wie sie in keiner anderen Gesellschaft zu jener Zeit möglich gewesen wäre. Bezugnehmend auf die acht generischen Prinzipien (Rufer, 2013, S. 31– 41), sowie die drei bei Antonovsky genannten Faktoren (Schwing & Fryszer, 2015, S. 171–172) scheint es möglich, dass Musik und musikalisches Schaffen darin eine bedeutsame Rolle einnehmen können 124 https://doi.org/10.5771/9783495817995 .

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und dies in Deutschland in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg auch taten – speziell in Bezug auf ein sich hervorbildendes, musikalisches Genre: den Krautrock. Fakt ist, dass erlebte und nichtverarbeitete Traumata auch an nachfolgende Generationen weitergegeben werden (können) (Timmermann, 2011). Gerade die Generation, die während der Kriegsjahre geboren wurde, schuf sich mit Krautrock eine Plattform der Verarbeitung dieser durch die Eltern sowie bisweilen noch selbst erfahrenen Traumatisierungen, der Abgrenzung bzw. auch der Reaktion auf das Vorangegangene. Salutogenetisch überspitzt formuliert, könnte man möglicherweise gar von Krautrock als kollektiver Musiktherapie einer ganzen Generation sprechen. Wie kam es nun dazu? Die für einen solchen musterdurchbrechenden Heilungsprozess nötige kritische Instabilität war, wie oben erwähnt, gegeben. Musikalisch war Deutschland zu jener für den Krautrock wichtigen Zeit vor allem geprägt von Schlagermusik und der Musik der Radiosender der Besatzungsmächte (größtenteils also angloamerikanische Musik). Als junger (Rock-)Musiker hatte man somit mehr oder weniger die Wahl: Ins Schlagerlager wechseln oder den angloamerikanischen Sound assimilieren und kopieren. Gerade Zweiteres gelang jedoch in den seltensten Fällen erfolgreich mit eigenständiger Note. Zudem zogen sich diese Musiker oftmals noch den Hohn der britischen und amerikanischen Musikpresse als minderbegabte Kopien zu. All diese Faktoren kreierten einen reichhaltigen Nährboden für etwas Neues, für eine progressive Musik, wie sie amerikanische und englische Plattenfirmen niemals auf den Markt gebracht hätten (wollte man doch bei aller Progressivität natürlich auch den sich kommerziell lohnenden Anstrich wahren!). In Deutschland allerdings gab es keine Einschränkungen – man wollte nach all den Erfahrungen mit Unterdrückung, ›Entarteter Kunst‹, Kriegsschuld usw. ja nicht regressiv oder suppressiv auftreten gegenüber künstlerischen Schaffensprozessen im eigenen Lande. Die besten Voraussetzungen also für eine Musik, wie sie nicht hätte eigener sein können: Die Perfektion innerhalb der Musik kam dem deutschen Gemüt sehr entgegen, die VW-Nation machte sich daran, den artifiziellsten Sound der Welt auf die Beine zu stellen. Was Wunder, dass das Geschäft mit Synthesizer und elektronischem Gerät blühte (Schober, 2014, Pos. 2498).

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In Hinblick auf die salutogene Wirksamkeit dieses Genres als protektiver Faktor in der Verarbeitung (transgenerationaler) PostkriegsTraumata, fasst Cope dies auf radikalste Weise zusammen: »Musik, die alles Elend mit Haut und Haaren schluckte …« (Cope, 1996, S. 71). An mehreren Stellen seines Buches beschreibt Cope (1996) Krautrock als eine heilsame Musik. Interessant ist diesbezüglich auch, dass der Begriff Krautrock anfänglich von der englischsprachigen Musikpresse eher abwertend verwendet wurde, um den deutschen Gruppen eine gewisse Plumpheit oder Primitivität zu attestieren. Dies wandelte sich allerdings dahingehend, als dass Krautrock zunehmend zu einem Gütesiegel mit Ehrenqualitäten wurde (Symolka, 1999, S. 191). Als Detail am Rande lässt sich dem noch hinzufügen, dass sich mit Florian Fricke, Komponist, Elektronik-Künstler, Musikkritiker sowie Kopf der bekannten Formation Popol Vuh, dann ein bekannter Vertreter des Krautrock-Genres tatsächlich dem therapeutischen Einsatz von Klang, Musik, Stimme und Atem zuwandte und eigene Konzepte in dieser Hinsicht entwickelte (Schober, 2014; Waldthausen, 1995).

Resümee […] als der Griff nach den Sternen nicht das Erreichen der Sterne einschließen mußte, um erfolgreich zu sein (Cope, 1996, S. 31).

Frei nach dieser Aussage Copes über ein Album der Krautrock-Gruppe Faust, ist es auch die Musik, die nicht das Wundermittel selbst ist. Musik kann Begleiter, Unterstützer, Förderer und eben auch salutogener Faktor und Beitrag zur Erhaltung, Stärkung und Wiederherstellung von Gesundheit sein. Sie ist ein treuer Weggefährte beim Wandern auf dem Kontinuum des Konzepts der Salutogenese zwischen Krankheit und Gesundheit und kann hier viel Gutes bewirken. Tatsächlich ist Musik aber eben auch kein Allheil- oder Wundermittel. Wir sind – glücklicherweise! – (noch) nicht an einer Stelle angelangt, an der ein an Migräne Leidender zum Arzt geht und dieser ihm dann per Rezept ›Bullet in the Head‹ (homöopathisches Prinzip!) von ›Rage Against the Machine‹ ausstellt. Der Leidende wäre dann angehalten, per Rezept die entsprechende ›Heilmusik‹ als MP3 in 126 https://doi.org/10.5771/9783495817995 .

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der Apotheke zu erstehen. Anschließend hätte er die per Verschreibung angeordnete Dosis zu beachten (z. B. dreimaliges Hören am Tag) und wäre im Idealfall von seiner Migräne geheilt. Man stelle sich vor, wenn dem wirklich so wäre – wir wären als Menschen nur mehr Opfer und Marionetten der uns umgebenden akustischen Reize und Dauerpenetrationen (siehe Kaufhausmusik, Fahrstuhlmusik usw.). Musik verfügt über salutogenetisch-wirksame Kompetenzen – dies ist unbestreitbar (siehe obige Verweise). Der Einsatz von Musik zu therapeutischen Zwecken allerdings verlangt nach einer professionellen Ausbildung, einer therapeutischen Beziehung und einem Handeln nach bestem Wissen und Gewissen – im Dienste unserer Patienten und Klienten. Musik kann und darf einen bedeutsamen Platz im Leben eines Menschen einnehmen, sie darf Bestandteil von Therapieverfahren sein, sie verfügt über ihr besondere, spezifische und innewohnende Potentiale – sie ist aber nicht schlechter oder besser als andere Medien, Methoden, (Kunst-)Formen usw. So bleibt sie ein Freund, ein lieber und herzlicher Freund, aber … Musik ist mein engster Freund, aber nicht mein einziger (Densmore, 2008, S. 293).

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Dana Rufolo

Aesthetic Empathy and Salutogenesis through Beauty

Aesthetic Empathy is the name I am giving to a process which philosophically explains how the therapeutic act in an arts modalities context achieves the function of solidifying a core identity for the patient and encouraging a salutogenic transference. Using that part of Aaron Antanovsky’s theory of salutogenesis which has to do with what he terms »cohesion,« 1 I am suggesting that arts therapies facilitate wellness by means of proactively rewarding expressive creativity in the context of therapeutic activity. The reward is a reinforcement of the cohesiveness of the creating individual, the client, in art therapy. As a phenomenological idea, if proven to be useful and valid, Aesthetic Empathy may also be applicable to the average human being who is expressively creative, whether or not in therapy. What is Aesthetic Empathy? You have not heard this term before, in or outside an art therapeutic context, because this is one of the very first times I am using this term in public. For months if not years, I have been ruminating on the subject of the relationship between the expressively created object of art and its creator, the client or patient seen from the perspective of the object. I finally found the label Aesthetic Empathy. I am presenting, in effect, an ongoing hypothesis. I derive my understanding of the argument for Aesthetic Empathy as a paradigm for the arts therapies from two perspectives. Initially, I rely on personal experience and personal reactions to personal experience – in other words, from my own folk psychological awareness of the existence of other minds, as Karsten Steuber has elaborated in his book entitled Rediscovering Empathy, Agency, Folk Psy-

Aaron Antanovsky: »The structure and properties of the sense of coherence scale«. In: Social Science & Medicine, Vol. 36, March 1993, pp. 725–733.

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Aesthetic Empathy and Salutogenesis through Beauty

chology and Human Science. 2 Because of my personal experience as a person motivated to become an arts (specifically, a drama) therapist and driven subsequently to understand what I experienced or believed I experienced phenomenologically, the second perspective supporting my approach to Aesthetic Empathy derives from academic, empirical, and philosophical theory. Generally, from personal experience and because of the nature of whom I am, it has struck me as significant that we art therapists have contributed a collection of individual methods to the arts therapies practice. We develop our own working method, attributing borrowings to individuals who have developed their own working method and adding our own working method to the pasta pot of working methods for accomplishing Art Therapy. Art therapists have a long tradition of observing that presenting the patient with the possibility of creating an aesthetic object achieves something akin to healing and that, generally, creative activity encourages salutogenesis. In extreme pathological situations, we observe something akin to an absence of the state of manifesting pathology for the limited period of time in which engagement with an aesthetic objective is the overriding concern of both the patient and her or his art therapist. I refer you, for example, to the work of Hilarion G. Petzold. 3 Or, about her experience with theatre and psychotic patients, Patricia Attigui writes, there are therapeutical virtues of a moment of theater shared with psychotic patients. The setting gives transference a new space to unfold thus allowing the »link« to be embodied and felt. Laughter and humour become symbolic levers thus giving the subject the means of a safe exploration aiming at revealing the unconscious motives of a psychic situation so far unthinkable. The repeated practise of theater mobilizes unconscious communication, allowing the subject to integrate fiction as a possibility to express »the unexpressable« and become an »author«, thus thwarting the traps of destructive action. 4

Or, again, reference to the performative stability of patients can be found in the 2003 article Therapeutic theatre and well-being by SteKarsten Steuber: Rediscovering Empathy: Agency, Folk Psychology, and the Human Sciences. Cambridge, MA: MIT Press. 3 Hilarion G. Petzold: »Das ›Therapeutische Theater‹ Vladimir N. Iljines als Form dramatischer Therapie«. In: Gestalttherapie und Psychodrama, Kassel; Nicol 1973, pp. 97–133. 4 Patricia Attigui: »De l’acte théâtral au transfert: une interprétation passionnée«. In: Cliniques méditerranéennes 1/2004 (N 69), résumé. 2

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Dana Rufolo

phan Snow 5 and Renee Emunah’s 1983 The Impact of theatrical performance on the self-images of psychiatric patients. 6 This temporary abstinence from the pathological even in patients whose behaviour and amnesias are saturated with psychiatric dilemmas seems to occur when the guiding art therapists use an almost infinite variety of aesthetic transferences. Art therapists experience a rapport with the patients or clients and a positive engagement with the aesthetic object under creation whether they assist in the invention of material objects such as paper or canvas (plastic arts therapy) or whether the invented object involves physiological, conversational, or musical inventions such as one finds in the movement, drama, and music based therapies. These observations of the suspension of pathologies during periods of active artistic creation work towards a theory of Aesthetic Empathy intuitively. Except by embossing the theory of folk psychology, resorting to intuition does not have a recognized philosophical or psychological foundation. And so we art therapists have invented as many intuited approaches to our practical art therapy work as we are individuals. And yet, taken together, our myriad approaches, our myriad ways of practicing art therapy, generate automatically and instinctively the philosophical concept I am defining and exploring today. To explain the puzzle of why symptoms are suppressed during the period of creation of such aesthetically focused therapy could well be because the symptoms are being projected into the object of either material, spatial, or temporal dimensions which is being created by the client or patient through the catalyst of the art therapist. This leads me to suggest that we art therapists have been practicing Aesthetic Empathy without defining it. What is Aesthetic Empathy? It is a psycho-philosophical constructed theory that asserts that the client in art therapy develops a reflective empathetic relationship with the self which returns to the penetralia of self because of internalizing the experience of OutsideSelf. In brief, through the creation of an aesthetic object that is outside of the self or the envelope of the self (and here I anticipate an

5 Stephen Snow: »Therapeutic Theatre and Well-being.« In: The Arts in Psychotherapy, Vol. 30, Issue 2, 2003, pp. 73–82. 6 Renée Emunah: »The Impact of Theatrical Performance on the Self-images of Psychiatric Patients«. In: The Arts in Psychotherapy, Vol. 10, Issue 4, Winter 1983, pp. 233–239.

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Aesthetic Empathy and Salutogenesis through Beauty

involvement with Didier Anzieu’s Skin Ego), 7 the creator who is also a client or a patient develops an empathetic relationship with himself or herself. My patient creates an aesthetic object such as a painting and feels relief in having done so. Something of him or herself has been poured into the artwork, we know this. Jacob Moreno in psychodrama, Jacqueline Verdeau-Paez in music therapy, France Schott-Billmann in dance therapy Daria Halprin in the expressive arts therapies and many more have told us what we know in our own clinical and private practices. This is, however, an approach that concentrates on the creative process integral to the arts therapies seen from the position of externalization. Instead of externalization, Aesthetic Empathy is a perspective that focuses on the reflective response of the client to her own work of art, her dance, her psychodrama, his painting. The aesthetic object is a reflective object. It acquires the resonance of a thing, an idea developed in the Thing Theory of the school of Sheryl Turkel. 8 The object outside of the self, created in an expressive act, reflects back onto its creator. Beheld in that self-reflexive way, the object has meaning or messages that it gives off to its creator. And, because it has meaning to the perceiver, it is beautiful and good. Because it is beautiful and good, using the logic of the philosophers of Einfühlung or empathy, Theodore Lipps principally, it bestows beauty and goodness onto its creator and thus provides integrating and healing qualities: the cohesion of salutogenesis. That is what is achieved, grosso modo, in the theory of aesthetic empathy I achieve. It looks at the therapeutic effect of Arts Therapies from the position of the created object. It proposes that the object smiles upon its maker, reveals its maker to himself and reassures the maker that her feelings, his traumas, are real and possessed by a self which is solid, integral and is contingent in the humanistic existential sense of the outside reality called the world. We have been intuitively creating therapeutic interventions that support this philosophical position of aesthetic empathy. And now, I will propose to transition out of the intuitive and to look at an argument in support of the philosophical art therapeutic concept of Aesthetic Empathy.

Didier Anzieu: Le Moi-Peau. Paris: Editions Dunod, 1979. Sherry Turkle (ed.): Evocative Objects: Things We Think With. Cambridge, MA: MIT, 2007. 7 8

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Dana Rufolo

Firstly, so as to clearly distinguish the created object which is the product of aesthetic empathy from the transitional object of Donald Winnicott, I will look at how the dynamic described by Didier Anzieu who proposes that the interior of the self is held together by the skin serves to permit the transference from object to self that leads to aesthetic empathy. Anzieu’s psychoanalytic theory allows for an undifferentiated appraisal of the contents contained by the skin, both physical and metaphorical, as the container of fantasies. Next, I shall pass over to the aesthetic positon of Einfühlung of Theodore Lipps, to suggest that what is inside is transferrable from outside through the skin membrane to the inside so that the cathected aesthetic object created by the client shines back onto its creator, the client, and has a healing or health-restoring effect by consequence. Aesthetic empathy associates itself with the subjects of transference, the development of psychoanalysis, the patient as actor, aesthetics, expressive therapies, the arts therapies modalities, and the systems of the humanistic therapies. The focus in this present paper is on the work of Didier Anzeiu, who died in 1999. As a psychoanalyst and professor of Psychology at Paris-Nanterre, he practiced analytic psychodrama since 1950 9 even though it is his 1979 book titled Le Moi-peau which interests us today. Art therapists, like psychoanalysts, have intuitively claimed that there are no general categories into which you fit, by subdividing, individual persons, how common or typical or unexceptional (e. g. statistically representable) they may appear to be. Art therapists and art psychoanalysts know that appearance is not the whole story. So did Didier Anzeiu. He wrote that the skin is not only a barrier. It is also a container – the interior life of every individual swirls with psychical realities in the form of images, sensual impressions, desires and fears – and all this is contained within the skin. Anzieu incorporates Sigmund Freud and Boris Bion into his own theory that the skin, the human organ which covers our bodies, functions as both a physiological and a psychical envelope. Doing so, he gives to the person the depth and density of a material object. Density ensures a place in the world; density ensures being and occupation of presence in space; density ensures the individual is here before us, not a represen-

9 Didier Anzieu published Psychodrame analytique chez l’enfant et l’adolescent in 2004.

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Aesthetic Empathy and Salutogenesis through Beauty

tative of a general mass. Anzieu claims that the psychologically dysfunctioning or psychiatrically troubled individual person is one whose skin is perceived to be not continuous, not a limiting border between the interior and the outside, but one whose skin has been penetrated. 10 The skin delimitation of the self, rather than being an envelope, is more like a colander – that kitchen utensil we use to wash lettuce or drain spaghetti. Inside, outside, and the border that delimits the self, the skin envelope – this is the heart of Anzieu’s theory. He admits to not only a tactile Skin Ego, but also to an auditory one, a gustatory one, and also an odour-sensitive one. The Skin Ego is a sense-sensitive border control. Anzieu posits only a secondary regard for the contents of the interior space which is enveloped by the skin, stressing as he does rather the integrity of the self as an essence contained by the skin, the skin envelope. In so doing he permits far more interior non-structured and potentially creative activity in the interior of the self than do any other psychoanalytic theorists. He therefore removes himself from the psychoanalytic techniques of his mentors. How can we repair a damaged skin ego and reinforce the healthy Skin Ego? What practical therapeutic means give back that form of salutogenesis that sees the integrity of the self as a being whose interior life is to be distinguished from the space into which it fits, with which it has an unavoidable contingency, to use the term of Jean Paul Sartre in Nausée? 11 We have unwittingly referenced the Skin Ego while practicing the arts therapies with our patients. These posit an interior self that solidifies after traumatic interior material has been Anzeiu was too modest to establish a closed system when he developed his Skin Ego theory. An avid, brilliant student of all the phases of Freud’s thought, he permitted seepage of Freudian theory into his own solid theoretical position. Without realizing it, he interpolated this and other foreign systems of thought into his theory whole. He might instead have analysed these systems of thought in terms of his own skin theory. I refer specifically to his mentioning, in The Skin Ego, masochism. He has borrowed and bought wholesale into the classical concept of masochism established by Sigmund Freud. However, there was no need for Anzieu to believe his own theory would fail him if he deconstructed the term »masochism.« That is to say, he could easily have claimed that masochism is an attitude to the skin ego that permits an impingement upon the skin to a level which would (ordinarily) be considered excessive but which is not for that (»masochistic«) individual, because of him/her having some a priori or instinctual/physiological anomalies in their own (inherited? Selfgenerated?) Skin Ego. 11 Jean-Paul Sartre: La Nausée. Paris: Editions Gallimard, 1938. 10

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Dana Rufolo

disgorged or exteriorized through a creative art therapy endeavour. For that solidity to set, there has had to have been an envelope, a mould, a skin to contain it. We art therapists are no more perturbed than Anzieu by the creative flux within the envelope. We art therapists, no less than Anzieu, are confident that, given a strong, resilient, healthy Skin Ego a measure of whirling creative non-functional thought can be properly contained by the patient and can be controlled without provoking phobias or triggering re-traumatization. What is required is that the Skin Ego is intact. This has been our tacit assumption, and it has proven correct in countless individual clinical and private patients. Now, let us re-examine the process of constructing the Skin Ego when viewed from the position of Aesthetic Empathy. To do so, I reference the image achieved by our collective ancestors some 22,000 years ago on the wall of the Lascaux caves in France portraying ungulate animal figures and the suggestion of humanoid figures bearing bows and arrows. They form two groups. One is a group of warriors who attack the second group of animals. It is painted so as to tell a narrative from the point of view of the warriors. These early humans are whole, complete. The animals they will kill and eat also are whole, complete. The skin ego is intact for both groups, and each is a foreign element to the other. There is no study here of the individual, so if there was a mentally disturbed person in the group of protohumans or if there was an old and ill animal among the ungulates portrayed, we would not be able to access this information. What we are able to access indicates that there is no empathy, no throwing of the imagination across the species barriers, no transference. They share no common psychic Skin Ego. Instead, rather, we see two groups in opposition. The narrative, the time line, indicates that the stronger group, the cleverer group, will dominate. It is a painting of life and death taken out of the natural cycle and placed into a manmade cycle. It is a human narrative that we read into the cave painting, the story is of human victory. This cave painting is a totemic valorisation of the warrior nature and cleverness of the early human species. It does not have a therapeutic function in terms of the parameters of Aesthetic Empathy and when applied to the goal of the art therapies to help patients achieve sufficient flexibility of mind so as to be able to posit knowledge of other minds. In a second artwork, a sculptured head of solid ebony wood portraying a woman’s bust, which was fabricated in Africa, we see a work 136 https://doi.org/10.5771/9783495817995 .

Aesthetic Empathy and Salutogenesis through Beauty

of art with which there can be an empathetic relationship. The human head has grace, depth, and an inside density that is immediately apprehended. We can merge with this object, pass through its outer walls, its symbolic skin, and go inside it. The object shines back the message of its humanity to us. What we are doing in this case is that we are projecting inner content onto an outer (aesthetic) object which is then reflected back. In this state of reflectivity, the inner content is not touched, but rather the reflection back occurs at the level of the Skin Ego, in other words at the outer boundary of the self. Perceptually, it is the self who has invented the aesthetic object. The consequence is a salutogenic or selfintegrating activity that incorporates the perceptually identified warring or conflicting parts of the self which have escaped through the pores of or which have been uncompressible by the Skin Ego. The aesthetic object stands in the place of an other mind, which in knowing us permits us to know ourselves. It is Theodore Lipps and his German aesthetic philosophers such as Robert Vischer of the late 19th century who have provided the inspiration to aesthetically ground this salutogenic healing process with the theory of aesthetic empathy. These are the key points to what they have said: We involuntarily read our emotions into all inorganic phenomena we see around us … empathy functions symbolically to animate a plant and to anthropomorphize an animal … Toward other human beings empathy acts as a doubling of self. 12

and Since we are not aware of »inner imitation« as imitation, we experience and project the associated phenomenal quality into the observed object … Lipps’ empathy (Einfühlung) does not involve a loss of self in its object … does not lead to »losing oneself in a different reality. 13

The schematic presentation of what is ongoing in an exchange between the client and the (art) therapist-guided artistic creation – be it dance, plastic art, drama or music – is that the created object is Robert Vischer: »On the Optical Sense of Form: A Contribution to Aesthetics«. In: Harry Mallgrave and Eleftherios Ikonomou (ed.): Empathy, form, and space: problems in German aesthetics, 1873–1893. Santa Monica, California: Getty Center. Distributed by University of Chicago Press, 1994, pp. 90, 106. 13 Lipps: 1903 via Steuber, p. 8. 12

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Dana Rufolo

packed with messages about the client’s intuited state of unwellness and it sends these messages back – like little arrows, perhaps even the arrows of Eros – back into the density of the patient. The movement, therefore, appears as follows: blurp … outwards from the object and bling … inwards into the penetralia of the person. Why is this different from the transitional object described by Donald Winnicott? Because, precisely, of what Didier Anzieu has taught us when he focused on the border and not the content by developing his concept of the Skin Ego. What is put out of the self is a pictorial representation of what was in the self, and in its being reabsorbed into the self through an experience of consciousness of how beautiful it really is to have made this thing that embodies foreign and hurtful elements and converts them into creations, is that the holes in the Skin Ego get closed up, but not from the inside out but rather from the outside in. They are stuffed closed. Of course, I am speaking ideally. Hurt still remains in the real world; the fantasy holes are fantasy stuffed; there is seldom absolute contiguity. However, the transference onto the created object changes the nature of the hurt and infuses it with light and healing power. It is the directional movement of the action which I want to point out here. So, the schema shows a self that is pouring out into an object and returning back into the self. Transference occurs, but the nature of that transference is different from what it is defined to be in traditional psychoanalysis like Winnicott’s. It is based on creation and the humanly important perception of beauty, harmony, understanding. It is salutogenic. The crossover between art psychotherapy and aesthetic philosophy is something I wish to explore in future papers. As well, I have twice had the opportunity to teach art therapeutic workshop exercises which are derived from a pragmatic application of Aesthetic Empathy, and I seek to test their efficacy on one hand by holding more workshops of this nature with art therapy students and, and on the other hand, I need to write up for you the readers’ critical attention my findings in a practical line of papers dealing with Aesthetic Empathy. However, in closing this present paper I would like to inform you, the readers, that there has been a surge of interest in aesthetic philosophy, with several papers published since 2010 about it, because of the theme of empathy which they develop. As Steuber states in Rediscovering Empathy, empathy is defined by these philosophers as »a form of inner or mental imitation for the purpose of gaining knowledge of 138 https://doi.org/10.5771/9783495817995 .

Aesthetic Empathy and Salutogenesis through Beauty

other minds.« 14 In each collectivized or »othered« instance of identifying these other minds we have to accept that our own mind is included within the group mind(s). By inference, one can – as I have attempted to do, in a first attempt, here – speak of gaining knowledge of our own mind and of therefore gaining self-empathy. All the same, to my knowledge this concept of Aesthetic Empathy which I have humbly proposed to you here is the first application of Steuber’s thought laterally to the field of art therapy. We have every reason to expect a rich harvest of ideas through this crossbreeding.

This carved head of a female originated in Africa prehistorically. It reveals form and depth, the viewer is able to ascertain that there is an underneathness to the skin akin to an interior space.

Approximately 20,000 years before the Christian era, this wall painting inIn the caves of Lascaux, Dordogne in present-day France waspainted by proto-humans.

14

Steuber, p. 28.

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Dana Rufolo

Literature Antanovsky, Aaron: »The structure and properties of the sense of coherence scale«. In: Social Science & Medicine, Vol. 36, March 1993, pp. 725–733. Anzieu, Didier: Le Moi-Peau. Paris: Editions Dunod, 1979. Attigui, Patricia: »De l’acte théâtral au transfert: une interprétation passionnée«. In: Cliniques méditerranéennes 1/2004 (N 69), résumé. Emunah, Renée: »The Impact of Theatrical Performance on the Self-images of Psychiatric Patients«. In: The Arts in Psychotherapy, Vol. 10, Issue 4, Winter 1983, pp. 233–239. Sartre, Jean-Paul: La Nausée. Paris: Editions Gallimard, 1938. Snow, Stephen: »Therapeutic Theatre and Well-being.« In: The Arts in Psychotherapy, Vol. 30, Issue 2, 2003, pp. 73–82. Steuber, Karsten: Rediscovering Empathy: Agency, Folk Psychology, and the Human Sciences. Cambridge, MA: MIT Press. Petzold, Hilarion G.: »Das ›Therapeutische Theater‹ Vladimir N. Iljines als Form dramatischer Therapie«. In: Gestalttherapie und Psychodrama. Kassel: Nicol, 1973, pp. 97–133. Turkle, Sherry (ed.): Evocative Objects: Things We Think With. Cambridge, MA: MIT, 2007. Vischer, Robert: »On the Optical Sense of Form: A Contribution to Aesthetics«. In: Harry Mallgrave and Eleftherios Ikonomou (ed.): Empathy, form, and space: problems in German aesthetics, 1873–1893. Santa Monica, California: Getty Center. Distributed by University of Chicago Press, 1994, pp. 89–123.

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III. Praxisfelder Künstlerischer Therapien

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Anne Engler

Balance – Kreativtherapie im Spiegel der Salutogenese-Forschung Künstlerische Wege im Umgang mit einer lebensbedrohlichen Erkrankung entdecken 1.

Einleitung

Im folgenden Artikel sollen Herausforderungen und Chancen einer palliativ-onkologischen Begleitung durch Kunsttherapie angeschaut werden. Es wird ein Praxisbeispiel gezeigt, das die körperlich-seelische Realität innerhalb einer lebensbedrohlichen Erkrankung genau wiedergeben kann. Als besonderes Charakteristikum der Kunsttherapie werden im Tun zugleich Lösungswege entwickelt, die bildnerisch und auch durch sprachliche Aussagen des Betroffenen validiert werden können. Das Prozesswissen wird somit auch für den Betrachter einsehbar, nachvollziehbar, verständlich und handhabbar. Das generierte Datenmaterial hat das Potential ganz neue Impulse für die psychosoziale Begleitung in vielen Bereichen lebensbedrohlicher Erkrankungen zu geben. Dieses unterstützt Begleiter und Klient in ihrem Prozess, sich vermehrt ihrer aktiven Kraft zuzuwenden, und sich weniger als Opfer der Systeme zu erleben, und dadurch zahlreichen neuen, belastenden Stressoren ausgesetzt zu sein.

2.

Handlungstechnische Fragen zur Indikation von Kunsttherapie

Was kann Kunsttherapie – in der Begleitung von Menschen mit lebensbedrohlichen Erkrankungen – beitragen? Themen sind:

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Anne Engler

a.

Die Identifikation der Stressoren

Welche Faktoren belasten das System in Zeiten einer Erkrankung besonders bzw. fordern den Betroffenen in Bezug auf die Homöostase bzw. Selbstregulation selbst sehr stark heraus? Die Erhaltung des Gleichgewichts ist nur möglich, wenn diese heterostatischen Elemente erkannt werden. Die Herstellung der Homöostase geschieht selbstregulierend immer wieder aufs Neue. Man braucht jedoch Hinweise auf die fehlende Stabilität und die Störung, um neutrale oder heilsame Konsequenzen zu entwickeln.

b.

Die Biografiearbeit

Wie kann man Menschen anhand ihrer Biografie modellhaft in den Kontakt mit ihrer inneren Stärke bringen? Bewährte bzw. bereits erprobte Muster zeigen, dass Herausforderungen lohnenswert sein können und sich ein gewisses Maß an Engagement lohnt. (→ Motivation als Grundlage für Compliance. 1

c.

