Gesellschaft im Werk: Musikphilosophie nach Adorno 9783495808221, 9783495487440


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Table of contents :
Inhalt
Siglen
Einleitung
Wolfram Ette: Adornos Musiktheorie der Tragödie
I.
II.
III.
IV.
Richard Klein: Die Gesellschaft im Werk und das Problem der Zeit
I. Revolution in der Form
II. Intermezzo
III. Intensiver und extensiver Zeittypus
IV. Reprise, Crux der Sonate
V. Zeitstrukturen im Erzherzogtrio
Jürgen Stolzenberg: Tonalität, Zeit, Subjektivität
I. »Sekunden und Dreiklänge sind die Modi, in denen das Prinzip der Tonalität sich verwirklicht.«
II. »Beethoven(_(Beethoven, Ludwig van)_) hat den Sinn von Tonalität aus subjektiver Freiheit reproduziert.«
III. »Einstand der Zeit«
IV. »was ohnehin schon war«
V. »Spätstil Beethovens(_(Beethoven, Ludwig van)_)«
VI. Das »umgekehrte Erhabene«
Ferdinand Zehentreiter: Gesellschaft im Werk?
I. Der Ausgangspunkt: Adornos Ästhetik der Musiksoziologie
II. Die gesellschaftsdeterministische Dimension der adornoschen Musiksoziologie
III. Die paradoxe Gleichzeitigkeit von Autonomie und Nicht-Autonomie
IV. Konvergenzen zwischen Adorno und Habermas(_(Habermas, Jürgen)_): die Marktförmigkeit des autonomen kulturellen Raumes
V. Die Perspektive einer soziologischen Theorie der Professionen
VI. Perspektiven einer soziologischen Theorie des Marktes
VII. Das innere Pragma des autonomen Werkes und die Struktur der Institution: Konzert
Larson Powell: Modi der Moderne:
I.
II.
III.
IV.
V.
Gabriele Geml: »Der erste größere Text, in dem ich wirklich ganz drin bin«
Intention
Ouvertüre
Metaphorik
Perle und Kristall
»Bilderlose Bilder«
Intentionslosigkeit
Nikolaus Urbanek: »Bilder von Gesten«
I. Werk
II. Klang
III. Schrift
IV. Zu Adornos impliziter Theorie der musikalischen Schrift
Guido Kreis: Kritik der avantgardistischen Vernunft
I. »Völlige Desorientierung«
II. Das Faktum des ästhetischen Diskurses
III. Die Eigenart des ästhetischen Diskurses
IV. Die Eigenart ästhetischer Gegenstände
V. Die Grundlegung des Kunstwerks
VI. Adornos Fortführung
VII. Die Kriterien der neuen Musik
Susanne Kogler: Musik und Kritik nach Adorno
I. Kritik bei Adorno
Wahrheit
Natur
Subjekt und Objekt
II. Musik und Kritik nach Adorno
Personenregister
Die Autorinnen und Autoren
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Gesellschaft im Werk: Musikphilosophie nach Adorno
 9783495808221, 9783495487440

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Richard Klein (Hg.)

Gesellschaft im Werk Musikphilosophie nach Adorno

VERLAG KARL ALBER

https://doi.org/10.5771/9783495808221

.

B

Richard Klein (Hg.) Gesellschaft im Werk

VERLAG KARL ALBER

A

https://doi.org/10.5771/9783495808221 .

Wann immer Musik philosophisch auf der Agenda steht, eröffnet Theodor W. Adorno ein spannungsreiches Spektrum von Denkmöglichkeiten. Dabei treffen spekulatives Denken, wissenschaftliche Forschung, musikalische Praxis und politisch-soziale Kritik auf eine Weise zusammen, die noch da inspirierend ist, wo der Philosoph irrt oder übertreibt. Die Rede von der »Gesellschaft im Werk« nimmt Adorno dort ernst, wo er sich von der Ästhetik unserer Tage am meisten unterscheidet: im Festhalten eines kritischen Werkbegriffs und einer sozialen Lektüre autonomer Formen.

Der Herausgeber: Richard Klein ist Herausgeber von Musik & Ästhetik. Zahlreiche Veröffentlichungen, u. a. Musikphilosophie zur Einführung (2014), Adorno-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung (2011, hrsg. mit Johann Kreuzer und Stefan Müller-Doohm).

https://doi.org/10.5771/9783495808221 .

Gesellschaft im Werk Musikphilosophie nach Adorno Herausgegeben von Richard Klein in Zusammenarbeit mit der Adorno-Forschungsstelle der Carl von Ossietzky-Universität Oldenburg

Verlag Karl Alber Freiburg / München

https://doi.org/10.5771/9783495808221 .

Originalausgabe © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2015 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Satz und PDF-E-Book: SatzWeise GmbH, Trier ISBN (Buch) 978-3-495-48744-0 ISBN (PDF-E-Book) 978-3-495-80822-1

https://doi.org/10.5771/9783495808221 .

Inhalt

Siglen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

7

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

9

Wolfram Ette Adornos Musiktheorie der Tragödie . . . . . . . . . . . . . .

13

Richard Klein Die Gesellschaft im Werk und das Problem der Zeit. Nervenpunkte in Adornos Beethovenkritik . . . . . . . . . .

29

Jürgen Stolzenberg Tonalität, Zeit, Subjektivität. Überlegungen zu Theodor W. Adornos Beethoven-Fragmenten . . . . . . . . .

58

Ferdinand Zehentreiter Gesellschaft im Werk? Ein Grundlagenproblem Adornos – dargestellt an einer Soziologie des Konzerts . . . . . . . . . .

77

Larson Powell Modi der Moderne. Adornos Material, Luhmanns Medium und eine mögliche Musikgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . .

100

Gabriele Geml »Der erste größere Text, in dem ich wirklich ganz drin bin«. Adornos Schubertaufsatz von 1928 . . . . . . . . . . . . . .

119

Nikolaus Urbanek »Bilder von Gesten«. Über die Aktualität von Adornos Theorie der musikalischen Schrift . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

150

5 https://doi.org/10.5771/9783495808221 .

Inhalt

Guido Kreis Kritik der avantgardistischen Vernunft. Kants Grundlegung des Kunstwerks und Adornos Kriterien der neuen Musik . . . . .

173

Susanne Kogler Musik und Kritik nach Adorno. Perspektiven für die Musikwissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

199

Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

223

Die Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . .

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6 https://doi.org/10.5771/9783495808221 .

Siglen

Theodor W. Adorno Gesammelte Schriften. Hrsg. v. Rolf Tiedemann unter Mitwirkung v. Gretel Adorno, Susan Buck-Morss u. Klaus Schultz. 20 Bände in 23 Büchern. Frankfurt a. M. 1970–1986. Taschenbuchausgabe Frankfurt a. M. 1997. GS 1: GS 2: GS 3: GS 4: GS 5:

Philosophische Frühschriften. Kierkegaard. Konstruktion des Ästhetischen. Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben. Zur Metakritik der Erkenntnistheorie. / Drei Studien zu Hegel. GS 6: Negative Dialektik. / Jargon der Eigentlichkeit. GS 7: Ästhetische Theorie. GS 8: Soziologische Schriften I. GS 9/1: Soziologische Schriften II. Erste Hälfte. GS 9/2: Soziologische Schriften II. Zweite Hälfte. GS 10/1: Kulturkritik und Gesellschaft I: Prismen. / Ohne Leitbild. GS 10/2: Kulturkritik und Gesellschaft II: Eingriffe. / Stichworte. GS 11: Noten zur Literatur. GS 12: Philosophie der neuen Musik. GS 13: Die musikalischen Monographien: Versuch über Wagner. / Mahler. Eine musikalische Physiognomik. / Berg. Der Meister des kleinsten Übergangs. GS 14: Dissonanzen. Musik in der verwalteten Welt. / Einleitung in die Musiksoziologie. GS 15: Komposition für den Film. / Der getreue Korrepetitor. Lehrschriften zur musikalischen Praxis. GS 16: Musikalische Schriften I-III. GS 17: Musikalische Schriften IV. GS 18: Musikalische Schriften V. 7 https://doi.org/10.5771/9783495808221 .

Siglen

GS 19: Musikalische Schriften VI. GS 20/1: Vermischte Schriften I. GS 20/2: Vermischte Schriften II. Theodor W. Adorno Fragment gebliebene Schriften aus dem Nachlass BF: MR:

Beethoven. Philosophie der Musik. Fragmente und Texte. Hrsg. v. Rolf Tiedemann, Frankfurt a. M. 1993. Zu einer Theorie der musikalischen Reproduktion. Aufzeichnungen, ein Entwurf und zwei Schemata. Hrsg. v. Henri Lonitz, Frankfurt a. M. 2001.

Theodor W. Adorno Vorlesungen KV:

Kranichsteiner Vorlesungen. Hrsg. v. Klaus Reichert u. Michael Schwarz, Frankfurt a. M. 2014.

Die Gesammelten Schriften werden mit Reihensigel, Band- und Seitenzahl, die Schriften aus dem Nachlass und die Kranichsteiner Vorlesungen mit Einzelsigel und Seitenzahl zitiert.

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Einleitung

An Theodor W. Adorno sind weniger seine Person und deren empirische Parteinahmen von Interesse als vielmehr ein Spektrum komplexer Denkmöglichkeiten, das eigentlich nur seine Philosophie eröffnet, wann immer Musik auf der Agenda steht. Bei Adorno treffen spekulatives Denken, wissenschaftliche Forschung, musikalische Praxis und im weitesten Sinn politische Kritik auf eine Weise zusammen, die noch da inspirierend ist, wo der Philosoph irrt oder übertreibt. Für Leser und Interpreten kann das eine durchaus ambivalente Erfahrung sein. Gemahnt Adornos »interdisziplinäre« Art, an Probleme heranzugehen, die akademischen Fachleute doch ständig an das, was ihnen fehlt oder was sie sich verbieten. So wird die Musikwissenschaft regelmäßig auf ihr Nichtverhältnis zu Ästhetik und Philosophie gestoßen. Die Philosophie lernt, dass sich mit ihren angestammten Denkmitteln über das Besondere der musikalischen Phänomene nicht qualifiziert reden lässt. Die Soziologie fühlt sich vom Autonomieanspruch der Werke belästigt, den sie als bürgerliches Fossil längst abgestreift zu haben meint. Und ausübende Musiker tun sich nun einmal schwer mit der Einsicht, dass Begriffe nicht bloß im Kopf von Personen herumspuken, sondern ein genuines Realitätsrecht besitzen, dem gegenüber man mit der rhetorischen Frage, »ob denn diese Dinge alle Mozart bewusst gewesen sind«, nicht durchkommt. Aber es wäre unangemessen, an die Sprachspiele, die Adorno geprägt hat, bruchlos anzuknüpfen. Nicht wenige Motive und Kategorien, die mit seinem Namen verbunden sind – z. B. die künstlerästhetische Überhöhung der Wiener Schule, der Mythos des »integralen Kunstwerks«, das verengte Bild von Musikhistorie und zum Teil auch die Lehre von der »Tendenz des Materials« 1 –, haben sich 1

Mit diesem Teil ist die Stilisierung des Materialbegriffs zur emanzipatorischen Leit-

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Einleitung

überlebt. Nicht in dem positivistischen Sinn, dass »neuere Untersuchungen« die »Rückständigkeit« Adornos »herausgefunden« hätten, sondern weil die Erfahrungen, die seinerzeit zu den erwähnten und noch einigen anderen Positionen führten, sich heute als nicht mehr zugänglich erweisen. Sie sind uns auf eine Weise fremd geworden, die es schwer macht, im Abstand zu ihnen eine produktive Irritation zu erkennen. Freilich ist das kein Signal des weltgeschichtlichen Fortschritts. Wir sind nicht »weiter« als Adorno, sondern lediglich »woanders«, wenn auch nicht beliebig, sondern auf bestimmte Weise. Sich heute mit Adorno auseinanderzusetzen, hat nur Sinn, wenn die Aufmerksamkeit dem gilt, was mehr ist als thetische Festlegung und Weltbildprämisse, und wenn man entlang der Unterscheidung von historischem und gegenwärtigem Gehalt ein adäquates Bild beider Perspektiven zu entwerfen vermag. Nun braucht man Adorno darüber keineswegs zu belehren. Er weiß nur zu gut, dass die Reichweite seiner Musikphilosophie über deren offizielle Themen und Thesen weit hinausführt. So wenig wie die Psychoanalyse antiquiert ist, weil wir nicht mehr im Viktorianischen Zeitalter leben, so wenig ist Adorno überholt, weil Schönberg keine Avantgarde im klassischen Sinn mehr sein kann. Philosophisches Denken entspringt historischen Erfahrungen und Gegenständen und gewinnt seinen Wahrheitsanspruch in der Auseinandersetzung mit ihnen. Aber es erschöpft sich nicht in Historisierung. Die Lehre vom »Zeitkern der Wahrheit« beinhaltet keine Theorie vom nächsten Donnerstag. Sie ist vielmehr dadurch definiert, dass sie sich in das Ephemere historischer Konstellationen versenkt, statt sich für schlechte Ewigkeiten stark zu machen. Aber ebenso lebt sie aus einem Nein gegenüber dem Versuch oder auch nur Bedürfnis, Kunstwerke historisch zu relativieren. Die Abkehr von zeitlosen Ideen zugunsten kleinteiliger geschichtlicher Perspektiven stößt auf einen absoluten Wahrheitsanspruch, der sich gegen das Schema der Historisierung wendet. Ob es Adorno gelingt, diese Erkenntnis konsistent zu entfalten, mag fraglich sein. Aber wenn dieser Ansatz auch nur im Prinzip stimmt, muss er auf Adorno selbst angewandt werden. Sein Denken ist zu historisieren und auf Abstand zur jetzigen Situation zu brinfigur von Adornos Musikphilosophie, sein vermeintlicher Fortschritts- und Entwicklungscharakter gemeint. Wie eine »anschlussfähige« Rekonstruktion heute aussehen könnte, ist strittig. Vgl. Gunnar Hindrichs: Die Autonomie des Klangs. Eine Philosophie der Musik, Frankfurt a. M. 2014: 36–72.

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Einleitung

gen. Zugleich geht es aber darum freizulegen, was den historischen Gehalt dieser Philosophie übersteigt, d. h. was zukunftsträchtig und für Veränderungen offen ist. »Musikphilosophie nach Adorno« meint denn auch zweierlei: (a) historische Distanz zu Person, Dogma und Wirkung; (b) Orientierung am Denken Adornos aus der Distanz heraus. Unsere Erfahrungen sind in vieler Hinsicht andere als die seinigen. Umso bedeutsamer wird der freie und detaillierte Umgang mit seinem Denken, nicht zuletzt mit dem Potenzial an ihm, das sich gegen die eigenen offiziellen Festlegungen richtet. Auf andere Weise mehrdeutig ist die Rede von der »Gesellschaft im Werk«. Im ersten Moment könnte man sie als Wiederaufnahme von Adornos »verschwiegener Orthodoxie« (Habermas) verstehen, doch wäre dies nur sehr bedingt richtig. Die soziale Hermeneutik musikalischer Kunstwerke ist ein zentrales Thema des adornoschen Denkens. Aber man sollte sie nicht mit dem Weltbild der 1930er Jahre gleichsetzen, als Adorno und Benjamin sich über den »Fetischcharakter der Ware« ereiferten, als hätten sie den revolutionären Basiscode der modernen Welt geknackt, mit dem sich die Probleme von Leben, Kunst und Kultur wenn auch nicht lösen, so doch kritisch entziffern ließen. Dass sich ein so hybrides Programm nicht durchhalten ließ, belegen gerade die musikalischen Schriften von Adorno eindrucksvoll. Aber das Scheitern einer intellektuellen Größenphantasie widerlegt nicht Recht und Notwendigkeit sozialer Musikkritik schlechthin. Dies umso weniger, als Adorno die Ästhetik und Soziologie unserer Tage gleich zweifach hinter sich lässt: (a) durch das kritische Festhalten des Werkbegriffs und (b) durch die gesellschaftliche Kritik autonomer Formen. Marx und Lukács mögen sich als nicht annähernd so hilfreich erwiesen haben, wie Adorno glaubte, aber das Projekt als solches bleibt sein »Alleinstellungsmerkmal«, das sich weder durch Erlebnisforschung noch durch Institutionenanalyse oder auch biografische Untersuchungen und ebenso wenig durch professionelle werkimmanente Analyse ersetzen lässt. Die Idee eines experimentellen Zusammenspiels von musikalischer und historisch-sozialer Kritik ist Adornos eigentliches musikphilosophisches Vermächtnis.

* Der vorliegende Band ist ein Schritt auf dem Weg, mit diesem Vermächtnis ernst zu machen. Die Beiträge bemühen sich darum, Ador11 https://doi.org/10.5771/9783495808221 .

Einleitung

no gerecht zu werden, wie frei, zustimmend oder distanziert oder beides zugleich, auch immer. Sie gehen zurück auf eine Tagung, die im Rahmen meines DFG-Projekts zur Musikphilosophie nach Adorno im Hanse-Wissenschaftskolleg (HWK), Institute for Advanced Study, in Delmenhorst vom 3. bis 5. April 2014 stattfand. Mein Dank gilt zuerst der DFG, die das Projekt von 2011 bis 2014 finanziell gefördert hat. Danken möchte ich sodann Johann Kreuzer für die Möglichkeit, es am Philosophischen Institut der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg und in Anbindung an die dort angesiedelte Adorno-Forschungsstelle umzusetzen. Darüber hinaus hat er die Realisierung des vorliegenden Bandes effektiv unterstützt. Zu danken habe ich natürlich dem HWK Delmenhorst, das uns zwei Tage den Raum und die für die gemeinsame Arbeit nötige Muße gab. Last but not least danke ich Johanna Dombois für Lektorat und Korrekturlesen. Richard Klein

Horben, im Mai 2015

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Adornos Musiktheorie der Tragödie Wolfram Ette

I. Eine Theorie der Tragödie im engeren Sinn hat Adorno nicht hinterlassen, eine Theorie also, die sich mit der griechischen Tragödie und ihren Konsequenzen für die europäische Kultur befasst. Es gibt eine Stelle in der Ästhetischen Theorie, an der sich Adorno in enger Anlehnung an Benjamin in dem Sinn auf die griechische Tragödie bezieht, dass sie das Erwachen des autonomen Subjekts darstellt (GS 7: 344 f.). Das ist eine Stelle von nicht zu unterschätzender theoretischer Tragweite. Sie bleibt aber in Adornos Werk vereinzelt. Insgesamt bleibt die Tragödie als literarische Form ausgespart. Dies ist aus zwei Gründen merkwürdig. Zum einen genießt die Tragödie von allen politischen Gattungen wohl die höchste philosophische Dignität. Aristoteles, Hegel, Schelling, Schopenhauer und Nietzsche haben ihr eine Schlüsselstellung in ihrem jeweiligen philosophischen System eingeräumt; und noch in der Verwerfung der Tragödie bei Platon zeichnet sich eine widerwillige Anerkennung dieser Form als der gefährlichsten Konkurrentin zur philosophischen Rationalität ab, die sonst keiner Kunstform zuteilwird. Angesichts dessen und angesichts der zentralen Rolle, die die Tragödie im Denken Benjamins bis zum Trauerspielbuch spielt, nimmt es Wunder, dass Adornos Äußerungen darüber so spärlich ausfallen. Diese Verwunderung verstärkt sich noch, wenn man sich klarmacht, was für eine herausragende systematische Rolle die Tragödie insbesondere bei Hegel spielt – der für Adorno zumindest aktenkundig wichtigste Vorläufer, derjenige Philosoph, in dessen Tradition Adorno sich unmittelbar und bewusst stellt. Bei Hegel verhält es sich ja so, dass phasenweise der tragische und der dialektische Prozess kaum auseinanderzuhalten sind; sei es, dass er wie im Naturrechtsaufsatz das Modell eines tragischen Gesellschaftsprozesses unter dem Titel einer »Tragödie im Sittlichen, welche das Absolute ewig mit sich 13 https://doi.org/10.5771/9783495808221 .

Wolfram Ette

selbst spielt« entwirft 2; sei es, dass wie in der Phänomenologie des Geistes ein Stück – nämlich die Antigone – wie ein Schatten den dialektischen Prozess der Erfahrung des Bewusstseins begleitet. Diese enge Überblendung von tragischem und dialektischem Prozess lässt zwar nach der Phänomenologie des Geistes nach. Dennoch würde Hegel in der Ästhetik nicht von der Antigone als dem »vortrefflichsten, befriedigendsten Kunstwerk« des menschlichen Geistes sprechen 3, wenn er ihr bei aller historischen Fixierung an die griechische Antike (die er gegenüber dem Frühwerk stärker betont) nicht eine tiefe strukturelle Nähe zum Kern des eigenen Philosophierens zuschriebe. Dialektische Philosophie ist ein Stück weit Philosophie aus dem Geist der Tragödie; und da ist es schon erstaunlich, dass sich der Philosoph des 20. Jahrhunderts, der sich wie wenige andere in die Tradition der hegelschen Philosophie gestellt hat, diesen systematisch entscheidenden Punkt so sehr übergeht. Nun hat Adorno seine eigene Philosophie ja nicht umstandslos als Dialektik bezeichnet, sondern als negative Dialektik, die als Gegenentwurf zur hegelschen positiven Dialektik doch jedenfalls bei aller Nähe zu Hegel eine Kritik an dialektischen Verfahren formuliert. Gleichzeitig beansprucht diese Kritik nicht, den Bezirk dialektischen Philosophierens ganz zu verlassen; sie beansprucht vielmehr, eine Dialektik zu entwerfen, die sich eben negativ, negierend zur hegelschen Dialektik verhält und dennoch im Kern Dialektik bleibt; sie beansprucht also, eine andere, eine alternative Dialektik zu formulieren – so vage dies zunächst einmal bleibt. So wäre also zu fragen, ob die Absenz der Tragödie in Adornos Werk etwas mit diesem Entwurf einer alternativen negativen Dialektik zu tun hat. Adorno bliebe Hegel indirekt insofern treu, als er die Korrelation von Tragödie und positiver Dialektik übernimmt; und in diesem Sinn würde die Tragödie denn doch eine fundierenden Bedeutung für Adornos Philosophie besitzen – als ein Fundament, auf dem sie sich erhebt und über das sie zugleich hinauswill. Dafür, dass dem so ist, liefern nun weder die philosophische Schriften im engeren Sinne noch die Ästhetische Theorie noch die Vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel: »Über die wissenschaftlichen Behandlungsarten des Naturrechts, seine Stelle in der praktischen Philosophie und sein Verhältnis zu den positiven Rechtwissenschaften (1803)«, in: Ders.: Jenaer Schriften 1801–1807 (Theorie Werkausgabe 2), Frankfurt a. M. 1986: 434–533, hier 495. 3 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Ästhetik III (Theorie Werkausgabe 15), Frankfurt a. M. 1996: 550. 2

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Adornos Musiktheorie der Tragödie

Schriften zur Literatur einen Beleg, sondern die Musikphilosophie. Aus diesem Grund ist im Titel meines Textes von der »Musiktheorie der Tragödie« die Rede. Die Musikphilosophie ist der Ort, an dem Adorno die Tragödie und die Möglichkeiten, sich von ihr künstlerisch zu emanzipieren, auslotet. Wenn das stimmt, dann ist die Musikphilosophie auch der Ort, an dem materialiter erkennbar wird, wie sich positive und negative Dialektik zueinander verhalten. In Adornos Musikphilosophie (also in dem Bereich ästhetischer Erfahrung, in dem er über den sichersten systematischen Zugriff verfügt) ist das Erfahrungsmaterial versammelt, das dann in der Negativen Dialektik methodologisch reflektiert wird. In dieser Musikphilosophie spielt Beethoven die entscheidende Rolle. Er ist die Schlüsselfigur; er steht am Ende des klassischen Zeitalters der neuzeitlichen Musik, deren Tendenzen er in sich vereinigt und vollendet; und er steht am Beginn der Moderne, deren Tendenzen er weit vorausnimmt. In Beethovens Musik wird die Auseinandersetzung zwischen positiver und negativer Dialektik – und eben damit auch ein spezifischer Begriff der Tragödie – aktenkundig, der sich sonst an keiner Stelle von Adornos Werk so findet.

II. Dass sich Beethovens Musik auf das intensivste mit Adornos philosophischen Intentionen im engeren Sinn berührt, darauf weist eine erste Stelle aus dem Beethovenbuch: »Beethovens Musik ist die Hegelsche Philosophie; sie ist aber zugleich wahrer als diese, d. h. es steckt in ihr die Überzeugung, daß die Selbstreproduktion der Gesellschaft als einer identischen nicht genug, ja daß sie falsch ist. Logische Identität als produzierte und ästhetische Formimmanenz werden von Beethoven gleichzeitig konstituiert und kritisiert. Das Siegel ihrer Wahrheit in der Beethovenschen Musik ist ihre Suspension: die Transzendenz zur Form, durch die erst die Form ihren eigentlichen Sinn gewinnt. Die Formtranszendenz bei Beethoven ist die Darstellung – nicht der Ausdruck – der Hoffnung.« (BF: 36)

Wenn Adorno sagt, dass Beethovens Musik die hegelsche Philosophie sei (also nicht etwa bedeute oder sich in einem analogischen Verhältnis zu ihr verhalte – vgl. BF: 33 f.), dann steht in Beethovens Musik eben auch das Essential dieser Philosophie zur Debatte und auf dem Prüfstand, nämlich die Dialektik. 15 https://doi.org/10.5771/9783495808221 .

Wolfram Ette

Wenn Adorno dann fortsetzt, das Beethovens Musik »zugleich wahrer« als die philosophische Parallelunternehmung Hegels sei, dann ist es wohl legitim, dies auf das Verhältnis von positiver und negativer Dialektik zu beziehen. Das heißt, im Verhältnis von immanenter Form und Formtranszendenz scheint zugleich etwas auf vom Verhältnis von positiver und negativer Dialektik. Das Kernstück der von Beethoven irgendwie kritisierten positiven Dialektik ist offenbar – ich zitiere das noch einmal – »logische Identität als produzierte und ästhetische Formimmanenz«. Was bedeutet logische Identität in einem Kunstwerk? Was bedeutet sie bei Beethoven? Adorno hat hier offenbar die Sonatenhauptsatzform im Blick. 4 Diese produziert logische Identität dadurch, dass ihre dreiteilige Form im Kern zirkulär angelegt ist; dass im Ende der Anfang in nur partiell veränderter Form wiederkehrt; dass es sich also bei dem Konflikt, auf den hin diese Form durch die exponierenden Strukturen, Kontraste, die thematischen Felder und deren Verarbeitung in der Durchführung angelegt ist, offenbar nicht um einen echten Konflikt mit offenem Ausgang handelt, sondern um einen Schein, aus dem sich faktisch nichts ergibt und der zu einem Ergebnis prozessiert, das von Anfang an festgelegt war. In der Reprise, so könnte man sagen, wird all das an offener Zukunft, all das an revolutionären Hoffnungen, das sich in der Durchführung ausdrückt, kassiert; sie ist so etwas wie die musikalische Gegenaufklärung. Das lässt sich anhand eines zweiten Zitats belegen: »Zum Problem der Reprise: Beethoven hat sie gleichsam zum Siegel des Idealismus in seiner Musik gemacht, d. h. durch sie erweist sich das Resultat der Arbeit, der universalen Vermittlung, als identisch mit der Unmittelbarkeit, die in der Reflexion, ihrer immanenten Entwicklung nämlich, sich auflöst. […] Aber es ist tief bezeichnend, daß trotzdem bei Beethoven die Reprise in demselben tiefen Sinn ästhetisch fragwürdig bleibt wie bei Hegel die These der Identität, und zwar tiefsinnig paradoxer Weise bei beiden abstrakt, mechanisch. Beethoven hat aus der Reprise die Identität des Nichtidentischen gemacht. Dabei steckt darin, daß die Reprise an sich das Positive, dinghaft Konventionelle ist, zugleich das Moment der Unwahrheit, der Ideologie.« (BF: 39)

Auf den Stand der neueren sonatentheoretischen Diskussion gehe ich hier nicht eigens ein. Exemplarisch dazu: Charles Rosen: Sonata Forms, New York 1980 (Revisited Edition 1988).

4

16 https://doi.org/10.5771/9783495808221 .

Adornos Musiktheorie der Tragödie

Die Formimmanenz also, die sich am nachdrücklichsten bei Beethoven in der Sonatenform produziert, zeichnet sich dadurch aus, dass durch die »universale Vermittlung« alles in ihr motivisch-thematisch funktionalisiert ist; dass es kein ungenutztes Material, keine leeren Stellen gibt; und dass dies in einer Prozessform geschieht, in der Anfang und Ende mit besonderem Nachdruck aufeinander bezogen sind – wie es beispielsweise bei einer Suite nicht der Fall ist. Nun ist es für das Verständnis dessen, was Adorno hier behauptet, entscheidend, dass sich dieser Formtypus auf den »mittleren« Beethoven bezieht – also auf das Corpus, das in den Werken mit den Opuszahlen 90 ff. langsam ausläuft. Adorno selbst führt unter anderem den dritten Satz des Streichquartetts op. 59, 1 und den ersten Satz der Eroica an; ich würde dem noch den ersten Satz der V. Symphonie und den ersten Satz der VII. Symphonie als ein Werk des Übergangs, in dem noch einmal ganz deutlich wird, auf welche Weise logische Identität als Immanenz der Form sich produziert, hinzufügen. Nun sagt Adorno an der zuerst zitierten Stelle aber ausdrücklich, »dass die logische Identität in diesen Werken gleichzeitig konstituiert und kritisiert wird«, und dass sich dieses Zugleich von Konstitution und Kritik im Modus der »Suspension«, also des Aufschubs vollzieht. Was ist damit gemeint? Nehmen wir ein Werk wie den ersten Satz der V. Symphonie: ein Werk, das in einer fast monomanen Weise aus der Selbstvermittlung musikalischen Elementarmaterials besteht. Wenn Adorno an einer anderen Stelle sagt, dass Beethoven »die Tonalität auskomponiert« (BF: 90) habe, dann meint das eben diese Zerschlagung eines quasi naturwüchsigen Materials (das alle möglichen historischen Konventionen und Formeln mit sich schleppt) in Elementarbestandteile: hier die fallende Terz und das primitive rhythmische Pattern des ersten Themas; die Kürze und fast etwas charakterlose Simplizität auch des zweiten. Dieser Satz ähnelt nicht mehr einem Gebäude, das aus Natursteinen errichtet ist, auf dessen Form und Materialbeschaffenheit die Maurer Rücksicht zu nehmen haben, sondern einem monumentalen Ziegelbau, der sich aus identischen, vorgefertigten Bauteilen zusammensetzt. Im Versuch über Wagner hat Adorno dies so ausgedrückt: »Bei Beethoven ist das Einzelne, der ›Einfall‹ kunstvoll-nichtig, wo immer die Idee der Totalität den Vorrang hat; das Motiv wird als ein an sich ganz

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Wolfram Ette

Abstraktes eingeführt, lediglich als Prinzip des reinen Werdens, und indem daraus das Ganze sich entfaltet, wird das Einzelne, das im Ganzen untergeht, zugleich auch von diesem konkretisiert und bestätigt.« (GS 13: 49)

Diese Verherrlichung menschlicher Arbeit und Emanzipation von der Natur hat durchaus etwas Bedrückendes und, um das Klischee doch einmal zu bemühen, »Schicksalshaftes«; die Immanenz der Form, so großartig sie sich produziert, wirkt ausweglos; die rigide Beschränkung des Materials erscheint beklemmend; der Arbeitsprozess wird zum Selbstläufer ohne Alternative, in dem sich nun nicht mehr die menschliche Freiheit, sondern ein selbstauferlegter Zwang darstellt Beethoven scheint dies selbst gespürt zu haben, denn er hat genau an dem neuralgischen Punkt, an dem die Form sich schließt, also zu Beginn der Reprise eine Unterbrechung eingebaut – eine Suspension und zwar in Gestalt eines Oboenrezitativs. Dieses Rezitativ wirkt wie ein absoluter Fremdkörper: Seine rhythmische Freiheit widerspricht der in diesem Stück mit besonderer Rücksichtslosigkeit durchexekutierten Taktrhythmik; das Soloinstrument spielt eine Melodie, die sich unabhängig von aller Vermittlung der einzelnen Stimmen durch die Allheit der anderen Stimmen entfaltet; und schließlich wird kulturgeschichtlich eine andere Welt entworfen: Die Oboe geht einher mit Reminiszenzen an Hirtenkulturen, Schalmeienklang und Schäferidyllen – es werden durch sie archaische Bilder eines nicht herrschaftlichen Verhältnisses der Natur gegenüber aufgerufen. 5 Das eben meint »Produktion der immanenten Form durch ihre Suspension«; durch den Aufschub wird die Schließung der Form nicht einfach vollzogen sondern als bewusste geleistet und eben damit, wenn nicht kritisiert, so doch kritisierbar. Ich möchte noch ein zweites Beispiel anfügen; eines, auf das Adorno selbst verweist und in dem die Dinge sich auf ähnliche Weise, wenn auch etwas komplizierter verhalten. Es geht hier um den langsamen Satz des ersten Rasumowskyquartetts op. 59, 1 – und es geht auch wieder um den neuralgischen Punkt der Überleitung zur Reprise. Komplizierter als die V. Symphonie ist dieser langsame Satz Auch hier verfährt Beethoven dialektischer, als es zunächst scheint. »Durchbrochen« ist auch schon das Vermittlungsgeschehen des ersten Satzes der V. Symphonie – durch die häufigen Fermaten, die den musikalischen Arbeitsprozess immer wieder unterbrechen und gleichsam offene Fragezeichen setzen. Auf sie gibt das Rezitativ Antwort. Es bleibt ein Fremdkörper, aber er wird gestisch vorbereitet. Die Fermaten entwerfen das Koordinatensystem des expressiven Raumes, der vom Rezitativ dann gefüllt wird. – Für diesen wichtigen Hinweis danke ich Richard Klein.

5

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Adornos Musiktheorie der Tragödie

dadurch, dass sich sein motivisches Material nicht exakt mit dem Material deckt, das von den beiden Themen gestellt wird. Beethoven hat hier Kurzformeln musikalischer Elementareinheiten dazukomponiert, die zusammen mit dem tendenziell auch in seine Einzelmotive zerfallenden thematischen Material erst den Stoff bildet, aus dem das gesamte Werk gemacht ist. In T. 68 nun – also am Ende der Durchführung – setzt ein ganz neues Thema in Des-Dur ein, das motivisch und thematisch mit dem vorangegangenen nichts zu tun hat. Hier erscheint die Antithese weniger strikt und schockierend als in der V. Symphonie. Die Suspension ist kein Fremdkörper, sondern harmonischer in die prozessuale Vermittlung des Gesamtsatzes eingebettet. Bereits im vierten Takt, also in T. 71 des Satzes, drängt sich ein kleines Motiv in den Verlauf, das selbst nicht zu den Hauptthemen gehört, sondern eher einen Überleitungscharakter besitzt. Beethoven verwendet es aber so häufig in diesem Satz, dass es im Nachhinein quasi thematische Qualität gewinnt. Umgekehrt werden die Sextolen, die das Seitenthema ab T. 68 den mittleren Streichern begleiten, in einer leicht veränderten, aber doch wiedererkennbaren Form in die Wiederkehr des Hauptthemas in der Reprise ab T. 80 übernommen. Die Transzendenz der Form bleibt auf subtile Weise zur Form vermittelt – jedenfalls mehr als der in diesem Betracht gröber konzipierten V. Symphonie. Dennoch empfindet man es so, dass die Form hier von sich zurücktritt, gleichsam Luft holt und dem Arbeitsprozess ihrer Konstitution Einhalt geboten wird. Noch einmal: Das meint Adorno, wenn er von »Suspension der Form« spricht. Es heißt, dass die immanente Form durch das, was sie momenthaft transzendiert, nicht durchbrochen oder aufgehoben wird, sondern eben bloß aufgeschoben. Durch den Fremdkörper entsteht nichts Neues, sondern bloß ein Moment der Besinnung der Reflexion. Die Form schließt sich nicht einfach im blinden Vollzug, sondern der Prozess ihrer Produktion (deswegen spricht Adorno von »produzierter Formimmanenz« und von »Transzendenz zur Form«) wird bewusst gemacht und erst in dieser Form eben auch kritisierbar. Eben darin wird für Adorno »die Hoffnung dargestellt«. Ich vermute, dass der Unterschied von Darstellung und Ausdruck der Hoffnung, den Adorno hier macht, sich darauf bezieht, dass hier kein subjektives Ausdrucksmoment hervortritt (etwa ein bestimmter, konventionell festgelegter Charakter eines Themas, einer Formel oder eines musikalischen Phraseologismus, die so etwas wie Hoff19 https://doi.org/10.5771/9783495808221 .

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nung oder Sehnsucht ausdrückt), sondern dass es sich eben um eine formale Veranstaltung handelt, in deren innerer Reflexivität die Hoffnung aufgeht, dass die Form doch einmal durchbrochen werden könnte; dass es doch noch einmal anders ausgehen könnte; dass, mit anderen Worten, sich die Gesellschaft, von der Adorno ja zu Beginn der ersten von mir zitierten Stelle spricht, nicht bloß selbst reproduziert, so dass alles beim alten bleibt, sondern dass sie sich qualitativ verändern könnte.

III. Diesen Formtypus des mittleren Beethoven, in dem sich die Form durch ihre kritische, reflexive Überschreitung konstituiert, so dass man also tatsächlich nicht von einer Transzendenz der Form, sondern von einer Transzendenz zur Form sprechen muss, identifiziert Adorno nun an einer späteren Stelle des Beethovenbuchs mit einem Denken, das er »Metaphysik der Tragödie« nennt: »Wenn man die mittlere Phase als die Metaphysik der Tragödie ansprechen kann – die Totalität der Negationen als Position, die Bekräftigung dessen was ist in der Wiederkunft als Sinn – so ist die Spätphase Kritik von Tragik als Schein. Dieses Moment aber ist in der mittleren Phase teleologisch bereits angelegt insofern jener Sinn nicht gegenwärtig [ist], sondern durch den Nachdruck der Musik beschworen wird, und eben dies ist die mythische Schicht Beethovens. Zentralstück der Konstruktion.« (BF: 253)

Ich möchte zunächst versuchen, den Ausdruck »Metaphysik der Tragödie« etwas zu erläutern. Die Tragödie firmiert hier offenbar nicht als literarische Form, sondern es verhält sich umgekehrt: Die literarische Form ist ihrerseits nur der Niederschlag, nur die Chiffre eines Denkens, das die Wahrheit des Seienden (also das was die Metaphysik auszudrücken beansprucht) eben als »Transzendenz zur Form« als »produzierte Formimmanenz« auffasst. Die Wahrheit, der »Sinn« der empirischen, prozesshaft miteinander verflochtenen Dinge, ist ihre Transzendenz zur Form und ein anderer Ausdruck für diese reflektierte Transzendenz zur Form ist die Metaphysik der Tragödie. Es gibt nun einen Philosophen, der wortwörtlich die Transzendenz zur Form als Quintessenz des tragischen Prozesses – als seinen metaphysischen Sinn – beschrieben hat und zwar auf höchst folgenreiche Weise. Das ist zunächst einmal nicht Hegel, sondern Aristo20 https://doi.org/10.5771/9783495808221 .

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teles. Die entscheidende philosophische Operation, mithilfe derer Aristoteles den in den Tragödien dargestellten Prozessen einen metaphysischen Sinn verleiht, besteht darin, dass er sie mit dem Prozess des Wachstums und der Reproduktion von Lebewesen analogisiert. 6 Etwas vereinfacht formuliert: Mit derselben naturgegebenen Unausweichlichkeit, mit der sich aus einer Buchecker eine Buche, und keine Eiche, entwickelt, und die Buchecker zur Form der Buche transzendiert, indem sie zugleich diese Form als eine vorgegebene reproduziert, soll sich nach Aristoteles auch die tragische Handlung entwickeln, die auf ein Ziel zusteuert, dass ihr vorgegeben, wenn auch in vielen Fällen noch nicht sichtbar ist. Das entscheidende Zitat findet sich in Kap. 23 der Poetik: »Was die erzählende und nur in Versen nachahmende Dichtung angeht, so ist folgendes klar: man muß die Fabeln wie in den Tragödien so zusammenfügen, daß sie dramatisch sind und sich auf eine einzige, ganze und in sich geschlossene Handlung mit Anfang, Mitte und Ende beziehen, damit diese, in ihrer Einheit und Ganzheit einem Lebewesen vergleichbar, das ihr eigentümliche Vergnügen bewirken kann.« 7

Der Vergleich mit einem Lebewesen – einem zoon – ist nicht beiläufig, sondern führt ins Zentrum der Sache. Die physis, hat Heidegger einmal gesagt, ist – aristotelisch gedacht – das Sein. 8 Etwas gemäßigter formuliert: Der Kreislauf des Lebens, in dem – in aller Regel wenigstens – nichts seine ihm durch seine innere Form (das eidos, die morphe) vorherbestimmte Bahn verlässt, ist die privilegierte Explikationsgestalt des aristotelischen Seins. Wenn das nun in Bezug auf die griechische Tragödie stimmen sollte, wären die Folgen verheerend. Denn in der Tragödie würden dem Aristoteles zufolge menschliche Handlungen, die man doch irgendwie mit der Vorstellung von Freiheit und Verantwortung verbindet, dem Prozess der Physis subsumiert; Geschichte würde naturalisiert und die Idee einer offenen, von den Menschen selbst verantworteten Zukunft, in die sie sich durch ihr Handeln entwerfen, wäre bloßer Schein – eine Illusion, die durch die Idee einer »einzigen ganzen und in sich geschlossenen Wolfram Ette: Die Aufhebung der Zeit in das Schicksal. Zur »Poetik« des Aristoteles, Berlin 2003. 7 Arist. Poet. 1459 a 18–21. Zit. n.: Aristoteles: Poetik. Übers. u. hrsg. v. Manfred Fuhrmann. Griechisch-deutsch, Stuttgart 1982: 77. 8 Vgl. Martin Heidegger: »Vom Wesen und Begriff der Physis. Aristoteles, Physik B, 1« (1939), in: Ders.: Wegmarken, Frankfurt a. M. 1978: 237–300, hier 258. 6

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Handlung mit Anfang Mitte und Ende«, also durch die totale »Formimmanenz«, wieder und wieder Lügen gestraft werden würde. Nun ist diese Vorstellung der Tragödie, in der das Geschehen mit quasi naturhafter Notwendigkeit abrollt und eben dadurch die Einheit der Form – d. h. mit Adorno formuliert die »logische Identität« des Prozesses – verbürgt wird, sicherlich nicht ganz falsch und vollkommen absurd: zumindest dann nicht, wenn man sich an den Wortlaut der Tragödien hält. Menschliches Handeln ohne Freiheit, naturalisierte Geschichte: Das ist ein anderer Ausdruck für das, was wir unter Schicksal verstehen (das Wort kommt bei Aristoteles, der den tragischen Prozess nach Kräften zu logifizieren versucht, nicht vor; dafür aber in den Tragödien umso häufiger). Aber Aristoteles vereinseitigt diese Idee so sehr – er entscheidet den Konflikt zwischen Freiheit und Notwendigkeit, der in jeder Tragödie aufs Neue unter anderen Voraussetzungen und mit offenem Ausgang ausgetragen wird, so eindeutig zugunsten des Schicksals, also der Physis der Handlung, dass das Gesamtbild des tragischen Prozesses, das er entwirft, auf eine groteske Weise verzerrt wird. 9 Bis heute sind Tragödie und Trauerspiel (das nun tatsächlich von der Vorstellung eines totalitär durch alles hindurchregierenden Schicksals bestimmt ist) trübe miteinander vermischt und der Ursprung dieser Vermischung geht zuletzt auf Aristoteles zurück. Das hat auch Folgen für den Begriff der Tragödie im Beethovenbuch. Wenn Adorno in Beethoven von der »Metaphysik der Tragödie« spricht, dann koinzidiert das eben nicht mit dem Geschichtsbewusstsein, von dem das Corpus der tatsächlichen antiken und modernen Tragödien Zeugnis ablegt, sondern mit der Denkform, die Aristoteles in der Poetik den Tragödien übergestülpt hat und die die Auffassung von der Tragödie bis heute bestimmt. Wenn Adorno bestimmte Elemente des beethovenschen Spätwerks als »Kritik von Tragik als Schein« hervorhebt, so fällt der Begriff der Tragik letztlich mit der philosophischen (aristotelischen) Bestimmung der Tragödie zusammen. Für diese Entdifferenzierung spricht nicht zuletzt die Bestimmung der tragischen Denkform selber. Es hieß ja: »die Totalität der Negationen als Position, die Bekräftigung dessen was ist in der Wiederkunft als Sinn«. Was ist damit gemeint? Adorno bezieht sich offensichtlich auf die Logik des musika9 Vgl. Wolfram Ette: Kritik der Tragödie. Über dramatische Entschleunigung, Weilerswist 22015.

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lischen Fortschreitens bei Beethoven, das als Negation aufgefasst wird. Den Unterschied von Negation und bloßer Differenz würde ich nun so bestimmen, dass die Negation immer auf ein Gemeinsames, auf eine übergreifende Identität bezogen ist. Während die Differenz ein einfaches zweistelliges Verhältnis artikuliert, stellt sich in der Negation ein dreistelliges Verhältnis dar – zwischen dem Negierten, dem Negierenden der übergreifenden Identität von beiden. Adorno hat an einigen Stellen erläutert, was Negation bei Beethoven musikalisch bedeutet. Er führt dort die Kategorien der »Hemmung« und des »Abbrechens« (BF: 42 f.) ein, und es ist das Ziel dieser spezifischen Verfahrensweisen, den musikalischen Prozess unablässig weiterzutreiben, keinen Stillstand zuzulassen und durch die wechselseitige Negation aller Einzelmomente ihre Aufhebung durch das Ganze des Werks herbeizuführen. In dieser Bestimmung treffen die »Metaphysik der Tragödie«, die Adorno dem mittleren Beethoven zuschreibt und die hegelsche Dialektik zusammen: Denn diese Dialektik ist ja prozessuale Entfaltung durch Negation und zumindest in der Form, in der sie Adorno bei Hegel vor Augen steht, ist diese prozessuale Entfaltung durch Negation zugleich eine, in der sich keine offene oder neue Zukunft auftut, sondern eine, die auf ein von vornherein festgelegtes Ziel bezogen ist – ein Ziel, das selbst nichts anderes ist als der verwirklichte, vollständig vermittelte, sich selbst begründende und durchartikulierte Anfang – eine geschlossene Form also; und es ist eben dies das teleologische, will sagen: aristotelische Erbe in Hegel, von dem er sich – wenigstens was das Ganze des dialektischen Prozesses betrifft – nicht emanzipiert hat. Der dialektische Gesamtprozess (so muss man wohl sagen) ist wie die Tragödie bei Aristoteles eine einzige ganze und in sich geschlossene Handlung. Damit ist die tragische Dialektik, von der die Werke des mittleren Beethoven ein ästhetisches Abbild geben, eine reflektierte »Transzendenz zur Form«. Das, was sich im Verlauf des musikalisch-tragischdialektischen Prozesses ändert, ist nicht seine inhaltliche Bestimmtheit, also nicht das Verhältnis von Ursprung und Ziel, Anfang und Ende, sondern der Grad seiner Bewusstheit. Er wird nicht einfach vollzogen: Das ›Schicksal eines Themas‹ wird zum begriffenen Schicksal, wie es Hegel zufolge in der antiken Tragödie dargestellt wird. 10 10 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Religion II/1: Die bestimmte Religion, Hamburg 1974: 155.

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Gesellschaftlich entspricht dem ein Stand der Aufklärung der Gesellschaft über sich selbst, wie ihn Kant in seiner berühmten Programmschrift Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? fordert, in der die Freiheit des Geistes und die Gehorsamspflicht gegenüber der Obrigkeit nebeneinander bestehen und nebeneinander bestehen sollen, so dass der Verdacht sich aufdrängt, die Freiheit des Geistes habe bloß eine kompensatorische Funktion, beruhige die Gemüter und diene letztlich dazu, das, was Adorno in der ersten Stelle, die ich zitiert habe, »die Selbstreproduktion der Gesellschaft als einer identischen« nennt, zu garantieren.

IV. Dieser Komplex von Vorstellungen wird vom späten Beethoven aufgekündigt. Die Kritik, die der späte Beethoven an der Immanenz der Form führt, geht über die bloße Unterbrechung und Suspension hinaus; sie bedeutet Destruktion: An die Stelle der Transzendenz zur Form tritt die Transzendenz der Form; an die Stelle der tragischen Metaphysik treten Prozesse, die sich wenigstens Adorno zufolge nicht mehr im Rahmen des tragischen Weltbildes verhandeln lassen; an die Stelle der ebenso verfassten positiven Dialektik tritt die negative Dialektik; und an die Stelle der identischen Selbstreproduktion der Gesellschaft tritt die Perspektive auf ihre Veränderung. Ich kann hier keinen detaillierten Einblick in die formalen Verfahrensweisen geben, mit denen der späte Beethoven arbeitet. Was ihnen aber gemeinsam zu sein oder besser sie zu begründen scheint, ist eine »Tendenz zum Zerfall«; und das, worin sich diese Tendenz zum Zerfall am elementarsten ausdrückt, nennt Adorno das »Absterben der Harmonie«: »Am späten Beethoven scheint mir technisch nicht das Entscheidende die Polyphonie, die sich durchaus in Grenzen hält […]. Sondern es ist eigentlich die Aufspaltung nach Extremen, die vorliegt: zwischen Polyphonie und Monodie. Es ist eine Dissoziation der Mitte. Mit anderen Worten: das Absterben der Harmonie. […] [D]ie Harmonie selber, die ja weithin überlebt, bekommt etwas Maskenhaftes oder Hülsenhaftes. Sie wird zu einer aufrechterhaltenen Konvention, der die Substanzialität weithin entzogen ist. Man kann wenigstens in den letzten Quartetten kaum mehr von einer Konstruktion der Tonalität reden. Sie hat gleichsam kein Eigengesetz der Bewegung mehr, sondern bleibt als Klanghülle zurück […]. Um sich die Bedeu-

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tung dieses Prozesses klarzumachen, muß man wohl auf die Konstruktion der Tonalität rekurrieren. Deren Wesen besteht darin, daß durch die Formation der Musik deren Voraussetzung zum Resultat erhoben wird […]. Die ›Harmonie‹ [des mittleren Beethoven] ist die Identität von Voraussetzung und Resultat. Es geht [beim späten Beethoven] gegen diese Identität, d. h. eigentlich gegen die von Subjekt und Objekt. […] Der Identitätszwang wird durchbrochen und die Konventionen sind seine Trümmer. Die Musik spricht die Sprache der Archaik, der Kinder, der Wilden und Gottes aber nicht des Individuums.« (BF: 225–227)

Adorno fügt dem, was wir bisher von ihm gehört haben, noch ein weiteres Element dazu, nämlich das Element der Tonalität. Beim mittleren Beethoven ist sie das entscheidende Mittel, durch das logische Identität via negationis hergestellt und das Werk zur immanenten Form transzendiert wird. Zugleich erfüllt sie die Formbestimmung der Tragödie aus der oben zitierten Aufzeichnung Nr. 368 (BF: 253), und zwar aus folgendem Grund: Im tonalen System, genauer gesagt: im System der funktionalen Tonalität, ist jeder musikalische Augenblick, jede harmonische Fortschreitung die Negation des vorhergehenden Augenblicks Negation in dem Sinne, dass jeder dieser Augenblicke in einem funktionalen Zusammenhang steht, in dem er auf Anfang und Ende des Gesamtprozesses bezogen ist. Es gibt also streng genommen im System der Funktionsharmonik, das Beethoven auskomponiert hat, keine freien, funktionslosen Momente, die außerhalb des Gesamtzusammenhangs für sich stünden. Damit gibt es nun im strengen Sinne in dieser Musik des mittleren Beethovens – von den Momenten reflektiver Transzendenz sehe ich jetzt einmal ab – keine Gegenwart; nichts, das für sich steht und sich in sich selbst erfüllte. Dahlhaus hat in seinen Untersuchungen zur Oper die These aufgestellt, dass das gesprochene Wort, das Wort im Sprechdrama, in sich Vergangenheit und Zukunft vermittele; es ist dramatisches Wort, insofern als es den Verweis auf Anfang und Ende, das Ganze des dramatischen Zusammenhangs, in sich enthält und austrägt, und im Grunde auf diesen Verweis reduziert erscheint. Das heißt, es ist dramatisches Wort, insofern als es nicht Gegenwart ist, nicht aus der Gegenwart heraus gesprochen ist, sondern umgekehrt die Determination der Gegenwart durch Vergangenheit und Zukunft geltend macht. Das dramatische Wort im strengsten Sinn nennt Gründe und macht Vorausdeutungen; eine Gegenwart, die sich spontan kundgibt und sich damit aus jenem Beziehungsgeflecht he-

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rauslösen würde, ist ihm fremd. 11 Die symphonische Form – also eben der Formtyp, den Adorno vor allem im Sinn hat, wenn er vom mittleren Beethoven spricht – entspricht dieser dramatischen Totalvermittlung des Einzelnen durch das Ganze so weit, als das in der Musik überhaupt möglich ist. Das aber heißt Gegenwartsverlust. Die Gegenwart ist bloß ein Vehikel, um Zukunft und Gegenwart, Anfang und Ende des dramatisch tragischen Prozesses zu vermitteln. Es ist eine zwiespältige Angelegenheit. Auf der einen Seite bekundet sich in der kompletten Durchfunktionalisierung des Gesamtzusammenhanges die Autonomie des Subjekts, das diesen Gesamtzusammenhang erzeugt; auf der anderen Seite jedoch verkehrt sich die Autonomie in dem Moment, in dem sie alternativlos wird, in einen schicksalshaften Zwang: in Heteronomie. Wenn Adorno nun in dem letzten Zitat diese Prozessstruktur mit der »Identität von Subjekt und Objekt« gleichsetzt, so steht damit offenbar noch etwas anderes in Rede als ein musikalischer Sachverhalt: nämlich der Kern dessen, was Adorno identifizierendes Denken nennt. Die Identität von Subjekt und Objekt wird im Satz hergestellt – in der propositionalen Fügung, deren grammatische Struktur ebenfalls einer Logik des Sich-Öffnens und Sich-Schließens folgt. Jeder Satz vollzieht den Prozess der Entäußerung und der Rückkehr zu sich, und zwar in eben dem Moment, in dem die verstreuten Worte einen Sinnzusammenhang ergeben, in dem Moment also, in dem der Satz verstanden wird. Was hat dies mit der Musik zu tun? Der Satz verhält sich zur Rede oder zu einem Text wie der tonale Elementarvorgang der Kadenz zu der musikalischen Verlaufsform, die sie am vollkommensten ausdrückt, weil sie sie selbst in gewisser Weise noch einmal ist: nämlich der Sonatenhauptsatzform. All das sind alles Spielarten dessen, was Adorno »Metaphysik der Tragödie« nennt, die ihrerseits in der Gesamtanlage von Hegels positiver Dialektik und von Beethovens Konstruktion der Tonalität im mittleren Werk ihren vollkommensten und zugleich dramatischen Ausdruck gefunden hat. Wenn nun der späte Beethoven diese Zusammenhänge zwischen der Kadenz und dem propositionalen Urteil auf der einen Seite und dem gesamten Werk bzw. dem dialektischen Gesamtprozess zur Identität auf der anderen Seite kritisiert, indem er ihn in seine einzelnen Carl Dahlhaus: »Zeitstrukturen in der Oper«, in: Gesammelte Schriften 2, hrsg. v. Hermann Danuser, Laaber 2001: 423–432.

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Bestandteile zerfallen lässt, die nun von allem möglichen zusammengehalten werden – von den archaischen Formen der Polyphonie und der Liturgie, von der regressiven Form der Variation, von der konstellativen Form, wie sie sich in den Bagatellen oder im Patchwork des zweiten Satzes von Opus 110 ausdrückt, in pathetischen Formen wie den zahlreichen Bezugnahmen zur Oper im Spätwerk – die aber allesamt nicht mehr aus sich heraus einen organischen Zusammenhang konstituieren –, dann liegt auf der Hand, dass Beethoven damit Adornos ureigene philosophische Interessen in musicis vertritt. Beethoven – das ist nicht bloß, wie das Nachlasswerk vom Herausgeber genannt wurde, Philosophie der Musik, sondern es ist zugleich die Musik der Philosophie, der Philosophie nämlich, die Adorno vertrat und für notwendig hielt. Der späte Beethoven realisiert musikalisch, was Adorno in der Negativen Dialektik methodisch von der Philosophie fordert. Natürlich ist dies erst einmal eine bloße Behauptung – eine Behauptung zumal, die ich hier gar nicht belegen kann, weil man dazu den Kanon der methodologischen Forderungen der negativen Dialektik genau durchgehen müsste. Aber ich möchte mir doch erlauben, einige Stichworte namhaft zu machen, die dafür sprechen, Beethovens antitragisches, zum Zerfall tendierendes Spätwerk und Adornos negative Dialektik im Zeichen einer Kritik von Tragik in eine solche Nähe zu rücken, wie ich es hier tue: – Es ist die Tendenz zur kleinen Form (Der Essay als Form) bis hin zum Fragment; – es ist die Methode der Konstellation; – es ist die Kritik an der Identität und die Theorie des Nichtidentischen in der Negativen Dialektik; – es ist das, was Adorno in der Negativen Dialektik als »Logik des Zerfalls« verhandelt. Wenn es mit diesen Andeutungen seine Richtigkeit hat, dann geht aus ihnen doch so viel hervor, dass Beethovens Musik und die formalen Fragen, mit denen sich Beethoven beschäftigte, tief in die Fundamente von Adornos Philosophie eingelassen sind –: in die Fundamente eines Denkens also, das sich gegen das Identitätsdenken, das Ursprungsdenken und gegen die Teleologie innerhalb der Europäischen Rationalität richtet. Alle drei – also Identitätsdenken, Ursprungsdenken und Teleologie – sind miteinander verflochten und es 27 https://doi.org/10.5771/9783495808221 .

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ist eben die Tragödie bzw. das Bild von ihr, dass die aristotelische Metaphysik davon durch die Jahrhunderte überliefert hat, die diese drei Stränge in ein verbindliches und darüber hinaus anschauliches öffentliches Prozessmodell zusammengefasst hat. In diesem Sinne ist Adornos Musiktheorie der Tragödie zugleich eine Kritik am tragischen Unterstrom des gesamten europäischen Denkens, und Beethovens Musik ist vermutlich einer seiner stärksten Bundesgenossen in diesem kritischen Unternehmen, das die tragische Verfassung der Europäischen Rationalität einerseits bewusst machen, andererseits überschreiten will.

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Die Gesellschaft im Werk und das Problem der Zeit Nervenpunkte in Adornos Beethovenkritik Richard Klein

Mein Beitrag besteht aus fünf Teilen. Teil I skizziert die Eigenart von Adornos Musikphilosophie anhand des Topos »Beethoven und die Französische Revolution«. Im Mittelpunkt steht dabei das Zusammenspiel von künstlerischer Autonomie und der sozialen Lektüre musikalischer Formen. Teil II enthält Vorbemerkungen zu dem, was in späteren Abschnitten als Adornos musikalisches Zeitverständnis (re-)konstruiert wird. Ich sage das etwas zurückhaltend, weil ich mein Verhältnis zu Adornos Texten weniger als Interpretation im strengen Sinn begreife denn als einen Versuch, mit Denkmöglichkeiten zu operieren, die er uns hinterlassen hat. Teil III greift den Diskurs vom »intensiven« und »extensiven Zeittyp« auf, mit dem Adorno in seinem Tagebuch zu Beethoven arbeitet. Ich verstehe beide Termini als Idealtypen im Sinne von Max Weber 1, d. h. als begriffliche Modelle, die einer flexiblen Erfassung des jeweiligen phänomenalen Bestandes dienen, ohne mit individuellen Werken ontologisch zu kongruieren. Teil IV setzt sich mit einem Kernproblem von Adornos Beethovenkritik auseinander: seiner Kritik der Reprise. Sie ist bekannt, sogar berüchtigt, aber nicht eigentlich erkannt, weil ihre philosophischen Voraussetzungen in der Regel zugunsten musikhistorischer Interessen ausgeblendet bleiben. Teil V ist eine Analyse von Partien des ersten Satzes des Erzherzogtrios von Beethoven. Sie legt dar, inwieweit dieser Satz dem »extensiven Zeittyp« zuzuordnen ist und welche spezifisch temporalen Erfahrungen sich in ihm niederschlagen. Als zentral erweist sich die Denkfigur von den »Verschiebungen der musikalischen Präsenz«, die es, wie Adorno betont, »vor Beethoven nicht gegeben [hat]« (BF:

Vgl. Max Weber: »Die Objektivität sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis«, in: Ders.: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, Tübingen 7 1988: 146–214. 1

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I.

Revolution in der Form

Man könnte manchmal meinen, Adorno habe es noch gut gehabt. Die folgende These über Beethoven z. B. hat er noch aufstellen können, als verstünde sie sich von selbst: »Wenn die Idee der Französischen Revolution durch Beethovens Musik hindurchrauscht, so darum, weil Humanität den spontanen Gehalt dessen, was ihn zur Gestaltung drängte, die innerste Zusammensetzung seiner Form ausmachte. Er hatte keine und vertrat keine ›revolutionäre Ideologie‹, sondern war Fleisch und Geist von 1789, auch als er die Eroica Napoleon widmete.« (GS 14: 64 f.; Herv. v. R. K.)

Nicht zufällig steht dieser Passus im Kontext einer Polemik gegen die sowjetische Kunstpolitik nach dem Zweiten Weltkrieg. Beethoven fungiert hier als humane, d. h. künstlerisch autonome Alternative zu einer von Staats wegen propagierten und kommandierten Ideologie der Revolution. Revolutionär an Beethoven sind nicht seine politischen oder weltanschaulichen Überzeugungen, auch wenn diese empirisch eine Rolle gespielt haben mögen, sondern die Aneignung des Es verdient Erwähnung, dass ausgerechnet Charles Rosen hier mit Adorno punktgenau übereinstimmt. Vgl. Ders.: The Romantic Generation, Cambridge/Ms. 1995: 166: »Beethoven is the first composer to represent the complex process of memory – not merely the sense of loss and regret that accompanies visions of the past, but the physical experience of calling up the past within the present.«

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Die Gesellschaft im Werk und das Problem der Zeit

revolutionären Denkens im kompositorischen Prozess, in der Form des Kunstwerks. Nicht dass Beethoven die Eroica Napoleon widmen wollte, ist eine revolutionäre Tat, sondern die Komposition der Eroica selbst, unabhängig davon, ob ihre Widmung dem Konsul oder dem Kaiser galt. 3 Eine andere Stelle fügt dem einen wichtigen Gesichtspunkt hinzu: »Wer Beethoven hört und darin nichts vom revolutionären Bürgertum, nicht das Echo seiner Parolen, die Not ihrer Verwirklichung, den Anspruch auf jene Totalität spürt, in der Vernunft und Freiheit verbürgt sein sollen, der versteht ihn genausowenig wie einer, der dem rein musikalischen Inhalt seiner Stücke, der inneren Geschichte, die den Themen darin widerfährt, nicht zu folgen vermag.« (GS 14: 244; Herv. v. R. K.) 4

Diese Kritik zielt nicht auf den stalinistischen Ideologieapparat in Moskau, sondern auf das bürgerliche Musikleben in Westdeutschland nach 1950. Das Denken der jungen Bundesrepublik erscheint Adorno so sehr von historischer Amnesie und einer flächendeckenden kulturellen Neutralisierung von Politik beherrscht, dass man das Bild von Beethoven als dem Prototyp des bürgerlichen Revolutionärs, eine Zuschreibung, die bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts einen nahezu volkstümlichen Charakter besaß 5, jetzt eher als Hirngespinst kunstfeindlicher Kopfmenschen – »Soziologen« eben – wahrnimmt, als in ihr eine ideelle Voraussetzung von Beethovens kompositorischer Arbeit zu erblicken. Das erste Zitat betont die künstlerische Autonomie des Werks gegenüber politischen und propagandistischen Zumutungen, die von außen ergehen: vom Staat, von der Partei, den Massenmedien, den Kirchen, schließlich vom Musikleben selbst. Das zweite Zitat besagt: Auch wenn sich die Revolution in der inneren Zusammensetzung musikalischer Form abspielt, behält sie ihren verstörenden Charakter. Sie ist nichts Harmloses, Neutrales, keine schöngeistige Metapher oder Ideologie, sondern steht für eine spannungsreiche, widersprüchliche Wahrheit, die sich dem falschen Leben in den Weg stellt wie Orest Klytämnestra. Dass Beethoven den revolutionä-

Vgl. Martin Geck, Peter Schleuning: »Geschrieben auf Bonaparte«. Beethovens »Eroica«. Revolution, Reaktion, Rezeption, Reinbek bei Hamburg 1989. 4 Zum Ineinander von Notwendigkeit und Freiheit vgl. bes. BF: 61. 5 Vgl. Ulrich Schmitt: Revolution im Konzertsaal. Zur Beethoven–Rezeption im 19. Jahrhundert, Mainz 1990. 3

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ren Prozess und dessen Nachleben mit musikalischen Mitteln interpretiert, drängt die Revolution nicht aus dem gesellschaftlichen Bewusstsein, sondern richtet den Blick spezifisch auf sie. Beethovens Musik bleibt als autonome Kunst durchlässig für die revolutionären und postrevolutionären Erfahrungen vor und nach 1800. Sie bringt sie zum Ausdruck und verwandelt sie in inwendiges Welttheater. Aber, und das ist ein entscheidender Punkt, die Revolution, die musikalisch Gestalt annimmt, ist nicht darum schon wahr und gelungen, weil sie »Kunst« ist, während die historischen Ereignisse seit der Bastille grosso modo als schlechte Realität abzutun wären. Vielmehr steht Beethovens Idee von Freiheit im Zeichen der Not und des Mangels. Sie soll sein, aber sie ist noch nicht. Sie soll verwirklicht werden und so nicht zuletzt der Gewalt ein Ende bereiten. Aber dann zeigt sich: Ihr Sollen trägt selbst gewaltsame Züge. Beethoven verhilft der Freiheit nicht nur zum Ausdruck, er führt auch vor, wie sie scheitert und sich in Unfreiheit verstrickt oder verkehrt. Die eigentliche Größe dieses Werks liegt für Adorno darin, dass es das Ineinander beider Kräfte zur Entfaltung bringt, die Notwendigkeit und die Freiheit, die Herrschaft und die Autonomie, das System und das Subjekt, den perfekten Apparat und den Einbruch von außen. Eine solche Zweideutigkeit lässt sich nicht philosophisch deduzieren, sondern nur aus musikalischen Formen erschließen und kritisch entfalten. Das ist ein Anspruch, dem man sich als Interpret nur mit großer Zurückhaltung nähern kann. Aber nähern muss man sich ihm. Denn der Rückzug in die akkurate Formimmanenz ist abgeschnitten. In dieser Einsicht liegt eine historische Leistung Adornos, die ihn vielleicht am stärksten von Vertretern heutiger Ästhetik abhebt. Gegen seine Soziologismen und deren Rhetorik lässt sich eine Menge einwenden. Die Gesellschaftstheorie wird keiner mehr für das Gelbe vom Ei halten, mögen manche ihrer Motive auch des tiefsten Nachdenkens wert sein. Aber eines wäre in jedem Fall falsch: aus dem Doppelcharakter des Modells vom Kunstwerk »die Gesellschaft« wieder herauszukürzen. Zwar können wir nicht auf eine »fertige« Gesellschaftstheorie zurückgreifen, die der Interpretation von Werken sozusagen die Richtung wiese. Aber hinter den Anspruch, »das Gesellschaftliche in der Form zu entziffern«, lässt sich heute nur noch um den Preis einer Naivität zurückgehen, die sich keiner leisten kann. Der Versuch, in einer geschlossenen Kunstinnenwelt sein Zuhause zu errichten, bleibt, auch wo er gut gemeint ist, eine spießige Illusion. 32 https://doi.org/10.5771/9783495808221 .

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Wer die Immanenz durchdringen will, muss sie überschreiten. Will er sie nicht überschreiten, kann er sie auch nicht durchdringen. Biografische, politische und historische Aspekte spielen in den Fragmenten über Beethoven eine verschwindend geringe Rolle. Mit Soziologie, wie wir sie heute kennen, haben Adornos Schriften zur Musik wenig gemein. Empirische Untersuchungen zur Rezeption von Musik haben ihn nie sonderlich interessiert (z. B. GS 14: 431). Die bekannte Hörertypologie, die er entwarf, ist nur begrenzt ergiebig (GS 14: 178–198). Die zentrale These bleibt: Nur wenn die »Idee der Französischen Revolution« ästhetisch und musikalisch bei sich ist, kann sie auch gesellschaftlich wahr sein (GS 14: 398 f.). Dass sie durch die Musik »hindurchrauscht« (GS 14: 64), ist keine romantische Figur, die wir uns als den lieblichen Bach neben der obligaten Mühle vorzustellen hätten, sondern ein (sprachlich nicht ganz geglückter) Versuch, die integrale Präsenz der revolutionären Kategorien in der Musik metaphorisch einzukreisen. Was »hindurchrauscht«, ist nicht auf einzelne Gestalten und Figurationen beschränkt, sondern überall da, sozusagen allpräsent. Adorno wusste noch nicht, dass Beethoven an manchen Stellen, z. B. im Finale der V. Symphonie, Idiome der französischen Revolutionsmusik zitiert. 6 Entscheidend für ihn war, dass sich Freiheit auf unterschiedlichste Weise musikalisch zur Geltung bringt, und dies stets in Verklammerung mit ihrem Gegenteil: in der Elementaranalyse motivisch-thematischer Arbeit, in der Dynamisierung von Sonatensatz und Orchesterapparat, in den Zäsuren des Innehaltens und Verweilens, schließlich in jener Sprache, die die Schranken der geschlossenen Form durchbricht (BF: 36, 62; GS 17: 203). Freiheit ist kein Programm, das der Musik von außen übergestülpt würde, sondern ihre Substanz, als Utopie wie als Opfer der Macht gleichermaßen. Jeder wissenssoziologische Versuch, der Form eines Werks empirische Tatbestände zuzurechnen, um daraus ihre soziale Prägung dingfest zu machen, greift zu kurz. Umgekehrt betont Adorno, die Immanenz der musikalischen Form sei ihrerseits »unwahr«. Sie verkörpert einen geschlossenen Komplex, der erst von einem Punkt jenseits seiner als das erkennbar wird, was er wirklich ist. Nur geschieht solche Überschreitung nicht durch Erleuchtung, einen Geistesblitz oder eine Intuition. Es bedarf eines »dem Gegenstand transzendente Vgl. Peter Gülke: »Zur Fünften Sinfonie« (1978), in: Ders.: »… immer das Ganze vor Augen«. Studien zu Beethoven, Stuttgart/Weimar 2000: 131–194, hier 175–179.

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[n] Wissen[s]«, das die immanente Interpretation wenn nicht anleitet so doch inspiriert (GS 12: 34; GS 5: 33). Es steht für ein Außen ohne Äußerlichkeit, einen Freiraum, in dem die Form aus sich herausdrängt, ohne sich preiszugeben. Anstelle eines Überstiegs des Werks in sich kommt es zu einer Transzendierung des Werks, die mit dem Werk, d. h. mit der Form, vermittelt bleibt. Adorno denkt Form und Werk von der Logik der Produktion her und zeigt sie damit als Konflikt an, was auch heißt, dass die geschlossene Form so geschlossen nicht ist, sondern das Werk öffnet oder aufbricht und in gewisser Weise freigibt. Nun taugen Adornos musikterminologische Mittel nicht immer dazu, den philosophischen Gedanken am Phänomen auch durchsichtig zu machen. 7 Seine ästhetische Kritik und seine musikalischen Analysen sind nicht von gleichem Rang. Was jene auszeichnet, die radikale Analyse der Begriffe, findet in diesen oft nicht statt. Es ist kein großes Problem, gegen Adornos Rede von Polyphonie, Generalbass, Sonate, Konstruktion und Klang usw. recht zu behalten. 8 Nur wenden sich eben Siege, die zu leicht errungen sind, gegen den Sieger. Das heißt in unserem Fall: Man kann nicht aus musikanalytischen Fehlern in Adornos Fragmenten die philosophische Haltlosigkeit seiner Reprisenkritik oder seiner Deutung des Spätwerks ableiten. 9 Auch die Philosophie ist autonom, nicht nur die Musik. Das macht Adornos Analysen nicht sakrosankt. Aber der Interpret sollte darauf bedacht sein, dass ihm die philosophische Substanz dieses Denkens nicht entgleitet. 10 Ich kann auf dieses Problem hier nicht näher eingehen, sondern muss mich auf Meinungsäußerungen beschränken. 8 Vgl. Ludwig Holtmeier, Cosima Linke: »Schönberg und die Folgen«, in: AdornoHandbuch. Leben – Werk – Wirkung, hrsg. v. Richard Klein, Johann Kreuzer u. Stefan Müller-Doohm, Stuttgart/Weimar 2011: 119–139, hier 128–133. Holtmeier betont, dass die anachronistisch-didaktische Haltung von Adornos Analysen die Zweite Wiener Schule insgesamt charakterisiere, mit partieller Ausnahme von Erwin Ratz. Was man Adorno gegenüber nicht zu Unrecht vorgebracht habe, wäre, so Holtmeiers lapidare Feststellung, »auch den Analysen Bergs, Weberns und Schönbergs gegenüber vorzubringen« (ebd.: 129). 9 Vgl. Hans-Joachim Hinrichsen: »›Es wäre sonst alles, auch die ›Klassik‹, anders verlaufen‹. Adornos Beethoven-Buch als gescheitertes Hauptwerk«, in: »… dass alles auch hätte anders kommen können.« Beiträge zur Musik des 20. Jahrhunderts, hrsg. v. Susanne Schaal-Gotthardt, Luitgard Schader u. Heinz-Jürgen Winkler, Mainz 2009: 218–248. 10 Vgl. Richard Klein: »Philosophische Kritik als Problem der Musikwissenschaft. Zur Adorno-Rezeption bei Carl Dahlhaus am Beispiel des Versuch über Wagner«, in: 7

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Ein Punkt bleibt allerdings auch philosophisch unrezipierbar. So wünschenswert es ist, dass musikalische und philosophische Begriffe ineinander greifen, so wenig lässt sich der Abgrund zwischen ihnen überspringen, weder im Namen der musikalischen Analyse noch in dem der Philosophie. Adorno hat die Differenz der Kategorien gegen das Vorbild Nietzsche gelegentlich so stark gemacht (GS 16: 191 f.; GS 14: 247) 11, dass man meinen könnte, er kämpfe da mit sich selbst. Gehalten hat er sich an diese Position nur sehr selektiv. Im Durchschnitt insistierte er orthodox darauf, dass die kompositorischen Konflikte der Werke als Reflexionsformen »gesellschaftlicher Widersprüche« abzuleiten seien (GS 14: 247). Sie als Ausdruck sozialer Erfahrungen zu lesen und die Kritik des autonomen Werks mit der Analyse der Rezeption zu vermitteln, wie Benjamin es versuchte, war ihm zu kleinformatig, zu physisch, zu ideologiegefährdet. 12 Die Werke sollten mit ihren nichtidentischen Mitteln eine Theorie der Gesellschaft bezeugen, ja letztlich selbst leisten. Dergleichen aber setzt voraus, dass sie analog oder gar homolog zu dieser strukturiert sind (GS 14: 253). Wie kann eine so begriffsrealistische Imprägnierung künstlerischer Gebilde durch das selbstreferenzielle System einer Theorie dem Besonderen eines Kunstwerks gerecht werden? Welchen Sinn soll es haben, sich in das Unaustauschbare musikalischer Komplexe zu versenken, wenn am Ende eine Wahrheit herausspringen soll, die feststeht, bevor der erste Ton komponiert ist? Dass das Werk diese Wahrheit seinerseits noch einmal als Unwahrheit entlarvt, wie uns der Autor versichert, mag ein aufschlussreicher subversiver Zusatz sein, an der dogmatischen Struktur des Gedankens ändert er nichts. Weder allgemein noch am spezifischen Sachverhalt hat Adorno diesen Punkt plausibel machen können, es wäre auch ein Ding der Unmöglichkeit gewesen. 13

Kunst und Wissen in der Moderne. Otto Kolleritsch zum 75. Geburtstag, hrsg. v. Andreas Dorschel, Wien 2009: 105–121. 11 Zu Nietzsches Bedeutung für Adorno vgl. Richard Klein: Musikphilosophie – zur Einführung, Hamburg 2014: 89–93, 98 ff. 12 Vgl. Richard Klein: »Noch einmal: Bewusstmachende oder rettende Kritik. Eine musikphilosophische Lektüre des Disputs zwischen Benjamin und Adorno«, in: Klang und Musik bei Walter Benjamin, hrsg. v. Tobias Robert Klein in Verbindung mit Asmus Trautsch, München 2013: 149–165. 13 Vgl. Richard Klein: »Ideologiekritik oder kritische Hermeneutik? Methodologische Aspekte einer Musikphilosophie nach Adorno«, in: Kritische Theorie zur Zeit. Für Christoph Türcke zum sechzigsten Geburtstag, Springe 2008: 256–275, bes. 272 ff.

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II.

Intermezzo

Von den Beethoven-Fragmenten kann man lernen, dass es sich mit dem Problem der Zeit bei Adorno komplizierter verhält, als man lange gedacht hat. Bis zur Veröffentlichung des überreichen Notizenmaterials ging man in der Musikwissenschaft davon aus, dass Adorno einen bestimmten Typus musikalischer Zeitgestaltung verabsolutierte und darüber einfach nicht hinausgelangte. Dieser Typ, so dachte man, erschöpfe sich in Kategorien wie Entwicklung, Progress, Diskurs, Dialektik, Teleologie, Finalität, »der strengen motivisch-thematischen Arbeit« sowie dem »Geist der Sonatenform«. Allerdings bestand diese Position schon lange vor Adorno. Hugo Riemann und Arnold Schönberg haben ein Beethovenbild kreiert, das ganz auf den Komponisten der Logik, der Struktur, der formalen Ökonomie, der entwickelnden Variation usw. ausgerichtet war. 14 Adorno hat diese Einstellung übernommen, aber erweitert. Er ging von Beethovens rationalen symphonischen Prinzipien aus und legte sie als Maßstab an die Werke anderer Komponisten und auch anderer historischer Phasen an. Damit wollte er seine Zeitgenossen nicht etwa auffordern, Beethoven zu imitieren, sondern musikphilosophische Probleme in kritischer Absicht verallgemeinern. Er glaubte, die Auseinandersetzung mit Beethoven so führen zu können, dass sich aus ihr Elemente einer Theorie musikalischer Zeit auch unter geschichtlich veränderten Prämissen gewinnen lassen. In diesem Sinne heißt es einmal zugespitzt: »Man kann nicht mehr wie Beethoven komponieren, aber man muß so denken wie er komponierte.« (BF: 231) 15 14 Vgl. Hugo Riemann: Geschichte der Musik seit Beethoven (1800–1900), Berlin/ Stuttgart 1901; Arnold Schönberg: Stil und Gedanke. Aufsätze zur Musik, hrsg. v. Ivan Vojte\/ch, Frankfurt a. M. 1976. Riemann und Schönberg gehen vom »Motiv« als kleinster kompositorischer Einheit aus, dessen Geschichte den Verlauf eines Werks im Ganzen strukturiert. Während bei Schönberg die Diastematik im Zentrum steht, ist das Motiv bei Riemann rhythmisch definiert; vgl. Hugo Riemann: System der musikalischen Rhythmik und Metrik, Leipzig 1903. Beide treffen sich unter sehr verschiedenen Voraussetzungen in der normativen Präferenz für eine (nicht nur für Beethoven gültige, aber von ihm her gedachte) Form, die von »logischer«, »stringenter« Motiventwicklung bestimmt ist. 15 An dieser Stelle besteht eine Nähe Adornos zu Riemann. Wie dieser ist sich Adorno über die Historizität von Beethovens Werk einerseits völlig im Klaren. Sein Materialbegriff erlaubt es nicht, Beethoven im krud überbietungsdynamischen Sinn als »Höhepunkt der Wiener Klassik« zu bezeichnen. Riemann tut das ebenso wenig, steht

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Adornokenner ahnten freilich schon damals, dass es dem Meister um eine Feier von Logik und Progression allein nicht zu tun war. Schließlich gab es den poetischen Schubertessay von 1928, den man mit einigem Recht als Liebeserklärung an die melancholische Entwicklungsfremdheit dieses Komponisten lesen konnte. Und dann war da das Buch über Gustav Mahler, das viel an Argumenten und Analysen aufbietet, um dessen Symphonien als »epische« Alternative zu Beethovens revolutionärer Klassik zu positionieren. Wirkungsgeschichtlich wurden solche Schriften jedoch meist als Ausnahme oder sogar als Inkonsequenz wahrgenommen, sie bestimmten nicht die Hauptlinie der Rezeption. Diese lautete vielmehr einigermaßen stur: Adorno ist ein Anwalt des Fortschritts. Gewappnet mit dialektisch verklausulierter Rede zwar. Aber ein Mann des Fortschritts gleichwohl. Dieser Verkürzung ist durch die Fragmente über Beethoven die Grundlage entzogen worden. 16 Auch bei ihnen ist zwar der herausragende Stellenwert der »Entwicklung« evident, vielleicht fällt die Genese dieses Gedankens sogar mit dem Anfang der Arbeit am Beethovenbuch zusammen. Andererseits belegen die Fragmente mehr als jede regulär publizierte Schrift Adornos, wie das Insistieren auf und die Kritik an Prozessualität dazu nötigen, nach korrektiven und komplementären Zeitkategorien Ausschau zu halten. Den Schritt zur Pluralisierung des Zeitbegriffes hat Adorno nicht manifest und schon gar nicht konsequent vollzogen. Aber die Perspektive dazu ist bei ihm da. Das sollte man im Kopf haben, bevor man sich auf den Diskurs des intensiven und des extensiven Zeittyps näher einlässt. Die zweite Vorbemerkung dient der Vermeidung eines möglichen Missverständnisses. Wenn Adorno über die Sonatensatzform oder den intensiven Zeittypus bei Beethoven spricht, klingt das manchmal so, als habe es in der Musik zuvor keine Entwicklungsform und keine motivisch-thematische Logik und Arbeit gegeben. Das wäre natürlich schlicht falsch, der Eindruck erklärt sich indes aus einer extrem synchronen Konzentration auf Beethoven, die doch sein Beethovenbild frontal gegen den »Hero« des 19. Jahrhunderts. Vgl. Wilhelm Seidel: »Riemann und Beethoven«, in: Hugo Riemann (1849–1919). Musikwissenschaftler mit Universalanspruch, hrsg. v. Tatjana Böhme-Mehner/Klaus Mehner, Köln (u. a.) 2001: 139–151, hier 139. Und doch neigen beide, Riemann wie Adorno, dazu, die Musik Beethovens als Inbegriff von Musik überhaupt zu denken. 16 Vgl. Nikolaus Urbanek: Auf der Suche nach einer zeitgemäßen Musikästhetik. Adornos »Philosophie der Musik« und die Beethoven-Fragmente, Bielefeld 2010.

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vom historischen Verlauf abstrahiert. Adorno interessiert sich weniger für Werke in der Geschichte als für Geschichte in den Werken. Wo immer sich diese Perspektive zuspitzt, lässt sie verkürzte Relationen in den diachronen Verknüpfungen zurück. Dazu passt das emphatische Desinteresse an Untersuchungen zur Werkgenese (GS 7: 267) wie z. B. der Skizzenforschung bei Beethoven – ein Punkt, an dem es die Musikwissenschaft leicht hat, Adorno schlechte Noten zu geben. Mit den neueren Forschungen, die sich der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts unter dem Aspekt der Zeit widmen 17, kann ich mich nicht näher auseinandersetzen. Nur so viel: Einigkeit besteht bei diesen heterogenen Arbeiten darin, dass in dieser Epoche ein grundlegender Umbruch musikalischer Strukturen und Formen stattfindet. Diese Einsicht ist seit Georgiades und Rosen geläufig 18, neu indes ist ihre Fokussierung auf das Zeitthema. Nicht nur erfahren wir, es werde der musikalische Horizont von Entwicklung und Linearität in dieser Epoche strukturell hervorgebracht 19, sondern diese Überlegung 17 Vgl. Reinhold Brinkmann: »Die Zeit der Eroica«, in: Musik in der Zeit – Zeit in der Musik, hrsg. v. Richard Klein, Eckehard Kiem u. Wolfram Ette, Weilerswist 2000: 183–211; Melanie Wald: »Moment musical. Die Wahrnehmbarkeit der Zeit durch Musik«, in: Das achtzehnte Jahrhundert. Zeitschrift der Deutschen Gesellschaft für die Erforschung des achtzehnten Jahrhunderts 30 (2006), H. 2: 207–220; Karol Berger: Bach’s Cycle, Mozart’s Arrow. An Essay on the Origins of Musical Modernity, Berkeley 2008; Wolfgang Fuhrmann: »Die Dramatisierung der Zeit. Über die Zusammenhänge zwischen musikalischer und historischer Zeiterfahrung im späten 18. Jahrhundert – mit einer Studie zum Kopfsatz von Mozarts Symphonie KV 338«, in: MusikTheorie. Zeitschrift für Musikwissenschaft 28 (2013), H. 3: 209–231; Siegfried Oechsle: »Von Schönberg zu Mozart. Versuch über den Prozesscharakter Mozartscher Musik«, in: Mozart und Schönberg. Wiener Klassik und Wiener Schule, hrsg. v. Hartmut Krones u. Christian Meyer, Wien 2012: 159–175. 18 Vgl. Thrasybulos G. Georgiades: »Aus der Musiksprache des Mozart-Theaters« (1950), in: Ders.: Kleine Schriften, Tutzing 1971: 9–32; »Mozart und das Theater« (1956), ebd.: 55–65; Charles Rosen: Der klassische Stil. Haydn, Mozart, Beethoven (Orig. 1971), München/Kassel 62006. 19 Für Karol Berger hat die musikalische Form zwischen Bach und Mozart erstmals einen zeitlichen Sinn angenommen und die Ereignisse eines Werks unter dem Aspekt ihrer temporalen Disposition konstruiert. An die Stelle des Eingedenkens ewiger Harmonie, das für Bach bestimmend gewesen sei, trete in der Wiener Klassik die säkularisierte lineare Zeit des Menschen, die durch keine heilsgeschichtliche Erwartung mehr belastet sei. Vgl. Berger: Bach’s Cycle, Mozart’s Arrow (Anm. 17): 179. Diese menschliche Zeit setzt Berger mit der »eigentlichen« Zeit gleich, die darum auch die »unsrige«, d. h. die heutige sei. Das Buch belegt, wie schwierig es ist, Epochenbegriffe auf individuelle Werke zu übertragen.

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wird sogar zu der These zugespitzt, Zeit mutiere erst in jener Umbruchsituation zu einer beschreibungsfähigen und analytisch aussageträchtigen Kategorie musikalischer Formbildung. 20 Wenn das so ist, wäre sie nicht mehr nur das Medium, in dem sich die Musik abspielt, sondern ihr Thema und ihr Gegenstand im Kleinen wie im Großen. Der Umbruch hätte somit nicht erst mit, sagen wir: der Eroica eingesetzt, sondern schon Jahrzehnte zuvor in der Mannheimer Schule oder bei Carl Philipp Emanuel Bach. Bei Haydn und Mozart wäre dann die Temporalisierung bereits voll im Gang. Gleichwohl meine ich, dass Adorno mit dem intensiven Typ bei Beethoven einen Punkt trifft, der sich nicht dadurch aus der Welt schaffen lässt, dass Haydn der Vater der motivisch-thematischen Arbeit ist und auch Mozart zuweilen den Eintritt der Reprise »schon« verschleiert hat. 21 Die dritte Vorbemerkung lautet: Wenn die Zeitstrukturen der Musik bereits um die Mitte des 18. Jahrhunderts umzubrechen beginnen, kann nicht erst das Realereignis der Französischen Revolution zu einer veränderten, »dynamischen«, »beschleunigenden« Zeiterfahrung in der Musik geführt haben, wie das Reinhold Brinkmann suggeriert. Eher wäre zu sagen, dass diese Zeiterfahrung zu den Voraussetzungen der Revolution zählt. Ohne Frage ist das revolutionäre Geschehen, wo es sich aus natural verstandener Tradition und Vergangenheit nicht mehr ableiten ließ, für die allgemeine Bildung des Bewusstseins einer offenen, geschichtlichen Zukunft von großer Bedeutung gewesen. 22 Es spricht aber wenig dafür, dass für den internen Zuwachs an Diskontinuität und Kontrastbildung in der Musik der Sturm auf die Bastille verantwortlich sein könnte.

Vgl. Wilhelm Seidel: »Division und Progression. Der Begriff der musikalischen Zeit im 18. Jahrhundert«, in: Il Saggiatore Musicale 2 (1995): 47–65. 21 Vgl. die in Anm. 17 angeführten Beiträge von Wolfgang Fuhrmann und Siegfried Oechsle. 22 Die einschlägigen Arbeiten von Reinhart Koselleck und Wolf Lepenies zum Thema »Beschleunigung« behalten trotz einzelner Gegenstimmen aus Historie und Linguistik weiter großes Gewicht. Vgl. Reinhart Koselleck: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt a. M. 1979; Wolf Lepenies: Das Ende der Naturgeschichte. Wandel kultureller Selbstverständlichkeiten in den Wissenschaften des 18. und 19. Jahrhunderts, München 1976. Die Bedeutung dieses Phänomens für die kritische Gesellschaftstheorie wird mit den herausragenden Arbeiten von Hartmut Rosa thematisch. Vgl. Ders.: Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne, Frankfurt a. M. 2005; Beschleunigung und Entfremdung, Berlin 2013. 20

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III. Intensiver und extensiver Zeittypus Die Sache mit dem »intensiven« und dem »extensiven Zeittypus« darf man sich nicht zu handfest vorstellen. Dieser Diskurs hat nicht duale Entitäten im Sinn, er benennt in erster Linie eine Methode, Gegenstände zu beschreiben und zu gliedern. Bei Adorno bleibt dieser methodische Aspekt allerdings ungeklärt. Einerseits markiert seine Rede von den Zeittypen eine Distanz gegenüber ontologischen Ansprüchen: »Die [Zeit-]Typen sind weithin unabhängig von den Formtypen« (BF: 135), heißt es einmal. Andererseits aber möchte Adorno um keinen Preis ein Verfahren etablieren, das das heterogene Erfahrungsmaterial unter leitenden Aspekten strukturiert und aus einer gemeinsamen Bezugsgröße zu begreifen erlaubt. 23 Er neigt dazu, den »freien, ungegängelten […] Gedanken« (GS 10/2: 468) und die methodologische Reflexion entweder zu einem Gegensatz auseinanderzuzerren oder eine Vorstellung von der »Sache selbst« zu beschwören, aus der die wahre Methode herausspringt wie Athene aus dem Kopf des Zeus. Auch darum lesen sich seine Notizen zuweilen, als ließen sich im Namen des Typs eben doch ganze Werke beschreiben. Aber auch wenn sich die Typen aus vielen qualitativen Elementen zusammensetzen, bleiben sie das eine, und die Werke, deren Verständnis sie ermöglichen sollen, das andere. Der extensive Typ entsteht aus der Erfahrung, dass der intensive Typ in sich gebrochen ist, ein unmögliches Unterfangen darstellt, das den absoluten Anspruch, den es erhebt, nicht einlösen kann. Der intensive Typ steht für den Fluchtpunkt einer Einheit der vielen Zeitperspektiven, während der extensive Typ umgekehrt die Vielfalt, vielleicht auch den zerstreuenden Raumbezug des Temporalen gegen den Zwang zur Vereinheitlichung vertritt. Wo der intensive Typ die Differenz der Modi (V-G-Z) final zu überformen, im Grunde Vergänglichkeit »abzuschaffen« sucht, weil er sie »idealistisch« als Ursprung allen Mangels und Ungenügens erfährt, will der extensive Typ »hier bleiben« und »gut materialistisch« frei werden für den Vorrang der Zeit vor dem, was wir mit und in ihr machen. Der intensive Der Idealtypus wird »gewonnen«, so Webers berühmte Definition, »durch einseitige Steigerung eines oder einiger Gesichtspunkte und durch Zusammenschluß einer Fülle von diffus und diskret, hier mehr, dort weniger, stellenweise gar nicht, vorhandenen Einzelerscheinungen, die sich jenen einseitig herausgehobenen Gesichtspunkten fügen, zu einem in sich einheitlichen Gedankengebilde.« (Weber: »Die Objektivität sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis« [Anm. 1]: 191)

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Typ strebt eine reflexive Transparenz im Ganzen an, er will die Ereignisse, die sich in ihm abspielen, restlos als eigene Momente begründen können. Beim extensiven Typus ist es dagegen so, dass der Musik ein Ursprung oder ein ursprüngliches Element vorausgeht, das da ist, aber dunkel bleibt, sich nicht rational begründen lässt, weil es erst im Rücken solcher Begründungsversuche existieren kann. Daraus ergeben sich oft kontingente, prosaische, parataktische, zuweilen fast improvisatorische Zeitfolgen. Der intensive Typ funktioniert nach dem Modell komprehensiver Rationalität. Auch wenn man mit dem Vergleich Beethoven vs. Hegel behutsam umgehen muss, wäre doch zu sagen, dass der Satz aus der Schädellehre der Phänomenologie des Geistes, dass »der Geist um so größer ist, aus je größerem Gegensatze er in sich zurückkehrt« 24, dass dieser Satz Beethovens intensiven Typ nicht eben schlecht trifft. Vermag dieser doch Aspekte der Zersplitterung, Fragmentierung und des episodischen Zerfalls in sich zu integrieren, ohne mit sich in Widerspruch zu geraten. Daran gemessen fungiert der extensive Typ mehr als Sammelname für musikalische Zeitgestalten, denen das komprehensive Element fehlt. Weder aber ist der extensive Typ bloß eine Abweichung vom intensiven, noch, auch wenn dieser Eindruck manchmal nicht zu vermeiden ist, eine prinzipielle Alternative zu diesem. Noch einmal: Hier stehen sich Denkmodelle gegenüber, Idealtypen, keine individuellen Werke, jedenfalls zunächst nicht. Kein Werk entspricht dem einen oder dem anderen Typ in Reinform, die Überschneidungen und Überlagerungen sind dafür zu zahlreich. Allerdings sind die Typen so konstruiert, dass sie eine Fülle verschiedenartiger Zeitgestalten zu ordnen vermögen. »Intensive Zeit« ist nicht zu reduzieren auf ein Vorwärtsdrängen um jeden Preis, das Lücken, Umwege, Unterbrechungen und Retardierungen ausschließt. Es gibt bei Beethoven Formen von obsessiver Gradlinigkeit wie den ersten Satz der V. Symphonie oder den der Appassionata. Dabei handelt es sich aber um extreme Fälle des Typs und nicht um paradigmatische Ausprägungen. Selbst der erste Satz der V. Symphonie kennt die Zäsur des Oboensolos, das die Dichte des motivisch-thematischen Diskurses unterbricht. In seinem Drang

Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Phänomenologie des Geistes, Frankfurt a. M. 1979 (Theorie Werkausgabe 3): 257.

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nach Abweichungen vermag der intensive Typ die Verflüssigung architektonischer Vorgaben so weit zu treiben, dass Formteile wie Introduktion, Themenexposition, thematische Entwicklung, Überleitung, Durchführungsbeginn und Repriseneintritt nicht mehr eindeutig identifizierbar sind, sondern als Funktionen einer organisierten Mehrdeutigkeit ineinander übergehen, ohne dass der Typus als solcher, seine Überbietungsdynamik wie deren »Einstand«, suspendiert wäre. 25 Besonders eindrucksvoll belegt der erste Satz der Kreutzer– Sonate op. 47, dass die intensive Zeit extensive Episoden, man könnte auch sagen: inszenierte Abbrüche des Prozesses, Inseln, »Blicke in die Ferne« je nachdem braucht – und dass Beethoven dies alles um der Verdichtung und Dynamisierung des Ganzen willen vornimmt. Scheinbar lässt sich die Form hier gegen Ende ablenken, kommt ins Trödeln, statt vorwärts zu drängen, erweitert die Coda und beginnt scheinbar eine zweite, die das Finale weiter hinauszögert. Aber gerade die temporäre Sistierung des Fortgangs steigert die Intensität des Schlusses und erweist sich als der eigentliche Triumph komprehensiver Form.

IV. Reprise, Crux der Sonate Adornos Kritik der Reprise in Beethovens klassischen oder, wie es in den Fragmenten heißt, »intensiven« Werken ist, wie gesagt, allseits geläufig, aber nicht verstanden. 26 Daran ist der Autor nicht ganz unschuldig, hat er doch seine diesbezüglichen Überlegungen, respektive das Verhältnis ihrer inneren Widersprüche, nirgendwo eingehend dargelegt. Allerdings ist auch die professionelle Adornokritik nicht frei davon, der Doppeldeutigkeit seiner Analyse das Recht abzusprechen, das diese unzweifelhaft beanspruchen darf. Es klingt dann leicht so, als sei die Ambivalenz von Adornos Überlegungen ein Beleg dafür, dass er in seinen Ansichten schwanke oder über keine klaren Bewertungskriterien verfüge. Seine argumentative Spitze, Beethoven selbst bringe in seinen Sonaten und Symphonien eine basale Ambivalenz

Carl Dahlhaus hat das am Beispiel der d-moll-Sonate op. 31, 2 gezeigt. Vgl. Ders: Ludwig van Beethoven und seine Zeit (1987), in: Ders. Gesammelte Schriften 6, hrsg. v. Hermann Danuser, Laaber 2003: 11–251, hier 178–191. 26 Die wichtigen Stellen zur Reprise sind: GS 13: 211 ff., 241 f.; GS 14: 152, 417; GS 16: 612 f.; BF: 33, 39, 40, 75, 78, 87. 25

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zum Ausdruck, verschwindet aus der Analyse bzw. wird als Denkfehler auf das Verfahren des Autors zurückgewendet. Oder man bringt neuere Sonatensatztheorien gegen seinen philosophischen Ansatz auf, als könnten jene diesen widerlegen oder ersetzen. 27 Bei allem Recht, das diese Kritik für sich geltend machen kann, übersieht sie die philosophische Pointe: Adorno versteht die Reprise als den Ort, an dem die Sonatenform über sich hinausgeht und Konflikte freilegt, die einer immanenten Strukturanalyse verborgen bleiben – müssen. Seine These lautet: Die Reprise ist die »Crux der Sonatenform« (GS 13: 241). Sie macht »das seit Beethoven Entscheidende, die Dynamik der Durchführung, rückgängig« (GS 13: 241) und beschwört inmitten der Zeit ein statisch Gleiches, das diese aufheben soll. Den Widerspruch beider Momente versucht der Komponist, durch ein Kunststück über dem Abgrund zu lösen: »[I]m fruchtbaren Moment des Reprisenbeginns präsentiert er das Resultat der Dynamik, des Werdens, als die Bestätigung und Rechtfertigung des Gewesenen, dessen, was ohnehin war.« (GS 13: 241) Die Behauptung, die Reprise sei ein invariantes Relikt der Form (BF 78; GS 16: 612), mutet prima vista widersinnig an. Macht Beethoven nicht das Gegenteil? Wird die Reprise nicht in hohem Maße dynamisiert, wenn sie sich als Konsequenz des Prozesses der Durchführung, mehr noch: als extrem verdichtete Erscheinung des Ganzen zu erkennen gibt? Immerhin wiederholt sie die Exposition ja nicht »einfach« (das tut sie auch bei Mozart und Haydn nicht!), sondern bringt eine Fülle nichtidentischer Prozesse in Gang, bei denen z. B. die Coda zur zweiten Durchführung gerät. Man braucht Adorno aber kaum darüber zu belehren, beschreibt er doch selbst beide Tendenzen (GS 14: 152; GS 13: 241): Auf der einen Seite ist die Reprise für ihn eine identitätsstiftende oder identitätssichernde Größe, die auf Überschreitung der Zeit setzt. Sie ist ein Ereignis in der Zeit und zugleich der inszenierte Grund ihrer Aufhebung. Adorno ist kein punktueller Konstruktivist. Er vertritt emphatisch einen materialen Formbegriff (GS 14: 152) und weiß, dass sich die »Zeitverhältnisse« gegen das Prinzip »durchsetzen und dem, was auf dem Papier als Identisches steht, einen wesentlich veränderten Stellenwert verleihen« können (GS 14: 152). 28 Man könnte fraVgl. z. B. Hinrichsen: »›Es wäre sonst alles, auch die ›Klassik‹, anders verlaufen‹« (Anm. 9): 227 ff. 28 »Der Angriffspunkt einer autonomen, rein aus der Sache aufsteigenden, jeder An27

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gen: Was denn nun? Verkörpert die Reprise das Identische oder verkörpert sie es nicht? Ragt sie wie ein Monolith in den Prozess hinein oder ist sie dessen Produkt? Aber genau eine solche Alternative bestreitet Adorno. Der Nervenpunkt ist für ihn nicht das eine oder das andere, sondern der Konflikt beider im »Einstand des dynamischen und statischen Moments« (GS 14: 417), der offenen Zeit, die der Zukunft entgegendrängt, und ihrer so genannten zeitlosen Aufhebung. Zu beachten ist: Die Idee der Reprise bewertet Adorno durchaus zustimmend. Sie ist »das zu sich selbst Zurückkehren, die Versöhnung« (BF: 32) der Spannungen. 29 Als Integrationsprinzip hat sie einen »höchst positiven Sinn« (BF: 40). Bei Mozart und Haydn leistet sie, so stellt es sich dem Philosophen dar, einen spielerisch bewegten Ausgleich zwischen der Mannigfaltigkeit der Ereignisse und der konstruktiven Einheit der Form. Bei Beethoven hingegen wird sie zum Problem, weil er einen Anspruch erhebt, der sich nicht mehr ausgleichen lässt. Das geht nicht gegen die innovative Leistung dieses Formteils, es stellt vielmehr seine Kollision mit dem zeitlichen Prozess in den Mittelpunkt. Just da, wo sich die Zeit in Richtung einer offenen Zukunft ausbildet, steht ihr die Reprise als hemmendes Prinzip entgegen. Sie wird im Kontext eines Neuen generiert, aber ihre gezielte Inszenierung zum Prinzip stößt mit der Dynamik dieser Innovation zusammen. Erst wenn die Reprise zum Mündungsziel eines progressiven Durchführungsprozesses avanciert ist, wird sie »unmöglich« (GS 16: 612), will sagen: muss sie als Pointe weiträumig vorbereitet, arrangiert, ja erzwungen werden. Denn erst dann brechen der Wille zum Neuen und die vorgegebene Ordnung, vor der jedes Neue zum leihe ledigen Form war die Reprise. Mit ihr ragt in die konstitutive zeitliche Musik ein zuinnerst zeitfremdes […] Moment hinein. […] Die Reprise Beethovens bedarf innerhalb der freigesetzten, im strengsten Sinn thematischen Zeit immer erst ihrer Legitimation. Der Eintritt des Gleichen nach einer Dynamik, die über Wiederholungen hinausdrängt, muß seinerseits von ihrem Gegenteil, der Dynamik, motiviert werden. Deswegen sind die großen Durchführungen der dem Geist nach eigentlich symphonischen Sätze Beethovens fast stets auf die Wendestellen, den kritischen Moment des Reprisenbeginns angelegt. Weil die Reprise nicht mehr möglich ist, wird sie zum tour de force, zur Pointe.« (GS 16: 612) 29 Form ganz ohne Reprise kann Adorno sich nicht vorstellen. Noch die »Utopie der Musik, die offener und irreversibler Zeit«, brauche, so sagt er, ein Moment des Festen, Beharrenden: »Alle musikalische Form, gleichgültig mit welchen Mitteln sie umgeht, involviert in erweitertem Sinn Reprise; diese aber ist, noch in ihrer verstecktesten Gestalt, zu einem fast Unerträglichen geworden. Darauf stößt, wie auf ihre Grundschicht, die konsequent neue Musik.« (GS 16: 613; Herv. v. R. K.)

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Alten wird, auseinander. Die Reprise ist ein kalkuliertes Ereignis in der Zeit, das zugleich das Ganze soll repräsentieren können. Mit anderen Worten: Sie soll ein Unmögliches möglich machen. Aber den Riss zwischen der subjektiven Herstellung des Prozesses und seinem metaphysischen Sinn, will sagen: dem Inbegriff dessen, was sich nicht herstellen lässt, kann auch Beethoven nicht harmonisch auflösen. Nur ist das kein simples Scheitern oder bloße Ideologie, wie die Musikwissenschaftler gerne meinen. Die Reprise ist ein extremer Punkt, weil das Werk hier mehr als irgendwo sonst dazu genötigt wird, die Logik der eigenen Produktion in den Blick zu nehmen und so den konzeptuellen Zwang des Ganzen zu lockern. Was auf der einen Seite eine ideologische Pointe darstellt, ist auf der anderen eine Befreiung des Werks zum Bewusstsein seiner »Mache«. Ob der Repriseneintritt verschleiert oder verzögert oder (wie im ersten Satz der IX. Symphonie) als Katastrophe inszeniert wird, ist für Adorno nicht der ausschlaggebende Punkt, verweisen doch »alle« kompositorischen Lösungen auf das beschriebene Paradox der Grundaufgabe. Jedenfalls bei Beethoven. Mit Blick auf die unterschiedlichen Lösungen der Kompositionen ließe sich diese These natürlich mit dem Argument bestreiten, der Philosoph verallgemeinere vorschnell und werde der Vielfalt der Phänomene nicht gerecht. Der Einwand trifft zugegebenermaßen einen Punkt. Das Verhältnis von Pluralität und Einheit wäre genauer zu untersuchen, als es Adorno getan hat. Nur sollte man sich davor hüten, die spekulative Konstruktion unter Berufung auf die Vielfalt ihrer eigenen Gestalten zu entsorgen. Der Empirismus kann keine Antwort auf das Problem des Besonderen sein. Adornos Analyse des Reprisenbeginns des ersten Satzes der Neunten gerät besonders eindringlich (BF: 167 f.). Wenn die leeren Quinten, d. h. der Anfang an der Grenze zum motivischen Material, in der Reprise zur Klimax und als Klimax liiert mit dem Partikeln des Hauptthemas zu einer Gewaltapotheose auskomponiert werden, was soll diese denn anderes sein als ein geballter legitimatorischer Akt? Wir haben es mit einen offenen Prozess zu tun, gewiss, aber ebenso mit einem Sprung in den Anfang zurück, einem Triumph über die Zeit mit deren eigenen Mitteln, der die Zukunft in zukünftige Vergangenheit verwandelt. Das Resultat am Ende liegt im Anfang beschlossen. Was ursprünglich »wüst und leer« scheint, ist in Wahrheit Setzung und Konsequenz eines subjektiven Programms. Stellt aber die »Urdämmerung« bei Beethoven, anders als bei Bruckner, bereits 45 https://doi.org/10.5771/9783495808221 .

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den Bestandteil eines thematischen Gebildes dar, wird sie bei der Wiederkehr in der Reprise nicht allein zum Ziel der Durchführung, sondern auch zur Legitimation der im Anfang präsentierten Voraussetzung. Man könnte den Satz im Ganzen eine gebrochene Teleologie des Kreislaufs nennen. Gebrochen auch insofern, als der Einsatz der Reprise weniger aus einer Entwicklung als aus abrupter, situativer Kontingenz hervorgeht. So führt die Verarbeitung der Hauptmotive im II. Teil der Durchführung nicht direkt in den Höhepunkt, sondern verflüchtigt sich (T. 253 ff.) 30, um einem neuen Zerteilungsvorgang das Feld zu überlassen (T. 275 ff.). Dieser suspendiert die Reprise u. a. mithilfe von Seitensatzmaterial, das vom Ziel ablenkt, um dann, als ginge es plötzlich doch mit der Sanduhr zu Ende, kraft theatral crescendierender Hauptmotive den Entschluss zur Klimax in die Tat umzusetzen (T. 295 ff.). Pointiert gesagt: erst zögernder Aufschub, dann überstürzter Vollzug. Adorno erläutert diese formale Situation mit einer interessanten Metapher: »Es ist«, schreibt er, »fast wie Hamlet, der nach unendlich langen und ›durchgeführten‹ Vorbereitungen schließlich im letzten Augenblick, unfrei und unterm Zwang der Situation[,] planlos und gestisch das vollbringt, was als ›Entwicklung‹ sich nicht vollbringen ließ.« Er nennt diese Figur das »Formschema des gordischen Knotens.« (BF: 103) Nun kann strengen Sinnes von einer Analogie zwischen Beethovens Attacke mit Paukenwirbel und dem Mord Hamlets an Claudius keine Rede sein, zu groß sind die Differenzen von Material und Zeitrhythmik. Trotzdem trifft der Verweis auf den Wechsel von Ausweichen und Zustoßen einen zentralen Punkt: Bei Shakespeare wie bei Beethoven verdankt sich das Ziel der Ziele dem Zufall. Es ist keine Prozesskonsequenz, sondern ein momentaner Impuls (T. 295–338). 31 Die Taktzahlen im Folgenden nach der Urtextausgabe von Jonathan Del Mar, Kassel (u. a.) 22001. 31 Dass dieser Reprisenanfang auffallend häufig mit einer Gewalttat assoziiert wird (Krieg, Mord, Vergewaltigung usw.) ist im Kern eine Reaktion auf musikalische Prozesse. Man mag sagen, jede bildhafte Deutung, die sich für eine direkte Sinnwiedergabe hält, sei falsch. Einverstanden. Aber zuweilen trifft sie einen Punkt, man kann solche Ansätze nicht als schiere Konzertführersemantik abtun. Sicher liegt die Gewalt bei der Neunten nicht im konkreten Bild, sondern in einem Typus von Abstraktion, dem ganz unterschiedliche Bilder entsprechen können. Wir müssen von der Abstraktion zu den Bildern hin und von den Bildern, ohne sie zu vergessen, wieder in die Abstraktion zurück. Vgl. Nicholas Cook: »Musikalische Bedeutung und Theorie«, in: Musikalischer Sinn. Beiträge zu einer Philosophie der Musik, hrsg. v. Alexander 30

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Damit soll kein »Nachtprinzip« an die Stelle konstruktiver Vernunft in die Musik treten, sondern Kontingenz, Gewalt usw. von der Vernunft selbst her gedacht werden. So wenig sich diese rein aus sich konstituieren kann, so wenig fällt ein allmächtiger maligner »Wille« von außen oder unten über sie her. Das »Unmögliche« der Reprise bricht nicht wie ein Schicksal über die Symphonie herein, es ist vielmehr die Folge der extremistischen Rationalität, die Beethoven dieser Form zumutet. Die Konflikte, die eine positive Lösung torpedieren, ergeben sich aus der Konsequenz, mit der er die Idee der Sonate, respektive der Reprise verfolgt. Die Vernunft, die keine Grenze mehr kennt, enthält in sich schon das, was sie unterminiert. In der Kritik der Reprise zeigt sich deutlich, dass Adorno weder Dualist ist noch Monist, sondern ein Drittes jenseits dieses etablierten Gegensatzes. Das erste nicht, weil er die Motive des »Anderen«, die er von Schopenhauer, Kierkegaard, Marx, Nietzsche, wohl auch von Schelling aufnimmt, stets auf einen von Hegel inspirierten dialektischen Bildschirm projiziert; das zweite aber ebenso wenig, hat seine Immanenz doch stets eine Rückseite, über die sie nicht verfügt, obwohl oder gerade weil diese in ihr wirksam ist und die Möglichkeiten künstlerischer Objektivation einschränkt.

V. Zeitstrukturen im Erzherzogtrio Ein Aspekt des extensiven Typus ist, dass wir es bei ihm oft mit Werken von Beethoven zu tun haben, von denen früher in den Konzertführern zu lesen stand, sie stünden auf der Schwelle zur Romantik. Die Nähe des Erzherzogtrios zu Schubert ist nicht zu leugnen und relativ leicht auf Phänomene zu beziehen wie Kantabilität statt Entwicklungslogik, zuständliche Wirkungen statt prozessualer Strukturen, Klangbilder statt motivisch-thematischer Ökonomie. Nun haben diese Werke aber aus genau diesem Grund lange Zeit im Schatten des intensiven Typs gestanden. Sie galten als weniger bedeutsam, weil ihre Eigenart dem herrschenden Beethoven-Bild widersprach, das auf Logik, Struktur, Progression und thematische Abhandlung geeicht war. Adorno hat dieses Ideal verinnerlicht, aber klarer als Riemann Becker u. Matthias Vogel, Frankfurt a. M. 2007: 80–128, bes. 83 ff. zu Susan McClarys berüchtigter Deutung des Reprisenbeginns des Hauptsatzes der Neunten.

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und Schönberg gesehen, das es »nicht alles« ist und der extensive Typ mehr umfasst als eine Restgröße. Für Adorno sind die extensiven Kompositionen keine Nebenwerke, die hinter einem integralen Hauptdiskurs zurückträten, die Pastoralsymphonie so wenig wie das Harfenquartett op. 74, das Erzherzogtrio op. 97 oder die Violinsonate op. 96. Sie gelten ihm als Verkörperung kompositorischer Grunderfahrungen, die sich der intensiven Zeitform auch da nicht einfügen lassen, wo sie mit diastematischen Strukturen den eigenen Hang zum Trödeln und Verweilen latent unterfüttern (BF: 162). Die Analyse des ersten Satzes des Erzherzogtrios beginnt mit der Behauptung: »Die ganze Blickrichtung von Beethovens extensivem Typus ist die Erinnerung« (BF: 143). Versuchen wir uns dieser erst einmal dunklen These von verschiedenen Richtungen her zu nähern. Zunächst: Die Musik des extensiven Zeittyps gewinnt ihren Sinn nicht, wie die intensive, die Adorno auch die »klassische« nennt, in der kontrahierten Gegenwart des Ganzen, sondern in der Art, wie Vergangenheit sich in ihr zeigt. Auch im intensiven Typ ist Vergangenheit da. In ihm übernehmen die Elemente des Sonatensatzes retrograde Funktionen, die das Prinzip der Finalität so differenzieren, dass es sich erst in der erinnernden Wiederholung früherer Ereignisse und Zustände erfüllt und dergestalt seine Vorgeschichte erhält. Diese Perspektive einer Erinnerung eigenen Gewordenseins dürfte die primäre Funktion des Vergangenheitsaspekts im intensiven Typ ausmachen. Im Erzherzogtrio aber zeigt sich Vergangenheit nicht erst, wenn das Stück »fertig« ist und als »vollendete Zeit« (Hegel) des Ganzen sich zusammenschließt, sondern von Anfang an, mit dem ersten Akkord und vielleicht noch früher. Hier steht sie weniger als Systemprinzip denn als konkretes Phänomen oder Feld. Darum fängt sie auch oft genug wie neu an, wenngleich labil und mit Unterbrechungen. Die These, der ganze erste Satz des Erzherzogtrios sei im Erinnerungsmodus gehalten, erklärt sich in ihrer Zuspitzung durch die Opposition zum überbietungsdynamischen Maß des intensiven Typs. In ihm ist Vergangenheit Funktion einer Entwicklung, die alles Einzelne überholt. Wird diese atemlose Fortschrittsstruktur suspendiert, gewinnt Vergangenheit zwangsläufig eine neue Qualität. Ist die Musik nicht mehr strikt in einen finalen Prozess und eine elementaranalytische Dynamik eingebunden, kann sie weit mehr als zuvor Zeitcharaktere von retrospektiver Präsenz und Figurationen des Verweilens, Verlangsamens und Zeithabens generieren. Dass Erinnerung 48 https://doi.org/10.5771/9783495808221 .

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zur Kategorie des Ganzen avanciert, wie Adorno meint, ist damit nicht eo ipso gesagt. Aber es finden »Verschiebungen der musikalischen Präsenz« statt, die die Struktur der Zeit wesentlich prägen. Ist Erinnerung aus der Herrschaft eines lückenlosen Prozesses entlassen, kann sie sich als ein vergleichsweise autonomes, diskontinuierliches Geschehen ausbilden und wie von unten jeweils neu als Gegenwart wiederkehren. Sie ist dann momentanes Ereignis, aber auch atmosphärische Dauer. Sie steht für sich, d. h. für den Augenblick, in dem sie geschieht, sie verweist weder auf eine Vorgeschichte noch richtet sie sich auf Künftiges. Erinnerung ist in diesem Modell kein Akt der Reproduktion eines früheren Ereignisses, d. h. kein bedeutungsidentisches Souvenir, vielmehr die Erfahrung der Vormacht der Zeit über den Menschen. Zeit ist kein Medium mehr, das sich rational beherrschen lässt, sondern je schon »vor uns« da, so dass wir ihm nur in der einen oder anderen Weise entsprechen können. Auch bei Proust geht es nicht um einzelnes Vergangenes, um das Gebäck oder den Lindenblütentee, sondern um eine Präsenz von Vergangenheit, die nicht ich habe, sondern die mich hat. In dieser pathischen Grunderfahrung fallen zahllose Ereignisse von »früher« wie in eins und erweisen sich so als Novum – als eine Gegenwart, die in die verlorene Zeit blickt. Zeitliche Verschiedenheit existiert, aber der Akzent liegt auf dem Erinnerungsgeschehen jetzt und hier, nicht auf empirisch Erinnertem von ehedem. Erinnerung ist eine Kategorie der Präsenz, kein Modus von alten Dingen. Auch wenn Musik im Gegensatz zur Literatur die Differenz von Erinnerung und Erinnertem nicht kennt, spricht viel dafür, dass im ersten Satz des Erzherzogtrios präsentische Konstellationen im Mittelpunkt stehen, denen absente Momente eingeschrieben sind, die einen spezifischen Zeithorizont aufbauen. Häufig steht z. B. die musikalische Bewegung in diesem Satz still oder sie stockt, weil melodische Energien erschöpft scheinen und zu kunstvollem Leerlauf führen, und das schon nach acht Takten. 32 Wenn hier eine lineare Logik am Werk ist, dann eine, die den nächsten Vorgang dem unmittelbar Erklingenden zu entlocken sucht, statt planvoll Kontraste zu organisieren, Erwartungshaltungen zu enttäuschen und durch funktionale Vgl. Peter Gülke: »Kantabilität und thematische Abhandlung. Ein Beethovensches Problem und seine Lösungen in den Jahren 1806/1808«, in: Ders.: »… immer das Ganze vor Augen« (Anm. 8): 105–130.

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Relationen Dichte herzustellen. Diese Musik will nicht weit voraussehen, ihr Gedächtnis ist kein Speicherapparat, sondern ein labiler Bereich, sie setzt sich (unter durchaus klassischen Rahmenbedingungen wie z. B. der Wiederholung der Exposition) aus prosaischen, assoziativen Vorgängen und Figurationen zusammen. Gestalten mit kantabler Kraft genügen sich selbst, sie brauchen keine Fortsetzung, sondern fallen aus der Geschichte der Form heraus, was ebenso heißt, dass sie möglicherweise keine Form im Ganzen erzeugen können. Man könnte sagen, dass die lineare Weile in die Breite wächst und zur Fläche wird, vielleicht sogar zum Raum oder einer Art Raum. Treffend spricht Adorno vom »Um-sich-Blicken« (BF: 139). Man blickt um sich, wenn man verweilen möchte, nur dass Adorno hier ein Verweilen in der Zeit, einen vergänglichen Widerstand gegen das Vergehen anvisiert. Der Verlauf bleibt der Verlauf, als dieser ist er aber mehr eine instabile Unterschicht der Ereignisse als ein apriorisches Ordnungsprinzip, in dem die Musik Fuß fassen könnte. Das Kontinuum ist kein Verfügungsfeld, in dem sich ein Prozess gesichert entwickelt, sondern der mediale Horizont dessen, was kontingent geschieht. Zugleich aber sucht Beethoven, wie Adorno ihn versteht, noch aus den Mitteln dieser pathischen Grundstruktur Möglichkeiten der Negation jenes Vergehens zu kreieren, das er doch permanent darstellt. Die Frage, vor der Adorno steht, lautet: Was macht die Form des extensiven Typs aus, wenn der dialektische Prozess als Möglichkeit ausfällt, aber die Kantabilität, die individuellen Einfälle, die harmonischen Flächen, die Klangwirkungen und jene Ausdruckscharaktere, die mit Körpermetaphern beschrieben werden: Ermüdung, Weichwerden, Leersein, Atemholen usw. (BF: 145), wenn sie die Totale allein ebenso wenig bauen wie auskonstruieren können? Offenbar fehlt eine Gesamtperspektive, eine Zusammenschau der Probleme, der Details. Dieses Fehlende versucht Adorno mit der Rede von der Zeit zu fassen. Er betont, dass der extensive Stil die Zeit nicht aufhebt, sondern darstellt, sie nicht übersteigt, sondern sich ihr überlässt, »hier bleibt« (BF: 139) statt auf »Transzendenz« zu setzen. Weniger der »Einstand der Zeit als Bild des Endes von Vergängnis« ist dann das »Ideal von Musik« (GS 15: 187), sondern die Freigabe der Zeit als der Macht des Entstehens und Vergehens – im Sinne einer passivischen oder medialen Souveränität des Subjekts gegenüber dem, was stärker ist als es selbst (BF: 162, 163). Einmal heißt es, dass »dem Moment der abs50 https://doi.org/10.5771/9783495808221 .