Die Vitalisierung

Auf der Ebene des Körpers soll im Rahmen des Energiehaushaltes und der Lebenskraft eher die Gesundheitsentstehung fokussiert werden. Dieses geschieht bis in die Organ- und Zellebene. Ziel ist, dass dieses als ein lebendiger, dynamischer Prozess begriffen wird, der sich in jedem Augenblick zwischen dem Individuum und der Umwelt wieder neu ereignet (vgl. Höfer 2000, S. 74).

d.

Das Identitätserleben

Bezüglich der Ressourcen eines Menschen werden besonders die in den Vordergrund gebracht, mit denen ein gewisses Kohärenzgefühl einhergeht. In diesen Kompetenzen lassen sich unter Umständen in kurzer Zeit und in sehr kompakter Form Werkzeuge entdecken, die

1

Compliance (engl. = Verlässlichkeit, Kooperation)

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Balance – Kreativtherapie im Spiegel der Salutogenese-Forschung

einem Menschen dabei helfen auch mit einer größeren Herausforderung umzugehen. (→ Identität als Grundlage für ein gutes Coping 2)

e.

Die Psychoedukation

Wie kann der Einzelne bezüglich medizinischer Informationen, im Gegensatz zur »reinen« Pathologie, ergänzend innere, globale Orientierungen erhalten, die ihn in seinem Vertrauen und in der Annahme seiner Lebenssituation unterstützen?

f.

Die Lösungsorientierung

In diesem Zusammenhang steht also die Frage im Vordergrund: »Wie kann man eine lebensbedrohliche Erkrankung zum eigenen Nutzen deuten, bzw. wie kann sie im aktuellen Erleben eher zur Förderung der eigenen Entwicklung beitragen?«

3.

Prozessreflexion in Bezug auf die Forschungsfragen

Anhand eines Beispiels aus meiner alltäglichen Praxis beschrieb der Künstler Michael Rath, den ich im Zuge seiner Krebserkrankung auf der Palliativ-Station in der Onkologie kunsttherapeutisch begleiten durfte, diesen Prozess so: »Also das sind die abenteuerlichen Themen, die so eine Erkrankung auch mit sich bringt. Mein (Begleiter) war da ganz knallhart. Als ich es ihm erzählte: »Ich habe Krebs.« Da hat er gesagt: »Wer weiß, wofür das gut ist?« lacht »Den hätte ich am liebsten … na! – Nein, auf eine andere Art und Weise … Ich habe auch davon profitiert. Ich habe mich besser kennengelernt. Ich habe meine Grenzen besser kennengelernt, meine Fähigkeiten, und zwar in extremen Situationen: Schmerz, Trauer, Freude, Glück. Was ist wichtig? Was ist unwichtig? Dann leben sie ja. Dann stülpt sich die Welt auf links! Auch der Umgang mit Menschen, Empathie … Ja, konzentrieren auf’s Wesentliche. Da ich der Überzeugung bin und das ist so, dass ich mich schon seit längerem im Zugabe-Saal befinde: Was kann einem Besseres passieren, als das Leben mehrfach geschenkt bekommen? Wenn 2

Coping (engl. = bewältigen, überwinden)

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Anne Engler

man gerne lebt? Ja! Und dann ist man darüber glücklich und man fragt sich nicht ständig: »Oh Mann! Jetzt passiert es mir hoffentlich erst morgen oder nächste Woche, oder nächsten Monat, weil dann will ich das noch … !« Das ist ja überhaupt kein Thema. Nein, man ist viel näher am Jetzt. Auch das ist etwas, was ein Gewinn ist. Das kommt alles automatisch und das hat uns … das ist uns gegeben. Sich da reinzuhängen und die Fährte aufzunehmen, das ist eigentlich für jeden ein Geschenk.« lacht »Man lebt intensiver. Das ist eben eins der Geschenke, die man da auch hat, durch die Erkrankung. Ja.«

Als weitere nachhaltige Widerstandsressource zur Motivationsbildung wird hier demnach insbesondere auch die eigene Identität begriffen. Dort, wo sie sinnhaft in eine Beziehung zu etwas tritt, kann sie verhindern, dass Spannung zu Stress mutiert. Diese Herausforderung bewirkt im Zuge der Lösungsorientierung einen Transformationsprozess, von dem der Einzelne sehr stark profitieren kann. Die Beschäftigung damit kann als Nebeneffekt auch aufzeigen, wie Spannung in Zukunft vermindert wird oder Stressoren vermieden werden können.

Kunsttherapeutische Methodik M. Rath selbst fand Metaphern, innere Bilder, die ihm erlebte Situationen plausibler machen, erklärbarer und begreifbarer. Er verband sich dadurch mit seinen Ressourcen. Dieses setzte kein unmittelbares Gestalten voraus. Es war wichtig den Raum zu finden, indem ein eigenes Erkennen ansetzen kann. Dazu hatte er folgendes inneres Bild: »Also ich würde es mal so sagen … erstens: Ich wohne in so einem Turm, weil ich alles als Chance sehe, sogar die Fallstricke, die Stolpersteine. Die sehe ich auch als Chance. Wenn ich den Schlüssel vom goldenen Turm weggeschmissen habe, kann ich mich mit den Fallstricken abseilen, nach unten. So ist das.«

Für einen Menschen, der mit einer lebensbedrohlichen Erkrankung konfrontiert ist, ist es demnach besonders wichtig sich aktiv am Prozess zu beteiligen bzw. beteiligt zu werden, sodass dieser in einem gewissen Zeitraum zu einer Erfahrung von »Konsistenz und Partizipation bei der Gestaltung der anstehenden Prozesse sowie in eine Balance zwischen Überbelastung und Unterforderung« (zit. nach Mertens 2008, S. 46) gelangt. 146 https://doi.org/10.5771/9783495817995 .

Balance – Kreativtherapie im Spiegel der Salutogenese-Forschung

4.

Grundlegendes zum Thema Balance und Kreativität

a.

Betrachtungsweisen: Mobiles und Netzwerke

M. Rath hat im zweijährigen Verlauf seiner Krebserkrankung für sich ein neues Thema entdecken können. Er beschreibt es mit folgenden Worten: »Ein Thema, was durch die Erkrankung entstanden ist, ist das Thema Balance. Balance in jeder Beziehung. Also ich denke im Bereich Krankheit ist Balance wichtig, in jeder Facette. Im Miteinander ist das wichtig, in der Kommunikation auch. Sich selbst in Balance zu bringen, aber auch Gruppen in Balance zu bringen. Ja und dann kommen wir auf das Gesellschaftliche. Ich denke die Welt kann insgesamt Balance gebrauchen. Zu diesem Thema arbeite ich seit zwei Jahren … in irgendeiner Form, und da sind viele Dinge zu denen diese Klinik auch dazu beigetragen hat, aber mehr verrate ich nicht.«

Mobile Der Begriff Balance lässt sich möglicherweise am besten mit der Metapher des Mobiles veranschaulichen. Nach Elvira Muffler (2015, S. 21 ff.), einer hypno-systemisch arbeitenden Psychoonkologin, ist das Erleben der Welt bzw. des eigenen Lebens auch vergleichbar mit einem Mobile. Die Fäden sind nahezu unsichtbar, und doch gibt es feine Vernetzungen, im systemischen Sinn. Man kennt beispielsweise die Bande innerhalb von Familienmitgliedern, in Paarbeziehungen, als auch im Sinne der Teilearbeit, im eigenen inneren System. Man sieht sich beispielsweise im Freizeitbereich evtl. mehr als »Familienmensch«, dann wieder in der Arbeitswelt als berufstätige Person in einer gesellschaftlich eher »anerkannten« Rolle, die uns auch entsprechend »bezahlt« wird. In der Freizeit sind wir im Kontrast dazu bereit, Zeit und Kapital zu investieren, sei es in ein Hobby, einen Urlaub oder einen Sport, und genießen die Augenblicke der intensiven Selbstzuwendung. Die Erfahrung mit Krankheit oder Dingen, die man nicht gerne tut, gleicht einem ungebetenen Gast zu einer unpassenden Tageszeit, als schmerzhafte Störung in unserem System!

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Anne Engler

Abb. 1: »Balance« Entwurf für ein Mobile von M. Rath, 13,5 � 13 cm, Papier mit Buntstift, 12/2015

Netzwerk Jeder Ausschnitt des Netzwerkes fokussierte hier völlig unterschiedliche Verbindungen. In einigen Bereichen ist man möglicherweise bedürftig, offen und empfindlich. In anderen Bereichen ist man unter Umständen neugierig und kann sich selbst problemlos fordern und motivieren. Bei bedeutsamen Themen wird man unter Umständen zu einem Kämpfer voller Entschlossenheit, Mut und Führungskraft und begegnet somit der eigenen inneren Stärke. Es gibt weiterhin Teile, die eine Mittlerrolle spielen und Eindrücke aus der Umwelt wahrnehmen, filtern. Sie können das Passende aufnehmen, assimilieren und dieses bewusst und/oder unbewusst an andere weitergeben. So befindet man sich tagtäglich in einem pulsierenden Netzwerk, das einen auf eine geheimnisvolle Weise umgibt und auf seine Art angeregt mit der Welt verknüpft. Ein weiteres »Universum« wäre der eigene Organismus, der sich in Zeiten von Gesundheit und Krankheit in seinen Vorgängen auf Zellebene in zahlreiche, weitere Netzwerke ausdifferenziert. Impulsfragen Ist es tatsächlich möglich vorhandene Netzwerke salutogenetisch durch Kunsttherapie zu beeinflussen? Wie groß ist hier der eigene Gestaltungsraum? Wie kann man das Mobile in Zeiten von Gesundheit und Krankheit eher in Balance halten?

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Balance – Kreativtherapie im Spiegel der Salutogenese-Forschung

b.

Erschütterungen und Gleichgewichtsprobleme

Nach Ansicht von Elvira Muffler wird unser nach Gleichgewicht strebendes inneres System, das zur Homöostase und Selbstregulation fähig ist, durch eine Diagnose, wie eine lebensbedrohliche Erkrankung (Krebs, Aids, eine Unfallerkrankung, Infarkte, ALS, MS usw.) erheblich gestört und ins Wanken gebracht. Es muss sich somit komplett neu ausrichten und austarieren (vgl. Muffler 2015, S. 22). Dies betrifft in diesem Fall alle Lebensbereiche, das körperliche, innere, als auch das gesellschaftliche Leben. Umbauarbeiten Unter Umständen müssen Teile, die im Mobile ganz oben angehängt waren, nun viel weiter nach unten gesetzt werden, d. h., dass Umbauarbeiten in einem höchst komplexen System stattfinden. Coping und/ oder Compliance setzen große Anpassungsleistungen voraus. Bedürfnis nach Autonomie Dieses betrifft im Zuge einer lebensbedrohlichen Erkrankung insbesondere die eigene Entscheidung und die Kraft sein Leben selbst zu gestalten. Der eigene Raum wird im Zuge der Behandlung mit einem Klinikzimmer getauscht und unter Umständen nicht sichtbar wieder zurückgewonnen. Unruhe und Betroffenheit Dies betrifft nun alle Lebensbereiche, sodass das Mobile in Anbetracht von Lebensbedrohlichkeit in seinem Gleichgewicht erschüttert wird. Viele vertraute Ressourcen, die dem System Kraft und Bestätigung zuführten, wie zum Beispiel ein gutes Essen und berufliche Anerkennung und/oder körperlich gefühlte Geborgenheit, sind durch die Krankheit eventuell nicht mehr oder nur noch eingeschränkt verfügbar. Auswirkungen im Sozialen Viele der Menschen, die ich begleite haben im Zuge einer lebensbedrohlichen Erkrankung die Unterstützung durch Angehörige. Sie 149 https://doi.org/10.5771/9783495817995 .

Anne Engler

kommen hier jedoch in eine völlig neue Rolle, die eventuell auch Unruhe und Überforderung für die Angehörigen bedeutet. Die »Kranken« müssen um Dinge bitten und können diese nicht mehr selber erledigen. Es gibt auch eine moderne Variante, in der man den Bekanntenkreis nicht unnötig belasten möchte und vieles weiterhin maximal mit sich selber ausmacht. Viele Menschen geraten jedoch durch die Erkrankung immer mehr in eine existenzielle Not, bekommen dort wenig Hilfe, und verlieren im Laufe der Jahre mit der Erkrankung auch immer mehr nahestehende Freunde, Besuche von Kollegen etc. M. Rath formulierte es so: »Also vorher bin ich ziemlich durch die Gegend geirrrt. Meine Wohnung – oder das Apartment war in (X) … Das Krankenhaus war hier. Ich musste immer hin und her. Außerdem war die Wohnung im vierten Stock. Da konnte ich nicht mehr hoch. Dann gab es mit der Mitbewohnerin auch ein bisschen Probleme, weil das nicht so einfach ist für einen Mitbewohner, wenn jemand so krank wird. Das habe ich lernen müssen … Ja, ich habe sicher auch viel angesammelt, viele Themen, viele Rückschläge. Das ist halt eine harte Nummer Krebs zu haben, da ich den ersten überwunden glaubte. Dann so die Königsdisziplin, den Lungenkrebs zu kriegen, das ist dann schon komisch … Also das hat mich dann doch ziemlich aus der Bahn geworfen erst einmal.«

c.

Ein neuer Raum ermöglicht Regeneration

Die Klinik bzw. ein Pflegeheim, oder häusliche Pflege, auch unterstützt durch Angehörige, wird so – unter guten Umständen – zu einem sicheren Ort, in dem durch optimale Rahmenbedingungen eine erste Energieersparnis und Entlastung für die betroffenen Personen erzielt wird und somit eine Regenerationsphase neu einsetzen kann. Auch M. Rath war erst äußerst skeptisch, bemerkte dann aber anerkennend: »Ab hier (im Pflegeheim, auf der Palliativstation) hatte ich dann wieder einen Raum, wo ich mich zurückziehen konnte, wo ich arbeiten konnte und, und, und, und … also sowas wie eine feste Höhle. Ja, und das hat dann natürlich sofort, dann diese Arbeiten hervorgebracht. Von daher war das hier traumhaft. Das ist ja (lacht leise) Luxus. Das ist ganz toll und wie sehr sich das auswirkt – auch gesundheitlich –, das kann man wirklich belegen. Das ist messbar. Ja, das kann man nicht nur fühlen. Das kann man wirklich sehen, wie ich mich verändert habe, im Empfinden, in der Belastbarkeit usw. Also, da müsste man schon von »Wunder« sprechen. Aber ich

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Balance – Kreativtherapie im Spiegel der Salutogenese-Forschung

denke, diese ganze gute Fügung hat das ergeben. Ja, dass es mir wieder so gut geht.«

d.

Aktivierung

In der neuen Umgebung muss demnach eine gewisse innere und äußere »Arbeit« stattfinden können. Gewinnbringende therapeutische Zielformulierungen sind – parallel zum Salutogenese-Modell – unter Umständen: Verständnis: Wie kann man sich die neue Situationen plausibel machen und etwas Bedeutsames darin entdecken? Vertrauen: Wie ist das möglich in einen Zustand der Hoffnung und Zuversicht zu gelangen, wenn so vieles Vertraute im Außen nicht mehr möglich ist? Regeneration: Wie kann man in sich eine Regeneration bewirken, in der auch die Selbstheilungskraft wieder eine tragende Rolle spielt? An dem neuen Ort können die Vorgänge mithilfe von Medizin, Training, Beziehung, Selbstausdruck, Entspannung und Anregung unter Umständen wieder ganz neu in Kraft gesetzt werden und sich dort selbst »heilen« (vgl. Heiß 2001). Der therapeutische Effekt kann so im Zuge einer lebensbedrohlichen Erkrankung möglicherweise bis in die Zell-Ebene vordringen.

e.

Ein fachliches Beispiel für Regeneration: Spontanremission

M. Rath konnte im Rahmen seiner Verlegung in klinische Einrichtungen eine temporäre Spontan-Remission erzielen. Beim Lungenkrebs liegt die Chance für eine Spontan-Remission bei 1:1 Million und ist demnach äußerst selten (vgl. Schmid in Muffler 2015, S. 187). Es handelte sich um eine teilweise Rückbildung der Tumore, ohne eine erneute vorangegangene Bestrahlung und Chemotherapie.

151 https://doi.org/10.5771/9783495817995 .

Anne Engler

Abb. 2: Körperbild in der Phase der Spontanremission, M. Rath, Buntstift auf Papier, Din A6 11/2015

Ich fragte ihn nach den Ursachen dafür. Er schilderte ausführlich: »Ach so. Woran das liegt? Das ist schwierig. Man kann ja nicht so sicher sein. Es waren halt spontane Rückgänge der Tumore in der Größe (zeigt es) und die waren erstaunlich. Die waren in dem Behandlungskonzept, in dem Procedere gar nicht so passend. Das war nicht zu erklären. Das ging einher mit meinem Einzug hier und mit unserer Begegnung und dass ich wieder angefangen habe, mir wieder Hoffnungen zu machen, dass ich wieder arbeiten kann. Ich bin dann in die Palliativ-Medizin-Uniklinik. Das war dann das erste Mal, dass ich palliativ behandelt wurde. Also mit Morphium, richtig fett. Und dann ging es mir schlagartig besser und dann hatte ich ja schon begonnen … dass ich mich wieder so ausdrücke mit Formen und Farben und auch Themen habe, über die ich reden kann. Das hat mir einen unheimlichen Schub nach oben, nach vorne gegeben. Das ist meine persönliche Meinung. Da sind andere auch der Meinung, die mich beobachten, dass das damit zusammenhängt, und da muss ich, obwohl ich eigentlich immer gesagt habe: »Krankheit hat sehr viel mit dem Kopf zu tun«, muss ich sagen, da hab ich auch noch mehr dazu gelernt. Das hat doch noch einen größeren Stellenwert, jedenfalls bei mir. Da kann ich nur für mich sprechen. Das ist einfach unbeschreiblich, aber dass sowas vielleicht auch anderen Hoffnung machen kann, könnte ich mir vorstellen. Deshalb sag ich das auch gerne und wenn’s passt, bringe ich das auch mit ein in Gesprächen.«

5.

Praktische Beispiele für kreative Wege

Im folgenden Teil möchte ich weitere »Wege« bzw. »Wegzeichen« aus der kunsttherapeutischen Arbeit aufzeigen, die diese Selbstheilungs152 https://doi.org/10.5771/9783495817995 .

Balance – Kreativtherapie im Spiegel der Salutogenese-Forschung

kraft unterstützen können bzw. unterstützt haben. Im Gegensatz zu einem von außen vorgegebenen Heilungsweg ist es hier für jeden Menschen wichtig, seine individuellen Wege durch die Landschaften von »Krankheit« und »Gesundung« zu finden. Es ist demnach noch nicht einmal wichtig im Außen kreativ zu sein. Kreativität ist eine innere Ressource, über die jeder Mensch verfügt und die potentiell in jedem Augenblick vorhanden ist. In der Kreativität sei es beispielsweise im Schreiben, Zeichnen, im Hören von Musik, in der Wahrnehmung selbst, im Visualisieren von inneren Bildern, im Fotografieren und Filmen von realen Erlebnissen, im Tagträumen und/ oder Realisieren von Dingen usw., ergeben sich interessante Flowzustände, in denen man besonders offen und lernfähig ist. Das Bewusstsein ist gerade im spielerischen Wahrnehmen und Träumen dazu in der Lage auch komplexere Zusammenhänge zu erfassen.

a.

Ziele der Kunsttherapie bzw. der kunsttherapeutischen Methodik

In der Kunsttherapie kann spontan auftretende Kreativität auch gezielt initiiert werden. Es stellt sich eine Fokussierung ein, in der sich der Betroffene als losgelöst von seiner Umgebung erleben kann und einen besseren Zugang zu seinen Gefühlen, seinem Empfinden und seinen Ressourcen hat. Die Kunsttherapie lässt sich daher gut mit anderen Therapiemethoden kombinieren. Sie ist in vielen Anwendungen mit einer Anleitung zur Selbstaktualisierung, Selbststrukturierung und zur Selbstorganisation verbunden. Der Raum, in dem ein Mensch versucht eine Lösung zu finden, wird so in erster Linie vergrößert und das Spektrum seiner Wahlmöglichkeiten erweitert. Kunsttherapie bzw. Kreativität erschafft dabei nichts Neues, sondern bedient sich dem, was da ist, was der Mensch mitbringt. Wie in einem Spiegel wird es für den Menschen nun selbst erlebbar und selbst erkennbar. In der Würdigung hilft dies ein neues Gleichgewicht herzustellen. Balance meint demnach, eine sehr feine Achtsamkeit 153 https://doi.org/10.5771/9783495817995 .

Anne Engler

und Würdigung für die in mir vorhandenen Teile zu entwickeln. Es meint Raum zu geben für verschiedenen Bedürfnisse, Sehnsüchte und Wünsche, die nun erfahrbar und kommunizierbar sind. Es bedeutet, sich den gesamten Prozess nicht ich-fremd und steril, sondern zu eigen zu machen. Es ist daher existenziell notwendig (in der Begleitung) nach Wünschen zu fragen und diesen »Möglichkeitsraum« mental auszuloten. Dies kann wichtig sein, ohne dass die basale Erfüllung eines Wunsches Voraussetzung ist. Es geht vielmehr mental um das Finden von Anhaltspunkten. In den kunsttherapeutisch beschrittenen Wegen eines hier vorgestellten bildenden Künstlers werden Dinge jedoch konkret erlebbar und begreifbar, sodass ein modellhaftes Erkennen für jedermann einsetzen kann. Es wird sichtbar, wie ein Prozess – ausgelöst durch eine lebensbedrohliche Erkrankung – möglichst gewinnbringend gelöst werden kann. Um maximale Transparenz zu erzielen, werden weiterhin die Originalworte und Originalbilder der Person wiedergegeben.

b.

Der Zeitpunkt der Diagnosestellung

Zum Zeitpunkt der Diagnosestellung ist im Kontext einer lebensbedrohlichen Erkrankung mit einer erhöhten Suggestibilität zu rechnen. Es besteht die Gefahr im negativen als auch im positiven Sinn sehr leicht beeinflussbar zu sein. Ich möchte dazu zwei Arbeiten des Künstlers Michael Rath zeigen, die bildhaft und ohne Worte von unseren Wahlmöglichkeiten berichten. Die arrangierten Fotos zeigen in einer weitgefassten, symbolischen Form, dass im klinischen Raum – im Kontext einer lebensbedrohlichen Erkrankung – hauptsächlich klinische Bezugspunkte wirken. Das Bild selbst »sagt« hier mehr als Worte. Als Betrachter besteht die Möglichkeit sich die Situation anzuschauen, d. h., sich zu identifizieren und sich dabei selbst zu erleben – mit seinen Gefühlen zu diesem Bild. Die Selbstwahrnehmung bzw. auch die persönliche Auswahl der betrachteten Elemente im Bild wird nun sprachlich/ nicht-sprachlich beschreibbar bzw. erlebbar und strukturierbar. Wir können initiiert erleben, wie wir in den Zustand X oder Y kommen, und dies ermöglicht gleichzeitig darin eine gewisse Distanz zu waren. Jeder Mensch wird daher etwas anderes erleben, wenn er diese Bilder betrachtet.

154 https://doi.org/10.5771/9783495817995 .

Balance – Kreativtherapie im Spiegel der Salutogenese-Forschung

Abb. 3 und 4: Fotografische Arbeiten des Künstlers M. Rath während eines Klinikaufenthaltes im Kontext der Diagnosestellung einer lebensbedrohlichen Erkrankung, Uniklinik Freiburg, 2014/2015

Der Künstler Michael Rath erfuhr durch eine zweifache Krebserkrankung – durch Mundbodenkrebs und Lungenkrebs – diese Prozesse als große Herausforderung für sich selbst. Zum Zeitpunkt der ersten und zweiten Diagnosestellung stand er unter einem schweren Schock. Er verarbeitete sein Erleben mit spontanen Videoaufzeichnungen. Es waren einfache, symbolträchtige Szenen, die seine Aufmerksamkeit in diesem Zustand erregten, wie zum Beispiel die Aufnahme seiner 155 https://doi.org/10.5771/9783495817995 .

Anne Engler

Schritte auf verschiedenen Untergründen. Man sieht auf dem Videoausschnitt (Abb. 5), wie er im Kreis lief. Er tat dies nach eigenen Angaben nicht hinterfragend, sondern eher intuitiv. Diesen skizzenhaften Filmausschnitt behandelte er mit sehr viel Würde, setzte Szenen zusammen und unterlegte ihn mit einer schweren Musik. Am Ende des Filmes erlebt der Zuschauer eine Zeitmaschine, die »verrückt« spielt.

Abbildung 5 M. Rath: Ein Ausschnitt aus dem Video »Status B«, 2014–2016

Der Zustand des Schocks und des Kreisens von einengenden Gedanken wird somit externalisiert und im Medium Film konkret darstellbar. Er selbst konnte sich die Ausschnitte immer wieder anschauen. Beim Anschauen des Filmes konnte er – für sich kontrollierbar – immer wieder seine tiefe Trauer erleben. Er sagte dazu: »Da ist kein Text, keine Sprache in dem Sinne – ganz leise – vielleicht mal so ein Geflüster von der Musik. Wo kommt das her? Sag mir was das ist? Es stellt sehr gut auch die Not dar, die man dann mitunter hat. Ja.« Das Anschauen des Filmes ermöglicht es ihm gleichzeitig in Distanz zu gehen – auch im Sinne von Katharsis – und er kommentiert entsprechend: »Das war, wo ich ein Geschmäckle gekriegt habe von der Situation, wenn man nicht aus diesem Tief herauskommt. Ja, und dass ich mich dann entschieden habe, eben das andere zu nehmen, weil darin zu versinken, das wäre furchtbar, in diesem Leid, in diesem Vermissen, in dieser Trennung, in diesem Abschied. Ja, der Trauer! Der hat mir da sehr geholfen, glaube ich … das Tödliche, das geht gar nicht.«

Der Künstler Rath beschrieb das Andere zu nehmen als Lösung. Doch was kann das Andere in diesem Kontext noch sein? Die Rolle des Patienten bedeutet unter Umständen das Erlebnis einer starken Schwächung der eigenen Autonomie. Durch erlebte Einschränkungen, wie zum Beispiel einer künstlichen Ernährungsform, weniger Bewegungserleben und einem erlebten Hilfsmittel156 https://doi.org/10.5771/9783495817995 .

Balance – Kreativtherapie im Spiegel der Salutogenese-Forschung

bedarf – auch in Form von hochdosierter Medikamentation entstehen seelisch unter Umständen mehr Fremdbestimmung und Monotonie. Themen wie Tod und Sterben stehen unter Umständen im Raum, und können möglicherweise auch Angehörige überfordern.

c.

Auseinandersetzung mit Hilfsmitteln am Beispiel der Trachealkanüle

Im Zuge der Behandlung kann es sein, dass zum Beispiel infolge einer Trachealkanüle Sprache nicht mehr möglich ist. »Ja ich hatte Zeiten, da konnte ich mit niemandem reden … ich konnte gar nicht reden. Das ist ja übel an dem Krankenhaus, wenn da alle an einem rumdoktoren, und ich kann nichts sagen …« M. Rath hielt immer noch das Luftloch an seinem Hals zu, damit er besser sprechen kann.

In Deutschland ist es möglich, dass dieser Luftröhrenschnitt über einen längeren Zeitraum hinaus offen bleibt. Er berichtete, dass er ihn durch die Einrichtung einer Trachealkanüle vor zwei Jahren erhielt. Die Kanüle wurde in diesem Zeitraum nur temporär eingesetzt. Der Umgang mit der Kanüle gestaltet sich häufig als schwierig. Es erfordert ein häufiges Absaugen lassen, bei dem innere Reflexe des Schutzes und der autonomen Abwehr provoziert werden. Dieses äußert sich in der Regel mit einer großen Körperspannung und einer generalisierten Angst. Mehrfach am Tag ist es nötig selbst durch diese Kanüle, den nicht zu zähen Schleim abzuhusten. Würde dieser zu fest, entstehen große Ängste zu ersticken. Die Person müsste, wenn es ihr möglich wäre, um pflegerische Unterstützung bitten, indem Sie zum Beispiel den orangen Hilfe-Knopf drückt. Bis zum Eintreffen der Hilfe vergeht jedoch unter Umständen noch etwas mehr Zeit, in der die unangenehme Situation weiter andauert. M. Rath hatte seine Angst daher auch in selbst gezeichneten Bildern ausgedrückt. Er schrieb in seinen Tagebüchern über seine Angst und gab ihr eine Stimme (siehe Abb. 6). Aus der kunsttherapeutischen Arbeit ist bekannt, dass insbesondere die Externalisierung von Angst dazu führt, dass Humor ins Spiel kommen kann, in diesem Moment kann das Hilfsmittel umgedeutet werden (siehe Abb. 7). M. Rath bemerkte auch zu »Woki« in Abb. 8: »Da weiß man auch nicht, wie viel Angst der hat, oder ob der nur staunt.« Es geht also in der Arbeit darum, die Gefühle bzw. Stressoren 157 https://doi.org/10.5771/9783495817995 .

Anne Engler

Abb. 6: »Behandlung« Körperbild, Tagebuch 12/2005

Abb. 7: »Kanüle« Comic, 12/2016

158 https://doi.org/10.5771/9783495817995 .

Balance – Kreativtherapie im Spiegel der Salutogenese-Forschung

Abb. 8: »Woki« Licht, Duft, Klang, Farbe an der Wand im Patientenzimmer 01/2016

anzuschauen. Wo stellen sich nun Wendepunkte ein? Unter Umständen geschieht dieses ganz unbemerkt und intuitiv, wie von selbst. Das Angst-Wesen präsentiert sich hier bildnerisch, wie man in Abb. 8 sehen kann, inmitten eines Konzeptes für ein völlig neues Licht-, Duft-, Klang- und Farben-Projekt.

d.