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trakten Zeit in der Konstitution der Form größeres Gewicht zufällt als der Konstruktion« (BF: 136). Gemeint ist: Der Vollzug der Zeit ist innerhalb der Sonatenform nicht zu befrieden. Umgekehrt geht diese in der extensiven Erfahrung aber auch nicht auf. Das Neue ist: Zeit wird im Vollzug nicht nur dargestellt, sondern auch hervorgebracht. Sie geschieht performativ, d. h. unwiederholbar, statt als finales Objekt zu enden. Der extensive Typ ist emphatisch langweiliger als der intensive. An die Stelle der Überbietungsdynamik tritt bei ihm die Dauer als eigene formale und expressive Kategorie. »[Ä]hnlich wie im Roman« 33, lesen wir, werde das reine Vergehen zur Hauptsache. Ausschlaggebend sei »nicht der ›Einfall‹, der die Zeit füllt« (BF: 136), sondern die Entdeckung der Dauer, die ihm vorausgeht. Die Ereignisse kreieren diesen Horizont, als ob sie sich ihm zuwendeten, d. h. als ob er schon vor ihnen da wäre. In Bezug auf den ersten Satz des Erzherzogtrios spricht Adorno neben der Dauer, wie schon gesagt, von Erinnerung. Er tut das anhand dreier bedeutsamer Stellen: dem Anfang der Exposition, dem Seitensatz und dem Reprisenbeginn. Das Besondere des Anfangs lässt sich so beschreiben: Mit ihm fängt etwas an, das schon angefangen hat. Die erste Erscheinung des Hauptthemas gehört einer Bewegung an, die quasi stumm vorausgeht. Im Unterschied zum a-moll-Konzert von Robert Schumann geschieht das unscheinbar. Die Musik springt nicht, sondern schleicht sich in die Form ein. Sie beginnt wie zufällig, setzt keinen Anfang, begründet nichts. Die Zeit liegt vor dem Thema, das erklingt. Dieser Anfang zeigt aber auch, wie das Ganze von einer Doppelbödigkeit beherrscht wird, die seine technischen Elemente ebenso tangiert wie seine Ausdrucksgehalte. Nach Duktus und Setzweise ist das Hauptthema ein Gestus der Fülle, der durch die Vortragsbezeichnung piano dolce in die Ferne gerückt wird. Was in actu erklingt, zeigt sich als ein Abwesendes, sich Entziehendes, was Adorno mit dem schönen Bild zum Ausdruck bringt: »Wie wenn einer mit leiser Stimme Homer vor sich hinzulesen beginnt.« (BF: 138): zufällig, episo-

Adorno hat die These von der Zeit als »Welt ohne Transzendenz« aus der Romantheorie (!) des jungen Lukács übernommen. Bei August Halm dürften ihn dessen Überlegungen zur »Zeit als Weg« in Beethovens Pastoralsymphonie angezogen haben. Vgl. Georg Lukács: Die Theorie des Romans. Ein geschichtsphilosophischer Versuch über die Formen der großen Epik (1916), Darmstadt/Wien 1979: 107–113; August Halm: Von den zwei Kulturen der Musik (1913), Stuttgart 1947: 84 ff. 33

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disch, kaum mit voller Aufmerksamkeit und doch vom Objekt her so bedeutsam: »Es wird«, schreibt Adorno über die an das Thema anschließenden Takte, »eine Suspension des Fortgangs und der Einheit erzielt«, während »dichtester thematischer Zusammenhang gewahrt [ist]« (BF: 139). Der Superlativ im Nebensatz hat seinen Grund. Adorno will nicht allein dem extensiven Typ gerecht werden, sondern auch den motivisch-thematischen Diskurs ins Spiel zu bringen, um eine mögliche latente Beziehungsdichte denken zu können, falls die Lösung des Formproblems mit extensiven Mitteln doch nicht zustande kommt. Immerhin ist im thematischen Diskurs die Möglichkeit angelegt, das kantable Element einer auswendigen Oberfläche zuzuschlagen, der eine subkutane Komplexität motivischer Beziehungen gegenübersteht, in der am Ende doch wieder das eigentliche Formprinzip liegt. Aber auch wenn das für andere Werke teilweise zutreffen mag (wie z. B. für das Streichquartett op. 74 oder die Pastorale op. 68), für das Erzherzogtrio sind subthematische Strukturen dieser Art nicht zentral. Adorno deutet eine indirekte thematische Dichte an (BF: 138), wertet sie aber nicht zur Hauptsache um, sondern beschreibt sie der Sache nach als Funktion des extensiven Typs. 34 Das zweite Thema empfindet der Philosoph, wie er schreibt, als »sehr weit weg« (BF: 144). Das »Überdimensionierte, Weit-Weggehende – das Reisehafte im Epischen« (BF: 144) mache das Wesen des extensiven Typs aus, aber man müsse sich fragen, ob die zeitliche Entfernung, die da auf engstem Raum zurückgelegt werde, nicht zu groß gerate. In der Tat setzt das Thema ein wie ein Solo im Klavierkonzert, beinahe erwartet der Hörer eine ausgedehnte Klangfläche. Aber daran ist Beethoven nicht interessiert. Auf das »Solo« reagiert er lediglich mit einfachen Imitationen der Streicher, um nach scheinbar schlappen 8 Takten wieder zum Nachsatz des Hauptthemas und seinem auffüllenden Begleitmaterial zurückzukehren. Es ist, als ob sich erst ein weiter Horizont öffnete, der dann nach minimaler Wegstrecke in den Status quo ante zurücksinkt. Adorno kann sich übrigens nicht ganz entscheiden, wie er argumentieren soll: motivischthematisch, was der Passage sozusagen eine schlechte Note gäbe, oder im Sinne des extensiven Zeithorizontes, zu dem, wie er selbst ausErst in den 1970er Jahren kommt die Dimension des Subkutanen in der analytischen Beethovenforschung zum Tragen. Vgl. Carl Dahlhaus: Ludwig van Beethoven und seine Zeit (Anm. 25): 240–243.

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führt, Diskontinuität strukturell gehört. So oder so kommt das zweite Thema wie aus einer anderen Zeit. Sein Gestus ist keiner, der an etwas erinnert, vielmehr gibt er ein Bild der Erinnerung, das wie bei Schubert für sich steht und so abrupt in sich zusammenfällt, wie es aufgetaucht ist: ferne Größe als flüchtiger Einfall. Adorno scheint etwas irritiert davon, dass Beethoven hier von der zeitlichen Diskontinuität zur Exterritorialität fortschreitet, bedeutet das doch, dass weniger »klassisch« »das Moment der Anspannung das der Ermüdung […] zulässt«, sondern fast schon wie in der Romantik Ermüdung selbst »die Form sprengt« (BF: 145). Wie verhält es sich mit der Reprise? Adorno sagt, sie könne weder dramatische Klimax sein noch verschleiertes Resultat (wie in der Eroica) noch auch bloßer Nachvollzug einer konventionellen Norm, kein Höhepunkt einer Entwicklung und kein Garant von Gleichgewicht. Er meint sogar, »im Grunde« wisse man »im epischen [extensiven] Stil gar nicht, wie man wieder von vorn anfangen« (BF: 143) solle. Das leuchtet zunächst nicht ein. Gerade im epischen Stil könnte die Musik doch immer wieder neu anfangen, weil sie von überbietungsdynamischen Vorstellungen entlastet ist und sich gegen die leere Zeit nicht mehr prinzipiell behaupten muss. Vielleicht trifft Adorno aber insofern einen Punkt, als es in solchen Werken schwierig ist, die Reprise über ihren schlichten Ereignischarakter hinaus auf das Ganze der Form zu beziehen. »Die Reprise«, erklärt er, »muss unscheinbar sein, weil ja keine Dynamik zu ihr führt; sie muß eine gewisse Unverbindlichkeit haben und doch ganz dicht sein, weil sonst unrettbar der ungeheuer exponierte Formtypus zerfällt.« Sie muss wie zufällig »kommen« und doch eine Zäsur bilden. Bezeichnenderweise ist es wieder statt der Reflexionsfigur eine Körpermetapher, nämlich die des Atemholens, mit der Adorno den Repriseneintritt charakterisiert: die Geste des Erzählens: »Es ist«, heißt es im Text, »das Absetzen des Erzählers in der durchgehaltenen Einheit der langen Erinnerung. Die Reprise wird in diesem Stil zum ›Darauf-Zurückkommen‹, zum Eingedenken.« (BF: 143). Verständlich wird diese suggestive These vor dem Hintergrund der Durchführung. Dass eine Durchführung 96 Takte hat, ist für Beethoven nicht ungewöhnlich. Ungewöhnlich werden diese aber vor dem Hintergrund dessen, dass sie mit Durchführungsaktivitäten, wie wir sie kennen, wenig zu tun haben, weswegen Adorno ihnen den vielsagenden Titel »Durchführungswirkung« (BF: 143) verleiht und von einem »subtile[n] Betrug« spricht, »der hier allemal waltet« 53 https://doi.org/10.5771/9783495808221 .

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(BF: 144). An die Stelle motivischer Arbeit und Konfliktanalyse tritt quasi ein Special effect, bei dem der quantitative Umfang des Formteils Durchführung in einen modalen Zeitcharakter umschlägt. Zunächst wird der sonst so dynamische Part »zu einer Episode reduziert« (BF: 142), einer entspannten, fast tagträumerischen Folge von Ereignissen. Im Nachhinein aber türmt diese kontrollierte Improvisation eine Aura des Gewesenen auf, die sich auf den Repriseneinsatz überträgt und, wie Adorno glaubt, seiner Flüchtigkeit dezentes Gewicht verleiht. Die relevanten Aspekte der Durchführung sind die folgenden: Nach einer akkordisch phantasierenden Einleitung setzt in T. 107 eine melodische Figur des Cellos ein, die in etwa dem Vordersatz des Hauptthemas entnommen ist. Dass sie einen Takt später von der Violine aufgegriffen wird, gibt das Verfahren bis T. 130 vor: ein Herzeigen von Imitationen nicht im Sinne kontrapunktischer Arbeit, sondern als Spiel mit Figuren. Was Verarbeitung dergestalt mehr vorgibt als vollbringt, eignet sich umso besser zur Entfaltung harmonischer Weite und Ferne. In dezenten und doch mächtigen Schritten durchmisst der Abschnitt den Weg von Es-Dur nach D-Dur, funktional ein beachtlicher Abstand im Quintenzirkel, der durch Rückungen abgekürzt wird. In T. 132 mündet die besagte pseudoimitatorische Partie der Durchführung, die mit dem Vordersatzelement des Hauptthemas operiert, in ein zuständliches D-Dur von triolischen Klavierrepetitionen, in die hinein der thematische Nachsatz eintritt, zunächst im Cello, dann analog in G-Dur von der Violine. Er erklingt, ohne dass der Vordersatz weggeschnitten erschiene – und ohne eine Konsequenz zu erfordern. Er ist ein neues Ereignis, das dennoch wie »von weit her kommt«. Vergleichbar einem Ort, den man zum ersten Mal sieht, aber so wahrnimmt, als ob man, wie Peter Gülke es ausdrückt, etwas wiedergefunden hätte: ein objet trouvé, das am Weg liegt. 35 Darauf folgt in T. 143 ein Teil, der den Hörer ruckartig in einen anderen Zustand versetzt. Nach der atmosphärischen Weite und weichen Kontur des Mittelabschnitts ist eine Verdünnung des Satzes angesagt. Die Gestalten sind hart voneinander abgegrenzt, das Nachsatzelement des Hauptthemas erklingt im pizzicato und erneut im pseudoimitatorischen Spiel. Die Trillerkaskaden des Klaviers, welche immerhin 25 Takte umfassen, das eigenartig abgehobene Spiel mit 35

Vgl. Gülke: »Kantabilität und thematische Abhandlung« (Anm. 32): 119.

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Terzen-, Sext- und Oktavparallelen sowie die skalischen Figuren, an die sich jene Vorbereitungstakte zur Reprise anschließen, die Adorno so wichtig sind – man könnte das fast »geniales Geklimpere« nennen, eine Art Faulheit des Begriffs, die wenig anderes tut als die eigene Zerstreuung auszubreiten. Aber just diese Faulheit der Durchführung: die akkordische Phantasie zu Beginn, die simulierte Imitatorik, die harmonischen Flächen mit dem objet trouvé, das »Klimperfeld«, interpretiert Adorno als Aufbau eines Vergangenheitsmodus, der mit dem Repriseneinsatz seine Spitze erklimmt, nur eben nicht als Resultat, sondern als Wirkung. Diese Reprise ist ihm Antwort auf eine additive Schichtung musikalischer Flächen, die in einem komplexen Zeitraum führt. Im unmittelbaren Vollzug der Durchführung existiert dieser Effekt nicht, er entsteht, so lesen wir, »erst von rückwärts« im Sinne der rhetorischen Frage: »Wie viel muß doch, nach all dem, geschehen sein.« (BF: 143) Der Repriseneinsatz wird über zehn Takte hinweg vorbereitet und verdunkelt. Was in T. 181 mit der Geste eines Kadenztrillers einsetzt, der von seinem tonikalen Ziel, in das er regulär drängen müsste, entfremdet scheint, ist in Wahrheit eine sublime Suspense-Partie, bei der sich das motivische Element des Quartfalls sich in einstimmigen Wiederholungen und Versetzungen ergeht, so dass eine dominantische Funktion gar nicht wirksam werden kann – das genaue Gegenteil einer zielgerichteten Rückleitung also. Im weiteren Verlauf dieses Abschnitts werden dessen Bewegungswerte gleich zwei Mal verdoppelt (4tel zu 8tel zu 16tel), während die Dynamik sukzessiv zurückgenommen wird, bis es schließlich in Gestalt einer langsamen Trillerfigur zu jener zweitaktigen tonikal-dominantischen Funktionsmischung kommt, bei der das Cello einen Takt vor dem Repriseneinsatz den Grundton von B-Dur erreicht und diesen Einsatz so diskret wie zwingend gestaltet. So jedenfalls sagt es Adorno. Ganz überzeugen kann seine Argumentation nicht. Es bleibt nämlich die Frage, ob eine extensive Reprise überhaupt möglich ist, ob es sich nicht um ein hölzernes Eisen handelt. Ist Reprise nicht per definitionem intensiv? Kollidiert die Sonatenform nicht als solche, als Denkprinzip von Entwicklung und Autonomie, mit der Erfahrung modaler Zeit? Unterscheidet sich der Aufschub, den Beethoven im Erzherzogtrio so minutiös auskonstruiert, im Grundsatz von dem »verfrühten« Horneinsatz an der analogen Stelle der Eroica? Was ist das für ein Reprisenbeginn in op. 97, 55 https://doi.org/10.5771/9783495808221 .

Richard Klein

dessen Unscheinbarkeit erst durch raffinierte Verzögerung und Verschleierung zustande kommt? Haben wir es in Wahrheit nicht mit einer Apotheose auf leisen Sohlen zu tun, einem Triumph über die Zeit, der lediglich nach innen gewendet ist? Die Vergangenheit, die der Durchführung hier, wie Adorno mit Recht schreibt, post festum als Horizont zuwächst, setzt die Idee der Reprise als progredierende Rückkehr nicht außer Kraft. Jener Anspruch mag widersprüchlich sein oder scheitern, aber er bleibt ein Kriterium. Das »Absetzen des Erzählers«, der »lange Blick der Erinnerung« sind einprägsame Metaphern der Situation. Aber beide sehen darüber hinweg, dass extensive Zeiterfahrung und intensive Sonatenform an diesem Punkt auseinander weisen. Diesen Riss im Konzept hat Adorno nicht im Visier seiner Analyse. Die Exposition lässt sich in die Weite projizieren, die Durchführung als atmosphärisches Spiel von Klangschichten gestalten, aber die Idee der Reprise ist mit einer narrativen Funktion unvereinbar. Dem Aufschub, der ihren Einsatz vorbereitet, ist eine abstraktive Qualität zu eigen, die sich nicht erzählen lässt, selbst wenn dem Gestus, der Wiederkehr und Neustart zusammenzufassen sucht, ein epischer Zug anhaften mag. Insofern behält Adorno recht: Die Reprise ist die Crux der Form, im einen wie im anderen Fall. An anderer Stelle lesen wir: »Bei Beethoven schafft die Gegenwart in der Form die Vergangenheit« (BF: 165). Man könnte auch sagen: Die Präsenz stiftet das Gedächtnis, dieses entsteht inmitten jener als körperliches wie rationales Medium, wenn man will: als Zeitfühlorgan. Nicht die Reflexion der Vorgeschichte und deren Einholung in die eigene Selbstmacht ist das Thema, sondern die Erfahrung einer Vergangenheit, die »vor« dem Subjekt da ist und in diesem Sinn basale Erinnerung stiftet. Zeit ist keine monistische Größe, die nur eine Richtung kennt, sondern ein »Raum« mit multidirektionalen Kategorien und einem steten Ineinander von Präsenz und Absenz, Gegenwart und Gedächtnis. Mit Erinnerung »im Ganzen« meint Adorno nicht Erinnerung an etwas, keine Reproduktion von Erlebnissen, sondern eher das, was Heidegger im Sinn hat, wenn er sagt, Dasein ist seine Vergangenheit. Das Vergangene ist vergangen, aber die Vergangenheit ist da, intellektiv wie physisch, und Beethovens Musik macht ihr Dasein erfahrbar, auch wenn sich die Idee der Reprise damit nicht in Übereinstimmung bringen lässt. Heißt das, dass Absenz immer entweder vergangen oder zukünftig ist? Könnte sie nicht auch eine Bestimmung des Raumes sein? Was aber wäre Raum in der Musik, wenn er mehr sein soll als eine 56 https://doi.org/10.5771/9783495808221 .

Die Gesellschaft im Werk und das Problem der Zeit

Zeitfunktion oder Zeitmetapher? 36 Vielleicht kann man Adornos Überlegung provisorisch so zum Ausdruck bringen: Im Erzherzogtrio macht Beethoven den Verlauf der Musik für die »verlorene Zeit« durchlässig. Er wird ihm zur Gegenwart eines qualitativen Zusammenspiels der Modi jenseits von Finalität und Vorgeschichte. Er wird zum Medium synchroner Beziehungen und bleibt doch ein wie immer instabiles, in die Breite gehendes Kontinuum. Nicht ohne Grund fällt der Ausdruck »Zeit als Glück« (BF: 163). Er steht für das Entdecken temporaler Modi im Zeichen eines Verweilens oder, wie wir heute sagen würden, »Entschleunigens«, das sich von intentionaler Vergangenheits- und Zukunftsreflexion gelöst hat, um in einer Gegenwart aufzugehen, die pathisch ihre Vergangenheit ist. 37 Ob und wie sich das als eine Gestalt des »Nachlebens der Revolution« verstehen lässt, muss hier offen bleiben.

Vgl. Christian Grüny: Kunst des Übergangs. Philosophische Konstellationen zur Musik, Velbrück 2014, Kap. II und IV. Auch hier verblüfft wieder die Nähe von Charles Rosen und Adorno. Wie Adorno in den Essays zu Schubert und zum späten Beethoven thematisiert Rosen in seinem Buch über die Romantik Raum als Landschaft und Landschaft als Erinnerung. Vgl. das Kapitel III »Mountains and Song Cycles« in: The Romantic Generation (Anm. 2): 116–236, bes. die Analyse von Beethovens An die ferne Geliebte: im Abschnitt »Music and Memory«: 166 ff. 37 Vgl. Michael Theunissen: »Freiheit von der Zeit. Ästhetisches Anschauen als Verweilen«, in: Ders.: Negative Theologie der Zeit, Frankfurt a. M. 1991: 285–298. 36

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Tonalität, Zeit, Subjektivität Überlegungen zu Theodor W. Adornos Beethoven-Fragmenten Jürgen Stolzenberg

Bereits ein kursorischer Blick in Theodor W. Adornos BeethovenFragmente 1 genügt, um zu sehen, dass die Begriffe Tonalität, Zeit und Subjektivität das theoretische Zentrum darstellen, auf das Adornos Überlegungen zur Musik Beethovens ausgerichtet sind. »Beethoven verstehen«, so lautet eine Notiz aus dem Jahre 1940, »heißt die Tonalität verstehen«, und weiter heißt es: »Sie liegt nicht nur als ›Material‹ seiner Musik zugrunde, sondern ist sein Prinzip, sein Wesen« (BF: 82). 2 Welche eminente Bedeutung der Kategorie der Zeit zukommt, demonstrieren die Beethoven-Fragmente in ausgezeichneter Weise. Neben der innovativen Unterscheidung zwischen einem intensiven und einem extensiven Zeittyp ist die Idee vom Einstand der Zeit zentral. 3 Subjektivität schließlich ist das leitende Thema der Beethoven-Fagmente. Beethovens Werk erscheint in der Sicht Adornos als Darstellung des Schicksals von Subjektivität in der Moderne. Es durchmisst exemplarisch den Weg, der von der Selbstbehauptung des autonomen Subjekts bis zu dessen Suspension im Spätwerk führt. Mit den Stichworten Tonalität, Zeit und Subjektivität sind Themenfelder bezeichnet, die in einem engen wechselseitigen Verweisungszusammenhang stehen. Dass, wie Adorno notiert, »die ganze Arbeit […] eine über die Tonalität werden« (BF: 82) muss, schließt den Gedanken ein, dass der Gehalt der Musik Beethovens aus der Die bisher umfassendste und gründlichste Untersuchung zu Adornos BeethovenFragmenten ist die Arbeit von Nikolaus Urbanek: Auf der Suche nach einer zeitgemäßen Musikästhetik. Adornos »Philosophie der Musik« und die Beethoven-Fragmente, Bielefeld 2010. 2 Wenn hier und im Folgenden von Tonalität die Rede ist, ist stets das System der Dur-Moll-Tonalität gemeint. 3 Zum intensiven und extensiven Zeittyp vgl. vor allem BF: 135 ff. sowie die Analyse des extensiven Zeittyps in Beethovens sogenanntem Erzherzogtrio op. 97, ebd.: 138 ff.; vgl. hierzu den Beitrag von Richard Klein im vorliegenden Band. Zum Wort vom »Einstand der Zeit« vgl. GS 15: 187 u. unten Anm. 11. 1

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Tonalität, Zeit, Subjektivität

besonderen Art und Weise begriffen werden kann, in der die Tonalität kompositorisch in Einsatz gebracht wird. Das findet seine Bestätigung in der Bemerkung, dass die Leistung Beethovens darin bestehe, »allen musikalischen Sinn aus der Tonalität zu entwickeln« (BF: 83). Da das Fundament des Systems der Tonalität in den Regeln der Verbindung von Akkorden besteht und diese sich im Medium der Zeit realisiert, ist Tonalität das Prinzip der Organisation der Zeit, in der die Musik Beethovens sich realisiert. Dass Adornos Begriff von Tonalität mehr als das System der Akkordverbindungen umfasst, wird zu zeigen sein. Wenn der besondere Umgang mit dem System der Tonalität das Prinzip ist, aus dem der Sinn der Musik Beethovens erschlossen werden kann und wenn daraus auch die besondere Organisation der Zeit zu verstehen ist, dann muss auch der Organisation der Zeit eine für das Werk Beethovens aufschlussreiche Bedeutung zukommen. Damit ist denn auch das dritte Themenfeld, das Themenfeld Subjektivität, in den Blick gebracht. Ist nämlich das Prinzip Subjektivität das leitende Thema der Beethoven-Fragmente, dann ist klar, dass Tonalität und die tonale Organisation der Zeit die Bedingungen sind, unter denen das Prinzip Subjektivität sich als Gehalt der Musik Beethovens realisiert. Tonalität, Zeit und Subjektivität sind somit gleichsam die Achsen des Koordinatensystems, aus deren funktionalem Zusammenhang Adorno den Gehalt der Musik Beethovens zu begreifen sucht. Der Frage, wie der funktionale Zusammenhang von Tonalität, Zeit und Subjektivität als solcher genauer zu verstehen ist, ist Adorno nicht nachgegangen. Sie hätte zu einer eigenständigen theoretischen Begründung der konzeptuellen Grundlagen des Beethoven-Projekts geführt. Neben dem Werkstattcharakter der Beethoven-Fragmente mag der Grund dafür in der Abneigung gegenüber einem vermeintlich phänomenfremden Räsonnement zu sehen sein, das der Konkretion der Sache nicht gerecht zu werden vermöchte. Ein solches Bedenken ist problematisch. Im Folgenden soll versucht werden, anhand einer phänomenologischen Überlegung das ausgesparte theoretische Fundament zumindest im Umriss nachzuliefern, ohne die Sache, um die es geht, die Musik Beethovens, und das, was Adorno dazu zu sagen hat, aus dem Auge zu verlieren. 4 Auf die diskussionsbedürftigen musiksoziologischen und gesellschaftskritischen Aspekte von Adornos Beethovendeutung und auch auf Adornos Thesen zum Verhältnis von Beethovens Werk zur Philosophie Hegels kann im vorliegenden Rahmen

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I.

»Sekunden und Dreiklänge sind die Modi, in denen das Prinzip der Tonalität sich verwirklicht.«

Wenn Adorno in einer Notiz »Sekunden und Dreiklänge« als »die Modi« bezeichnet, »in denen das Prinzip der Tonalität sich verwirklicht« und »[e]rst ihre Einheit […] das System der Tonalität« (BF: 85) ausmache, dann entspricht dem noch vor einer Deutung ihrer expressiven Funktion, die Adorno daran anschließend erwägt, der musiktheoretische Sachverhalt der akkordharmonischen Grundfunktionen und die in der Kadenz wirksame Leittonfunktion. Zu fragen ist daher, auf welche Weise die harmonischen Grundfunktionen, die dem System der Tonalität zugrunde liegen, sich verwirklichen. Geht man zum Zweck der Analyse von der von Riemann formalisierten Sequenz Tonika-Subdominante-Oberdominante-Tonika aus, und geht man weiter von der einfachen und unkontroversen Tatsache aus, dass diese Sequenz sich dadurch verwirklicht, dass sie von einem wahrnehmenden Subjekt erlebt wird – auf die Instanz eines musikalisch wahrnehmenden Subjekt rekurriert Adorno an zahlreichen Stellen seiner Überlegungen –, dann lässt sich sagen, dass diese Akkordfolge nicht etwa mit dem Bewusstsein der Anwendung einer allgemeinen harmonietechnischen Regel, sondern konkret als Folge eines Spannungs- und Entspannungsverhältnisses erlebt wird. 5 Dem Spannungserlebnis entspricht der Übergang von der Konsonanz des Tonika-Akkords – man könnte auch sagen, der Konsonanzphase – über die spannungsaufbauende Subdominante zur Dissonanz bzw. Dissonanzphase des Oberdominant-Akkords. Die Auflösung der Spannung erfolgt im Übergang bzw. in der Rückkehr zur Tonika bzw. Tonikaphase. Der zweite Schritt ergibt sich aus der Frage, wie der einheitliche Zusammenhang dieser Erlebnisweisen möglich ist. Hierzu ist das nicht eingegangen werden. Vgl. dazu Guido Kreis: »Die philosophische Kritik der musikalischen Werke«, in: Adorno-Handbuch, Leben – Werk – Wirkung, hrsg. v. Richard Klein, Johann Kreuzer u. Stefan Müller-Doohm, Stuttgart/Weimar 2011: 74–85; Friedrich A. Uehlein: »Beethovens Musik ist die Hegelsche Philosophie: sie ist aber zugleich wahrer …«, in: Mit den Ohren denken. Adornos Philosophie der Musik, hrsg. v. Richard Klein u. Claus-Steffen Mahnkopf, Frankfurt a. M. 1998: 206–228. 5 Zum Folgenden vgl. Jürgen Stolzenberg: »Über das Hören von Melodien. Überlegungen zu einer Phänomenologie des musikalischen Zeitbewusstseins«, in: Lebenswelt und Wissenschaft, hrsg. v. Carl Friedrich Gethmann, Hamburg 2010: 1327–1339.

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Tonalität, Zeit, Subjektivität

Folgende zu sagen: Der Übergang aus der Tonikakonsonanz in die Oberdominant-Dissonanz kann seine spezifische Erlebnisqualität, das Erlebnis einer Spannung, nur dadurch erhalten, dass die Kontinuität mit der ersten Phase, der Konsonanzphase, im Zuge der Wahrnehmung gewahrt bleibt. Ohne diese Kontinuität könnte der Übergang nicht als Spannung, und ohne sie könnte auch die Rückkehr zur Tonikakonsonanz nicht als Auflösung der Spannung erlebt werden. Diese Kontinuität ist nun aber nicht etwas, das gegeben wäre wie ein Klang, der wahrgenommen wird; sie besteht vielmehr nur im Übergehen von der einen zur anderen Phase; und dieses Übergehen ist seinerseits nicht etwas, das gegeben wäre, sondern das erzeugt wird. Das, was diese Kontinuität im Übergehen von der einen Phase zur anderen zustande bringt und dadurch den Einheitszusammenhang der Phasen erzeugt, muss offenkundig eine über die Phasen hinweg kontinuierlich übergehende und zugleich einheitsstiftende intentionale Aktivität sein. Eine solche kontinuierlich übergehende und im Übergehen zugleich einheitsstiftende intentionale Aktivität ist dem musikalisch erlebenden Subjekt zuzuschreiben. Sie liegt der Wahrnehmung der Einheit der harmonischen Grundfunktionen und ihrer Erlebnisqualitäten zugrunde. Da dieses Übergehen ein in der Zeit sich erstreckender Vorgang ist, der von einem Subjekt in der beschriebenen Weise erzeugt und erlebt wird, kann von einem funktionalen Zusammenhang von Zeit, Subjektivität und Tonalität gesprochen werden. Mit Bezug auf die einheitsstiftende Aktivität des musikalischen Subjekts und dessen Verhältnis zur Zeit ist aber noch auf einen weiteren Punkt aufmerksam zu machen. Sofern das musikalisch erlebende Subjekt sich über die qualitativ differenten Phasen der Sequenz der Akkorde hinweg durchhält und diese Sequenz als einen einheitlichen Zusammenhang wahrnimmt, müssen ihm neben der präsentischen Wahrnehmung die Fähigkeiten zukommen, die Adorno seinerseits als Erinnerung und Erwartung beschrieben hat. Es sind die Fähigkeiten, die Edmund Husserl in Erinnerung an Augustinus’ Theorie des Zeitbewusstseins im XI. Buch der Confessiones in seinen Analysen des inneren Zeitbewusstseins bekanntlich als Retention und Protention beschrieben hat. Sie bestehen im Falle der Akkordsequenz darin, dass ein Akkord, der als ein eben präsent gewesener Akkord repräsentiert wird, nicht aus dem Wahrnehmungsfeld heraus tritt, sondern gleichsam festgehalten und auf den jetzt wahrgenommenen Akkord als soeben vergangen bezogen wird; dem entspricht, insbesondere mit 61 https://doi.org/10.5771/9783495808221 .

Jürgen Stolzenberg

Blick auf die Leittonfunktion, die Erwartung des Eintritts eines nachfolgenden Akkords. Damit verbunden sind die Erlebnisweisen der verschiedenen Spannungs- und Entspannungsverhältnisse. Das musikalische Subjekt hält sich aber nicht nur de facto über die qualitativ differenten Phasen der Akkordsequenz hinweg durch. Mit dem Erreichen der Tonika wird der Sachverhalt, dass das Subjekt sich über die Erlebnisphasen hinweg durchhält, harmonietechnisch zum Ausdruck gebracht und für es auch erlebbar gemacht. Indem mit der Rückkehr zur Tonika die Akkordfolge ihren Ausgangsakkord wieder erreicht, so lässt sich sagen, wird der Sachverhalt musikalisch manifest und mit der Auflösung der Spannung zugleich erlebnishaft realisiert, dass der aktual wahrgenommenen Sequenz eine einheitliche Funktion zugrunde liegt, die von ein und demselben Subjekt ausgeübt wird. Das harmonische Grundgesetz der Tonalität erscheint damit als Prinzip, durch das das musikalische Subjekt seine funktionale Identität mit Bezug auf die Akkordsequenz und die ihnen entsprechenden qualitativ differenten Erlebnisphasen zur Darstellung bringt und dies auch so zu erleben vermag. Diese Erlebnisweise ist in formaler Hinsicht eine durch die Regeln der Akkordverbindungen geordnete Folge von psychischen Spannungs- und Entspannungszuständen. Mit Blick auf eine tonale Melodie – Melodie hier in einem weiten Sinn genommen –, die auf das harmonische Grundgesetz und seine durch das tonale System ermöglichten vielfältigen harmonietechnischen Modifikationen bezogen ist, kann man nun sagen, dass das musikalische Subjekt seine Identität nicht nur in einem geregelten Wechsel seiner Erlebnisse affirmiert, sondern dass es sich auch in einer Sequenz von bestimmten musikalisch-rhythmischen Zeitgestalten als eine vielfältig differenzierte Erlebniseinheit darstellt und affirmiert. Diese Zeitgestalten sind in den Figurationen einer Melodie bzw. Verbindung von melodischen Phrasen zu einem gesamten Musikstück gegeben. Damit hat der funktionale Zusammenhang von Tonalität, Zeit und Subjektivität eine Begründung erhalten, die aus der phänomenologischen Beschreibung der Funktion des musikalischen Zeitbewusstseins im Bezug auf das akkordharmonische Prinzip der Tonalität gewonnen ist. Von hieraus lässt sich das eingangs zitierte Wort Adornos, Beethovens Leistung bestehe darin, »allen musikalischen Sinn aus der Tonalität zu entwickeln« (BF: 83), verstehen. Musikalischer Sinn wird insofern aus der Tonalität entwickelt, als die Funktion der Ka62 https://doi.org/10.5771/9783495808221 .

Tonalität, Zeit, Subjektivität

denz darin besteht, die Tonart darzustellen und ihre Identität zu affirmieren. Das meint die Notiz: »Tonalität ist das Prinzip, auf Grund dessen Tonart überhaupt möglich ist.« (BF: 90) Zugleich begründet sie den funktionalen Zusammenhang der Akkorde des tonalen Systems. Dem entspricht die Darstellung und Affirmation der funktionalen Einheit musikalischer Subjektivität. Dieser Sachverhalt ist mit einer anderen, ebenso prononcierten These Adornos aus der Philosophie der neuen Musik in Beziehung zu setzen, die der Herausgeber der Beethoven-Fragmente dem Abschnitt über Tonalität als Motto vorangestellt hat: »Beethoven hat den Sinn von Tonalität aus subjektiver Freiheit reproduziert.« (BF: 82).

II.

»Beethoven hat den Sinn von Tonalität aus subjektiver Freiheit reproduziert.«

In beiden Formulierungen verbinden sich musikhistorische, kompositionstechnische und musikästhetische Überlegungen. Deren Zusammenhang lässt sich wie folgt verstehen. Die Kategorie eines musikalischen Subjekts ist zunächst mit Blick auf konkrete musikalische Werke zu erweitern. Sie meint dann eine allgemeine, historisch je konkrete, und d. h. historisch variable, musikalischen Sinn stiftende Instanz. In eben diesem Sinn verwendet Adorno das Konzept eines musikalischen Subjekts in den Beethoven-Fragmenten, der Philosophie der Musik und verwandten Texten. Die These, Beethoven habe den Sinn von Tonalität aus subjektiver Freiheit reproduziert, verweist auf einen spezifischen musikhistorischen Zusammenhang. Er ist mit der sogenannten expressivistischen Wende um die Mitte des 18. Jahrhunderts gegeben. 6 Sie betrifft einen grundstürzenden Wandel in der Auffassung von Musik der Moderne. Dem entspricht ein ebenso radikaler Wandel in der Auffassung der Natur menschlicher Subjektivität. Der Wandel in der Auffassung von Musik betrifft den Unterschied zwischen der Idee der Musik als Nachahmung von Affekten auf der einen Seite, als unmittelbarer Ausdruck des Gefühls innerer Bewegtheit auf der anderen Seite. Der Unterschied hinsichtlich der Dazu grundlegend Hans Heinrich Eggebrecht: »Das Ausdrucks-Prinzips im musikalischen Sturm und Drang«, in: Ders.: Musikalisches Denken, Wilhelmshaven 1977: 69–111. Zum gegenwärtigen Stand der Forschung vgl. Sturm und Drang in Literatur und Musik, hrsg. v. Bert Siegmund, Stiftung Kloster Michaelstein 2004.

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Auffassung menschlicher Subjektivität lässt sich als Unterschied zwischen einer vergegenständlichenden und einer subjektzentrierten Form des Ausdrucks innerer Bewegtheit beschreiben. Theoretische Grundlage der vergegenständlichenden Ausdrucksform ist die materialistisch-physiologisch begründete Psychologie und Affektenlehre René Descartes’, derzufolge menschliche Emotionen als selbständig für sich bestehende natürliche Gegenstände aufzufassen und mit naturwissenschaftlichen Methoden zu objektivieren sind. Für den Bereich der Musik gilt, dass menschliche Emotionen auch auf diese Weise, das heißt, als objektivierbare Schemata aufzufassen und musikalisch darzustellen sind. Dem tritt um die Mitte des 18. Jahrhunderts die Überzeugung entgegen, dass die Natur menschlicher Subjektivität sich auf diese Weise nicht begreifen lässt. Sie stellt sich vielmehr in expressiven Akten dar, durch die ein von Natur aus vorhandenes Potenzial realisiert und gestaltet wird. 7 Das gilt auch für den Bereich der Emotionen. Das Subjekt verhält sich zu seinen Emotionen nicht in einer theoretischen Distanz wie zu gegebenen, hinsichtlich ihres Gehalts bekannten und begrifflich klar und deutlich bestimmbaren Gegenständen. Es verhält sich zu seinen Emotionen vielmehr als inneren Erlebnissen, und das heißt so, wie es sich selbst mit Bezug auf Formen seiner inneren Bewegtheit erfährt. Die zeitgenössischen literarischen Zeugnisse für diesen Wandel sind zahlreich und eindeutig. 8 Diese neue Erfahrung von Gefühlen wird mit neu interpretierten, neu entdeckten und in der Folge vielfach ausdifferenzierten musikalischen Mitteln ausgedrückt. Es ist daher gewiss kein Zufall, dass in den nach der expressivistischen Wende neu entstehenden Formen der Musik, vor allem der Sonate und Sinfonie, die man zu Recht als die grundlegende musikalische »Denkform« der in Frage stehenden musikhistorischen Epoche bezeichnet hat, dem Gerüst der harmonischen Grundfunktionen und den ihnen entsprechenden psychischen Spannungs- und Entspannungsverhältnissen eine formbildende Funktion zukommt. Dieser Sachverhalt ist auch von der zeitgenössischen Musiktheorie wahr-

Vgl. Charles Taylor: The Sources of the Self; deutsch.: Quellen des Selbst, Frankfurt a. M. 1996. 8 Zu nennen sind u. a. Autoren wie Heinse, Herder, Rousseau und Schubart. Vgl. auch Ruth E. Müller: Erzählte Töne. Studien zur Musikästhetik im späten 18. Jahrhundert, Stuttgart 1998. 7

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genommen worden. 9 Er lässt sich als Indiz dafür verstehen, dass das Prinzip musikalischer Subjektivität hinsichtlich seiner neu gefassten expressiven Natur entdeckt, kompositorisch reflektiert und zum Prinzip und Thema der formalen Anlage eines Musikstücks und der in ihm ausgetragenen Spannungsverhältnisse, hier der Sonate und Sinfonie, erhoben wird. Darin, so lässt sich nun mit Blick auf Adornos Diktum sagen, gewinnt das musikalische Subjekt seine expressive Autonomie, und darin drückt es seine Freiheit aus. Dass aller musikalische Sinn aus der Tonalität entwickelt wird, und dass der Sinn von Tonalität aus subjektiver Freiheit reproduziert wird, bedeutet dann, dass die harmonischen Grundfunktionen, die das System der Tonalität konstituieren, nunmehr als Funktion der neuen expressiven Selbstdarstellung musikalischer Subjektivität in Einsatz gebracht werden, die auf eben diese Weise ihre Freiheit realisiert. Das geschieht insbesondere beim frühen und mittleren Beethoven in einem auf die Überwindung thematischer Antagonismen final angelegten Prozess, der am Ende zur oft triumphalen Affirmation der Tonika gerät. Eines der prägnantesten Beispiele hierfür sowie für das von Adorno mit Bezug auf das Prinzip der Tonalität namhaft gemachte Verhältnis von Dreiklängen und Sekunden, d. h. tonaler Akkorde und der Leittonfunktion kleiner Sekundschritte, ist nicht erst das Hauptthema und der Kopfsatz der Eroica, auf die Adorno sich vornehmlich bezieht, sondern schon die erste Sinfonie Beethovens und deren effektvoll mit Leittonspannungen arbeitende Einleitung – sie beginnt bekanntlich auf »unerhörte« Weise mit dem Dominantseptakkord der Subdominante F-Dur und dem daran anschließenden zweimal wiederholten Dominantmodell – und die harmonische Struktur des gesamten ersten Satzes. Darauf sei hier nur verwiesen. 10 Aus dem Gesagten wird auch die Erweiterung des Begriffs und der Funktion der Tonalität verständlich, die Adorno im Anschluss an die Bemerkung skizziert, Beethoven verstehen, heiße, die Tonalität In seinem Versuch einer Anleitung zur Composition betont Heinrich Christoph Koch den Gang der Modulation als wesentliches Moment der Struktur des Sonatenhauptsatzes. Vgl. Heinrich Christoph Koch: Versuch einer Anleitung zur Composition, Nachdruck Studienausgabe, hrsg. v. Jo Wilhelm Siebert, Hannover 2007, hier: § 101, 518. Näher dazu Carl Dahlhaus: »Der rhetorische Formbegriff H. Chr. Kochs und die Theorie der Sonatenform«, in: Archiv für Musikwissenschaft 35 (1978), H. 3: 155–177. 10 Vgl. Jürgen Stolzenberg: Seine Ichheit auch in der Musik heraustreiben. Formen expressiver Subjektivität in der Musik der Moderne, München 2011: 59 f. 9

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verstehen. Tonalität, so lautete Adornos Überlegung, »liegt nicht nur als ›Material‹ seiner Musik zugrunde« – und das heißt, Tonalität als Inbegriff der Regeln der Akkordverbindungen –, sondern »Tonalität als ihr Prinzip«. Das meint, wie Adorno weiter ausführt, eine teleologisch ausgerichtete Tendenz des musikalischen Geschehens, kraft deren jeder »Formteil« auf den jeweils nächsten über »weitere Formkreise hinweg« (BF: 82) bis zum Ende verweist. Diese Tendenz ist offenkundig die Folge der zum Prinzip der Werkstruktur erhobenen harmonischen Grundfunktionen, durch die auch die Gestalt der Motive und Themen und deren Verarbeitung, insbesondere im Durchführungsteil einer Sonate, bestimmt werden. Daher kann Adorno auch von einem »Auskomponieren der Tonalität« (BF: 90) sprechen. Das bedeutet, dass Tonalität zwar ein »vorgegebenes System« ist, das in einem konkreten Werk, so Adorno, »doch zugleich erst produziert wird« (BF: 90). Dieser Art einer performativen Realisierung von Tonalität im kompositorischen Prozess entspricht der skizzierte, mit der expressivistischen Wende aufkommende performatorische Charakter der Selbstdarstellung musikalisch-expressiver Subjektivität. Wie verhält sich dazu nun die Funktion der Zeit? Hier sind Adornos Wort vom »Einstand der Zeit« und seine Idee einer intensiven Zeit zentral.

III. »Einstand der Zeit« Als Ideal der Konvergenz der Funktionen von Tonalität, Subjektivität und Zeit ist das von Adorno mit Bezug auf die sinfonischen Sätze Beethovens beschriebene Phänomen des »Einstandes der Zeit« 11 zu verstehen. Den wenigen Erläuterungen Adornos hierzu ist das Folgende zu entnehmen. Das Wort vom Einstand der Zeit bezieht sich auf einen musikästhetischen Sachverhalt, der sich einem Deutungsakt des musikalischen Subjekts verdankt. Er bezieht sich auf die Gesamtanlage eines sinfonischen Satzes. Sie ist durch einen immanenAdornos oft zitiertes Wort vom Einstand der Zeit lautet: »Der Einstand von Zeit als Bild des Endes von Vergängnis ist das Ideal von Musik, das ihrer Erfahrung und auch das musikalischer Unterweisung.« (GS 15: 187) Vgl. Richard Klein: »Die Frage nach der musikalischen Zeit«, in: Adorno-Handbuch (Anm. 4): 59–74; Ders.: »Prozessualität und Zuständlichkeit. Konstruktionen musikalischer Zeiterfahrung«, in: Otto Kolleritsch (Hrsg.): Abschied in der Gegenwart. Teleologie und Zuständlichkeit in der Musik, Wien 1998: 180–209, sowie Nikolaus Bacht: Music and Time in Theodor W. Adorno, London 2002.

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ten Verweisungszusammenhang der Motive und Themen, ihrer rhythmischen Gestalten und deren architektonischer Organisation charakterisiert, die von der Syntax der akkordharmonischen Funktionen grundiert ist, wobei die Tonika Anfang und Ende zusammenbindet. Zeittheoretisch entspricht dem eine Gestaltung musikalischer Zeit, die Adorno als »intensive Zeit« 12 bezeichnet: »Der intensive Typ zielt auf die Kontraktion der Zeit. Er ist der eigentlich symphonische« und »der eigentlich klassische Typ« (BF: 135). Gemeint ist die vorwärtsdrängende Gestaltung des musikalischen Zeitverlaufs, der »durch den Augenblick des identischen, in sich zeitlosen Motivs synkopiert« wird, und durch deren Identität und »gespannte Steigerung« in ihrer Verarbeitung die vergehende Zeit konstruktiv kontrahiert und, so Adorno, »verkürzt [wird], bis sie innehält« (BF: 327). 13 Darauf nimmt der Begriff des Einstandes der Zeit Bezug. Ihm liegt der aus dem Konzept der intensiven Zeit entwickelte Gedanke zugrunde, dass ein sinfonischer Satz »der Idee nach, nur einen Augenblick« (BF: 327) währt. Die Formel vom Einstand der Zeit lässt sich unter dieser Perspektive nach dem Modell einer Idee im kantischen Sinne, d. h. der Vorstellung eines in sich geschlossenen, und insofern unbedingten Ganzen erläutern. Es ist genauer die Idee einer im Rückblick auf den Verlauf eines Werks gewonnenen immanenten formalen Stimmigkeit, die im Verhältnis aller konstitutiven Teile zueinander besteht und die aufgrund der retrospektiv-reflektierten Wahrnehmung ihrer zeitlichen Sukzession und ihres darin konstituierten universalen Sinnzusammenhangs entworfen wird. Der Gehalt dieser Idee übersteigt jedoch die zeitliche Sukzession, insofern sie die Vorstellung von einem integralen Ganzen ist. Daher fällt sie selber nicht in die Zeit, sondern ist, um einen Terminus Husserls zu verwenden, »überzeitlich«. 14 Als einen idealen »Inbegriff aller Relationen, der sukzessiven und auch simultanen« (GS 15: 187) hat Adorno den Gehalt dieser grenzbegrifflichen Totalvorstellung denn auch gefasst. Damit ist das Konzept eines Einstandes der Zeit aber noch nicht Vgl. BF: 135 ff. Adorno verweist hier auf seine Ausführungen in der »Zweiten Nachtmusik« (GS 18: 45–53); vgl. auch die Hinweise des Herausgebers in BF: 327 ff. 13 Als Beispiele nennt Adorno im zitierten Zusammenhang Beethovens V. und VII. Symphonie und die Appassionata. 14 Edmund Husserl: »Die Bernauer Manuskripte über das Zeitbewußtsein (1917/ 18)«, in: Husserliana: Edmund Husserl, Gesammelte Werke, Bd. 23, hrsg. v. Rudolf Bernet u. Dieter Lohmar, Leuven 2001: 277. 12

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angemessen beschrieben. Folgende Überlegung ist zu ergänzen. Mit Bezug auf die Wahrnehmung eines zeitlich erstreckten, in sich strukturierten musikalischen Geschehens ist die Vorstellung von einem integralen Ganzen und einem idealen Einstand der Zeit nur dann möglich, wenn das wahrnehmende Subjekt, das diese Vorstellung bildet, seinerseits durch eine kontinuierliche zeitliche Existenz charakterisiert ist, für die der Einheitszusammenhang der Modi von Präsenz, Erinnerung und Erwartung konstitutiv ist. Darüber hinaus muss es eine erlebnishafte Vorstellung davon haben, dass es sich mit Bezug auf die differenten Zeitgestalten der Themen und Motive als dasselbe fungierende Subjekt durchhält. Andernfalls könnte es den in der Zeit entfalteten Zusammenhang der Teile gar nicht als Einstand, und d. h. als einen integralen Einheitssinn imaginieren, in dem die Differenzen der zeitlichen Extension aufgehoben sind. Die Idee vom Einstand der Zeit setzt somit die Idee vom »Einstand« des musikalischen Subjekts voraus. Und so wie im Einstand der Zeit der Fluss der Zeit aufgehoben ist, so ist auch das ›einstehende Subjekt‹ selber kein Teil der Zeit, sondern »überzeitlich«. Adornos Metapher vom »beharrlichen Auge«, dem der Einstand der Zeit sich offenbare und den Adorno als subjektive Erfahrung eines »glücklichen Einstand[s] des Augenblicks« (BF: 328) oder, wie es an einer anderen Stelle heißt, als Erfahrung »eines glückvollen, zugleich bewegten und in sich ruhenden Lebens« (BF: 329) beschreibt, gibt davon etwas zu erkennen. Lassen sich bis hierher Adornos Überlegungen zur Musik Beethovens auf eine Weise rekonstruieren, aus der der funktionale Zusammenhang von Tonalität, Zeit und Subjektivität als das implizite theoretisches Zentrum begriffen werden kann, so lassen sich daraus, scheinbar paradox, aber auch Einwände gegen einige zentrale, noch nicht genannte Thesen und Aspekte von Adornos Beethoven-Projekt ableiten.

IV. »was ohnehin schon war« Hier ist vor allem Adornos oft wiederholte Kritik der Reprise der Sonatenform zu nennen. In der Reprise sieht Adorno »die crux« der von Beethoven nobilitierten Sonatenform (GS 13: 241 ff.). 15 Sie bestehe in der widersinnigen Preisgabe der Idee subjektiver Freiheit, 15

Vgl. die Hinweise des Herausgebers in BF: 292 f.

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aus der sie ihre Legitimität erhalten hatte. Mit der Wiederkehr des Hauptthemas in der Reprise wird, so sieht es Adorno, nur das bestätigt, »was ohnehin schon war«; es wird die »bloß wiedererreichte Identität als das Andere präsentiert« und »als sinnhaft« behauptet. Da die Wiederholung desselben aber nur eine inhaltsleere Tautologie, »ein ›Das ist es‹« (GS 13: 211 f.), darstellt, kann die Reprise nicht als eine ästhetisch folgerichtige Auflösung der harmonischen Spannungen und thematischen Antagonismen des Durchführungsteils gelten. Als Wiederholung des Gewesenen macht sie, so Adorno, »das seit Beethoven Entscheidende, die »Dynamik der Durchführung, rückgängig« (GS 13: 241 f.; vgl. GS 14: 412). Adornos Kritik der Reprise kommt eine Bedeutung zu, die über ein formtechnisches Monitum weit hinausreicht. Sie betrifft Adornos Beethoveninterpretation insgesamt. Die Reprise, so muss man Adornos These präzisieren und pointieren, exemplifiziert ein ästhetisches Grundproblem des frühen und mittleren Beethoven, dessen kompositorische Reflexion zur Signatur von Beethovens Spätstil wird. Das Problem besteht Adorno zufolge in der misslungenen Affirmation eines ästhetischen Einheitszusammenhangs, der ein integrales Ganzes darstellt und das durch den Prozess der Entwicklung eines immanenten, wechselseitigen Zusammenhangs aller seiner Teile erzeugt sein soll. Indem die Reprise nur die Wiederholung und Bestätigung eines schon Bekannten darstellt, widerspricht sie dem entwicklungslogisch-prozessualen und auf eine immanent begründete Integration aller Teile angelegten Charakter der Sonatenform; damit gewinnt sie, so Adorno, »einen gewissen repressiven, zwangshaften Charakter«. In der Reprise erscheint die Tonalität als »das hemmende Prinzip, die Schranke« (BF: 87). Mit der Affirmation eines positiv gesetzten Elements, das nicht aus dem immanenten Entwicklungsgang begründet ist, gerät die Reprise, inmitten des auf bruchlos konstituierten Sinn und integrale Totalität hin angelegten Werks, zum Zeichen von Schein und Unwahrheit. Mit Blick auf das oben Ausgeführte erscheint es jedoch unangemessen, den Wiedereintritt des Themas in der Reprise als eine lediglich tautologische Wiederholung des bereits Bekannten zu interpretieren und formtechnisch zu kritisieren. Der Reprise kommt insofern ein musikästhetischer »Mehrwert« zu, als mit dem Wiedererreichen des Hauptthemas und der Grundtonart genau das zum Ausdruck gebracht wird, was eingangs am Modell der Kadenz deutlich gemacht werden konnte: Mit der Rückkehr zur Tonika wird die Einheit des 69 https://doi.org/10.5771/9783495808221 .

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akkordharmonischen Funktionszusammenhangs zum Ausdruck gebracht und affirmiert. Dem entspricht die funktionale Identität des musikalischen Subjekts. Diese Identität, das ist entscheidend, stellt sich aber nicht in der Form einer leeren Tautologie dar oder lässt sich so ausdrücken, und sie bezieht sich auch nicht auf eine Größe, die substantialisiert und gegenständlich fixiert werden kann, wie Adorno es offenbar annimmt und zur Grundlage seiner Kritik macht. Sie ist wirklich vielmehr nur als eine identische, sich durchhaltende, in sich jedoch vielfältig differenzierte Funktion. Genau dieser Sachverhalt wird durch die Rückkehr zur Tonika zum Ausdruck gebracht, deren harmonietechnische Bedeutung denn auch allein in der Funktion besteht, die ihr im Verhältnis der Akkorde zueinander zukommt. Die Tonika wiederholt nicht, sie holt vielmehr den Zusammenhang ein, den die harmonischen Funktionen erzeugen. 16 Adornos Verdikt der Reprise ist indessen nicht stabil. Es fällt nicht schwer, das gerade Gegenteil der Reprisenkritik ausfindig zu machen. Im Vortrag Das Altern der Neuen Musik versteht sich Adorno mit Blick auf die Funktion der Reprise zum Gegenteil des eben Ausgeführten: Die »mächtigsten Formwirkungen Beethovens« bestehen Adorno zufolge darin, dass »ein Wiederkehrendes, das einmal als Thema bloß da war, nun als Resultat sich enthüllt und damit ganz veränderten Sinn annimmt.« (GS 14: 152; vgl. BF: 292) Als eines von vielen möglichen Beispielen wäre die Reprise der von Adorno bevorzugten Eroica zu nennen, die, nach der berühmten Prolepsis des Themenbeginns, das vom zweiten Horn und sodann von der Flöte In einer Reflexion aus dem Jahre 1940 über die Logik der Tonalität sucht Adorno dem Umstand Rechnung zu tragen, dass Tonalität »vermittelt« ist, »d. h. [sie] konstituiert sich nur im Zusammenhang der Momente«. Ein »ideologische[s] Moment« sieht Adorno dann aber darin, »daß die bloß daseiende, vorgegebene Tonalität ›frei‹, d. h. aus dem musikalischen Sinn der Komposition selber hervorzugehen scheint«; andererseits erscheint Tonalität mit Blick auf eben diesen prozessualen Charakter doch »wieder nicht ideologisch«. Am Ende dieses die Paradoxie zuspitzenden Räsonnements heißt es jedoch: »die Affirmation in der Tonalität ist die Identität als Ausdruck. Das Resultat! So ist es.« (BF: 41) Diese Identität ist aber wesentlich relational verfasst; sie ist wirklich nur durch die Vermittlung der Momente, auf die sie sich bezieht. Es ist daher nicht der Fall, dass die durch sie getragene Reprise »an sich das Positive, dinghaft Konventionelle« ist, in dem »zugleich das Moment der Unwahrheit, der Ideologie« (BF: 40) besteht. Die Reprise ist daher auch nicht in Analogie zu einer dinghaften Substanz zu verstehen, sondern als konstitutiver Teil des Funktionszusammenhangs, den das System der Tonalität und das konkrete Werk zur Darstellung bringen. 16

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intonierte Thema zum musikalischen Symbol von Glück, Erlösung und Befreiung aus zuvor durchlebten Kämpfen und Antagonismen werden lässt. Eine andere, offenkundig ebenfalls nicht-tautologische Funktion der Reprise sieht Adorno darin, dass durch die »Wiederkunft auch die Bedeutung des Vorhergehenden erst nachträglich gestiftet« wird. So vermag »der Einsatz einer Reprise« Adorno zufolge »das Gefühl eines Ungeheuerlichen hervorzubringen, das vorherging, wenn auch dies Ungeheuerliche an Ort und Stelle gar nicht zu finden war«.(GS 14: 152) Hierbei kommt der Reprise weniger die Funktion eines Resultats einer Entwicklung als vielmehr die Etablierung eines Kontrasts zu, aus dem das ästhetisch Besondere des vorhergehenden Teils im Rückblick allererst eingesehen werden kann. So wäre es angemessen, von einer Pluralität der Reprisenfunktion zu sprechen. Weiterhin leitend bleibt indessen Adornos Kritik der Reprise.

V. »Spätstil Beethovens« Der Spätstil Beethovens nun ist in der Sicht Adornos dadurch charakterisiert, dass er auf die mit der Reprise zum Ausdruck kommende Problematik reflektiert und reagiert. Das lässt sich an einer Reihe von Stilmerkmalen ablesen, die Adorno zuerst in dem berühmt gewordenen Aufsatz Spätstil Beethovens (GS 17: 13–17; BF: 180–184) 17 aus dem Jahre 1934 und einem Rundfunkvortrag Über den Spätstil Beethovens (BF: 263–274) 18 aus dem Jahre 1966 beschrieben hat. Es ist für den vorliegenden Zusammenhang aufschlussreich und bestätigt noch einmal den hier verfolgten Ansatz, dass die Liste der Stilmerkmale Der Aufsatz Spätstil Beethovens wurde erst im Jahre 1937 publiziert. Er ist, wie Adorno in einem Brief an Ernst Krenek vom 29. 3. 1935 erklärt, »das erste, was ich je über Beethoven zu schreiben wagte« (Theodor W. Adorno/Ernst Krenek: Briefwechsel, hrsg. v. Wolfgang Rogge, Frankfurt a. M. 1974: 76. Hans-Joachim Hinrichsen hat darauf aufmerksam gemacht, dass Adornos Beethovendeutung aus seiner frühen Interpretation des Spätwerks motiviert ist, für die Walter Benjamins Ursprung des deutschen Trauerspiel und Benjamins Essay über Goethes Wahlverwandtschaften und dessen Idee der ästhetischen Bedeutung von symbolischer und allegorischer Gestaltung für den Gehalt von Kunstwerken von entscheidender Bedeutung waren; vgl. Hans-Joachim Hinrichsen: »Modellfall der Philosophie der Musik: Beethoven«, in: Adorno-Handbuch (Anm. 4): 85–96. Dem kann hier nicht näher nachgegangen werden. 18 Vgl. auch die Miszelle über Beethovens Bagatellen, in: GS 18: 185–188. 17

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wiederum durch die Konjunktion der Kategorien der Tonalität, Zeit und Subjektivität bestimmt ist, ohne dass Adorno dies deutlich gemacht hätte. Deren Beschreibung erweist sich durchgängig als Negation derjenigen Funktionen, die ihnen mit Blick auf das frühe und mittlere Werk zukamen. In der Sicht Adornos ist dies die werkgeschichtlich konsequente Folge von Beethovens kompositorischer Reflexion auf das oben skizzierte Problem. Im vorliegenden Zusammenhang können nur einige Merkmale und ohne Beleg an Beispielen stichwortartig erwähnt werden. Hinsichtlich des Umgangs mit dem System der Tonalität konstatiert Adorno in Beethovens Spätwerk, zu dem nach seiner Auffassung die späten Streichquartette, Klaviersonaten und Bagatellen, nicht die Missa solemnis und auch nicht die Neunte Sinfonie, zählen, ein »Absterben der Harmonie«, die nicht mehr das Ganze trägt, sondern »zu einer aufrechterhaltenen Konvention [wird], der die Substantialität weithin entzogen ist« (BF: 225). In den letzten Streichquartetten könne man, so Adorno, insofern »kaum mehr von der Konstruktion der Tonalität reden« (BF: 225). Dem »Absterben« (BF: 227) oder »Schrumpfen« der Harmonie 19 entspricht auf Seiten des kompositorischen Subjekts ein »Zurücktreten von der Erscheinung« (BF: 227 u. 266), die es vormals im Zuge seiner autonomen expressiven Selbstdarstellung organisiert hatte: »Es gibt keine Autonomie mehr« (BF: 227). Das Zurücktreten wird geradezu als »Ausbruch von Subjektivität« aus dem Kunstwerk interpretiert, als ihr »Entweichen«, um nunmehr »ausdruckslos den Schein der Kunst abzuwerfen« (BF: 183). Auch das Prinzip des Prozesshaften wird nicht mehr als Entwicklung verstanden, sondern nur noch als Inszenierung von extremen Kontrasten in unterschiedlicher Gestalt, die unvermittelt gegeneinander gestellt werden, von jähen Abbrüchen und Zäsuren. Allein darin, in der »sprengenden Gewalt von Subjektivität« (BF: 182), zeigt sich Adorno zufolge noch die Macht des kompositorischen Subjekts. Der darin noch intendierte »Ausdruck von Subjektivität […] verschwindet in Wahrheit aus dem Kunstwerk« (BF: 182 f.). 20 »Im Spätstil schrumpft die Harmonie ein« (BF: 226). Der Text fährt mit nicht geringer stilistischer Emphase fort: »Die Gewalt der Subjektivität in den späten Kunstwerken ist die auffahrende Geste, mit welcher sie die Kunstwerke verlässt. Sie sprengt sie, nicht um sich auszudrücken, sondern um ausdruckslos den Schein der Kunst abzuwerfen. Von den Werken lässt sie Trümmer zurück und teilt sich, wie mit Chiffren, nur vermöge der Hohlstellen mit, aus welchen sie ausbricht. Vom Tode berührt gibt die meisterliche Hand die Stoffmassen frei, die

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Die »Tendenz zur Dissoziation, zum Zerfall, zur Auflösung« (BF: 267), die Adorno als grundlegende Merkmale des beethovenschen Spätstils beschreibt, gilt schließlich auch für die Verfassung der musikalischen Zeit. An zahlreichen Stellen verliert sie ihren intensivprozessualen Charakter, gerät mit der ausgedehnten Wiederholung kleinster musikalischer Motive zum Statisch-Immergleichen oder bricht in disparate fragmentarische Blöcke auseinander, die nur noch als Einspruch gegen den zuvor imaginierten Einstand der Zeit beredt werden. Die entsubstanzialisierte Harmonie, die Suspension des musikalischen Subjekts und die Dissoziation der Zeit als Charaktere des Spätstils Beethovens – was ist dazu zu sagen?

VI. Das »umgekehrte Erhabene« Adornos Thesen zu Beethovens Spätstil können nicht unabhängig von Ergebnissen einer unvoreingenommenen werkimmanenten Analyse beurteilt werden. Der naheliegende Einwand, dass deren methodische Beschränkung dem philosophischen Gehalt von Adornos Beethoven-Deutung nicht gerecht werden könne, ist unzutreffend. 21 Schon relativ früh ist auf eine auffällige Diskrepanz zwischen der Konventionalität und dem unreflektierten Einsatz musikanalytischer Mittel auf der einen Seite, der Avanciertheit und Radikalität der Kritik Adornos auf der anderen Seite hingewiesen worden. 22 Adornos Kritik der Reprise als bloßer Wiederholung des zuvor exponierten Hauptthemas ist hierfür ein Beleg. Dem entspricht Adornos Auffassung der Sonatenform als eines Formschemas im Sinne eines »gewissen Hohlraums« (BF: 98), der durch das kompositorische Subjekt aufzufüllen sei bzw., wie in Beethovens Spätstil, von ihm gesprengt, zertrümmert und verlassen werde. Es ist hinlänglich bekannt, dass die Rede von der Sonatenform als einem Formschema der Formensie zuvor formte; die Risse und Sprünge darin, Zeugnis der endlichen Ohnmacht des Ichs vorm Seienden, sind ihr letztes Werk« (BF: 182 f.). 21 Ich orientiere mich im Folgenden in Teilen an den Analysen von Hans-Joachim Hinrichsen: »›Es wäre sonst alles, auch die ›Klassik‹, anders verlaufen‹. Adornos Beethoven-Buch als gescheitertes Hauptwerk«, in: Susanne Schaal-Gotthardt/Luitgard Schader/Heinz-Jürgen Winkler (Hrsg): »… dass alles auch hätte anders kommen können.« Beiträge zur Musik des 20. Jahrhunderts, Mainz 2009: 218–248. 22 Vgl. hierzu Dahlhaus’ Bemerkungen zu Adornos Musikphilosophie in: Hinrichsen: »›Es wäre sonst alles, auch die ›Klassik‹, anders verlaufen‹« (Anm. 21): 234 f.

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lehre des 19. Jahrhunderts und ihrer späteren Kanonisierung verpflichtet ist, mit der die Strukturen der Werke schon des mittleren Beethoven nicht angemessen zu verstehen sind. 23 Ist somit schon mit Blick auf die musikanalytischen Prämissen Vorsicht geboten, so halten auch die konkreten Werkanalysen einer unvoreingenommenen Prüfung nicht stand. So lässt sich zeigen, dass die von Adorno vorgenommene Trennung zwischen einer konventionellen Objektivität wie der Form der Kadenz und einer vermeintlich subjektiven Zutat wie die am Beginn des Streichquartetts B-Dur op. 130 vorgeschriebene crescendo-subito-piano-Dynamik den Ausgangspunkt und die Grundlage für eine in Wahrheit planvoll angelegte, organische Entwicklung der Satzstruktur darstellt, in der diesem dynamischen Kontrast eine formkonstitutive Funktion zukommt. 24 Von einem Zerfall oder einer Dissoziation des Formprozesses kann hier nicht die Rede sein. Ein ähnliches reflektiertes kompositorisches Verfahren lässt sich mit Blick auf den Beginn von Beethovens Streichquartett cis-moll, op. 131 nachweisen. 25 Hier kommt dem in der Sicht Adornos äußerlichen sforzato-Akzent auf dem vierten Ton des Fugenthemas und seiner Beantwortung in der Unterquinte eine besondere spannungsvolle harmonische Bedeutung zu, die eine für den gesamten Formverlauf konstitutive dynamisierende und zugleich integrierende Funktion hat. Adornos Thesen vom Zerfall des Formprozesses und von einer entsubstanzialisierten Harmonie erscheinen so als Konklusion aus Prämissen, die der strukturellen Verfassung von Beethovens Spätstil nicht gerecht werden. 26 Auch von einer Suspension des kompositorischen Subjekts kann in Beethovens Spätstil keine Rede sein. Das Gegenteil ist der Fall. Die Inszenierung von unvermittelten Extremen, die als Dissoziation for23 Vgl. hierzu Carl Dahlhaus: »Beethovens ›neuer Weg‹«, in: Jahrbuch des Staatlichen Instituts für Musikforschung Preußischer Kulturbesitz 1974, Berlin 1975: 46– 62; Ders.: »Zur Formidee von Beethovens d-moll-Sonate opus 31, 2« in: Die Musikforschung 33 (1980): 310–312. 24 Vgl. Hinrichsen: »›Es wäre sonst alles, auch die ›Klassik‹, anders verlaufen‹« (Anm. 21): 239 f. 25 Vgl. Ebd.: 241 f. 26 Anhand der von Adorno geächteten werkgenetischen Analyse lässt sich überdies zeigen, wie sehr etwa in den letzten Streichquartetten eine kompositorische Verdichtung und Konzentration der musikalischen Faktur erreicht worden ist, die nicht als Dissoziation, Auflösung oder Zertrümmerung der Form, sondern angemessener als Radikalisierung früherer Tendenzen gedeutet werden kann; vgl. Hinrichsen: ebd.: 244 f.

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maler Elemente und ihrer zeitlichen Gestaltung und als Ab- und Einbrüche musikalischer Formverläufe erscheinen mögen, sind rhetorische Stilmittel, die aus der Ästhetik des Erhabenen bekannt sind. 27 In Beethovens Spätstil erscheint das Erhabene indessen nicht in Gestalt eines übermächtig Großen, sondern umgekehrt in Gestalten des Unvermittelten, Fragmentarischen, Kontingenten und Brüchigen, dies aber so, dass aus deren kompositorischer Anlage ein neuer substantialer ästhetischer Sinnzusammenhang entsteht. Will man dafür einen theoretischen Kontext namhaft machen, dann wird man ihn vor allem in derjenigen Konzeption finden, die Jean Paul unter dem Titel eines »umgekehrten Erhabenen« entwickelt hat. 28 Diese Form des Erhabenen besteht in dem ästhetisch reflektierten Kontrast zwischen der Sphäre des Fragmentarischen, Kontingenten und Disparaten und einem neuen, integralen Sinnzusammenhang, der sich aus der Art und Weise ergibt, wie diese Charaktere konfiguriert werden. Deren Darstellung setzt eine reflektierte subjektive Instanz voraus, die Jean Paul als »Humoristische Subjektivität« 29 bezeichnet hat. Sie ist in Beethovens Spätstil wirksam. Eine musikalisch-humoristische Subjektivität erscheint denn auch als die Instanz, die das Thema der Diabelli-Variationen, das hinsichtlich seines ästhetischen Formats simpel, wenngleich nicht trivial ist, in scheinbar diabolischer Willkür de–konstruiert, in seine einzelHier sei, stellvertretend für leicht zu vermehrende Beispiele, nur auf das von Edmund Burke genannte Phänomen des plötzlichen Anfangens oder Aufhörens eines Tons oder auch dessen mehrmalige, unverhoffte Unterbrechung als Ursache des Erhabenen hingewiesen, vgl. Edmund Burke: Philosophische Untersuchung über den Ursprung unserer Ideen vom Erhabenen und Schönen, hrsg. v. Werner Strube, Hamburg 1980: 121 ff. 28 Jean Paul: Vorschule der Ästhetik, hg. v. Wolfhart Henckmann, Hamburg, 1990: 124 ff. (§ 31 ff.). 29 Jean Paul, ebd.: 125 (§ 32). Nach Abschluss des Textes erschien die Untersuchung zu Beethovens Klaviersonaten von Hans-Joachim Hinrichsen: Beethoven. Die Klaviersonaten, Kassel (u. a.) 2013. Mit Blick auf Beethovens Wort von einem »neuen Weg« nach 1803 verweist Hinrichsen auf Jean Pauls Theorie des Humors und die Idee eines umgekehrten Erhabenen. Ihr liegt, so Hinrichsen, die Idee einer »selbstreflexiven Subjektivität« (196) zugrunde, der in Beethovens Werk eine aus der Distanz gewonnene Haltung der Selbstbehauptung entspricht, die ihren Ausdruck in einer spezifischen selbstreflexiven Struktur der Sonaten findet. Entsprechend beschreibt Hinrichsen die Struktur von Beethovens späten Klaviersonaten nicht, wie Adorno, als »Dissoziation, sondern im Gegenteil als Integration des Disparaten« (322), im Zuge dessen auch traditionelle Formmodelle nicht preisgegeben, sondern »auf [ihre] geschichtlichen Voraussetzungen hin von Grund auf neu befragt« (322) werden. 27

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nen, nunmehr zufällig-disparat erscheinenden motivischen und intervallischen Elemente auflöst und sie wie absichtslos improvisierend neu zusammenfügt 30 –, und die deswegen auch nicht aus dem Werk »entweicht«, sondern darin vielmehr in actu ihre inkommensurable Souveränität und ästhetische Autonomie demonstriert. In der Form eines schwerelos-heiteren Menuetts, das an eine längst vergangene Ära zu erinnern scheint, lässt sie ganz am Ende, in der letzten Variation, jenen »Glanzsaal und den Sternenhimmel der Unendlichkeit« 31 aufscheinen, von dem Jean Paul metaphorisch mit Blick auf die Idiosynkrasien der kleinen, beschränkten Welt spricht, aus der auch das Diabelli-Thema stammt.

Vgl. Martin Zenck: »›Bach, der Progressive‹. Die Goldberg-Variationen in der Perspektive von Beethovens Diabelli-Variationen«, in: Johann Sebastian Bach. Goldberg-Variationen (Musik–Konzepte 42), München 1985, hier: 69 ff. 31 Jean Paul: Vorschule der Ästhetik (Anm. 28): 88 (§ 22). 30

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Gesellschaft im Werk? Ein Grundlagenproblem Adornos – dargestellt an einer Soziologie des Konzerts Ferdinand Zehentreiter

I.

Der Ausgangspunkt: Adornos Ästhetik der Musiksoziologie

Das Konzert als Institution gehört zu jenen kulturtheoretischen Gegenständen, die belastet sind durch ein empfindliches Missverhältnis zwischen methodologischer Schlüsselbedeutung und mangelnder Reichweite der Erklärungsmodelle. Den Hintergrund für die hier immer wieder zu beobachtenden analytischen Mankos und Verzerrungen bildet eine spezifische disziplinübergreifende Vieldimensionalität des Gegenstandes, in deren Mittelpunkt das Ineinander von musikästhetischer und soziologischer Modellbildung steht. Der Aufsatz nimmt daher seinen Ausgang von einem programmatischen Text, dem es genau um dieses Ineinander geht: Theodor W. Adornos Ideen zur Musiksoziologie von 1958 (GS 16: 9–23). Diese verlangen von einer Musiksoziologie mit relevanten Ergebnissen nichts weniger als einen soziologischen Blick auf die innere Verfasstheit des Kunstwerks, der sich nicht nur verbündet mit musikwissenschaftlicher Analyse, sondern sich dieser anverwandelt, indem er sie von Grund auf reformiert: »Gesellschaft hat sich in ihrem [der Werke] Sinn und dessen Kategorien sedimentiert, und ihn muß Musiksoziologie entziffern. Sie ist damit verwiesen auf das eigentliche Verständnis von Musik bis in die kleinsten technischen Zellen hinein. Nur dann gelangt sie über die fatal äußerliche Zuordnung geistiger Gebilde und gesellschaftlicher Verhältnisse hinaus, wenn sie in der autonomen Gestalt der Gebilde, als ihres ästhetischen Gehalts, eines Gesellschaftlichen innewird. Was an soziologischen Begriffen an die Musik herangetragen wird, ohne in musikalischen Begründungszusammenhängen sich auszuweisen, bleibt unverbindlich.« (GS 16: 10) Aber die Soziologie muss die geeignete musikwissenschaftliche Methode für das eingeforderte Geschäft der Dechiffrierung des ästhetischen Gehalts von Werken in ihrer mikrologischen Konkretion selbst entwickeln: »Bedingung einer produktiven Musiksoziologie ist das Ver77 https://doi.org/10.5771/9783495808221 .

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stehen der Sprache von Musik, weit über das hinaus, worüber der bloß soziologische Kategorien auf Musik Anwendende verfügt, auch über das, was die offizielle und erstarrte musikalische Bildung der Konservatorien oder die akademische Musikwissenschaft kommuniziert. Die Zukunft der Musiksoziologie wird wesentlich von der Verfeinerung und Reflexion der musikanalytischen Methoden selber und ihrer Beziehung auf den geistigen Gehalt abhängen, der nur vermöge technischer Kategorien in der Kunst sich verwirklicht.« (GS 16: 12) Wenn Adorno in den »Ideen« die Dimension des »geistigen Gehalts« als Gegenstand der musikalischen Analyse mit ins Spiel bringt, so macht er seinen Text damit zum Komplement einer eigenen programmatischen musikwissenschaftlichen Studie aus dieser Zeit, seiner Monographie über Gustav Mahler von 1960. Denn darin geht es wesentlich um das Ineinander von konkreter Werkgestalt und Sinngehalt – mit der methodischen Forderung eines dritten Weges jenseits von formalistischer Klassifikation und Inhaltshermeneutik als den beiden exemplarischen Stoßrichtungen der akademischen Musikwissenschaft. Da das Thema meines Aufsatzes diese methodische Frage nicht direkt berührt, möchte ich die von Adorno skizzierte neuartige analytische Perspektive nur formelhaft charakterisieren: Es handelt sich um eine mikroanalytische Prozessanalyse, bei der die grundlegende Gestalt eines Werks sukzessive erschlossen wird aus ihrem individuellen Verlauf – Struktur, Bedeutung und Ausdruck fallen hier zusammen. Dabei entwickelt Adorno neue Formkategorien wie »Suspension«, »Durchbruch« und »Erfüllung«. Überdies lässt sich die Monographie auch lesen als ausgeführter Exkurs zur Ästhetischen Theorie, so wie zuvor die Philosophie der neuen Musik als konkreter Kommentar zur Dialektik der Aufklärung. Denn die von Adorno programmatisch in Anschlag gebrachte Form der musikalischen Analyse stellt mit ihrem Anspruch, die spezifische Ausdrucksqualität der mahlerschen Symphonik in ihrer innermusikalischen Logik fassbar zu machen, gleichzeitig den Versuch einer Konkretisierung der philosophischen Kategorie des »ästhetischen Scheins« dar. Hinter beidem steht die Frage, wie die Musik aus sich heraus den Schein von »Erfüllung« im Sinne einer Transzendenzerfahrung konkret erzeugt. Man muss auch diese Dimension mit im Auge behalten, wenn man die Eigenart von Adornos musiksoziologischem Programm ganz ermessen möchte. Denn dieses sieht nicht weniger vor, als eine Verklammerung von Soziologie, Musikwissenschaft und Ästhetik – anders gesagt, eine »Ästhetik« der beiden ersten, die aufgerufen sind 78 https://doi.org/10.5771/9783495808221 .

Gesellschaft im Werk?

zur konkreten Überprüfung ästhetischer bzw. philosophischer Modellhypothesen. Das hat immer wieder zu zwei Missverständnissen geführt. Das erste streitet Adornos Theorie den erfahrungswissenschaftlichen Rang ab: gerade als Musiksoziologe sei Adorno nicht mehr als ein verirrter Philosoph, der seine Ästhetik vorurteilsvoll auf Feldern spazieren führt, die eigentlich der methodisch kontrollierten Hypothesenüberprüfung bedürften. Dagegen ist grundsätzlich eine Perspektivenumkehrung geltend zu machen. Jede Disziplin ist zu einer eklektizistischen Sammlung von Oberflächenrelationen verurteilt, wenn ihre Methoden der Hypothesenbildung nicht zwei Forderungen erfüllen: die Hypothesen müssen grundlagentheoretisch relevant sein – damit läuft die Modellkonstruktion stets der konkreten Analyse weit voraus (Popper etwa spricht hier von riskanten »conjectures«) 1, je tiefer der Erklärungsanspruch, umso weiter, und umgekehrt – und: Die methodische Überprüfung der Hypothesen muss ihrem Erklärungsanspruch angemessen sein. Damit ist die bloße Anwendung eines vorgegeben Methodenarsenals ausgeschlossen. Da anspruchsvolle Hypothesen stets neue Perspektiven enthalten, gilt komplementär dazu immer die Suche nach möglichst großer Sachimmanenz als oberste methodische Maxime. Denn es geht ja nicht bloß darum festzustellen, ob auch die neue Perspektive unter die überkommenen Analysemethoden, die an älteren Perspektiven entwickelt wurden, subsumierbar ist, sondern, ob in der Sache selbst sich ein Weg findet, die neue Perspektive darauf überprüfbar auszuweisen. So ist der Vorwurf Adorno gegenüber, sowohl sein sozialwissenschaftlicher Gebrauch philosophischer Modelle als auch seine Maxime einer jeweiligen Einheit von Methode und Sache sei wissenschaftsfremd, entschieden zurückzuweisen. Größere Klärungsprobleme bereitet das inhaltliche Missverständnis von Adornos Ästhetik der Musiksoziologie. Zunächst lässt sich durchaus festhalten, dass es auf einem untriftigen Umkehrschluss beruht: Adorno würde ja die Musik zum autonomen soziologischen Sachverhalt erklären und daher die Musiksoziologie von vorneherein auf die Analyse autonomer Werke festlegen, um zu erkennen, wie sich »Gesellschaft in den Kunstwerken« objektiviert. Die Folge wäre ein gravierender Soziologieverlust auf diesem Felde – zum einen würden so umgekehrt die sozialen Einbettungsverhältnisse von 1 Vgl. Karl Popper: Conjectures and Refutations. The Growth of Scientific Knowledge, New York 1963.

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Musik nicht in ihrer Eigenqualität fassbar, da nur durch die Brille einer ästhetischen Bewertung gesehen, und zum anderen damit ein Kult der undeterminierten Werkautonomie betrieben. Aber abgesehen davon, dass die Musik als autonomer soziologischer Gegenstand nicht gleichgesetzt werden kann mit dem autonomen Kunstwerk, sondern als allgemeine kulturelle Sphäre zu verstehen ist, die sowohl Kunst als auch Nichtkunst umfasst, verwechselt diese Kritik notwendige mit hinreichenden Bedingungen. Wenn nach Adorno die Musiksoziologie in der Lage sein muss, Kunstwerke zu entschlüsseln, so heißt das nicht automatisch, dass damit alles schon getan wäre. Auch und gerade in den Ideen zur Musiksoziologie betont Adorno das »gedoppelte Verhältnis« der Disziplin zur Sache, »von innen und von außen. Was der Musik an sich als ihr gesellschaftlicher Sinn innewohnt und welche Stellung und Funktion in der Gesellschaft sie einnimmt, ist nicht identisch.« (GS 16: 10) Und in seinen Thesen zur Kunstsoziologie heißt es lapidar: »Das kunstsoziologische Ideal wäre, objektive Analysen – das heißt, solche der Werke –, Analysen der strukturellen und spezifischen Wirkungsmechanismen und solcher der registrierbaren subjektiven Befunde aufeinander abzustimmen. Sie müßten sich wechselseitig erhellen.« (GS 10/1: 369)

II.

Die gesellschaftsdeterministische Dimension der adornoschen Musiksoziologie

Eigentlich sollte dies nun die Stelle sein, an der die Linie gezogen wird von Adornos Musiksoziologie zu einer Soziologie des Konzertes. Näher scheint man ja systematisch an die Thematik kaum heranzukommen als mit seiner Gesellschaftstheorie der musikalischen Autonomie. Doch steht man bei näherer Betrachtung hier vor einer paradoxen Situation. Denn einerseits bietet auch Adornos Theorie als soziologischer Ausgangspunkt für eine Theorie des Konzerts nicht geringe Konstruktionsprobleme, die einen direkten Schulterschluss mit ihr verwehren. Andererseits führt aber die kritische Auseinandersetzung gerade mit diesen Problemen mitten in das zu erkundende Terrain hinein, zumal sich Parallelen ergeben zu anderen Theorien, die thematisch dort verortet sind, etwa das Öffentlichkeitsmodell von Jürgen Habermas. Es wurde schon angedeutet, dass das Missverständnis, Adornos werkorientierte Musiksoziologie würde die Dimension der sozialen Determination von Werken bildungsdogma80 https://doi.org/10.5771/9783495808221 .

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tisch unterlaufen, größere Probleme bereitet als seine Verdrängung in die Philosophenecke. Natürlich gibt es an der Triftigkeit seiner Bestimmung des autonomen Kunstwerks als fait social sui generis, die seine musiksoziologischen Kritiker notorisch überfordert, nichts zu deuteln. Was aber Probleme bereitet, ist die widersprüchliche Gestalt, die diese Bestimmung bei Adorno selbst bisweilen bekommt, wenn das Werk in seiner gesellschaftlichen Verfasstheit gleichzeitig als autonom und als nichtautonom, d. h. als bloßes Symptom gesellschaftlicher Pathologien, erscheint. Dabei wird erkennbar, dass die Ideen zur Musiksoziologie nicht zu weit, sondern im Gegenteil noch zu wenig weit gehen, wenn sie zwar eine Reform des musikwissenschaftlichen Strukturdenkens fordern, aber nicht auch eine des soziologischen. Das zeigt sich exemplarisch in der Grundlagenkategorie des »gesellschaftlichen Sinnes« von Kunst: »Was der Musik an sich als gesellschaftlicher Sinn innewohnt, und welche Stellung und Funktion sie einnimmt, ist nicht identisch.« (GS 16: 10) Diese bereits zitierte Schlüsselformulierung enthält ein doppeltes Problem, wenn man sie wörtlich nimmt, also nicht »gesellschaftlich« in vager Bedeutung als »sozial strukturiert« im weitesten Sinne versteht. Damit reproduziert sich ein altes Problem, das die Soziologie mit dieser Kategorie hat und dabei immer wieder Verdruss erzeugte, deutlich ausgesprochen etwa in einer Formulierung von Ernst Troeltsch: »Von der Gesellschaft als dem Inbegriff aller großen, kleinen und kleinsten soziologischen Kreise und ihrer gegenseitigen Verschlingungen und Beeinflussungen kann man als von etwas Übersehbarem und wissenschaftlich Brauchbarem überhaupt nicht reden; sie ist in der Unendlichkeit ihrer Bildung und der für jede Betrachtungsweise beliebig vornehmbaren Verknüpfung der Phänomene etwas überhaupt Unausdenkbares, ein Abstraktum, wie Kultur und Geschichte überhaupt, von denen auch nur die Dilettanten im Ganzen reden.« 2 Unter der von Troeltsch beklagten kategorialen Unschärfe leiden noch Versuche, unter dem Dach des Gesellschaftsbegriffs die nötigen internen Differenzierungen vorzunehmen, wie etwa René Königs Unterscheidung zwischen »Gesellschaft überhaupt« im Sinne des »sozietären Zusammenhanges« im allgemeinen und »Gesellschaft im engeren Sinne« als klassischer Gegenbegriff zu dem der »Gemeinschaft«. Es geht hier um die grundlegende Unterscheidung zwischen soErnst Troeltsch: Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen (Gesammelte Schriften 1), Tübingen 1919: 8.

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zialen Gebilden, für die eine »Austauschbarkeit des Personals«, wie die Soziologie charmant zu formulieren weiß, kennzeichnend ist, und solchen, die sich bilden unter der Voraussetzung der Nichtaustauschbarkeit, damit: Individualität der darin verorteten Aktoren. »Gesellschaft« steht – als Gegenbegriff zu »Gemeinschaft« – für den ersten der beiden Sozialtypen und lässt sich so charakterisieren als Inbegriff der institutionellen Verhältnisse. Für diese gilt die normative Vorgabe der Handlungsorientierungen und Handlungserwartungen im je geltenden Ensemble der Rollenvorschriften. Die Sozialtypen des subinstitutionellen Bereiches erfordern die Interpretationsleistungen der Beteiligten in ihrer Individualität. Die darin möglichen Vorgehensrichtungen schälen sich erst im Austausch der Situationsdeutungen der Beteiligten heraus und sind daher nicht oder nur zu einem bestimmten Teil schon voreingerichtet. Die mentale Basis der dafür erforderlichen Orientierungsleistungen ist soziologisch weit weniger klar als die der Rollenorientierung. Daher unterbleibt hier auch der Versuch, diese genauer zu charakterisieren. Das würde den Rahmen dieses Aufsatzes einfach sprengen, und so bescheidet er sich mit der summarischen Unterscheidung zwischen normativer und interpretativer Orientierung. Zwei Punkte müssen jedoch gewürdigt werden: Zum einen geht es hier nicht um die Alles-oder-Nichts-Alternative zwischen einer totalen Vorgabe von oben im Gegensatz zu einem Atomismus kontingent aufeinander treffender Aktoren (im Sinne der wechselseitigen Aushandlung subjektiver Situationsdefinitionen). Vielmehr ist zu unterscheiden zwischen zwei unterschiedlichen Bedeutungen von »objektiver Vorgabe«. Im einen Fall geht es um das Ensemble bereits geleisteter und auf Dauer gestellter Interpretationen von sozialen Gebilden, im anderen Fall um die latenten Möglichkeiten dieser Gebilde selbst, die erst noch interpretativ zu entfalten sind im Vollzug des kommunikativen Austausches (mit verschiedenen Graden der Kanalisierung durch die erstgenannte Ebene) zwischen den Beteiligten (Deutung und Entstehung des Gedeuteten fallen also zusammen). Es ist klar, dass der Gesellschaftsbegriff allein nicht zureicht, um diese Ebene der charakteristischen Möglichkeiten sozialer Gebilde in ihrer ganzen typologischen Bandbreite zu erfassen. Im anderen Fall entsprechen dem zwei unterschiedliche Formen von handlungsleitenden Interpretationen. Den gesellschaftlich-institutionell determinierten Vorstellungen stehen die noch nicht verfestigten Handlungsentwürfe gegenüber, die sich spontan beziehen auf die charakteristischen Gestaltqualitäten je neu begegnender sozialer 82 https://doi.org/10.5771/9783495808221 .

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Konfigurationen. Hier hat man es zu tun mit mimetischen Auffassungen unterhalb der Prädizierung mittels bestimmter Merkmalskonstellationen. An deren Stelle steht hier die unmittelbare typologische Generalisierung aus flüchtigsten Nuancen (die Logik der Abduktion oder auch Wittgensteins Begriff der »Familienähnlichkeit« gehören hierher). Die Soziologie wird natürlich für eine Theorie dieser basalen Dimension von Handlungsorientierungen ohne Bezug auf die Ästhetik nicht auskommen – und gerade deswegen werden wir darauf zu achten haben, was Adorno dazu beitragen kann. Kurz gesagt, wird der Gesellschaftsbegriff also in drei verschiedenen Bedeutungen gebraucht: 1) Reduktionistisch als tragende soziologische Kategorie im Sinne der Totalität aller institutionellen Verhältnisse. 2) Als Gegenbegriff zum Bereich der subinstitutionellen sozialen Gebilde (Familie, Liebesbeziehungen, Gemeinschaften usw.). 3) Als Oberbegriff für alle sozialen Relationen, auch für das Verhältnis zwischen institutionellen und subinstitutionellen Gebilden – wodurch er überdehnt wird durch die Verwendung auf zwei unterschiedlichen Abstraktionsebenen gleichzeitig. Wie verhält es sich dabei nun mit Adorno, wenn er die sozialen Sachverhalte stets gleichsetzt mit gesellschaftlichen? Handelt es sich nur um eine façon de parler oder um eine Form des sozialwissenschaftlichen Determinismus? Eindeutig und auf radikale Weise um letzteren. Dieser resultiert aus der Übertragung des hegelschen Totalitätsbegriffes auf ein marxistisches Gesellschaftsmodell. Soweit damit nur die Perspektive auf tiefenstrukturelle Bewegungsgesetze hinter der institutionellen Oberfläche intendiert ist, geht das im Prinzip an, allerdings nur dann, wenn diese Gesetze abstrahiert werden aus der pluralen Konkretion miteinander korrespondierender institutioneller und subinstitutioneller Gebilde einer spezifischen historischen Makroformation. Aber abgesehen davon, dass dies noch niemandem gelungen ist, projiziert Adorno nur einen bestimmten institutionellen Mechanismus auf diese Tiefenebene – und da diese im Sinne des beanspruchten Totalitätsbegriffs in jeder Mikrodimension sich reproduziert, die von ihr logisch bestimmt wird, resultiert daraus die Vorstellung eines gesamtgesellschaftlichen Zwangsapparates als Basismodell. Adorno bringt dies auch unumwunden zum Ausdruck, etwa in seinem Vortrag Gesellschaft. Es gäbe, so Adorno, »kein soziales Faktum, das nicht durch Gesellschaft determiniert wäre« (GS 8: 10) und stellt dabei die Diagnose eines lückenlosen Repressionszusammenhanges, der bis in die »innersten Verhaltensweisen« (GS 8: 18) der Menschen 83 https://doi.org/10.5771/9783495808221 .

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hineinreicht. Aber es macht keinen Sinn, von der »Bildung« von Subjekten zu sprechen, die sich bis ins Innerste durch Repression formiert, es gibt dann nämlich kein »Inneres« als Objekt der Restriktion. Um aus dieser theoretischen Zwangslage, aus der auch keine Dialektik zu retten vermag, zu kommen, bleibt Adorno wie allen anderen Spielarten des soziologischen Determinismus nur die Hintertür der Psychologisierung des Aktorenbegriffs. Hier wird sie repräsentiert durch die nicht zufällig inflatorisch gebrauchte Metapher der »Lebendigkeit«: »Es bedürfte der lebendigen Menschen, um die verhärteten Zustände zu verändern, aber diese haben sich so tief in die lebendigen Menschen hinein, auf Kosten ihres Lebens und ihrer Individuation, fortgesetzt, daß sie jener Spontaneität kaum mehr fähig scheinen, von der alles abhinge.« (GS 8: 18) Und in der »Theorie der Halbbildung«: »Im Klima der Halbbildung überdauern die warenhaft verdinglichten Sachverhalte von Bildung auf Kosten ihres Wahrheitsgehalts und ihrer lebendigen Beziehung zu lebendigen Subjekten.« (GS 8: 103) Nicht, dass Adornos Begriff der »lebendigen Erfahrung« sich nicht in einen soziologischen Erfahrungsbegriff übersetzen ließe, zumal im Lichte der erfahrungstheoretischen Ausführungen seiner späten philosophischen Schriften, aber: Voraussetzung dafür wäre eben die Verabschiedung vom Monopol des Gesellschaftsbegriffs. Es gibt keine institutionell determinierte Form der Abduktion.

III. Die paradoxe Gleichzeitigkeit von Autonomie und Nicht-Autonomie Das hat auch, soviel sollte schon klar geworden sein, einschneidende Folgen für Adornos musiksoziologisches Programm. Es befindet sich so in der Zwickmühle mit seiner Strategie, Kunstwerkästhetik und soziologische Erkenntnis miteinander zu vereinen – hält man das ästhetische Elementarkriterium stabil, dass die Vorstellung einer bis ins Innerste zwangsbestimmten Werkproduktion einen Widersinn darstellt. Dabei geht es nicht um die zu Tode kritisierte Schimäre der »absoluten Musik«, also eine höchste Sphäre außerhalb jeder äußeren Beeinflussung, sondern um eine eigenlogische Praxisform, die sich immer auch zu bewähren hat in der eigenkriterialen Verarbeitung von Vorgaben. 3 Aber auch diese genuin soziologische Dimension 3

Die problematische Rolle des Begriffs der »absoluten Musik« liegt darin, dass er

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künstlerischer Autonomie ist für Adornos Musiksoziologie nicht in Reichweite. Vielmehr oszilliert sie nicht stillstellbar zwischen Kunstwerkästhetik und Soziologismus. Dies kristallisiert sich um drei Begriffe: Bedeutungsautonomie, Technik und Ware. Wenn die Ideen zur Musiksoziologie den inneren gesellschaftlichen Gehalt von Werken unterscheiden von deren gesellschaftlicher Funktion, so lassen sie dabei die Differenz zwischen zwei nicht aufeinander reduzierbaren Lesarten dieses Unterschieds im Trüben. Es ist eines zu sagen, dass der Erfahrungsgehalt eines Werks nicht seiner funktionsbestimmenden gesellschaftlichen Interpretation entspricht, und etwas anderes, dass der Erfahrungswert von Kunst keine spezifische gesellschaftliche Funktion besitzt – und soweit Gesellschaft einen umfassenden Repressionsapparat darstellt, ist das auch nicht möglich, selbst wenn Adorno sich Hintertüren offen lässt und nur von einer im Wesentlichen fehlenden »Harmonie« zwischen diesen beiden Bereichen spricht. Aber zunächst hat er keinerlei Modellvorschläge zu bieten, welcher gesellschaftlichen Funktion und Stellung die künstlerische Erfahrungsbildung »ihrer eigenen Bestimmung nach« entsprechen könnte. Und das betrifft das Problem der Strukturbestimmung von Institutionalisierungsformen künstlerischer Praxis, wie etwa des Konzertes, unmittelbar. Auch Adornos Beiträge zum Begriff des Musiklebens führen hier kaum weiter, etwa das exemplarische Kapitel »Funktion« aus der Einleitung in die Musiksoziologie. So schlagend dessen gegenwartsdiagnostische Ausführungen zum modernen Musikbetrieb auch sein mögen, so offensichtlich leidet die Konstruktion eines kritischen Gegenentwurfs an den gesellschaftstheoretisch verengten Grundlagen der Diagnose. Diese werden beherrscht von der vorsoziologischen Kehrseitigkeit zwischen einem Zustand totaler Integration und der Exterritorialität des Nichtintegrierten, ohne Perspektive auf das Dritte, die totalitätsimmanenten Sozialbereiche jenseits der institutionellen Determination oder solche, in denen beides sich überschneidet – und wo eben auch das Konzert als Sozialfigur zu verorten wäre. Aber ohne dies wird die Bestimmung der Funktion des wörtlich nicht verwendbar ist, aber für alternativlos genommen wird. Beleg: die notorische Gleichsetzung von »autonom« und »absolut«. Ihren methodologischen Hintergrund bildet der implizite Empirismus der musikwissenschaftlichen Forschung, in dem das Werk entweder als Gegenstand einer formalistischen Subsumtion oder als Schauplatz von Einflüssen erscheint. Im einen Fall stellt die Autonomie des Werks eine reine Abstraktion dar, im anderen Falle zerläuft sie. So rücken Autonomie und Einflusstranszendenz de facto zusammen.

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musikalischen Werks, »welche ihm seinem eigenen Sinn nach zukommt«, zum blinden Fleck. In den Blick tritt dabei nur, warum es eine solche in der heutigen Gesellschaft nicht besitzen kann und natürlich, welche Rolle es in der Vergangenheit spielte –, aber eben nicht, welche strukturelle Rolle ihr heute zukommen könnte. Was die aktuelle Situation angeht, diagnostiziert Adorno eine Fetischisierung von Musik als Refugium der Irrationalität in einer Welt totaler Rationalität, das zu ihrer Bestandserhaltung wesentlich beiträgt: »Die bestehende Gesellschaft vermag sich nicht blank aus ihrem eigenen Prinzip zu entfalten, sondern muss sich mit Vorkapitalistischem, Archaischem amalgamieren; verwirklichte sie ohne ihr heterogene, ›nichtkapitalistische‹ Beimischungen ihr eigenes Prinzip, so höbe sie sich auf. In einer virtuell durchfunktionalisierten, vom Tauschprinzip total durchherrschten Gesellschaft wird das Funktionslose zur Funktion zweiten Grades.« (GS 14: 221) In dieser Gleichsetzung von Funktion und Funktionslosigkeit von Musik wird die besagte Not des blinken Fleckes offenkundig, in der die soziologische Frage nach dem institutionalisierungsrelevanten inneren Pragma des musikalischen Werks nicht mehr gestellt werden kann. Übrig bleibt dann nur die historistische Verortung musikgemäßer musikalischer Institutionen in früheren Zeiten, was aber gleichfalls keine Perspektive liefert für eine historisch übergreifende gesellschaftstheoretische Funktionsbestimmung von Kunstmusik. Im Gegenteil kommt diese dabei eher in die Gefahr, relativiert zu werden zum obsoleten Standesprivileg. Gleichzeitig wackelt in dieser musiksoziologischen Unterbestimmtheit auch der Autonomiebegriff selbst. Denn der historische Blick zurück mag zwar zunächst dem Widerspruch zwischen einem Gesellschaftsbegriff, der keinen Ort hat für spontane Produktivität, und der gleichzeitigen Behauptung des gesellschaftlichen Charakters von Kunst die Schärfe zu nehmen, da sie nur für die gegenwärtige Situation in Anspruch genommen wird, aber man dreht sich dabei im Kreis. Auch die frühere Situation kann keine historisch übergreifende Perspektiven liefern auf Räume einer produktiven Praxis, die sich nicht nur als funktional verwertbares Relikt erhalten würde. Aus der Sicht der heute herrschenden Funktionsgemeinschaft von totaler Integration und archaischen Reliktsubstanzen fällt auch ein Schatten auf das Modell musikalischer Autonomie selbst, die hier erscheint wie ein Vorbote dieses Syndroms. Autonomie und Verdinglichung sind nicht mehr unterscheidbar, wenn das Werk sich bildet als planerische Integration von archaisch-sensuellen Momenten, die solchem 86 https://doi.org/10.5771/9783495808221 .

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Zwang sich nur widerstrebend fügen: »weil die ästhetische Integration ihrer buchstäblich sensuellen, vorkünstlerischen Elemente von je prekär war; weil diese Elemente die ganze Geschichte hindurch darauf lauerten, der Entelechie des Gebildes zu entrinnen und sich zu desintegrieren.« (GS 14: 220) Mit dieser Trübung der Grenzen zwischen Werkkonstruktion und Verdinglichung verweist Adornos paradoxer gesellschaftsdeterministischer Begriff musikalischer Autonomie auf die fundamentale Rationalitätskritik in der Dialektik der Aufklärung mitsamt ihrer Gefahr der Selbstwidersprüchlichkeit »totaler Vernunftskepsis« (Habermas). Noch deutlicher zeigt diese Konsequenz sich in einer zentralen Diskrepanz zwischen den Ideen zur Musiksoziologie und ihrem musikästhetischen Seitenstück, der Mahler-Monographie. Bezieht diese sich auf die musikalische Form als Ausdrucksgestalt sui generis, so tendiert das musiksoziologische Manifest dahin, seinen Gegenstand auf einen rein technischen Komplex zu reduzieren. Wenn Adorno in seiner Einleitung in die Musiksoziologie die »Technik« als »das tertium comparationis zwischen Überbau und Unterbau« bezeichnet (GS 14: 418), so wird der methodische Grund für diese Reduktion deutlich: Techniken aus den in Frage kommenden Strukturebenen sind wesentlich einfacher aufeinander zu beziehen als ganze Formationen. Die scheinbar leichtere Handhabbarkeit gefährdet aber das ganze Projekt, auf soziologische Weise das »eigentliche Verständnis von Musik (GS 16: 10) zu leisten. Gerade mit Adorno selbst lässt sich ja die kompositorische Technik als abhängige ästhetische Dimension fassen, die sich formiert im Zuge der, wie Adorno sagt, »übertechnischen« Sprachfindung eines intuitiven Gestaltimpulses. Die werkspezifische Linie der gestaltlogischen Konstellierung kompositorischer Operationen wäre daher der eigentliche Gegenstand der Analyse. Die technischen Kategorien hingegen können als solche nur abstrakte Kodifikationen individueller Sprachmomente liefern: Auch die technisch kodifizierbare kompositorische Operation stellt nicht einfach nur einen technischen, sondern einen imaginativen Akt dar. Die musiksoziologischen Resultate aus technologischen Befunden sind entsprechend eindimensional: Relationen zwischen musikalischer Logik und außermusikalischen Determinanten reduzieren sich auf unspezifische Analogien in einer leeren Welt mechanischer Verfahrensweisen. Das Werk als technischer Komplex zeigt sich am Ende einem universalhistorischen Prozess der Verdinglichung verhaftet, in dem – nach einem Wort aus der Philosophie der neuen 87 https://doi.org/10.5771/9783495808221 .

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Musik – auch innermusikalische Aufklärung »in Unfreiheit umschlägt« (vgl. GS 12: 69), und die gesellschaftliche Funktion des Autonomisierungsprozesses sich beschränkt auf eine Abspaltung vom Betrieb, die untergründig mit diesem kommuniziert. Für die soziologische Strukturbestimmung des Konzertes als Institution stellt dies ein Sackgasse dar.

IV. Konvergenzen zwischen Adorno und Habermas: die Marktförmigkeit des autonomen kulturellen Raumes Soziologisch weiter kommt man in der Kritik an Adornos Verquickung von Verdinglichung und Autonomisierung, wenn dabei der Begriff der »Warenproduktion« ins Spiel kommt, wie etwa in dem Aufsatz Anmerkungen zum deutschen Musikleben von 1967: »Die Wendung zum galanten Stil hing, wie öfters hervorgehoben wurde, mit den Ansprüchen einer sich formierenden, bürgerlichen Publikumsschicht zusammen, die in Oper und Konzert unterhalten sein wollte. Die Komponisten wurden erstmals dem anonymen Markt konfrontiert. Ungedeckt durch Zunft oder fürstliche Protektion, mussten sie wittern, was gefragt war, anstatt nach ihnen durchsichtigen orders sich zu richten. Sie mussten sich bis ins Innerste zu Organen des Marktes machen; dadurch drangen dessen Desiderate ins Zentrum ihrer Produktion. […] Eben diese auf Divertissement zielende Abwechslung innerhalb der einzelnen Sätze wurde zur Voraussetzung jener dynamischen Relation von Einheit und Mannigfaltigkeit, die das Gesetz des Wiener Klassizismus darstellt. Sie markiert einen immanenten Fortschritt des Komponierens.« (GS 17: 172) Bereits musikologisch ist diese Darstellung manipulativ, da sie die epochale Vereinseitigung hin zur kadenzharmonisch gerasterten Oberstimmenmotivik (um 1720) zum Monopol einer partikularen, ständischen Kultur macht, und so die Breite und Eigenständigkeit der Ausbildung des Wiener klassischen Stils – zu dem auch eigene Divertimento-Quellen aus der Volksmusik und der italienischen Buffa gehören, die mit Marktproduktion nichts zu tun haben – in eine nicht vorhandene Ableitungslinie zwängt. Sodann verunklart sie den grundsätzlichen Unterschied zwischen einem immanenten Paradigmenwechsel innerhalb der Kunstmusik und einem Einbruch in sie von außen. Des Weiteren unterschlägt sie durch ihre versatzstückhafte Inanspruchnahme des Bürgertums als historischer Fortschritts88 https://doi.org/10.5771/9783495808221 .

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marionette die konstitutive Bedeutung feudalistischer Patronage für den »immanenten Fortschritt des Komponierens« innerhalb der Wiener Klassik, es fehlt also ein Begriff des Hofkünstlers, wie ihn etwa Martin Warnke so aufschlussreich dargestellt hat. 4 Und schließlich vermischt sie, und das ist nun für die vorliegende Problemkonstruktion von besonderer strategischer Bedeutung, »Markt« und »Kommerz« – ganz abgesehen davon, dass von einer »Anonymität« des hier in den Blick gerückten frühbürgerlichen Marktes keine Rede sein kann. Adornos Musiksoziologie enthält hier ein Analogon zu einer eingeschliffenen Argumentationsfigur aus der Literatursoziologie, und da diese verquickt ist mit einer öffentlichkeitssoziologischen Perspektive, lässt sich das nutzen für die Behandlung der Frage nach der gesellschaftlichen Funktion musikalischer Autonomie. Bereits im Strukturwandel der Öffentlichkeit von Habermas gibt es ein zentrales Konstruktionsproblem, das dem in Adornos soziologistischem Autonomiebegriff analog ist. Auf der einen Seite stellt sich bei Habermas die Autonomisierung der Literatur im englischen Roman des 18. Jahrhunderts als initialer Schritt in der Formation einer autonomen, bürgerlichen Öffentlichkeit dar – diese nennt er »räsonierend«, da sie nicht mehr der Methode der Autorität, sondern der des besseren Argumentes folgt, also immanenten geistigen Standards jenseits von Geburtsadel und politischer Macht. Auf der anderen Seite gehorcht die Produktion der Argumente dem neuen Literatur- und Zeitungsmarkt, als dem zentralen Forum der neuen Autonomie: »In dem Maße aber, in dem die philosophischen und die literarischen Werke, Kunstwerke überhaupt, für den Markt hergestellt und durch ihn vermittelt werden, ähneln sich diese Kulturgüter jener Art Informationen an [also solchen für ein an Informationen orientiertes rationales Verhalten]. Als Waren werden sie im Prinzip allgemein zugänglich. […] Die Privatleute, denen das Werk als Ware zugänglich wird, profanieren es, indem sie autonom, auf dem Wege der rationalen Verständigung untereinander, seinen Sinn suchen, bereden und damit aussprechen. […] ›Kunst‹ und ›Kultur‹ verdanken, wie Raymond Williams nachweist, überhaupt erst dem 18. Jahrhundert ihre moderne Bedeutung einer von der Reproduktion des gesellschaftlichen Lebens abgelösten Sphäre.« 5 Habermas lässt also überhaupt kei4 Vgl. Martin Warnke: Der Hofkünstler. Zur Frühgeschichte des modernen Künstlers, Köln 21996. 5 Jürgen Habermas: Strukturwandel der Öffentlichkeit, Frankfurt a. M. 1990: 97 f.

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nen Zweifel daran, dass er die Autonomisierung der Kunst als Bestandteil der »Überführung von Kultur in Warenform« 6 betrachtet. Dabei ergibt sich ein Konstruktionsproblem, das er, wie die ganze Literatursoziologie, die diese Argumentation nachbetet, der Thematisierung einfach entzieht: Die Befolgung universalistischer geistiger Standards ist strukturell unverträglich mit Kriterien der Warenproduktion, da man nicht gleichzeitig nach immanenten Qualitätskriterien und in Abhängigkeit von äußeren, kommerziellen Erfolgsstrategien vorgehen kann, auch wenn diese rein symbolisch sein mögen – man also nicht gleichzeitig den Kuchen behalten und ihn essen kann. Da Habermas dies nun aber versucht, vermengt er, ähnlich wie Adorno, künstlerische Autonomisierung und Verdinglichung. Dem entspricht sein soziologisch untriftiger Begriff der »Privatleute«, in dem er Privatheit und Privatismus nicht auseinanderhält. Wenn Habermas vom »Publikum der Privatleute« spricht, so verwandelt sich dabei unter der Hand die Instanz der universalistisch räsonierenden Öffentlichkeit in die Sphäre privater Warenkonsumenten. Über das Forum der »literarischen Öffentlichkeit« »geht der Erfahrungszusammenhang der publikumsbezogenen Privatheit auch in die politische Öffentlichkeit ein. Die Vertretung der Interessen einer privatisierten Sphäre der Verkehrswirtschaft wird mit Hilfe von Ideen interpretiert, die auf dem Boden kleinfamilialer Intimität gewachsen sind.« 7 »Die Selbständigkeit der Eigentümer auf dem Markte entspricht einer Selbstdarstellung der Menschen in der Familie.« Dieses Von-Mensch-zu-Mensch-Modell kann aber nicht der Idee bürgerlicher Privatheit mit ihrer konstitutiven Doppelseitigkeit entsprechen. Zur Vorstellung einer Autonomie des Privatraumes gehört immer schon der innere Bezug zu einem öffentlichen Raum mit seinen eigenen Spielregeln – und d. h als eigenförmiges Komplement. Es macht soziologisch keinen Sinn, die der neuen bürgerlichen Privatheit entsprechende Autonomievorstellung zu halbieren durch ihre Reduktion auf ein neues Modell des privaten Lebens. Diese Vorstellung umfasst hingegen immer auch schon spezifische Autonomiekriterien auf dem Felde der konstitutiven institutionellen Rahmenbedingungen des privaten Raums, und diese bestehen eben aus dem Ensemble der verschiedenen im Modernisierungsprozess ausdifferenzierten eigen-

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sinnigen Handlungssphären, darunter die autonome Kunst. Das moderne Subjekt hat sich darin ebenso kompetent zu bewegen wie in der Kleinfamilie, also etwa die öffentlichen Verkehrsformen zu beherrschen und sich dabei den jeweiligen Anforderungen der pluralen institutionellen Auffächerung zu stellen. Dabei zerschellt auch die Dichotomisierung zwischen einer rollenfreien Privatautonomie und dem autonomiefeindlichen Rollengefüge des öffentlichen Raumes. Denn dieser funktioniert erstens nur durch Spielräume der individuellen Gestaltung und zweitens durch bestimmte tragende Institutionen, die gekennzeichnet sind durch eine Einheit von Rollenförmigkeit und fallorientierter Nichtstandardisiertheit, die sogenannten Professionen. Die bloße Projektion des Privaten in den öffentlichen Raum macht aus diesem eine autonomiefeindliche Sphäre distanzloser Gemeinschaftlichkeit, wo jeder jedermanns Bruder zu sein hat, etwa nach dem Sektenmodell. Wenn Habermas Kultur dabei gleichzeitig darstellt als Warenangebot für Privatleute im juristischen Sinne von »Privatkunden«, so reduziert sich die neue Sphäre der kulturellen Autonomie zum Ort des bloßen privatistischen Symbolkonsums. Der Reduktion des bürgerlichen Autonomiemodells auf ein bloß privatistisches entspricht so die Reduktion des neuen öffentlichen Raumes auf die Institution des Marktes bzw. auf das »stählerne Gehäuse« aus Markt, Bürokratie und politischer Macht. Für einen allgemeinen Begriff des bürgerlichen Lebens stellt dies eine untragbare Schematisierung dar, da dieser nur gewonnen werden kann unter Beachtung seiner jeweils besonderen Ausprägung innerhalb und nicht nur unterhalb der für es spezifischen institutionellen Pluralität, also eben auch im Raume der autonomen Kunst. Und dieser bezeichnet daher mehr als nur ein Reservoir der ständischen Lebensweltgestaltung, etwa im Sinne des Abziehbildchens, das das musiksoziologische Ressentiment aus dem Begriff der »bürgerlichen Kunst« gemacht hat.

V. Die Perspektive einer soziologischen Theorie der Professionen Man hätte mit all den genannten Reduktionen keine Konsistenzprobleme, wenn man, wie etwa Bourdieu, die Hochkultur von vornherein nur als klassenspezifischen Prestigeraum betrachtet. Widersinnig wird die Sache allerdings dann, wenn man Kultur wie Haber91 https://doi.org/10.5771/9783495808221 .

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mas und Adorno immer auch als emanzipatives Autonomiepotential würdigt. Nun gibt es aber auch keinen Zweifel an der institutionellen Bedeutung des Marktes für die autonome Kunst. Wie entgeht man dann den eben kritisierten Konsequenzen? Nur durch eine soziologische Differenzierung des Marktbegriffes und seine systematische Verortung in einer Theorie der gesellschaftlichen Differenzierung, die gleichzeitig eine Perspektive enthält auf die autonome Kunst als einer eigenen Handlungssphäre inklusiuve ihrer spezifischen Berührung mit dem Markt. Hier zeigt sich nun, warum zu Anfang von einer Not an Erklärungsmitteln für das Thema der Institution Konzert gesprochen wurde. Denn einerseits ist diese über die triviale sozialhistorische Beschreibung hinaus zu fassen, andererseits existiert eine solche Theorie der gesellschaftlichen Differenzierung noch nicht. Allenfalls gibt es Ansätze dazu im Rahmen der sogenannten »Theorie der Professionen«. Diese klassische Disziplin der Soziologie, zu der Theoretiker wie Emile Durkheim, Max Weber, Talcott Parsons, oder Thomas H. Marshall zentrale Beiträge geliefert haben, hat einen universalhistorisch tief verankerten zentralen Komplex der Moderne im Visier, nämlich qualifizierte Berufe, die einerseits eine gesamtgesellschaftliche Schlüsselbedeutung besitzen, andererseits aber einer autonomen Professionslogik folgen, die weder dem Markt noch dem administrativen Bereich gehorcht, auch wo sie sich mit beiden berühren mag. Die Soziologie fügt sich also an zentraler Stelle nicht der genannten Konstellation aus Markt, Bürokratie und politischer Macht. Ein Schlüsselproblem dieses Theoriebereichs war seither, dass die zentralen Kriterien für Professionslogik kein homogenes Modell konstruierbar machen, also Fälle, die als klassische Repräsentanten dafür in Frage kommen, nicht untergebracht werden können, weil sie manche Kriterien auch nicht erfüllen. So machte es der klassische Bezugspunkt des akademisch qualifizierten Dienstleisters mit seinem Klientenbezug, sprich also der Arzt und der Rechtsanwalt, schwierig, dem Wissenschaftler ohne Klientenbezug gerecht zu werden, obgleich dieser den Paradefall der akademischen Qualifikation darstellt. Oder es zeigte sich, dass es inkommensurable Formen akademisch expertisierten Klientenbezuges gibt – etwa im Vergleich zwischen Arzt und Ingenieur. Schließlich, und das ist für unseren Zusammenhang ausschlaggebend, ist es noch niemandem gelungen, die autonome Kunst trotz ihrer Affinitäten zu anderen Professionen systematisch darin zu fassen. Am nächsten kommt dem noch die »revidierte Theorie professionalisierten Handelns« von Ulrich Oever92 https://doi.org/10.5771/9783495808221 .

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mann, wobei die »Revision« auch eine kritische Stoßrichtung gegenüber den aktuellen Verflachungen der Theorie enthält. »Für die gegenwärtige Situation [ist bezeichnend], dass sie nicht einmal mehr in der Lage ist, an der Analytik der klassischen, vor allem mit den Namen Hughes, Marshall und Parsons verbundenen Version der Professionstheorie festzuhalten, sondern durchgehend Professionen mit Expertentum und Professionalisierung mit Expertisierung gleichsetzt, obwohl sich in einer entwickelten Professionalisierungstheorie zeigen lässt, dass in gewissen Fällen ›technokratische‹ Expertisierung einer Deprofessionalisierung gleichkommt. Demgegenüber wird hier versucht, die klassische Professionentheorie nicht nur wiederzubeleben, sondern ihre analytischen Defizite zu überwinden, die ich darin sehe, dass sie sich mit der Explikation der institutionellen Erscheinungsformen begnügt, aber deren innere, auf die von ihnen typischerweise zu lösenden Handlungsprobleme zurückführende handlungslogische Notwendigkeit nicht hinreichend explizit erfasst, aus der sich erst jene institutionellen Ausprägungen herleiten lassen.« 8 Auf der hier angepeilten Tiefendimension lassen sich zum einen die formativen Momente von Professionen in größerer Strukturklarheit erfassen als im Vergleich von institutionellen Merkmalen, dabei also subkutane modellspezifische Gemeinsamkeiten bei oberflächlichen Unterschieden erfassen und umgekehrt, zum anderen gesellschaftlich grundlegende Problemzonen erschließen, die hinter der institutionellen Ausprägung von Professionen stehen. Diese liefern natürlich auch entscheidende Hinweise auf eine allgemeine Theorie der gesellschaftlichen Differenzierung. Denn die universalhistorische Ausbildung der professionsspezifischen Bearbeitung jener basalen Problembereiche stellt einen Kernbereich der gesellschaftlichen Entwicklung dar. Oevermann spricht hier von drei »Problemfoci«, wobei der dritte bereits ein historisch spätes Produkt ist. Erstens »die Begründung der gesellschaftlichen Ordnung und der sie material tragende Entwurf von Gerechtigkeit«. 9 Zweitens »[d]ie Aufrechterhaltung und Gewährleistung von leiblicher und psychosozialer Integrität« und drit-

Ulrich Oevermann: »Theoretische Skizze einer revidierten Theorie professionalisierten Handelns«, in: Pädagogische Professionalität. Untersuchungen zum Typus pädagogischen Handelns, hrsg. v. A. Combe u. W. Helsper, Frankfurt a. M. 1996: 70– 183, hier 70. 9 Ebd.: 88. 8

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tens die Kritik der diesbezüglichen Geltungsfragen. Kann man dem ersten Problemfokus das »rechtspflegerische Handeln« zuordnen, so dem zweiten die methodische therapeutische Restitution beschädigter Integrität und dem dritten die eigenlogische Überprüfung von Geltungsansprüchen um ihrer selbst willen. Hier kommt Oevermann auch auf die autonome Kunst zu sprechen, allerdings nur in einer Anlehnung an das Modell erfahrungswissenschaftlicher Geltungsüberprüfung, mit der dieser dritte Professionstypus in die Welt gekommen sei. In dem Moment, in dem sich die »methodisch explizite Erkenntniskritik« als eigener Bereich etabliert hat, »differenziert sich zugleich im Okzident auf dem anderen Gebiet der sinnlichen Erkenntnis die autonome Kunst als eine universale eigenlogische Erkenntniskritik heraus und wandelt sich von der funktionalen […] Affirmation zur Autonomie des unvoreingenommenen Blicks.« 10 Auch wenn dies erst der Anfang einer Bestimmung der Position von Kunst im Rahmen einer Theorie der gesellschaftlichen Differenzierung sein kann, nicht zuletzt, da an dieser Stelle keinerlei Rückbezug gemacht wird auf die zentrale Gegenstands-Dimension, die innere Logik künstlerischen Handelns, und auch wenn bei Oevermann an keiner Stelle von Musik die Rede ist, gibt dies doch einen Eindruck davon, mit welchen theoretischen Schwierigkeiten es eine gehaltvolle Theorie der gesellschaftlichen Funktion musikalischer Autonomie zu tun hat – ganz abgesehen von dem Problem der Verbindung dieser Perspektive mit einer soziologischen Theorie der ästhetischen Erfahrung als Kern einer Theorie des künstlerischen Handelns. Das wäre nur möglich auf dem noch umfassenderen Feld einer neuartigen Praxeologie.

VI. Perspektiven einer soziologischen Theorie des Marktes Aber immerhin kann man von hier aus nochmals einen Blick werfen auf das musiksoziologisch bzw. kunstsoziologisch zentrale Problem eines geeigneten Marktbegriffes. Auch wenn dazu bislang genauso wenig Theorie existiert wie zu einem Professionsmodell künstlerischer Autonomie, kann man doch ein paar elementare Bestimmun-

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gen vornehmen, zumal die Professionalisierungstheorie indirekt dazu Stellung nimmt. Denn auch wenn sie stets die »non-profit-orientation« von Professionen als eines der zentralen Momente ihrer Autonomie hervorhebt und daher von einer strukturellen Unverträglichkeit mit der »Logik des Marktes« spricht, unterstellt sie aber wie selbstverständlich, dass auch professionalisierte Dienstleistungen öffentlich und unter Konkurrenzbedingungen im Medium des Tauschmittels Geld angeboten und nachgefragt werden. Das erfüllt in der Tat volkswirtschaftlich eine der Voraussetzungen für Marktbeziehungen – im Gegensatz etwa zum Naturaltausch oder persönlichen Honorierungen. Allerdings sieht man hier auch gleich, wie unspezifisch der Marktbegriff dabei ist. Um diesen zu spezifizieren, sollte man eine doppelte Differenzierung vornehmen. Zunächst einmal gilt, dass Märkte ein konstitutives Forum der Erweiterung, letztlich Universalisierung öffentlicher Tauschbeziehungen und so auch sozialer Kooperation sind. Dazu gehört ebenso die Ausdifferenzierung universalistischer Tauschmittel, letztlich des Geldes. Das verweist bereits auf eine erste Marktdimension: Er stellt ein öffentliches Forum der kooperativen Alimentation dar. Als solches bildet ein Markt auch ein spezifisches Kommunikationsmedium. Die Volkswirtschaftslehre etwa spricht davon, dass Waren bereits über ihren Preis mit den Konsumenten kommunizieren würden, und in der heutigen Dienstleistungsgesellschaft mit ihrer Transformation von der Ware zur Marke, gehört zur Ware immer auch eine Produktphilosophie, mit der sie eine Käuferschaft identitätsstiftend erwecken möchte. Industrie ist nun immer auch Kulturindustrie – tendenziell wird die Welt, nach einem prophetischen Wort Adornos, zur Reklame ihrer selbst. Schließlich kommt als dritte Dimension die der Wertbildung hinzu. Und hier ist noch eine andere markttypologische Aufgliederung zu machen. Der abstrakte Tauschwert, den ein Produkt oder eine Leistung auf dem Markt erbringt, kann erstens eine Existenzressource sein, die je nach Offenheit des Marktes verwertbar ist zur biographiespezifischen Reproduktion der eigenen Existenz (was strikt zu unterscheiden ist vom bloßen Existenzminium). Gerade durch die Abstraktheit des Tauschwertes bekommt dieser seinen biographisch individuellen Gebrauchswert: je abstrakter, umso offener ist der Spielraum, den er für seine Umsetzung bietet. Von diesem »Existenzwert« der Wertbildung ist zweitens der »Gewinnwert« zu unterscheiden, bei dem es um die bloße Anhäufung von Tauschwerten geht – wenn man so will, ein Grenzfall von Existenzwertigkeit (etwa beim 95 https://doi.org/10.5771/9783495808221 .

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Dagobert-Duck-Typus). Hier hätte man es mit Wertbildung im Sinne von Kommerzialisierung zu tun, die strategische Vereinseitigung auf den Erwirtschaftung von Tauschwerten. Und schließlich gäbe es noch Wertbildung im Sinne von »Wertakkumulation um ihrer selbst willen«. Hier geht es nicht um Reichtum, sondern um sich selbst verwertenden Profit, Wert ist so Verwertungswert – erst hier kann von einem kapitalistischen Markt sprechen mit seiner alles verschlingenden Grenzenlosigkeit. Auf diesem Hintergrund ist es nun möglich, den Kunstmarkt so zu fassen, dass er nicht per se schon seiner Bewertung als Medium räsonierender Öffentlichkeit oder geistiger Innovation rettungslos widerspricht. Das ist abhängig von vier Bedingungen: Erstens hat der Markt ein Forum für den Künstler darzustellen, auf dem er seine Produktion als spezifischen Beitrag zur gesellschaftlich geteilten Arbeit der öffentlichen Bewertung anbietet. Auf dieser Ebene ist die Parallele zum Modell der räsonierenden Öffentlichkeit direkt zu fassen. Historisch zeigt dies sich in der Herausbildung des modernen betrieblichen Konzertwesens aus Vereinsbildungen und Subskriptionsformen. Damit aber diese Öffentlichkeit tatsächlich den Charakter eines Publikums und nicht nur einer Dienstleistungskundschaft besitzt, müssen noch drei weitere Bedingungen hinzukommen. Einmal benutzt der Künstler den Markt primär als universalistische Form der Alimentation, die es ihm gestattet, allein durch seine Arbeit seinen Lebensentwurf zu entfalten. Sodann betrifft der Tauschertrag so nicht nur das jeweilige Produkt allein, sondern die Instanz der Leistung, der es sich verdankt, also eine autonome Existenzform mit ihrer Bindung an eine Sache. Dies entspricht der spezifischen Orientierung am Existenzwert des Produktes, im Gegensatz zu seiner strategischen Verwertung im Sinne des Gewinnes oder der Tauschwertkumulation. Bourdieu hat für letzteres hier den Begriff des nichtmonetären kulturellen Kapitals bereitgestellt. Der kapitalisierte Wert wäre hier das machtbesetzte Prestige, das das Produkt im Sinne äußerer symbolischer Erfolgskriterien, denen der Produzent sich anverwandelt, erbringt. Das Produkt wird nicht um seiner selbst willen der Bewertung angeboten, in seiner unvertauschbaren inneren Qualität, sondern als austauschbares Klischee um der klischeespezifischen Machtbildung willen erzeugt. Im Falle eines spezifischen Kunstmarktes entspricht die Wertbildungsperspektive auf eine zugespitzte Weise der Orientierung am Existenzwert des Produktes. Dieser dient hier nicht nur der autonomen materiellen Reproduktion des Anbieters, sondern gleich96 https://doi.org/10.5771/9783495808221 .