Raum und Beziehungsraum

M. Rath berichtete: »Licht … Licht war das Thema. Und da bin ich darauf gekommen … Als ich hier ankam, da war ich bettlägerig und konnte gar nicht aufstehen, wegen der Luft und lag hier einfach nur. Ich konnte mich kaum aufsetzen und war eigentlich zur Passivität verdammt. Mehr oder weniger, und habe mir dann überlegt, was kannst Du denn machen? So, und dann hab ich mir diese Farbwechsler durch meinen Freund so besorgen lassen … und bin dann auf die Idee gekommen: Das ist ja eigentlich für jeden etwas, so eine Fernbedienung für die, mit Lichtern, ist doch für jeden Patienten, der sich nicht mehr bewegen kann. So hat er jedenfalls die Möglichkeit in seine Umwelt einzugreifen, etwas zu verändern, aus der Passivität raus …«

Der Künstler M. Rath entdeckte bei seiner Installation, dass es interessant war, zum Licht weitere Anreize für das Sehen hinzuzufügen. Er fertigte aus den Ecken der Verpackungskartons seiner künstlichen Ernährung kleine Pyramiden an, die er an der Wand aufklebte (siehe Abb. 9). Das Objekt verschaffte ihm nun ein intensiveres Raumerleben und das Spiel mit Licht und Schatten vermittelte ihm eine erlebnisorientierte »Space-Night«, wie er sich ausdrückte. Da es bei ihm kaum Angehörige gab, war er beim Einrichten seines Zimmers als Atelier auf die Unterstützung der Kunsttherapeutin angewiesen. Ein Freund brachte ihm die Farblampe mit. Die Kunsttherapeutin fragt jeden Bewohner auf der Palliativstation im Kontext lebensbedrohlicher Erkrankungen nach den Wünschen be159 https://doi.org/10.5771/9783495817995 .

Anne Engler

Abb. 9: Wandornament aus Pappe mit weißem Licht und/oder Farbwechsler, ca. 120 � 80 cm, 12/2016

züglich des Raumes und der Begleitung. Manche wünschen sich ausdrücklich, dass ihr Raum leer bleibt, oder dass zum Beispiel ein Fernseher oder Musik herein kommt. Es gibt Wünsche in Richtung Aktivierung. Das kann bedeuten, dass der Raum – unterstützt durch die Begleitung – einmal in Richtung Natur, Öffentlichkeit verlassen werden kann. In der Regel überwiegt jedoch der Wunsch zu bleiben, und in Bezug auf ein Ressourcen-Erlebnis oder die Krankheitsgeschichte bzw. Verarbeitung eine intensive Präsenz im Raum zu erleben. Dies geschieht möglicherweise auch schweigend, eventuell mit leichtem Körperkontakt, in einem gemeinsamen Spiel vertieft oder im Rahmen der Gestaltung bei einem künstlerisch herausfordernden Projekt. Als Kunsttherapeutin entwickelte ich die Projektideen in Resonanz auf die Biografie bzw. auf die Ressourcen, bzw. auch in Bezug auf Trainings-, d. h. Förderungswünsche. Es ist in der Haltung während der palliativen Begleitung jedoch extrem wichtig, hinter dem Menschen zu bleiben, der uns in seiner Erfahrung vorausgeht. Es ist therapeutisch nicht möglich die Erfahrung bereits gemacht zu haben, die derjenige jetzt macht. Nach den Erfahrungen, die M. Rath gemacht hatte, beschrieb er es als wesentlich, dass Begegnungen mit Authentizität, hierarchisch auf Augenhöhe, d. h. menschlich und mit ausreichend Zeit, hilfreich seien. Viele der Betroffenen lernen es, mit ihrer verbleibenden Kraft und Zeit sehr gut umzugehen. 160 https://doi.org/10.5771/9783495817995 .

Balance – Kreativtherapie im Spiegel der Salutogenese-Forschung

Abb. 10: Ein Mobile bzw. Traumfänger aus Papierstreifen, Perlon und Draht, ca. 100 � 30 cm

e.

Lebensperspektive – Tod und Sterben

Durch die Konfrontation mit Tod und Sterben ist der Geist in seiner gesamten Aktivität gefordert und auch gefährdet – sei es das eigene Leben oder auch Abschied, Trauer und Verlust von nahen Bezügen als auch der körperlichen Unversehrtheit bzw. von geliebten Gewohnheiten. M. Rath nutzte die bildnerischen Medien dazu, um sich Dinge klarzumachen, die sich der sprachlichen Wirklichkeit entziehen. Ich möchte nun ein Projekt vorstellen, dass er aus Papierstreifen angefertigt hat und das ihm bedeutsame und tiefe Erfahrungen ermöglicht hat. Es ähnelt einem Traumfänger und war stets seitlich über seinem Bett aufgehängt. Unter dem Objekt stand eine wärmende Lichtquelle, sodass sich das Mobile – in einem beleuchteten Zustand – immer wieder drehte und zart bewegte. Ich regte ihn dazu an, ein eigenes Video zu seiner Betrachtungsweise des Mobiles zu drehen. Als die Papierstreifen in einem Ausschnitt des Videos mit Zoom-Technik herangeholt wurden, öffnete sich auf einmal der Raum. Das Licht im hinteren Feld begann mit einer großen Wärme und Stille durch den Raum zu leuchten und schien sich sanft ins Unendliche zu öffnen und diesen Raum zu durchdringen. Ohne es geplant zu haben, eröffnete die Installation einen sehr tragfähigen Einblick in die Todes- bzw. Lebensperspektive des Daseins. Er gab ihr den Titel: »Rise up!« Die Musik, die er von Brian Eno unterlegte, schilderte in einfacher Sprache, auf Englisch: »It is just another day on earth.« Der Künstler merkte immer wieder, wie es ihm gut tat, bei der 161 https://doi.org/10.5771/9783495817995 .

Anne Engler

Reduktion auf weißem Papier und einfach nur hellem »Licht« zu bleiben. Dieses half ihm wesentlich zu sein und das reale Licht im Raum dadurch selbst verstärkt zu visualisieren. Er reflektierte: »Da haben die auch wieder so eine Tür für mich aufgemacht, mit dem Licht. Das geht, das schwingt die ganze Zeit mit. Und immer wieder kommen neue Inspirationen, Ideen usw. Ich habe mir extra überlegt, um das so ein bisschen abzugrenzen, dass ich mit den Farben gar nicht mal so weiter mache. Das brauche ich gar nicht. Ich brauche HellDunkel. Der Rest ergibt sich. Sagen wir mal das Licht darf Farbe haben, so. Aber alles andere im Kern ist Hell-Dunkel. Licht und Schatten. Wie ein Licht so ist, reduziert auf das Wesentliche. Der Text hat auch Bezug zur Zeit jetzt, zu meiner Zeit. »It is just another day on earth.« Das passt zu meiner Zeit. Irgendwann kommt der Tag, dann lassen wir das alles hinter uns und sagen: »Das war ein Tag auf der Erde.« Das ist ja ein recht beeindruckendes, unaufwändiges Ding. Nichts Monströses. Licht, … just another day.«

Beide Lichtinstallationen wurden in einem Video zusammengestellt und mit der Musik eines Monochordes unterlegt, der in der Musiktherapie als voraussetzungsloses Instrument vorgestellt bzw. eingeführt wurde. Es ist dazu geeignet im Raum einen kreisenden Effekt zu erzielen. Licht, Ton, Farbe und Klang können sich damit verstärken und intensivieren. Ich bemerkte, wie er sich seine Videos selbst immer wieder anschaute und Varianten, Variationen überprüfte. Wie man sieht, arbeitete er gerne interdisziplinär.

6.

Schlussfolgerungen

Es ist wünschenswert, dass die verschiedenen Fachbereiche, zum Beispiel Medizin, Pflege, Alltagsbegleitung, Sozialdienst, Kunsttherapie, Musiktherapie etc., im Kontext einer lebensbedrohlichen Erkrankung sehr eng zusammenarbeiten und sich untereinander austauschen. Ich habe immer wieder erlebt, wie Menschen mit einer lebensbedrohlichen Erkrankung sich selbst für ihre Anliegen einsetzen müssen, ohne dass diese zum Teil sehr kleinen Wünsche umgesetzt werden. Das Notfallmanagement und die existenzielle Situation fordern den Patienten bereits sehr heraus. Die fachgerechte Dokumentation, Übergabe und verbindliche Umsetzung – auch in Detailfragen – ist daher wünschenswert. 162 https://doi.org/10.5771/9783495817995 .

Balance – Kreativtherapie im Spiegel der Salutogenese-Forschung

Kreativtherapeutische Verfahren ergänzen den klinischen Kontext nachhaltig und können sichtbar zur Krankheitsverarbeitung, seelischen Stabilisierung und Rehabilitation beitragen. Klinische und stationäre Bereiche stehen vor der Herausforderung, effektiv arbeiten zu müssen, und gleichzeitig patienten-orientiert einen sicheren, angenehmen und schönen Ort anzubieten, den es für eine Genesung braucht. M. Rath hatte für sich entdeckt, dass die künstlerisch-bildnerischen Medien ein sehr wirksames und auch kostengünstiges Mittel sind, etwas zu bewegen und die (klinische) Welt auf eine unterhaltsame Weise zu verändern. Er schrieb dazu in seinen Kalender, bzw. in sein Tagebuch: »Wie ich die Welt verändere und noch Spaß dabei habe.« Er erlebte sein palliatives Zimmer als »Bühnenraum« für vergangene, gegenwärtige und zukünftige Entwicklungen.

Abb. 11: Aus einem Tagebuch von M. Rath, 01/2016

Der Künstler Rath überraschte hier immer wieder durch sehr originelle und völlig eigenständige Beiträge, die ich auch innerhalb meiner 20-jährigen Berufspraxis mit keinerlei Sehgewohnheiten vergleichen kann. Es sind Arbeiten entstanden, die von unserem Team als sehr inspirierend/anregend empfunden wurden, und die mir persönlich noch lange in Bildern, Taten und Worten nachgehen. Ein weiteres Arbeiten zum fachlichen Kontext in Beziehung zu seinem künstlerischen Nachlass ist sinnvoll und fließt in die tägliche Arbeit mit ein.

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Anne Engler

Literatur Antonovsky, A., Franke, A. (1997): Salutogenese, Zur Entmystifizierung der Gesundheit, Tübingen: DGVT-Verlag. Heiß, G. (Hrsg.) (2001): Krebs, was nun? Leben mit Krebs. Perspektiven in das 21. Jahrhundert, Darmstadt: Kösel Buch. Höfer, R. (2000): Jugend, Gesundheit und Identität. Studien zum Kohärenzgefühl, Opladen: Leske + Budrich. Mertens, G. (2008): Balancen. Pädagogik und das Streben nach Glück, Paderborn: Ferdinand Schöningh Verlag. Muffler, E. (Hrsg.) (2015): Kommunikation in der Psychoonkologie: Der hypnosystemische Ansatz, Heidelberg: Carl-Auer Verlag. Rath M., Engler, A. (2016): Transkription eines Interviews (M. Rath im Gespräch mit J. Charakter) im Rahmen eines in Vorbereitung befindlichen Dokumentations-Filmes (Kamera-Führung: Jonas Eckert), Drehort: im Haus Katharina Egg, Freiburg am 16.–17. 01. 2016 durch Charakter-Medien, Köln.

Abbildungen Abb. 1–Abb. 11 Rath, M. (1956–2016), Künstlerischer und privater Nachlass, temporär gelagert bei Engler A, Freiämterstr. 4, 79312 Landeck, Eigentümer: Darius James Leon Rath, 14 Boscombe Ct., Frinton Rd, Holland on Sea, Essex, CO155TA, GB, weitere Veröffentlichungen, Kopien, auch auszugsweise nur mit Einwilligung des Autors.

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Wolfgang Domma

Kunsttherapie in Limboland Ein Gespräch mit Renée Bertrams, Kunsttherapeutin im Therapiezentrum für Folteropfer in der Caritas Flüchtlingsberatung Köln

»Kunsttherapie in Limboland« nannte Renée Bertrams ihren Vortrag zur kunsttherapeutischen Begleitung von schwer traumatisierten Frauen im Therapiezentrum für Folteropfer in der Caritas Flüchtlingsberatung Köln, den sie auf Einladung des Zentrums für Ästhetik und Kommunikation (ZÄSKO) an der Katholischen Hochschule NRW im Frühjahr 2016 hielt und der aus mehreren Gründen die Grundlage unseres Gespräches und dieses kurzen Aufsatzes darstellt: Zum einen hat Frau Bertrams die Zuhörerschaft mit ihrer im besten Sinne einfachen, klaren Haltung und kompetenten Praxis überzeugt, zum anderen ergaben sich viele Anknüpfungspunkte zu weiteren Vorhaben im ZÄSKO und damit auch zum Themenspektrum »Salutogenese und Kunsttherapie«. Mit der Gründung des Zentrums für Ästhetik und Kommunikation (ZÄSKO) im Juni 2012 startete der Versuch, eine HochschulPlattform zu installieren, die nicht nur auf eine Verbesserung der Lehre und Weiterbildung – also auf individuelle, personale Entwicklungspotenziale – ausgerichtet war, sondern auch ihre strukturellen, organisationsbezogenen und konzeptionellen Dimensionen ins Blickfeld rücken wollte. So sollte die Professionsentwicklung Sozialer Arbeit in Bezug auf ihre ästhetischen/ künstlerischen Dimensionen gestärkt und der Austausch zu fachspezifischen Fragen von Theorie, Praxis und Forschung mit einem möglichst breit gefächerten Netzwerk etabliert werden. Seit Beginn unterstützt die Abteilung Aachen der KatHO NRW diese Initiative dankenswerterweise mit einer halben Stelle einer wissenschaftlichen Mitarbeiterin. Mittlerweile hat sich die Mitgliederzahl auf über zweihundert mehr als verdreifacht und es ist ein tragfähiges Netzwerk von Personen und Einrichtungen in der Aachener Region entstanden (vgl. Domma 2016). Eine aktuelle Frage, die auch im ZÄSKO zunehmend diskutiert wird, ist die Frage nach der Qualität der vielfältigen kulturellen, 165 https://doi.org/10.5771/9783495817995 .

Wolfgang Domma

künstlerischen und auch kunsttherapeutischen Aktivitäten, die mit der Anzahl der geflüchteten Menschen, die in Deutschland angekommen sind, rapide zugenommen haben. Dabei werden – häufig auch mit öffentlichen Geldern unterstützt – Prozesse initiiert, bei denen das persönliche Engagement vorbehaltlos anzuerkennen ist, deren Ergebnisse aber aus pädagogisch-therapeutischer oder künstlerischer Sicht nicht immer vorbehaltlos als gelungen betrachten werden können. Zurzeit arbeitet eine kleine studentische Forschungsgruppe an der Entwicklung von Fragestellungen, mit deren Hilfe die verschiedenen Aktivitäten vergleichend analysiert werden können. In diesem Zusammenhang erweist sich »der salutogenetische Blick« (Krause), wie er ja auch in der kunsttherapeutischen Literatur (u. a. Bruckisch 2010; Herianina 2010) genutzt wird, als ein sehr brauchbarer, um entsprechende Leitfragen zu generieren. Die drei zentralen Dimensionen »Verstehbarkeit«, »Handhabbarkeit« und »Bedeutsamkeit« des »Kohärenzgefühls«/ »Kohärenzsinns« – so die Übersetzungen des Originalbegriffes »sense of coherence« (soc) – stehen dabei im Mittelpunkt. Der Kohärenzsinn bildet sich als eine positive Grundorientierung auf der Basis sogenannter »generalisierter Widerstandressourcen« – »Gesundheitsquellen, die den Menschen widerstandsfähig machen, und zwar gegen Stressoren generell« (Krause 2011, S. 3). Antonovsky (1979) unterscheidet gesellschaftliche, soziale und personale Faktoren, die dafür verantwortlich sind, »in welchem Ausmaß man ein durchdringendes, andauerndes und dennoch dynamisches Gefühl des Vertrauens hat, dass • die Stimuli, die sich im Verlauf des Lebens aus der inneren und äußeren Umgebung ergeben, strukturiert, vorhersehbar und erklärbar sind; • einem die Ressourcen zur Verfügung stehen, um den Anforderungen, die diese Stimuli stellen, zu begegnen; • diese Anforderungen Herausforderungen sind, die Anstrengung und Engagement lohnen« (Antonovsky 1997, S. 36 zit. n. Krause, S. 3 f.). Im Sommer 2016, so die bisherige Planung, werden verschiedene kulturellen Projekte und Initiativen mit Flüchtlingen im Aachener Raum auf ihre salutogenetische Relevanz hin befragt und, wenn machbar, auch die preisgekrönten Projekte, die von der Staatsministerin für Kultur und Medien vor wenigen Wochen mit einem Sonderpreis für die kulturelle Teilhabe geflüchteter Menschen ausgezeichnet wurden.

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Kunsttherapie in Limboland

Die Ergebnisse dieser Umfrage sollen dann im Herbst auf der Homepage des ZÄSKO (www.zäsko.de) veröffentlicht werden. Innerhalb dieses größeren thematischen Kontextes machten wir uns also auf die Suche nach »best practice«-Beispielen, nach kunsttherapeutischer Praxis, die nicht erst als Reaktion auf die aktuelle Entwicklung der Flüchtlingszahlen entstanden ist, sondern bereits über einen längeren Erfahrungsschatz verfügt (vgl. auch den Beitrag von Frau Bertrams in: Therapiezentrum für Folteropfer, o. J.). Frau Bertrams und ich hatten uns vorab zum einen darauf verständigt, ebenfalls die o. g. Leitbegriffe der Salutogenese zu nutzen, um ihre Praxis zu reflektieren und den Gesprächsverlauf zu strukturieren, und zum anderen auch meine Sichtweise »Pädagogischer Kunsttherapie« thematisiert: die Ausrichtung kunsttherapeutischer Interventionen an der Leitidee Ästhetischer Bildung, sowie das grundlegende systemische Verständnis im Sinne einer kontextbezogenen und zirkulären Sichtweise kunsttherapeutischer Interventionen (vgl. u. a. Domma 2011). Diese waren ihr aber nicht ganz unvertraut, da sie an der Universität Köln bei Hans Günther Richter und Barbara Wichelhaus den Studienschwerpunkt Kunsttherapie im Rahmen des Diplomstudiengangs Heilpädagogik absolviert hatte. Das Gespräch wurde aufgezeichnet. In der folgenden, sehr stark gekürzten, Auswahl einzelner Passagen wird aus Zeit- und Platzgründen auf weitere Erläuterungen dieser theoretischen Voraussetzungen verzichtet. Um die Gesprächsatmosphäre in den Protokollauszügen so authentisch wie möglich zu bewahren, wurde auch darauf verzichtet, sämtliche alltagssprachlichen Unebenheiten, Wiederholungen etc., die ja ein Gespräch lebendig werden lassen, zu glätten bzw. zu streichen. Die einzelnen Beiträge sind mit den Initialien unserer Namen gekennzeichnet: WD: Liebe Frau Bertrams, erstmal vielen Dank für ihre Bereitschaft zum Gespräch. Vielleicht können wir ja damit beginnen, dass Sie uns erklären, was es mit dem Titel Ihres Vortrags »Kunsttherapie in Limboland« auf sich hat? RB: Den Begriff »Limboland« hat meines Wissens Cor van Halen geprägt. Der Begriff »limbus« bezeichnet in der katholischen Theologie Orte am Rande der Hölle, in der sich Seelen aufhalten, die ohne eigenes Verschulden vom Himmel ausgeschlossen sind. »Wie alle Migranten haben Flüchtlinge die Notwendigkeit, eine neue Identität 167 https://doi.org/10.5771/9783495817995 .

Wolfgang Domma

aufzubauen, aber ohne jedes Konzept, wie sie das auf eine sozial akzeptable Art schaffen sollen«, diesen Satz von Cor van Halen finde ich in meiner Arbeit immer wieder bestätigt. In der kunsttherapeutischen Gruppe hat keine der Frauen einen festen Aufenthaltsstatus. Sie alle warten und hoffen auf Einlass in die hiesige Mehrheitsgesellschaft und befürchten doch die Abschiebung. Bisher habe ich noch keine Abschiebung einer meiner Patientinnen erlebt und dennoch grundiert die Angst davor jede Sitzung. Die Arbeit des gesamten Hilfenetzes hier im Zentrum intensiviert sich manchmal abrupt, wenn unter Zeitdruck penibel nachgewiesen werden muss, dass eine schwer traumatisierte Frau zu krank für eine Abschiebung ist. Es bleibt trotzdem oft bei dem Status der »Duldung«, der in mehr oder weniger kurzen Abständen beim Ausländeramt zur Prüfung und Verlängerung ansteht. WD: Wenn wir noch kurz auf Ihre fachlichen Kompetenzen zu sprechen kommen, mit denen Sie diese Arbeit machen – neben Ihrem Diplom als Heilpädagogin. Was ist da besonders wichtig? RB: Schon im Studium habe ich mich mit den psychiatrischen Störungsbildern beschäftigt. Wenn man die Krankheitsmodelle, auch in ihrer Vorläufigkeit und Unschärfe kennt, hilft das, die Furcht vor »Verrücktheit« und »Abweichungen« zu reduzieren. Dann die zweijährige Zusatzausbildung zur Fachberaterin Psychotraumatologie, weil es in meiner Arbeit hier natürlich ständig um von Menschen zugefügte Gewalt und damit um Traumata, akute und chronische Traumafolgestörungen in allen Facetten, geht. Wichtig war auch das Diversity-Training, das ich in Düsseldorf im Psychosozialen Zentrum für Flüchtlinge absolviert habe. Obwohl ich von mir glaubte, ein offener Mensch zu sein, nicht rassistisch oder so, lernte ich dort noch mal mehr zu reflektieren, welche Vorurteile da sind und wie ich damit umgehe. Mein größter Erkenntnisgewinn war auch hier ein Modell: Das eines Kontinuums mit den Polen universelle Gemeinsamkeiten aller menschlicher Wesen auf der einen und Einzigartigkeit des einzelnen Menschen auf der anderen Seite. Innerhalb dieses Kontinuums wirken dann kollektive Erfahrungen, Einflüsse und Prägungen. Vorher hatte ich geglaubt, transkulturelle Arbeit setze voraus, die Herkunftskulturen genauestens zu kennen. In der Fortbildung habe ich gelernt: Das ist gar nicht zu schaffen. Und außerdem liegt man schnell daneben, sitzt Irrtümern und Missverständnissen auf, zieht eine Schublade auf anstatt sich für den Menschen, wie er da 168 https://doi.org/10.5771/9783495817995 .

Kunsttherapie in Limboland

konkret vor einem steht, zu interessieren. Sich über kulturelle und politische Hintergründe zu informieren, ist trotzdem notwendig, schon allein weil es einem hilft, Hypothesen zu entwickeln und die richtigen Fragen zu stellen. Aber dann muss man sofort wieder bereit sein, die schönsten Hypothesen sang- und klanglos aufzugeben. Wir brauchen sie ja für den Alltag, unsere Routinen und Vorurteile. Sie sich immer wieder bewußt zu machen und zu dekonstruieren kann aber auch eine Lust sein. Das Diversity-Training hat mir für die Arbeit mit Dolmetschern ebenfalls viel gebracht. Ich habe z. B. Hochachtung für deren Konzentrationsleistung entwickelt. Die Übertragung ist ein Transfer von einer Kultur in die andere, das geht nicht 1:1, Wort für Wort. Das gemeinsame Erkunden unterschiedlicher Metaphern – also sprachlicher Bilder – und Sprachspiele ist uns Kunsttherapeuten nah und vertraut. Und es kann überraschen, Staunen und Lachen machen. Übrigens ist es nützlich, mit gestressten Patienten möglichst bildhaft zu sprechen, weil das emotional wirkt und dadurch einfacher zu verstehen ist als ein abstrakteres, die Kognition mehr forderndes Sprechen. WD: Also, wenn ich jetzt an ein generelles Profil von Kompetenzen denke, das als professionelle Begleitung für die kunsttherapeutische Arbeit mit Flüchtlingen nützlich sein kann, dann wäre das ein zentraler Punkt: die Bereitschaft, a) sich ständig kulturell weiter zu bilden, wohl wissend, dass man es so nicht wirklich erreichen kann, die Menschen in ihrer Kultur zu verstehen und b) die Sprache als ein Medium zu akzeptieren, mit dem die Metaphern, die wir selbstverständlich gebrauchen, nicht in eine andere Sprache transportiert werden können. Und die Kunst bietet dann einen Weg, die Kommunikation auf andere Art und Weise fortzuführen. Gibt es noch andere Kompetenzen aus Ihren über zehnjährigen Erfahrungen, von denen Sie denken, dass sie sehr wesentlich sind und dringend dazu gehören sollten? RB: Ja, schon: Die imaginativen Therapieansätze – vor allem die von Luise Reddemann (2012) – gehören für mich dazu. Aber immer sortieren: Was kann man wirklich machen mit den Frauen und was nicht? Traumakonfrontation z. B. macht man nicht, kann einem aber sozusagen aus Versehen passieren. Weil man nie alle Trigger 1 kennen 1

Auslöser für unwillkürlich einschießende Erinnerungen an traumatische Situationen.

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und vermeiden kann, muss man auch als Kunsttherapeutin, die stabilisierend arbeitet, immer damit rechnen, dass es zufällig zu einer Konfrontation mit »vergiftetem« Material kommt. Dann sollte man rasch aber besonnen reagieren und Kriseninterventionstechniken zur Musterunterbrechung und Reorientierung der Patientin zur Hand haben. Zugleich kann das gut genutzt werden, um Distanzierungsmöglichkeiten bewusst zu machen und zu lernen, wie z. B. die der PITT 2. Am Anfang habe ich mich sklavisch an Übungen wie »Sicherer Ort« oder »Bildschirmtechnik« 3 usw. gehalten, das kam aber einfach überhaupt gar nicht an. Vor allem dann, wenn ich das allzu stringent und zielgerichtet tat. Und da setzt dann das »Defokussierende« 4 ein. Wenn ich vorschlage: »Mal dir einen Garten«, dann kann sich daraus ein Geborgenheits-Ort entwickeln. Aber das ist auch immer eine Typ-Frage. Ich arbeite sehr gerne defokussierend. Jemand anderes würde mit dem, was er oder sie gerne macht, wahrscheinlich genauso gut hinkommen. Es kommt so viel auf die Beziehung an und darauf, dass es authentisch ist, dass man wirklich dahinter steht, mit seiner eigenen Persönlichkeit. WD: Das ist ja das uralte Thema in der (Kunst)-Therapie: dass die Beziehungskompetenz, die man in die Situation mitbringt, die Basis ist, die trägt. Sie sagen, je nachdem welcher Typ man ist, das kann man ja weiterführen in Richtung welcher Künstlertyp man ist. Ich hab immer sehr gerne mit bildhauerischen und plastischen Mitteln gearbeitet, wenn ich aber jemanden in der Werkstatt zu Gast hatte, z. B. als Praktikantin, die mit anderen Techniken gearbeitet hat, das hat eigentlich auch immer gut geklappt, wenn sie es geschafft hat, einen guten Kontakt herzustellen. Sie haben jetzt die Defokussierung von Alfred Drees erwähnt, das heißt aber letztlich auch, dass es in dem Rahmen, in dem Sie hier Techniken aus der Psychodynamisch-Imaginativen Traumatherapie (PITT) vgl. Reddemann 2012.

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Drees (1992, S. 28 ff.) versteht – auf Basis einer »primären Fokussierung auf das Leiden der Patienten« – alle therapeutischen Beziehungsaufnahmen, also auch die Klinische Kunsttherapie, als eine Möglichkeit der »Defokussierung«, die »egozentrische Verhaftungen … lösen helfen und Wahrnehmungs-, Bewertungs- und Handlungsvermögen erweitern helfen … um dann erneut zu ›Fokussieren‹, indem Gestimmtheit, Aufmerksamkeit, Erlebens- und Motivationsprozesse in neuer Weise gerichtet werden«.

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arbeiten, keine Traumabearbeitung darstellt. Sie sagen, es kann sein, dass das Trauma virulent wird. Salutogenetisch gedacht ist Ihre Arbeit eine, die die Widerstandskräfte fördert. RB: Ja, das kann man so zusammenfassen. WD: Gehen wir einen Schritt weiter und nehmen jetzt den Kontext Ihrer Arbeit, den Rahmen hier im Raum und den organisatorischen Rahmen in den Blick: Sie sehen die Frauen einmal die Woche, sie kommen freiwillig hierhin … RB: … ja, mehr oder weniger freiwillig. Die meisten stammen aus Milieus, denen Psychotherapie fremd ist. Ohne die Notwendigkeit einer Therapiebescheinigung für das Ausländeramt kämen sie nicht. Was für eine Idee, dass man durch malen und reden und nicht nur durch Operationen und Medikamente Erleichterung oder sogar Heilung erfahren kann! Zu Anfang gehen manche Frauen zur Kunsttherapie wie zu einem gemütlichen Beisammensein. Wenn sie begreifen, dass es mehr und anders ist, verlassen sie die Gruppe wieder, aber die meisten bleiben dann erst recht. Manche freuen sich wirklich sehr auf den gemeinsamen Donnerstag, andere tun sich schwer. Es ist halt sehr unterschiedlich. WD: Wie erleben das die Frauen, wenn sie hier ankommen? Wie erleben sie den Anfang, gibt es feste Rituale? RB: Ja, es gibt Rituale, teils von mir vorgegebene, die sich auch mit der Zeit wandeln, teils werden sie auch von den Frauen selbst entwickelt. Es werden Plätzchen und Tee gereicht. Tee, den Patientinnen sich aus ihrem Herkunftsland China haben schicken lassen. Den gebe es nicht in Deutschland, sagen sie. Sie bereiten ihn selbst zu und schenken ein wie Gastgeber. Manchmal frage ich mich, ist das gut, müsste ich nicht die Gastgeberin sein? Aber so machen sie sich den Raum zu Eigen. Die Teeschachtel ist so etwas wie ein »Übergangsobjekt« 5. Ein wunderbares Teil (zeigt mir die Teeschachtel), die wird nur donnerstags aufgeklappt! Das Übergangsobjekt verbindet die innere und die äußere Welt der Person und wird mit subjektiven Inhalten (z. B. mütterlich-heimatlichen Geborgenheits-Gefühlen aus der Heimat) gefüllt (vgl. Winnicott 1974).