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zeitig seiner symbolischen, die hier existentiellen Charakter besitzt. Der Tauschwert stellt so gleichzeitig eine Form der Anerkennung des Produktes um seiner selbst willen dar, professionalisierungstheoretisch gesprochen: eine Honorierung durch eine Klientel. Es kommt noch eine weitere Voraussetzung ins Spiel: die Konzentration auf einen »geschlossenen Markt«, um eine wertvolle Kategorie von Fernand Braudel zu verwenden. Man kann sagen: zur Autonomie der künstlerischen Produktion gehört die Autonomie ihres Marktes, und dieser gehorcht eben nicht anonymen Verwertungskriterien. Die stereotype Rede von »dem Markt« macht die Sache unkenntlich. Die Kommerzialisierung der Kunst beginnt nicht schon auf dem Kunstmarkt selbst, sondern, wenn dieser anderen Markttypen unterworfen wird oder sich mit ihnen vermischt. Hier wären die verschiedenen Vermittlungsinstanzen unter die Lupe zu nehmen: Verleger, Galeristen, Konzert- und Künstleragenturen usw.

VII. Das innere Pragma des autonomen Werks und die Struktur der Institution: Konzert Wie käme man nach all dem nun weiter mit der Institution Konzert? Auf jeden Fall wäre der Ausgangspunkt Adornos »Idee« der Strukturbestimmung der künstlerischen Produktion selbst, soziologisch gesprochen, als einer autonomen Praxisform. Diese wäre im Rahmen eines allgemeinen Modells von Praxis nach ihrer spezifischen Bedeutung zu befragen. Dabei wird man schnell feststellen, dass sie zum einen Möglichkeiten der Klangkonstruktion um ihrer selbst willen verfolgt, was sie von einer außermusikalisch eingebundenen Praxisform unterscheidet, und zum anderen, dass sie sich dabei an universalistischen Kriterien der Geltung orientiert, die sie von einer Privatsprache grundsätzlich unterscheidet. Autonome Kunstmusik ist per se ein Medium der öffentlichen Rezeption und Bewertung. Dadurch stellt sie eine Kommunikationsform eigener Art dar: die Ausdifferenzierung von geeigneten öffentlichen Orten für die Darstellung und das Hören von Klanggestalten um ihrer selbst willen ist institutionell zwingend. Man kann so vom inneren Pragma des autonomen Werks sprechen, das sich nicht erschöpft in seiner Produktion, sondern einen öffentlichen Kommunikationsakt mit einschließt. Das bedeutet auch, dass der Ursprungsort dieser Kommunikation der öffentliche Raum ist und nicht der musikalische Privatraum, dieser kommt historisch 97 https://doi.org/10.5771/9783495808221 .

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später hinzu und nimmt immer auch ein Stück öffentlicher Kommunikation mit in sich hinein. Recht eigentlich entsteht das Werk erst innerhalb dieses öffentlichen Kommunikationsakts, da es nicht komponiert ist als ein fixer Gegenstand, sondern als virtuelles Zentrum in einer Unendlichkeit möglicher Interpretationen, die angewiesen sind auf den Aufführungsvollzug. Der nächste methodische Schritt wäre die Strukturbestimmung solcher Orte und der Versuch, ein Passungsverhältnis herzustellen zwischen diesen und der Eigenart des Kommunizierten. Als elementarste Dimension ist dabei die Konzentration auf die Musik um ihrer selbst willen und eine dafür geeignete Architektur festzuhalten. Dazu kommt eine spezifische, stumme Form des öffentlichen Verkehrs zwischen Künstler und Publikum, die man im Anschluss an Erving Goffman als »bestätigenden Austausch« bezeichnen könnte. Das Publikum schenkt dem Interpreten seine Aufmerksamkeit als Instanz eines gestaltfokussierten Bewertungsaktes. Das beginnt mit der Präsenz als solcher, die eine Investition von Lebenszeit und Honorierungsmitteln zum Ausdruck bringt. Der Interpret schenkt dem Hörer seine Aufmerksamkeit durch die relevante Darbietung eines spezifischen Bewertungsobjektes. Ein weiteres zentrales Moment dieser eigenförmigen Kommunikationsweise stellt die Rahmung der Werkdarbietung durch instanzenspezifisch ritualisierte Akklamationssignale, Applaus genannt, dar – eine grußartige Ehrerbietung von Seiten des Publikums, die erwidert bzw. getauscht wird durch die Ehrerbietung der Verbeugung vor diesem durch den Interpreten. Erstere signalisiert zu Anfang die angesonnene Ereignisrelevanz der Aufführung und gibt so dem Künstler eine verpflichtende Anerkennungshypothek mit auf den Weg, die dieser mit der Verbeugung würdigt. Am Ende erlaubt sie die Unterscheidung von positiver und negativer Bewertung. Aber was wird hier kommuniziert? Autonome Klanggestalten, sicherlich, nur, das allein hätte wegen Irrelevanz nicht zur Ausbildung der Institution Konzert geführt. Die Beantwortung dieser Frage sei anderen Gelegenheiten vorbehalten. Einstweilen erlaube ich mir zu schließen mit einem Zitat aus dem Mythologica von Claude Lévi-Strauss, das allerlei Anlass zum Nachdenken in dieser Angelegenheit bietet: »[Wie beim Mythos] aktualisiert sich die Absicht des Komponisten […] durch den Zuhörer hindurch und mit ihm. Im einen wie im anderen Fall lässt sich in der Tat die gleiche Umkehrung der Beziehung zwischen Sender und Empfänger beobachten, da es letztlich der zweite ist, der sich durch die Botschaft des ersten dechiffriert sieht: die 98 https://doi.org/10.5771/9783495808221 .

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Musik lebt sich in mir, ich höre mich durch sie. Der Mythos und das musikalische Werk erscheinen so als die Dirigenten eines Orchesters, dessen Zuhörer die stummen Spielenden sind.« 11

Claude Lévi-Strauss: Mythologica I. Das Rohe und das Gekochte, Frankfurt a. M. 1971: 33.

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Modi der Moderne Adornos Material, Luhmanns Medium und eine andere Musikgeschichte Larson Powell

I. An einer Schlüsselstelle der Ästhetischen Theorie stellt Adorno die Moderne vor »die Alternative […], entweder aus der Kunst herauszufallen oder deren eigenen Begriff zu verändern« (GS 7: 97). In beiden Fällen käme man nicht umhin, auch die Geschichtsschreibung anders zu konzipieren. Adornos Zeitgenosse Raymond Williams erklärt im gleichen Kontext, es sei nötig, »to search out and counterpose an alternative tradition taken from the neglected works left in the wide margin of the century«. 1 In der Kunst- oder Literaturgeschichte ist ein solches Umdenken längst geschehen, und neben älteren teleologischen Modellen finden sich Ansätze, die eine Archäologie der Moderne im Sinne Foucaults 2 oder Evolutionskonzepte à la Luhmann vertreten. 3 Nur die Musikgeschichtsschreibung hinkt hinterher. Zwar hat man Versuche unternommen, »die Moderne nach dem Ende der Postmoderne« neu zu denken, aber das ist nicht stets mit der wünschenswerten begrifflichen Genauigkeit geschehen. 4 Besonders im englischsprachigen Raum wurden unter dem Einfluss der New Musicology und des New Historicism allzu wohlwollende Pluralismen angeboten, die trotz großem rhetorischen Aufwand ihre methodologischen Mängel nicht verdecken konnten. Ich versuche, solche Defizite 1 Vgl. Raymond Williams: The Politics of Modernism. Against the New Conformism, London/New York 1990: 35. 2 Am bekanntesten: Thierry de Duve: Kant after Duchamp, Cambridge 1996. Der Ansatz von Timothy J. Clarke: Farewell to an idea: Episodes from the History of Modernism, New Haven 1999 ist als »archaeology of modernism« betrachtet worden (vgl. die Rezension von David Joselit, in: ArtForum International, May 1999). 3 Vgl. Dirk Kretschmar: »Stil im Sozialsystem ›Kunst‹«, in: Textprofile stilistisch: Beiträge zur literarischen Evolution, hrsg. v. Ulrich Breuer u. Bernhard Spies, Bielefeld 2011: 21–41. 4 Vgl. die Sammelbesprechung von Björn Heile: »Musical Modernism, Sanitized«, in: Modernism/Modernity 18 (2001), H. 3: 631–637.

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zu vermeiden, wenn ich im Folgenden skizziere, wie eine Musikgeschichtsschreibung aussehen könnte, die von Niklas Luhmanns Evolutions- und Medientheorie gelernt hat. Darin folge ich einigen neueren Autoren, die Brücken zwischen Luhmanns Kunst der Gesellschaft und Adornos Ästhetischer Theorie geschlagen haben, ohne einem schlichten Eklektizismus zu verfallen. 5

II. Eine passende Ausgangsfrage für die Neubestimmung der Musikgeschichtsschreibung wäre: Welche Folgen hätte es, wenn wir Adornos Materialbegriff durch Luhmanns Idee einer Unterscheidung von Form und Medium ersetzten? Die Annahme der »Tendenzen des Materials«, entscheidend für Adornos Geschichtsmodell, hatte schon Dahlhaus scharf kritisiert. Seine Kritik geht bereits in Richtung der gegenseitigen Vermittlung von Form und Medium bei Luhmann. Ähnlich wie Medien für Luhmann sich nur in Formen beobachten lassen, kann es für Dahlhaus kein Material geben abseits vom »Inbegriff der Spuren früherer Werke in den Tonzusammenhängen«. Daraus folgert er: »Die Erfahrung mit Werken bestimmt dann den Charakter des Materials, nicht umgekehrt«. Freilich warnt er sofort vor einer »einseitige[n] Akzentuierung der einzelnen, individuellen Werke«. 6 Es überrascht, dass Adornos Hauptzeuge für die Historizität des Materials der verminderte Septimenakkord ist. Stimmiger wäre die Kadenz gewesen, deren funktionaler Zerfall sich in zahllosen Werken der Jahrhundertwende hören lässt. Wenn Adorno von ihr ausgegangen wäre, hätte er vielleicht eingesehen, dass sein musikalisches Material in sich paradoxal ist. Im Grunde fällt es mit dem Halbtonschritt zusammen. Der aber verkörpert widersprüchliche Tendenzen: Einerseits wird er – innerhalb der Tonalität – mit dem Drang des Leittons zur Auflösung assoziiert, andererseits mit einer Tendenz zur totalen Vgl. Harry Lehmann: Die flüchtige Wahrheit der Kunst, München 2006; Katrin Ischinsky: Die andere Seite der Form. Über das Verhältnis von Kunstwerk und Theorie im Theoriedesign von Adorno und Luhmann, Diss. phil. 2002, Universität Essen [http://duepublico.uni-duisburg-essen.de/servlets/DocumentServlet?id=10643: 06. 02. 2015]. 6 Carl Dahlhaus: »Adornos Begriff des musikalischen Materials«, in: Ders.: Gesammelte Schriften 8, hrsg. v. Hermann Danuser, Laaber 2005: 279 f. 5

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Chromatisierung versehen. Beides spielt in der Philosophie der neuen Musik eine Rolle. Der Titel von Adornos letztem Buch Berg. Der Meister des kleinsten Übergangs allegorisiert letztlich seine eigene Methode, die der dialektisch entfalteten Paradoxie. Einen solchen Zwiespalt darf man vielleicht dem Einfluss Ernst Kurths zurechnen. Nach Ludwig Holtmeier sollte die Harmonik bei Kurth »gleichzeitig Kadenzraum- und Tonleiter-Tonalität sein«. 7 In der Sprache Luhmanns wäre der Halbtonschritt gleichzeitig Bezeichnung und Unterscheidung. Er kann sowohl innerhalb der Tonleiter bezeichnen, wie auch zwischen den zwölf Tönen der gleichstufigen Stimmung unterscheiden. Er ist Teil sowohl des akustischen Mediums der gleichstufigen Unterteilung der Oktave als auch des Mediums der Tonalität. Als Leitton ist er Form in einem Medium, als Teil einer Kadenz Medium einer anderen Form. Diese Auflösung der adornoschen Materialparadoxie bedeutet auch das Ende der in ihr angelegten Geschichtsphilosophie, ohne darum freundlichen Pluralismen oder Eklektik zu verfallen. 8 Adornos Materialästhetik ist in mancher Hinsicht mit der älteren Idee der »medialen Spezifik« verwandt, wie man sie etwa in der Filmtheorie von Arnheim oder Kracauer findet. 9 Dagegen können Medien bei Luhmann, obschon historisch bedingt, keine causa finalis sein. 10 »Medien werden aus immer schon geformten Elementen geVgl. Ludwig Holtmeier: »Von der Musiktheorie zum Tonsatz. Zur Geschichte eines geschichtslosen Fachs«, in: Musiktheorie zwischen Historie und Systematik, hrsg. v. Ludwig Holtmeier, Michael Polth, Felix Diergarten, Augsburg 2004: 13–34, hier 34. Henry Klumpenhouwer bemerkt, in seiner Geschichte der Beziehung zwischen Tonleitertheorie (»scale degree theory«) und Funktionalismus, »the dualism immanent in the interaction between the notion of dyadic interval – measuring magnitude alone, as in ›major third‹ or ›perfect fifth‹ – and the notion of directed interval – measuring both magnitude and direction«. Vgl. Henry Klumpenhouwer: »Dualist tonal space and transformation in nineteenth-century musical thought«, in: The Cambridge History of Western Music Theory hrsg. v. Thomas Christensen, Cambridge 2002: 456–476, hier 466. Diese Spannungen hat Adorno auf seine Perspektive nichttonaler Harmonik übertragen. 8 Vgl. die sehr skeptischen Bemerkungen am Ende des 5. Kapitels von Die Kunst der Gesellschaft: »Aber die Kombination diverser Stilzitate ist nicht als solche schon Programm. Sie kann gelingen oder misslingen. Sie muss sich dem Kode der Kunst stellen.« Vgl. Niklas Luhmann: Die Kunst der Gesellschaft, Frankfurt a. M. 1995, S. 340. 9 Zur Kritik dieser Argumentation vgl. Noel Carroll: »The Specificity of Media in the Arts«, in: Journal of Aesthetic Education 19 (1985), H. 4: 5–20. 10 Norbert Meder: »Theorien der Medienbildung. Selbstverständnis und Standortbestimmung der Medienpädagogik«, in: Jahrbuch Medienpädagogik 6: Medienpäda7

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bildet, denn anders könnte weder von loser noch von fester Kopplung die Rede sein.« 11 Einerseits ist »Formendifferenz […] nicht durch Formenwahl bedingt […], sondern durch das jeweils zugrundeliegende Medium, dessen lose Kopplung strikte Kopplungen ermöglicht.« Andererseits »sind Formen immer stärker, also durchsetzungsfähiger als das Medium selbst. Das Medium setzt ihnen keinen Widerstand entgegen – so wie Worte sich nicht gegen Satzbildung, Geldbeträge sich nicht gegen Zahlungen zu bestimmten Preisen sträuben können.« 12 Um den Unterschied zwischen Luhmanns Medienbegriff und dem traditionellen dingontologischen Substrat oder hypokeimenon noch klarer zu fassen 13, sei mit Joachim Paech hinzugesetzt: »Das Medium einer Skulptur etwa ist nicht der Stein, aus dem sie ebenso wie aus Eisen oder Bronze gemacht sein kann, sondern das, was sie als Skulptur, d. h. als Form, vom Stein, Eisen oder Bronze unterscheidet und als Form im Raum beobachtbar macht.« 14 Das heißt nichts anderes, als dass das Medium selbst eine Unterscheidung ist. »Das Medium der Kunst ist demnach für alle Kunstarten die Gesamtheit der Möglichkeiten, die Formgrenzen (Unterscheidungen) von innen nach außen zu kreuzen und auf der anderen Seite Bezeichnungen zu finden, die passen, aber durch eigene Formgrenzen ein weiteres Kreuzen anregen.« 15

Im Falle der Tonalität wäre das konkret die Möglichkeit einer Modulation, wie schon Max Weber sah. Ein fis innerhalb von C-Dur bietet die Möglichkeit, die Grenze zu G-Dur zu kreuzen. Historisch gesehen geht die Ausdifferenzierung eines Mediums Hand in Hand mit einer

gogik. Standortbestimmung einer erziehungswissenschaftlichen Disziplin, hrsg. v. Werner Sesink, Michael Kerres u. Heinz Moser, Wiesbaden 2007: 55–73, hier 67) hat vorgeschlagen, die »causa medialis« sei »eine Funktion der vier aristotelischen causae […] wobei die causa formalis sowie die causa materialis […] dominieren.« Das ist, wohlgemerkt, auch eine Paradoxie: dass Medien eine causa formalis sein können. 11 Luhmann: Die Kunst der Gesellschaft (Anm. 8): 172; vgl. auch 205. 12 Ebd.: 186, 169 f. 13 Heidegger hat die Reduktion des hypokeimenon auf das mittelalterliche subiectum diskutiert. Vgl. Ders.: »Der Ursprung des Kunstwerkes«, in: Holzwege (Gesamtausgabe 5), Frankfurt a. M. 1977: 7 f. 14 Joachim Paech: »Paradoxien der Auflösung und Intermedialität«, in: Hyperkult. Geschichte, Theorie und Kontext digitaler Medien, hrsg. v. Martin Warnke, Wolfgang Coy, Georg Christoph Tholen, Basel 1999: 331–367, hier: 333. 15 Luhmann: Die Kunst der Gesellschaft (Anm. 8): 191.

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Doppelrahmung, wie Luhmann anhand eines Beispiels aus der Theatergeschichte verdeutlicht: »Die Ausdifferenzierung des schönen Scheins entfernt die Kunst nicht aus der zugänglichen Welt. Deshalb muss das Medium durch eine Doppelrahmung konstituiert werden: durch eine Täuschung, die zugleich auf Grund besonderer Anhaltspunkte als solche durchschaut wird; durch ein inneres Medium der Formung eines Materials wie Farbe, Sprache, Körperbewegung, räumliches Arrangement, in einem äußeren Medium der auffälligen Besonderheit und Abgrenzung, die sicherstellt, dass die Formen der Kunst wahrgenommen werden und nicht als Holz oder Anstrich oder als einfache Mitteilung oder als menschliches Verhalten. Diderot wird, einhundert Jahre später, vom Paradox des Schauspielers sprechen, der die Täuschung zugleich aufführen und dementieren muss.« 16

Das klassische Beispiel einer solchen Doppelrahmung ist das Theaterstück innerhalb eines anderen Stücks, wie in Hamlet. 17 Was wäre ein musikalisches Pendant dazu? Mit Hinweis auf Foucaults historische Periodisierung hat Gary Tomlinson in seinem Buch Music in Renaissance Magic vorgeschlagen, Monteverdis Lamento della ninfa aus dem Achten Madrigalbuch (1638) sei »an der Grenze zwischen einer Epoche musikalischer Ähnlichkeit und einer der musikalischen Repräsentation«. 18 Die alte musica ficta wäre demzufolge der Geburtshelfer einer neuen Praxis musikalischer Fiktion. Das so konstruierte Medium wird dann um 1900 gesprengt werden, von Regers nichtfunktionaler Harmonik und plötzlichen »Rückungen« 19 oder von Debussys koloristischen Akkordfolgen. Die möglichen Konsequenzen, die daraus gezogen wurden, waren indes zahlreich; gerade hier weicht eine evolutionäre Musikgeschichtsschreibung, wie sie im Anschluss an Luhmann verfasst werden könnte, deutlich von Adornos materialgetriebenem Modell ab. Die eine mögliche Konsequenz des Zerfalls der Tonalität als Medium war Ebd.: 178. Vgl. The Play within the Play. The Performance of Meta-Theatre and Self-Reflection, hrsg. v. Gerhard Fischer u. Bernhard Greiner Amsterdam 2007, bes. David Roberts: »The Play within the Play and the Closure of Representation«: 37–46. 18 Gary Tomlinson: Music in Renaissance Magic (Chicago 1993): 239. Vgl. Eric T. Chafe: Monteverdi’s Tonal Language, New York 1992, 2 (zum Repräsentativen bei Monteverdi), 6 (den Ähnlichkeiten zur Rhetorik), sowie 20 (der Hierarchie der Stufen). 19 Vgl. Roman Brotbeck: Zum Spätwerk Max Regers, Wiesbaden 1988: 14; Rainer Cadenbach: Max Reger und seine Zeit, Laaber 1991: 229, 237. 16 17

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Schönberg, worin – wie Johannes Kreidler bemerkt hat 20 – die Zwölftonreihe zum neuen Medium wird. Die andere stammt von Debussy und muss hier etwas näher diskutiert werden, weil sie bei Adorno nur sehr kursorisch behandelt wird. An einer Stelle zu Ravel erwähnt er »die eigentümliche, von Brahms ganz verschiedene Rolle der Modalität. Die Kirchentonarten geben ein Surrogat für die tonalen Stufen ab. Diese aber werden durch den Fortfall der Kadenzfunktion, den die Modalität begünstigt, entdynamisiert. Der Archaismus der Organum- und faux bourdonWirkungen hilft eine Art stufenweisen Fortgangs der Musik zu Wege zu bringen und doch das Gefühl des statischen Nebeneinanders zu erhalten.« (GS 12: 172 f.)

Was Adorno hier nicht bemerkt, ist erstens, wie viele Komponisten dem modalen Modell gefolgt sind, das von dem von ihm gemeinten »Hauptstrom« abzweigte. Man denke an Roussel, Enescu oder Jolivet, die alle unabhängig von Strawinsky gearbeitet haben. Zweitens wird der lineare oder diastematische Aspekt dieser modalen Abzweigung (oder »Tendenz«?) nicht analysiert. Ihn könnte man eine Poetik der Arabeske oder der Formel nennen – und auf Debussy hinweisen. Seine Verwandschaft mit der Ästhetik des Jugendstils ist bekannt, sein spezifisch musikalisches Funktionieren weniger. Wenn man auf Einzelheiten eingeht, werden die Konsequenzen des Mediumbegriffs zu weit mehr als zu einer klassifikatorischen Umtaufung. Ein konkretes historisches Beispiel mag das verdeutlichen. James Hepokoski hat Debussys formelhafte Anfänge analysiert wie z. B. den monophonischen Anfang von Printemps mit seiner »smooth elegant shape: the Debussyian arabesque«; sie ist »static, undular, and revolves around a central pitch«. 21 Trotz der Doppeldeutigkeit solcher Anfänge, die »a rather weak tonic« beinhalten, »because of the use of pentatonicism, chromaticism, modality, gapped scales, or other such devices«, »they are often richer than much of the interiors of the works they begin«. 22 Hepokoski erwähnt frühere Formelpraktiken in

Johannes Kreidler: »Medien der Komposition«, in: Musik und Ästhetik 12 (2008), H. 48: 5–22, bes. 11 ff. 21 James Hepokoski: »Formulaic Openings in Debussy«, in: Nineteenth Century Music 8 (1984), H. 1: 44–59, hier 46. Hepokoski erwähnt die Arbeiten von Claudia Maurer-Zenck und Françoise Gervais zu Debussys Arabeske. Vgl. auch Jann Pasler: »Timbre, Voice Leading and the Musical Arabesque in Debussy’s Piano Music«, in: Debussy in Performance, hrsg. v. James Briscoe, New Haven 1999: 225–283. 22 Hepokoski: »Formulaic Openings in Debussy« (Anm. 21): 48, 54. 20

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der Centonisation, will aber Debussys Formel unabhängig davon definieren: »as a sequence of ordered procedures rather than as stereotypical sonic material per se. Process and relationships are more decisive than the objective sound, and any two members of the same formulaic category may sound quite dissimilar.« 23

Die Formel ist also eine strukturelle Kategorie, eine Form im Medium der Modalität; Karl Heinz Wörner nannte sie »Modellvariante« und wollte ihren Ursprung in der Romantik finden, in Schumanns vierter Symphonie und bei Wagner. 24 Der Anfang des Sacre du Printemps könnte man als Formel betrachten; Formeln finden sich auch bei Enescu (zweite Violinsonate) und Nielsen (fünfte Symphonie, 1. Satz). 25 Charakteristisch für sie sind eine amorphe Qualität, das Vermögen zur Ausdehnung und zur Paraphrase, zuweilen mit internen Wiederholungen, Invarianz und ein begrenzter diastematischer Umfang. Die Formel lässt sich dem Einfall entgegensetzen. Im Gegensatz zum wagnerschen Motiv, setzt sie sich nicht selbst als bestimmte Aussage (énoncé); ihr fehlt die für eine »gute Gestalt« notwendige Prägnanz. Sogar beim späten Brahms kann man ihre Vorgeschichte aufspüren, in den fast gregorianischen Linien des Klarinettentrios. Die Semantik der Formel ist eine der Latenz. Sie ist sozusagen die Befreiung des Ornaments aus seiner Marginalisierung durch die klassische Ästhetik und ihre Doppelrahmung.

III. Die zweite Bruchstelle in der Geschichte der musikalischen Moderne fällt in die Zeit zwischen 1945 und 1950 und ist ebenfalls medial bedingt. Hier geht es aber nicht nur um das harmonische Material oder das Medium der Musik, sondern vor allem um ihre instrumentalen Ebd.: 57. Vgl. Karl Heinz Wörner: Das Zeitalter der thematischen Prozesse in der Geschichte der Musik, Regensburg 1969. 25 Daniel Grimley: Rez. v. John Fellow (Hrsg.): Carl Nielsen til sin samtid (Carl Nielsen to his Contemporaries), Copenhagen 1999, in: Journal of the Royal Musical Association 126 (2001), H. 1: 106–117, bes. 110. Vgl. auch Larson Powell: »Form and Formula in Enescu’s Middle Period«, in: Music and Society in Eastern Europe, 4/5 (2009–10): 1–42; Ders.: »Latent Modernism: Formula and Athematism in Later Roussel«, in: Search: Journal for New Music 5 (2009). 23 24

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Mittel, d. h. um die Elektronische Musik. Es ist der Verdienst Friedrich Kittlers, uns auf die historische Rolle der Medien in der Spätmoderne aufmerksam gemacht zu haben. Seltsamerweise hat Kittlers Variante der Medientheorie Adornos Geschichtsteleologie aber nur durch eine neue Form des Determinismus ersetzt: Der marxistische Begriff der »Tendenzen des Materials« wird hier von medialer Kausalität verdrängt. 26 Infolge dieser Reduktion hat Kittler die Konsequenzen des Medienbegriffs nicht zu Ende denken können. Wie Georg Christoph Tholen bemerkt hat, »ist es gerade die[se] den technischen Medien zugeschriebene Funktion, historische Schwellen oder Zäsuren zu markieren, die nicht eigens reflektiert wird und folglich ausufernde Spekulationen über die Krise des Menschen freisetzt. Gleichviel, ob hierbei das apokalyptische Ende des Menschen oder die euphorische Ankunft einer vollends subjektlosen Maschinerie angekündigt wird.« 27 Solche Metaphorik – die man als eine Wiedergeburt des Erhabenen beschreiben könnte – zehrt von der unreflektierten Weiterwirkung der Rhetorik beim Einsatz der Medien, deren unhintergehbare Bedingung, Tholen zufolge, die sprachliche Vermittlung oder Einbettung bleiben muss. 28 Mediale Zäsuren in der Kulturgeschichte sind nicht nur Brüche, sondern auch vermittelt; sie sind eine »Verbindung in der Trennung«. 29 Denn Medien – ob in ihrer technischen Form oder, soziologisch konzipiert, als symbolisch verallgemeinerte Kommunikationsmedien – bedeuten weniger Notwendigkeit als Kontingenz. Medien »bestimmen« nicht »unsere Lage« 30, wie es in einem berühmten Kittlersatz heißt, sondern sie erzeugen Kontingenzen und fangen sie auf. Man kann ihnen also nur modaltheoretisch gerecht werden. Medien sind Strenggenommen müsste man sagen: von Medien und Macht. Der diffusen foucaultschen Verallgemeinerung von Macht als Supermedium kann ich aber nicht folgen. 27 Vgl. Christoph Tholen: »Digitale Differenz. Zur Phantasmatik und Topik des Medialen«, in: HyperKult (Anm. 14): 99–116. 28 Lars Friedrich hat auch auf die Schlüsselstelle der Rhetorik bei Kittler hingewiesen. Vgl. Ders.: »Die Rhetorik der Programmierung. Kittler, de Man und die Allegorie der Zahl«, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 78 (2004), H. 3: 499–532. 29 Isabel Maurer-Queipo, Nanette Rissler-Pipka: »Einleitung«, in: Spannungswechsel. Mediale Zäsuren zwischen den Medienumbrüchen 1900/2000, hrsg. v. Isabel Maurer-Queipo u. Nanette Rissler-Pipka, Bielefeld 2005: 4. Vgl. auch Joachim Michaels: Telenovelas und kulturelle Zäsur: Intermediale Gattungspassagen in Lateinamerika, Bielefeld 2010, bes. 24–29 zur kulturellen Einbettung von Medien. 30 Friedrich Kittler: Grammophon, Film, Typewriter, Berlin 1986: 5. 26

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Modi der Moderne. Damit ist unsere Leitidee der Modalität erheblich abstrakter geworden, und bezeichnet nicht nur ein harmonisches Medium, sondern Medialität schlechthin. Zwei Aspekte dieser Auffassung von Medien als Kontingenzgeneratoren sind im Folgenden zu skizzieren. Erstens sind Medien in sich metaphorisch. Der Technikphilosoph Christoph Hubig hat das so formuliert: »Greift man auf das Konzept ›Medium‹ zurück, findet man […] nur einen letztlich metaphorischen Kern. Dieser weist allerdings Eigenschaften einer eigentlichen und absoluten Metapher auf […], die nicht einfach in Begriffe übersetzbar ist, auch nicht bloß heuristische Funktion hat, sondern eine grundlegende Orientierung unseres Denkens ausdrückt, die bestimmte Strategien der Explikation formiert, also Vorstellungen zu erzeugen erlaubt und nicht ihrerseits Gegenstand einer Vorstellung ist. Eine solche Metapher appelliert gleichsam, dasjenige zu erschließen, worauf sie den Blick lenkt. Und dies ist, was im weitesten Sinne ›Möglichkeit‹ ausmacht, von der wir keine direkte Vorstellung gewinnen, sondern zu deren Erschließung wir uns weiterer (abgeleiteter) Metaphern bedienen, z. B. der des ›Raumes‹.« 31

Die Modalität der Medien ist mit ihrer Metaphorizität verschränkt. Das bedeutet auch, dass es einen »harten« Unterschied zwischen Hardware und Software streng genommen nicht gibt. Gerade dieser Unterschied war vor anderthalb Jahrzehnten denen ein Stein des Anstoßes, die zwischen Systemtheorie und Medientheorie zu vermitteln trachteten. 32 Hubig – der Medien als spezifisches Beispiel von »Technik« im Allgemeinen sieht – versucht also, nach Hegel zwischen inneren und äußeren Medien zu differenzieren, unterstreicht auch aber, dass »aus dem tatsächlichen technischen Vollzug« Veränderungen im Medienkonzept selbst erfolgen. Medien »sind« nur in ihrem Vollzug, wie ein anderer Medienwissenschaftler zu Recht behauptet hat; sie sind operativ und nicht ontologisch. 33 Zweitens: Dieselbe Kontingenz, dieselben »Möglichkeitsräume« finden wir auch in der neueren Wissenschaftsgeschichtsschreibung, so z. B. bei Hans-Jörg Rheinberger. Im Kielwasser von Bachelard, Christoph Hubig: »Technik als Medium und Technik als Reflexionsbegriff« Philosophisches Kolloquium, Universität Dresden, 9. 7. 2008 [http://www.philosophie. tu-darmstadt.de/institut/mitarbeiterinnen_1/professoren/a_hubig/downloadbereich/ downloadsprofhubig.de.jsp [07. 02. 2015]. 32 Vgl. z. B. Kommunikation Medien Macht, hrsg. v. Rudolf Maresch u. Niels Werber, Frankfurt a. M. 1999. 33 Wolfgang Ernst: Chronopoietik, Berlin 2013. 31

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Canguilhem und Foucault will Rheinberger die Wissenschaftsgeschichte auch anhand von Umbrüchen und Zäsuren nachzeichnen. Die Kontingenz dieser Geschichte lokalisiert er im Prozess der Entdeckung, im Experimentalsystem, der kleinsten Einheit der Wissenschaft. Wie bei Hubigs technischen Medien sind Wissen und Machen, episteme und poiesis, manchmal schwer voneinander zu unterscheiden. Für Rheinberger gilt, »dass man, was man machen kann, nur gerade so weiß, wie man es jeweils und lokal macht, und auch das nicht einmal ganz.« 34 Der Entdeckungs- oder Forschungsprozess besteht aus der Herstellung solcher Ungewissheiten: »Paradoxerweise könnte man formulieren, das ›Ziel‹ des Forschungsprozesses ist es, etwas zu produzieren, das definitionsgemäß nicht in einer ›ziel‹gerichteten Weise produziert werden kann«. 35 So hat »ein Experimentalsystem […] immer mehr Geschichten zu erzählen, als die, der der Experimentator jeweils in ihm zu erzählen sucht«. 36 »[D]ie wissenschaftliche Aktivität ist nur und gerade darin wissenschaftlich, dass sie als ›Generator von Überraschungen‹ auf ›den Weg ins Unbekannte‹ auftritt, dass sie also Zukunft produziert«. 37 Dies tut sie mithilfe dessen, was Rheinberger »epistemische Dinge« nennt. Ein epistemisches Ding »repräsentiert eine physische Struktur, eine chemische Reaktion, eine biologische Funktion, um deren ›Aufklärung‹ oder ›Darstellung‹ der Forschungsprozess kreist. Was an einem solchen Objekt interessiert, ist gerade das, was noch nicht festgelegt ist. So zeigt es sich in einer charakteristischen, nicht hintergehbaren Verschwommenheit […], es ist […] als Wissenschaftsobjekt überhaupt erst im Prozess seiner materiellen Definition begriffen.« 38

Dagegen sind Rheinbergers »technische Objekte« schon durch eine Funktion, eine Operation definiert. Im Gegensatz zum »epistemischen Ding« bilden sie »dessen ›Fassung‹ im doppelten Sinn des Wortes. Sie erlauben, es anzufassen, mit ihm umzugehen, und sie

Hans-Jörg Rheinberger: Experiment – Differenz – Schrift. Eine Geschichte epistemischer Dinge, Marburg 1992: 18. Rheinbergers Ideen sind mit der Musikgeschichte bereits in Verbindung gebracht worden: Experimental Systems. Future Knowledge in Artistic Research, hrsg. v. Michael Schwab, Ghent 2013. 35 Rheinberger: Experiment – Differenz – Schrift (Anm. 34): 54. 36 Ebd.: 64. 37 Ebd.: 71. 38 Ebd.: 70. 34

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umgrenzen es.« 39 Bevor das epistemische Ding als technisches Objekt realisiert wird, ist es gewissermaßen noch nicht ganz »da«, sondern in einem Zustand der Latenz.

IV. Es ist an der Zeit, diese sehr allgemeinen und abstrakten Überlegungen mit einem konkreten Fall aus der Geschichte der musikalischen Moderne zu illustrieren. Ein sehr schönes Beispiel von Rheinbergers »epistemischen Ding« wären die frühen elektroakustischen Instrumente, voran die Ondes Martenot. Sie wurden erfunden und es wurde mit ihnen komponiert, bevor die Bedingungen der elektronischen Musik – d. h. das Magnetbandgerät – existierten. Die für diese Gelegenheit komponierten Stücke bilden eine wundersame Insel innerhalb der Neuen Musik, fast möchte man sagen, eine Wunderkammer der Moderne. Im Jahre 1935 wurde einigen französischen Komponisten, darunter Jolivet, Messiaen und Milhaud, aufgetragen, Stücke für die Ondes Martenot zu komponieren, die die damalige Weltausstellung begleiten sollten. Die Verschiedenheit dieser Kompositionen bezeugt, dass das neue elektrische Medium in formeller Hinsicht alles andere als verbindlich war. Insofern stellen diese Stücke eine Zäsur in der Geschichte der Moderne dar. Man wird sofort einwenden, dass wissenschaftliche und künstlerische Experimente nicht dasselbe sind (wie Adorno in den 1950er Jahren zu Recht moniert hat). Allein, Verbindungen zwischen den zwei Subsystemen sind ein wichtiger Aspekt, besonders in der Musik nach 1945, als die Idee der Forschung eine große Rolle im Werk von Boulez, Stockhausen und anderen spielte. 40 In der Sprache Luhmanns kann man sagen, Kunst sei hier mit Wissenschaft strukturell gekoppelt gewesen wie in der Renaissance. Die »wissenschaftlichen« oder »szientifischen« Aspekte der Musik waren zu dieser Zeit divers, von der Erforschung der Elektronik bis zur systematischen Methode des

Ebd. Zu Ähnlichkeiten und Differenzen zwischen wissenschaftlichem und künstlerischem Experiment vgl. Dieter Mersch: »Kunst als epistemische Praxis«, in: Kunst des Forschens, hrsg. v. Elke Bippus, Zürich 2009: 27–48.

39 40

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seriellen Denkens. 41 Sie mündeten in das Programm einer experimentell konzipierten Kunst. In jenen Zeiten führte das Ideal der technischen Konsistenz, der Einheit von Medium und Sprache, Technik und Stil, dazu, diejenigen Vorgänger an den Rand zu drängen, dessen Moderne als inkonsequent oder nicht übereinstimmend genug gesehen wurde. Jolivet war einer der Opfer dieser politisch-taktischen Ausgrenzung: In den ursprünglichen Fassungen von Boulez’ Erster Klaviersonate gab es sehr deutliche Anklänge an Jolivets Mana, die nach der Revision aber gnadenlos ausgemerzt waren. Boulez hat damit die Entstehungsgeschiche des eigenen Werks verschleiert. Trotzdem zeigen Werke wie das Konzert für Ondes Martenot und Orchester, oder noch mehr die früheren Trois Poèmes für Ondes und Klavier, dass Jolivet ein echter Experimentalist war. Nur war die Richtung seiner Experimente – oder seines Werkes als »Experimentalsystems« in Sinne Rheinbergers – drastisch verschieden von derjenigen der Nachkriegskomponisten, hing sie doch mit einem anthropologisch inspirierten Projekt der Erneuerung zusammen. (Die Ondes Martenot selber wurden prominent ausgestellt an derselben Pariser Exposition Internationale des Arts et Techniques dans la Vie Moderne von 1937, die die Gründung der Musée de l’Homme erblickte. 42) Insofern war der Primitivismus von Jolivets Kompositionen dieser Zeit reflektierter als der von Strawinskys Sacre. Werke wie die Jolivets für Ondes, legen so etwas nahe wie eine Archäologie der musikalischen Moderne. Als erstes wäre zu begreifen, dass das, was Boulez und Adorno nach 1945 produziert hatten, nicht nur ein ästhetisches Programm war, sondern auch eine mächtige Form des wissenschaftlich-soziologischen Wissens, ein savoir im Sinne von Foucaults Diskurstheorie. 43 Boulez’ Programm beruhte, wie das einer Wissenschaft, auf einer universellen prädikativen Logik (A = B): Die musikalische Moderne ist das serielle Denken. 44 Dagegen bildet das Werk Jolivets innerhalb Zum Serialismus als Methode vgl. Karlheinz Essl: »Strukturgeneratoren. Algorithmische Komposition in Echtzeit«. Beiträge zur Elektronischen Musik, Bd. 5, hrsg. v. Robert Höldrich, Graz 1996. 42 Die für diese Gelegenheit komponierte Musik wird diskutiert in: Nigel Simeone: »The science of enchantment. Music at the 1937 Paris Exposition«, in: The Musical Times 143 (2002), H. 1878: 9–17. 43 Vgl. Rheinberger: On Historicizing Epistemology, Stanford 2010: 2: Savoir wird definiert als »the historical conditions under which, and the means with which, things are made into knowledge.« 44 Mersch: »Kunst als epistemische Praxis« (Anm. 40): 31 f.: »[D]ie bevorzugte epistemische Form der Wissenschaften ist bis heute die Prädikation: Wissen und Erkenntnis 41

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der Geschichte dieser musikalischen Moderne das, was der Wissenschaftshistoriker Peter Galison eine Einschiebung oder Einlagerung nennt, auf Englisch »intercalation«. Rheinberger definiert das wie folgt: »Eine Interkalation oder Inklusion ist ein Körper mit einer von seiner Einfassung oder Einbettung unterschiedenen Struktur; gleichzeitig wird er dadurch geformt und erhalten, dass das einbettende Material ihn durchdringt.« 45

Im Falle des Konzertes für Ondes Martenot wäre dieser Körper das elektrische Instrument, umgeben von einer divergenten formellen Struktur, die nichtsdestoweniger unsere Wahrnehmung der Ondes selbst notwendig affiziert. Das ganze Stück, mit seiner Entwicklung aus einem dissonanten ersten Satz durch ein »dämonisches« Scherzo bis zum versöhnlichen Schlusssatz, der in reinstem D-Dur endet – die Tonalität wird durch die Blechbläser noch verstärkt, damit keiner ihre Botschaft überhört! –, suggeriert ein sehr traditionelles Programm von de aspera ad astra, nicht unähnlich dem Schluss von Honeggers Symphonie Liturgique, die ebenfalls gleich nach Kriegsende komponiert wurde. Bei Jolivet gibt es, wie bei Honegger, die süßlich-hoffnungsvolle Soloflöte als vox clamans in deserto. 46 Jolivets Konzert ist nicht nur janusköpfig, sondern mehr noch das »hopeful monster« einer musikalischen Evolution, die üblicherweise durch Diskontinuität, durch Sprunghaftigkeit im biologischen Sinn charakterisiert ist statt durch Übergänge; aber um dieses Konzert zu verstehen, müsste man die Geschichte der Moderne evolutionär schreiben, als Gruppenmodell bei eingeschränktem Gleichgewicht, worin Perioden der Stabilität mit anderen der plötzlichen Mutation alternieren. 47 Denn die irreduzible Fremdheit des Stückes ist in seinem Ton spürbar: Auf paradoxe Weise hat Jolivet die Ondes als den Repräsentanten des Geistigen, des Spirituellen behandelt, im Gegensatz zur bloß mecha-

sind Funktionen einer allgemeingültigen Aussage, deren Kern die Bestimmung von etwas »als« etwas ist, das die Form benennbarer Eigenschaften hat« 45 Rheinberger: Experiment – Differenz – Schrift (Anm. 34): 73. 46 Dutilleux’ 1. Symphonie (1951) endet auch auf einem Des-Dur-Akkord, obwohl das Vorhergehende sich nicht eindeutig tonal einstufen lässt. 47 Vgl. Steven Jay Gould: »Punctuated Equilibrium – A Different Way of Seeing«, in: New Scientist 94 (April 1982): 137–139; Ders.: »Punctuated Equilibrium in Fact and Theory«, in: The Dynamics of Evolution, hrsg. v. Albert Somit u. Steven Peterson, New York 1992: 54–84.

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nischen Dissonanz des Orchesters. 48 Die vokale Eigenschaft des elektrischen Instrumentes – d. h. sein breites Vibrato – wird allegorisch behandelt. Das Programm des Stückes ist eine Selbstallegorie vom Einsatz der elektrischen Technologie. Aber statt »nach vorne« in die Zukunft zu tendieren, in Richtung der strengen Organisation und Rationalität der elektronischen Musik der Nachkriegszeit, werden Jolivets Ondes historisch zurückgebogen, nach Maßgabe eines expressiven, religiösen Humanismus der 1930er Jahre, bis an die Grenze des Kitschigen. Das ist insbesondere in der religösen Apotheose des letzten Satzes zu hören – wie in Honeggers Dritter Symphonie. Das poetische Programm des Stückes war die harmonische Integration der Technik in einen vergeistigten (und teils noch tonalen) Humanismus – genau das, was die Nachkriegszeit vehement abgelehnt hat. Gleichwohl bilden manche von Jolivets Spätwerken – wie das zweite Cellokonzert oder das Violinkonzert – eine Art schattenhaften Doppelgänger zum Schaffen von Boulez, wie neuere Kommentatoren hervorgehoben haben. Gerade in ihrer Ästhetik des Figuralen stehen sie in nächster Nachbarschaft zu Boulez; fast möchte man fragen, ob nicht die Dominanz eines Statischen und Ornamentalen beim späten Boulez – das, was Konrad Boehmer einmal scharf als »Sklerose« oder »stornierte Zeit« kritisiert hat 49 – eine geheime Rache der zweiten, modal-ornamentierten Tradition des 20. Jahrhundertes darstellt, die Boulez’ rhetorischer Radikalismus nur verdrängen, aber nicht tilgen konnte. Nicht nur le théâtre, sondern auch l’histoire musicale hat ihr artaudsches Double. So wurde Jolivets Lehrer Varèse von Boulez erst spät anerkannt und in den Kanon aufgenommen; dass Messiaens Eklektik für Boulez weniger ein Stein des Anstoßes war als Jolivets Polymodalität, hatte vielleicht eher mit persönlicher Politik zu tun als mit einem ästhetischen Urteil. Als Historiker kommt man jedenfalls zu der Erkenntnis, dass das auch anders hätte verlaufen können.

Vgl. die Bemerkungen des Komponisten zu seinem Stück A propos du Concerto pour ondes Martenot et orchestre, in: La Revue internationale de musique, Bruxelles 10 (1951): 389–396. 49 Konrad Boehmer: »Musikdenken gestern, oder Le Maître sans marteau«, in: Was heißt Fortschritt? (Musik-Konzepte 100), München 1998: 5–30. 48

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V. Das historische Beispiel Jolivet ist aber noch kein systematisches Argument gegen das alte Modell der historischen Notwendigkeit, so wenig wie die frühere Hypothese einer seconda prattica der Modalität innerhalb der Moderne. Mit ihm soll auch kein foucaultsches Muster der Rarität oder Seltenheit einer Aussage aufgestellt werden 50, obwohl ein solches Vorhaben Kongruenzen zum gegenwärtigen Projekt hätte. Eine Musikgeschichte nach diesem Muster würde vielmehr der bekannten Aufstellung von Borges am Anfang von Les Mots et les choses gleichen. Um das, was uns hier vorschwebt, zu verdeutlichen, müssen wir uns von der Nahaufnahme entfernen und wieder nach dem Weitwinkelobjektiv greifen, d. h. der Systemtheorie. Die Modallogik spielt eine zentrale und bis jetzt ungenügend erforschte Rolle in Luhmanns Denken; ein Anfang ihrer Untersuchung ist von Jean Clam gemacht worden. 51 Hier lässt sich nur ein Umriss geben. Modalität ist bei Luhmann von Medialität nicht zu trennen. Medium aber kann bei ihm Verschiedenes bedeuten. Modalität ist in seine Konzeption von Sinn je schon als ein husserlscher Horizont eingebaut. An einem architektonischen Angelpunkt von Soziale Systeme wird Modalität eingesetzt, und zwar gerade da, wo Luhmann die Basis der Gesellschaft von Handlung auf Kommunikation verlagert, im Gegensatz zu Talcott Parsons. Um einem bloß individuellen Psychologismus der gesellschaftlich Handelnden zu entgehen – einer Gefahr, die in Parsons’ Konzept der doppelten Kontingenz angelegt war – schlägt Luhmann vor, wir »verlagern […] die Problemstellung der doppelten Kontingenz zunächst auf die allgemeinere Theorieebene, auf der die Konstitution und das laufende Prozessieren von Sinn behandeln.« 52 Das heißt, die Kontingenz wird von dem spezifischen Handeln der vereinzelten Individuen auf die Ebene ihrer medialen Kommunikation verlagert. Luhmann fährt fort: »Entsprechend müssen wir den Kontingenzbegriff erweitern, nämlich zurückführen auf seine ursprüngliche modaltheoretische Fassung. Der Begriff wird gewonnen durch Ausschließung von Notwendigkeit und Unmöglichkeit. […] Er setzt die gegebene Welt voraus, bezeichnet also nicht das MögVgl. Michel Foucault: L’Archéologie du savoir, Paris 1969: Kap. 4. Jean Clam: Was heißt, sich an Differenz statt an Identität zu orientieren?, Konstanz 2002; Ders.: Kontingenz, Paradox, Nur-Vollzug, Konstanz 2004. 52 Niklas Luhmann: Soziale Systeme, Frankfurt a. M. 1984: 151. 50 51

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liche überhaupt, sondern das, was von der Realität aus gesehen anders möglich ist. In diesem Sinne spricht man auch von ›possible worlds‹ der einen realen Lebenswelt. Die Realität dieser Welt ist also im Kontingenzbegriff als erste und unauswechselbare Bedingung des Möglichseins vorausgesetzt.« 53

Modalisierung ist eine Antwort auf Unsicherheit, spezifisch auf die Unsicherheit von Erwartungen und Erwartungserwartungen – die, historisch gesehen, wohl die »Urform« von Luhmanns »symbolisch generalisierten Medien« waren. 54 Sie ist verbunden mit der Reflexivität der Beobachterposition: Die moderne wissenschaftliche Perspektive, die zunehmend kognitiv statt normativ wird, muss die Welt als kontingent betrachten. 55 Sie hängt aber auch mit der Mediatisierung der Welt zusammen. 56 Die Moderne, so Luhmann, muss Kontingenz als »Eigenwert« im Sinne Heinz von Foersters ausarbeiten. 57 So überrascht es nicht, Kontingenz und Modalisierung auch innerhalb der Evolution des Kunstsystems zu finden. 58 Wie immer werden diese Fragen bei Luhmann komplizierter, sobald wir der Nahaufnahme, dem close reading spezifischer Kunstwerke, entgegengehen. Die sogar für Luhmann hochgradige Verwicklung der Argumentation mag die Schwierigkeiten der Sache verraten. »Sinn dient als Medium der Kommunikation, aber auch als Medium des Bewusstseins. […] Die formale Eigentümlichkeit von Sinn […] zeigt sich sowohl in phänomenologischen als auch in modaltheoretischen Analysen, und beide setzen eine zeitliche Beschränkung, eine zeitpunktbezogene Aktualisierung von Sinn im momenthaften Erleben und in der momenthaften Kommunikation voraus. Sinn ist für Systemoperationen, die dieses Medium benutzen, jeweils nur aktuell gegeben. […] Modaltheoretisch gesprochen besteht die Einheit des Mediums Sinn also in einer Differenz – in der Differenz von Aktualität und Potentialität. Die Systeme operieren unter Sinnbedingungen immer nur auf der Innenseite dieser Form, also in der Aktualität. Sie können nicht ›potentiell‹ operieren.« 59

Die Schwierigkeit, die man einhandelt, wenn man Sinn als Medium der Kunst betrachtet, ist, dass Kunstwerke nicht dieselbe Anschlussfähigkeit anderer Kommunikationsformen besitzen. Kunstwerke sind 53 54 55 56 57 58 59

Ebd.: 152. Vgl. die umfangreiche Diskussion ebd.: 436–439. Niklas Luhmann: Die Wissenschaft der Gesellschaft, Frankfurt a. M. 1990: 332. Vgl. Ders.: Die Realität der Massenmedien, Opladen 21996. Vgl. Ders.: Beobachtungen der Moderne, Opladen 1992, Kap. 3. Vgl. Ders.: Die Kunst der Gesellschaft (Anm. 8): 394. Ebd.: 224 f.

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singulär, und die Praxis der Kunst ist, nach der Formulierung von Dieter Mersch, eine »Differenzpraktik«. 60 Sie intendiert keine wiederholbaren Experimente, sondern schlicht das Einmalige. Luhmanns Neologismus »Kompaktkommunikation« für das Kunstwerk verrät seine Schwierigkeit damit. Wenn das Medium der Kunst bei Luhmann so flexibel konzipiert wird, dass sie keinen Widerstand mehr aufbieten kann, kehrt die alte Notwendigkeit wieder, nämlich im Imperativ des systematischen Funktionierens. Bei Luhmann kann man nicht nicht kommunizieren, kann man nicht aus dem Letztmedium Sinn oder dem »Formenspiel« ausbrechen, kann das Funktionieren des Systems nicht aufhalten. Wenn bei Adorno jedes einzelne große Kunstwerk den Tod der Kunst will, und dem Tod also ins Angesicht schauen muss, taucht das Wort Tod bei Luhmann kaum auf. Der Horizont vom Ende der Kunst, bei Adorno tragisch-schicksalshaft konzipiert, kann bei Luhmann nur ironisch anvisiert werden. Obwohl er selbst der Postmoderne skeptisch gegenübersteht, läuft seine Evolution der Kunst nur in Richtung eines endlosen Formenspiels, von allem Inhalt oder Fremdreferenz entkleidet. Ist Luhmann hier, auf der Mikroebene des Kunstwerkes, in seinem modaltheoretischen Denken nicht konsequent genug gewesen? Bedeutet die Dominanz der Form dem Medium gegenüber notwendig eine klassizistische Ästhetik? Könnte man seinen eigenen Vorschlag einer Theorie der möglichen Welten nicht auf die Kunst ausdehnen? Die Idee ist in der Literaturwissenschaft längst bekannt. 61 Spätere Exegeten wie Harry Lehmann haben versucht, Luhmann zu korrigieren, um Positionen einer Zweiten Moderne zu beziehen. Man könnte meinen, eine solche Reflexion auf Kontingenz sei längst von den Komponisten selber gemacht worden, ob in Boulez’ Denken über Zufall und Werkcharakter Anfang der 1960er Jahre, Stockhausens Kontrollposition an den Filtern und Reglern seiner intuitiven Musiker in Kurzwellen oder in Ferneyhoughs Idee einer kompositorischen Subjektivität, die über die Ergebnisse der intuitiven Kontingenz wacht; nur ist dieser Schritt nicht in aller wünschenswerten Klarheit von der nachhinkenden Musiktheorie oder Musikgeschichtsschreibung registriert bzw. vollzogen worden. Ein Mersch: »Kunst als epistemische Praxis« (Anm. 40). Vgl. Lubomir Doležel: Heterocosmica. Fiction and Possible Worlds, Baltimore 1998; Marie-Laure Ryan: Possible Worlds, Artificial Intelligence, and Narrative Theory, Bloomington 1991; Ruth Ronen: Possible Worlds in Literary Theory, Cambridge 1994; Thomas Martin: Poiesis and Possible Worlds, Toronto 2004; Thomas Pavel: Fictional Worlds, Cambridge 1986. 60 61

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Grund, warum die Musikgeschichtsschreibung so lange teleologisch geschrieben wurde, mag der starke Einfluss des organizistischen Denkens der Hermeneutik gewesen sein. Aber wir müssen ihn nicht weiterschreiben, auch nicht in der Form der prädikativen Logik von Boulez. Selbst die Komplexisten haben das nicht weiterführen können. 62 Zum Schluss kehren wir zu Adorno zurück, um zu fragen, ob eine solche Modallogik der Moderne noch mit seinen Gedankengängen vereinbar ist. Auf den ersten Blick spricht einiges dagegen. Man denke z. B. an die volltönende Passage am Ende des ersten Teils der Negativen Dialektik, wo das bloß Mögliche abgelehnt wird: »Erkenntnis, die den Inhalt will, will die Utopie. Diese, das Bewußtsein der Möglichkeit, haftet am Konkreten als dem Unentstellten. Es ist das Mögliche, nie das unmittelbar Wirkliche, das der Utopie den Platz versperrt«. (GS 6: 66)

In vieler Hinsicht ist Adornos Musikgeschichtsmodell allzu hegelianisch geblieben, nicht zuletzt in der Ablehnung möglicher Welten. Aber man könnte auch sagen, eine modallogische Umformulierung der ästhetischen Moderne führe seinen eigenen »Prozess zwischen Kant und Hegel« weiter, wie es an einer Stelle der Drei Studien zu Hegel heißt (GS 5: 323). Bei Kant spielte die Modallogik eine viel größere Rolle als bei Hegel. 63 In seiner Kontroverse mit Lehmann und Kreidler hat Claus-Steffen Mahnkopf argumentiert, eine ästhetische Zweite Moderne müsse darin bestehen, »Dinge zu machen, die eigentlich unmöglich sind«. Dabei bezieht er sich explizit auf die Modalitätslehre des Aristoteles. 64 An einer interessanten Stelle verbindet Adorno die Möglichkeit von Kunst mit dem Begriff Form, Luhmanns Schlüsselbegriff: »Ästhetik der Form ist möglich nur als Durchbruch durch die Ästhetik als der Totalität dessen, was im Bann von Form steht. Davon aber hängt ab, ob Kunst überhaupt noch möglich sei.« (GS 7: 213)

Das aber wäre gerade nicht Formenspiel à la Luhmann, sondern Durchbruch als Form, wie es Adornos Analysen zu Mahler entwerEs gibt hier nicht Platz genug, diese Erwägungen detaillierter auszuarbeiten, sie müssen thesenhaft bzw. programmatisch bleiben. 63 Zu Hegel vgl. Martin Kusch u. Juha Manninen: »Hegel on Modalities and Monadology«, in: Modern Modalities, hrsg. v. Simo Knuutilla, Dordrecht 1988: 109–177. 64 Vgl. Harry Lehmann, Johannes Kreidler u. Claus-Steffen Mahnkopf: Musik, Ästhetik, Digitalisierung. Eine Kontroverse, Hofheim 2010: 141. 62

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fen. Last but not least führt die modallogische Perspektive auf eine Modelltheorie 65, die dem späten Adorno nicht wesensfremd war. Man müsste da allerdings sehr sorgfältig sein, weil Wortidentität nicht immer begriffliche Verwandtschaft bedeutet. Kontingenz und Normativität schließen einander nicht aus, wie Thorsten Bonacker gezeigt hat. 66 Und wenn Dahlhaus zufolge »von der Offenheit der Zukunft […] die Vergangenheit mitbetroffen [ist]« 67, stimmt auch das Umgekehrte: Wir brauchen eine offene Vergangenheit für unsere Zukunft. Gleichsam als Coda sei eine sehr schöne, lapidare Formulierung Luhmanns umgeschrieben. Ein Satz aus Die Wissenschaft der Gesellschaft lautet: »Die Kontingenz der Welt ist nichts anderes als der Vorbehalt der Autopoiesis.« 68 Dem könnte man die Aussage an die Seite stellen: Die Kontingenz der Musikgeschichte ist der Vorbehalt ihrer offenen Zukunft. Aber diese Kontingenz ist nichts einfach Gegebenes, sie muss immer neu erzeugt werden. Die Frage, die heute sowohl Kunsttheoretiker als auch Künstler, ja jedes Kunstwerk stellen müssen, wäre: Ist Moderne immer noch möglich, ist sie erreichbar, und wie?

So Thomas Martin: Poiesis and Possible Worlds (Anm. 61): 64 f., 91, 97. Vgl. Thorsten Bonacker: Die normative Kraft der Kontingenz. Nichtessentialistische Gesellschaftskritik nach Weber und Adorno, Frankfurt a. M. 2000. 67 Carl Dahlhaus: Grundlagen der Musikgeschichte, in: Ders.: Gesammelte Schriften 1, hrsg. v. Hermann Danuser, Laaber 2001: 81. 68 Luhmann: Die Wissenschaft der Gesellschaft (Anm. 55): 383. 65 66

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»Der erste größere Text, in dem ich wirklich ganz drin bin« Adornos Schubert-Aufsatz von 1928 Gabriele Geml in memoriam Josef Kummer (25. 1. 1967–5. 9. 2014)

In die Reihe von Komponisten, deren Namen sich in Verbindung mit dem musikphilosophischen Werk Adornos ad hoc aufdrängen, hat Franz Schubert nur selten Eingang gefunden. Der Umstand, dass er anders als Schönberg und die Zweite Wiener Schule, Beethoven, Strawinsky, Mahler und Wagner mit Adornos Philosophie der Musik kaum assoziiert wird, findet raschen Rückhalt in einer Bilanzierung von Adornos musikalischen Schriften: Von den mehreren tausend Seiten, die Adorno zu Fragen der Musik verfasste, sind dem Werk von Schubert wenig mehr als zwanzig gewidmet, sieht man von den kursorischen Bemerkungen ab, in denen der Philosoph nach Mitte der 1930er Jahre noch auf den Komponisten zu sprechen kam. Mag die Sprache der Zahlen aber auch wie vielfach unterstellt die verständlichste sein, die verständigste ist sie darum nicht allemal. Einem anderen äußerlichen Blick auf Adornos Werk mit einer mehr philologischen als bibliometrischen Orientierung könnte demgegenüber der Umstand ins Auge fallen, dass der Autor zur Benennung seiner Bücher gleich zweimal Titel wählt, die aus der schubertschen Klaviermusik vertraut sind; eine Auswahl musikalischer Aufsätze Moments musicaux (GS 17: 7–161), eine andere Impromptus nennt (GS 17: 163–344) und dabei ein Wahlverwandtschaftsverhältnis mitklingen lässt, das ernst zu nehmen ist: Gibt Adorno doch auf den wenigen Seiten seiner expliziten Auseinandersetzung mit Schubert allen Anlass, seine Beziehung zu dessen Musik für eine besonders eingreifende zu halten. Ein dritter flüchtiger Blick wäre hierbei schließlich auf den Komponisten Adorno zu richten: und auf das Gewicht, das im Rahmen seines Œuvres der Gattung des Klavierliedes zukommt –

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einer Gattung, die von keinem anderen Komponisten so maßgeblich geprägt wurde wie durch Franz Schubert. 1 Liest man die wenigen, allerdings äußerst verdichteten Ausführungen zu Schubert innerhalb von Adornos voluminösem Gesamtwerk, so mag in der Tat die Diskrepanz überraschen zwischen der Wertschätzung, die Adorno für den Komponisten bezeugte und der publizistischen Zurückhaltung, die er in dem Fall wahrte. Nur zwei eigenständige Arbeiten hat er zu Schubert verfasst: einen bedeutungsschweren Essay in expressionistischem Tonfall zum hundertsten Todestag 1928 (GS 17: 18–33) und eine kürzere, vergleichsweise technische Vorstellung von Schuberts A-Dur-Rondo op. 107 für Klavier zu vier Händen, die 1933 geschrieben wurde (GS 18: 89–94). Es mag für Adornos schriftstellerisches Verhältnis zu Schubert durchaus bezeichnend sein, dass seiner einzigen größeren Arbeit über den Komponisten mit dem Zentenarium ein äußerer Anlass vorgeben war. Die spätere Rondo-Rezension aus dem Jahr von Hitlers Machtergreifung trägt Züge eines Liebesbekenntnisses; einer Liebe vielleicht nicht allein zu Schuberts Musik, sondern zu den Erinnerungen an eine seinerzeit im freien Fall befindliche humanistisch geprägte Kultur. Der Artikel gehört zu den letzten Arbeiten, die Adorno auf dem europäischen Festland schrieb, bevor er 1934 nach England emigrierte. Hält man sich vor Augen, in welchem Maße er dem Vierhändigspiel zugetan war, lässt sich das Gewicht der Aussage ermessen, mit der er seine Kompositionsanalyse eröffnet: »Schuberts A-DurRondo ist der große Glücksfall aller vierhändigen Musik.« (GS 18: 189) 2 Bereits Hans-Joachim Hinrichsen, der sich mit Adornos Schubert-Interpretation ausführlich auseinandergesetzt hat, hat darauf hingewiesen, dass »eine solch emphatische, so ungebrochen positive Deutung von Musik«, wie man ihr in der Vorstellung des A-DurRondos begegnet, »bei Adorno sonst kaum jemals zu finden« ist. 3 Vgl. Siegfried Mauser: »Adornos Klavierlieder«, in: Theodor W. Adorno. Der Komponist (Musik-Konzepte 63/64), München 1989: 45–55, hier 45. 2 Zu Adornos Liebe zum Vierhändigspiel vgl. seinen Aufsatz aus derselben Zeit: »Vierhändig, noch einmal« (1933), in: GS 17: 303–306. 3 Hans-Joachim Hinrichsen: »Zwischen Terminologie und Metaphorik. Zu Theodor W. Adornos frühen Essays über Franz Schubert«, in: Martina Bick/Julia Heimerdinger/Krista Warnke (Hrsg.): Musikgeschichten – Vermittlungsformen. Festschrift für Beatrix Borchard zum 60. Geburtstag, Köln 2010: 210–228, hier 224. Vgl. Ders.: »Produktive Konstellation. Beethoven und Schubert in der Musikästhetik Theodor W. Adornos«, in: Musikalische Analyse und Kritische Theorie. Zu Adornos Phi1

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Das Rondo ist, in Adornos Worten, »ein Hauptwerk: eines der rundesten und vollkommensten aus der Hand des reifen Schubert«. (GS 18: 189) Freilich heißt es in der für Adornos Schubert-Auffassung aufschlussreichen Spielanweisung zuletzt gleichwohl: »Dissonanzen gut betonen!« (GS 18: 194) – Es dürfte sich bei jener Weisung an die Vierhändigspieler nebenbei bemerkt um einen der einschlägigsten Beiträge Adornos zur Beratung von Paaren handeln. Während sich die musikphilosophische Deutungsleistung des Essays zu Schuberts 100. Todestag wesentlich in einem metaphorischen Darstellungsmodus vollzieht, operiert die Rondo-Rezension mit einer vergleichsweise technischen Begrifflichkeit und stiftet damit einen Beitrag zur Schließung einer Lücke, die Adorno später in einem selbstkritischen Rückblick auf den Aufsatz von 1928 bedauern wird: So würde sich hier »die philosophische Interpretation allzu unmittelbar, unter Vernachlässigung der technisch-kompositorischen Tatbestände« vorwagen, wodurch es zu einem krassen »Mißverhältnis zwischen dem großen Anspruch, auch dem des Tons, und dem Erfüllten« gekommen wäre. (GS 17: 10) Ist Adorno in späteren Jahren auf Schubert nur mehr kursorisch zu sprechen gekommen, so verdient doch Erwähnung, dass jene Bezugnahmen thematisch in mitunter zentralen Zusammenhängen erfolgen, so im Abschnitt über das Naturschöne der Ästhetischen Theorie (GS 7: 113). Die Bedeutung seiner Auseinandersetzung mit Schubert hat schließlich Adorno selbst hervorgehoben. Im Dezember 1957 schreibt er an seinen Verleger Peter Suhrkamp bezüglich »des musikalischen Essaybuches«, aus dem 1959 die Klangfiguren, Adornos erste Sammlung Musikalischer Schriften (GS 16: 7–248), hervorgingen: »Sonst möchte ich an wirklich frühen Sachen nur die Schubertarbeit in den Band hereinnehmen, die 1928 geschrieben ist. Ich selbst hänge an dieser Arbeit ganz besonders, weil ich sie eigentlich als den ersten größeren Text von mir betrachte, in dem ich wirklich ganz drin bin, und hätte deshalb schon gern, wenn Sie ihn für das Buch akzeptieren würden, möchte aber andererseits an dieser Stelle nicht entêtiert sein.« 4

losophie der Musik, hrsg. v. Markus Fahlbusch u. Adolf Nowak, Tutzing 2007: 157– 175. 4 Adorno an Peter Suhrkamp am 5. 12. 1957, in: »So müßte ich ein Engel und kein Autor sein«. Adorno und seine Frankfurter Verleger. Der Briefwechsel mit Peter Suhrkamp und Siegfried Unseld, hrsg. v. Wolfgang Schopf, Frankfurt a. M. 2003: 256.

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Möglicherweise hat schließlich Adorno selbst die Wiederveröffentlichung des Schubert-Aufsatzes zurückgestellt, jedenfalls erschien dieser nicht in den Klangfiguren, sondern erst in den einige Jahre später veröffentlichten Moments musicaux. 5 Im Briefwechsel mit Siegfried Unseld hat Adorno die Bedeutung des Aufsatzes nochmals und in ähnlichen Worten hervorgehoben wie gegenüber Suhrkamp. 6 Was war der Schubertarbeit an Texten vorangegangen? Als Adorno den Essay schrieb, war er bereits sechs Jahre als Musikkritiker tätig gewesen und hatte in dieser Funktion eine eindrucksvolle Zahl an Konzertrezensionen (GS 19: 11–122) sowie Charakteristiken und Kritiken einzelner Werke und Komponisten geschrieben, wobei er sich auf die zeitgenössische Produktion konzentrierte. So galten seine Werkportraits den Kompositionen von Bernhard Sekles, Richard Strauss, Béla Bartók, Hanns Eisler, sowie selbstverständlich Arnold Schönberg, Alban Berg und Anton Webern (GS 18). Der Hauptteil seiner Publikationstätigkeit, die er selbst als »Schönbergpolitik« charakterisierte, war den Werken der Zweiten Wiener Schule gewidmet. 7 Einen entscheidenden Fortschritt in der Ausbildung seines literarischen Stils sah Adorno mit seinem 1925 geschriebenen Aufsatz über Bergs Wozzeck erreicht, den er Berg gegenüber mit folgender Instruktion ankündigte: Der Aufsatz ist »eigentlich der erste, mit dem ich recht zufrieden bin, und gewiß der erste, der mein neues Stilideal in einiger Reinheit ausprägt. […] Meine geheimste Absicht war, in der sprachlichen Führung des Aufsatzes unmittelbar so zu verfahren, wie Sie, etwa im Quartett [op. 3], komponieren.« 8 Auf der anderen Seite seines theoretischen Produktionsspektrums, in der Philosophie, hatte Adorno eine Dissertation zu Husserl (GS 1: 7–77) sowie eine Habiltationsschrift zum Begriff des Unbewußten in der transzendentalen Seelenlehre (GS 1: 79–322) verfasst, welche er kurz vor der Arbeit am Schubert-Aufsatz auf Anraten von Hans Cornelius zurückgezogen hatte. Wie Rolf Tiedemann (GS 1: 382) dargelegt hat, sind die beiden schulphilosophischen Arbeiten mit Adornos späterer Philosophie, wie sie jedenfalls ab der Kierkegaardarbeit entwickelt war, nicht vereinbar. 5 Vgl. Adornos Brief an Peter Suhrkamp vom 19. 5. 1958, in: Schopf: »So müßte ich ein Engel und kein Autor sein« (Anm. 4): 285. 6 Vgl. den Brief an Siegfried Unseld vom 24. 4. 1962, ebd.: 409. 7 Vgl. den Brief an Alban Berg vom 9. 10. 1929, in: Theodor W. Adorno. Alban Berg. Briefwechsel 1925–1935, hrsg. v. Henri Lonitz, Frankfurt a. M. 1997: 229. 8 Adorno am 23. 11. 1925 an Alban Berg, ebd.: 43 f.

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Intention Worum es Adorno in seinem Aufsatz zum Schubert-Gedenkjahr zweifellos ging, war: einem neuen Verständnis von Schuberts Form die begrifflichen Weichen zu stellen. Nicht nur Zeit seines Lebens, auch in den hundert Jahren, die seitdem vergangen waren, hatte Schubert im Schatten Beethovens gestanden, als dessen aspirierender, strauchelnder Nachfolger er gemeinhin betrachtet wurde, sofern sich ein Bewusstsein der Existenz seiner in Sonatenform komponierten Werke bereits durchgesetzt hatte. Unter dem Eindruck der unmittelbaren zeitlichen Nachbarschaft der hundertsten Todestage beider Komponisten – Beethoven war 1827 gestorben, Schubert 1828 – erschien jenes Urteil noch einmal wie unter einem Brennglas verdichtet. Seiner eigenen Zeit war Schubert vornehmlich als Liedkomponist bekannt gewesen – ein Medium, in dem man ihm immerhin noch zu Lebzeiten einige Kompetenz attestiert hatte. Doch auch auf diesem Gebiet galt Schubert als »Meister der kleinen Form«; nicht nur seine Symphonien und wesentliche Teile der Kammermusik, auch die großen Liedzyklen waren der Erfahrung seiner Mitwelt weitgehend entzogen geblieben. Peter Gülke hat auf die trostlose Schattenseite der Schubertrezeption zu Lebzeiten des Komponisten hingewiesen: »Lieder und Klaviermusik fanden bald Verleger, Publikum und – zumeist halböffentliches – Podium, Sinfonien und Kammermusik hingegen selten oder gar nicht. Kein Musiker seines Ranges hat erleben müssen, daß der zunehmend wichtigere Teil seines Schaffens nicht angenommen wurde, für die Mitwelt gar nicht vorhanden war, kaum ein anderer hat in solchem Umfang für die Schublade, für die Nachwelt komponiert. [… D]er Winterreise standen die Freunde beim ersten Anhören ratlos gegenüber […], die erste nachweisbar vollständige Darbietung der Schönen Müllerin fand Jahrzehnte nach seinem Tod statt. […] Den Schubert der Unvollendeten, der großen C-Dur-Sinfonie, der letzten Klaviersonaten, des C-Dur-Streichquintetts, wahrscheinlich auch des G-Dur-Streichquartetts hat die Mitwelt nie kennengelernt.« 9

Mit der Entdeckung von Schuberts Instrumentalmusik im Laufe des neunzehnten Jahrhunderts hatte sich zugleich die am beethovenPeter Gülke: Franz Schubert und seine Zeit, Regensburg 1991: 102 f. Vgl. Ulrich Dibelius: »Ein Musiker der Unöffentlichkeit. Schubert und das soziale Klima seiner Klang-Erfindung«, in: Franz Schubert (Musik-Konzepte Sonderband), München 1979: 26–49.

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schen Paradigma orientierte Formkritik seiner Werke ausgebildet. Den Grundtenor bildete dabei die Einschätzung, dass Schuberts großangelegte Werke im Vergleich zum dynamischen Vorbild Beethoven eine mehr oder minder missglückte Bemühung darstellten, wobei die unabweislichen Schwächen der Formbehandlung allerdings durch die genialischen melodischen Einfälle und den subjektiven Gefühlsreichtum in gewissem Maße kompensiert seien. Noch 1997 resümiert Ernst Hilmar in der Rowohlt-Monografie mit Rekurs auf Carl Dahlhaus die hartnäckigen Rezeptionsclichés: »Im Laufe der Rezeptionsgeschichte hat man aufgrund der starren Fixierung auf Beethoven bei Schubert immer wieder ›Schwächen‹ der Formbehandlung festgestellt. Sein harmonisches Schweifen statt zielstrebiger tonaler Entwicklung, Wiederholungen anstelle thematischer Verarbeitungen waren für die Theoretiker wenn nicht unbegreiflich, so zumindest nur schwer zu interpretieren. Erst in jüngster Zeit gelangte man zu der Überzeugung, daß seine Ausprägung der Sonatenform ›nicht als defizienter Modus, sondern als Gegentypus zum Beethovenschen Typus begriffen werden muß‹ […].« 10

Hat man Adornos Aufsatz im Sinn, der in der Rowohltmonografie keine Erwähnung findet, wäre jene »jüngste Zeit« immerhin bis ins Jahr 1928 auszudehnen, beschreibt doch die zitierte Einschätzung von Dahlhaus gerade das Programm von Adornos Essay. Gleichwohl behält die Bemerkung ihre Richtigkeit, insofern dieser Essay im Kern erst nach seiner Wiederveröffentlichung 1964 musikwissenschaftlich rezipiert und weiterentwickelt worden ist. 11 In dem Jahrhundert, das Adornos Aufsatz vorangegangen war, hatte sich das skizzierte zwiespältige Schubertbild wirkmächtig etabliert; beanstandete man einerseits, was man als formale Schwächen

Ernst Hilmar: Franz Schubert, Reinbek bei Hamburg 2002: 84 f. Hilmar zitiert: Carl Dahlhaus: Ludwig van Beethoven und seine Zeit, Laaber 1987: 124. 11 Vgl. Hans-Joachim Hinrichsen: Untersuchungen zur Entwicklung der Sonatenform in der Instrumentalmusik Franz Schuberts, Tutzing 1994: 21 f. Hinrichsen weist auf die »radikale […] Neubewertung der Schubertschen Sonatenform« hin, die sich ab den 1970er Jahren vollzog, sowie auf den Umstand, dass die Grundzüge des neuen Schubertbildes mit Adornos Essay seit langem bereitlagen. Hinrichsen macht dabei ebenso auf die verständniserschwerenden Züge des Aufsatzes aufmerksam, die seine musikwissenschaftliche Rezeption verzögert hätten, wie auf den Umstand, dass viele der Arbeiten, die seit den siebziger Jahren einen massiven Wandel in der Bewertung von Schuberts Form herbeigeführt hätten, dem frühen Aufsatz von Adorno »häufig unausdrücklich« in höchstem Maße verpflichtet sind. 10

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identifiziert zu haben meinte, bewunderte man andererseits »den unaufhaltsamen Strom seiner himmlischen Inspirationen« (Carl Spitteler), »das Ursprüngliche und Frische« (Joseph von Spaun), das Blühen und Strömen, die Kraft der »Empfindung und Erfindung« (Gustav Mahler). 12 Von all den Formulierungen, in denen sich jene konventionelle Schubert-Auffassung ausgedrückt hat, brüskiert vielleicht die von Gustav Mahler besonders, ließen sich doch gerade in seinem Werk Züge einer Verwandtschaft mit Schubert aufweisen. Mahlers Vertraute Nathalie Bauer-Lechner erinnert sich an einen Tag im Sommer 1900, an dem sich Mahler, offenkundig nicht frei von Verdruss, »Schuberts ganze Kammermusik durchgelesen« hätte. Dass seine Einschätzung zwischen einer gelinden Begeisterung und dem Impuls zur Aberkennung des kompositorischen Talents heftig schwankt, sieht Mahler selbst in dem Umstand begründet, dass Schuberts »Können lange nicht an seine Empfindung und Erfindung heranreicht. Wie leicht macht er es sich mit der Durchführung! Sechs Sequenzen folgen aufeinander und dann noch eine in anderer Tonart. Keine Verarbeitung, keine künstlerisch vollendete Ausgestaltung seines Vorwurfs! Statt dessen wiederholt er sich, daß man ohne Schaden die Hälfte des Stückes wegstreichen könnte. Denn jede Wiederholung ist schon eine Lüge. Es muß sich ein Kunstwerk wie das Leben immer weiter entwickeln.« 13

Schleppend und diskontinuierlich vollzog sich im Laufe des zwanzigsten Jahrhunderts letztlich ein gewaltiger Perspektivwechsel in der Beurteilung von Schuberts Formen. Von künstlerischer Seite ist für diese Entwicklung insbesondere der Einsatz von Artur Schnabel und Alfred Brendel für Schuberts Werk geltend zu machen. Beiden

Carl Spitteler: »Schuberts Klaviersonaten« (1888), in: Über Schubert. Von Musikern, Dichtern und Liebhabern. Eine Anthologie, hrsg. v. Georg Braungart u. Walther Dürr, Stuttgart 1996: 231–237; hier 236. Joseph von Spaun zit. n.: Hinrichsen: Untersuchungen zur Entwicklung der Sonatenform in der Instrumentalmusik Franz Schuberts (Anm. 11): 15. Gustav Mahler paraphrasiert in: Gustav Mahler in den Erinnerungen von Nathalie Bauer-Lechner, hrsg. v. Herbert Killian, mit Anmerkungen und Erklärungen von Knud Martner, revidierte und erweiterte Ausgabe, Hamburg 1984: 158. 13 Gustav Mahler zit. n.: Killian: Gustav Mahler in den Erinnerungen von Nathalie Bauer-Lechner. (Anm. 12): 158. Es handelt sich mithin um kein Originalzitat Mahlers, sondern um die Paraphrase von Bauer-Lechner, die Mahlers Äußerung auf den 13. Juli 1900 datiert. Offen bleibt in Bezug auf die Äußerung freilich, wie umfassend die »Gänzlichkeit« von »Schuberts ganze[r] Kammermusik« zu veranschlagen ist. 12

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Pianisten sind nicht nur erhellende Interpretationen seiner Werke zu verdanken, sondern, damit verbunden und darüber hinaus, der grundsätzliche Umstand, dass Schuberts Werke überhaupt gespielt wurden, dass sie aus ihrer ursprünglichen Vergessenheit in das kanonische Konzertrepertoire haben aufsteigen können. Noch in den 1950er Jahren waren Schuberts Kompositionen keine Selbstverständlichkeit in Konzertprogrammen und wurden, wenn überhaupt, nicht selten in einer gekürzten Version gespielt. So erinnert sich Nikolaus Harnoncourt an seine Zeit als Cellist bei den Wiener Symphonikern (1952–69): »Die (›große‹) C-Dur Symphonie, so wie ich das heute sehe, wurde nur als Rumpf gespielt. Man hat sie um eine Viertelstunde gekürzt. Im Scherzo sind alle Wiederholungen ausgelassen worden. Es werden ja heute noch [1997] von den großen Dirigenten viele Wiederholungen weggelassen.« 14 Aus derselben Zeit, vom Anfang der 1960er Jahre, stammt der MGG-Artikel von Friedrich Blume über die Epoche der musikalischen Romantik. Er ist ein Beispiel für die historische Resistenz jener Schubert-Auffassung, gegen die sich Adorno in seinem Gedenkaufsatz wendete. Blume betrachtet die Romantik und mit dieser Schubert durch die am beethovenschen Paradigma orientierte Kategorienbrille des nachgelassenen Formwillens. Anstelle der vormaligen Stringenz träten bei den romantischen Komponisten subjektive Beliebigkeiten und Beschwerden: »Als gemeinsamer Zug läßt sich […] wohl für die gesamte Produktion zyklischer Werke im romantischen Zeitalter aussagen, daß ihr das Sinfonieund Sonatenwerk der Klassik und insbesondere Beethovens auf diesem Gebiet wie ein immer von neuem erstrebtes, aber nie erreichbares Ideal vor Augen gestanden hat. […] Alle Originalität und alle noch so sinnlich-betörende oder leidenschaftlich-überwältigende Erfindungskraft des romantischen Zeitalters kann nicht darüber hinwegtäuschen, daß auf diesem Gebiet vielfach mehr gewollt als vermocht wurde, daß die gestaltende Kraft nachgelassen hatte und daß Sinfonien, Sonaten, Streichquartette usw. oft nichts anderes als geistreiche oder gefühlvolle Corollarien von lyrischen Kleinformen waren. Aus einem Klaviertrio von Schubert, einem Klavierquartett von Brahms oder einer Sinfonie von Mendelssohn ließe sich ohne große Mühe eine Perlenkette lyrischer Einzelstücke formen; stellt man einen solchen Versuch bei Beethoven oder Bruckner an, so wird die abgrundtiefe Nikolaus Harnoncourt: »Problematik der Schubert-Rezeption. Gespräch anläßlich der Schubert-Aufführungen im Rahmen der Wiener Festwochen 1997«, in: Ders.: Töne sind höhere Worte. Gespräche über romantische Musik, St. Pölten/Salzburg 2007: 182–196, hier 184.

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Kluft deutlich. Hier liegt wohl zweifellos auch eine der Wurzeln für das Ungenügen, das die romantischen Komponisten an sich selbst empfanden: sie litten unter dem ihnen wohl bewußten Abstand zwischen den Aufgaben und ihren Talenten […].« 15

Ouvertüre Adornos Essay über Schubert erscheint als Eröffnungsaufsatz der Oktoberausgabe der Zeitschrift Die Musik, zeitgerecht vor Schuberts Todestag am 19. November. 16 Dem lapidaren Titel Schubert folgt – für Adorno eher selten – ein Motto; das nicht nur aufgrund der französischen Originalsprache, sondern auch aufgrund seines wenig erwartbaren Inhalts die Simplizität des Titels in Zweifel zieht: »Tout le corps inutile était envahi par la transparence. Peu à peu le corps se fit lumière. Le sang rayon. Les membres dans un geste incompréhensible se figèrent. Et l’homme ne fut plus qu’un signe entre les constellations.« (GS 17: 18) 17

Auch wenn sich der nähere Sinn dieses Mottos aus Louis Aragons soeben erschienenem Paysan de Paris einem ersten Blick auf den Aufsatz kaum offenbart haben dürfte, soviel jedenfalls war mit ihm umgehend klar gestellt: dass der Autor mit seiner »unverständlichen Geste« der Mottowahl seinen Gegenstand entschieden aus einer Sphäre katapultierte, die sich im vergangenen Jahrzehnt mit Bestseller und Operettenklang wie ein klebriger Zuckerguss über ihn gelegt hatte. 18 Der surrealistische, verfremdende Gestus bleibt für das EröffFriedrich Blume: »Romantik«, in: Epochen der Musikgeschichte in Einzeldarstellungen. Mit einem Vorwort von Friedrich Blume, Kassel 1974: 307–385; hier 354 ff. [Als TB zusammengestellt aus: Die Musik in Geschichte und Gegenwart. Allgemeine Enzyklopädie der Musik. Unter Mitarbeit zahlreicher Forscher des In- und Auslandes hrsg. v. Friedrich Blume, 17 Bde., Kassel 1949–1986.] 16 Vgl. Theodor Wiesengrund-Adorno: »Schubert«, in: Die Musik. Monatsschrift, hrsg. v. Bernhard Schuster 21 (1928), 1. Halbjahr: 1–12. 17 In der Übersetzung von Lydia Babilas lautet das Motto: »Der ganze, zu nichts mehr dienende Körper war völlig transparent geworden. Allmählich wurde der Körper zu Licht. Das Blut zum Strahl. Die Glieder erstarrten in einer unverständlichen Geste. Und der Mensch war nur mehr ein Zeichen unter den Sternbildern.« Vgl. Louis Aragon: Der Pariser Bauer, aus dem Französischen von Lydia Babilas, Frankfurt a. M. 1996: 215. 18 Aragons Le Paysan de Paris, der eine nicht unerhebliche Inspiration zu Benjamins 15

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nungsszenario des Textes bestimmend. Der Aufsatz hebt an mit den kaum minder irritierenden Sätzen: »Wer die Schwelle zwischen den Todesjahren Beethovens und Schuberts überschreitet, den ergreift ein Schauer, wie ihn ähnlich empfinden mag einer, der aus rollendem, aufgestülptem, erkaltendem Krater ins schmerzhaft feine und weiß behangene Licht kommt und vor den Lavafiguren der schutzlos gebreiteten Höhe dunkler Pflanzengespinste gewahr wird, um endlich, nah dem Berg schon und dennoch weit über seinem Haupte, die ewigen Wolken in ihrer Bahn zu erkennen. Aus dem Abgrund betritt er die Landschaft, die jenen umgibt und seine bodenlose Tiefe einzig sichtbar macht, indem sie sie mit der gewaltigen Stille ihrer Lineatur umzieht und in Bereitschaft das Licht empfängt, dem blind zuvor die glühende Masse entgegenschlug. Mag immer Schuberts Musik nicht in sich selber die Macht des tätigen Willens enthalten, der vom Schwerpunkt der Beethovenschen Natur sich erhebt: die Schlünde und Schächte, die sie durchfurchen, leiten in die gleiche chthonische Tiefe, in der jener Wille seinen Ursprung hat, und machen ihr dämonisches Bild offenkundig, das die Tat der praktischen Vernunft je und je wieder zu meistern vermochte; die Sterne aber, die ihr sichtbar leuchten, sind die gleichen, nach deren unerreichbarem Schein die eifernde Hand griff.« (GS 17: 18)

Die Sätze mögen dem Leser Rätsel aufgeben – umso mehr, wenn sie ihm nicht im bestätigenden Werkzusammenhang der Gesammelten Schriften eines prominenten Autors, sondern im Artikel eines sich erst etablierenden Musikkritikers begegnen. Adorno jedoch lässt seine surrealistische Ouvertüre ungerührt in die selbstgefällige Zwischenbilanz münden: »So muß strengen Sinnes von Schuberts Landschaft die Rede sein« (GS 17: 18) – als hätte er soeben eine elementare Übersicht der wichtigsten geologischen und territorialen Daten präsentiert und als wäre die Landschaftskunde die zum Verständnis eines Komponisten einschlägige Disziplin.

Metaphorik Im Laufe des Textes werden die Bildwelten der anfänglich evozierten Szenerie durch neue Bedeutungsschichten angereichert, immer wieder anders beleuchtet und so zunehmend fasslich. So erweist sich Passagenwerk abgab, war im Jahr 1926 veröffentlicht worden, der Erfolgsroman Schwammerl von Rudolf Hans Bartsch im Jahr 1912, Heinrich Bertés auf der Romanvorlage basierende Operette Dreimäderlhaus wurde 1916 uraufgeführt.

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»Schuberts Landschaft« immer mehr als eine Winterlandschaft – was dem »Schauer« und dem »schmerzhaft feinen und weiß behangenen Licht« des Anfangsbildes retrospektiv einen Sinn gibt und den Kontrast zum feurig aufsteigenden Vulkan schärft. Das Verfahren einer variativen Anreicherung einmal erschienener Motive reagiert mimetisch auf etwas, das Adorno als Konstitutivum von Schuberts Form darstellt: Einer der Demonstrationsstränge des Essays – der Begriff scheint dem metaphorischen Darstellungsstil adäquater als »Argumentationsstrang« – weist auf die unterschiedliche zeitliche Grundorientierung von Beethovens Sonatentyp und dem für Schuberts Werke charakteristischen Formprinzip hin. Während die klassische Sonatenform Beethovens teleologisch auf die Entwicklung einer Struktur aus einem keimhaften Motiv angelegt ist und den Eindruck dynamischer Zielgerichtetheit erweckt, ist jene progressive Orientierung bei Schubert durch eine retrospektive, dilatative oder sich einlassende Tendenz »unterformt« und aufgehoben. 19 Anders als Beethovens Formen greifen, wie Adorno darlegt, die von Schubert kaum das Gefüge des Themas an, um daraus dynamische Wirkungen zu erzielen. Die Themen werden von Schubert weniger durch motivische Zergliederung verarbeitet und auf ein Ganzes hin vermittelt, als vielmehr variiert und in ihrer Gestalthaftigkeit und Schönheit bestätigt und verstetigt: »Schuberts Formen sind Formen der BeVgl. zum Gestus des »Sich-Einlassens« von Schuberts Musik anstelle des Trachtens nach Fortschritten: Dibelius: »Ein Musiker der Unöffentlichkeit« (Anm. 9). Dibelius analysiert die harmonischen Verhältnisse, die den Eindruck des Sich-Einlassens bedingen (35 ff.) und die Abschweifungen (41), Retardierungen, Zögernisse und Umwege (35), die bei Schubert häufig anstelle der »schlüssig fortführende[n] Logik der ›thematischen Arbeit‹« (40) treten. Dibelius beschreibt die Formeigentümlichkeiten unter anderem am Beispiel von Schuberts 2. Symphonie (D 125/1814, 1815): Wiewohl sich der junge Schubert an den obligatorischen Vorbildern Haydn/Mozart/Beethoven orientiert, ergibt sich bereits im Frühwerk eine bezeichnende Differenz: »Schubert gerät beim Vortrag und Weiterführen seines Allegro-Hauptthemas in ein seltsames Kreisen; er befindet sich […] quasi noch im Ausgangszustand, während etwa bei Beethoven in der sehr ähnlichen Situation von dessen 1. Sinfonie an der formal gleichen Stelle bereits durch motivische Aufgliederung und durch inneren Intensitätszuwachs eine Öffnung des Geschehens stattgefunden hat, die weitertreibt, Konsequenzen erfordert und zielstrebig auf den Dominantabschluß – als Plattform für das Seitenthema – zusteuert. […] Dieser musikalische Sog aus Voraussetzung und Folgerungen fehlt dem Schubertschen Allegro. Es steigert sich nicht aus eigenem Vermögen, sondern wird schließlich harmonisch in andere Verhältnisse gerückt […], so daß eine Art von außen her, durch Beleuchtungswechsel inszenierter Spannung entsteht.« (34 f.)

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schwörung des einmal Erschienenen, nicht der Verwandlung des Erfundenen.« Die »unabänderlichen« Themen bleiben in einem gewissen Sinn bei sich; werden nicht so sehr entwickelt als »fortschreitend enthüllt«. (GS 17: 26 f.) 20 Ähnlich wie Schuberts Themen werden in Adornos Aufsatz die Elemente der eingangs evozierten Landschaftsvision zunehmend enthüllt. Und ähnlich wie Schuberts Musik vor Vorgefertigtem nicht zurückschrak, 21 schließt auch Adorno in seinem Eingangsbild an gängige Clichés an – allerdings in einer wenig clichéhaften Weise. Clichéhaft ist zunächst die Beziehung von Schubert auf die obligatorische Referenzgröße Beethoven sowie der Vergleich Beethovens mit einem Vulkan – ein Bild, das sich für die eruptive Gewalt, die »feurige« Dynamik und innovative Kraft seiner Musik rasch aufgedrängt hatte und zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts als präsent vorausgesetzt werden konnte. Entscheidend im gegenwärtigen Zusammenhang ist jedoch, dass In signifikanter Weise deutlich wird die retrospektive Orientierung in der Winterreise, in der durch die Textvorlage kenntlich ist, dass die eigentliche Begebenheit dem Beginn des Stückes vorausliegt und »Geschichte« bereits passiert und passé ist. Was sich danach – d. i. nach Beginn des Werks – noch »ereignet«, sind kumulative Variationen einer Stimmungslage und Rückerinnerungen an vormalige Situationen, Gestimmtheiten und Hoffnungen. Was die Anlage der Winterreise auszeichnet, charakterisiert einen spezifischen Formgestus von Schubert überhaupt. Hinzuweisen ist in dem Zusammenhang allerdings darauf, dass der retrospektive Gestus keine einfache Kontrastierung gegenüber Beethoven erlaubt, sondern dass es vielmehr auch Beethoven war, der – zumal in dem Zyklus An die ferne Geliebte (1816) – in einem nachdrücklichen Sinn Erinnerung als musikästhetische Struktur entdeckte. Vgl. Charles Rosen: The Romantic Generation, Cambridge/Ms. 1995: 166: »Beethoven is the first composer to represent the complex process of memory – not merely the sense of loss and regret that accompanies visions of the past, but the physical experience of calling up the past within the present.« Charles Rosen, der Adorno geradezu ostentativ nicht erwähnt bzw. prinzipiell ungerne zitiert, wiewohl etliche seiner bewundernswert luziden Ausführungen wie eine Explikation zu Adornos Aufsatz scheinen, geht in seinem Kapitel über Mountains and Song Cycles ausführlich auf die retrospektive Orientierung von Schuberts Werken ein: In den Liederzyklen, die Rosen insgesamt als »the most original musical form created in the first half of the nineteenth century« beschreibt, »[the] significance of many of the elements can be realized only retrospectively in a way that is fundamentally different from the realization in time of an eigthteenth-century musical form.« Der romantische Liedzyklus »most clearly embodies the Romantic conception of experience as a gradual unfolding and illumination of reality in place of the Classical insistence on an initial clarity.« (194) 21 Vgl. Dieter Schnebel: »Auf der Suche nach der befreiten Zeit. Erster Versuch über Schubert«, in: Franz Schubert (Anm. 9): 69–88, hier 82. 20

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sich der Vulkan nicht nur als sinnfälliges Emblem für Beethovens Musik anbot, die bereits früh aus der Perspektive einer Ästhetik des Erhabenen rezipiert worden war 22, sondern dass der Vulkan ganz allgemein eine der großen Metaphern für das Geschehen der Revolution ist; sei diese nun künstlerischer, industrieller oder soziopolitischer Art. »[D]ie Lava der Revolution fließt«, heißt es etwa in Georg Büchners Dantons Tod von 1835. 23 All das schwingt in Adornos Anfangsbild eines nunmehr erkaltenden Kraters mit. Die soziopolitische Dimension aber tritt umso deutlicher hervor, je mehr Schuberts Landschaft mit winterlichen Attributen versehen wird: Es ergreift einen ein »Schauer«, kommt man in ihr »schmerzhaft feines und weiß behangenes Licht; in der Folge ist von Eisblumenwäldern« (GS 17: 29) und »Kristallen« (GS 17: 23) die Rede wie von der eingefrorenen Geschichtslosigkeit von Schuberts Musik (GS 17: 23, 25) im Kontrast zur »luziferische[n] Senkrechte[n] der Beethovenschen Dynamik« (GS 17: 20). 24 Dabei mögen sich Revolution und Restauration auch in einem ganz unmetaphorischen Sinn aufdrängen (GS 14: 441) 25, doch Adornos Essay macht es sich aus guten Gründen nicht zur Aufgabe, den Abgrund zwischen der Bildsprache des Textes, Schuberts Musik und der realen Restaurationjahre nach 1815 argumentativ zu schließen oder zu überbrücken. Abstrakt besehen erschiene der Vergleich von Schuberts Musik mit einem erloschenen, erkaltenden Vulkan nicht sonderlich konziliant. In den konkreten Zusammenhängen aber und eskortiert durch das Aragonmotto ist evident, dass sich Adornos Eröffnungspanorama, wo es sich auf die Fährten der eingefahrenen Formkritik an Schubert begibt, zugleich in entschiedener Distanz zu dieser bewegt und dass für Schubert ein Formniveau reklamiert wird, das dem von Beethoven ebenbürtig ist. Der monolithische Titel des Aufsatzes – »Schubert« – zielt auf die Werkeinheit von dessen Kompositionen. Ähnlich wie es Adorno in der späteren Mahler-Monografie darum gehen wird, die PhysioVgl. E. T. A. Hoffmann: »[Ludwig van Beethoven, 5. Sinfonie (April/Mai 1810)]«, in: Ders.: Schriften zur Musik. Nachlese, hrsg. v. Friedrich Schnapp, München 1963: 34–51, bes. 35 f. 23 Georg Büchner: Dantons Tod. Ein Drama, Stuttgart 2000: 51. 24 Adorno dürfte hier auf Goethes Begriff des »Veloziferischen« anspielen; seine Wortneuschöpfung aus Luzifer und velocitas in Anbetracht der sich beschleunigenden Erlebniswelten. 25 Vgl. Schnebel: »Auf der Suche nach der befreiten Zeit (Anm. 21): 83. 22

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gnomie von dessen Musik zu bestimmen, will der Schubert-Essay den spezifischen Ausdruck des Werkkosmos von Schuberts Musik charakterisieren. 26 Als musikphilosophische Bemühung zielt Adornos Intention über die musikwissenschaftliche Erfassung dessen, was die musikalischen Phänomene technisch und faktisch sind, hinaus auf das, was sie ihrem Gehalt nach bedeuten. Zu diesem Zweck ist der metaphorische, bedeutungsvolle Darstellungsmodus ein methodisches Erfordernis. In einem keineswegs nur unspezifischen Sinn hat Adorno vom Schubert-Essay als einer »literarischen« Arbeit gesprochen. 27 So hält auch Hinrichsen den möglichen Lektüreeindruck fest, man habe es bei Adornos Essay »eher mit einem poetischen als mit einem musikanalytischen Text zu tun: Die Sprache ist blumig und bilderreich, der Bezug auf konkrete Beispiele ist eher selten«. 28 Die Darstellungsart des Aufsatzes ähnelt freilich in vielem Adornos Ästhetischer Theorie. Wie in dieser werden im Schubert-Aufsatz die Einzelwerke weniger analysiert als evokatorisch gestreift und der essayistische Grundgestus, der Parallelen zu Schuberts kompositorischem Verfahren aufweist, wird Adornos Stil in der Folge insgesamt auszeichnen. Den Formcharakter von Schuberts Musik versucht Adorno durch eine bewegliche Konfiguration wiederkehrender und sich in ihrer Wiederkehr wechselseitig präzisierender Metaphern und ihrer semantischen Felder zu bestimmen. Insbesondere die neben der Landschaftsmetapher zentrale Metapher des Aufsatzes, die Figur des Wanderers, der die Landschaft »durchkreist, ohne fortzuschreiten« (GS 17: 25), ist ein Ausdruck von Adornos Bemühung um eine »materiale Formenlehre«, mit der er sich von der formal-klassifikatorischen Vorgehensweise der akademischen Musikwissenschaft abgrenzte (GS 13: 193 f.). Der Schlüsselcharakter jener materialen Formenlehre für Adornos Deutung von Musik manifestiert sich nachdrücklich im frühen Schubert-Aufsatz: »Niemals«, so moniert Adorno etwa in der Mitte des Textes, »wurde die Kategorie des Wanderers in ihrer bestimmenden Dignität für die Struktur des Schubertschen Werkes erörtert« (GS 17: 25). Ist die Kategorie des Wanderers

Vgl. Markus Fahlbusch: »Natur in der Musik. Zur physiognomischen Analyse bei Adorno«, in: Fahlbusch, Nowak: Musikalische Analyse und Kritische Theorie (Anm. 3): 50–84. 27 Vgl. Adornos Brief an Siegfried Unseld vom 24. 4. 1962 (Anm. 6): 408. 28 Hinrichsen: »Zwischen Terminologie und Metaphorik« (Anm. 3): 213 f. 26

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eine frühe Manifestation von Adornos materialer Formenlehre, so wird an ihr auch ein spezifischer Zug der darstellerischen Methode deutlich, die Adorno im Schubert-Aufsatz praktiziert: den Großteil seiner metaphorischen Kategorien und insbesondere die Vorstellung einer kreisenden Wanderschaft übernimmt Adorno direkt aus der durch Schuberts Textwahl vorgegebenen Bildwelt. In dieser ist der romantische Topos des Wanderns eines der entscheidenden Motive; und ebenso findet das Kreisen Rückhalt in Schuberts von Rädern geprägter Bildwelt – man denke an das Spinnrad (Gretchen am Spinnrade; D 118/1814), das Mühlrad (Die schöne Müllerin; D 795/1823) und schließlich den Leiermann (Winterreise; D 911/1827). 29 Die kreisenden Räder und der Schritt des Wanderers sind aber auch für Schuberts Musik wesentliche Motive: musikalisch konstitutive Bewegungs- und Formcharaktere. An der Figur des Wanderers wird besonders deutlich, wie die Bildwelt die Musik »in Gang bringt«. Der Wanderer ist in Schuberts Musik nicht nur thematisches Subjekt, er bezeichnet im Urteil der auf Schubert folgenden Musikwissenschaft auch eine charakterisch-schubertsche Rhythmusgestalt und ist Patron der nach ihm benannten Klavierfantasie D 760 (1822). Peter Gülke hat festgehalten, dass etliche schubertsche Werke vom »Daktylus des Wanderers« bestimmt sind und dass »schon seit der Komposition von Wanderers Nachtlied vom Juli 1815 Wanderer und daktylische Gangart zusammengehörten«. 30 Indem Adorno Schuberts Bildwelt die musikalisch formbildenden Aspekte abgewinnt, schließt er zugleich an eine spezifische Formleistung Schuberts an, die sich abstrakt mit der von ihm herbeigeführten und mit der Vertonung von Goethes Gretchen am Spinnrade 1814 datierbaren Paradigmatisch für die Engführung einer kreisenden Wanderschaft, die Adorno als konstitutiv für Schuberts Form beschreibt, ist das erste Stück der Schönen Müllerin: Das Wandern: »Das Wandern ist des Müllers Lust das Wandern!« In der dritten Strophe ist von den Rädern die Rede. Sie lautet in der Version von Wilhelm Müller: »Das sehn wir auch den Rädern ab, / Den Rädern! / Die gar nicht gerne stille stehn, /Die sich mein Tag nicht müde drehn, Die Räder.« Die letzte Zeile ändert Schubert für seine Vertonung auf bezeichnende Weise ab: »die sich mein Tag nicht müde gehn, die Räder«. Schuberts Modifikation wird allerdings von vielen Sängern ignoriert. Vgl. Wilhelm Müller: Die Winterreise und Die schöne Müllerin. Mit Zeichnungen von Ludwig Richter und einem Nachwort von Winfried Stephan, Zürich 1999: 4, sowie die Urtextausgabe von op. 25: Neue Ausgabe sämtlicher Werke, hrsg. v. der Internationalen Schubert-Gesellschaft, Serie IV: Lieder, vorgelegt von Walther Dürr (BA 5513), Kassel 2010: IX und 1. 30 Vgl. Gülke: Franz Schubert und seine Zeit (Anm. 9): 192 ff.; bes. 194 f. 29

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»Wende in der Geschichte des Liedes« bezeichnen lässt. 31 Wie aufmerksam und kritisch Schuberts durchkomponiertes Kunstlied lyrische Gehalte in musikalische Struktur übersetzt und dabei nicht einfach abbildet als vielmehr in ihren Zusammenhängen »erkennt« hat Gülke in seiner Analyse der polyrhythmischen Überlagerungen in Gretchen am Spinnrade dargelegt. 32 Adornos metaphorische Zugangsart zu Schuberts Werk bewegt sich damit teilweise in den Spuren von dessen kompositorischem Verfahren. Wiewohl dem bildhaften Ausdruck in Adornos Sprache prinzipiell eine hohe Stellung zukommt, ist seine Relevanz für die Schubert-Interpretation noch einmal eine besondere. So kommen etwa in Adornos Beethovendeutung abstrakte Kategorien in einem weitaus größeren Maßstab zum Tragen – ein Umstand, der auch in dem unterschiedlichen Charakter der Werke Beethovens und Schuberts begründet liegt: »Am Vergleich mit jedem Instrumentalstück Schuberts […] läßt sich entnehmen: die Musik Beethovens ist bilderlos.« (BF: 40) Zu den zentralen Metaphern, in denen sich Adornos Schubertverständnis artikuliert, gehören neben den bestimmenden der Landschaft und der kreisenden Wanderschaft insbesondere die Metaphernfelder des Kristalls (GS 17: 23, 27, 29) des Lichts (GS 17: 18, 25, 27, 28), der Erde (GS 17: 29, 30, 33) sowie des Abgrunds (GS 17: 18, 29, 30). Die zu den einzelnen Metaphern angeführten Seitenangaben, die keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben, enthalten über die Zitationsbelege hinaus einen Hinweis auf die Variationstechnik des Aufsatzes, der nicht allein beschreibt, sondern in gewissem Sinn mitvollzieht, was er als Schuberts Formeigentümlichkeit begreift. Ähnlich wie Schuberts Themen werden Adornos Metaphern variiert und umbeleuchtet. So wird etwa der kristallinische Wuchs (GS 17: 23), den Adorno als Formprinzip geltend macht, ergänzt durch die Transparenz, die den »Kristallen der Schubertschen Landschaft« eignet (GS 17: 23); durch die unter der »dünnen knisternden Hülle« der Sonate »wachsenden Kristalle«, die die Sonatenhülle »bald […] zerbrechen« werden (GS 17: 27) 33; durch »Schuberts zweite […], kristallinische […] Form« unterhalb der »trügende[n] Dynamik der Sonate«

Ebd.: 83. Ebd.: 79 ff. Vgl. Thrasybulos G. Georgiades: Schubert. Musik und Lyrik, Göttingen 1967. 33 Das revolutionäre Bild eines kristallinen Erdbebens in Schuberts Kompositionen korrespondiert dem Vergleich von Beethovens Werken mit einem Vulkan. 31 32

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(GS 17: 27); durch »Eisblumenwälder, jäh anschießende Kristalle« (GS 17: 29). Mit dieser Auflistung sind dabei nur die expliziten Aufrufe der einmal eingeführten Metapher genannt; weitere Referenzen, die auf das semantische Feld des Kristalls Bezug nehmen, wie die »konfigurative Vereinzelung« (GS 17: 23) oder die »Wiederholbarkeit unveränderter Charaktere« (GS 17: 26) ließen sich anführen. Insbesondere auch das zunächst schwer zugängliche Motto, das Adorno seinem Aufsatz voranstellt, lässt sich bei forschreitender Lektüre mehr und mehr als eine Kristallmetapher verstehen. Die naheliegende lyrische Referenz der Kristallmetapher ist in Bezug auf Schuberts Werk die Winterreise. Adorno zitiert in seinem Aufsatz – es bleibt das einzige Zitat aus Schuberts Werkzusammenhang – die Strophe aus dem vierten Stück der Winterreise, der Erstarrung: »Ich will den Boden küssen / durchdringen Eis und Schnee / mit meinen heißen Tränen / bis ich die Erde seh.« (GS 17: 29) Die darin aufgerufenen Vorstellungsfelder Eis und Schnee, Boden und Erde macht Adorno zu zentralen Deutungskategorien seines Aufsatzes. An ihnen lässt sich in besonderem Maße nachvollziehen, wie er in seinem Aufsatz Schubert zunehmend der notorischen Vergleichsgröße Beethovens entrückt und einer ganz neuen musikalischen Nachbarschaft zuführt: und zwar nicht in die naheliegende Nachbarschaft der Romantik, der Schubert gemeinhin zugerechnet wird, sondern in die jüngere der Zweiten Wiener Schule. In der Charakterisierung der atonalen Musik Schönbergs, Bergs und Weberns kommt dem Metaphernfeld des Kristallinen eine hohe Bedeutung zu. Die aktualisierende Entrückung Schuberts aus dem Schatten Beethovens in die ausstrahlenden Kontexte der Neuen Musik vollzieht sich in Adornos Aufsatz wesentlich implizit, über die Metaphorik. Wenn kurz vor Ende des Aufsatzes schließlich der Satzteil auftaucht »erst Schönberg hat […]« (GS 17: 30) so eignet dieser Wende ins Explizite der musikalische Charakter einer Einlösung. Es ist nicht zuletzt in Hinblick auf diese aktualisierende Orientierung von Adornos Aufsatz aufschlussreich, an welche Bildbereiche aus Schuberts Liedkosmos Adorno anknüpft – und an welche er nicht anknüpft. Auf bezeichnende Weise ausgespart bleibt die für Schuberts Textwahl nicht unbedeutende Wassermetaphorik mit den Bewegungscharakteren Fluss und Strom. 34 Mit ihnen meidet Adorno Im späteren Rondoaufsatz tritt die Bedeutung des Melodienflusses wieder stärker in den Vordergrund. Vgl. etwa die Spielanweisung (GS 18: 193): »Keinesfalls dürfen

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einerseits die Schubert-Clichés des unendlichen Melodienflusses und des genialischen Stromes der Inspirationen. Die einzig beträchtliche Form, in der Flüssigkeit in Adornos Aufsatz von Relevanz sein wird, sind Tränen – auf sie wird später zurückzukommen sein. Zum Anderen akzentuiert Adornos Metaphernwahl die verhärtete Vereinzelung gegenüber dem eingebundenen »Mitschwimmen mit dem Strom«, die Isolation gegenüber der Verschmelzung. 35 Im letzten Stück der Schönen Müllerin, Des Baches Wiegenlied, findet der Müllersbursche seine letzte Ruhestätte »[i]n dem blauen kristallenen Kämmerlein« am Grund des Flusses; ultimatives Sinnbild seiner Abgeschiedenheit. 36 Anstelle der fließenden Übergänge hebt Adorno die Brüche und harten Fügungen sowie die tektonisch-formativen Postulate der Komposition hervor. 37 Und anstatt auf die vielgepriesene lyrisch-melodische Dimension von Schuberts Werken, lenkt er die Konzentration auf die rhythmische und harmonische Gestaltung. Ernst Krenek hat darauf hingewiesen, wie der auf reichhaltige Wiederholung eingestellte Musikstil Schuberts zur Entwicklung einer ausdifferenzierten Technik der harmonischen Variierung nötigte. 38 Adornos Metapher der »Erde« steht technisch in Verbindung mit der harmonischen Dimension und insbesondere dem Dur-Moll-Wechsel als einem entscheidenden idiomatischen Charakteristikum der schubertschen Musik. Jener Wechsel der Tongeschlechter ist auch einer des Gewichtsempfindens und wenn Adorno von Schuberts »nach Dur und Moll geschiedene[r] Landschaft« spricht (GS 17: 30), so hat er damit die Erdenschwere und luftige Leichtigkeit, die dunklen Abgründe und ›ausdrucksvolle‹ Stellen […] gebremst werden; alle Gestalten müssen in stetem Fluß bleiben. Damit freilich beginnt erst die Interpretationsaufgabe. Es ist nicht schwer, rasch zu spielen; wohl aber, in fließendem und gleichmäßigem Zeitmaß die Einzelgestalten so zu charakterisieren, daß sie zugleich gebunden bleiben und voneinander sich abheben.« 35 Vgl. zum Sozialcharakter der Strommetapher auch Redewendungen wie »Die Leute strömten«, »Menschenstrom«, »Kommunikationsfluss« etc. 36 Vgl. Müller: Die Winterreise und Die schöne Müllerin (Anm. 28): 84 (Herv. v. G.G.). 37 In erkennbarer Nähe zu Adorno wurde auf das parataktische Dispositiv von Schuberts Kompositionen aufmerksam gemacht. Vgl. Hinrichsen: Untersuchungen zur Entwicklung der Sonatenform in der Instrumentalmusik Franz Schuberts, (Anm. 11): 335 ff. Vgl. Adorno: »Parataxis. Zur späten Lyrik Hölderlins« (1963/64) in: GS 11: 447–491. 38 Vgl. Ernst Krenek: »Das Schubert-Jahr ist zu Ende«, in: Anbruch. Monatsschrift für moderne Musik 9 (1929): 11–15, hier 13 f.

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das »Oberlicht« (GS 17: 29), das Unterirdische und das Überirdische im Sinn. Auf diese Weise steht die Metapher der Erde in engem Zusammenhang mit den Metaphern des Lichtwechsels und des Abgrunds. Dabei ist die Erdmetapher, die im Aufsatz vergleichsweise hintergründig bleibt, insofern ihr technisch nur geringe Aufschlusskraft zukommt, die wohl polyvalenteste Metapher des Ganzen. »Erde« verweist im Sinne des territorialen Besitzanspruches von »Grund und Boden« auf Trennendes ebenso wie auf das gerade Gegenteil, das biblische Motiv der Gleichheit: den Stoff, aus dem wir alle sind. Beide Aspekte scheinen in Adornos Aufsatz auf; in der Charakterisierung von Schuberts Musiksprache als »Dialekt ohne Erde« (GS 17: 33) 39 wie in der radikal egalisierenden Vorstellung des »tödlichen Erkennen[s] der Erde und [des] vernichtenden Erkennen[s] des bloßen menschlichen Selbst« (GS 17: 30) im Angesicht des Todes. Es ist insbesondere auch das Bewusstsein von dessen abgründiger Präsenz, das Schuberts Werken ihr besonderes zeitliches und humanisierendes Gepräge gibt. Ein zweites Metaphernfeld, das Adorno neben dem des Fließenden und Strömenden meidet, ist das vegetabilische der Pflanzen und Blumen: die Gewächse, die aus der Erde sprießen. In Auseinandersetzung mit den seinerzeit kurrenten Schubert-Clichés weist Adorno zu Beginn seines Aufsatzes zunächst die psychologische und die genialische Verständnisart von Schuberts kompositorischem Schaffen zurück. 40 Beide Auffassungen koinzidieren für Adorno in dem Punkt, dass sie gesellschaftliche Vermittlungen aus der Kunst fernhalten: »[S]o sehr die landläufige Vorstellung die Realität verfehlt, Schubert habe, Lyriker seiner selbst, umstandslos und ohne Zäsur ausgedrückt, was er als psychologisch bestimmtes Wesen gerade eben fühlte, so irrig wäre eine Auffassung, die den Menschen Schubert aus seiner Musik streichen möchte und ihn […] zum Gefäß göttlicher Eingebungen oder vollends Offenbarun-

Die Formulierung »Dialekt ohne Erde« ist inspiriert von Adornos später formulierter Utopie: »Ohne Angst verschieden sein können« (GS 4: S. 116). »Dialekt ohne Erde« ließe sich wiedergeben als lokale Eigenheit ohne territorialen Anspruch; als Verbundenheit ohne Absicht auf Ausgrenzung; als Besonderheit ohne Machtwillen und imperialistische Ambitionen. Vgl. die Erwähnung Schuberts im Abschnitt Nation der Einleitung in die Musiksoziologie, in: GS 14: 359 f. 40 Vgl. zum Zusammenhang von Vegetationsmetaphern und Genieästhetik: Jochen Schmidt: Die Geschichte des Genie-Gedankens in der deutschen Literatur, Philosophie und Politik 1750–1945, Darmstadt 1985; Bd. 1: Von der Aufklärung bis zum Idealismus: 132 ff. 39

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gen machen; wie denn die Rede von künstlerischer Intuition, aus schlechter psychologischer Deutung des Produktionsprozesses und wahlloser Metaphysik des fertigen Gebildes trüb gemischt, die Einsicht in Kunst stets nur versperrt. Beide Vorstellungen sind identisch eigentlich, obschon sie an der Oberfläche heftig kontrastieren […].« (GS 17: 19)

Wenn Adorno gegenüber jenen sozial blinden Auffassungen künstlerischer Produktion nach Vorgabe des Mottos seines Aufsatzes die Überzeugung geltend macht, dass der Künstler »ne fut plus qu’un signe entre les constellations« (GS 17: 18), so erfolgt die Andeutung der gesellschaftlichen Vermittlungen oder »Konstellationen« wesentlich implizit, mittels der Metaphorik. Plakative gesellschaftliche Bezüge bleiben ausgespart. Nachdem Adorno in produktionsästhetischer Hinsicht die psychologische und die fetischistische SchubertAuffassung zurückgewiesen hat, wendet er sich zuletzt gegen eine Auffassung von Schuberts Werk, »wie sie herkömmlich und in ihrer Meinung vom Lyrischen falsch ist: jener nämlich, die Schuberts Musik als pflanzenhaft sich entfaltendes Wesen sieht, das ohne Rücksicht auf jede vorgedachte Form und aller Form vielleicht bar aus sich heraus wächst und erquickend blüht. […] Zugestanden selbst, es sei vergleichsweise Schuberts Musik überall mehr gewachsen als gemacht: ihr Wuchs, bruchstückhaft durchaus und niemals sich selbst genügend, ist vegetabilisch nicht, sondern kristallinisch.« (GS 17: 22 f.)

Was nach diesem Bescheid an Blumen und Pflanzen in Adornos Aufsatz noch übrig ist, ist entweder selbst kristallinisch oder befindet sich in entschiedenem Übergang ins Anorganische: »dunkle Pflanzengespinste« – die offenkundigen Opfer des zu Textbeginn erinnerten Vulkanausbruchs – (GS 17: 18), »Eisblumenwälder« (GS 17: 29) und das »Potpourri« (GS 17: 21 ff.), das eine Reminiszenz an die todesnahen Trocknen Blumen der Schönen Müllerin und der Variationen D 802 enthält und eine Art Übergangsmetapher zwischen der bruchstückhaften Vereinzelung der kristallinischen Form und der Erde ist. (GS 17: 22)

Perle und Kristall Durchsichtige Konstruktion und dissonante Akkorde »anstelle der eingeschmolzenen Tonalität«; »verschiedene, zwar untereinander verwandte Gestalten« anstelle von »motivische[r] Entwicklung« –: 138 https://doi.org/10.5771/9783495808221 .

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in einem zu Lebzeiten wohl nicht veröffentlichten Aufsatz über Schönbergs Lieder und Klavierstücke aus dem Jahr 1934 wird die Perspektive der Kristallmetaphorik des Schubert-Aufsatzes noch einmal exemplarisch erhellt. 41 In dem kleinen Text hat Adorno auch eine direkte Verbindung zwischen Schönbergs George-Liedern op. 15 und der Winterreise gezogen: Frappierend sei »für den heutigen Hörer bei allen Werken Schönbergs […] die Kontinuität in der Fortbildung der großen deutschen Komponier-Tradition, zumal der Wiener Klassik: hier der Schubertischen Winterreise«. (GS 18: 399) Nicht nur Adorno, auch nachfolgende Autoren haben auf die Affinität von Schubert und Schönberg hingewiesen und etwa auf die vielfältigen Korrespondenzen der Winterreise und des Pierrot Lunaire aufmerksam gemacht. 42 Das Stück Lockung aus Schönbergs Acht Liedern für eine Singstimme und Klavier op. 6, für Adorno »das Meisterstück der Gruppe«, charakterisiert er in einer Metaphorik, wie er sie für Schubert eingeführt hat. In dichter Folge bringt Adorno in seiner Minimalanalyse des Stücks mehrere Aspekte der für den begrifflichen Zugang zu Werken der Zweiten Wiener Schule maßgeblichen Kristallsemantik; wie das Erscheinen diskreter, aber verwandter Einzelgestalten, das Transparentwerden der sich kristallisierenden Gedanken und die lebensfremde Erstarrung im Ausdruck von Panik. Die Lockung sei eine »Vorform jener späteren Angstvisionen, die solange Schönbergs Landschaft durchjagen, bis sie zur kristallinischen Ruhe versteinen«. (GS 18: 398) Adornos »[m]ethodisches Prinzip […], daß von den jüngsten Phänomenen her Licht fallen soll auf alle Kunst anstatt umgekehrt« (GS 7: 533), gilt auch im Schubert-Aufsatz. Wie die Lichtmetaphorik des Aufsatzes von den jüngsten Verfahren der Filmtechnik inspiriert ist, so hört Adorno Schubert – unweigerlich – durch die zeitgenössische Komposition hindurch. Dabei werden bestimmte Gehalte allererst offenbar. Entsprechend heißt es im Schubert-Aufsatz recht bald zu Beginn und in nur implizitem Rekurs auf die Zweite Wiener Schule: »Heute erst ist der Landschaftscharakter von Schuberts Musik evident geworden, wie heute erst das Lot die luziferische Senkrechte der Beethoven41 Adorno: »Schönberg: Lieder und Klavierstücke«, in: GS 18: 398–400. Vgl. das Editorische Nachwort GS 19: 644. 42 Vgl. etwa Frank Wolff: »Schubert kaputt? Über die Schwierigkeiten, seine Musik noch zu hören«, in: Franz Schubert (Anm. 9): 4–9, hier 8.

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schen Dynamik ermessen kann. Die dialektische Befreiung der eigentlichen Gehalte Schuberts vollzieht sich nach der Romantik, der er selber kaum jemals blank zurechnet. Sie hat sein Werk als Zeichensprache des subjektiv Vermeinten gelesen, das Problem seiner Form in banaler Kritik unterdrückt […].« (GS 17: 20 f.)

Form ist indes die relevante Weise, in der Gesellschaft für Adorno ins Werk gesetzt ist. Adorno erhebt mit seinem Aufsatz nicht den Anspruch, eine adäquate Formanalyse von Schuberts Werk bereits gegeben zu haben, vielmehr weist er darauf hin, dass eine solche aussteht. (Vgl. GS 17: 27) Die Eigentümlichkeiten von Schuberts Form deutet er in surrealistisch anmutenden Bilder an, etwa wenn er von den »Kristallen der Schubertschen Landschaft« spricht. (GS 17: 23) So fremd das Bild für sich betrachtet anmutet, der Leser von Adornos Aufsatz wird es als eine Variante der Vorstellung vom »Fortbestand des Vereinzelten, wie es die Schubertsche Landschaft besetzt« (GS 17: 21) erkennen, von der kurz zuvor die Rede war. Begibt sich Adorno in der Eröffnungspassage mit seinem Bild eines erkaltenden Vulkans in nächste Nähe zu einer Schubert-Auffassung, von der er sich abgrenzt, so weist auch die Metapher des Kristalls Berührungspunkte zu einem konventionellen Bild auf, das Adornos Intentionen allerdings zuwider läuft: Wenn Friedrich Blume in seinem Romantikartikel befindet, dass sich »[a]us einem Klaviertrio von Schubert […] ohne große Mühe eine Perlenkette lyrischer Einzelstücke formen« ließe, wohingegen sich die Kompositionen Beethovens derartigen Versuchen verweigern würden, so weisen Perlen und Kette auf der einen, Kristalle und kreisende Wanderschaft auf der anderen Seite, frappierende Übereinstimmungen auf. Sowohl Kristall wie Perle zielen auf die »schönen Stellen«, die für Schuberts Musik in besonderem Maße prägend sind. 43 Der Substanz nach sind Perlen von Kristallen nicht weit entfernt, haben doch Perlen selbst kristalline Struktur. Doch lässt sich nicht leugnen, dass die metaphorischen Assoziationsfelder der »Perlenkette lyrischer Einzelstücke« und der »Kristalle […] der Schubertschen Landschaft« (GS 17: 23) in gänzlich andere Richtungen weisen. Dies nicht allein aus dem Grund, dass Adornos Kristalle auf die Landschaft als Formhorizont bezogen bleiben, wodurch der Charakter von Vereinzelung und Vereinsamung hervortritt, wohingegen für Blume jener depravative, sich entziehende Sinn von Vgl. Adornos gleichnamigen Beitrag: »Schöne Stellen«, in: GS 18: 695–718; zu Schubert, ebd.: 709 f.