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Beim Teetrinken findet das »Blitzlicht« statt. Gestern hat es unendlich lange gedauert, weil es so viel zu berichten gab. Eigentlich will ich es auf eine halbe Stunde begrenzen. Danach machen wir Bewegungsübungen aus dem Qigong. Unter anderem eine Baumübung, die ich mir so abgewandelt habe, dass ich mich damit wohl fühle. Die Bewegung dient unter anderem als Zäsur. Sie trennt deutlich die meist von Leid, Schmerz und Angst geprägten Schilderungen aus dem Blitzlicht von der nun folgenden Phase der Imaginationen, Gestaltungen, der Muße, Selbstreflexion und der Entdeckung von Ressourcen. Die Frauen machen sich bewusst, dass sie »mehr sind als ihre Angst« (nach Reddemann), dass sie in der Lage sind, sich davon zu distanzieren. Damit nähern sie sich einer Komponente der salutogenetischen Grundhaltung: dem der Handhabbarkeit bzw. der Bewältigbarkeit. Die Bewegungsübungen haben aber natürlich auch an sich ihren Wert. Sie heben die Laune ungemein. Fast immer und fast bei jeder. Dann gebe ich eine Aufgabe und es wird gemalt – d. h. meist gezeichnet, nicht gemalt. Das finde ich eigentlich traurig: Es bleibt nicht genug Zeit zum Malen und der Raum ist nicht groß genug. Also Leinwände usw. aufbauen, das funktioniert nicht. Vielleicht sind die Frauen auch zu müde oder zu verzagt, um mit flüssigen Farben zu arbeiten. Das war mal anders, da hat sich was gewandelt. WD: War das früher anders, waren die Frauen früher irgendwie farbenfreudiger? RB: Ja, da bin ich aber noch nicht dahinter gekommen, was das genau ist, ob es äußere Umstände sind, ob’s an mir liegt – ich weiß es nicht … Ja, und am Schluss hängen wir die Bilder an die Wand, setzen uns drum rum und besprechen sie … WD: Ich sehe jetzt 6 Stühle im Raum … wie groß ist die Gruppe? RB: Sechs bis acht Frauen, meistens. Gestern waren aber nur drei da. WD: Und wie verständigen Sie sich und wie die Frauen untereinander? RB: Die Sprachen werden gedolmetscht – zurzeit drei. Untereinander verständigen sich die Frauen auf Deutsch, aber da gibt es nur sehr wenig Kontakt. 172 https://doi.org/10.5771/9783495817995 .

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WD: Sie sagten, die Gestaltungsphasen dauern so ca. 45 Minuten und Sie geben einen thematischen Impuls. Wie entsteht der, wie generieren Sie Themen? RB: Ganz selten entwickle ich sie aus dem Blitzlicht zu Beginn des Treffens. Gestern war ich müde und fühlte mich etwas kraftlos. Dann greife ich zu unkomplizierten Themen und Impulsen. Ich habe kleine Kärtchen – je einen Packen mit Verben, Substantiven und Adjektiven – umgedreht, verdeckt – und die Frauen ziehen sich aus jedem Packen eines. Sie haben dann eventuell die Worte »lächeln«, »Hund«, »gelb« vor sich und sollen daraus ein Bild machen, das etwas erzählt. Das ist schön einfach, bringt sie auch mal zum Lachen, weil das auf den ersten Blick so disparat ist, und kann vielleicht gerade deshalb im Sinne des Defokussierens wirksam und gehaltvoll sein. Eigentlich hatte ich was Anspruchsvolles vor, was ich auch demnächst machen werde, inspiriert von einer Ausstellung. Dort sah ich eine Fotoserie über albanische Frauen, die früh im Leben eine Männeridentität angenommen haben. Manche wollten das so, andere wurden in den Rollentausch hinein gezwungen. Grund war immer ein Mangel an Männern, oft verursacht durch Blutrache. Die Fotos zeigten, wie sich die Gesichter dieser Frauen durch die Rollenübernahme verändert, »vermännlicht« hatten. Das fand ich einen guten Anknüpfungspunkt. Genderfragen und alternative Lebensentwürfe – z. B. Kinderlosigkeit – sind fast so was wie ein Tabu, sie kommen so gut wie nie zur Sprache. Die Frauen wissen, dass es hier anders ist als in ihren Herkunftsgesellschaften, freier, die sehen das ziemlich krass im Karneval oder beim CSD, aber das wird nie Thema. Das will ich machen, ich habe mir den Katalog gekauft, aber ich weiß noch nicht, wie ich es zum Malthema nutze. Vor kurzem haben wir uns hier im Hof auf die Wiese gesetzt und ich habe die Frauen gebeten, den Wiesen-Ausschnitt vor ihnen zu zeichnen. Diese Aufgabe ist als Wahrnehmungs- und Achtsamkeitsübung gedacht, bei der sich immer wieder die Frage stellt: Kann ich wirklich genau hingucken oder habe ich gerade das Klischee eines Blümchens gezeichnet? Kann ich die Fülle der Eindrücke wiedergeben oder wähle ich bewußt einen Ausschnitt nach meinen Bedürfnissen und Fähigkeiten? Kann ich meinen Blick fokussieren und dann zur Erholung auch wieder ins Ungefähre gleiten lassen? Die Frauen haben sich sehr konzentriert und das wunderbar gemacht.

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WD: Und wenn ich mir das jetzt weiter vorstelle: Die Gestaltungsphase ist zu Ende und dann sitzen Sie mit den Patientinnen und den Dolmetscherinnen zusammen, und wie funktioniert dann eine Nachbesprechung? RB: Dann bin ich recht direktiv, ich warte nicht bis jemand anfängt, weil der Zeitdruck zu groß ist und auch, weil es nicht Ziel ist, mit Gruppendynamiken zu arbeiten. Das wäre eine Überforderung. Ich mache selten Vorschläge für gemeinsames Arbeiten. Wenn doch, dann erweist es sich immer wieder, dass Grenzen sehr penibel gesetzt und eingehalten werden. Es gibt da kaum eine Berührung, geschweige denn Übertretungen. Ich fordere also eine Patientin auf: »Sie fangen an!« (lacht). Dann frage ich als erstes: »Konnten Sie sich konzentrieren?« Weil das immer das Thema ist: Gibt es einschießende Erinnerungen, gibt es etwas, was ständig stört, waren die Kopfschmerzen, die im Blitzlicht auftauchten, immer da oder manchmal nicht? Und wie ist sie damit umgegangen? Und dann bitte ich die Patientin zu beschreiben, was sie gemalt hat und dann frage ich auch nach und wundere mich manchmal, wie sehr sie bereit sind, mitzugehen. Da habe ich vielleicht ein Vorurteil, ich denke, dass die Menschen, die so karg gelebt haben, manche in unbeschreiblicher Armut und Unbildung, die haben doch nie diesen »Spiel«- Raum gehabt, um Phantasien zu entwickeln und dann bin ich bass erstaunt, wenn die mit mir auf ihrem Bild spazieren gehen und mit mir gemeinsam Geschichten spinnen und sagen: »Ich stell mir vor, die Frau in dem Bild geht gerade in einem Park spazieren. Sie hat ihre roten Lieblingsschuhe an«. Und sie kann auf diese indirekte Weise über sich selbst nachdenken und von sich selbst sprechen. Auch ihre jetzige Situation, die Enge, das Wissen hier nicht erwünscht zu sein, Ängste, Verzweiflung und Misstrauen lassen eigentlich keine Phantasie zu – denke ich – und dann freue ich mich, dass das hier, in diesem geschützten Raum und gehalten von meiner Professionalität als Kunsttherapeutin, trotzdem geht. WD: Das klingt ja sehr ermutigend. Wenn wir hier noch mal etwas genauer hinschauen: Gibt es einen Punkt, an dem Sie sagen, das fördere ich in den Erzählungen der Frauen und auch einen Punkt, wo Sie sagen, da setze ich lieber eine Grenze?

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RB: Ja, wenn zu traurige oder entsetzliche Sachen erzählt werden oder wenn katastrophisiert wird, setze ich Grenzen, aber das vermeiden die Frauen oft schon von sich aus. Wenn ich das Gefühl habe, dass jemand in eine Problemtrance oder in eine Dissoziation trudelt – das ist manchmal wie ein Sog –, Erinnerungen überwältigend werden oder wenn die anderen unruhig werden, weil sie das triggert, greife ich ein. Dann muss man auf freundliche Weise stoppen. Das muss man so tun, dass die Patientin weiß, es ist keine Zurückweisung ihrer Person oder ihrer Erfahrungen. Die Kunsttherapeutin ist willens und in der Lage, die Erzählung anzuhören und zu ertragen. Nur in diesem Moment und in diesem Setting eben nicht. Wenn es keinen anderen Rahmen dafür gibt, kann ich eventuell einen Einzeltermin dafür anbieten, in dem es aber auch wieder darum geht, eine Balance mit den Bewältigungs- und Widerstandsressourcen zu halten. WD: Es gibt ja in der Salutogenese diese schöne Flussmetapher von Antonovsky, der Fluss als Lebensbild, das salutogenetische Denken als den Ansatz, den Menschen nicht aus einem gefährlichen Fluss herauszunehmen, sondern ihm zu helfen, dass er schwimmen lernt und im Fluss zurechtkommt! Was bedeutet das für Ihre Arbeit? Was bringt die Kunst, die Kunsttherapie, damit die Frauen schwimmen lernen? RB: Ja, was bedeutet in diesem Zusammenhang »schwimmen«? Erstmal bedeutet schwimmen für jemand, die unter der permanenten Abschiebedrohung lebt, oder jemand, die um vermisste Angehörige bangt und nicht um sie trauern kann, aushalten. Aushalten bedeutet dann: nicht immer sofort die Medikamentendosis erhöhen, sich nicht ins Bett zurückziehen, sondern: z. B. hierher kommen und dann hier auch in den Schmerz gehen können. Den Schmerz nicht um jeden Preis vermeiden müssen. Und das heißt in der Kunsttherapie immer wieder bis zu dem Punkt gehen, wo es weh tut, ob psychisch oder physisch, und diesen Punkt wahrnehmen. Wahrnehmen, dass es diesen Schmerz gibt, wo oder wann er anfängt, was er bedeutet, welchen Sinn 6 er haben könnte. Und dann wieder Distanz dazu gewinnen können, und ihn von außen ansehen können. Und da habe ich bei der Kunsttherapie den Eindruck, dass dieses Distanz gewinnen können, dieses Hin und Her gehen können, dass man das eben durch dieses 6

Im Sinne der oben beschriebenen salutogenetischen »Bedeutsamkeit«.

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Medium lernen kann. Vielleicht tut es weh, wenn man eine schöne Kindheitserinnerung malt. Das ist ja ambivalent. Man kann die eigenen verschiedenen Seiten, Facetten oder Ich-Anteile (nach John und Helen Watkins) der Persönlichkeit nutzen. Und wenn man es lange genug praktiziert hat, kann man sich nachts an diese Fähigkeit erinnern, wenn man von einem Alptraum oder einem Flashback gequält wird. »Schwimmen« bedeutet in diesem Zusammenhang vielleicht, seinen Alltag trotz allem zu bewältigen. WD: Das Malen ist also auf der einen Seite das Hineingehen in die Situation und gleichzeitig ist es ja ein symbolisches, spielerisches Handeln und keine echte Realitätserfahrung. Dadurch schaffe ich Distanz. Und dann kann ich mir das Bild, als einen Teil von mir, z. B. den Schmerz, angucken – nachher, wenn das Bild fertig ist. Ich kann dann drüber reden und mit Hilfe des Gesprächs komme ich aus der Versenkung wieder raus. RB: Ja, genau und dadurch, dass es eben nicht zielgerichtet geschieht und nicht Auge in Auge mit der Therapeutin, sondern mit dem Bildträger dazwischen, dem Bild, über das unsere Blicke gemeinsam wandern – das löst eine Menge und das gibt wieder Raum, Freiraum. Gestern hat eine Teilnehmerin, deren Blutzucker und Blutdruck – sehr stressanfällige Körpersysteme – häufig schwer entgleisen und die dadurch schlaganfallgefährdet ist, ein bemerkenswertes Bild gestaltet. Ich weiß nicht, welche traumatischen Situationen sie erlebt hat, wir warten auf ein Gutachten. Sie hat keine Schule besucht, lebt seit zwei Jahrzehnten in Deutschland im Wartestand. Sie wurde ursprünglich von der Psychiatrie überwiesen und ist erst seit kurzem in der Gruppe. Als sie kam bestand sie darauf, Vorlagen auszumalen, etwas anderes traue sie sich nicht zu. Gestern aber hat sie das Thema angenommen und eine Frau gemalt, die das ganze Gegenteil von ihr selbst ist. Die gemalte Frau ist blond, blauäugig und schlank. Diese Frau sei sie selbst, sagte sie in der Bildbesprechung. Die sei auf einem steinigen Weg, da könne sie leicht umkippen. Und dann hat die Patientin überlegt, wieso die Frau auf einer Wiese steht, was sie da macht und was sie tun kann, damit sie jetzt nicht umkippt. Es war völlig klar, dass sie über sich selbst spricht. Und wenn ich sie länger gekannt hätte, hätte ich sie auch gefragt, was das bedeutet, dass sie sich als schmale, blonde Frau gemalt hat. Ich könnte da jetzt viel spekulieren und deuten. Aber das wäre zurzeit noch eine Überforderung 176 https://doi.org/10.5771/9783495817995 .

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gewesen, das hätte sie noch nicht beantworten können und schon gar nicht im Beisein der anderen. In einem therapeutischen Gespräch hätte sich so etwas vielleicht nie so »gezeigt«. In den Bildern bleibt es und kann später wieder aufgegriffen werden. WD: Es wäre im wahrsten Sinne nicht »offensichtlich« geworden, hier in dem Rahmen konnte sich dann vielleicht der Gegenentwurf der eigenen Person zeigen … RB: Ja, es war aber auch wichtig, dass die Frau erstmal mit ihren Ausmalbildern akzeptiert wurde und dann gemerkt hat: Ich brauche den Halt dieser Linien nicht mehr. Diese Patientin war hier im Haus schon länger in einer Einzelpsychotherapie, aus der sie dann in die Gruppe gewechselt ist. Sie hatte aber die Psychotherapie durch ihre Alltagsprobleme, deren ganz praktische Lösung viel Raum einnahm, eigentlich immer verhindert. Zu einer Hinwendung zu den psychischen Konflikten und Ressourcen ist meine Kollegin kaum mit ihr gekommen. Da hat sich die Kunsttherapie wirklich als Chance erwiesen. Die Patientin bringt immer wieder ihre praktischen Probleme ein, die werden auch gewürdigt, aber es wird nicht im Äußeren daran gearbeitet. Das Therapiezentrum für Folteropfer arbeitet zum Glück multiprofessionell. Therapie und Sozialarbeit Hand in Hand. Ohne die Sozialarbeit hier im Zentrum, die sich um die Stabilisierung der Lebensumstände der Patientinnen kümmert, könnten sie sich wahrscheinlich gar nicht auf Psycho- und Kunsttherapie einlassen.. Und dann konnte die »blonde Frau« im Freiraum der Kunsttherapie ins Bild treten, die hatte vorher nie eine Chance. WD: Ich habe noch die drei zentralen Begriffe aus der Salutogenese in meinen Notizen: »Verstehbarkeit«, »Handhabbarkeit« und »Bedeutsamkeit«. Und wenn ich mir die Lebenssituationen dieser Frauen anschaue, das, was sie hinter sich haben, die Misshandlungen, das Verlassen der Heimat … es kann ja nur ganz schwer sein, dahin zu kommen und zu sagen, ich verstehe mein Leben. Wie schätzen Sie das ein? RB: Es ist schwer zu beantworten und ich will da jetzt auch nicht von ablenken, aber ich versuche gar nicht, an Verstehbarkeit dessen zu arbeiten, was ihnen passiert ist. Woran ich bei »Verstehbarkeit« gedacht habe, sind so banale Sachen wie ein Verstehen von Traumafol177 https://doi.org/10.5771/9783495817995 .

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gen, stressbedingten Körpervorgängen usw. Weil der Atem für alle Stresskranken besonders wichtig ist, viele von ihnen Panikanfälle mit Hyperventilation kennen, an Heuschnupfen und einige an Asthma leiden, habe ich mal die Lunge zum Malthema gemacht. Die Patientinnen haben meist eine hohe Arztfrequenz, verstehen aber oft nicht, was die Ärzte sagen und was in ihrem Körper vorgeht. Kunsttherapie ist dann also sehr pädagogisch-psychoedukativ. Es wirkt dem Gefühl, ausgeliefert zu sein – und sei es dem eigenen Körper – entgegen, wenn man zu verstehen beginnt, woher Taubheitsgefühle in den Gliedmaßen kommen können, wie Stress wirkt, in welchem Zusammenhang unverarbeitete traumatische Erfahrungen mit heutigen Befindlichkeiten stehen können, oder wie Niedergeschlagenheit sich auf den Blutdruck auswirkt. Ihre Frage zielte aber auch noch woanders hin … WD: Ja, ich meinte das noch sehr viel genereller. Die Frauen sind ja hier in einem Land, wo Menschen mit ziemlicher Sicherheit nicht durch staatliche Willkür oder andere Mächte misshandelt oder gefoltert werden, nicht solche traumatischen Erfahrungen hinter sich haben und sich dann fragen müssen: Wieso ich? Wieso ist mir das passiert? Und dann haben die Gewalterfahrungen der Frauen ja vermutlich noch eine ganz eigene Qualität, weil es ja männliche Gewalt, häufig auch sexualisierte Gewalt ist. Es geht vermutlich nicht, zu verstehen im Sinne einer rationalen, in sich stimmigen Erklärung? RB: Das ist schon ein Thema hier: »Wieso ich?«. Manchmal streifen wir politische Themen, in die dann das Geschehen teilweise eingeordnet werden kann. Aber warum dieser einzelne, spezielle Mensch in die Pariagruppe der Roma hineingeboren wurde, warum diesen anderen einzelnen, speziellen Menschen massive Gewalt betroffen hat, warum dieser Mensch und nicht ich z. B. im Limbus gelandet ist, ist nicht verstehbar. Davon bin ich überzeugt. Soll das Zufall, Schicksal, Fügung, Vorsehung sein? Kann man das überhaupt in solchen Kategorien denken? Vielleicht trägt das zur Verstehbarkeit bei, zu wissen, dass es gerade nicht verstehbar ist. Wenn ich tatsächlich den Verdacht haben müsste, es gäbe etwas, das mich zum Opfer vernichtender Gewalt prädestiniert, dann wäre das natürlich niederschmetternd. Das passiert ja hauptsächlich Minderheiten. Bei Menschen, die wissen, dass sie aufgrund ihrer politischen Aktivitäten verfolgt wurden, ist das etwas anderes. Aber geschichtliche oder politische Erklärungsver178 https://doi.org/10.5771/9783495817995 .

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suche kommen immer nur in sehr kleinen Häppchen vor, mit dem Willen Dinge einzuordnen, aus dem Chaos des Ausgeliefertseins eine in Grenzen verstehbare Ordnung zu machen und zugleich zu sagen: »Das kann man nur überstehen, überleben und nicht schlüssig begründen.« WD: Machen Sie solche Ordnungsversuche auch in der Kunsttherapie z. B. über bildnerische, formale Gestaltungsvorgaben? RB: Eher inhaltlich, z. B. den Tagesablauf darstellen, Punkt für Punkt. Die Patientinnen ordnen selber sehr viel, es werden häufig ganz ordentliche Sachen gemacht, viele Reihungen wie auf Schautafeln. WD: Ein weiterer Punkt wäre dann das Thema »Handhabbarkeit«, im allgemeinen Sinne, wie fühlen sich die Frauen, können sie, dürfen sie arbeiten gehen? Macht es das Leben handhabbarer und ist das auch hier in der Kunsttherapie ein Prozess? RB: Es ist ein großer Schritt, wenn sie arbeiten gehen können, aber die meisten sind doch lange Zeit zu krank dafür. Als erstes fällt mir ein: Hier in der Gruppe unter Menschen zu sein fällt einigen Frauen schwer. Sie neigen zum Rückzug. Sie haben das Vertrauen in sich und die Welt verloren – den Glauben an ihre eigenen Bewältigungskräfte, aber auch an die Vertrauenswürdigkeit anderer Menschen. Regelmäßig zu kommen ist schon ein »ins Handeln kommen«, ist ein Weg aus der Regression. Andererseits: Alle Frauen, die jetzt hier sind, sind es gewöhnt, dass man viel »unter Frauen« ist, mit anderen Frauen zusammensitzt und Kartoffeln schält oder die Aussteuer näht. Ich glaube zu spüren, dass die Anwesenheit und Wärme der anderen bei gemeinsamem Tun oftmals eine Art Körpererinnerung evozieren, Gefühle aus Zeiten, in denen sie sich handlungsfähig fühlten und Probleme als bewältigbar empfanden. In der Kunsttherapie müssen sie es nur schaffen, sich auf ein Thema einzulassen und ein kleines Bild daraus zu machen. Aber selbst das ist ja anstrengend und birgt die Gefahr der Enttäuschung und Beschämung. Da es aber hier um »nichts« geht, lässt es sich leichter ausprobieren. Und wenn sie sich dann über sich selbst wundern: »Oh, den ansehnlichen Baum mit dem Efeu habe ich geschaffen.« Und dann: »Dieser Efeu, das bin ja ich, wie der Efeu bin ich gerade auf halber Höhe und komme nicht weiter, aber Efeu ist zäh, er kommt auch da hoch.« Würde diese Frau 179 https://doi.org/10.5771/9783495817995 .

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das ohne das Bild so selbstbewusst äußern, hätte sie es überhaupt von sich gewusst? WD: Zumindest war das Bild die Brücke, dass sie es formulieren konnte. Vielleicht hätte sie es sonst nicht verbalisieren können … RB: Vielleicht wäre es für sie am Anfang noch vermessen gewesen, zu sagen: Ich schaffe das, ich gehe da hoch, weil: alles spricht eigentlich dagegen. Aber indem das hier auch ein Zwischenraum ist, wie ihn Winnicott beschrieben hat, der innere und äußere Realität zusammen bringt, ist es möglich zu sagen: Ich bin der Efeu – und darüber selber erstaunt zu sein. WD: Ich finde das total spannend, weil diese Metapher oder dieses Symbol – das kenne ich auch aus meiner Praxis –, das nehmen die mit als wichtige Erfahrung und auch als Bild, und dann kriegt so ein Bild so viel Dichte und Bedeutung und kann auch sehr viel Kraft vermitteln. Jetzt könnte man ja idealtypischerweise sagen, mit diesem Bild kann man weiter arbeiten, auf der erzählerischen Ebene: Wo wächst der Efeu noch hin … usw., da könnte man noch die Imaginationen fortführen. RB: Und da fühle ich mich manchmal sehr gehemmt oder begrenzt: Erstens weil zu wenig Zeit bleibt, es drängt sich schon jetzt zu viel in den drei Stunden, und das Dolmetschen nimmt zusätzliche Zeit in Anspruch – übrigens entsteht durch die unterschiedliche Länge der Übersetzungen immer wieder auch leere Zeit, in der Patientinnen manchmal in eine Dissoziation abdriften. Zweitens gibt es auch die Grenzen dessen, was vor der Gruppe gesagt werden kann oder gefragt werden darf. Ich grüble schon länger, was ich da mache, ob ich zusätzliche Nachbesprechungen in Einzelarbeit anbieten soll. WD: Zum Abschluss des Gesprächs: Es arbeiten ja auch sehr viele ehrenamtliche Menschen mit Flüchtlingen, z. B. in den Erstaufnahmeeinrichtungen, auch mit gestalterischen Mitteln, um den Alltag zu bewältigen. Könnten Sie denen einen Tipp geben, was grundlegend zu beachten ist? RB: Ja, aber das wissen wahrscheinlich sowieso alle: dass man immer taktvoll sein sollte, sich eher hüten sollte, allzu direkt zu fragen – 180 https://doi.org/10.5771/9783495817995 .

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auch deshalb, weil das in manchen Kulturen als sehr respektlos empfunden wird – und als oberstes Prinzip: Wenn schon vielleicht nicht nützen, dann jedenfalls nicht schaden. Und darüber hinaus: Sich mitfühlend in die Situation der Geflüchteten hineinversetzen und danach streben, ihnen Gefühle von Chaos, Hilf- und Machtlosigkeit, wie sie sie in traumatischen Situationen in den verschiedenen Stadien ihrer Flucht höchstwahrscheinlich erlebt haben werden, möglichst zu ersparen. Zum Beispiel dadurch, dass man ihnen unermüdlich ganz viel und in Ruhe erklärt und nicht hinter ihrem Rücken agiert. Da sind wir wieder bei Antonovsky: Dazu beitragen, dass sie die Welt wieder als zusammenhängend und sinnvoll erleben können. WD: Frau Bertrams, ich bedanke mich sehr herzlich für Ihre Zeit und für diesen offenen Einblick in Ihre Arbeit.

Literatur Bertrams, Renée (o. J.): Äpfel und Birnen, Papageien und Teppichmuster. Stichworte zu einer kunsttherapeutischen Gruppe albanisch-kosovarischer Frauen. In: Caritasverband der Stadt Köln (Hrsg.): Immer weiß sein. Kunsttherapie im Therapiezentrum für Folteropfer. Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (2001): Was erhält Menschen gesund? Antonovskys Modell der Salutogenese – Diskussionsstand und Stellenwert. Köln, Forschung und Praxis der Gesundheitsförderung Bd. 6. Bruckisch, Rabea (2010) Ressourcenorientierte Kunsttherapie mit Flüchtlingskindern. Saarbrücken. Domma,Wolfgang: 35 Jahre Pädagogische Kunsttherapie – Korrespondenzen und Perspektiven. In: Zt. f. Musik-, Kunst- und Tanztherapie. 22. Hogrefe. 22. Jahrgang Heft 3, 2011. S. 125–137. Domma, Wolfgang (Hrsg.) (2016): Pädagogische Kunsttherapie und Soziale Arbeit. Beiträge zur Theorie, Praxis und Forschung. Leverkusen. Herianina, Nina (2010): Kunsttherapie mit jungen Flüchtlingsfrauen – ein Konzept zur Förderung ihrer Resilienz. München. Krause, Christina (2011): »Der salutogenetische Blick« – Fachstandard in der Arbeit von Erzieher/innen? In: www.kindergartenpaedagogik.de/2163.pdf. Letzter Zugriff: 24. 6. 2016. Reddemann, Luise (2001): Imagination als heilsame Kraft. Zur Behandlung von Traumafolgen mit ressourcenorientierten Verfahren. Stuttgart. Reddemann, Luise (2012): Psychodynamisch Imaginative Traumatherapie. PITT – Das Manual. Stuttgart.

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Wolfgang Domma Van Halen, Cor (o. J.): Acculturation in Limboland: Refugees and the Problem of Creating a New Identity. In: Therapiezentrum für Folteropfer (Hrsg.): Reaching Out for a New Future, Köln, Caritasverband der Stadt Köln. Winncott, Donald W. (1974): Vom Spiel zur Kreativität. Stuttgart.

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Ruth Hampe

Ästhetische Gestaltungsprozesse von Kindern und die Bewältigung somatischer Beschwerden

In der bildlichen Symbolisierung von Kindern wird vielfach sichtbar, wie diese mit ihrer Umgebung interagieren und wie sich ihre Selbstwirksamkeit entwickelt hat. Über die sinnlich aktivierten ästhetischen Ausdrucksformen vermögen Kinder mit ihren inneren Gefühlen in Kontakt zu treten und mehr Vertrauen in sich selbst zu gewinnen. Weiterhin ist es über eine Tagtraumimagination möglich, andere Wege der Bewältigung von Problemen zu finden und sie im ästhetischgestalterischen Probehandeln zu überwinden lernen. In den ästhetischen Ausdrucksformen wird dies in verschiedenen gestalterischen Transformationsformen projiziert. Auch Albträume und Wunscherfüllungen bilden in dem Zusammenhang manchmal eine seltsame Allianz. Bildnerische Gestaltungen erlangen eine Brückenfunktion zwischen Traum und Wirklichkeit als Projektion innerer Gefühle und des Selbsterlebens. Sie geben Hinweise auf traumatische Erfahrungen bzw. ähnlich projektiven Testverfahren auch einen diagnostischen Zugang im Verstehen innerer Erlebniskontexte. Im Folgenden soll exemplarisch darauf Bezug genommen werden. Anhand der Vorstellung von zwei Fallbeispielen soll auf die Bewältigung somatischer Belastungen im gestalterischen Prozess eingegangen werden. Es betrifft einerseits ein Mädchen an einer Primarschule mit unbestimmten Bauchschmerzen und andererseits einen Jungen in der Kinderund Jugendpsychiatrie mit unregelmäßiger Fäkalkrankheit bzw. Enkopresis. Beide Kinder haben zwecks Anonymisierung im Text andere Namen erhalten. In dem Zusammenhang soll auf Aspekte der Persönlichkeitsbildung und Prävention exemplarisch anhand der beiden Fallstudien – auch bezogen auf schulische Angebote – eingegangen werden.