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Formganzheit kaum in den Blick gerät, so dass sich ihm die Stücke der Tendenz nach in lose verbundene, selbstgenügsame »Perlen« brillanter Einfälle dissoziieren. Auch für sich betrachtet haben Perle und Kristall diskrepante Evokationsfunktionen. Zu ihrer Abgrenzung scheinen drei Assoziationsfelder besonders relevant. Zum Einen verbindet sich mit dem Kristall die Vorstellung von Transparenz, die auf Klarheit und Deutlichkeit und damit im übertragenen Sinn auf Erkenntnis, Verstand und Begrifflichkeit verweist. 44 Der Glanz der Perle bleibt gegenüber dem Kristall matt, die Perle schimmert mehr diffus als dass sie Lichtstrahlen so direkt und eindeutig reflektieren könnte wie bestimmte Kristalle. Doch noch in einem anderen Sinn verweist das Kristalline auf Rationalität. Nicht zufällig nahm der Rekurs auf die Kristallmetapher in den ersten Jahrzehnten des zwanzigsten Jahrhunderts geradezu sprunghaft zu, und dies, obwohl der Kristall seit der Romantik ein beliebtes Motiv war. Der naheliegende Grund dürfte ein architektonischer sein: das Neue Bauen mit den neuen Materialien Glas und Stahl nach dem Vorbild des Crystal Palace der Londoner Weltausstellung von 1851. Man wird dazu freilich bemerken dürfen, dass die prachtvolle Vorstellung des »Palasts« alsbald dem nüchtern-kalkulierenden Paradigma der Neuen Sachlichkeit und den mit ihr verbundenen ökonomischen Erwägungen geopfert war, so dass anstelle von opulenten alsbald serielle und immer gleiche Bauten traten. Auch dieser Doppelcharakter von Einmaligkeit und Wiederholung ist in der Metapher des Kristalls angelegt; so sind etwa die Gestalten von Bergkristallen höchst individuell; der Bauplan von Kristallen jedoch ist – anders als der von nichtkristallinen Materien – homogen und periodisch: eine Zelle ist wie die andere. Erinnerte der Kristallpalast in seinem äußeren Erscheinungsbild an Kristalle, so traten in der Neuen Sachlichkeit und serienmäßigen Vervielfältigung alsbald die Aspekte des inneren Bauplans kristalliner Materien in Erscheinung. Dieser vielleicht nicht immer rationale, wohl aber rationelle Aspekt ist das zweite Moment von Rationalität, das neben dem Erkenntnismotiv in der modernen Kristallmetapher mitklingt. 45 44 Vgl. zum Erkenntnischarakter von Kunst und der Neuen Musik zumal GS 12: 118 f. 45 In ihrer Schrift Das Kristalline als Kunstsymbol. Bruno Taut und Paul Klee hat Regine Prange die kunsthistorischen (Alois Riegl, Wilhelm Worringer), architektonischen und architekturtheoretischen (Die Gläserne Kette) Zusammenhänge aufgezeigt, die der modernen Kristallsymbolik eine eminent neue Qualität gaben und

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Ein letzter und entscheidender Aspekt der Kristallsemantik, der in Abgrenzung zur Perle von Relevanz ist, ist der des Eises. Der Eiskristall verweist zum einen auf wunderschöne, in sich ruhende Formen; zum anderen auf gefrorene Flüssigkeit, Frost, Kälte, Erstarrung – abstrakt auf den subjektiven Leidenszustand. Wird die Kristallmetapher erst zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts mit dem architektonisch-konstruktiven Aspekt als einer historisch neuen Bedeutungsschicht angereichert – Adorno spricht in seinem SchubertAufsatz in einem etwas fremd anmutenden Bild von der »Konstruktion aus dem Potpourri« ehe er den »kristallinischen Wuchs« von Schuberts Form geltend macht (GS 17: 22 f.) – so hat das Eis- und Wintermotiv in der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts Konjunktur. 1823/24 malt Caspar David Friedrich das Eismeer, 1844 erscheint Heinrich Heines spöttisches Versepos Deutschland. Ein Wintermärchen, 1811 erwägt in Wien Joseph Schreyvogel den Titel Die Winterabende für eine projektierte Sammlung moralischer Charakterstücke. 46 Ist die Perlenkette wohlgefällig-harmloses Dekor, so strahlen die Kristalle der Schubertschen Landschaft kalten Ernst aus. Die Kugelform ist das Symbol der Vollkommenheit und Ganzheit. Adorno hingegen begreift die brillanten Einfälle von Schuberts Themen in ihrem »konstitutiv fragmentarischen Charakter« als geprägt durch den Formhorizont, in dem sie sich befinden, die »Landschaft« (GS 17: 23). Auf diese Weise ergibt sich ein grundlegend anderer Formeindruck: »Der exzentrische Bau jener Landschaft, darin jeder Punkt dem Mittelpunkt gleich nah liegt, offenbart sich dem Wanderer, der sie durchkreist, ohne fortzuschreiten: alle Entwicklung ist ihr vollkommenes Widerspiel, der erste Schritt liegt so nahe beim Tod wie der letzte, und kreisend werden die dissoziierten Punkte der Landschaft abgesucht, nicht sie selber verlassen. Denn Schuberts Themen wandern nicht anders als der Müller oder der, den im Winter die Geliebte verließ. Nicht Geschichte kennen sie, sondern perspektivische Umgehung: aller Wechsel an ihnen ist Wechsel des Lichtes.« (GS 17: 25).

das Kristalline zu einem prädestinierten Motiv zur Reflexion der abstrakten Kunstform machten. Vgl. Regine Prange: Das Kristalline als Kunstsymbol. Bruno Taut und Paul Klee, Hildesheim/Zürich/New York 1991. 46 Vgl. Josef Schreyvogel, Josef Schreyvogels Tagebücher 1810–1823. Mit Vorwort, Einleitung und Anmerkungen hrsg. v. Karl Glossy, Berlin 1903, I. Teil: 169. [Zu Joseph Schreyvogels Vornamen existieren zweierlei Schreibarten.]

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»Der erste größere Text, in dem ich wirklich ganz drin bin«

Wie wohl keine frühere Musik ist die von Schubert – dem Komponisten mit dem wohl legendärsten Freundeskreis in der Geschichte der klassischen Musik – Ausdruck von Einsamkeit. Aufschlussreich ist allein die Textwahl, zumal die der Liedzyklen. Vertonte Beethoven gegen Ende seines Lebens die Zeile »alle Menschen werden Brüder«, so dachte Schubert in einem seiner letzten Werke darüber nach, wie die Worte »fremd bin ich eingezogen / fremd zieh ich wieder aus« als Musik klingen müssten. Formal lässt sich der Charakter von Verlassenheit und Traurigkeit in Schuberts Musik nachvollziehen am »Fortbestand des Vereinzelten, wie es die Schubertsche Landschaft besetzt« (GS 17: 21). Denn der melancholische Grundzug haftet weniger an einzelnen schmerzvollen melodischen Zügen, als an der formalen Gesamtanlage der Stücke. In einer Aufzeichnung der Beethoven-Fragmente hält Adorno 1940 eine diesbezügliche Verständigung mit Eduard Steuermann fest: »Als Eduard [Steuermann] die 4 Impromptus [op. 90] von Schubert gespielt hatte (mit dem unvergleichlichen großen in c-moll) warf ich die Frage auf, woher es rühre, daß diese Musik so unvergleichlich viel trauriger sei als selbst die düstersten Stücke von Beethoven. Eduard meinte, das käme von der Aktivität Beethovens, und ich bestimmte diese, mit seiner Zustimmung, als Totalität, als die unauflösliche Verschränkung von Ganzem und Teil. Die Schubertische Traurigkeit hinge danach nicht allein am Ausdruck (der selber eine Funktion der musikalischen Komplexion ist) sondern an der Freigabe des Einzelnen. Das befreite Detail ist zugleich das verlassene, so wie das befreite Individuum zugleich das vereinsamte und leidende, negative ist.« (BF: 48)

Wie lässt sich die Einsamkeit des befreiten, modernen Individuums aus gegenwärtiger Sicht verstehen? Sind wir im Laufe der Geschichte einsamer geworden? Das Gegenteil will aus der heutigen Perspektive des ununterbrochenen Kommunikationsflusses zutreffend scheinen. Doch vielleicht ist gerade das stupende Kontaktbedürfnis in seinen mitunter skurrilen Ausprägungen Ausdruck unserer Vereinsamung und sozialen Angst. – Vielleicht haben uns unsere taxierende Blicke vereinsamt, mit denen wir die Welt auf unseren Vorteil hin vermessen. Oder jene internalisierten Regime, die auf die äußere Unfreiheit gefolgt sind, wie die Regime der Exzellenz und des unendlichen Wachstums. Vielleicht sind wir in dem Maß vereinsamt, in dem wir uns durch fortschreitende Selbstdarstellung selbst zu Fremden geworden sind. In dem Maß, in dem es als gemeinsames Ziel vor allem die Konkurrenz gibt. In dem Maß, in dem wir darüber wachen, unse143 https://doi.org/10.5771/9783495808221 .

Gabriele Geml

ren eigenen Tauschwert zu optimieren, indem wir in zwischenmenschlichen Beziehungen unabhängig, im Beruf »flexibel« und bei Bedarf »gut vernetzt« sind.

»Bilderlose Bilder« Adornos Reflexionen künstlerischer Werke sind von gesellschaftlichen Bezügen durchsetzt, ohne sich auf abbildhafte Zuschreibungen zu belaufen. Dem entsprechen seine späteren Darlegungen des gesellschaftlichen Charakters der Kunst. Gesellschaftlich bedeutsam sind die Kunstwerke nicht nur in der Weise ihres sozialen Vermitteltseins und ihrer – wie immer indirekten – Bezugnahme auf Soziales. Gesellschaftliche, humanisierende Relevanz haben sie insbesondere auch in dem Maß, in dem sie Erfahrungen ermöglichen, die das eigene Ich und seine subjektiven Schranken transzendieren. In der Ästhetischen Theorie wird Adorno Bezeichnungen wie »apparition« (GS 7: 125 ff.), »Erschütterung« (GS 7: 363 f., 400 f.), »Einstand« (GS 7: 17, 131 f.) oder »[b]ilderlose Bilder« (GS 7: 422) finden, um jenes entscheidende Moment ästhetischer Kunstwahrnehmung zu charakterisieren. Es handelt sich um eine – sozial höchst bedeutsame – Erfahrungsrealität von Ichfremdheit, die, indem sie den ästhetischen Schein durchbricht, zugleich dem Ich ein existenzielles Bewusstsein davon vermittelt, »daß es nicht das letzte, selber scheinhaft sei. Das verwandelt die Kunst dem Subjekt in das, was sie an sich ist, den geschichtlichen Sprecher unterdrückter Natur, kritisch am Ende gegen das Ichprinzip, den inwendigen Agenten von Unterdrückung. Die subjektive Erfahrung wider das Ich ist ein Moment der objektiven Wahrheit von Kunst.« (GS 7: 364 f.; vgl. auch 400 f.)

Jene ans Physiologische rührende Erfahrung einer grundlegenden Angehörigkeit zur Welt, in der die Idee der Humanität aufleuchtet, könnte für alles gesellschaftliche Verhalten aufschlussreich sein. Am Ende seines Schubert-Aufsatzes, der die Gehalte dieser Musik so bildreich dargelegt hat, heißt es zuletzt, in einem innigen Bekenntnis zu Schubert und einer für Adornos Ästhetik wesentlichen materialistischen Wendung: »Vor Schuberts Musik stürzt die Träne aus dem Auge, ohne erst die Seele zu befragen: so unbildlich und real fällt sie in uns ein. Wir weinen, ohne zu wissen warum; weil wir so noch nicht sind, wie jene Musik es verspricht, und im unbenannten Glück, daß sie nur so zu sein braucht, dessen uns zu versichern, daß wir einmal so sein werden.« (GS 17: 33)

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»Der erste größere Text, in dem ich wirklich ganz drin bin«

Intentionslosigkeit Zum Wandel der Schubert-Auffassung, wie er sich in der Musikwissenschaft seit den 1970er Jahren vollzog, hat die Neupublikation von Adornos Aufsatz im Jahr 1964 entscheidend beigetragen. So erfreulich der Umstand der Wirkmacht von Adornos Engagement für Schuberts Werk indes ist und so offenkundig Adorno mit seinem Aufsatz bestimmte Intentionen verfolgte – die Qualität des Essays geht in der in gegenwärtigen wissenschaftlichen Zusammenhängen beschworenen Kategorie des »impacts« nicht auf. Nicht nur hätte Adorno die militärsprachlich inspirierte Vorstellung eines Einschlags als oberstes Qualitätskriterium geistiger Erzeugnisse konsequenterweise betroffen gemacht; sein philosophisches Werk wäre überhaupt missverstanden, wenn man es auf den Aspekt einer Maximierung des Exportwerts seiner Thesen und Theoreme reduzieren wollte. In seinen 95 Thesen zur Philologie hat Werner Hamacher auf den Anspruch der philía in Abgrenzung zur Funktionalität des logos aufmerksam gemacht, der unter den klassischen akademischen Disziplinen die Philologie mit der Philosophie verbindet: »Anders als die Wissenschaften – die Ontologie, Biologie, Geologie –, die der Ordnung des logos apophantikos zugehören, spricht die Philologie im Bereich der euché. Ihr Name besagt nicht Wissen vom logos […] sondern: Zuneigung, Freundschaft, Liebe zu ihm. In ihrer Benennung ist der Anteil der philía früh in Vergessenheit geraten, so daß Philologie zunehmend als Logologie, als Wissenschaft von der Sprache […] schließlich als wissenschaftliches Verfahren im Umgang mit sprachlichen, insbesondere literarischen Zeugnissen verstanden wurde. Dennoch ist Philologie die Bewegung geblieben, die noch vor der Sprache des Wissens den Wunsch nach ihr weckt und in der Erkenntnis den Anspruch des Zu Erkennenden wach hält.« 47

Adornos philosophische Texte haben einen gesellschaftlichen Kern nicht nur, indem sie Wissen über Gesellschaftliches vermitteln oder Kritik an Gesellschaftlichem bekunden, sondern auch insofern sie Züge aufweisen, die sich bestimmten gesellschaftlichen Praktiken auf praktische Weise widersetzen. Dazu gehört, dass Adornos Texte dem Gefälle der Funktionen, in dem alles zu etwas anderem dienen soll, nur beschränkt zu Gefallen sind. Unzweifelhaft verfolgen sie Absichten. Doch anders als wissenschaftliche Texte erschöpfen sich die Ar47 Werner Hamacher: 95 Thesen zur Philologie, hrsg. v. Urs Engeler, roughbook 008, Frankfurt a. M./Holderbank 2010: 9.

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beiten von Adorno nicht in ihren informatorischen Gehalten. Über den eintauschbaren Wert dessen hinaus, was sich aus ihnen extrahieren lässt, eignet ihnen – wie philosophischen und literarischen Texten überhaupt – zudem ein bestimmter Gebrauchswert: Es bereitet Befriedigung, sie zu lesen und wiederzulesen; nicht nur sie gelesen zu haben und zu wissen, was in ihnen steht. Jenes Lustmoment findet sich auch auf der Autorenseite. Kein wissenschaftlicher Text ließe sich heute derart selbstrefentiell, mit Bezug auf die Person des Autors, bewerben, wie es Adorno gegenüber Suhrkamp und Unseld mit seinem Schubert-Aufsatz getan hatte. Adornos Texte werten den Gebrauchswert gegenüber dem Tauschwert auf. Dies verbindet sich mit einem Moment von Intentionslosigkeit und »Selbstheit« der Texte, für das die Kunst exemplarisch ist: »[V]or dem Wozu das alles, dem Vorwurf ihrer realen Zwecklosigkeit, verstummen hilflos die Kunstwerke.« (GS 7: 183) – »Ich bin ein Nashorn, bedeutet die Figur des Nashorns.« (GS 4: 261; vgl. GS 7: 171 f.) Kenntlich wird der nichtfungible Aspekt von Adornos Schriften unter anderem an der intensiven Dichte des Beziehungsgeflechtes, das seine charakteristischen Texte auszeichnet. Sie sind, was er sich von Philosophie erwartete und was diese von wissenschaftlichen Resultaten unterscheidet: wesentlich nicht referierbar (GS 6: 44). Eher als dass sie sich zusammenfassen ließen, ziehen sie wie Magneten immer mehr an Bedeutungen und Bezügen an, je näher man sich auf sie einlässt. Damit stehen sie kritisch zu einer gesellschaftlichen Praxis, die zunehmend darauf ausgerichtet ist, die Dinge auf den Punkt zu bringen, mit dem geringsten Aufwand den größtmöglichen Effekt zu erzielen, Entstehungsprozesse abzukürzen, Dinge zu überfliegen, abzuhaken, vom Tisch und aus dem Sinn zu bekommen. Komplementär zu einer solchen »loswerdenden« Produktionspraxis ist auf der Konsumenten- und Rezeptionsseite das Wegwerfenkönnen zu einer unserer aktuellsten Tugenden geworden – womöglich ist es die signifikanteste Tugend, die die neuere Zeit hervorgebracht hat. In dem heute sozial geforderten Klima der überlasteten Emsigkeit wird eine abundante Zahl über-flüssiger Dinge produziert – zu deren Gebrauch, Genuss und konkreter Wertschätzung längst kein seriöser Mensch mehr kommt. In seiner Einleitung in die Musiksoziologie bemerkt Adorno: »Ohne gesellschaftliche Arbeit ist kein Leben, Genuß wird von ihr erst hervorgebracht; die gesellschaftliche Verfügung aber reduziert den Gebrauch der hergestellten Güter […] zum Mittel, um des Profits willen den Produktionsapparat in Gang zu halten.« (GS 14: 399) 146 https://doi.org/10.5771/9783495808221 .

»Der erste größere Text, in dem ich wirklich ganz drin bin«

Adornos Essayismus, der das Charakteristikum auch seiner Hauptwerke ist, ebenso wie Schuberts rückwärts und seitwärts, in Himmel und Abgründe blickende musikalische Formen, lassen sich als ein Einspruch gegen jene funktions- und prozessversessenen und dabei fortschreitend gebrauchsblinden Imperative begreifen. Eine Kritik, die Schubert seinerzeit durch die Allgemeine Musikalische Zeitung zuteil geworden war, mokierte sich: »[D]er Tonsetzer gleicht […] einem Großfuhrmann, der achtspännig fährt und bald rechts, bald links lenkt, also ausweicht, dann umkehrt und dieses Spiel immerfort treibt, ohne auf eine Straße zu kommen«. 48 In seine Beschreibung des Essays als Form, Adornos methodisches Selbstportrait, hätte Adorno diese Polemik ohne weiteres integrieren können, auf affirmative Weise. Am Essay hat er nicht zuletzt geschätzt, dass »Glück und Spiel« ihm wesentlich seien. (GS 11: 10, 30 f.) Damit widersetzt sich der Essay jenem abstrakten Evangelium des Vorankommens, das heute kurrent ist und dem alles gerade so viel bedeutet, wie es sich als Vehikel weiterer Fortschritte anbietet. Explizit wie implizit hat Adorno die »Sparwirtschaft des Glücks« in Zweifel gezogen: Die Vorstellung, dass man das Glück, auf das man in seiner je gegenwärtigen Praxis verzichtet, in der Folge einmal mit Zinsen zurückerstattet bekäme. 49 Ein solcher Versuch bleibt in jedem Fall spekulativ, sein Gelingen das prekäre Privileg von wenigen. In den letzten Passagen seines Schubert-Aufsatzes hat Adorno über die unterschiedlichen Ausdrücke von Freude in Schuberts Musik gesprochen: »Schuberts Freude in ihrer unvermittelten Bekundung kennt keine Form mehr, fertig zum Gebrauch naht sie der unteren empirischen Realität und läßt sich fast von ihr verwenden, indem sie aus der Kunstregion ausbricht.« (GS 17: 32) – »Im großen vierhändigen ADur-Rondo singt das ausgebreitete Wohlsein, so leibhaft beständig, wie körperliches in Dauer es ist, und von Beethoven höchsten Sinnes so unterschieden wie gute Speise von der in praktischer Vernunft postulierten Unsterblichkeit.« (GS 17: 31) Zur Freude – und nicht allein zu Einsamkeit und Melancholie – sind in Schuberts Musik oftmals auch die Extension und das nochmalige, erneuerte Beginnen und Wiederholen zu rechnen, das die einzelnen Motive in ihrem Sosein

Zit. in: Gülke: Franz Schubert und seine Zeit, (Anm. 9): 196. Adorno: Probleme der Moralphilosophie (1963), hrsg. v. Thomas Schröder, Frankfurt a. M. 2010: 205.

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bestätigt, beschwört und verherrlicht und ihnen in ihrer »Selbstheit« Zeit und Raum zur Verfügung stellt. (GS 7: 171; GS 17: 31) Vermittelt mit ihren inhaltlichen Intentionen ist den philosophischen Texten Adornos ein Glücksmoment eigen. Es haftet an aphoristischen Prägungen und Wortspielen ebenso wie an der Entdeckung von Bezügen und Korrespondenzen zwischen den einzelnen Textelementen, die sich wechselseitig beleuchten und in ihrer Bedeutung steigern. Als Aphorismen und Wortspiele sind Adornos Befunde »fertig zum Gebrauch« (GS 17: 32), praktikabel zitierfähige Bonmots, Schuberts »schönen Stellen« und »brillanten Einfällen« nicht unähnlich. Als Momente größerer Sinneinheiten, die aus dem konkreten Gefüge des Textes aufsteigen, lassen sie sich hingegen aus diesem nicht isolieren. Die Fülle dessen, was gegenwärtig bereits zum Gebrauch zur Verfügung stünde, wird in Adornos Texten nach der Seite ihres geistigen Ausdrucks hin aufgegriffen. Ähnlich wie bei Schubert und Mahler halten sich das »Lob des hohen Verstandes« und die Welt »der schwebenden Banalität und leichten Betrunkenheit« (GS 17: 32) bei Adorno in etwa die Waage: – »So wahr es ist, daß ein jegliches in der Natur als schön kann aufgefaßt werden, so wahr das Urteil, die Landschaft der Toscana sei schöner als die Umgebung von Gelsenkirchen.« (GS 7: 112) Sätze wie jener Befund, der in der Ästhetischen Theorie auf Theoreme von Kant, Hegel und Humboldt folgt und den Nimbus philosophischer Theorie durch die Evidenzen touristischer Erfahrungswerte auf konziliante Weise brüskiert, bringen unterschiedliche Abstraktionsniveaus in ein freies Spiel. Von Lustmomenten wie jenen ist Adornos Philosophie durchsetzt. Sie verkörpern einen Einspruch gegen die verabsolutierte Idee einer Sparwirtschaft des Glücks, gegen die Vorstellung, dass das Glück etwas ist, das uns als verdientes Resultat eines mühevollen und entbehrungsreichen Prozesses huldvoll, drastisch und in überwältigendem Glanz entgegentritt. Denn vielleicht lässt sich auch das Glück verlernen. Vielleicht kann es uns im Verzicht so fremd werden, dass wir es schließlich selbst dann nicht mehr erkennen, wenn es uns schlussendlich in der erstrebten Dosis begegnet. In seinem Gedicht unterführungen schrieb der kürzlich verstorbene Wolfgang Schlenker: »wenn wir leben / dann zwischen den sekunden // in den minuten dazwischen / unchiffriert wie alles // was zu frei / für unser denken ist«. 50 Die Wolfgang Schlenker: doktor zeit, hrsg. v. Urs Engeler, roughbook 020, Solothurn 2012: 9.

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»Der erste größere Text, in dem ich wirklich ganz drin bin«

Wissenschaften haben uns ein längeres Leben beschert. Philosophie sollte dazu beitragen, es auf eine möglichst entbehrungsarme Weise zu verbringen. Die Wissenschaften zielen auf Fortschritte, Philosophie ist sinnvolle Gestaltung von Gegenwart. Nicht auszuschließen, dass mit der Steigerung unserer Geistesgegenwart ein epochaler Fortschritt erzielt wäre.

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»Bilder von Gesten« Über die Aktualität von Adornos Theorie der musikalischen Schrift Nikolaus Urbanek

Den Nukleus von Adornos Überlegungen zur musikalischen Interpretation bildet eine Theorie der musikalischen Schrift. Dass »zwischen der Theorie der Notenschrift und der Reproduktionstheorie der eindeutigste Zusammenhang hergestellt werden [muss] und zwar so, daß die Prinzipien von dieser aus jener abgeleitet werden« (MR: 87), bildet eine grundlegende Prämisse der Fragment gebliebenen Theorie der musikalischen Reproduktion 1 und verdeutlicht die zentrale Bedeutung der Notenschrift für seine musikphilosophische Theoriebildung. Die gesammelten Fragmente, Notizen und Entwürfe zu Fragen der »musikalischen Reproduktion«, wie es bei Adorno heißt 2, spannen vor diesem Hintergrund einen dichten Begründungsund Verweisungszusammenhang auf, in dem grundlegende musikphilosophische Fragestellungen zur Disposition gestellt werden, um die These zu stützen, dass die »wahre Interpretation […] die vollkommene Nachahmung der musikalischen Schrift« (MR: 83) sei. In gleicher Weise wie er für das projektierte Beethoven-Buch keinen geringeren als den weitausgreifenden und in jeder Hinsicht ambitionierten Titel Philosophie der Musik vorsah 3, erwog Adorno 1 Neben einigen kurzen veröffentlichten Texten und diversen Passagen in den Gesammelten Schriften haben sich im Nachlass zahlreiche Fragmente, Vorarbeiten, Exzerpte und zwei Entwürfe zu diesem Themenkomplex erhalten, den Adorno über mehrere Jahrzehnte in jeweils unterschiedlich intensiver Art und Weise umworben hat. Vgl. Theodor W. Adorno, Zu einer Theorie der musikalischen Reprodukton. Aufzeichnungen, ein Entwurf und zwei Schemata, hrsg. v. Henri Lonitz, Frankfurt a. M. 2001 (MR). 2 Vgl. Hans-Joachim Hinrichsen: »›Die Musik selbst und nicht ihr Bedeuten‹. Adornos Theorie der musikalischen Reproduktion«, in: Adorno im Widerstreit. Zur Präsenz seines Denkens, hrsg. v. Wolfram Ette, Günter Figal, Richard Klein u. Günter Peters, Freiburg/München 2004: 199–221, bes. 201 f.; Hermann Danuser: »Zur Haut ›zurückkehren‹. Zu Theodor W. Adornos Theorie der musikalischen Reproduktion«, in: Musik & Ästhetik 7 (2003), H. 25: 5–22. 3 Das Fragment gebliebene Beethoven-Buch wäre daher – gleichsam als antagonisti-

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»Bilder von Gesten«

auch für seine Theorie der musikalischen Reproduktion einen Titel, dem ebenfalls ein systematisch-philosophischer Anspruch eingeschrieben ist: Neben der Formulierung »Die wahre Aufführung«, deren provokatives Potential in verschiedenste Richtungen ausstrahlt, zog Adorno den Titel »Reproduktionstheorie. Ein musikphilosophischer Versuch« in Betracht. 4 Eine adäquate Lektüre der Fragmente und Entwürfe hätte somit ihren musikphilosophischen Anspruch ernst zu nehmen, dergestalt, dass die projektierte Theorie der musikalischen Reproduktion nicht als eine bloße Sammlung aufführungstheoretischer Polemiken zu lesen wäre, die schlichtweg an bestimmte Situationen oder konkrete Kontexte in der Geschichte der musikalischen Interpretation rückzubinden wäre – selbst wenn sie diese Fragen anhand konkreter Werke, anhand konkreter Aufführungen, anhand konkreter Interpretationstraditionen aufwerfen, zielen zahlreiche Fragmente auf »musikontologische« Fragestellungen. Thema der folgenden Überlegungen ist die Frage, in welcher Art und Weise die Lektüre des Fragment gebliebenen Reproduktionsbuches einen wichtigen Beitrag zur Debatte um eine »zeitgemäße Musikphilosophie« leisten könnte. Wie also wäre das Denken Adornos mit und gegen Adorno in Bewegung zu bringen, um für eine Musikphilosophie nach Adorno theoretische Funken zu schlagen?

* Zahlreiche Überlegungen in Adornos Fragmenten und Entwürfen zu einer Theorie der musikalischen Reproduktion umkreisen immer wieder drei zentrale Begriffe: Werk – Klang – Schrift. »Auf die genetischen Implikationen der musikalischen Schrift zurückzugehen, ist geboten, weil musikalische Werke wesentlich nur vermittelt durch die Schrift vorliegen, weil der Interpretation der Klang nicht unmittelbar sondern bloß als notierter gegeben ist und weil die Notation keineswegs die scher Dialogpartner – zuallererst in Bezug zu der Philosophie der neuen Musik zu setzen und nicht in einer direkten Linie mit den Musikalischen Monographien über Wagner, Mahler und Berg zu sehen, siehe dazu meine »theoriearchitektonische« Begründung in Nikolaus Urbanek: Auf der Suche nach einer zeitgemäßen Musikästhetik. Adornos »Philosophie der Musik« und die Beethoven-Fragmente, Bielefeld 2010. 4 Vgl. das editorische Nachwort in MR: 381. Dass es – nachdem Interpretationsfragen traditionellerweise an Werken Beethovens verhandelt werden – zahlreiche Berührungspunkte zwischen diesen beiden Projekten gibt, ist so offensichtlich, dass es kaum der eigenen Erwähnung bedürfte.

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Nikolaus Urbanek

selbstverständliche Anweisung für die Interpreten bietet. Der Interpretation ist kein Gesetz für die Dechiffrierung von Texten in deren Phänomenen gewährt, sondern erst in der Besinnung aufs Wesen musikalischer Texte selber aus der Einheit von Werken in der Schrift. Dieser Besinnung aber erschließt sich zugleich das Auseinanderweisen von Ideal des Klangs, Notation und Wiedergabe.« (MR: 237 f.)

Um nun in eine Debatte eintreten zu können, die auf der Basis einer »mikrologischen« 5 Lektüre die Texte Adornos mit neueren Ansätzen und Denkfiguren zu konfrontieren sich anschickt, ist zuallererst zu berücksichtigen, dass jeder der drei Begriffe »nach« Adorno problematisch geworden ist.

I.

Werk

Nach den Frontalangriffen auf das (Kunst-)Werk und den Werkbegriff im künstlerischen wie im theoretischen Bereich sieht sich jede Rede über das »musikalische Kunstwerk« heute nahezu automatisch dem Verdacht obsoleten Traditionalismus ausgesetzt: Einerseits sind hier die vielfältigen artistischen Angriffe auf den Werkbegriff in diversen Avantgarden mit der Betonung von Happenings, Aktionismen und Performances zu erinnern; man könnte diese »performative Wende in der Kunst« in die einprägsame Formel »vom Werk zum Ereignis« gießen. 6 Andererseits etablierte sich – motiviert auch, aber nicht nur von den fundamentalen Verschiebungen in den Künsten des 20. Jahrhunderts – im Bereich der Ästhetik 7 ebenso wie im Be-

In Hinblick auf die Ausführungen des Reproduktionsbuches wäre hier an das »mikrologische Verfahren« Walter Benjamins, das Adorno an diesem theoretischen Ort nicht nur expressis verbis übernimmt (vgl. MR: 9), sondern im Getreuen Korrepetitor gleichsam auch als Bedingung der Möglichkeit der wahren Interpretation benennt, zu erinnern: »Das mikrologische Verfahren darf nicht als ein dem künstlerisch produktiven Entgegengesetztes verstanden werden. Walter Benjamin hat ›das Vermögen der Phantasie‹, als ›die Gabe, im unendlich Kleinen zu interpolieren‹ definiert. Das beleuchtet blitzhaft die wahre Interpretation.« (GS 15: 276). 6 So Dieter Mersch: Ereignis und Aura. Untersuchungen zu einer Ästhetik des Performativen, Frankfurt a. M. 2002: bes. 157–244. 7 Allen voran das vieldiskutierte Manifest Rüdiger Bubners, mit dem er eine Theorie der ästhetischen Erfahrung gegen die Werk- und Wahrheitsästhetiken in Stellung brachte und das einen wichtigen Bezugspunkt der einschlägigen Debatten in der deutschsprachigen Ästhetik darstellt. Vgl. Ders.: »Über einige Bedingungen gegen5

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»Bilder von Gesten«

reich der Kunst- und Kulturwissenschaften 8 eine von diversen epistemologischen Entwicklungen gestützte Idiosynkrasie gegen die traditionelle Zentralstellung eines absoluten Kunstwerkbegriffs. Adornos Ästhetik, in der ein emphatischer Begriff des (musikalischen) Kunstwerks nicht nur omnipräsent ist, sondern das Kunstwerk wie eine »Fee im Märchen« (GS 7: 191) spricht, seine Explikation »erwartet« (GS 7: 191 ff. vgl. etwa GS 7: 524) und als »Todfeind« (GS 7: 59; 313 f.) aller übrigen Kunstwerke sich geriert, letztlich also zum aktiven Träger des gesamten theoretischen Geschehens avanciert, gerät hier prima facie unter einen gewissen Rechtfertigungsdruck. Allerdings ergibt sich im Rahmen von Adornos Schriften eine auffallende Zwiespältigkeit: Einerseits hängt ihr Autor selbst – gleichsam als »Dilettant« in bestem Wortsinne – einem überkommenen bildungsbürgerlichen Kanon musikalischer Meisterwerke austro-germanozentristischer Prägung an und macht diesen zum (ausschließlichen) Zentrum seines Gedankengebäudes, andererseits reflektiert Adorno die Problematik des Werkbegriffs äußerst luzide und bindet ebendiese produktiv in seine Überlegungen ein. Die Einsichten in die »Erschütterung des Werkes«, die Adorno bereits im Schönbergteil der Philosophie der neuen Musik lancierte, sind in ihrer Radikalität von großer Tragweite – eine naive Werkästhetik würde jedenfalls ihren Ausgangspunkt kaum just bei einer so starken These suchen, derzufolge die »einzigen Werke heute, die zählen, [die seien], welche keine Werke mehr sind« (GS 12: 37). Es dürfte gerade dieser offene, sich durch die gesamte musikphilosophische und musikästhetische Theoriebildung Adornos ziehende Riss sein, der eine aktualisierende Auseinandersetzung mit ihr überhaupt noch erlaubt und Adornos Überlegungen vor einem Versinken in die Obsoleszenz bewahrt. wärtiger Ästhetik«, in: neue hefte für philosophie 5 (1973): 38–73; auch in Ders.: Ästhetische Erfahrung, Frankfurt a. M. 1989: 9–51. 8 Die mitunter durchaus scharfe musikwissenschaftliche Kritik am Werkbegriff stellt sich nicht selten als bequeme Form der Kritik an einem zu engen, elitären Kanon musikalischer Meisterwerke des späten 18. und 19. Jahrhunderts dar. Überdeutlich wird die Krise des Werkbegriffs in den mannigfaltigen Plädoyers zur Rettung der »romantischen Kategorie« bei Carl Dahlhaus. Im Hinblick auf die Rezeption der Überlegungen von Dahlhaus in der Musikwissenschaft vgl. Reinhard Strohm: »Der musikalische Werkbegriff: Dahlhaus und die Nachwelt (Versuch einer Historisierung in drei Phasen)«, in: Carl Dahlhaus und die Musikwissenschaft. Werk – Wirkung – Aktualität, hrsg. v. Hermann Danuser, Peter Gülke u. Norbert Miller, Schliengen 2011: 265–278.

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Nikolaus Urbanek

II.

Klang

Nachdem musikalischer Klang und musikalische Klanglichkeit als Phänomene eigenen Rechts in der Geschichte der Musikwissenschaft längste Zeit auffallend vernachlässigt wurden 9, ist in Reaktion auf einige jüngere Entwicklungen in benachbarten Disziplinen in die Verhandlungen über den Begriff des musikalischen Klangs Bewegung geraten. Es ist hierbei vor allem eine Überlegung, die nicht nur in der Medienphilosophie 10, sondern auch in den Ästhetiken des Performativen 11 und in den kunst- und kulturwissenschaftlichen Debatten um Präsenz, Materialität und Körperlichkeit 12 eine grundlegende Rolle spielt und im Zuge dessen auch die musikwissenschaftliche Beschäftigung mit musikalischen Klang entscheidend geprägt haben 13 und die in Hinblick auf einen auch musikphilosophischen Begriff des »Klangs« anschlussfähig sein dürfe: Medien, so könnte man – einen weiten Medienbegriff bemühend – sagen, gehen also nicht in ihrer Zum Phänomen dessen, was man pointierend als »musikwissenschaftliche Klangvergessenheit« bezeichnen könnte, vgl. die Hinweise in Nikolaus Urbanek: »Spur des Klangs. Eine posthermeneutische Skizze zum Eigensinn der Musik (nicht nur) in der Wiener Schule«, in: Organized Sound. Klang und Wahrnehmung in der Musik des 20. Jahrhunderts, hrsg. v. Christian Utz, Saarbrücken 2013: 113–136. 10 Vgl. etwa Dieter Mersch: Was sich zeigt. Materialität, Präsenz, Ereignis, München 2002 und Dieter Mersch: Posthermeneutik, Berlin 2010. 11 Vgl. – pars pro toto – Erika Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen, Frankfurt a. M. 2004. 12 Zum gerne zitierten geisteswissenschaftlichen Hintergrund Hans Ulrich Gumbrecht: Diesseits der Hermeneutik. Die Produktion von Präsenz, Frankfurt 2004; in Hinblick auf musikwissenschaftliche Folgerungen vgl. Carolyn Abbate: »Music – Drastic or Gnostic?«, in: Critical Enquiry 30 (2004): 505–536. Abbate rekurriert hier insbesondere auf musikphilosophische Überlegungen Vladimir Jankélévitch: Music and the ineffable, übers. v. Carolyn Abbate, Princeton 2003, der in der musikwissenschaftlichen Diskussion gerne als »Anti-Adorno« aufgebaut wird. 13 In diesem Zusammenhang ziele ich weniger auf die Forschungsbemühungen im Bereich der sogenannten sound studies oder derjenigen Forschungen, die einen veritablen »acoustic turn« (vgl. Acoustic turn, hrsg. v. Petra Maria Meyer, München 2008) propagieren, sondern eher auf Überlegungen aus dem musikhistorisch-musiktheoretisch-musikästhetischen Bereich. Vgl. vor allem Tobias Janz: »Qualia, Sound, Ereignis. Musiktheoretische Herausforderungen in phänomenologischer Perspektive«, in: Musiktheorie/Musikwissenschaft. Geschichte – Methoden – Perspektiven, hrsg. v. Tobias Janz u. Jan Philipp Sprick, Hildesheim 2010: 217–239; Tobias Janz: Klangdramaturgie. Studien zur theatralen Orchesterkomposition in Wagners »Ring des Nibelungen«, Würzburg 2006 und den Sammelband Christian Utz (Hrsg.): Organized Sound. Klang und Wahrnehmung in der Musik des 20. Jahrhunderts, Saarbrücken 2013. 9

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»Bilder von Gesten«

Zeichenhaftigkeit auf, sondern ein unverfüglicher Rest ihrer sinnlichen Materialität und ihrer unmittelbaren Präsenz bleibt unhintergehbar bestehen. Im Zentrum der theoretischen Bemühungen – und nicht wenigen der neueren Ästhetiken eignet an dieser theoretischen Stelle der rhetorische Gestus eines eindringlichen Appells 14 – steht mithin der eigensinnliche Eigensinn des Mediums selbst. Erzeugt werden soll ein Bewusstsein der Unverzichtbarkeit des Sinnlichen in jeder Sinnkonstitution, mithin um eine besondere Aufmerksamkeit für das, was sich zeigt, für das Ereignis des Sich-Zeigens und weniger für das, was es sagt oder bedeutet. Daraus wäre pointierend abzuleiten: Als Medium repräsentiert auch Klang nicht nur im Sinne eines verweisenden Zeichens etwas Anderes, sondern präsentiert sich darin zu einem gewissen Teil immer auch selbst. Wenn es nun aber bei Adorno heißt, dass Klang als »Mittel der Darstellung des Sinnes« (MR: 130) zu denken sei, wodurch der Klang gleichsam als sinnliche Oberfläche – mithin als »Haut«, die das »Subkutane«, das »Wesentliche« überzieht 15 – letztlich in Bezug auf einen zu kommunizierenden Sinn, mithin auf (s)eine »Aus-Sage« festgelegt scheint, so dürfte es an ebendieser Stelle ein nicht unbeträchtliches Konfliktpotenzial geben 16, wird doch hier sehr wohl MateriellSinnliches als »Zeichen« für ein Immateriell-Geistiges gedacht. In gewisser Weise befindet sich Adorno hier einem in einem traditionelEs sei beispielsweise »ein wesentlich Vergessenes einzuklagen und ihm auf unterschiedlichen Wegen nachzugehen. Auf seine Spur führt dabei jenes ›Andere‹, das in die Signifikation eingeht und ›rückständig‹ bleibt, insofern es durch sie selbst nicht eingeholt werden kann, und das im weitesten Sinne als Ereignis ihre Setzung beschrieben werden kann – die Tatsache, ›dass‹ die Zeichen sind oder ›dass‹ die Strukturen sich abgezeichnet haben und manifest geworden sein müssen: Ereignis einer Präsenz, das wiederum an Vollzügen und Performanzen, and die spezifische Note ihrer Materialitäten gebunden ist.« (Mersch: Was sich zeigt [Anm. 10]: 16) 15 Diese Metaphorik der Subkutaneität, die für Adornos Auseinandersetzung mit Beethoven und für seine Überlegungen zur Theorie der musikalischen Reproduktion zentral ist, findet einen möglichen Anknüpfungspunkt in Schönbergs Aufsatz über Brahms, den Fortschrittlichen. Vgl. zu diesem Themenkomplex auch Danuser: »Zur Haut ›zurückkehren‹« (Anm. 2). 16 Vgl. Reinhard Kapp: »Interpretation, Reproduktion«, in: Adorno-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, hrsg. v. Richard Klein, Johann Kreuzer u. Stefan MüllerDoohm, Stuttgart/Weimar 2011: 145–155,: bes. 151. Diese These findet auch für Adorno ihren Anknüpfungspunkt in der Wiener Schule, von Schönberg existieren fast gleichlautende Sätze, vgl. zu diesem Zusammenhang Nikolaus Urbanek: »Vom Zögern der Wiener Schule zwischen Klang und Sinn«, in: MusikTheorie. Zeitschrift für Musikwissenschaft 26 (2011), H. 1: 55–68. 14

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len Begründungskontext, den er nicht nur in den aufführungstheoretischen und -praktischen Verhandlungen der Wiener Schule, sondern auch in den hegelianisch geprägten Geisteswissenschaften kennenlernen konnte. Das Sinnliche der Kunst ist – so viel sei in aller Kürze ganz generell auch für die Historische Musikwissenschaft als einer Geisteswissenschaft in der Nachfolge des Hegelschen Idealismus festgehalten – in erster Linie nicht in seiner Ipseität von Interesse. Es wird gedacht als ein abhängiges Oberflächenphänomen, das auf einen Sinn verweist, der hinter oder außerhalb seiner selbst liegt. Den Weg eben dieser Überlegung kann man in der Vor- und Frühgeschichte der Musikwissenschaft deutlich nachvollziehen, wenn es darum ging, Musik als Bildungsgut, mithin als Gut des Geistes zu etablieren und damit der unkontrollierbaren Sphäre der sinnlichen Erfahrung zu entreißen. 17 Legion sind in diesem Kontext daher Formulierungen, in denen der Klang als ein oberflächliches Außengeschehen einem Inneren, Eigentlichen, Wesentlichen subordiniert wird. In seinem Versuch über Wagner sieht auch Adorno sich mit den gefährlichen Verlockungen der Klangsinnlichkeit direkt konfrontiert. So verwundert es zunächst einmal nicht, wenn seine Erörterungen ihren Ausgangspunkt noch auf vermeintlich sicherem Terrain suchen, indem sie zunächst die übliche Skepsis des Klangbegriffs zur Sprache bringen: »Nicht umsonst gehört der Begriff der Klangwirkung in den ersten Jahrzehnten des zwanzigsten Jahrhunderts zum billigsten journalistischen Inventar.« (GS 13: 62)

Wagner, so nun aber Adornos mit einigem provokativen Potential ausgestattete These in Hinblick auf den »produktiven Anteil der Farbe am musikalischen Geschehnis«, habe die »Instrumentationskunst im prägnanten Sinne« so weit entwickelt, dass er die »alte Divergenz von Farbe und Zeichnung« aufhebe. 18 Der Klang – vorrangig gefasst als »Instrumentation« – wird hier also in Hinblick auf seine eigene Vgl. diesbezüglich Frank Hentschel: Bürgerliche Ideologie und Musik. Politik der Musikgeschichtsschreibung 1776–1871, Frankfurt a. M./New York 2006: bes. 120– 140; Ders.: »Unfeine Unterschiede. Musikkultur(en) und Musikwissenschaft«, in: Historische Musikwissenschaft. Grundlagen und Perspektiven, hrsg. v. Michele Calella u. Nikolaus Urbanek, Stuttgart 2013: 255–265, hier 256 f. 18 »Lernt Wagner von Berlioz die Emanzipation der Farbe von der Zeichnung, so gewinnt er der Zeichnung die befreite Farbe zurück und hebt die alte Divergenz von Farbe und Zeichnung auf.« (GS 13: 68) 17

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Konstitutionsleistung erfasst. So zentral dieser Hinweis auf die Rolle des Klangs, der Farbe, der Instrumentation im Rahmen dieses musikalischen Geschehens jedoch auch gewesen sein mag – in letzter Konsequenz bleibt Adorno allen gefährlichen phänomenologischen Einsichten zum Trotz doch der traditionellen Innen-Außen-Dialektik, der Spaltung in Satz und Setzweise, in Faktur und Farbe, in Komposition und Instrumentation verpflichtet 19, die Spaltung von Wesen und Erscheinung, von Substanz und Akzidenz, letztlich also die Vorstellung eines »Zwei-Welten-Modells« 20, bleibt erhalten: »Die Emanzipation der Farbe selbst, welche diesem Orchester gelang, steigert das illusionäre Moment, indem der Akzent vom Wesen, dem musikalischen Ereignis an sich, auf die Erscheinung, den Klang fällt.« (GS 13: 93) 21

Im Unterschied zu vielen seiner wachsbetäubten Gefährten nimmt Adorno die lockenden Klangsinnlichkeiten des Sirenengesangs jedoch sehr wohl auf das Deutlichste wahr und widmet ihm differenziert analysierende und luzide reflektierende Ausführungen – in der ästhetischen Bewertung des Faszinosums des Klangs hingegen vermag er die selbstverordneten Fesseln des listigen Odysseus nicht zu lösen, sieht er doch in der Klangfarbe vor allem die Gefahr einer »Pseudomorphose« der Musik an die Malerei: Der »Preis für die Emanzipation der Klangfarbe« ist schlichtweg zu hoch, denn die »Entdeckung der produktiven Phantasiekraft des Klanges schlägt der Komposition nicht nur zum Guten an«, sei doch die Erscheinung, die bei Wagner das Wesen nähre, wenn nicht gar erzeuge, zugleich stets nur die Seite, die das Kunstwerk nach außen kehre, der bloße ›Effekt‹«. (GS 13: 76) 19 Vgl. Tobias Janz: Klangdramaturgie. Studien zur theatralen Orchesterkomposition in Wagners »Ring des Nibelungen«, Würzburg 2006; Richard Klein: »Farbe und Faktur. Kritische Anmerkungen zu einer These Adornos über die Kompositionstechnik Richard Wagners«, in: Archiv für Musikwissenschaft 48 (1991), H. 2: 87–109. 20 Sybille Krämer: »Sprache – Stimme – Schrift. Sieben Gedanken über Performativität als Medialität«, in: Uwe Wirth (Hrsg.), Performanz. Zwischen Sprachphilosophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt a. M. 2002: 323–346, bes. 323 ff. 21 Eine ähnlich unentschiedene Situation findet sich auch noch in der späteren Kranichsteiner Vorlesung über die Funktion der Farbe in der Musik von 1966, die zwar historisch weit zurückgreift und vor den Entwicklungen der Klangkompositionen der frühen Sechzigerjahre etwas sensibilisierter argumentiert, aber an der Ambivalenz des Klangs wider besserer phänomenologischer Einsicht irritierenderweise festhält. Adorno hält fest, dass »der Ton in einem höheren Maße als das Essentielle und die Klangfarbe als ein Akzidens wahrgenommen wird, als es umgekehrt der Fall ist. […] Farbe behält etwas vom Akzidens und der Ton behält demgegenüber etwas von der Substanz.« (KV: 453, 528)

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»Nicht bloß wird die Erscheinung wesenhaft, sondern in eins damit und notwendig das Wesen scheinhaft; die Integration der Elemente geht auf Kosten der kompositorischen Integrität.« (GS 13: 76)

In diesem erklärungsbedürftigen Zurückschrecken erhält die Diskussion um den Klang des Weiteren eine seltsam moralisch gefärbte Komponente, die sich sehr deutlich in der Widerspiegelung einiger Momente aus Nietzsches Abrechnung mit dem Meister aus Bayreuth erweist, welche für Adornos Überlegungen den nicht allzu verschwiegenen Subtext vorliegender Passage darstellen: Dass Nietzsche seine Invektive gegen Wagners Verwendung des »Elementarischen der Musik«, nämlich »Klang, Bewegung, Farbe, kurz die Sinnlichkeit der Musik« 22, mit der Forderung beschließen wird, die Musik möge nicht zu einer Kunst zu lügen werden 23, verweist auf eine prägende Entgegensetzung des Elementarischen zum Geistigen, in der Trennung der Wirkung von der Wahrheit ein Topos, in welchem sich paradigmatisch die Skepsis gegenüber der sinnlichen Oberfläche manifestiert. In der letzten Zeit wurde – auch in musikwissenschaftlichen Debatten – gerne »Klang« mit »Präsenz« in Verbindung gesetzt und gegen »Sinn« in Stellung gebracht. 24 In theoriepolitischer Perspektive dürfte dies zwar helfen, die musikologische Klangvergessenheit vergessen zu machen, das musikästhetische Fragen hingegen müsste noch einen wichtigen Schritt weitergehen: Mit Sicherheit ist das Phänomen des musikalischen Klang in einem Feld des »Oszillierens zwischen Sinn- und Präsenzeffekten« (Gumbrecht) zu situieren, freilich ist mit dieser lediglich formalen Bestimmung noch keineswegs erläutert, wie dieses Oszillieren musikalisch konkret funktioniert. Um diese Fragen adäquat diskutieren zu können, bedürfte es eines theoretischen Entwurfs des musikalischen »Klangs«, der auch analytisch zu »Wagner hat beinahe entdeckt, welche Magie selbst noch mit einer aufgelösten und gleichsam elementarisch gemachten Musik ausgeübt werden kann. Sein Bewusstsein davon geht bis in’s Unheimliche, wie sein Instinkt, die höhere Gesetzlichkeit, den Stil gar nicht nöthig zu haben. Das Elementarische genügt – Klang, Bewegung, Farbe, kurz, die Sinnlichkeit der Musik. Wagner rechnet nie als Musiker, von irgend einem Musiker-Gewissen aus: er will die Wirkung, er will Nichts als die Wirkung. […] Wagner’s Musik ist niemals wahr.« (Nietzsche: Der Fall Wagner, in: Kritische Studienausgabe 6, hrsg. v. Giorgio Colli u. Mazzino Montinari, München 1999: 30 f.). 23 Ebd.: 39. 24 Brennpunkte der Diskussion sind die bereits erwähnten Texte von Abbate, Gumbrecht und Jankélévitch. 22

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fundieren wäre. Und an dieser Stelle ist es einmal mehr eine ästhetisch-theoretische Zwiespältigkeit bei Adorno, aus der zu lernen wäre: Auch wenn sich Adorno in seiner ästhetischen Bewertung des Phänomens des Klangs als traditionsbewusster Klangskeptiker erweist, so liest sich ebendies im Rahmen seiner Schriften zumeist weniger als konsequenter Schluss denn vielmehr als Beschwörung eines veritabel Gefährdeten. Denn diesem gegenüber stehen im Rahmen seiner Schriften intensive Erörterungen instrumentatorischer Techniken sowie dichte phänomenologische Beschreibung klangtechnologischer Kompositionsfertigkeiten, die gemeinsam mit einigen analytischen Ausführungen in der musikalischen »Physiognomik« 25 zu Mahler zu den besten musikalischen Klanganalysen (nicht nur) Adornos gezählt werden dürfen. In Berücksichtigung dieser Beschreibungen der Phänomene des musikalischen Klangs, die den Folgerungen, welche aus ihnen abgeleitet sind, diametral entgegengesetzt erscheinen, erweist sich somit, dass Adorno keineswegs komplett in die lange Reihe der klangvergessenen Theoretiker einzureihen wäre, vielmehr liegen in der Ambivalenz und Brüchigkeit an das Phänomen des musikalischen Klangs Theoriebausteine bereit, die für eine aktuelle musikästhetische und musikphilosophische Theoriebildung von eminentem Gewinn sein könnten. So wird diese Ambivalenz in dem Ideal der »wahren Reproduktion« offensichtlich, das Adorno in seinen Aufzeichnungen zu einer Theorie der musikalischen Reproduktion folgendermaßen benennt: »Die wahre Reproduktion ist die Röntgenphotographie des Werkes. Ihre Aufgabe ist es, alle Relationen, Momente des Zusammenhangs, Kontrasts, der Konstruktion, die unter der Oberfläche des sinnlichen Klanges verborgen liegen, sichtbar zu machen – und zwar vermöge der Artikulation eben der sinnlichen Erscheinung.« (MR: 9)

Dass »Sinn« in »Sinnlichkeit« wurzelt, wusste Adorno also aus dem Zusammenhang mit der musikalischen Reproduktion sehr wohl, es bedarf dazu also nicht notwendigerweise »präsenztheoretischer«, »performativer« oder »posthermeneutischer« Entdeckungen – freilich kann die konfrontative Perspektive auf diese helfen, »erstarrte« theoretische Konstellationen bei Adorno durch einen Anstoß von Auf die Programmatik des Untertitels in Hinblick, dem der Blick, der vom Äußeren aufs Innere zu schließen sich anschickt, bereits eingeschrieben ist, sei hier lediglich kurz verwiesen, vgl. weiter: Hermann Danuser: »Musikalische Physiognomik bei Adorno«, in: Ette, Figal, Klein, Peters: Adorno im Widerstreit (Anm. 2): 235–255.

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außen wieder in produktive Bewegung zu versetzen. Adornos reproduktionstheoretische Überlegungen schlichtweg auf Schönbergs Dichotomie zwischen Gedanke und Darstellung zu reduzieren und dergestalt einmal mehr die der »Zwei-Welten-Ontologie« verpflichtete Idiosynkrasie gegenüber der sinnlichen Oberfläche zu perennieren, die die Geschichte der Geisteswissenschaften von Anfang an prägte, greift meines Erachtens vor genau diesem Hintergrund entschieden zu kurz.