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Ruth Hampe

Mädchen an der Primarschule mit unbestimmten Bauchschmerzen Sabine war sechs Jahre alt und Einzelkind, als sie von ihrer Lehrerin zum ästhetisch-gestalterischen Angebot der Schule geschickt wurde. Sie fiel zu Beginn der ersten Klasse auf, da sie wiederholt über Bauchschmerzen klagte und im Unterricht zu weinen begann. Dies war bereits gehäuft im Kindergarten aufgetreten, so dass die Mutter sie von dort frühzeitig abholen musste. Die Mutter arbeitete abends in einer Gastwirtschaft im Haus, während die Tätigkeit des Vaters unklar war. In der ersten Sitzung, in der das Motiv »Blume« in der Tagtraumimagination vorgegeben wurde, malte sie ein schwarzes Haus. Während der Imagination nahm sie zuerst eine rote Blume wahr, die sich zu einer gelben veränderte und der sie Wasser gab. Anschließend malte sie zuerst mit einem Setting von Buntstiften eine rot-orangefarbige Blume auf einer grünen Wiese links und ergänzte weitere Motive wie mittig ein Mond- und Sonnenmotiv in Blau, was auf ein Mutter- und Vaterimago zu verweisen schien – sowie rechts ein schwarzes Haus und darunter eine blaue Blume auf braunem Grund und eine schwarze Blume auf schwarzem Grund (Abb. 1). In vielen ihrer Bilder wurde von ihr unabhängig von der jeweiligen Motivvorgabe nach der einführenden Tagtraumimagination ein Haus gemalt. Sie war phantasievoll in der Erzählung ihrer Tagträume, wo u. a. ein Elefant auftauchte, der sie umrannte, eine Fledermaus, die sie beschützte und wo weitere wilde Tiere erschienen, die sie zu kraulen vermochte. Dennoch war stets etwas Schwarzes/Dunkles wahrnehmbar, was auch die Hausgestaltung mit prägte. So wurde in der vierten Sitzung das Motiv »Haus« als Tagtraumimagination vorgegeben, wobei sie ihr Wohnhaus wahrnahm. Diesmal malte sie das Haus anstelle von der Seite frontal auf einer weißen Grundlinie mit zwei schwarz ausgemalten Fenstern sowie Mond und Sonne links und rechts (Abb. 2). Ihren Namen setzte sie mit Grau darunter. In der nächsten Sitzung wurde das Motiv »Bach« in der Imagination eingeführt, wobei sie eine Wiese wahrnahm. Sie malte dann das Hausmotiv in Seitenansicht mit mehreren Farben, während oben mittig eine schwarze Fläche auftauchte (Abb. 3). Auch bei dem Malen eines Spielgerätes setzte sie am Schluss eine dunkle Form darüber und bezeichnete diese später als Hummel (Abb. 4). Nach dem Malen entstanden meist ergänzend Lernspiele an der Tafel, die Sabine selbst initiierte, wobei sie eigene Motive mit Kreide zeichnete und Worte 184 https://doi.org/10.5771/9783495817995 .

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Abb. 1: »Blume«, Buntstifte, DIN A2

anschrieb. Es war ähnlich einem Probehandeln, wo sie additiv im dialogischen Spiel etwas von sich offen legen konnte, um es danach spielerisch zu verändern und wegzuwischen.

Abb. 2: »Haus«, Deckfarben, DIN A2 (farbige Abbildung im Anhang)

Abb. 3: Hausmotiv, Deckfarben, DIN A2

Aufgrund der Mitteilung der Lehrerin, dass sie nach einem Wochenende, an dem ihre Eltern den Hochzeitstag gefeiert hatten, wieder über Bauchschmerzen klagte, wurde in einer folgenden Sitzung das 185 https://doi.org/10.5771/9783495817995 .

Ruth Hampe

Abb. 4: Spielgerät, Deckfarben, DIN A2

Motiv »ein sicherer Ort« vorgegeben. Sie erzählte, dass sie anfangs von einem Elefanten umgerannt worden wäre und dann im Wohnzimmer auf der Couch landete. Auf dem Teppich war ein roter Fleck mit Ketchup, und es roch nach Fledermaus. Bei dem Elterngespräch in der kommenden Woche teilten mir beide Elternteile mit, dass sich in kurzer Folge zwei Todesfälle in der Familie ereignet hatten, d. h. der unerwartete Tod der Großmutter väterlicherseits, an der sie sehr hing, durch Krebs und einige Wochen später der Tod des Lebensgefährten der Großmutter mütterlicherseits durch Herzstillstand. Mittels der gemalten Bilder schien Sabine auf diesen Erlebenshorizont zu verweisen, d. h. eine traurige Grundstimmung und Angstphänomene, so dass eine gemeinsame Absprache getroffen und eine Kooperationsebene zur Mutter aufgebaut werden konnte. Einerseits schwang in den Bildern etwas Bedrückendes und Bedrohliches mit, andererseits fand eine gewandelte Selbstwahrnehmung statt. Nach den Weihnachtsferien weinte Sabine wiederum während der Kreisrunde in der Klasse. In der Sitzung wurde das Motiv »Baum« im jahreszeitlichen Wechsel vorgeschlagen. Sie phantasierte einen Baum, der bis zum Himmel wuchs, seine Blätter verloren hatte, die sie ihm wieder anklebte. Der Baum stand in einem Tierpark, aber alle Tiergehege waren leer, da die Tiere tot waren. Danach erzählte sie noch eine dramatische Geschichte von Silvester, in der sie anscheinend zuvor in der Klasse Gehörtes und Erlebtes miteinander vermischte. In ihrem Bild gestaltete sie dann rechts ein braunes Haus 186 https://doi.org/10.5771/9783495817995 .

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mit erleuchteten Fenstern und links einen großen Baum mit Früchten (Abb. 5). Einen Monat später wurde nochmals das Motiv »Haus«, das es zu erforschen galt, vorgegeben. Sie sah Werkzeug, das auf einem schmutzigen Boden lag und setzte dies als erstes bildnerisch mit Schwarz um. Danach malte sie ein Haus auf orangener Grundfläche zuerst mit grünen Umrisslinien und Dachfenster, eine orangene Tür mit vielen Schlössern und die Innenfläche zuerst braun, danach schwarz. Eine blaue Wolke war vor dem Fenster, und es regnete in das Haus hinein. Rechts malte sie ein orangenes Feld, wo Kinder spielten und links ein schwarzes Feld, wo nach ihren Kommentaren gefährliche Tiere waren. Sie sprach von Krokodilen, die sie im Bassin eingefangen hatte (Abb. 6). Zwei Monate später wurde das Motiv »Schutztier« imaginiert, und sie nahm einen Papageien wahr, mit dem sie draußen war. Sie malte dann ihr Wohnhaus auf schwarzer Grundlinie mit hellblauen Konturlinien und gestaltete es farbig aus. Eigentlich wäre es hellblau, meinte sie dazu, und malte noch ein zweites Bild, von dem seit kurzem mit ihr malenden Kind.

Abb. 5: »Baum«, Deckfarben, DIN A2 (farbige Abbildung im Anhang) Abb. 6: »Haus«, Deckfarben, DIN A2

Auffallend war, dass sie den Jungen altersentsprechend mit fünf Fingern (Abb. 7a), während sie sich selbst im Anschluss nur mit drei Fingern malte (Abb. 7b). Dies war auch in späteren Bildern auffällig (Abb. 8), was auf ihre enge Elternbindung hindeuten mochte. Einige Wochen nach den Weihnachtsferien hatte sie bereits mitgeteilt, dass sie keine Bauchschmerzen mehr hätte. Sie spielte viel mit ihren Mitschülern auf dem Schulhof während der Pausen, war fröhlich und im 187 https://doi.org/10.5771/9783495817995 .

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Unterricht leistungsorientiert. Einige Sitzungen nach den Osterferien malte sie das Haus nach der Imaginationsvorgabe des sicheren Ortes, wo sie im See gebadet hatte, als schwebendes gelbes Haus mit braunen Konturlinien und vielen roten Fenstern, aber ohne Tür, unter einer Sonne, ähnlich einer Wunschmetapher. Die Schule wurde für sie ein Ort, wo sie sich wohl fühlte. Auch in den Selbstbildern zeigte sich eine altersmäßig passende und farbenfreudige Grundstimmung (Abb. 9). Die verdeckte Trauer um die verlorene Großmutter, die Bearbeitung eines z. T. konfliktbeladenen Elternhauses und die Wahrnehmung ihrer Stärken und Fähigkeiten bestimmten ihre Gestaltungen, wobei der Malraum auch zu einer Art Schutzraum wurde und eine Brückenfunktion für die Integration ins Schulleben erhielt.

Abb. 7a: Junge, Deckfarben, DIN A2 Abb. 7b: Selbstbild, Deckfarben, DIN A2

Abb. 8: Selbstbild, Deckfarben, DIN A2

Abb. 9: Selbstbild, Deckfarben DIN A2 (farbige Abbildung im Anhang)

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Junge in der stationären Kinder- und Jugendpsychiatrie mit Problemen der Enkopresis (Einkoten) Der folgende Fall handelt von einem 8-jährigen Jungen, genannt Bert, der mit Symptomen einer unregelmäßigen Fäkalerkrankung in die stationäre Kinder- und Jugendpsychiatrie kam und verhaltenstherapeutisch betreut wurde. Im Rahmen eines Pilotprojektes nahm er an einem kunsttherapeutischen Angebot teil (vgl. Hampe 1999). Bert war ein adoptiertes Kind, bei dem das Symptom des Einkotens vor zwei Jahren auftrat. Er befand sich bereits in der zweiten Klasse der Primarschule. Da sein Vater zeugungsunfähig war, hatte sich das Paar zu einer Adoption entschlossen. Relativ unvorbereitet nahm das Paar Bert kurz nach der Geburt auf. In dem Zusammenhang hatte die Mutter nicht genügend Zeit, um ihren Beruf problemlos aufzugeben und sich um Bert zu kümmern. Während der folgenden Jahre hatte das Paar unterschiedliche Meinungen, was die Erziehung von Bert betraf. Der Vater, der als Techniker in einem Computerfeld tätig war, forderte mehr Strenge, während die Mutter nachsichtiger mit Bert war. Zudem entwickelten sich beim Vater Probleme des erhöhten Alkoholkonsums. Seit seinem vierten Lebensjahr hatte Bert Kenntnis darüber, dass er ein Adoptivkind war. Dies führte bei ihm zu Phantasien über seine leiblichen Eltern, bzw. dass seine Eltern auf einem entfernten Stern wohnten. Aufgrund der Eheprobleme trennten sich seine Adoptiveltern, damit der Vater vorübergehend mehr Freiheit erhalten sollte. Da Bert nicht bei seinem Vater wohnen wollte, wurde eine Regulierung getroffen, dass Bert in einer Art Rotation einen Tag bei der Mutter und den anderen Tag bei dem Vater verlebte. Dies verursachte Probleme wegen der eingeschränkten Kommunikation des Elternpaares. Im Allgemeinen war Bert ein ruhiger und netter Schüler, der nicht viel über sich selbst reden wollte. Er hatte Versagungsängste, war langsam in seinen Tätigkeiten und reserviert. An den wöchentlich stattfindenden kunsttherapeutischen Sitzungen von jeweils 45 Minuten hatte er zusammen mit einem anderen Kind teilgenommen. Er vermochte seine Thematiken auf die Bildfläche Din A2 (d. h. 45 � 60 cm) zu projizieren. Dabei nutzte er Ausdrucksformen des Kritzelns, Schmierens oder Reibens im spielerischen Handeln. Die Elternproblematik wurde im bildnerischen Ausdruck harmonisiert, gefolgt von einer stärkeren Orientierung an seiner Selbstkompetenz. In der Zusammenarbeit mit anderen Kindern erlangte er eine wachsende Selbständigkeit, vermochte sich selbst aus189 https://doi.org/10.5771/9783495817995 .

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zudrücken und zu erleben. Um einen Eindruck über den Prozess mit der Abnahme von Symptomen des Einkotens zu geben, soll auf einige seiner Bilder exemplarisch Bezug genommen werden. In allen 13 Sitzungen stand zu Beginn eine Einführungsphase – meist mit einer Tagtraumimagination – gefolgt von einer Phase des gestaltenden Ausdrucks und einer Abschlussphase mit einer Vorstellung der erstellten Bilder. So wurde in der ersten Sitzung eine Tagtraumimagination eine »Wiese mit einem Blumenfeld« vorgegeben, wo die teilnehmenden Kinder sich eine Lieblingsblume auswählen konnten. Danach malte Bert mit Ölpastellkreiden eine grüne Wiese und eine Blume mit verschiedenen Blättern, davon zwei schwarze auf der rechten Seite. Ein Herz platzierte er in die Mitte der Blume, dann folgten ein blauer Himmel und andere Farben. Er fügte einen Schmetterling mit einer violetten und roten Umgebung hinzu und am Schluss eine Hand von oben (Abb. 10). Dieses Bild schien eine Blume mit einem traurigen Fleck zu symbolisieren und sich auf seine leiblichen Eltern zu beziehen, wobei die Hand Schutz von oben gab. In der folgenden Sitzung wurde in der Tagtraumimagination das Motiv der Begegnung mit einem Tier vorgegeben, das helfen und sie begleiten konnte. Bert begann mit einer Bleistiftzeichnung eines Meerschweinchens und kolorierte es dann mit Wachsmalkreiden (Abb. 11). Er gestaltete hoch konzentriert, ohne sich von dem anderen Jungen stören zu lassen. Es entstanden ein großes männliches und ein kleineres weibliches Meerschweinchen. Zum Schluss setzte er einen Hut auf den Kopf des Männchens und ein rotes Herz zwischen die beiden Tiere. Dann drehte er das Papier um und gestaltete auf der gegenüberliegenden Seite zwei Mäuse, zwischen die er gleichfalls ein rotes Herz setzte. Ähnlich einer Wunschmetapher verwies es auf eine Versöhnung der beiden Elternteile. Ab der dritten Sitzung fing er an, Worte wie pissen und andere fäkale Ausdrucke zu benutzen, wobei er Spritzer mit dem Pinsel auf dem Papier machte und sich selbst in Lebensgröße als Cowboy mit Pistole malte. In der fünften Sitzung nahm ein anderer Junge mit ihm an der Sitzung teil, da der Junge der vorhergehenden Sitzungen die Klinik verlassen hatte. In der Orientierung auf Bilder von einem Schneemann im Raum folgten beide Jungen nicht der Geschichte, die am Anfang als Stimulation vorgegeben wurde, sondern malten jeder einen Schneemann mit Schal. Dafür benutzten sie Pastellkreiden. Bert liebte es, die Farben auf dem Papier zu verreiben und begann mit einem anderen Blatt, indem er dieses nur durch Reiben und Verschmieren der 190 https://doi.org/10.5771/9783495817995 .

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Abb. 10: Wiese mit Blume, Ölpastellkreide, DIN A2 (farbige Abbildung im Anhang)

Abb. 11: »Begegnung mit einem Tier«, Bleistift und Wachsmalkreide, DIN A2

Farben gestaltete. Auch in den folgenden Sitzungen behielt er diese Gestaltungsgebung bei, nachdem er ein figuratives Bild gemalt hatte. So bestand der ästhetische Prozess vor allem aus mehreren Bildern, an denen er in der Folge arbeitete. In der siebten Sitzung begann er beispielsweise mit Ölpastellkreiden die Zeichnung eines Dinosauriers unter einem Regenbogen, der schwarze und braune Linien hatte, auf der linken Seite eine Sonne, aber auf der rechten Seite Regenwolken mit einem Schneesturm, was auf seine tatsächliche Situation hindeuten mochte (Abb. 12). Das nächste Bild malte er mit Pastellkreiden und gestaltete einen kleinen gelben Mann mit einem schwarzen Fleck im Kopf, der an einem Baum urinierte. Dann folgten sexuelle Motive, und er umzeichnete seine Handflächen auf dem Papier (Abb. 13). Auf dem dritten Bild schmierte er mit Resten der Pastellkreide vom Tisch, bis er eine Welle darin wahrnahm und das Bild in einen Pinguin auf einer Eisscholle verwandelte. Dieses letzte Bild der Sitzung wollte er mit auf sein Zimmer in der Klinik nehmen. Während des ganzen Prozesses war er auf sich selbst konzentriert und schien seine inneren Gefühle in der Identifikation mit dem Pinguin auszudrücken. Nach einer einführenden Phantasiereise oder Geschichte folgte Bert nur einzelnen Anteilen davon in der bildnerischen Gestaltung und fing in der nächsten Sitzung mit dem Malen eines Baumes an. Im dritten Versuch erhielt der Baum von ihm eine große grüne Krone, und unter den grünen Blättern waren neun feine Linien erkennbar. Auf der linken Seite hatte er einen abgebrochenen Zweig gezeichnet, während auf der rechten Seite eine Schaukel mit einer violetten Bank hing mit einem kleinen grünen Vogel darüber (Abb. 14). 191 https://doi.org/10.5771/9783495817995 .

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Abb. 12: Dinosauerier, Ölpastellkreide, DIN A2

Abb. 13: freies Gestalten, Pastellkreiden, DIN A2

Abb. 14: Baum, Ölpastellkreide, DIN A2

Im Hinblick auf die Baumzeichnung könnte die Position des abgebrochenen Zweiges auf halber Höhe des Stammes mit seinem Alter von vier Jahren in Verbindung gebracht werden, während die Anzahl der Zweige in der Krone Hinweise auf sein Alter geben. Das Experimentieren mit dem Material und das Arbeiten mit den Händen waren für Bert hilfreich, um mit seinen inneren Gefühlen in Kontakt zu treten und zu neuen Lösungen zu gelangen. In einer folgenden Sitzung wurde ihm der Vorschlag gemacht, dass er mit Sand und Acrylbinder als Befestigungsmittel arbeiten könnte. Er erstellte mehrere Sandbilder mit der Symbolisierung eines Baumes. Nachdem er einige Farben darauf tröpfelte, erkannte er in der spontanen Anordnung verschiedene Dinge wie beispielsweise einen Vogel. Zur zehnten Sitzung brachten 192 https://doi.org/10.5771/9783495817995 .

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beide Jungen wieder von selbst Sand mit, weiterhin hatte Bert ein Gänseblümchen gepflückt. Der anfängliche Vorschlag war, ein Bild aus einer Zeitschrift zu wählen und dieses in das Bild zu integrieren. Da Bert aber kein passendes Bild finden konnte, sondern nur eines mit einem Objekt, das er nachbauen wollte, entschied er sich eine grüne Wiese zu malen. Er setzte drei kleine Bilder zusammen, die er später ausschnitt (Abb. 15). In das erste Bild integrierte er das Gänseblümchen im Sand, wobei er diesen auf das Papier streute. Auf dem zweiten gestaltete er eine große Sandkiste und auf dem dritten eine kleinere. Das einzige Bild, das er mitnehmen wollte, war das mit dem Gänseblümchen. In der Übertragung könnten diese drei Bilder mit seiner Familie in Beziehung gestellt werden als Vater, Mutter und Kind. Nach diesem konzentrierten Prozess machte er freie Kritzelzeichnungen und trug dann in rhythmischen Bewegungen Farben auf das Papier. Darauf setzte er gelbe Spuren eines Vogels, als würde dieser über das Papier laufen (Abb. 16). In den folgenden Sitzungen zeigte er verschiedene Formen von Umsetzungen, stets begleitet vom freien Spiel mit Farben, in denen er beispielsweise assoziativ einen Schmetterling und andere Kreaturen wahrnahm. So malte er einen Baum, von dem er berichtete, dass dieser vergiftete Blätter hätte. Dann entwickelte er daraus eine Geschichte, dass der Baum unter seinen 18 Wurzeln eine goldene Kiste als Schatz verborgen hielt. Nur derjenige, der einen speziellen grünen Druckknopf finden konnte, würde den Schatz erhalten. Alle anderen würden in Ketten gelegt und von den drei Adlern als Wächter des Schatzes zerrissen. An den beiden letzten Sitzungen nahm er zusammen mit einem Mädchen teil, an dem er sich orientierte. Nachdem er mit ihr ein Spielfeld gezeichnet hatte, versuchte er, ein Schiff zu malen und fing dann an – während das Mädchen ein eigenes Bild malte – auf der anderen Seite unterschiedliche Farben übereinander zu reiben, so dass am Ende ein farbiger Fleck entstand (Abb. 17). Dies leitete über zur Gestaltung eines Delphins aus Ton (Abb. 18). In der letzten Sitzung bastelten beide Kinder Flugzeuge aus Papier, bemalten diese und versuchten sie fliegen zu lassen, bis es gelang. Dieses Erlebnis nahmen beide Kinder mit in die Gruppe, um es auch dort vorzustellen. Rückblickend verlief die Entwicklung des gestalterischen Prozesses über die bildnerische Symbolisierung des Elternimagos hin zum Selbstbild und zum Selbsterleben in der ästhetischen Ausdrucksfindung. Er zeigte ein zunehmendes Selbstbewusstsein und damit eine Selbstwirksamkeit im ästhetischen Handeln mit entsprechenden bildnerischen Symbolträgern. 193 https://doi.org/10.5771/9783495817995 .

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Abb. 15: Ölpastellkreide, Sand und Gänseblume auf Acrylbinder, kleinformatig ausgeschnitten (farbige Abbildung im Anhang)

Abb. 16: Spritzbild, Deckfarben, DIN A2

Abb. 17: Fleck, Ölpastellkreide, DIN A2 Abb. 18: Delphin, Ton

Ausblick Zusammenfassend ist festzuhalten, dass dem bildnerischen Ausdruck, mit entsprechender Anleitung zur Wahrnehmung innerer Bilder und Achtsamkeit, ein Beitrag zur Salutogenese zukommt. So vermochte Bert, ein anlehnungsbedürftiger Junge, im Ausdrücken seiner inneren Gefühle im gestalterischen Prozess – wie im Verschmieren von Farben auf dem Papier, dem freien expressiven Interagieren – in einer Art Probehandeln seine Symptome des Einkotens 194 https://doi.org/10.5771/9783495817995 .

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unbewusst zu bewältigen. Einer symbolischen Handlung ähnlich schien er gestalterisch etwas stellvertretend zu bearbeiten. Seine problematische Lebenssituation mit seinen Eltern zeigte sich als Wunschmetapher auf dem Papier, bis er mehr Vertrauen in sich selbst und eine innere Orientierung in der Arbeit mit anderen Kindern erhielt. Zu der Zeit wurde auch die Situation mit seinen Eltern weniger problematisch, so dass er wieder nach Hause entlassen wurde, nachdem er seine Symptome der Enkopresis fast verloren hatte. Die ästhetische Praxis bildete eine Brücke zwischen Tagtraum und Wirklichkeit, in der Albträume, wie die mit den vergifteten Blättern eines Baumes, einen Weg aufzeigten, sich selbst zu erforschen und Schwierigkeiten in einer Spielsituation zu überwinden. Der Gestaltungsprozess half ihm innere Ängste und Gefühle auszudrücken und zu einem gewandelten Selbstbezug zu gelangen. Seine Phantasien über seine leiblichen Eltern erlangten in einem ersten Bild als Hand von oben oder in einem weiteren als liebevolles Mäusepaar gegenüber dem größeren Meerschweinchenpaar als Wunschmetapher Gestalt. Dies führte zu unterschiedlichen Gestaltungsformen seines inneren Erlebens, um Gefühle stellvertretend auf dem Papier auszudrücken, anstelle einzukoten. Auch Sabine hat in der bildnerischen Ausdrucksfindung im intermediären Raum (vgl. Winnicott 1973, S. 21) des ästhetisch-gestalterischen Settings einen Zugang zu sich und den Mitschülern finden können. Ihre familiären Belastungssituationen konnte sie in der Begleitung integrieren und überwinden. Auffallend waren ihre phantasievollen Verkleidungen und spielerischen Verfremdungen des Erlebten – auch in der verdeckten Trauerarbeit. Als schulisches Angebot der Persönlichkeitsförderung hat die ästhetisch-gestalterische Interventionspraxis im Hinblick darauf eine wesentliche präventive Wirkung. Schülern kann bereits im Vorfeld eine Raum- und Zeitstruktur angeboten werden, um auf ihrer Ausdrucksebene belastende Lebensereignisse zu verarbeiten. Dies verstärkt an Schulen zu integrieren, gilt es zu ermöglichen. Bereits erbrachte Studien belegen die Wirksamkeit des non- und transverbalen Mediums einer ästhetisch-gestalterischen Ausdrucksgebung im Rahmen eines schulischen Angebots (vgl. Hampe 1991; 2001a; 2004; 2016; Hampe & Hegeler 2008; 2009 a + b). Zudem bildet dieses präventive Angebot an Schulen zugleich einen Beitrag zur Inklusion und Teilhabe. In der Hinsicht kann festgehalten werden, dass ästhetisch-ge195 https://doi.org/10.5771/9783495817995 .

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stalterische Ausdrucksformen eine Möglichkeit geben, innere Gefühle in ihrer unbewussten symbolischen Bedeutung zu bearbeiten. Wenn Ernst Bloch von dem »Vor-Schein« spricht (vgl. Bloch 1974), was auf etwas Zukünftiges hindeutet, ein »Halo« von etwas, das zur Existenz kommen kann, so gibt auch eine ästhetische Spielsituation Hinweise auf eine Verwandlung von Wirklichkeit. Es lassen sich Handlungen initiieren, die normalerweise nicht in der Realität ausgedrückt werden können. Solange das Kind Raum erhält, um innere Gefühle in einer sicheren Umgebung im Sinne einer ästhetische Transformation auszudrücken, kann es diese in einer weniger angstbesetzten Atmosphäre erforschen. Im Einlassen auf den ästhetischen Prozess vermag das Kind in Berührung mit seinen inneren Bildern zu kommen und diese symbolisch zu transformieren (vgl. Hampe 2000, S. 121 f.; 2001a), wobei es sich selbst im Probehandeln stabilisieren kann. Es handelt sich um ein kommunikatives dialogisches Mittel als auch um einen projektiven, diagnostischen Zugang zum Kind, um Einsicht in seine innere Gefühlswelt zu erhalten. Wie bereits HansGünther Richter (vgl. Richter 1999) und andere erwähnt haben, können traumatische Erfahrungen sich in den Kinderzeichnungen durch verschiedene Ausdrucksformen zeigen. In Bezug auf einen strukturell-biographischen Ansatz im Verstehen bildnerischer Ausdrucksformen ist ein besseres Verständnis über Emotionen eines Kindes und seinen Entwicklungsstand zu erhalten (vgl. Seidel 2007). Kunsttherapeutische Interventionen sind ein Mittel, die Fähigkeiten und Möglichkeiten der Ausdrucksgebung des Kindes zu fördern und zu verstehen, da das Kind weniger verbal, aber körperlich und figurativ orientiert ist, wie Edith Kramer (vgl. 1958, 1975), Helen Landgarten (vgl. 1990), Judith Rubin (vgl. 1993) und viele andere es für Kinder beschrieben haben. Die Phantasien, die sich in den Bildern zeigen, stehen zwischen Wunscherfüllung und Ängsten in Lebenssituationen, mit denen Kinder konfrontiert sind. Im spielerischen, bildnerischen Ausdrücken von Gefühlen können Kinder sich ihrer selbst bewusst werden und Wege finden, um erlebte Konflikte auszudrücken, zu integrieren und zu überwinden. In dem Sinne kann die Einbindung einer Tagtraumimagination mit vorhergehender Entspannungsübung (vgl. Leuner 1997) als virtuelles Mittel mit dazu beitragen, eigene Fähigkeiten als Ressource wahrzunehmen und eine Problembewältigung durch kreative Transformation im ästhetischen Prozess mittels einer empathischen Dialogfindung zu initiieren. Es handelt sich um eine Art virtueller Verwandlung des Selbst im intui196 https://doi.org/10.5771/9783495817995 .

Ästhetische Gestaltungsprozesse von Kindern

tiven Erforschen und Erleben, bezogen auf den Spannungsbezug von Traum und Wirklichkeit als Lernfeld in der Bewältigung innerpsychischer Probleme mittels des ästhetischen Ausdrucks.

Literatur Bloch, E. (1974). Ästhetik des Vor-Scheins 2, Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Hampe, R. (1991). Kunsttherapie als Förderunterricht in der Sekundarstufe I. In: Musik-, Tanz- und Kunsttherapie. 2. Jahrg., Heft 1. S. 30–36. – (1999). Bildgestaltungen in der Kinder- und Jugendpsychiatrie als psychische Verarbeitungsformen einer Krise. In: Hampe, R., Ritschl, D. & Waser, G. (Hrsg.). Kunst, Gestaltung und Therapie mit Kindern und Jugendlichen. Bremen: Univ. S. 275–289. – (2000). Metamorphosen des Bildlichen. Bremen: Univ. – (2001a). »Zur Bedeutung des Selbstporträts im kunsttherapeutischen Prozeß an der Kinder- und Jugendpsychiatrie«. In: Musik-, Tanz- und Kunsttherapie. Heft 4. S. 188–196. – (2001b). Zwischen Wunschtraum und Alptraum. In: E. Rüther, A. GruberRüther & M. Heuser (Hrsg.). »Träume«. Innsbruck: Integrative Psychiatrie. S. 301–311. – (2004). Präventive Maßnahmen für verhaltensauffällige Kinder und Jugendliche an Schulen im sozialen Brennpunkt. In: H. Schnoor & E. Rohrmann (Hrsg.). Sonderpädagogik: Rückblicke. Bestandsaufnahmen. Perspektiven. Bad Heilbrunn/Obb.: Klinkhardt. S. 289–196. – (2006). Tagtraumimagination und bildnerisches Gestalten mit verhaltensauffälligen Kindern und Jugendlichen an Schulen. In: Musik-, Tanz- und Kunsttherapie, 17 (1). S. 30–39. – (2016). Heilpädagogische Förderung an Schulen – eine quantitative und qualitative Studie unter Berücksichtigung ästhetisch-gestalterischer Medien. In: Heddrich, I. & Zahnd, R. (Hrsg.). Teilhabe und Vielfalt: Herausforderungen einer Weltgesellschaft. Bad Heilbrunn/Obb.: Klinkhardt. S. 151–158. Hampe, R. & Hegeler, P. (2008). Prävention und Intervention für verhaltensauffällige Kinder und Jugendliche unter Einbezug kreativer Medien. In: R. Hampe & P. Stalder (Hrsg.). »Grenzüberschreitungen« Bewusstseinswandeln und Gesundheitshandeln. Berlin: Frank & Timme. S. 383–404. – (2009a). Ästhetisches Gestalten mit verhaltensauffälligen Schülern als Präventionsform an Schulen, Ruth Hampe u.Peter Hegeler, In: R. Hampe, P. Martius, D. Ritschl, F. v. Spreti & P. Stalter (Hrsg.). KunstReiz. Neurobiologische Aspekte künstlerischer Therapien. Berlin: Frank & Timme. S. 367–390. – (2009b). Entwicklung gemeinsamer Kooperationsformen – eine Prävention mit ästhetisch-gestalterischen Miteln bei verhaltensauffälligen Schülern. In: U. Strasser, J. Weisser, M. W. Kohler, M. Schmon & J. Blickenstorfer (Hrsg.). Ästhetisierung der Sonderpädagogik. Bad Heilbrunn: Klinkhardt. S. 351–364.

197 https://doi.org/10.5771/9783495817995 .

Ruth Hampe Kramer, E. (1958). Art Therapy in Children’s community. Springfield. – (1975). Kunst als Therapie mit Kindern. München/Basel. Landgarten, H. (1990). Klinische Kunsttherapie. Karlsruhe: Gerardi. Leuner, H., Horn, G. & Klessmann, E. (Hrsg.) (1997). Katathymes Bilderleben mit Kindern und Jugendlichen. München: Reinhardt. Richter, H.-G. (1999). Sexueller Mißbrauch im Spiegel von Zeichnungen. Frankfurt a. M.: Lang. Rubin, J. A. (1993). Kunsttherapie als Kindertherapie. Karlsruhe: Gerardi. Seidel, C. (2007). Leitlinien zur Interpretation der Kinderzeichnung. Lienz i. Ostt.: Journal. Winnicott, D. W. (1973). Vom Spiel zur Kreativität. Stuttgart: Klett.

198 https://doi.org/10.5771/9783495817995 .

Lony Schiltz

Kunsttherapie und Identitätsfindung Eine vergleichende Studie zur Anwendung der Kunsttherapie in den Identitätskrisen der Adoleszenz, des mittleren Erwachsenenalters und des reifen Erwachsenenalters 1.

Einleitung

Es gibt nur wenige Veröffentlichungen zum Identitätsprozess im Erwachsenenalter, während die Sinnsuche der Adoleszenz Thema zahlreicher klinischer und experimenteller Studien ist. Das psychoanalytische Konzept des »Subjektivierungsprozesses« beschreibt genau, was auf dem Spiel steht. Da es sich bei der Sinnsuche um eine zentrale Aufgabe unserer Existenz handelt, kann es zu neuen signifikanten Erkenntnissen führen, sie in einer Entwicklungsperspektive zu untersuchen. Ich werde einige Resultate einer laufenden Untersuchung vorstellen und daraus Hinweise ableiten betreffend kunsttherapeutischer Sitzungen mit philosophischer Ausrichtung.

2.

Identitätskrisen und Psychotherapie

Das Konzept der Identitätssuche geht auf Erikson (1968) zurück, der die Freud’sche Auffassung der Stadien der psychosexuellen Entwicklung verändert hat, indem er dem sozialen Kontext eine größere Bedeutung einräumte. Der Autor schlägt acht Entwicklungsstadien vor. Jedes Stadium zeichnet sich durch spezifische Konflikte und Aufgaben aus, welche das Individuum meistern muss, indem es sich an die Anforderungen seiner sozialen Umgebung anpasst. Wenn sich dieser Konflikt auf eine konstruktive Art auflöst, wird die positive Tendenz ins Ich integriert, welches sich eine neue persönliche Identität erschafft. Andernfalls ist es die negative Tendenz, die siegt, dabei die Entwicklung des 199 https://doi.org/10.5771/9783495817995 .

Lony Schiltz

Ich bremst und möglicherweise zu psychopathologischen Komplikationen führt. Für unser Forschungsvorhaben sind die folgenden Abschnitte der Identitätssuche nach Erikson (1968) von Bedeutung: a)

Die Adoleszenzkrise (Identitätsfindung versus Rollendiffusion), 5. Stadium:

Das Ziel des 5. Stadiums besteht darin, ein kohärentes Selbstbild zu schaffen und sich unter den verschiedenen Rollen diejenigen auszuwählen, welche am besten zum Selbstbild passen. Das Risiko besteht darin, sich selbst in den verschiedenen Rollen zu verlieren (Cahn, 1998). b)

Die Krise des mittleren Erwachsenenalters (Schaffenskraft versus Stagnation), 7. Stadium:

Im mittleren Erwachsenenalter besteht das Ziel darin, sich zu verwirklichen, entweder durch die Erziehung und Förderung der Kinder oder durch die Entwicklung von Lebensaufgaben, welche eine gewisse Bedeutung und Dauer haben und über die persönlichen Grenzen hinausgehen (Valsinger & Connolly, 2003). c)

Die Krise des reifen Erwachsenenalters (Ich-Integrität versus Verzweiflung) 8. Stadium:

Die Herausforderung des letzten Stadiums besteht in der Entwicklung der Integrität im Gegensatz zur Verzweiflung, wobei Integrität bedeutet, die Grenzen des eigenen Lebens und der eigenen Verwirklichungen ohne Bedauern oder Bitterkeit anzuerkennen. Die Sinnsuche betrifft jedoch nicht nur die Vergangenheit, sondern auch die aktuellen und zukünftigen Möglichkeiten der Person. Daraus folgt die Pflicht, eine gesunde Lebensweise aufrechtzuerhalten, sowie das Verlangen, das Hier und Jetzt intensiver zu leben (Gubrium & Holstein, 2000). Alle verbalen psychotherapeutischen Verfahren, seien sie psychoanalytisch, humanistisch, kognitiv-verhaltenstherapeutisch oder systemisch orientiert, können bei Entwicklungskrisen angewandt werden, sowohl in Einzelsitzungen als auch in Gruppensitzungen. Persönliche 200 https://doi.org/10.5771/9783495817995 .

Kunsttherapie und Identitätsfindung

Forschungsergebnisse haben gezeigt, dass spezielle Formen der Kunstpsychotherapie von Interesse bei Identitätskrisen sein können, weil sie die imaginäre und symbolische Verarbeitung der inneren Spannungen fördern. Ich habe in diesem Zusammenhang die Wirkung der unter musikalischer Induktion geschriebenen Geschichten überprüft (Schiltz, 2008). Von besonderer Relevanz waren dabei die symbolischen und archetypischen Themen und Figuren, die es erlauben, den Subjektivierungsprozess während der Adoleszenz sowie dem reifen Erwachsenenalter nachzuvollziehen (Schiltz, 2002–2007; 2014). Die heute vorgestellte Studie bezieht auch das mittlere Erwachsenenalter mit ein und erlaubt es uns, drei wichtige Momente der Identitätssuche zu vergleichen.

3.

Methodik

Allgemeine Hypothese Wir nehmen an, dass Kunstpsychotherapie einen positiven Einfluss auf die Förderung der Identitätsfindung in der Adoleszenz, auf die Vermehrung der Schaffenskraft im mittleren Erwachsenenalter sowie auf die Aufarbeitung der Lebensgeschichte und die Vermehrung der Ich-Integrität im reifen Erwachsenenalter haben kann. Behandlungsmethode Die therapeutischen Sitzungen umfassten sowohl aktive Musiktherapie als auch das Schreiben von Geschichten während dem Hören von Musik. Die verbale Verarbeitung, welche auf nicht-intrusive Weise von den in den Texten geschaffenen Figuren und Symbolen ausging, spielte dabei eine ausschlaggebende Rolle. Die mittlere Behandlungsdauer erstreckte sich über 3 Monate. Evaluierungsmethode Die unter musikalischer Induktion verfassten Geschichten sind nicht nur ein vielversprechendes therapeutisches Verfahren, sondern sie können auch zu einem neuartigen Instrument der Forschung werden, 201 https://doi.org/10.5771/9783495817995 .

Lony Schiltz

dank der Entwicklung spezieller Auswertungsschemata, welche uns erlauben, den Schritt von der qualitativen Analyse zur quantitativen Auswertung mit Hilfe nicht-parametrischer statistischer Verfahren zu vollziehen (Schiltz, 2010).

4.

Vergleichsstudie zwischen der Adoleszenz, dem mittleren Erwachsenenalter und dem reifen Erwachsenenalter

Wir werden ein paar repräsentative Resultate einer Vergleichsstudie mit N = 90 Teilnehmern (je 30 pro Entwicklungsstufe) vorstellen.

4.1. Qualitative Ergebnisse Die phänomenologisch-strukturelle Inhaltsanalyse (Mucchielli, 1983) erlaubte es, wichtige Dimensionen in den von den Teilnehmern geschriebenen Texten aufzuzeigen. Wir werden einige davon aufzählen: a)

Aktuelle Konflikte/unerfüllte Träume

In den Texten der reifen Personen kreisen die Themen viel mehr um vergangene Träume und ungestilltes Verlangen als um gegenwärtige Konflikte mit Personen ihrer Umgebung, wie es in der Adoleszenz und im mittleren Erwachsenenalter der Fall ist. b)

Zeitliche Perspektive

Im Vergleich zu den von den Jugendlichen und den Personen im mittleren Erwachsenenalter verfassten Geschichten ist der Blick im reifen Erwachsenenalter öfter auf eine teleskopische Sicht des ganzen menschlichen Lebens eingestellt. Bei der Beurteilung der dahingehenden Zeit unterscheidet sich die typisch weibliche Sichtweise von der männlichen Sichtweise. Bei den Frauen im mittleren und reiferen Erwachsenenalter erscheint das Gefühl der inneren Jugend oft in Form einer Identifizierung mit jungen Frauen, welche die Freude des Tanzens genießen.

202 https://doi.org/10.5771/9783495817995 .

Kunsttherapie und Identitätsfindung

c)

Fähigkeit zur Distanzierung

Die Weisheit entwickelt sich progressiv in Form des Verstehens allgemeiner Wahrheiten, z. B. der Tatsache, dass alles im Leben unvorhersehbar und ungewiss ist. Die humoristische Verarbeitung nimmt mit dem Alter zu. Die historischen Zeitgemälde unterstreichen drollige und skurrile Details. Der Rückblick auf die eigene Entwicklung im Alter könnte als Zustand »heiterer Verzweiflung« bezeichnet werden. d)

Stellenwert der Liebe

Im mittleren und reifen Erwachsenenalter wird der Partner weniger verklärt als während der Adoleszenz. Die subjektive Erfahrung, die um die Mutterschaft und die Vaterschaft kreist, nimmt einen entscheidenden Platz im Denken der älteren Personen ein. e)

Zahl der Protagonisten

In den von Jugendlichen geschriebenen Geschichten findet man häufig mehrere Protagonisten. Die Geschichten, welche von Personen im mittleren und reifen Erwachsenenalter entworfen werden, enthalten häufig einen einzigen Helden. Dieser wird oft als einsamer Wanderer dargestellt, der die Natur bewundert. Die von Jugendlichen beschriebenen Helden sind eher aktiv eingestellt.

4.2. Vergleichsstudie der Verarbeitungsstrategien Im Folgenden werden die Resultate einer vergleichenden Studie über die Bearbeitungsstrategien, die in den verschiedenen Altersstufen am häufigsten genutzt werden, vorgestellt. Die Tendenz zur künstlerischen Verarbeitung, d. h. die Sorgfalt in Form und Stil, ist in den drei Altersgruppen gleich verbreitet. Die dramatische Bearbeitung, d. h. die Dramatisierung der intrapsychischen Konflikte in Form einer Schaffung antagonistischer Figuren, welche in der erfundenen Wirklichkeit gegeneinander antreten, ist eine Strategie, die öfter von den Jugendlichen benutzt wird. Die Personen im mittleren und reifen Erwachsenenalter beschreiben häufiger ihre inneren Konflikte in der 1. Person. 203 https://doi.org/10.5771/9783495817995 .

Lony Schiltz

Tafel 1: Vergleichsstudie der Verarbeitungsstrategien (Synthese: H Test von Kruskall-Wallis und U Test von Mann-Whitney) Kategorie

Signif. Bilat.

Künstlerische Verarbeitung

n.s.

Richtung der Differenz

Humoristische Verarbeitung

P < .01

RE > ME > AD

Kognitive Verarbeitung

P < .05

(RE = ME) > AD

Dramatische Verarbeitung

P < .05

RE < ME < AD

ME = mittleres Erwachsenenalter; RE = reifes Erwachsenenalter; AD = Adoleszenz

Die humoristische Verarbeitung ist eine Strategie, die mit dem Alter zunimmt. Die Texte der Jugendlichen sind eher ernst. Die kognitive Bearbeitung, d. h. die Fähigkeit, über das subjektive individuelle Leiden hinauszugehen, indem die Perspektive des Ganzen eingenommen wird, ist stärker im mittleren und reifen Erwachsenenalter entwickelt. Diese Fähigkeit gliedert sich ein in die Tradition der großen Philosophen, die im Denken ein Mittel gegen das individuelle Leiden gesehen haben (Aristoteles, Spinoza, Schopenhauer …). Im Verlauf aufeinanderfolgender Sitzungen wird eine persönliche Sicht des Lebens entwickelt. Die Möglichkeit, seine Geschichten vor den anderen Teilnehmern zu lesen und zu kommentieren sowie deren Reaktionen zu hören, erlaubt eine gesteigerte Erkenntnis des eigenen Werdegangs und seiner einzigartigen Individualität. Im Allgemeinen haben die älteren Menschen weniger symbiotische Bedürfnisse gegenüber der Gruppe als die Jugendlichen.

5.

Fallbeispiele

a)

Adoleszenz

Ein 15-jähriger Junge, der durch impulsives und aggressives Verhalten Schwierigkeiten mit Altersgenossen und Lehrern hatte, findet zu einem positiven Vaterbild.

204 https://doi.org/10.5771/9783495817995 .

Kunsttherapie und Identitätsfindung

Mein Vater, dieser Held. Rancho war ein kleiner Junge, der mit seiner Familie in Mexiko lebte. Seine Familie war jedoch nicht mexikanische, sondern europäischer Herkunft. Ranchos Vater hatte in Mexiko ein pädiatrisches Krankenhaus gegründet, darum musste die ganze Familie auswandern. Rancho ist stolz, dass sein Vater sich so für die Kinder der Armen einsetzt. Obwohl es in dieser Gegend keine Fernseher gibt, fühlt er sich wohl. Er hat Freunde gefunden und geht mit ihnen in dieselbe Klasse. Rancho wuchs heran und seine Eltern waren nicht mehr sehr jung. Er machte die Bekanntschaft eines jungen Mädchens, das er zwei Jahre später heiratete. Nach zwei Jahren bekamen sie einen Sohn und nannten ihn Jakob, wie Ranchos Vater. Dieser erkrankte schwer. Zuerst war es nur eine leichte Grippe; ein paar Tage später konnte er nur noch mit Hilfe von Apparaten überleben. Zwei Wochen später war alles vorbei. Er starb. Rancho übernahm die Leitung des Krankenhauses. (Zauber der Andenflöten) Die folgende Geschichte wurde von einem 17-jährigen Mädchen geschrieben, das zu Beginn der Therapie überangepasst war und Züge eines falschen Selbst aufwies. Verzweifelt und unter Tränen rannte sie zur Tür, drückte sie mit aller Kraft auf, um aus diesem Haus zu entkommen. Sie lief und lief, ohne Pause, nur geradeaus, ohne ihre Müdigkeit zu spüren, ohne an irgendetwas zu denken, nur fort, möglichst weit weg, befreit von allen Gedanken und Sorgen, die sie gequält haben; denn da, wo sie hinkommen wird, wird es keine Probleme mehr geben … Also nie mehr Gedanken verschwenden an Fragen wie: »Was ist falsch?« »Was ist richtig?« »Wieso sind die die Dinge so wie sie sind und nicht anders?« Vielleicht hat sie sich ihre Probleme selbst gemacht. Warum sich das Leben schwer machen, wenn es auch einfach geht? Leider gibt es kein sicheres Mittel gegen Pessimismus und Depression, aber damit zu leben und seine Gefühle zu verbergen, ist schwer. Es kommt ein Tag, an dem man einfach sagt: »Stopp, es genügt, ich habe es satt.« Und dann läuft man davon, nicht vor seinen Problemen, sondern in die Freiheit. Und wenn es nicht möglich ist, fortzulaufen, kommt man einmal so weit, dass man komplett aus sich heraus geht … (Mozart: Jupiter Symphonie) 205 https://doi.org/10.5771/9783495817995 .

Lony Schiltz

Die Einsicht, dass man sich wehren muss, statt alles herunterzuschlucken, ist ein Hinweis auf eine innere Wandlung. Die symbolische Deutung der Flucht geht nicht in Richtung Selbstmordgefährdung, wie man zu Beginn der Geschichte befürchten könnte. Der Akt der passiven Auflehnung bildet eine Zwischenstufe für jemanden, der noch nicht soweit ist, offen seine Meinung zu sagen, und bedeutet einen Übergang aus der Wehrlosigkeit in die Autonomie.

b)

Mittleres Erwachsenenalter

Der folgende Text wurde von einer 48-jährigen Frau geschrieben, welche eine Ehekrise hinter sich hatte. Ich befinde mich in einem großen Saal, mit reichem Barockschmuck über den Fenstern und massiven Eichentüren. Die Musik lädt zum Tanz ein. Plötzlich wird es ruhig und man hört nur Flüstern. Die aufgeregte Menge drängt zum Mittelpunkt des Raumes und begrüßt die Person, die eben durch den Haupteingang gekommen ist. Wer ist es? Ich sehe nichts, ich höre nichts. Nur Satzfetzen, die ich nicht verstehe. Welche Sprache sprechen sie? In einem Moment konnte ich ein wenig weiter vorrücken, um etwas zu sehen, doch es war schon zu spät. Ein kleines Mädchen setzt sich zu mir. Sie bedauert ebenfalls, dass sie nicht die Möglichkeit hatte, etwas zu sehen. Sie ist enttäuscht und den Tränen nahe, weil sie sich von dieser wichtigen Person etwas erhofft hatte. Ich fühle mich immer stärker unter Druck. Die Trompeten fangen an, mit solcher Intensität zu spielen, dass ich nur einen einzigen Gedanken habe: fortzulaufen. Ich flüchte vor den Gesprächsbrocken, der Musik, dem Aufknallen der Schuhe auf dem Parkett, und ich finde mein Auto draußen auf dem Parkplatz. Endlich Ruhe. Ich genieße sie. (Hummel: Trompetenkonzerte) Ein 45-jähriger Mann, der gerade die Arbeitsstelle gewechselt hat, schrieb einen Text, der um die Leistungsmotivation kreiste. Je mehr Zeit verging, desto stärker fühlte er sich unter Druck. Alle Konkurrenten waren erschienen. Alle waren schweigsam, verglichen sich mit den anderen. Es stand viel auf dem Spiel: Es ging um eine Studienbörse an einer Eliteuniversität. Für ihn stand viel auf dem 206 https://doi.org/10.5771/9783495817995 .

Kunsttherapie und Identitätsfindung

Spiel, seine zukünftigen Studien, sein ganzes Leben, denn er konnte nicht damit weiterfahren seine Arbeit mit seiner Forschung zu verbinden. Wenn er weiterfahren wollte, musste er diese Börse bekommen. Sein Herz schlug bis zum Halse. Atmen, dem Rhythmus seines Herzens zuhören, sich entspannen, den Stress in Energie umwandeln. Erster Pfiff, die Teilnehmer stellen sich auf, die Spannung erreicht ihren Höhepunkt, doch er ist plötzlich vollkommen ruhig. Er schaut weit hinter die Ankunftslinie, atmet ein … Und schon ertönt das Signal. Er springt in die Luft, seine Beine stützen sich ab und drücken ihn mit aller Kraft vorwärts. Noch nie hat er sich so sicher gefühlt. Er fühlt keine Schmerzen, seine Muskeln und sein Geist sind in Harmonie. Es gibt nichts mehr um ihn herum. Von weitem hört er Applaus, welcher ihn immer schneller werden lässt. Ein letzter Anlauf, er wirft sich nach vorn. Es ist vorüber. Die wirkliche Welt nimmt ihn wieder ein, Umarmungen, Glückswünsche, er lässt sie geschehen, sein Atem beruhigt sich. Er hat gewonnen. (Laya Vinya: South Indian Drumming)

c)

Reifes Erwachsenenalter

In der folgenden Geschichte drückt eine 69-jährige Teilnehmerin ihr Zeitgefühl aus. Unbeschwert läuft ein Mädchen von etwa 14 Jahren durch eine herrliche Frühlingslandschaft ohne ein bestimmtes Ziel, getragen von den guten Schulresultaten am Morgen. Es läuft, ohne nachzudenken, immer weiter in die Natur hinein. Es wird nachdenklich, fühlt sich noch wohl, fragt sich aber auch, was es will, wohin es will. Eine leise Angst steigt in ihm auf, aber es fühlt sich noch immer wohl. Manchmal durchzieht ein bedrohlicher Gedanke seinen Kopf. Es hat in letzter Zeit manche schrecklichen Fernsehbilder über Entführungen, Vergewaltigungen usw. gesehen. Aber es verscheucht diese Gedanken. Die Natur ist schön, alles steht in Blüte, es ist mitten am Tag, Häuser liegen nicht allzu weit entfernt. Aber es ist jetzt schon recht lange herumgelaufen ohne Ziel. Es will doch nach Hause. Es ist nachdenklicher geworden: Schönes im Leben sollte man unbeschwert genießen, aber auch merken, dass Bedrohliches entste207 https://doi.org/10.5771/9783495817995 .

Lony Schiltz

hen kann, dass diese unbeschwerte Stimmung nicht andauern wird. Das Mädchen will sich nicht von diesen melancholischen Gedanken tragen lassen, die schöne Zeit genießen und eilt nach Hause. Nachdenklich ist es zu Hause angekommen. Als es abends die Nachrichten hört, stehen Katastrophen und Kriege im Mittelpunkt. Es sagt sich: Das Leben ist ein Wechselbad der Gefühle, ein Auf und Ab, wie der heutige Nachmittag. (Kodo: Blessing of the Earth) Beim nächsten Beispiel handelt es sich um einen Mann von 61 Jahren, der den Ablauf des Lebens mit Selbstironie und philosophischer Distanz betrachtet. Er betrachtete sich im Spiegel des ärmlichen Hotelzimmers, wo er als Arbeitsloser in der Riesenstadt Unterschlupf gefunden hatte. Während er der Musik dieses heute vergessenen Musikers, dieses Ludwig van Beethovens, zuhörte, stellte er sich vor, ein großer Dirigent zu sein, in einer Zeit als die leibhaftigen Orchester noch existierten. Er nahm seine elektrische Zahnbürste und ahmte vor dem dunklen Spiegel, der seine müde und gebeugte Gestalt nur spärlich widerspiegelte, den großen Dirigenten, der er hatte werden wollen, nach. Während die in seinen Ohren eingesetzten Empfänger ihm diese himmlische Musik vorspielten, richtete er sich auf. Seine von Leiden entstellten Züge entspannten sich. Sein bleiches Gesicht nahm Farbe an, die heroischen Gefühle, die diese Melodie in ihm erklingen ließ, verwandelte sein ganzes Wesen. Er vergaß die laute und schmutzige Riesenstadt, die Straßenkämpfe, die ständigen Angriffe und Schmähungen, und stellte sich vor, er reite auf einem Schimmel an der Spitze seiner Truppen und bewege sich auf die blutgierigen Horden zu, welche sich jetzt voller Angst anschickten, das besetzte Gebäude aufzugeben. Vielleicht ereignete sich in diesem Moment etwas draußen in der Welt, und die Welt, im Einklang mit seinen Gefühlen, verwandelte sich und vertauschte ihre scharlachrote, räuberische und blutbefleckte Tunika mit einem leuchtenden und glorreichen Gewand … (Beethoven: Eroica Symphonie) Die Mischung aus schwarzem Humor und erhabenen Gefühlen ist typisch für die Mischung der Gattungen, welche man normalerweise bei reifen Personen findet. 208 https://doi.org/10.5771/9783495817995 .

Kunsttherapie und Identitätsfindung

6.

Schlussfolgerung

Die Studie hat gezeigt, dass die oben beschriebene Form von Kunstpsychotherapie zu einem Instrument der Sinnsuche in existentiellen Krisen werden kann. Die Verbindung der physiologischen und psychologischen Wirkung der Musik (Platel, 2002; Habe, 2010; Lechevalier & Platel, 2010) mit der formalen Arbeit des Schreibens von Geschichten, innerhalb der haltgebenden Atmosphäre der therapeutischen Beziehung, fördert die Entwicklung neuer kognitiver und affektiver Verarbeitungsund Anpassungsstrategien, welche das Seelenleben bereichern und sogar zu einem strukturellen Wandel führen können. Die unter musikalischer Induktion geschriebenen Texte erlauben es, sich in einer analogen und nicht digitalen Sprache auszudrücken und einen authentischen Kommunikationsprozess mit sich selbst und mit anderen in Gang zu setzen, währenddessen das Unbewusste die passenden Symbole im richtigen Moment erzeugen kann. Sie werden so zu einer Methode der Begleitung und Förderung des Subjektivierungsprozesses in verschiedenen Lebensphasen. Die Wirkungen dieser existentiellen Form von Kunstpsychotherapie konnten mit Hilfe quasi-experimenteller Versuchspläne sowie mit einer Kombination von psychometrischen, projektiven und expressiven Verfahren überprüft werden (Schiltz, 2008). Daraus ergeben sich vielfältige Möglichkeiten der tertiären Prävention in allen Lebensabschnitten. Der Rückgriff auf Kunstpsychotherapie zur Bewältigung der existentiellen Entwicklungskrisen des Menschenlebens führt auch zu neuen Erkenntnissen über den Reifungsprozess an sich.

Literatur Cahn, R. (1998). L’adolescent dans la psychanalyse. L’aventure de la subjectivation. Paris: PUF. Erikson, E. H. (1968). Identity: Youth and Crisis. New York: Norton. Gubrium J. F., Holstein, J. A. (eds). (2000). Aging and every day Life. Malden: Blackwell. Habe, C. (2010). Neuropsychology of music – a rapidly growing branch of psychology. Horizons of Psychology, 19(1); 79–98.

209 https://doi.org/10.5771/9783495817995 .

Lony Schiltz Lechevalier B., Platel H., Eustache F. (eds.) (2010). Le cerveau musicien. Neuropsychologie et psychologie cognitive de la perception musicale. Bruxelles: De Boeck Université. Mucchielli, A. (1983). L’analyse phénoménologique et structurale en sciences humaines. Paris: PUF. Platel H. (2002). Neuropsychology of musical perception: new perspectives, Brain, 125(2); 223–224. Schiltz, L. (2002). Archétypes signalant la reprise du processus de subjectivation. La Revue de musicothérapie, XXII, 1; 8–11. Schiltz, L. (2004). Musicothérapie et quête de sens à l’âge adulte avancé. In: Sudres J. L. Roux G., Laharie M., De la Fournière F. (eds). La Personne âgée en art thérapie. De l’expression au lien social. Paris: L’Harmattan; 221–226. Schiltz L., Denis B, Fack P., Meyer C., Knopik G. (2007). Renouer avec son identité d’antan. L’effet de la musique sur la mémoire émotionnelle. La Revue de Musicothérapie, XXVII, 1; 44–55. Schiltz L. (2008). Histoires écrites sous induction musicale: Une contribution au psychodiagnostic, à la psychopédagogie, à la psychothérapie et à la recherche. Courlay: Fuzeau. Schiltz L, Boyer B., Konz M., Schiltz J. (2010). Application des méthodes de codage optimal aux valeurs delta: Une stratégie pertinente pour l’exploration du processus thérapeutique. Neuropsychiatrie de l’Enfance et de l’Adolescence, 58(5); 306–316. Schiltz L. (2014). The Archetype of the Double: Favoring the Identity Quest of Adolescents with the Help of Stories Written under Musical Induction. Arte Viva, Revista Portuguesa de Arte-Terapia, 4; 94–106. Valsinger J., Connolly K. J. (eds). (2003). Handbook of Developmental Psychology. London: Sage.

210 https://doi.org/10.5771/9783495817995 .

Henriette Schwarz & Monika Wigger

Rezeptionsorientierte und gestaltende Kunsttherapie in der Onkologie – oder: Was hat Kunstrezeption mit Onkologie zu tun? 1. Etwas Unbekanntes ertasten, ohne es zu sehen, in einen kleinen Stoffbeutel greifen, wo ich es mit den Fingerspitzen erforsche. Ich »sehe« mit den Händen und erfasse dadurch das Unbekannte auf ursprüngliche, basale Weise. Die mir unbekannte Situation kann ich visuell nicht kontrollieren, ich taste mich heran, versuche zu begreifen und mich zu orientieren, versuche Vertrautes zu entdecken, Zusammenhänge herzustellen, ertappe mich dabei, dass ich Lust auf Neues spüre, Entdeckerfreude in mir wach wird. Die neuen Erkenntnisse werden zunächst zeichnerisch in Linien und Flächen, Hell- und Dunkelkontrasten, vielleicht sogar in Farbe, zu Papier gebracht. Alles ist richtig, jede formale Ordnung hat Bestand. Ich übertrage jeden taktilen Eindruck in mein sinnliches Erfahrungsprotokoll – staune über mein zweidimensionales Ergebnis und über die Vielfalt zeichnerischer Protokolle der anderen Zeichnenden. Jeder hat einen eigenen »Tastkosmos« in Form eines Stoffbeutels mit einem jeweils originären, unvergleichbaren kleinen Objekt – individuell erfühlt und aufgezeichnet. Die Neugier auf die Enthüllung der Beutelobjekte ist ansteckend und das Erstaunen über das Sichtbare und die Erfahrungen des Fühlbaren werden angeregt geteilt. In einem zweiten Erfahrungsauftrag wird nun die rezeptive Wahrnehmung um den Aspekt des Akustischen erweitert. Nur einer der Teilnehmenden bekommt einen Stoffbeutel, der ein Tastobjekt beinhaltet. Der Auftrag lautet diesmal, das Erfühlte in Worte zu fassen und somit den Anderen über das Hören Anleitung zum Zeichnen zu geben. Der Prozess fordert die Aufmerksamkeit, Vertrauen, Geduld und die Vorstellungskraft jedes einzelnen Zuhörenden. Für den Fühlenden und Beschreibenden stellen sich ebenfalls Fragen: Werde ich die passenden Worte für das Ertastete finden? Wie viele Informationen benötigen die Zuhörenden, um sich ein Bild machen zu können? 211 https://doi.org/10.5771/9783495817995 .

Henriette Schwarz & Monika Wigger

Es sind bewusst ›unkonkrete Kunstobjekte‹, nicht figürlich zuzuordnen, die in den handgroßen Stoffbeuteln verborgen sind und zum Tasten einladen. Gebaut aus Papier, Gummi, Stoff, Metall, Pappe … (in der ersten Auflage kreiert von Studierenden 1 der Kunstakademie Münster als Anregung und Aktivierung zum Zeichnen und zur Formfindung) 2.

Abb. 1: Sequenz der Intervention, Tasten und Zeichnen

Es kostet möglicherweise Überwindung hineinzugreifen, viele tun es mit gemischten Gefühlen. Etwas ganz Neues, Unbekanntes begegnet ihnen, das keinen eigenen Namen hat und nur aus der Beschreibung und dem Spüren begriffen wird. Und zu dem ein eigener Ausdruck gefunden wird – eine Gestaltung, die aus dem Impuls des Objektes lebt. Die Qualität der sinnlichen Erfahrung mit einem »no-name-Objekt« ist dabei an situative Parameter, wie therapeutische Beziehung,

Für eine bessere Lesbarkeit wird im Text die männliche Form gewählt, gleichwohl sind auch weibliche Personen gemeint. 2 Die Studierenden Maria Oberröhrmann und Annika Wanzek begleiteten unter der Leitung von Dr. Monika Wigger im Rahmen ihres Praktikums 2014 bis 2015 die ambulante Kunsttherapiegruppe für Hirntumorpatienten in der Malwerkstatt Münster. Im Kontext dieses Praktikums wurden unter anderem die hier dargestellten, interaktiven künstlerisch-medialen Interventionen zur Wahrnehmungs- und Sinnesförderung entwickelt. 1

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Rezeptionsorientierte und gestaltende Kunsttherapie in der Onkologie

Gruppenkonstellation, Material, Raum, Zeit, das aktuelle physische und psychische Befinden der Rezeptierenden gebunden. Die Mitteilung, an einem Tumor zu leiden, löst bei fast allen Patienten Gefühle von Hilflosigkeit, existentieller Bedrohung und tiefer Verzweiflung aus. Darüber hinaus kann die damit verbundene Behandlung, wie Operation, Bestrahlung und Chemotherapie, Befürchtungen mit sich bringen. Unabhängig vom Tumorbefund können daher Begleitsymptome wie z. B. körperliche Beschwerden, Fatigue 3, Angst und Depression entstehen und sich auf die Lebensqualität der Betroffenen auswirken.

Abb. 2: Sequenz der Intervention, Tasten und Zeichnen

Die Gesamtsituation ist komplex, undurchschaubar und oft schwer zu begreifen. Die Betroffenen stehen vor der Aufgabe, die neue Gegebenheit anzunehmen, und vor der Herausforderung, die Gefühle für das vermeintlich »Unbeschreibliche« in Worte zu fassen. Die supportive Begleitung durch ein spezifisches Kunsttherapieangebot kann hierbei in vielerlei Weise bedeutungsvoll sein. So beschreibt eine Teilnehmerin der ambulanten Kunsttherapiegruppe für Hirntumorpa-

3

Fatigue, franz. = Müdigkeit, Erschöpfung.

213 https://doi.org/10.5771/9783495817995 .

Henriette Schwarz & Monika Wigger

tienten 4 die Wirkung des schöpferischen, sinnesorientierten, gestalterischen Tuns als Erfahrungsraum um »auf eine andere Art Dinge wahrzunehmen« und darüber eine »Steigerung des Selbstvertrauens« (Hirntumorpatientin, 25 J.) zu erleben. Die Herausforderung bei den hier vorgestellten Übungen ist der Transfer der sinnlichen Erfahrung in der Übung auf das eigene freudund leidvolle Erleben, das oftmals keine Worte haben kann: Ausdruck geben dürfen für Unsagbares, das zunächst keinen Sinn hat. Diese basalen Übungen können zur konstruktiven Auseinandersetzung anregen und beinhalteten dabei sowohl Rezeptivität als auch schöpferische Aktivität. Das Gegenteil von Aktivität muss jedoch keineswegs Passivität sein, sondern kann auch Rezeptivität sein. Tatsächlich braucht der Mensch heute mehr denn je ein Gleichgewicht zwischen den schöpferischen Möglichkeiten, dem Leben einen Sinn zu geben, und den Gelegenheiten, die ihm Begegnung und Liebe geben (Frankl 1985, 39).

Etwas Neues wahrnehmen, verarbeiten, wirken lassen und darauf reagieren können erfordert einen solchen ausgleichenden Rahmen und entsprechende Begleitmaßnahmen.

2. Kunstrezeption ist eine Begegnung mit einem ästhetischen Objekt. Dieses Medium – egal ob es ein fremdes, ertastetes oder ein selbst gestaltetes ist – ist ein ganz spezifisches Element der Kunsttherapie. Es ist etwas Drittes zwischen Therapeut und Patient, ist Kommunikationsmöglichkeit, ist nonverbale Aussage (in Richtung des Therapeuten als Bildersprache statt mit Worten), ist Projektionsfläche, ist Imagination, ist aus dem eigenen Inneren heraus ›geschöpft‹, ist ›gefahrloser‹ als eine direkte Begegnung (neutrales Terrain), es ›verhüllt‹ sich für alle, die es nicht lesen können, es ›enthüllt‹ sich für alle, welche die Bedeutung kennen, es ermöglicht Identifikation mit Bildteilen oder dem Gesamtwerk, es ermöglicht gleichzeitig eine Distanzierung davon, es kann Empfindungen deutlich machen.

Begleitendes Kunsttherapieprojekt der Klinik für Neurochirurgie am Universitätsklinikum Münster für stationäre und ambulante Hirntumorpatienten.

4

214 https://doi.org/10.5771/9783495817995 .

Rezeptionsorientierte und gestaltende Kunsttherapie in der Onkologie

Diese beschriebenen Momente erfüllen sich in der kunsttherapeutischen Intervention, die mit der taktilen Rezeption 5 von materialintensiven, plastischen, sozusagen »manipulierten« Objekten arbeitet. Das Ertastete findet unmittelbar in zeichnerischer Gebärde Ausdruck und Ordnung. Eine auditive Variante der Intervention beinhaltet die Aufgabe, das Gefühlte in Worte zu übersetzen und damit höchst subjektiv zu verbalisieren. Eine ganz objektive Beschreibung kann und muss es hier nicht geben. Kommentare zu den Empfindungen (angenehm, unangenehm, etc.) sind zwangsläufig dabei und auch gewollt. Die Zuhörer setzen bei dieser Intervention das Gehörte wiederum in lineare Spuren um. Sie sind also auch vor die Aufgabe gestellt, etwas ganz Neues auszudrücken, für das sie noch keinen Namen haben. Und für dieses Ungesehene steht noch kein Formäquivalent zur Verfügung. Es muss zeichnerisch erst erfunden werden. Im Falle der Plastik bezieht sich das Bewusstsein auf das faktisch Anwesende, im Falle der Zeichnung bezieht sich die Imagination auf das faktisch Abwesende, das allerdings zu seiner imaginierten Präsenz des faktisch Anwesenden – der tatsächlichen und ein für allemal anschaulichen Linie – notwendig bedarf und auch fortdauernd deren Anschauung erfordert (Imdahl 2006, 324).

Die fühlbare Präsenz des kleinen plastischen, materiellen Objekts ermöglicht situativ und subjektiv eine Variationsbreite der Wahrnehmungsmöglichkeiten. Der Wahrnehmende »fühlt« immer wieder anders, man bekommt neue Eindrücke und »Ansichten«, je nach Blickund Fühlwinkel. Mit der gezeichneten Linie des taktilen Eindrucks verhält es sich ganz anders: »Unmittelbar und ein für allemal zeigt sie sich zur Gänze als das, was sie ist« (Imdahl 2006, 323). Hier liegt also eine doppelte Kommunikation zu dem ästhetischen Objekt vor: es wird ertastet und verbal ausgedrückt, es wird gehört und gezeichnet und erhält damit wieder eine materielle Form. Gegenstand der Kommunikation der Gruppenmitglieder untereinander und mit dem Kunsttherapeuten ist sowohl das primäre Kunstobjekt, als auch die verbale Beschreibung und das neu geschaffene, visuell erfassbare, gezeichnete Objekt. Informationen und Reize aus der Umwelt nehmen wir über unsere Sinnesorgane auf. Fünf Hauptsinne sind nach außen offensichtlich: Ohren, Augen, Nase, Mund und die Hände bzw. die Haut. ErRezeption = geistige Aufnahme und Verarbeitung von etwas; in der Kunst: verstehende Aufnahme eines Kunstwerks.

5

215 https://doi.org/10.5771/9783495817995 .

Henriette Schwarz & Monika Wigger

gänzend zu den Hauptsinnen sind noch vier weitere Sinne von Relevanz: die Wahrnehmung von Temperatur, Schmerz und Tiefensensibilität und der Gleichgewichtssinn für die Fortbewegung bzw. die Stabilität beim Gehen. So ausgestattet können wir unterwegs sein und mit Sinn und Verstand uns selbst und die Welt begreifen. Vielleicht ist das der Grund, dass eine Sinneswahrnehmung gerne eine weitere, oder manchmal auch das gesamte Sinne-Team zu Rate zieht, um eingehende Sinnessreize zu überprüfen. Die »Teamarbeit der Sinne« ist eine wesentliche Grundlage ganzheitlicher Wahrnehmungs- und Ausdrucksförderung. Die Kunsttherapie mit ihren umfassenden Medien und Methoden ist auf die Vielfalt sinnlicher Wahrnehmung ausgerichtet und kann somit unterstützend Ressourcen aktivieren, aber auch kompensatorisch ausgleichend wirksam sein.

3. Im Rahmen einer Krebserkrankung, insbesondere bei Tumoren des zentralen Nervensystems oder des Gehirns, kann es unter anderem zu akuten oder langfristigen motorischen Störungen und zu Beeinträchtigungen bei der Verarbeitung von Sinneswahrnehmungen kommen (Stummer 2015; Wiewrodt 2015). Dies steht im Zusammenhang damit, dass diese Fähigkeiten abhängig sind von der störungsfreien Reizverarbeitung im Gehirn (Zimmer 2010, 159). Ein Tumorwachstum an zentralen Schaltstellen des Gehirns kann wichtige Leistungen stören und dadurch die Lebensqualität der Patienten akut oder dauerhaft beeinträchtigen. Die ganzheitliche kreativ-künstlerisch orientierte Förderung der Sinnestätigkeit beim gestalterischen Tun, wie Zeichnen, Malen, Modellieren, impliziert Schauen, Hören, Tasten, Fühlen, Bewegen, Formen, Riechen und Balancieren, also eine Vielfalt sinnlicher Wahrnehmungsaspekte. Darüber hinaus werden durch den gemeinsamen Austausch, den Spaß am Tun, die Möglichkeit Neues zu entdecken und das Ereignis, ein bildnerisches Ergebnis in den Händen zu halten, für die Patienten wichtige psychosoziale Komponenten ergänzt. Das Spektrum der Kunsttherapie reicht hierbei von aktiven, sinnesorientierten und kreativen Wahrnehmungsübungen, offener Atelierarbeit bis hin zu einer Vielzahl rezeptiver Methoden. Die Inhalte jeder Sit216 https://doi.org/10.5771/9783495817995 .

Rezeptionsorientierte und gestaltende Kunsttherapie in der Onkologie

zung sind dabei eng an den Bedürfnissen, Wünschen und Möglichkeiten der Teilnehmenden orientiert. »Kunsttherapie ist während der Rehabilitationsphase nach Hirntumoroperation sinnvoll und kann helfen neurologische Störungen im Bereich der Sprache, des Handelns und der Orientierung auszugleichen« (Stummer 2015). Die Kunsttherapie hat aus dieser Sicht umfassende bio-psychosoziale Einsatzmöglichkeiten. Ein einvernehmlicher Expertenkonsens bezüglich der Wirksamkeit kunsttherapeutischer Interventionen in der Krebstherapie, dargestellt in den aktuellen Leitlinien der Psychoonkologie, unterstreicht den Wirksamkeitsaspekt: In einem aktuellen Systematischen Review (Wood et al. 2011) wurde die Studienlage zum Symptommanagement durch Kunsttherapie bei erwachsenen Krebspatienten zusammengefasst. Dazu wurden zwölf, sowohl mit qualitativen als auch mit quantitativen Methoden durchgeführte, Studien erfasst. Die Autoren kommen zu dem Schluss, dass Kunsttherapie als psychotherapeutisches Verfahren zur Verbesserung von behandlungsbezogenen Symptomen (Angst, Depressivität) sowie zur Unterstützung des Prozesses der psychologischen Anpassung an die Erkrankung (Lebensqualität) beiträgt (Leitlinienprogramm Onkologie, 226).

Die Methoden und Materialien der kunsttherapeutischen Interventionen sind darauf angelegt, dass unterschiedliche Sinnesmodalitäten gefordert und gleichermaßen gefördert werden. Dabei steht jeweils eine Sinneswahrnehmung besonders im Fokus. Das gewünschte Zusammenspiel der beiden Hirnhemisphären entsteht vor allem durch den nicht alltäglichen, das heißt ungewohnten und kreativen Einsatz der Sinne. Auf diese Weise können die einzelnen Methoden sogar als regelrechtes »Hirnjogging« bezeichnet werden. Darüber hinaus wird die Phantasie angeregt und gleichzeitig kann etwas Neues aus der Vielfalt künstlerischer Erfahrungsfelder erlernt werden. Die beiden hier vorgestellten Übungen fokussieren den sinnesfördernden und kommunikativen Wahrnehmungsaspekt und sind Teil eines spezifischen kunsttherapeutischen Interventionsspektrums. Je nach den Bedürfnissen und individuellen Möglichkeiten der Teilnehmenden werden die Interventionen entweder wiederholt, modifiziert oder weiterentwickelt.

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Henriette Schwarz & Monika Wigger

4. Die Ziele einer onkologischen Rehabilitation sind zunächst die Minderung der Folgen einer Krankheit aus medizinischer und psychologischer Sicht, eine Prognoseverbesserung, die Wiederherstellung der Leistungsfähigkeit, eine berufliche Wiedereingliederung und vor allem aber eine Verbesserung der individuellen Lebensqualität. Um diese Ziele zu erreichen, wird auf ein positives salutogenetisches 6 Konzept vertraut, das auf Gesundheit ausgerichtet ist, Anleitung zum Handeln und zur aktiven Bewältigung der Beschwerden vermittelt und eine Krankheitsverarbeitung (Coping) 7 des Patienten unterstützt. 8 Eine Mithilfe des Patienten (Compliance) 9 kann durch Information und wachsendes Vertrauen in die Behandelnden entstehen. Die Ausrichtung ergänzender Interventionen der Kunsttherapie als Unterstützung und Intensivierung der Krankheitsverarbeitung stehen vor dem Hintergrund dieses salutogenetischen Modells. Diese kunsttherapeutische und künstlerische Arbeit fördert innere psychische und – wie oben dargestellt – neuronale Vernetzungen: Es ist nachweislich so, dass es zu Vernetzung von Kommunikationsstruktur in neuronalen Bereichen kommt, die vorher nicht vernetzt waren […] Im Sinne des salutogenetischen Betrachtungsmodells heißt dies, dass diese Menschen größere Möglichkeiten haben, über Vernetzungen, Gefühle, Emotionen und Sprache zu verknüpfen. Damit haben sie gesteigerte Möglichkeiten, bewältigende Strategien gegenüber den Belastungen des Lebens zu entwickeln (Duncker 2005, 81).

Die Erwartungen der Patienten an die Rehabilitation sind verständlicherweise die Befreiung vom Symptom und eine Unterstützung bei der Krankheitsverarbeitung, um die Gesundheit wiederzuerlangen. Kunsttherapie antwortet auf die Erwartungen der Patienten sowohl auf der Material- und Handlungsebene als auch auf der Gefühls- und Reflexionsebene. Sie unterstützt die Umsetzung von Zielen der Rehabilitation, indem sie hilft, durch kunsttherapeutische Interventionen (wie beispielsweise der beschriebenen), das Krankheitserleben Salutogenese = Entstehung von Gesundheit; von Genese, griech. = Entstehung und Salus, lat. = Unverletztheit, Heil, Glück. 7 Coping, engl. = Bewältigung. 8 Vgl. Aaron Antonovskys Modell der Salutogenese (Antonovsky, Franke 1997), beispielsweise erläutert von Jürgen Bengel et al. (Bengel 2006). 9 Compliance, engl. = Befolgung, Zustimmung, Lernfähigkeit. 6

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Rezeptionsorientierte und gestaltende Kunsttherapie in der Onkologie

psychisch zu verarbeiten. 10 Auf der Handlungsebene, beim aktiven Gestalten mit dem Material, kann der Patient vom Erleidenden zum aktiv Handelnden werden. Der Gestaltungsprozess wird aufgewertet und nicht kritisiert. Auf der Gefühls- und Reflexionsebene geschieht eine Auseinandersetzung mit subjektiven Themen durch die Verbindung unbewusster, erlebnisorientierter Elemente mit verbaler Reflektion. Kunsttherapie unterstützt die Krankheitsverarbeitung, indem sie die gesunden Teile der Person anspricht mit schöpferischem Tun, das allein schon zu einer persönlichen Metapher von Gesundung werden kann. Auch eine Aktivierung bildhafter Vorstellungen, Erinnerungen, Phantasien, Wünschen unter Beteiligung von Emotionen und die Stärkung von eigenen Fähigkeiten und Ressourcen durch das Medium tragen zur Verarbeitung bei. Das Ertasten der unbekannten Objekte und die zeichnerische Umsetzung ist ein kreatives Tun mit neuem Fokus und ungewohntem Zugang zur Innenwelt. Hier zeigt sich die oben erläuterte besondere Funktion des Mediums als Erweiterung der therapeutischen Beziehung auf ein ästhetisches Objekt als drittem Element der Kommunikation. Alles, was während des Tastens und Gestaltens (fühlen, denken, spüren, phantasieren etc.) geschieht, befindet sich im Erlebnisbereich des Patienten mit dem Objekt. Ein Kunsttherapeut ist erst nachgeordnet in einen direkten verbalen Dialog eingebunden. Vorher ist er Impulsgeber, Unterstützer, empathischer Begleiter.

5. Kunstrezeption im kunsttherapeutischen Kontext – auch die Rezeption unbekannter, ertasteter Kunstobjekte – ist geeignet, onkologisch erkrankten Menschen neue Erfahrungen und Vertrauen in eigene Ressourcen zu vermitteln. Die Kunstobjekte gehören zum Bereich der Kunst und ragen in den Bereich der Kunsttherapie hinein. Über das eigene aktiv-produktive Gestalten und das Wahrnehmen von Kunstwerken kommunizieren die Patienten mit diesen zwei Welten, in denen seit jeher etwas Nicht-Sagbares beheimatet ist. Der kunstVgl. hierzu die differenzierenden Ausführungen zu Kunsttherapie und Krankheitsverarbeitung von Henriette Schwarz (Schwarz 2011).

10

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Henriette Schwarz & Monika Wigger

therapeutische Umgang mit Werken der Kunst ist eine »passive« ästhetische Praxis, die mit einer subjektiven Rezeption rechnet und diese reflektiert. In der Praxis der sogenannten rezeptiven Kunsttherapie – um die es hier letztlich geht – kann der Anlass und die Begründung der Auswahl von Werken beispielsweise sein, die Bilder- und Vorstellungswelt der Patienten zu aktivieren, durch aktiv gestaltendes Nachgestalten subjektive Erzählvarianten zu erreichen, durch Betrachtung Assoziationen und Phantasien anzuregen, Provokationen zu bieten, Denkanstöße zu geben. Kunst erfüllt hier für die Betrachter die Funktion von Ressourcenstärkung und ist gleichzeitig eine Assoziationsfolie. Kunstrezeption wird zur Evokation eines Prozesses der Selbstreflexion genutzt, die sich im Falle psychoonkologischer Begleitung auf die Verarbeitung der belastenden Lebenssituation positiv auswirkt. Dass Werke der bildenden Kunst sich dazu eignen, insbesondere unbekannte Werke, die es erst zu ›begreifen‹ gilt, liegt auf der Hand: Kunst war und ist permanente Auseinandersetzung mit der Welt, Erkenntnisgewinn, Weltaneignung. Schlussendlich stellt sich die Frage nach der Sinnhaftigkeit der hier vorgestellten und erläuterten kunsttherapeutischen Interventionen mit »no-name-Objekten« in Stofftüten, Papier, Bunt- und Bleistiften. Tasten, Fühlen, Hören, Sehen, Zeichnen in Zeiten existenzieller Fragen um das Leben? Gibt es da nicht Wichtigeres zu tun? Zeichnungen oder Skizzen haben per se den Impetus einer »Vorübung« für etwas Wichtigeres. Dabei sind sie an sich und in dem Moment der Entstehung etwas Einzigartiges und dokumentieren eindrücklich das an sich Wesentliche, »… eine Realität, die in Wirklichkeit so nicht existiert und nicht nur dem Anspruch genügen will: so sieht etwas aus, sondern die davon ausgeht: es ist etwas, das vorher so nicht existierte« (Jenny 2009, 13). Diese Art Wahrnehmung entspricht unserem Wesen, ist sinnerfüllend und komplettiert unser Ausdrucksspektrum, ist unterstützend und ordnend – ganz besonders in Zeiten akuter gesundheitlicher Belastungen. Die Antwort einer teilnehmenden Patientin macht es konkret: »Ich fühle mich gestärkt, mein Leben zu genießen und aktiv zu gestalten. Jetzt erst recht!« (Hirntumorpatientin, 42 J.)

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Rezeptionsorientierte und gestaltende Kunsttherapie in der Onkologie

Literatur Antonovsky, A. & Franke, A. (Hrsg.) (1997). Salutogenese: Zur Entmystifizierung der Gesundheit. Tübingen: dgvt-Veralg. Bengel, J., Strittmatter, R. & Willmann, H. (2006). Was erhält Menschen gesund? Antonovskys Modell der Salutogenese – Diskussionsstand und Stellenwert; eine Expertise. In: Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (Hrsg.). Forschung und Praxis der Gesundheitsförderung, Bd. 6. Köln: BZgA. Duncker, H. (2005). Salutogenese als Basis kunsttherapeutischer Arbeit. In: Titze, D. (Hrsg.) (2005). Die Kunst der Kunst Therapie. Bd. 1: Aus der Mitte. Dresden: Sandstein. S. 74–83. Frankl, V. E. (1985). Der Mensch vor der Frage nach dem Sinn. München: Piper. Imdahl, M. (2006). Ikonik. Bilder und ihre Anschauung. In: Boehm, G. (Hrsg.) (2006). Was ist ein Bild? München: Fink. S. 300–324. Jenny, P. (2009). Notizen zur Zeichentechnik. Mainz: Schmidt. Schwarz, H. (2011). Kunsttherapie und Krankheitsverarbeitung. In: Hampe, R. & Stalder, P. (Hrsg.) (2011). Multimodalität in den künstlerischen Therapien. Berlin: Frank & Timme. S. 281–294. Stummer, W. (2015). In: Film Kunst als Lebensmittel – Neue Perspektiven durch die Kunst – eine Kooperation des CCCM und des Kunstmuseum Pablo Picasso Münster, http://klinikum.uni-muenster.de/index.php?id=kunst-als-lebens mittel (abgerufen am 01. 02. 2017). Wiewrodt, D. (2015). In: Film Kunst als Lebensmittel – Neue Perspektiven durch die Kunst – eine Kooperation des CCCM und des Kunstmuseum Pablo Picasso Münster, http://klinikum.uni-muenster.de/index.php?id=kunst-als-lebens mittel (abgerufen am 01. 02. 2017). Zimmer, R. (2010). Handbuch der sinnlichen Wahrnehmung: Grundlagen einer ganzheitlichen Bildung und Erziehung. Freiburg: Herder. Leitlinienprogramm Onkologie (Deutsche Krebsgesellschaft, Deutsche Krebshilfe, AWMF). Psychoonkologische Diagnostik, Beratung und Behandlung von erwachsenen Krebspatienten, Leitlinienreport 1.0, 2014, AWMF-Registernummer: 032/051OL, http://leitlinienprogramm-onkologie.de/Leitlinien. 7.0.html (abgerufen am 15. 01. 2017).

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Gabriele Weiss

»Da hab ich mich beschützt gefühlt« – Künstlerische Impulse im Rahmen einer Gesprächsgruppe mit Menschen mit geistiger Behinderung Anlass Etwa ein Jahr nach einem gravierenden Arbeitsunfall in einer Werkstätte für Menschen mit Behinderung (WfbM), bei dem dreizehn Mitarbeiter mit Behinderung und eine begleitende Mitarbeiterin an den Folgen eines Brandes starben und etwa 100 Menschen unter schwierigen Bedingungen gerettet werden konnten, werde ich angefragt, eine Gesprächsgruppe durchzuführen für Menschen, die evtl. mehr brauchen, als die intensive und sehr gute Krisenintervention durch Psychologen, Ärzte und Psychotherapeuten in den Tagen und Wochen nach dem Unfall leisten konnte. Gleichzeitig steht die Befürchtung im Raum, dass der Umzug der Mitarbeiter zurück in die komplett renovierte und neu gestaltete Werkstatt Verletzungen aufreißen und vordergründig bearbeitete Schrecken reaktivieren könnte.

Teilnehmerinnen und Teilnehmer Das Gesprächsangebot findet vormittags während der Arbeitszeit statt, alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer sind von der Arbeit freigestellt. So trifft sich eine Gruppe von zwei – im Laufe des Angebots drei Frauen und fünf Männer zwischen Mitte zwanzig und Anfang sechzig wöchentlich für zwei Zeitstunden. Die kommunikativen Kompetenzen der Teilnehmenden sind sehr unterschiedlich: Einige sprechen in einzelnen Worten und kurzen Sätzen, und verstehen am besten, wenn sie in leichter Sprache angesprochen werden, andere sind sehr eloquent und haben im Rahmen von Werkstatt und Wohnheim Aufgaben von Beiräten o. ä. übernommen. Die dritte Frau ist nicht von Beginn an Gruppenmitglied, sie ist aber mit einem der Teil222 https://doi.org/10.5771/9783495817995 .

»Da hab ich mich beschützt gefühlt«

nehmer befreundet und kommt zunehmend häufiger. Wo die beiden zunächst die Gruppenzeit vor allem damit verbringen, zusammen zu sein – was die anderen Teilnehmer zeitweise irritiert –, entwickelt die junge Frau zunehmend ein eigenes Interesse an Gesprächen und Gestaltungen. Gearbeitet wird in einem Raum, der ausreichend groß für einen Tischkreis, aber leider mit Teppichboden ausgelegt ist. Daher muss er in vielen Stunden mit Malerplanen geschützt werden.

Exkurs: Traumatisierung und Traumapädagogik für Menschen mit besonderen Bedürfnissen Menschen mit Behinderung sind aus traumatologischer Sicht besonders gefährdet, die Risiken für traumatisierende Lebenserfahrungen sind nach Hennicke (2012.7) stark erhöht. Dabei zeigen sich schädigende Prozesse eher schleichend, als Ergebnis sequenzieller erschreckender Erfahrungen. Grundlage dieses erhöhten Risikos sind folgende Risikofaktoren bzw. die geringer ausgeprägten schützenden Lebensbedingungen: • Kognitive Beeinträchtigungen, die den Umgang mit Belastungen und Gefahren erschweren • Geringe oder fehlende Sprachkompetenz, die die Ausdrucksund damit auch Verarbeitungsmöglichkeiten reduziert • Frühe emotionale Belastungen und Regulationsstörungen, die zu verstärkter physischer und psychischer Instabilität führen • Im Laufe des Lebensalters zunehmende Diskrepanzen zum sozio-emotionalen Lebensalter, die zu psychosozialen Überforderungen führen können • Isolation und Diskriminierung »Fähigkeiten, vorausschauend und umsichtig zu handeln, belastende Erfahrungen richtig einzuordnen, diese zu verarbeiten und aufkommendem Stress wirkungsvoll zu begegnen, sind oftmals reduziert. In manchen Fällen kann eine geistige Behinderung aber auch als Schutzfaktor gegen eine Traumatisierung wirken, nämlich wenn eine objektiv vorhandene Bedrohung als solche gar nicht erkannt wird. Insgesamt dürften die Trauma begünstigenden Faktoren bei Menschen mit geistiger Behinderung diese protektiven Faktoren aber bei Weitem überwiegen.« (Irblich in Hennicke 2012.34–35) 223 https://doi.org/10.5771/9783495817995 .

Gabriele Weiss

Van der Kolk und andere gehen von chronischer Dysregulation als Folge aus: sowohl affektiv und physiologisch, als auch bezogen auf Aufmerksamkeit und Verhalten sowie Selbstregulation und Beziehungsgestaltung. (Weiß in Bausum u. a. 2013.17) • Unterdurchschnittliche Fähigkeiten zu abstrahierendem Denken erschweren, positive Erfahrungen auf ähnliche, neue Situationen zu übertragen. Dazu braucht es viele kleine Schritte, häufige Wiederholungen. • Starke Gefühle werden oft nicht mehr zugelassen in einem Umfeld der Überbehütung, Gefühlsarmut ist daher auch erziehungsbedingt. • Überbehütung und Überkontrolle schränken zwischenmenschliche Kontakte zu Gleichaltrigen ein, verstärkt durch abgesonderte Förder- und Bildungsangebote. • Entwicklungsprozesse sind häufig schambesetzt, Trauer entsteht angesichts des eigenen Nicht-könnens. Zentrale Merkmale der Psychotherapie und der Heilpädagogik bei komplex traumatisierten Menschen sind nach Hensel (in Hennicke 2012.23): • Sicherheit herstellen und Sicherheitsbedürfnisse befriedigen • Fähigkeiten der Selbstregulation stärken und fördern • Bindungs- und Beziehungsfähigkeit fördern und stärken • Informationsverarbeitung unterstützen, dabei individuell adäquate Formen der Information anbieten; narrative Rekonstruktion der Geschehnisse ermöglichen und exekutive Funktionen bei einzelnen unterstützen (Antizipation, Planung, Entscheidungsfähigkeit, Wunscherfüllung) • Selbstreflexivität unterstützen, entwickeln • Positive Erlebnisse fördern: Kreativität, Zukunftsplanung, Erfahrungen von Selbstwirksamkeit • Integration der traumatischen Erfahrungen Auch Irblich (in Hennicke 2012) fordert: • Objektive Sicherheit im alltäglichen Umfeld, Schutz der persönlichen Integrität und Intimität, stressfreie Teilhabe an Gruppenaktivitäten, Rückzugsmöglichkeiten. Manchmal braucht es dazu Hilfe, damit Sicherheit auch erlebt werden kann, z. B. mit Hilfe von Übergangsobjekten. • Soziale Regeln, die helfen, den Schutz der Einzelnen zu gewährleisten. Dazu gehören neben der klaren Regelung, sich nicht gegenseitig weh zu tun, auch nicht verbal, auch eine Haltung der 224 https://doi.org/10.5771/9783495817995 .

»Da hab ich mich beschützt gefühlt«

Pädagogen, geprägt von Umsicht, Verlässlichkeit und Achtsamkeit, sowie geeignete Rahmenbedingungen in der Institution. Sprechen traumatisierte Menschen im Alltag von ihren Erfahrungen, brauchen sie die entsprechende Aufmerksamkeit sowie Bestätigung, ohne zu große Betroffenheit. Konkrete Benennung der traumatischen Situation hilft, sie zu verorten. Containment bedeutet in diesem Sinne die Haltung, belastende Erfahrungen des Gegenüber aufzunehmen und gemeinsam mit ihm auszuhalten: 1. Bestätigung, dass die Person tatsächlich etwas Schlimmes durchlitten hat und dass die Erinnerung auch heute noch belastend ist 2. Angebot, das gemeinsam auszuhalten, ohne davon überwältigt zu werden 3. Anerkennung für den Mut, sich der Erinnerung zu stellen 4. Zuversicht, dass die Belastung, die mit Erinnerung verbunden ist, im Laufe der Zeit abnehmen wird 5. Ermutigung zu erzählen, kann hilfreich sein, genauso hilfreich kann sein, zu betonen, dass das Ereignis in der Vergangenheit stattgefunden hat und der Klient sich jetzt in Sicherheit befindet. 6. Vorgehensweisen der Reorientierung helfen, wenn jemand sich in Schilderungen von Belastungssituationen verliert: mit Namen ansprechen, Aufmerksamkeit auf das Hier und Jetzt lenken, behutsame vorsichtige körperliche Berührung, sensorische Erfahrungen, Alltagsroutinehandlungen. Besser (in Bausum u. a. 2013.52) fordert von den pädagogisch-therapeutischen Mitarbeitern, traumatisierten Menschen heilende Bilder zur Verfügung zu stellen: Bilder der Sicherheit und des Vertrauens, der geteilten Verantwortung, der Würde und Selbstachtung, der Gewissheit, Schönheit und Kreativität, der Liebe und Menschlichkeit, des guten Willens, des Mutes und der Zuversicht. Überhaupt sind ressourcenorientierte Arbeitsansätze im Rahmen der Traumapädagogik angeraten. »Auch biografische Gespräche zu Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sind geeignet, das Selbstverstehen zu fördern. Das Wissen, zu einer Gemeinschaft dazuzugehören und bei der Zukunftsplanung unterstützt zu werden, stärkt das Selbst …« (KrautkrämerOberhoff, Haasen in Bausum u. a. 2013.88–89) Beteiligung an der Alltagsplanung führt zu Teilhabe und zu einem gestärkten Selbstbewusstsein traumatisierter Menschen. Dies gilt auch für Menschen mit Behinderung. Selbst sogenannte graue 225 https://doi.org/10.5771/9783495817995 .

Gabriele Weiss

Hierarchien der Gruppenteilnehmer untereinander werden nicht akzeptiert, um Ohnmacht und Hilflosigkeit zu verhindern. Gruppen – auch institutionelle Gruppen – werden zur tragenden Kraft, in denen der einzelne sich aufgehoben fühlen kann (Bausum u. a. 2013). Wilma Weiß schreibt in einem Sammelband zur Traumapädagogik: »Aus meiner Sicht ist Traumabearbeitung mehr als eine Traumaexposition im therapeutischen Rahmen. Menschen (…) brauchen für ihre Traumabearbeitung mehr als therapeutische, pädagogische, psychiatrische und ärztliche Unterstützung. Sie brauchen einen Raum stabiler Beziehungen, soziale Teilhabe und eine Gesellschaft und Politik, die bereit sind, sich mit den Ursachen und den Auswirkungen von Gewalt auseinanderzusetzen«. (Weiß in Bausum u. a. 2013.14) Nehmen wir den Brandunfall als Typ-I-Trauma, d. h. als einmaliges, plötzliches Ereignis von kurzer Dauer, wie z. B. auch Naturkatastrophen, Unfälle, Verluste wichtiger Bezugspersonen, dann lässt sich vermuten, dass dieses Ereignis bei den verschiedenen Betroffenen auf ganz unterschiedliche Vorerfahrung mit traumatisierenden Situationen und entsprechender Unterstützung trifft. Das Brandunglück wurde zumindest von den Teilnehmerinnen und Teilnehmern der Gesprächsgruppe nicht als man-made erlebt, niemand hatte das Feuer entzündet, um ihnen zu schaden. Sie erlebten es als Unfall, als großes Unglück, bei dem Freunde und Kollegen starben. Sie erlebten in der Situation große Bedrohung, aber auch einen großen Zusammenhalt: Wiederholt erzählen sie, wer ihnen geholfen hat, aus dem Fenster zu klettern oder zu springen, wer sie aufgefangen hat. Ein Kollege berichtet, sein Freund sei im Schmerz und in der Verzweiflung über den Tod der Freundin weggerannt und er sei ihm hinterhergerannt, um zu verhindern, dass ihm etwas passiert. Beiden Freunden ist dies auch nach einem Jahr noch sehr bewusst, die Erfahrung verbindet sie zutiefst. Die Teilnehmenden an der Gesprächsgruppe erfuhren alle intensive notfallpsychologische Unterstützung in den Tagen nach dem Unglück. Gleichzeitig erlebten sie, dass alle Mitarbeiter zusammengerückt waren, dass viel Zeit für Gespräche blieb und viel gesprochen wurde. Es ergibt sich der Eindruck, dass alle ein inneres Bild vom Ablauf des Brandes haben, von den Rettungsmaßnahmen und vom Netz der Helfer. Immer wieder beschreiben sie, wer ihnen auf welche Art geholfen hat. Einzelne haben psychotherapeutische Unterstützung erfahren oder zumindest angeboten bekommen.

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»Da hab ich mich beschützt gefühlt«

Das Gruppenangebot: Künstlerische Impulse und Gesprächsthemen: Die Gesprächsstunden sind so aufgebaut, dass sie durch ihre Struktur, Ritualisierung und Überschaubarkeit ein Maximum an Sicherheit bieten, entsprechend den traumapädagogischen Ansätzen (Ding 2013.61). Ein gemeinsamer Beginn mit einer Einstiegsrunde, ein künstlerisches Angebot für alle und Tee und Kekse zur gemeinsamen Abschlussrunde, die sich mit der Arbeitspause in der Werkstatt für behinderte Menschen (WfbM) überschneidet. Die Gespräche finden beiläufig statt, unterstützt durch entsprechende Materialien, Bilder und Aktivitäten. Häufig entstehen sowohl Themen wie Aktivitäten – im Sinne der Partizipation – aus den Wünschen und Ideen der Teilnehmerinnen und Teilnehmer.

Die Einstiegsrunde Sie findet in der Runde um eine große Tischfläche statt. Dadurch ist symbolisiert: wir gehören zusammen, wir sitzen um einen gemeinsamen Tisch, an dem wir später auch arbeiten werden. Schneckenhäuser auf einem silbernen Teller, Halbedelsteine, Fotokarten oder Kunstpostkarten sowie unterschiedliche, ausgewählte Fragenkarten (z. B. Huber, Ressourcium) signalisieren das Einstiegsthema UND laden ein zu Selbstaussagen: Wie geht es dir heute? Was passt zu deiner Stimmung? Eher ein blauer Stein, eher ein grüner … Die Antworten sind eindeutig. Jeder sucht sich seinen Stein aus und begründet, warum es gerade der Rosenquarz sein soll, der ans Verliebtsein erinnert, oder der grüne Achat, der für den Wochenendausflug steht. Auch diffuse Gegenstände, wie Steine, Federn, Murmeln, lösen sehr konkrete Assoziationen aus. Fragenkarten wie die Ressourcium-Karten – Was ist dein Lieblingslied? Wann hast du das letzte Mal etwas ganz Verrücktes gemacht? Welches Tier gefällt dir besonders? – sind beliebt, weil die Teilnehmerinnen und Teilnehmer Informationen übereinander bekommen und sie manchmal auch damit vergleichen, was sie schon voneinander wissen. Das sorgt für viel Gelächter und entspricht dem ressourcenorientierten Vorgehen in der Gruppe. 227 https://doi.org/10.5771/9783495817995 .

Gabriele Weiss

Schnell wird deutlich, dass die Teilnehmer sich durchaus aktiv an der Programmgestaltung beteiligen. Sie wünschen sich weitere Postkarten, Fragenkarten, auch mal ihre Lieblingsblumen, sie bringen immer wieder ihre Lieblingsmusik mit und erzählen, warum sie genau dieses Stück, diesen Text schätzen. Manchmal tanzen wir spontan dazu.

Abb. 1: Elefanten erinnern sich ein Leben lang

Einmal haben wir kleine Tierfiguren dabei und sind sofort beim Thema: Ein Teilnehmer weiß, dass Elefanten Tiere sind, die sich sehr lange an etwas erinnern können, an Plätze, an denen sie schon waren und an Unglück, das ihnen widerfahren ist. So entsteht der Wunsch, sich wie die Elefanten zu erinnern. In einer späteren Stunde erfinden wir spontan Geschichten mit den kleinen Plastikfiguren und spielen diese auch (Weiss 2010). Dabei wird deutlich: Erinnerung fokussiert sich längst nicht mehr nur auf das zurückliegende Unglück, sondern stark auf Kindheitserinnerungen, Ausflüge, die gemacht wurden, Menschen, die man kannte, oder auch Alltagsereignisse aus Werkstatt und Wohnheim oder aus der Freizeit mit Freund oder Freundin oder den Eltern. Der Alltag, das Hier und Jetzt nimmt in den Gedanken der Gruppenmitglieder einen wichtigen Raum ein, insbesondere die Erfahrungen 228 https://doi.org/10.5771/9783495817995 .

»Da hab ich mich beschützt gefühlt«

auf der Arbeit und die Liebesbeziehungen mit ihren Herausforderungen und Krisen. Ein Teilnehmer will überall, wo er hinkommt, Friedhöfe besuchen; dies wird zum kurzen Thema für alle und kann dann gut abgeschlossen werden.

Abb. 2: Psychodramatisch-spielerische Szenen: Tiere begegnen einander

Künstlerische Aktivitäten und Themen Häufig ergeben sich die künstlerischen Aktivitäten aus Ideen, die in den Eingangsrunden entstanden sind: • Portraits, in denen sich die Teilnehmer gegenseitig zeichnen: Da sie sich als Arbeitskollegen gut kennen, zeichnen sie auch Dinge ein, die sie wissen: die besondere Armbanduhr mit der StoppFunktion, die Schirmmütze des Lieblings-Fußballvereins, das Herz mit dem Namen der Freundin … Für manche ist diese Aufgabe zu anspruchsvoll, aber in assoziativer Form einen Menschen skizzieren, das gelingt allen. • Von den TeilnehmerInnen gewünschte Arbeit mit Ton: Hier zeigt sich allerdings, dass zunächst Aschenbecher und Schalen geformt werden müssen, ehe auch individuelle Gestaltungen, die eine Selbstaussage zulassen, möglich sind. Jemand erinnert 229 https://doi.org/10.5771/9783495817995 .

Gabriele Weiss









sich an die Fernsehsendung Piggeldy und Frederik, die er als Kind gern gesehen hat. So entsteht Piggeldy, das Schwein. Jemand erinnert sich an Pferde, wie Fury. Die Gespräche drehen sich um Fernsehsendungen und Lieblingsfilme, auch darum, mit wem man als Kind Geschichten gehört und Filme gesehen hat. Gespräche können so auch an den Grundlagen therapeutischer Geschichten orientiert werden: Was hat dir an Piggeldy besonders gut gefallen? Woran erinnerst du dich? Was haben Piggeldy und Frederik miteinander gemacht? Kennst du das auch? Mit wem hast du die Geschichte gehört/gesehen? Aus dem allgegenwärtigen Thema: etwas ist da und verschwindet, jemand ist da und dann nicht mehr, entstehen Bilder aus Wachskreide in Sgraffito-Technik. Nicht alle erfassen den Prozess des Verschwindens und Zurückholens, manche erleben diese Technik als Zerstörung geschaffener Bilder. Eine Gratwanderung! Kunstpostkarten verschiedenster Art – z. B. von Max Ernst, Caspar David Friedrich, Paul Klee u. ä. – laden ein, nach Geschichten zu suchen, die darin erzählt werden oder mit Hilfe der Bilder erzählt werden könnten. Jeder erzählt eine eigene Geschichte, schnell entstehen auch gemeinsame Geschichten, die sich an Filme oder eigene Erlebnisse anlehnen: die Prinzessin fährt mit er Kutsche durch den Wald – wie bei Robin Hood; ein Gespenst tobt sich aus, weil es vielleicht traurig ist oder sehr wütend (Max Ernst, das Hausgespenst), seltsame Tiere treffen sich zum Singen im Chor, wie Teilnehmer Gerhard das demnächst auch machen wird. Musikstücke, insbesondere klassische Stücke (z. B. Mussorgsky: Bilder einer Ausstellung o. ä.) oder Ausschnitte aus Filmmusik (z. B.: zu »Troja«, oder: »Die wunderbare Welt der Amélie«), laden ein, darin Geschichten zu hören, die danach erzählt und gezeichnet werden können. Geschichten hören ist leicht, sie auch noch zu gestalten, ist schon schwieriger. So entstehen Geschichten, die assoziiert und von der Leiterin parallel spontan gezeichnet werden … Ein sichtbares Echo auf eine Erzählung. Aus der immer präsenten Befürchtung, nicht gut genug zu sein, entsteht die Idee, Aquarellfarben frei fließen zu lassen – eine fast unüberwindbare Herausforderung für Teilnehmer, deren Bestreben es ist, alles richtig zu machen. Der zweite Schritt »Geheimnisse im Bild finden«, erleichtert den Prozess: Plötzlich tauchen

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»Da hab ich mich beschützt gefühlt«

Schmetterlinge auf, Luftballons oder auch eine wunderschöne blaue Katze, die mit Hilfe von Finelinern konturiert wird. Wer hätte das gedacht?

Abb. 3: Eine blaue Katze taucht auf (farbige Abbildung im Anhang)



Abb. 4: Häuser und Schmetterlinge (farbige Abbildung im Anhang)

Ressourcenbilder aus der ZRM-Bildkartei (Krause, Storch 2011) helfen dabei, eigene Ressourcen zu finden. Einer der jungen Männer beschäftigt sich in dieser Stunde intensiv mit seinen Schutzengeln, die ihm schon in vielen Situationen geholfen haben.

Abb. 5: Ein Schutzengel

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Gabriele Weiss

Abb. 6: Ressource: Ein Leuchtturm





Abb. 7: Ressource: Sonnenstrahlen und Wärme

Immer wieder arbeiten wir mit Acrylfarben an kleinen TischStaffeleien. Die entstehenden Bilder drücken vor allem positive Gefühle aus, sie sollen Geschenke werden für Freunde oder Dekoration für die neue Wohnung oder das Zimmer in der Wohngemeinschaft, die bald bezogen wird. Eine junge Frau malt wunderschöne Bilder und überdeckt sie dann immer wieder – sprechen möchte sie darüber nicht. Ein Mann geht ähnlich vor: Er betont, über seine Gefühle wolle er nicht vor allen sprechen, die sollen auch nicht alle sehen. Er aber wisse, was unter der Farbe gemalt sei. In einer Stunde, in der er unvorhergesehen alleine ist, spricht er dann ausführlich über Gefühle, Ängste, Wünsche, auch über seine Erinnerungen an das Unglück: Für ihn ist wichtig, sich an all das zu erinnern, was er gemacht hat, um zu helfen: Da er zu den körperlich »Fitten« gehört, konnte er seinem Freund hinterherrennen, als der in Verzweiflung abhauen wollte. Er konnte auch den anderen helfen, aus dem Fenster zu klettern und er konnte dem Leiter helfen, alle zu versorgen. Dieses Wissen gibt ihm Kraft, die Erfahrungen auszuhalten, sagt er selber. Ein Teilnehmer will häufig nicht zeichnen oder malen, aber er fotografiert gerne, zunächst mit seinem Smartphone, dann mit der großen Digitalkamera. Seine Bilder sind unkonventionell, aber sehr »aktiv« und so können wir auch immer wieder Sequenzen einschieben, in denen wir uns anhand seiner Fotos dran erinnern, was wir gemacht und worüber wir gesprochen haben.

Abgeschlossen wird die Gruppeneinheit mit Tee, den die Werkstatt zur Verfügung stellt, und Keksen für alle. So kann die intensive Ar232 https://doi.org/10.5771/9783495817995 .

»Da hab ich mich beschützt gefühlt«

beit ausklingen und der Übergang in den Arbeitsalltag findet durch die parallele Pausenzeit in der Werkstatt organisch statt.

Fazit Nach etwa neun Monaten schließen wir die Gruppe ab. Bei allen ist ein Gefühl des Zusammenhalts spürbar: Sie kümmern sich stärker umeinander, als ich dies je erlebt habe. Die Themen, die sie beschäftigen, sind die, die ihrem Lebens- und Entwicklungsalter entsprechen: Die Jungen denken über Liebe nach, Verliebtheit und Sexualität, Umzug in eine Wohngemeinschaft, Urlaub und Freizeitgestaltung, die Älteren ebenfalls über Partnerschaften, aber auch über den näher rückenden Ruhestand und ihre Müdigkeit. Der bevorstehende Umzug in die neu renovierte und komplett umgestaltete Werkstatt beschäftigt sie, aber sie wissen auch da genau, was auf sie zukommt: Einige sagen, sie werden wieder dort arbeiten, ein Kollege wird die Werkstatt wechseln, einige gehen auch davon aus, es zu versuchen »und wenn es nicht klappt, dann kann ich auch woanders arbeiten«. So wird deutlich, dass – bei allem Schmerz – Sicherheit vorhanden, Selbstermächtigung gelungen ist. Mein Dank gilt den Teilnehmerinnen und Teilnehmern sowie den pädagogischen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, die mich herzlich empfangen und wunderbar unterstützt haben.

Literatur Baer, U. (2007): Gefühlssterne, Angstfresser, Verwandlungsbilder. NeukirchenVluyn: Affenkönig Verlag. Bausum, J., Besser, L., Kühn, M., Weiß, W. (Hrsg.) (2013): Traumapädagogik. Weinheim: Beltz Verlag. Besser, L. (2013): Wenn die Vergangenheit Gegenwart und Zukunft bestimmt. In: Bausum, J., Besser, L., Kühn, M., Weiß, W. (Hrsg.) (2013): Traumapädagogik. Weinheim: Beltz Verlag, S. 38–53. Ding, U. (2013: Trauma und Schule – Was lässt Peter wieder lernen? In: Bausum, J., Besser, L., Kühn, M., Weiß, W. (Hrsg.) (2013): Traumapädagogik. Weinheim: Beltz Verlag, S. 56–67. Forman, D. (2014): Kunst Lab Malen. Igling: Edition Fischer.

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Gabriele Weiss Fragenkarten: Gesprächsstoff …/Original, (2011) Pegasusspiele. Fragenkarten: Huber, M. (o. J.) Ressourcium. Köln: KIKT-TheMa. Hennicke, K. (Hrsg.) (2012): Traumatherapie bei Kindern und Jugendlichen mit geistiger Behinderung. Marburg: Lebenshilfe-Verlag. Irblich, D. (2012): Psychotraumatisierung bei Kindern und Jugendlicen mit geistiger Behinderung – Eine Herausforderung für Pädagogen und Therapeuten. In: Hennicke, K. (Hrsg,) (2012): Traumatherapie bei Kindern und Jugendlichen mit geistiger Behinderung. Marburg: Lebenshilfe-Verlag, S. 32–64. Kaster, A. (2009): Stärkekarten, Glückssteine und Lebensbühnen. NeukirchenVluyn: Affenkönig Verlag. Krause, F., Storch, M. (2011): Ressourcen aktivieren mit dem Unbewussten: ZRM-Bildkartei, Göttingen: Hogrefe Verlag. Krautkrämer-Oberhoff, M., Haasen, K. (2013): Traumapädagogik und Jugendhilfe. In: Bausum, J., Besser, L., Kühn, M., Weiß, W. (Hrsg.) (2013): Traumapädagogik. Weinheim: Beltz Verlag. S. 68–90. Lüchinger, T. (2009): Intuitiv zeichnen. Oberhofen am Thunersee: Zytglogge Verlag. Lüchinger, T. (2009): Intuitiv malen. Oberhofen am Thunersee: Zytglogge Verlag. Priebe, K., Dyer, A. (Hrsg.) (2014): Metaphern, Geschichten und Symbole in der Traumatherapie. Göttingen: Hogrefe. Schemmel, H., Selig, D., Janschek-Schlesinger, R. (2008): Kunst als Ressource in der Therapie. Tübingen: dgvt-Verlag. Schottenloher, G. (1987): Kunst- und Gestaltungstherapie in der pädagogischen Praxis. München: Don Bosco Verlag. Sonheim, C. (2013): Zeichen Lab. Igling: Edition Fischer. Theunissen, G. (2013) (Hrsg.): Kunst als Ressource in der Behindertenarbeit. Schulische und außerschulische Ermöglichungsräume für Menschen mit Lernschwierigkeiten und komplexer Behinderung. Marburg: Lebenshilfe Verlag. Weiss, G. (2010): Kinderpsychodrama in der Heil- und Sozialpädagogik. Stuttgart: Klett-Cotta. Weiss, G. (2016): Therapeutische Geschichten. In: Simon, T., Weiss, G. (2016): Heilpädagogische Spieltherapie. Stuttgart: Klett-Cotta, S. 140–161. www.labbe.de/kikunst/sgraffito, Abruf am 19. 11. 2016.

234 https://doi.org/10.5771/9783495817995 .

Verzeichnis der Autorinnen und Autoren

Domma, Wolfgang. Prof, Dr. päd., Katholische Hochschule NRW, Abt. Aachen Lehrgebiet: Ästhetik u. Kommunikation, Pädagogische Kunsttherapie, Sonderschullehrer, Kunsttherapeut (DGKT), Supervisor (DGSv), Leiter des Zentrums für Ästhetik und Kommunikation (ZÄSKO) der KatHO NRW. Duncker, Heinfried. Prof. Dr., Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie/Psychoanalyse. Engler, Anne. Dipl. Kunsttherapeutin (FH), Heilpädagogin MA. mehrjährige Ausbildung in Hypno-Systemischer Therapie (MEG). Klinische Kunsttherapie (seit 1999) im Kontext Onkologie und Neurologie in Freiburg im Breisgau. Franzen, Georg. PD Dr. phil. habil., Klinischer Psychologe, Psychoanalytiker u. Kunstpsychologe, Psychologischer Psychotherapeut in eigener Praxis in Celle, Wiss.-Leiter der Psychotherapieausbildung INITA, Hannover, Studiengangsleiter Psychotherapiewissenschaft und Kunsttherapie an der Sigmund Freud Universität Berlin. Guski-Leinwand, Susanne. Prof. a. D. Dr. phil. habil., Privatdozentin an der Universität Jena für Psychologie mit dem Schwerpunkt Geschichte der Psychologie. Vertretungsprofessorin für Psychologie an der Fachhochschule Dortmund, grad. Kunsttherapeutin (DGKT). Hampe, Ruth. Prof. Dr. phil. habil., KH-Freiburg, Kunst- und Kulturpsychologin, grad. Kunsttherapeutin (DGKT), approb. Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin und Pädagogin.

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Verzeichnis der Autorinnen und Autoren

Hirschelmann, Astrid. PD Dr. habil. der Psycho-Kriminologie, Leiterin des Masters für Psycho-Kriminologie und Viktimologie an der Universität Rennes 2, Bretagne, Frankreich. Kortum, Ria. Dr., Wissenschaftliche Mitarbeiterin im Fachbereich Künstlerische Therapien und Theaterwissenschaften an der Alanus Hochschule für Kunst und Gesellschaft. Menzen, Karl-Heinz. Prof. Dr. phil. em., Psychol. Psychotherapeut (approb. DE und AT) Lehrtherapeut für Kunsttherapie in der DGKT e. V., Leiter des Masterstudiengangs Kunsttherapie an der Sigmund Freud Universität Wien/Österreich. Pfeifer, Eric. Prof. Dr. phil., Professor für Ästhetik und Kommunikation – Schwerpunkt Musik als Medium an der Katholischen Hochschule Freiburg, Musiktherapeut, Diplom- und Musikpädagoge, Musiker. www.eric-pfeifer.de. Rufolo, Dana. Dr. phil., MA Theatertherapie, Director of Theater Research Institute of Europe. Schiltz, Lony. Dr. phil. habil, Doktor der klinischen Psychologie, Leiterin der Forschungseinheit in Klinischer Psychologie (PCSA), Hôpital Kirchberg Luxemburg, Lehrkrankenhaus der Medizinischen Fakultät Mannheim (Universität Heidelberg). Leiterin von Aufbaustudien in multimodaler Kunsttherapie und Kunstpsychotherapie an der Universität Luxemburg. Schwarz, Henriette. Dr. phil., grad. Kunsttherapeutin (DFKGT), Hp., Leitung der Wissenschaftlichen Weiterbildung Kunsttherapie am Institut für Angewandte Forschung, Entwicklung und Weiterbildung der Katholischen Hochschule Freiburg, Dozentin und Supervisorin für Kunsttherapie, langjährige Tätigkeit als leitende Kunsttherapeutin in einer Klinik für Verhaltensmedizin. Weiss, Gabriele. Hochschullehrerin a. D. im Studiengang Heilpädagogik an der KH Freiburg, Dipl. Sozialpädagogin/FH, Dipl. Heilpädagogin/FH, Erwachsenenbildung M.A., Supervisorin. Mehrjährige Weiterbildungen in Personenzentrierter Gesprächsführung, Hypnotherapie mit Kindern und Familien, Kinderpsychodrama, Trauer236 https://doi.org/10.5771/9783495817995 .

Verzeichnis der Autorinnen und Autoren

begleitung für Kinder und Jugendliche, Sensorische Integrationspädagogik und -therapie, Rhythmik, Jeux Dramatiques, Ausdrucksmalen, Kunsttherapie u. a. Wiewrodt, Dorothee. PD. Dr. med. habil., Fachärztin für Neurochirurgie, Psychotherapeutin und Psychoonkologin, Dozentin im Masterstudiengang Kunsttherapie der Sigmund Freud Privatuniversität Berlin und Wien, Psychoonkologin des Hirntumorzentrums und Leiterin der »Begleitenden Therapien für Hirntumorpatienten« am Universitätsklinikum Münster. Wigger, Monika. Prof. Dr. rer. medic. KH Freiburg für Ästhetik und Kommunikation – Schwerpunkt bildnerisches Gestalten, grad. Kunsttherapeutin (DGKT), Designerin.

237 https://doi.org/10.5771/9783495817995 .

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Anhang

Beitrag von Dorothee Wiewrodt, S. 54

239 https://doi.org/10.5771/9783495817995 .

Beitrag von Dorothee Wiewrodt, S. 55

240 https://doi.org/10.5771/9783495817995 .

Beitrag von Georg Franzen, S. 62

Beitrag von Georg Franzen, S. 68

241 https://doi.org/10.5771/9783495817995 .

Beitrag von Ruth Hampe, S. 88

Beitrag von Ruth Hampe, S. 92

Beitrag von Ruth Hampe, S. 90

Beitrag von Ruth Hampe, S. 93

242 https://doi.org/10.5771/9783495817995 .

Beitrag von Ria Kortum, S. 98

Beitrag von Ria Kortum, S. 104

Beitrag von Ria Kortum, S. 104

243 https://doi.org/10.5771/9783495817995 .

Beitrag von Ria Kortum, S. 106

Beitrag von Ria Kortum, S. 107

244 https://doi.org/10.5771/9783495817995 .

Beitrag von Ruth Hampe, S. 185

Beitrag von Ruth Hampe, S. 187

245 https://doi.org/10.5771/9783495817995 .

Beitrag von Ruth Hampe, S. 188

Beitrag von Ruth Hampe, S. 191

246 https://doi.org/10.5771/9783495817995 .

Beitrag von Ruth Hampe, S. 194

Beitrag von Gabriele Weiss, S. 231

247 https://doi.org/10.5771/9783495817995 .

Beitrag von Gabriele Weiss, S. 231

248 https://doi.org/10.5771/9783495817995 .