III. Schrift Im Rahmen der musikalischen Reproduktion – als demjenigen Bereich der musikphilosophischen und musikästhetischen Theorie Adorno, der naturgemäß am direktesten mit Fragen des SinnlichKlingenden sich auseinandersetzt – ist die Frage nach dem Klang in eine begriffliche Konstellation eingebunden, die auf ein gleichsam antagonistisches Kräfteverhältnis zu verweisen scheint: »Schrift und Instrument, die Pole der Interpretation.« (MR: 15) Infolge der Infragestellung des lange Zeit vorherrschenden Paradigmas, Schrift stelle »die Menge der graphischen Zeichen [dar], mit denen die gesprochene Sprache festgehalten wird« 26, erfuhr die Thematisierung von Schrift und Schriftlichkeit in den Debatten der letzten Jahre tiefgreifende epistemologische Verschiebungen 27, die auch von unmittelbarem Interesse für eine Auseinandersetzung mit einer Theorie der musikalischen Schrift sind. Die »Kulturtechnik des Schreibens« und die Analyse der kulturellen Bedeutung von Schrift und Schriftlichkeit standen seit jeher im Fokus geistes- und kulturwissenschaftlicher Forschungsbemühungen: Das Interesse an der Entstehung, der Geschichte und der Verbreitung verschiedener So signifikanterweise noch im Jahre 1994 im maßgeblichen interdisziplinären Handbuch über Schrift und Schriftlichkeit, vgl. Schrift und Schriftlichkeit/Writing at Its Use. Ein interdisziplinäres Handbuch internationaler Forschung, Bd. 1, hrsg. v. Hartmut Günther u- Otto Ludwi, Berlin/New York 1994: VII. 27 Vgl. z. B. Schrift. Kulturtechnik zwischen Hand und Maschine, hrsg. v. Gernot Gruber, Werner Kogge u. Sybille Krämer, München 2005; Schrift, hrsg. v. Hans Ulrich Gumbrecht u. K. Ludwig Pfeiffer, München 1993; Schriftbildlichkeit. Wahrnehmbarkeit, Materialität und Operativität von Notationen, hrsg. v. Sybille Krämer, Eva Cancik-Kirschbaum u. Rainer Totzke, Berlin 2012; Die Sichtbarkeit der Schrift, hrsg. v. Susanne Strätling u. Georg Witte, München 2006; Bild – Schrift – Zahl, hrsg. v. Horst Bredekamp u. Sybille Krämer, München 2003. 26

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Schriften 28, die lange und ausführlich ausgetragene Oralitäts-/Literalitätsdebatte 29 sowie das kulturwissenschaftliche Interesse an der spezifischen Rolle von Schrift und Schriften im kommunikativen, kollektiven und kulturellen Gedächtnis 30 und damit ihrer Bedeutung in Bezug auf soziokulturelle Identitätsbildungen 31 brachte nichts weniger als die Erkenntnis mit sich, »dass Schriften Handlungsmöglichkeiten eröffnen, welche ihrer mündlichen Form versagt bleiben«. 32 Diese Überlegungen evozierten ein grundlegend gesteigertes Interesse an dem (Eigen-)Vermögen der Schrift und bereiteten auf diese Weise den epistemologischen Nährboden für weitergehende Umwälzungen: In kritischer Distanz sowohl zu der bereits erwähnten, von Platons Schriftkritik 33 sich herleitenden und bei Ferdinand de Saussure paradigmatisch greifbaren These, Schrift stelle »aufgeschriebene Sprache« dar, 34 als auch zu dem allumfassenden Schriftbegriff Jacques Derridas, der den traditionellen Phonozentrismus in einen expliziten Skriptozentrismus umwandelte und damit das Konstitutionsverhältnis von Sprache und Schrift schlichtweg vom Kopf auf die Füße stellte 35, rückten in den letzten Jahren weitere Aspekte von schriftlichen Hiervon zeugt paradigmatisch auch die Anlage des oben erwähnten Handbuchs Schrift und Schriftlichkeit. 29 Hinzuweisen wäre an dieser Stelle nicht nur auf die berühmten Grundlagentexte von Eric A. Havelock, Jack Goody und Walter Ong, sondern in musikwissenschaftlicher Perspektive insbesondere auf einige Arbeiten von Leo Treitler (u. a.: With Voice and Pen, Oxford University Press 2003); Max Haas (u. a. Musikalisches Denken im Mittelalter. Eine Einführung, Bern 2005) und Anna Maria Busse Berger (bes. Medieval Music and the Art of Memory, Berkeley 2005). 30 Vgl. Jan Assmann: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politsche Identität in frühen Hochkulturen, München 1992. 31 Vgl. aus musikwissenschaftlicher Perspektive Federico Celestini: »Musik und kollektive Identitäten«, in: Calella, Urbanek: Historische Musikwissenschaft (Anm. 17): 318–337. 32 Sybille Krämer: »Vom Nutzen der Schriftbildlichkeit. Editorial«, in: Sprache und Literatur 107 (2011), hrsg. v. Sybille Krämer, Mareike Giertler: 1–5, hier 1. 33 Vgl. Platon: Phaidros: 274 b-278 b. 34 »Sprache und Schrift sind zwei verschiedene Systeme von Zeichen; das letztere besteht nur zu dem Zweck, um das erstere darzustellen.« (Ferdinand de Saussure: Grundlagen der allgemeinen Sprachwissenschaft, hrsg. v. Charles Bally u. Albert Sechehaye unter Mitwirkung v. Albert Riedlinger, übers. v. Herman Lommel, 3. Auflage mit einem Nachwort von Peter Ernst, Berlin/New York 2001: 28.) 35 »Wir werden zu zeigen versuchen, daß es kein sprachliches Zeichen gibt, das der Schrift vorherginge« (Jacques Derrida: Grammatologie, übers. v. Hanns Zischler u. Hans-Jörg Rheinberger, Frankfurt a. M. 1983: 29). Zu Derridas Auseinandersetzung mit Platons Schriftkritik, die sich die begriffliche Ambiguität um den schon im Phai28

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Aufzeichnungsmedien stärker ins Zentrum der epistemologischen Aufmerksamkeit. Motiviert und verstärkt wurde diese Verschiebung des Forschungsinteresses und die stärkere Fokussierung auf bislang »vernachlässigte« Dimensionen der Schrift durch einige Überlegungen, die etikettierend als turns zu bezeichnen man sich in den letzten Jahren angewöhnt hat: Erbt der Diskurs um Schrift und Schriftlichkeit vom »linguistic turn« die differenzierte Aufmerksamkeit für das Verhältnis von Sprache und Schrift, so erwächst aus den Überlegungen des »iconic turn« eine besondere Berücksichtigung der spezifischen Konstitutionsleistungen des Bildlichen. 36 In der konfrontativen Koppelung von »iconic« und »linguistic« turn kann deutlich gemacht werden, dass Schriften durch eine seltsame Hybridisierung von Diskursivem und Ikonischen gekennzeichnet sind und damit die vermeintlich unausweichliche Disjunktion der symbolischen Ordnungen des Wortes und des Bildes a priori unterlaufen. 37 Vor diesem Hintergrund kann – wir haben uns dieser Denkbewegung in Hinblick auf die Thematisierung des Klangs bereits versichert – plausibel gemacht werden, dass Medien nicht nur eine Repräsentationsfunktion als Zeichen beizumessen wäre, sondern ihre Medialität durch eine keineswegs neutrale Präsenz des Mediums selbst geprägt ist. Auch für die Schrift als Medium gilt demnach: Medien sind unhintergehbar gedros doppeldeutig angelegten Begriff des pharmakon (als Heilmittel und als Gift zugleich) zunutze macht, vgl. auch Derrida: »Platons Pharmazie«, in: Ders.: Dissemination, Wien 1995: 69–192. Dazu Sybille Krämer: Sprache, Sprechakt, Kommunikation. Sprachtheoretische Positionen des 20. Jahrhunderts, Frankfurt a. M. 2001: 217 ff.; Sybille Krämer: »›Schriftbildlichkeit‹ oder: Über eine (fast) vergessene Dimension der Schrift«, in: Bredekamp/Krämer: Bild – Schrift – Zahl (Anm. 27): 157–176; Sybille Krämer: »Operative Bildlichkeit. Von der ›Grammatologie‹ zur ›Diagrammatologie‹ ? Reflexionen über erkennendes ›Sehen‹«, in: Logik des Bildlichen. Zur Kritik der ikonischen Vernunft, hrsg. v. Martina Heßler u. Dieter Mersch, Bielefeld 2009: 94–122, hier 97 f. 36 Vgl. zur theoretischen Rahmung u. a. Gottfried Boehm: »Iconic turn. Ein Brief«, in: Bilderfragen. Die Bildwissenschaften im Aufbruch, hrsg. v. Hans Belting, München 2007: 27–36. Zu einer musikwissenschaftlichen Perspektive Matteo Nanni: »Klang und Schrift. Das Problem der musikalischen Notation«, in: Internationales Jahrbuch für Hermeneutik 8 (2009): 201–222; Ders.: »Das Bildliche der Musik. Gedanken zum iconic turn«, in: Calella/Urbanek: Historische Musikwissenschaft (Anm. 17): 402– 428. 37 Dazu auch Gottfried Boehm: »Bildbeschreibung. Über die Grenzen von Bild und Sprache«, in: Beschreibungskunst – Kunstbeschreibung, hrsg. v. Gottfried Boehm u. Helmut Pfotenhauer, München 1995: 39: »Die Konvergenz von Bild und Wort [basiert] auf dem Zeigen.«

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kennzeichnet davon, dass sie sagen und zeigen zugleich. 38 Die im Zuge dieser – hier nur rudimentär skizzierten – Forschungsbemühungen versammelten Argumentationsfiguren und Theoriebausteine ermöglichen in Hinblick auf eine Theorie der Schrift eine Verschiebung der epistemologischen Aufmerksamkeit vom Aspekt der Schrift als Kommunikationsmedium hin zu einem Wahrnehmungsmedium. Mithin rücken vor diesem Hintergrund auch ikonische, aisthetische, operative und mediale Aspekte musikalischer Notationen stärker in den Blick. 39 In einiger Hinsicht steht dies allerdings quer zu der traditionellen Überlegung, musikalische Notationen stellten als mediale »ÜberSetzung« die bloß getreue Fixierung fertiger Klangvorstellungen des Komponisten dar und dienten mithin im Sinne einer bloßen Handlungsanweisung als Grundlage der Interpretation respektive der real klingenden Aufführung. So heißt es in einem der prominentesten musikwissenschaftlichen Nachschlagewerke, Notation sei »a visual analogue of musical sound, either as a record of sound heard or imagined, or as a set of visual instructions for performers. […] Broadly speaking, there are two motivations behind the use of notation: the need for a memory aid and the need to communicate.« 40

Dass musikalische Schrift zunächst und zuallererst ein Medium der Kommunikation darstellt, im Sinn von Anweisungen an den Interpreten Handlungs(spiel)räume eröffnet respektive definiert und dergestalt die Möglichkeit der Aufzeichnung, der Verdauerung, der »Objektivierung« beinhaltet, sei im Zuge dieser Überlegungen natürlich keineswegs bestritten. (In der und durch die Verschriftlichung Vgl. Sybille Krämer: »Sagen und Zeigen. Sechs Perspektiven, in denen das Diskursive und das Ikonische in der Sprache konvergieren«, in: Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge 3 (2003): 509–519. 39 Vgl. David Magnus: »Linie, Zwischenraum, Unschärfe. Von der Operativen Bildlichkeit zum ästhetischen Kalkül in Earle Browns ›December 1952‹«, in: Drehmomente. Philosophische Reflexionen für Sybille Krämer, Berlin 2011, hrsg. v. Werner Kogge et alii: [http://www.cms.fu-berlin.de/geisteswissenschaften/v/drehmomente, 1. 12. 2014]; Pietro Cavallotti: »Diagramme und ›Operative Bildlichkeit‹ im Kompositionsprozess Helmut Lachenmanns«, in: Helmut Lachenmann: Musik in Bildern?, hrsg. v. Matteo Nanni u. Matthias Schmidt, München 2012: 117–139; Elena Ungeheuer: »Schriftbildlichkeit als operatives Potenzial der Musik«, in: Krämer, Cancik-Kirschbaum, Totzke: Schriftbildlichkeit (Anm. 27): 167–182; Fabian Czolbe: Schriftbildliche Skizzenforschung zu Musik: Ein Methodendiskurs anhand Henri Pousseurs Système des paraboles, Berlin 2014. 40 Ian D. Bent: Art. »Notation«, in: The Grove Dictioniary of Music and Musicians, ed. by Stanley Sadie, London 1980: 333 f. 38

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kann das ephemere Klanggeschehen fixiert und in anderen Kontexten wieder zum Klingen gebracht werden – dies ist ohne Zweifel ein für die Entstehung diverser musikalischer Notationen zentraler Grund.) Aber Schrift ist – und auf genau diese Denkfigur kommt es mir in vorliegendem Zusammenhang an – noch sehr viel mehr als bloßes Speicher- und Kommunikationsmedium. Zwei kurze Anmerkungen zu Aspekten, denen sich eine Theorie der musikalischen Schrift mit besonderem Augenmerk widmen müsste, möchte ich daher zu bedenken geben: zum einen die spezifische Rolle der Schrift im Schreiben von Musik und zum anderen das Moment der visuellen Wahrnehmbarkeit von Schriften. (1) Ein zentrales Moment, das eine Theorie der musikalischen Schrift bereits von der so häufig beschriebenen Konstellation um Frühe Mehrstimmigkeit, Komposition und Notation lernen könnte, liegt vor allen anderen Dingen in der Entwicklung musikalischer Notationssysteme von »Memorierschriften« hin zu »Komponierschriften«. Musikalische Schrift, so wäre pointiert zu formulieren, avanciert im Bereich dieses Chronotops zum expliziten Werkzeug des Komponierens. 41 Damit ist auf einen Aspekt verwiesen, den eine adäquate Theorie der musikalischen Schrift in all seinen Konsequenzen einzuholen hätte: Musikalische Schrift stellt einen eigenen Wirklichkeitsraum zuallererst her – sie erschöpft sich keineswegs darin, schriftliche Fixierung eines (präexistent) Klingenden oder einer (präexistenten) klanglichen Intention darzustellen. In dem Akt des Komponierens erweist sich musikalischen Schrift selbst als eine »Art Prädispositiv zur Generierung musikalischer Ideen«, musikalische Schrift fungiert in diesem Zusammenhang als operatives Moment kreativer kompositorischer (Selbst-)Reflexion, musikalische Notation avanciert im gleichsam schriftinternen Diskurs mithin zur »Denkform«. 42 Vgl. zu diesem Themenkomplex das fulminante Schlusskapitel über »Notation – Frühe Mehrstimmigkeit – Komposition« in der Musiksoziologie von Christian Kaden, dessen weitreichende Überlegungen theoretisch m. E. noch keineswegs eingelöst sind, vgl. Christian Kaden: Musiksoziologie, Berlin 1984: 334–447. Dazu aus philosophischer Perspektive: »Die operative Schrift kristallisiert sich in der symbolischen Maschine zu einem exteriorisierten Werkzeug des Geistes heraus.« (Sybille Krämer: »Zur Sichtbarkeit der Schrift: oder Die Visualisierung des Unsichtbaren in der operativen Schrift. Zehn Thesen«, in: Strätling/Witte: Die Sichtbarkeit der Schrift [Anm. 27]: 75–84, hier 80). 42 Vgl. Wolfgang Fuhrmann: »Notation als Denkform. Zu einer Mediengeschichte 41

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(2) Unabhängig von jedem texthermeneutischen Verstehen des Geschriebenen erkennt die geübte Notenbenutzerin an einem Notenbild Vieles und dabei manch »Wesentliches« – und ebendies auf einen (Augen-)Blick. Jener kurze Blick rekurriert auf eine in der Schrift selbst angelegte Visualität, die zur medialen Grundkondition jeder Schrift gehört: Situiert in einer flächigen Zweidimensionalität stellen Schriften sichtbare Objekte dar, die stets auch in ihrem visuellen Eigenwert wahrnehmbar sind. Reproduzierenden Musikerinnen ist die bildliche »Eigensinnlichkeit« der musikalischen Schrift über ihre Funktion als repräsentierende Zeichensysteme (ihren musikalischen »Sinn«, sozusagen) hinaus wohlbekannt: Dirigentinnen und Instrumentalisten konsultieren Handschriften von Komponisten, um im grapho/philologischen Studium autographer Skizzen, Entwürfe, Niederschriften und Partituren Antworten auf ihre interpretatorischen Fragen zu erhalten; Mitglieder einer jeden Schola Cantorum wissen um die aufführungspraktischen »Winke«, die in den von ihnen verwendeten (Original-)Notationen des Gregorianischen Chorals verborgen liegen; Spezialistinnen »Alter Musik« versuchen den Tücken und Unzulänglichkeiten der »Um-Schriften« in moderne Notenschrift dadurch zu begegnen, dass sie ihren Aufführungen die Kenntnis originaler Notationen zugrunde legen. In diesem Zusammenhang kommen also in Hinblick auf die Wahrnehmbarkeit respektive die Visualität (musikalischer) Schriften besondere aisthetische Momente ins Spiel. Musikalische Schrift erschöpft sich – so viel lässt sich diesen kursorischen Erörterungen jedenfalls bereits entnehmen – keineswegs darin, Medium für etwas anderes zu sein; mitnichten ist sie also einzig und allein »aufgeschriebener Klang«, sondern leistet eo ipso einen eigenen fundamentalen Beitrag zu dem musikalischen Geschehen. Eine Theorie der musikalischen Schrift kann sich also nicht nur auf die Beschreibung des notationspraktischen und aufführungstheoretischen Umgangs mit »Neumen«, »Mensuralnotationen«, »Tabulaturen« oder sonstigen Aufzeichnungsformen, -systemen und -medien beschränken, sondern muss darüber weit hinausgehende Aspekte reflektieren.

der musikalischen Schrift«, in: Musiken. Festschrift für Christian Kaden, hrsg. v. Katrin Bucher, Jin-Ah Kim u. Jutta Toelle, Berlin 2011: 114–135.

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IV. Zu Adornos Theorie der musikalischen Schrift Dass die Theorie der musikalischen Reproduktion ihren Ausgangspunkt in einer Theorie der musikalischen Schrift findet, wurde bis dato allenfalls beiläufig fokussiert. 43 Zumeist ging es in der Auseinandersetzung mit Adornos Notizen zur musikalischen Reproduktion vorrangig darum, seine einschlägigen Überlegungen in einen Zusammenhang mit den zahlreichen theoretischen und praktischen Bemühungen um eine »Lehre der musikalischen Aufführung in der Wiener Schule« 44 zu setzen, um auf diesem Wege ein umfassendes, mehrere Lehrer- und Schülergenerationen einbegreifendes Bild der Wiener Schule zeichnen zu können. Einige Trouvaillen aus Adornos Fragmenten und Entwürfen zum Reproduktionsbuch kommentierend, möchte ich skizzieren, in welcher Weise Adornos Überlegungen zu einer Theorie der musikalischen Schrift in Hinblick auf einige der momentan aktuellen Debatten um Schrift und Schriftlichkeit anschlussfähig sind (respektive anschlussfähig gemacht werden könnten). Den Ausgangspunkt seiner Erörterungen zur musikalischen Schrift und damit auch die Einbettung in den theoretischen Kontext seiner ästhetischen und philosophischen Überlegungen Verknüpfung mit weiteren Texten findet Adorno in einer grundlegenden Fragestellung, in der sich der umfassende Radius seiner Überlegungen andeutet: »Wie verhält sich die Notenschrift zur Schrift? Eine der zentralsten Fragen, unlösbar von der: wie verhält Musik sich zur Sprache?« (MR: 11). 45 Notation, so Adorno, sei nicht bloßes Speicher- und Kommunikationsmedium, nicht bloße Gedächtnisstütze, sondern ihre Bedeutung als »stützende Vergegenständlichung« reiche in Hinblick auf

Ansätze finden sich bei Sonja Dierks: »Musikalische Schrift«, in: Ette, Figal, Klein, Peters: Adorno im Widerstreit (Anm. 2): 222–234. 44 Kapp: »Interpretation, Reproduktion«, in: Klein, Kreuzer, Müller-Doohm: AdornoHandbuch (Anm. 4): bes. 147. Vgl. Die Lehre von der musikalischen Aufführung in der Wiener Schule, hrsg. v. Markus Grassl u. Reinhard Kapp, Wien 2002; Hans-Joachim Hinrichsen: »›Zwei Buchstaben mehr‹. Komposition als Produktion, Interpretation als Reproduktion?«, in: Musikalische Produktion und Interpretation, hrsg. v. Otto Kolleritsch, Wien 2003: 15–32. 45 Dazu auch im Entwurf: »Gleich der sprachlichen ist die musikalische Schrift ein Zeichensystem.« (MR: 221) 43

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den Verweisungszusammenhang des kommunikativen, kollektiven und kulturellen Gedächtnisses bedeutend weiter: »Und die Modifikationen im primitiven und traditionalen Musizieren (dieses das Rudiment von jenem) sind eine Funktion des Gedächtnisses, nicht von dessen Versagen: so gegenwärtig ist das Vergangene, daß es nicht als Entfremdetes sich absetzt sondern weiterlebt: seine Veränderung verbürgt daß es da ist – identisch festgehalten, verdinglicht wird es gerade als Vergessenes; sodaß man leicht genug die Notation als Feind der Erinnerung, des Gedächtnisses selber, und dessen Wiederherstellung durch Vernichtung bezeichnen könnte. Es kann also die musikalische Notation nicht als einfache Erinnerungsstütze, als harmloses Bewahren eines Flüchtigen entstanden sein. Sondern sie verweist gerade auf die Störung jener naturwüchsigen Verhältnisse, in denen das Gedächtnis beheimatet, die Trennung von jetzt und früher nicht starr vollzogen ist. Nämlich auf die Herrschaft.« (MR: 70) 46

Mit dem für Adornos Theoriebildung grundlegenden Begriff der »Naturbeherrschung« eröffnet sich selbstverständlich die Möglichkeit, diese Fragen mit theoretisch grundlegenden Momenten der Kritischen Theorie – von der Dialektik der Aufklärung bis hin zu Fragen der Kritik der Kulturindustrie – zu verknüpfen: »Die Entfaltung der Musik ist durch ihre graphische Vermittlung, Verdinglichung, Verfügbarkeit möglich erst geworden – die musikalische Schrift ist das Organon der musikalischen Naturbeherrschung, und in ihr ist gerade die musikalische Subjektivität entstanden als Trennung von der bewußtlosen Gemeinschaft. Die Verdinglichung, Verselbständigung des musikalischen Textes ist die Voraussetzung der ästhetischen Freiheit. Zugleich aber liegt in der musikalischen Schrift ein dem Musikalischen – ihrem eigenen Inhalt – Entgegengesetztes. Die Rationalisierung, Bedingung aller autonomen Kunst, ist deren Feind zugleich. Die Notation reguliert, hemmt, unterdrückt immer zugleich, was sie notiert und entwickelt – und daran laboriert alle musikalische Reproduktion. Genauer gesprochen: im Aufschreiben von Musik ist konstitutiv bereits die Differenz von dieser mitgesetzt. Die Verräumlichung des Zeitlichen ist notwendig, nicht bloß empirisch inadäquat.« (MR: 71 f.)

Doch auch für den Bereich rein schrifttheoretischer Erörterungen, sind in der hier angesprochenen Dialektik wesentliche Momente einer Theorie der musikalischen Schrift benannt. Musik wird in ihrer Aufzeichnung, in ihrer Verschriftlichung überhaupt erst traktierbar, ma-

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Vgl. auch im Entwurf: MR: 224 f.

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nipulierbar, analysierbar. 47 In ihrer schriftlichen »Verdinglichung«, die hier letztlich als »Werkzeug« fungiert, werden die ephemeren Klangereignisse zuallererst operationalisierbar und können infolgedessen diversen (Text-)Operationen unterzogen werden. 48 Die starke These, dass sich das Bewusstsein für die Form der Sprache in der und durch ihre schriftliche Darstellung überhaupt erst konstituiere, dass das Phonem als ein Epiphänomen des Graphems (und eben nicht umgekehrt) sich erweise 49, eröffnet bislang wenig diskutierte Denkräume auch einer Theorie der musikalischen Schrift, dergestalt, dass davon auszugehen wäre, dass die Möglichkeit, über einzelne Töne (als »Noten«) zu sprechen, überhaupt erst in der Verschriftlichung beheimatet liegt. (Musikhistorikerinnen können diese These mit der Beobachtung stützen, dass wesentliche Weiterentwicklungen musikalischer Notationsformen nicht selten in direktem Zusammenhang musiktheoretischer und/oder musikpädagogischer Traktate zu finden sind.) Musikalische Schrift, soviel kann hier festgehalten werden, erschöpft sich also keineswegs darin, präskriptive oder deskriptive Fixierung des musikalischen Klanggeschehens zu sein, sondern sie ist immer weniger und mehr als ebendieses zugleich. Die letztlich auf den oben kurz skizzierten epistemologischen Verschiebungen aufruhende These, dass musikalische Schrift allein aus diesem schlichten Grunde kein »visuelles Analogon der Musik« 50 darstelle, mit der musikalischen Schrift nicht »alles« sich fixieren lasse und sie somit auch nicht schlichtweg als »aufgeschriebene musikalische Sprache« gefasst werden könne, kann mithin also auch für Adornos Überlegungen als grundlegend vorausgesetzt werden. So führt ihn die basale Frage, was ein musikalischer Text sei, zu folgender Notiz mit weitreichenden Implikationen: »Keine Anweisung zur Aufführung, keine Fixierung der Vorstellung, sondern die notwendig fragmentarische, lückenhafte, der Interpretation bis zur endlichen Konvergenz bedürftige Notation eines Objektiven.« (MR: 11)

Adorno thematisiert nun im Rahmen seiner »schrifttheoretischen« Erörterungen nicht nur die vielbesprochene »Insuffizienz der NotenDazu: »Notation als Mittel der Analyse.« (MR: 94) Strätling; Witte: Die Sichtbarkeit der Schrift (Anm. 27): 9. 49 Vgl. Krämer: »Zur Sichtbarkeit der Schrift«, in: Strätling/Witte, ebd.: 75–84, hier 78. 50 Vgl. aber Bent: Art. Notation in New Grove (Anm. 40). 47 48

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»Bilder von Gesten«

schrift« (MR: 96), sondern skizziert darüber hinaus auch, in welcher Art und Weise musikalische Schrift respektive die Schriftlichkeit der Musik immer und notwendigerweise auch »mehr« darstellt als ein bloß subordiniertes »Verweis-System«, das in direkter Abhängigkeit von einem Klanggeschehen gedacht werden muss. Davon ausgehend, dass Schriften die seit Lessings Laokoon in der europäischen Geistesund Kulturgeschichte tief verwurzelte Trennung von Sprache und Bild unterlaufen, indem sie Momente des Diskursiven und des Ikonischen miteinander verbinden, stellt die Frage nach der »Schriftbildlichkeit« im derzeitigen wissenschaftlichen Diskurs über Schrift und Schriftlichkeit eine wichtige Komponente dar 51, um über die konstitutiven ikonischen Momenten von Notationen nachzudenken. Dass Notationen visuelle Objekte sind und dass eben hierin ein spezifisches Surplus der Schriftlichkeit zu liegen scheint, betont Adorno dezidiert in Hinblick auf die musikalische Praxis des Notenlesens: »Notenlesen und musikalisches Bezugssystem. […] Die Arbeit muß eine Theorie des Abspielens liefern. – Ich kann im Allgemeinen, beim Überblicken und Erfassen des Notenbildes, eine Musik beurteilen, noch ehe ich sie mir exakt vorstelle. Ein wesentliches Moment des Neumischen.« (MR: 91)

Mit großer Leichtigkeit thematisiert Adorno an dieser Stelle einen zentralen Aspekt, den theoretisch einzuholen beträchtlichen argumentativen Aufwandes bedürfte. Dieser betrifft die visuelle Objekthaftigkeit musikalischer Schrift. Zum einen gibt es – dies ist zum einen eine Folge der intensiven pädagogischen Ausbildung der Notenlesefähigkeit bei Musikerinnen, zum anderen ist es freilich auch in der Schriftlichkeit selbst bereits angelegt – eine sehr enge Verbindung von visuell wahrgenommener Ikonizität der Schrift und einer gleichsam automatisierten »Über-Setzung« in körperlich-performative Aktion, die partiell jenseits eines verstehenden, hermeneutischen Lesens funktioniert: »Wer Musik im eigentlichen Sinne liest, muß jede Note und jede Vortragsbezeichnung in Vorstellung übersetzen und diese klanglich realisieren. Wer sich dem [sic!] musikalischen Gestus, den ›Atem der Form‹ […] vergegenwärtigen will, der muß dem Schriftbild als Totalität nachgehen und dessen Kurven und Zäsuren in Nachahmung umsetzen, etwa wie ein Kapellmeister, innerlich taktierend zunächst den Überblick über eine Partitur sich ver-

Vgl. Krämer, Giertler: Sprache und Literatur (Anm. 32): »Schwerpunkt Schriftbildlichkeit«.

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schafft. Jeder, der vom Blatt spielt, kennt die Doppelheit der Auffassung musikalischer Schrift: er sieht sich dazu verhalten, zugleich jedes Einzelne genau, in einer Art Übersetzungsarbeit aufzufassen und durch Antezipation in den Zug des Ganzen ins ›Bild‹ des Satzes zu integrieren.« (MR: 243 f.)

Das »Lesen« musikalischer Texte ist also kein rein hermeneutisches Lesen, das im Zuge eines Vorgangs der »Interpretation« 52 auf ein Textverständnis, auf ein Verständnis des textuellen Sinnes abzielte, sondern der »Bildcharakter der musikalischen Schrift«, ihre eigentümliche Ikonizität, mithin also ihre Sinnlichkeit stellt ein ganz wesentliches Moment dieser vorläufig vielleicht als »posthermeneutisch« 53 zu bezeichnenden Form des Verständnisses dar: »Finden durch Lesen: die dechiffrierende Arbeit des Interpreten, das eigentlich begriffliche Element der musikalischen Interpretation allein ist der Weg ins Reich der mimischen Charaktere. Umgekehrt ist es um die Totalität bestellt. Sie wird als Bildphänomen aufgefasst: das ›Notenbild‹ bezieht sich stets aufs Ganze, und es ist der Blick auf die Seite, nicht der auf den Takt oder die Stimme dem es aufleuchtet. […] Der Bildcharakter der musikalischen Schrift, die Verräumlichung des Zeitverlaufs, ist der primären Mimesis geradezu entgegengesetzt.« (MR: 244 f.)

Die sich hier anzeigende Ikonizität der musikalischen Schrift erfährt bei Adorno eine wichtige Betonung in Hinblick darauf, dass die Interpretation des musikalischen Text vom Bild und vom Zeichen 54 her zu erfolgen habe: »Musik lesen heißt sie nachmachen, ihr Bild wahrnehmen heißt sie verstehen. Mit anderen Worten, das Schriftbild ist die graphische Spur der Konstruktion, als des dialektischen Widerparts zum Ausdruck. Und es ist die begriffslose Auffassung musikalischer Zusammenhänge, die in der Erkenntnis das wahrhaft vermittelte, begriffliche Element der Musik determiniert: der musikalischen Logik, ihrer Organisation als Zeitkontinuum.« (MR: 245)

Vgl. in Bezug auf die Zentralität des Begriffs der Interpretation in den Geisteswissenschaften vor allem: Gumbrecht: Diesseits der Hermeneutik (Anm. 12): 17. 53 Vgl. Mersch: Posthermeneutik (Anm. 10). 54 »Interpretation hat die Idee der Kopie von den beiden Polen des Textes her zu erfolgen, vom Zeichen und vom Bild. Aber beide Elemente der musikalischen Schrift sind derart verschränkt, daß die Interpretation sich des einen je nur durch das andere versichern vermag. In grober Übertreibung mag man zunächst sagen, die entwickelte musikalische Schrift sei Zeichensprache im einzelnen Bildersprache im ganzen.« (MR: 243). 52

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»Bilder von Gesten«

Der sichtbare Schriftkörper, in dem sich die Schrift in ihrer »Eigenevidenz« als visuelles Wahrnehmungsobjekt manifestiert, vermag die Rolle der Notenschrift als rein transitives Medium in Hinblick auf die Realisierung einer Klangintention unterlaufen, wenn nicht gar zu subvertieren. Dieser Themenkreis wird für Adorno in besonderem Maße virulent in der Erörterung der Frage, in welcher Weise originale Notationen oder autographe Manuskripte der Komponisten für die Interpretation und die spezifische Situation der Aufführung von besonderer Relevanz sind: »Trotzdem hat ihm [dem originalen Manuskript] Schumann die letzte Autorität in Interpretationsfragen zugesprochen und zum ständigen Vergleich der gedruckten Noten mit dem Original geraten, wie er übrigens durch die heutigen Faksimileverfahren allgemein möglich wäre. Der Rechtsgrund dessen liegt aber weder in der Fehlerfreiheit noch in der Nähe des Manuskripts zur Intention des Autors, dem sentimentalen Persönlichkeitswert, sondern darin daß das Originalmanuskript die Bildmomente der musikalischen Schrift, die Nachahmung der Musik selber, unvergleichlich viel genauer festhält als der Druck, in dem auch die eigentlich mimetischen Charaktere der Schrift, nicht nur die Zeichen, einem Prozeß der Objektivierung und Verdinglichung unterliegen, der selbst die bildmäßige Auffassung des musikalischen Gestus in weitem Maße zur Sache des Lesens eher als des Wahrnehmens machen. […] Danach wäre es die Aufgabe des Interpreten, Noten so zu betrachten, bis sie dem insistenten Blick in Originalmanuskripte sich verwandeln; nicht aber als Bilder der Seelenregung des Autors – sie sind auch dies, aber nur akzidentiell – sondern als die seismographischen Kurven, die der Körper der Musik selber in seinen gestischen Erschütterungen hinterlassen hat.« (MR: 246 f.)

Eine Bündelung der grundlegende begrifflichen Konstellation um Werk, Schrift und Klang findet sich nun in einem der bedenkenswertesten Fragmente zur Reproduktionstheorie, das vor dem Hintergrund aktueller Debatten auch in Hinblick auf Adornos musikphilosophische Theorie mit modifizierter Perspektive zu lesen wäre. »Die Würde des musikalischen Textes ist seine Intentionslosigkeit. Er bedeutet das Ideal des Klanges, nicht dessen Bedeutung. Gegenüber dem optischen Phänomen, das ›ist‹, und dem Worttext, der ›bedeutet‹ stellt der Notentext ein Drittes dar. – Abzuleiten als Erinnerungszeichen des vergänglichen Klanges, nicht als Fixierung der bleibenden Bedeutung. – Der ›Ausdruck‹ von Musik ist keine Intention sondern mimisch-nachahmend. Eine ›pathetische‹ Stelle bedeutet nicht Pathos usw. sondern verhält sich pathetisch. Mimetische Wurzel aller Musik. Sie wird festgehalten von der musika-

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lischen Interpretation. Musik interpretieren heißt nicht umsonst Musik machen – nachahmende Leistungen vollbringen. Wäre danach die Interpretation die Nachahmung des Textes – sein ›Bild‹ ? Vielleicht ist das der philosophische Sinne der ›Röntgenphotographie‹ – alles nachahmen was verborgen ist. Schauspieler und Musik.« (MR: 13)

In Adornos impliziter Theorie der musikalischen Schrift, die in der Konfrontation mit »neueren« Debatten um Klang und Klanglichkeit, Schrift und Schriftlichkeit eine erhebliche Schärfung erfahren (und jenen Diskussionen ein wenig musikphilosophische Substanz liefern) könnte, liegen meines Erachtens wesentliche Motive bereit, die eine Musikphilosophie nach Adorno zu bedenken hätte. Auch wenn Adorno selbst diese Theorie nicht ausformuliert hat, so hat er doch mit einigen seiner Denkfiguren das Modell einer solchen Theorie avisiert.

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Kritik der avantgardistischen Vernunft Kants Grundlegung des Kunstwerks und Adornos Kriterien der neuen Musik Guido Kreis

I.

»Völlige Desorientierung«

»Grundproblem: Verfall der Kriterien […] Heute völlige Desorientierung.« Das notiert Adorno bei der Vorbereitung der Darmstädter Ferienkurse für neue Musik im August 1950 (KV: 640). Es ist das erste Mal, dass er an den Ferienkursen teilnimmt. Im darauffolgenden Jahr übernimmt Adorno die ursprünglich für Schönberg eingerichtete »Arbeitsgemeinschaft für freie Komposition«. Dort kommt es zu dem immer wieder nacherzählten Vorfall, der das Problem der völligen Desorientierung handgreiflich macht. Stockhausen und Goeyvaerts spielen den zweiten Satz der Sonate Nr. 1 für zwei Klaviere von Goeyvaerts – ein kurzer Satz mit ausgedünntem Klangbild. Adorno fragt den Komponisten zunächst (wie sich Goeyvaerts selbst erinnert), warum er das Stück überhaupt für zwei Klaviere geschrieben habe. 1 Goeyvaerts hat Schwierigkeiten, die Frage zu beantworten. Stockhausen springt ein und trägt »eine klare Analyse des zweiten Satzes vor«, die die serialistische Konzeption des Stücks offenlegt, und die Adorno »eher zurückhaltend aufnahm«. 2 Dann stellt Adorno eine im Nachhinein berühmt gewordene Frage; in Adornos eigener Version: »In Kranichstein habe ich einmal eine mir vorliegende, der Absicht nach alle Parameter vereinheitlichende Komposition des Mangels an musiksprachlicher Bestimmtheit geziehen mit der Frage: ›Wo ist hier Vorder- und Nachsatz?‹« (GS 16: 504; KV: 273; GS 16: 186 f.) Darauf antwortet Stockhausen dann »höflich aber bestimmt«: »Herr Professor, Sie suchen ein Huhn auf einem abstrakten Bild.« 3 1 Karel Goeyvaerts: Een Zelfportrait/Selbstportrait 1923–1988, in: Ders.: Selbstlose Musik: Texte, Briefe, Gespräche, hrsg. v. Mark Delaere, Köln 2010: 19–135, hier 65. 2 Ebd.: 67. 3 So berichtet es Michael Kurtz: Stockhausen. Eine Biographie, Kassel 1988, S. 59 f. Zum sachlichen Hintergrund: Martin Iddon: New Music at Darmstadt, Cambridge 2013: 53 ff.

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Die Szene hat emblematische Bedeutung. Mit Adorno treten die Normen eines im Untergang befindlichen Kriterienkataloges gegen ein Musikstück an, für das sie keine Geltung mehr beanspruchen können. Die kohärente Entfaltung musikalischen Sinns ist für Adorno zu diesem Zeitpunkt noch an das Modell der Entwicklungslogik gebunden, das von der Wiener Klassik bis in die Schönberg-Schule hinein verbindlich gewesen war. Adorno macht dabei genau genommen zweierlei: Er kritisiert das serialistische Stück als schlechte Musik; und er begründet diese Kritik mit der Nichterfüllung der entwicklungslogischen Kriterien. Im Laufe der 1950er Jahre findet freilich eine tiefgreifende Korrektur in Adornos musikalischem Denken statt. Am ersten – der Kritik des Serialismus – hält er fest; aber er korrigiert grundlegend die Frage nach den Kriterien der Musik. Eine der Anlässe für diese Korrektur wird Heinz-Klaus Metzgers Replik auf Adornos Theorem vom Altern der neuen Musik gewesen sein, in der es heißt: »Es gibt musikalischen Sinn auch außer allem Vorder- und Nachsatz, und es gibt zwingenden musikalischen Zusammenhang auch jenseits aller thematisch-motivischen Beziehungen, worin Adorno allein das ›Musiksprachliche‹ erblickt.« 4 Adorno hat sich diese These ausdrücklich zu Eigen gemacht. Zehn Jahre nach dem Vorfall mit dem Goeyvaerts-Stück heißt es in der Druckfassung der Darmstädter Vorlesungen Vers une musique informelle über das Kriterium von Vorder- und Nachsatz lapidar: »Das wäre zu berichtigen.« (GS 16: 504) Adorno fährt fort: »Nirgends steht geschrieben, daß [die gegenwärtige Musik] derlei Überkommenes, auch Spannungs- und Auflösungsfeld, Fortsetzung, Entwicklung, Kontrast, Bestätigung a priori enthalten müsse« (GS 16: 504; vgl. KV: 437). Es ist also keineswegs so, dass Adorno zeit seines Lebens an einer traditionalistischen Auffassung des musikalischen Werks festgehalten hätte. Er hat die historisch relativen Kriterien der musikalischen Entwicklungslogik vielmehr überwunden. Auch dies ist in einer Darmstädter Vorlesungsreihe geschehen, in den Vorträgen über Kriterien der neuen Musik vom Juli 1957. In der Zwischenzeit waren die epochalen Werke der Nachkriegs-Avantgarde komponiert worden, Heinz-Klaus Metzger: »Das Altern der Philosophie der neuen Musik« (1957), in: Ders.: Musik wozu. Literatur zu Noten, hrsg. v. Rainer Riehn, Frankfurt a. M. 1980: 61–89, hier: 72. Vgl. zur Aufarbeitung der Debatte Gianmario Borio: »Wege des ästhetischen Diskurses«, in: Im Zenit der Moderne. Die internationalen Ferienkurse für neue Musik Darmstadt 1946–1966, hrsg. v. Gianmario Borio u. Hermann Danuser, Bd. 1, Freiburg 1997: 427–469.

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deren Rang Adorno auch anerkannt hat: Le Marteau sans maître von Boulez (1955), Zeitmaße und Gesang der Jünglinge von Stockhausen (1955/56), darüber hinaus (von Adorno nicht erwähnt) Il Canto sospeso von Nono (1956). Mit welchen Kriterien lässt sich diesen musikalischen Werken begegnen? Was sind überhaupt die Kriterien für neue Musik? Diese Fragen führen in die Grundlagen des ästhetischen Diskurses überhaupt. Das Merkwürdige und Unerwartete ist nun, dass Adorno bei ihrer Beantwortung ausgerechnet auf Kants Kritik der Urteilskraft zurückgeht. In der Vorlesung vom 19. Juli 1957 heißt es: »Das Problem, um das es sich hier handelt, ist an einer übrigens schwierigen und keineswegs ganz eindeutigen Stelle von Kant in der ›Kritik der Urteilskraft‹, ich glaube, außerordentlich tief formuliert worden, zu einer Zeit, zu der diese Fragen noch in keiner Weise aktuell waren […]. Kant lehrt in der ›Kritik der ästhetischen Urteilskraft‹, daß das Geschmacksurteil den Charakter der subjektiven Allgemeinheit hätte […]; es tritt so auf, als ob es nach einer Regel […] sich konstituieren würde, als ob das Denken dabei unter einem Gesetz stünde, aber unter einem merkwürdigen Bann […]. Nämlich diese Regel selber, der das ästhetische Urteil gehorcht, die ist uns nicht gegeben. Diese Regel ist uns unbekannt, und wir urteilen immer gleichsam im Dunkeln mit diesem Bewußtsein einer Objektivität, mit diesem Zwang einer Objektivität, ohne daß diese Regel als solche uns eigentlich gegenwärtig wäre. Dieses Dunkel, also diese Situation, […] in der man die Erfahrung der Allgemeinheit und Notwendigkeit im stärksten Maß macht, ohne daß doch dabei die Regeln oder die allgemeinen Kategorien uns positiv gegeben wären, nach denen nun diese Urteile sich konstituierten, das scheint mir genau die Lage zu sein, in der sich die Frage nach dem Kriterium von Musik heute eigentlich überhaupt befindet.« (KV: 243 f.) Kant ist es also gewesen, der Adornos radikale Wende in der Kriterienfrage herbeigeführt hat. Adorno bezieht sich auf die Lehre von der Quantität und der Modalität der ästhetischen Geschmacksurteile. Er spart allerdings die Begründung des Theorems von der subjektiven Allgemeinheit aus. Er hat sie in Darmstadt und, soweit ich sehe, auch später und an anderen Stellen nicht ausführlich nachgeholt. Sie ist aber vom systematischen Standpunkt der ästhetischen Theorie aus entscheidend. Was genau hat Adorno bei Kant finden können, das noch für die musikalische Avantgarde des 20. Jahrhunderts einschlägig sein könnte und das ihn selbst zu einer radikalen Revision des eigenen Kriterienkataloges gedrängt hat? Da Adorno es 175 https://doi.org/10.5771/9783495808221 .

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nicht sagt, sind wir gezwungen, es selbst kreativ zu rekonstruieren. Wir brauchen eine Deutung von Kants Ästhetik im Lichte des Avantgardeproblems, und wir brauchen eine Deutung von Adornos Musikphilosophie, die zeigt, dass und wie sie aus Kants Ansatz tatsächlich hervorgeht. Beides möchte ich im Folgenden versuchen.

II.

Das Faktum des ästhetischen Diskurses

Adorno hat in Kants Kritik der Urteilskraft ein grundlegend neues Prinzip der theoretischen Beschäftigung mit ästhetischen Gegenständen finden können: Die Analyse des ästhetischen Diskurses ist eine notwendige Bedingung der Erörterung ästhetischer Gegenstände. Ein paralleles Prinzip hatte Kant zum ersten Mal in der Kritik der reinen Vernunft für die Beschäftigung mit Erkenntnisgegenständen formuliert. Mit ihm ist die kopernikanische Wende der kritischen Philosophie verbunden. Das Prinzip besagt, dass die Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung auch die Bedingungen der Möglichkeit der Gegenstände der Erfahrung sind (KrV, A 158/B 197). 5 Ob sich ein paralleles Prinzip auch für den ästhetischen Diskurs und dessen Gegenstände durchführen lässt, hängt von der Frage ab, ob es überhaupt einen ästhetischen Diskurs gibt und welches seine auszeichnenden Merkmale sind. Es ist zweifellos der Fall, dass wir über Kunstwerke und über ihren ästhetischen Wert streiten. Es gibt das Faktum des ästhetischen Diskurses. Die Frage ist aber, wie wir es zu interpretieren haben: Ist er ein Diskurs sui generis, oder ist er es nicht? Wenn er lediglich eine Unterart anderer, theoretischer oder praktischer Diskurse wäre, dann folgte er der Logik unserer Urteile über theoretische oder praktische Gegenstände. Wenn er ein Diskurs sui generis wäre, dann müsste er eine eigene Logik aufweisen, und die Frage wäre dann, worin deren Regeln bestehen. Das ist die Alternative, die Adorno 1957 in Darmstadt übernimmt: Entweder es gibt einen eigenständigen ästhetischen Diskurs, oder aber es gibt ihn nicht. Im ersten Fall stellten sich herausfordernde Fragen für die philosophische Ästhetik:

Die Kritik der reinen Vernunft (= KrV) zitiere ich nach der ersten Auflage von 1781 (= A) und der zweiten Auflage von 1787 (= B). Die Kritik der Urteilskraft (= KdU) (1790) zitiere ich nach der zweiten Auflage von 1793 (= B) und nach Kant: Gesammelte Schriften, hrsg. v. der Preußischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 1900 ff. (= AA), Bd. V.

5

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nach der Eigenart der ästhetischen Erfahrung, nach der Eigenart der ästhetischen Gegenstände und nach den Kriterien der Kunst (und der neuen Musik); im zweiten Fall stellten sich überhaupt keine qualitativ neuen Fragen, denn in diesem Fall wäre eine philosophische Ästhetik überflüssig. Es gibt mehrere Weisen, den ästhetischen Diskurs nicht als Diskurs sui generis zu behandeln. Die naheliegendste Weise ist die, ästhetische Prädikate wie die Prädikate normaler Erkenntnisurteile zu behandeln. Wenn ich sage, dass das Buch, das vor mir auf dem Tisch liegt, grün ist, und diese Aussage mit Wahrheitsanspruch vertrete, dann sage ich etwas aus, das entweder wahr oder falsch ist; und dafür, ob das Buch grün ist oder nicht, gibt es eindeutig definierte Kriterien. Bei ästhetischen Prädikaten wie … ist schön oder … ist ein gelungenes Kunstwerk wäre das nur dann möglich, wenn wir zuvor den Begriff der Schönheit oder des gelungenen Kunstwerks eindeutig definiert hätten. Aber es gehört zu unseren ästhetischen Diskursen wesentlich dazu, dass wir derartige Definitionen verweigern: Eine normative Regelästhetik würde das Ästhetische gerade verfehlen, und wenn überhaupt über etwas Einigkeit besteht, dann darüber, dass es definierbare Kriterien für gelungene Kunstwerke – jedenfalls in der Moderne – nicht geben kann. Ebenso würde das Ästhetische verfehlt, wenn wir praktische Begriffe von bestimmten Zwecken oder Handlungszielen zur Grundlage des ästhetischen Diskurses machten. Zwar ist es so, dass viele Musikstücke eine bestimmte Funktion in bestimmten praktischen Kontexten haben, aber auch hier gilt: Der ästhetische Wert eines Musikstücks darf sich nicht aus seiner praktischen Funktion ableiten lassen, und ein Musikstück, das in seiner praktischen Funktion vollständig aufgeht und keinen Funken mehr zu bieten hat als ebendiese Erfüllung einer Funktion, kann kein musikalisches Kunstwerk sein. Dort also, wo bestimmte theoretische oder praktische Begriffe und Kriterien im ästhetischen Streit ernsthaft den Ausschlag geben könnten, hörte der ästhetische Diskurs auf: Er driftete ab in einen theoretischen Diskurs über festgelegte Eigenschaften oder in einen praktischen Diskurs über festgelegte Ziele und Zwecke. Man könnte versuchen, die Eigenart ästhetischer Diskurse in der vollständigen Abwesenheit intersubjektiv verbindlicher Kriterien zu suchen. Ästhetische Urteile wären dann bloß subjektive Geschmacksurteile. Zu sagen, dass ein musikalisches Werk gut oder gelungen ist, hieße dann nur zu sagen, dass es bei dem, der dieses Urteil artikuliert, positive Empfindungen auslöst; aber die Verbindlichkeit dieses Ur177 https://doi.org/10.5771/9783495808221 .

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teils wäre auch auf diese Person eingeschränkt, und es wäre intersubjektiv ganz unverbindlich. Das Prädikat … ist ein gelungenes Kunstwerk wäre zu behandeln wie das Prädikat … schmeckt mir, und – schlimmer noch – das Prädikat … ist ein schlechtes Kunstwerk wie das Prädikat … schmeckt mir nicht. Wäre das Faktum des ästhetischen Diskurses so zu interpretieren, dann wäre er wiederum kein Diskurs sui generis, sondern eine Untergattung unserer Diskurse über unsere eigenen Geschmacksempfindungen. Möglich, dass es so ist; aber die Ästhetik hätte dann, wie Kant sagt, »kein eigentümliches Gebiet« (KdU B xx/AA V 176); sie wäre als philosophische Disziplin überflüssig. Erst wenn wir eine eigenständige Struktur und Logik des ästhetischen Diskurses aufweisen könnten, hätte sie ihr eigentümliches Gebiet. Erst dann wären wir gerechtfertigt zu sagen, dass es bei ästhetischen Werturteilen nicht um bloß subjektive Wertschätzungen und auch nicht um festgelegte Eigenschaften von Erkenntnisgegenständen und um festgelegte Ziele und Zwecke von praktischen Gegenständen geht. Lässt sich also eine eigenständige Struktur und Logik des ästhetischen Diskurses aufweisen, und falls ja, worin besteht sie?

III. Die Eigenart des ästhetischen Diskurses Kant stellt und beantwortet diese Fragen in den Anfangsparagraphen der Kritik der Urteilskraft. Seine Antworten sind zunächst negativ. Sie besagen, dass der ästhetische Diskurs nicht der Logik der anderen Diskurse folgt. Gleich zu Beginn des ersten Paragraphen sagt Kant, dass »[d]as Geschmacksurteil […] kein Erkenntnisurteil« sei (KdU B 3/AA V 203), und in den folgenden Paragraphen betont er, dass das ästhetische Wohlgefallen weder mit dem bloß subjektiven Wohlgefallen am Angenehmen noch mit dem Wohlgefallen an praktischen Ziel- und Zwecksetzungen identisch ist. Es sei vielmehr ein Wohlgefallen »ohne alles Interesse« (KdU § 5, B 16/AA V 211). Damit ist jedoch noch nicht gesagt, worin die Eigenart der ästhetischen Urteile positiv besteht. Die erste Antwort in dieser Richtung – diejenige Antwort, mit der Adorno seine Überlegungen in Darmstadt 1957 beginnt – gibt Kant mit der Theorie der »subjektiven Allgemeinheit« von ästhetischen Urteilen (KdU § 6, B 18/AA V 212). Bei allen Arten von Urteilen ist die Geltungsdimension der Schlüssel zu ihrer theoretischen 178 https://doi.org/10.5771/9783495808221 .

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Erfassung, denn es ist Urteilen wesentlich, Geltung haben. Erkenntnisurteile haben die Eigenschaft, objektiv gültig sein. Das bedeutet, wie Kant in § 19 der Prolegomena sagt, dass sie eine Gültigkeit »vor jedermann« haben (AA IV 299). Wenn ich urteile, dass das Buch auf dem Tisch vor mir grün ist, dann lege ich mich vor allen anderen urteilsfähigen Subjekten darauf fest, dass das Prädikat grün auf dieses Buch zutrifft. Ich erhebe einen Anspruch darauf, dass mein Urteil wahr ist, und ich übernehme im Gegenzug die Verantwortung dafür, diesen Anspruch gegen Einwände von jedermann zu verteidigen. Dasselbe gilt auch für praktische Urteile, etwa das Urteil, dass es verboten ist, aus Menschenliebe zu lügen. Wenn ich dagegen lediglich urteile, dass das Buch vor mir auf dem Tisch eine unangenehme Farbe hat, dann ist das Wort unangenehm im Prädikatsausdruck so aufzufassen, dass ich damit ein bloß subjektives Geschmacksurteil fälle. Ob ein anderes Subjekt meine Empfindung teilt, ist für die Wahrheit oder Falschheit meines bloß subjektiv gültigen Urteils irrelevant. Die auszeichnende Eigenart ästhetischer Urteile soll nach Kant nun in ihrer »subjektiven Allgemeingültigkeit« liegen (KdU § 8, B 23/AA V 215). Man könnte versuchen, das folgendermaßen zu verstehen: Wenn Erkenntnisurteile und praktische Urteile vor jedermann gültig sind, bloße Geschmacksurteile dagegen nur vor mir selbst, dann könnte der Geltungsbereich ästhetischer Urteile zwischen diesen Extremen liegen. Sie wären dann vor vielen oder doch wenigstens einigen von uns gültig. Aber das kann nicht stimmen, denn Kant sagt ausdrücklich, »daß man durch das Geschmacksurteil (über das Schöne) das Wohlgefallen an einem Gegenstande jedermann ansinne, ohne sie doch auf einem Begriffe zu gründen […]; und daß dieser Anspruch auf Allgemeingültigkeit […] wesentlich zu einem Urteil gehöre, wodurch wir etwas für schön erklären […].« (KdU § 8, B 21 f./AA V 213 f.). Er betont sogar, dass das ästhetische Urteil mit den Erkenntnisurteilen »die Ähnlichkeit hat, daß man die Gültigkeit desselben für jedermann daran voraussetzen kann« (KdU § 6, B 18/AA V 211). Es handelt sich um eine Gültigkeit »für jedes Subjekt« (KdU § 8, B 23/AA V 214). Das bedeutet, dass ich ästhetische Urteile nach Kant nur dann fällen kann, wenn ich sie vor ausnahmslos allen Subjekten auch ernst nehme: Wenn ein anderer Teilnehmer des ästhetischen Diskurses gute Gründe dafür anführen kann, dass ein Musikstück, über dessen ästhetische Qualität wir streiten, kein gelungenes Kunstwerk ist, dann ist das für die Wahrheit oder Falschheit meines eigenen positiven ästhetischen Urteils über 179 https://doi.org/10.5771/9783495808221 .

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dieses Musikstück relevant, und zwar unabhängig von meinen Empfindungen des Angenehmen oder Unangenehmen. Wenn ich gute Gründe für meine ästhetische Wertschätzung eines musikalisches Werkes zu haben glaube, dann darf ich ein entgegengesetztes ästhetisches Urteil nicht einfach auf sich beruhen lassen, sondern muss es nach der Logik des ästhetischen Diskurses angreifen. Andernfalls handelte ich ästhetisch irrational, zumindest aber ästhetisch verantwortungslos gegenüber dem Gegenstand unseres Streits. Es gehört zur Logik des ästhetischen Diskurses, einem echten Streit über das Kunstwerk nicht aus dem Wege zu gehen. Wenn aber ästhetische Urteile für ausnahmslos alle Subjekte gültig sind, wodurch unterscheidet sich dann der ästhetische Diskurs vom Erkenntnisdiskurs? Kants Antwort lautet: nicht durch den Geltungsbereich der ästhetischen Urteile, sondern durch die Art der Gründe, die ich für sie anführen kann. Er sagt, »daß man durch das Geschmacksurteil (über das Schöne) das Wohlgefallen an einem Gegenstande jedermann ansinne, ohne sie doch auf einem Begriffe zu gründen« (KdU § 8, B 21 f./AA V 213 f.). Das bedeutet, dass mir eine festgelegte und eindeutige begriffliche Regel zur Überprüfung der Wahrheit oder Falschheit meines Urteils nicht zur Verfügung steht. Weder sind für den Begriff des gelungenen Kunstwerks Kriterien der Anwendung definiert, noch kann ich sie auf die Kriterien der Anwendung anderer Begriffe zurückführen. Das wird etwa dann deutlich, wenn ich ein negatives ästhetisches Urteil über ein Musikstück damit zu begründen versuche, dass es weder Vorder- noch Nachsatz enthält. Das setzt voraus, dass es möglich ist, das Kriterium für die erfolgreiche Anwendung von … ist ein gelungenes musikalisches Kunstwerk auf die Kriterien der erfolgreichen Anwendung von … enthält Vorder- und Nachsatz zurückzuführen. Aber es ist keine notwendige Bedingung gelungener musikalischer Kunstwerke, Vorder- und Nachsatz zu enthalten. Es läßt sich auch sonst keine durch Definition festlegbare notwendige Bedingung gelungener Kunstwerke angeben. Es ist unmöglich, ein ästhetisches Urteil auf einen bestimmten Begriff zu gründen. Dieser Begründungssituation entspricht Kants Charakterisierung der ästhetischen Erfahrung als eines »freien Spiels der Erkenntniskräfte«. Er schreibt in § 9: »Die Erkenntniskräfte, die durch [eine gegebene] Vorstellung ins Spiel gesetzt werden, sind hierbei in einem freien Spiele, weil kein bestimmter Begriff sie auf eine besondere Erkenntnisregel einschränkt.« (KdU § 9, B 28/AA V 217) Die beteiligten 180 https://doi.org/10.5771/9783495808221 .

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Erkenntniskräfte sind Einbildungskraft und Verstand, und ihre Leistungen sind Anschauung und Begriff. Eine ästhetische Erfahrung zu haben, hieße demnach, Anschauung und Begriff frei »spielen« zu lassen. Nun sagt Kant, dass das Freie und Spielerische darin besteht, dass »kein bestimmter Begriff [die Vorstellung] auf eine besondere Erkenntnisregel einschränkt«. Das heißt, dass wir uns in der ästhetischen Erfahrung nie auf ein einzelnes Erkenntnisurteil festlegen. Das wird häufig so interpretiert, als sei die ästhetische Erfahrung nach Kant ein vorpropositionaler oder vorprädikativer Zustand: ein Spiel von Anschauung und Begriff deswegen, weil wir unterhalb der Urteilsebene allein auf dem sinnlichen Niveau der Anschauung verbleiben. Aber wir sollten Kant nicht eine Ästhetik unterstellen, die hinter seine Erkenntnistheorie zurückfällt. Es ist eines der Ergebnisse der Kritik der reinen Vernunft, dass es bewusste Anschauungen ohne Begriffe nicht geben kann (A 51/B 75), und dass Begriffe ihrer Natur nach nur in Urteilen angewendet werden können (A 69/B 94). Anschauungen ohne Begriffe sind blind, und es wäre vollständig unplausibel, in das Zentrum der ästhetischen Erfahrung ausgerechnet Blindheit – oder Taubheit – zu setzen. Kant sagt genau genommen auch nicht, dass überhaupt kein Begriff an der ästhetischen Erfahrung beteiligt ist, sondern vielmehr, dass »kein bestimmter Begriff [die Vorstellung] auf eine besondere Erkenntnisregel einschränkt«. Das Schöne gibt viel zu denken, und das kann nichts anderes heißen, als dass wir in der ästhetischen Erfahrung tatsächlich immer viele Gedanken unterhalten. In § 4 sagt Kant: »Das Wohlgefallen am Schönen muß von der Reflexion über einen Gegenstand, die zu irgendeinem Begriffe (unbestimmt welchem) führt, abhängen, und unterscheidet sich dadurch auch vom Angenehmen, welches ganz auf der Empfindung beruht.« (KdU B 11/AA V 207) Das Besondere der ästhetischen Erfahrung besteht darin, dass sie einerseits eine gedankenreiche Reflexion ist, dass ihr Ziel aber andererseits nie durch einen einzigen, bestimmten Begriff erreicht wird, anders gesagt: dass wir keinen einzigen der vielen Gedanken und keine einzige endliche Menge von ihnen mit Wahrheitsanspruch behaupten. Nicht also, dass wir gar nicht nachdenken, sondern dass wir unaufhörlich nachdenken, ist das Besondere der ästhetischen Erfahrung. Ein zweiter Aspekt kommt hinzu. Jede ästhetische Erfahrung hat nach Kant auch eine Komponente der Selbsterfahrung: Es gibt einen »Gemütszustand in dem freien Spiele der Einbildungskraft und des 181 https://doi.org/10.5771/9783495808221 .

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Verstandes (sofern sie untereinander, wie es zu einem Erkenntnisse überhaupt erforderlich ist, zusammen stimmen) […]: [und] wir [sind] uns bewußt […], daß dieses zum Erkenntnis überhaupt schickliche subjektive Verhältnis ebensowohl für jedermann gelten und folglich allgemein mitteilbar sein müsse […].« (KdU § 9, B 29/AA V 217 f.) Der Kern dieser Passage besagt, dass wir in der ästhetischen Erfahrung eine Selbsterfahrung machen: die Erfahrung einer »Zusammenstimmung« und »Schicklichkeit« unserer Erkenntnisleistungen im unaufhörlichen Nachdenken über das Schöne. Nun ist Selbstbewusstsein bei Kant immer qualifiziertes Selbstbewusstsein. Ästhetisches Selbstbewusstsein ist nicht lediglich Bewusstsein meiner selbst und der »Zusammenstimmung« meiner Vermögen überhaupt, sondern Bewusstsein von der »Zusammenstimmung« und der »Schicklichkeit« der konkreten ästhetischen Gedanken, die ich in einem jeweiligen Fall habe. Wenn ich eine ästhetische Erfahrung habe, dann denke ich nicht nur potenziell unausschöpflich viele Gedanken, sondern mir ist zugleich auch bewusst, dass diese Gedanken zusammenstimmen: Sie bilden kein disparates Chaos, sondern sie ordnen und systematisieren sich zu einer einheitlichen ästhetischen Erfahrung, wie brüchig auch immer sie sein mag. Diese Aspekte zusammengenommen rechtfertigen die Vermutung, dass ich in meiner ästhetischen Erfahrung einem Begriff und einer Regel folge, die ich nicht kenne. Es muss sich dabei um einen Begriff und die mit ihm verbundene Regel der Anwendung halten, weil die disparaten Gedanken, die ich in der ästhetischen Erfahrung durchspiele, andernfalls nicht zusammenpassten. Es muss sich um einen Begriff und eine Regel halten, die ich nicht kenne, weil ich mich andernfalls auf eindeutige begriffliche Kriterien festlegte, dann aber nicht unausschöpflich viel nachzudenken hätte. Ästhetische Urteile werden nach Kant durch einen Begriff begründet, dessen Gehalt und dessen Anwendungsregel wir nicht kennen. Er nennt diesen Begriff eine »ästhetische Idee«, »die viel zu denken veranlaßt, ohne daß ihr doch irgend ein bestimmter Gedanke, d. i. Begriff adäquat sein kann, die folglich keine Sprache völlig erreicht und verständlich machen kann« (KdU § 49, B 192 f./AA V 314). Genau diese Besonderheit des ästhetischen Diskurses ist es, auf die Adorno zu Beginn seiner Darmstädter Vorlesungen über Kriterien der neuen Musik hinauswill. In der Druckfassung der Vorlesungen heißt es: »Das ästhetische Urteil tritt auf, als folgte es einer Regel, als stünde das Denken dabei unter einem Gesetz. Aber das Gesetz, die Regel 182 https://doi.org/10.5771/9783495808221 .

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selbst, deren Idee das künstlerische Urteil mit sich führt, ist […] nicht gegeben sondern unbekannt; geurteilt wird wie im Dunkeln und gleichwohl mit dem gegründeten Bewußtsein von Objektivität. Nicht viel anders als mit solcher Paradoxie: der einer Erfahrung von Notwendigkeit, die Zug um Zug sich aufdrängt und doch auf kein durchsichtig Allgemeines sich berufen kann, wäre nach dem musikalischen Kriterium heute zu suchen.« (GS 16: 173)

IV. Die Eigenart ästhetischer Gegenstände Die ästhetische Erfahrung ist nach Kant zugleich die Erfahrung eines ästhetischen Gegenstandes. Wegen der intersubjektiven Verbindlichkeit meiner ästhetischen Gedanken kann dieser Gegenstand kein bloß mentaler Gegenstand sein. Es muss ein ästhetischer Gegenstand sein, der zwischen uns existiert und offen zutage liegt, solange wir den ästhetischen Diskurs aufrechterhalten. Wir können aber auch angeben, von welcher Verfassung er sein muss, denn wir kennen die Grundstruktur der Erfahrung, die sich auf ihn bezieht. Er muss eine Quelle eines zugleich unausschöpflichen und zusammenstimmenden Nachdenkens sein. Das ist Kants zentraler und bahnbrechender Gedanke: Die Unausschöpflichkeit und die »Zusammenstimmung« der ästhetischen Erfahrung konstituieren die Unausschöpflichkeit und die »Zusammenstimmung« des ästhetischen Gegenstandes. Kants führt an dieser Stelle teleologische Kategorien ein und behauptet, dass der ästhetische Gegenstand durch eine Zweckmäßigkeit ohne bestimmten Zweck ausgezeichnet sei (KdU §§ 10–11). Zweckmäßig ist ein Gegenstand, wenn er so, wie er ist, um etwas anderen willen da ist. Gebrauchsgegenstände sind dafür die besten Beispiele: Eine Uhr etwa ist dazu da, die Zeit zu messen. Dies ist der Zweck der Uhr, und die Bestandteile einer Uhr und ihre Organisation werden in Hinblick auf diesen Zweck verständlich. Einen derartigen bestimmten Zweck kann ein ästhetischer Gegenstand nicht aufweisen, denn dann ginge er wie ein Gebrauchsgegenstand in diesem Zweck auf und wäre nicht in der Lage, der Bezugsgegenstand eines ästhetischen Diskurses sui generis zu sein. Er wäre zuende gedacht, wenn man den Zweck erfasst hätte, um dessentwillen er gemacht worden war. Dennoch, Kant behält die Kategorie der Zweckmäßigkeit bei, modifiziert sie aber für den Kontext des Ästhetischen. Wenn wir dem ästhetischen Gegenstand eine Zweckmäßigkeit ohne bestimmten Zweck zuschrei183 https://doi.org/10.5771/9783495808221 .

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ben, dann ist er etwas, das so aussieht und so beschaffen ist wie ein zweckmäßiger Gebrauchsgegenstand, von dem wir aber den konkreten Zweck nicht angeben können. Damit ist er das passende gegenständliche Korrelat einer ästhetischen Erfahrung, die einem Begriff und einer Regel folgt, obwohl wir diesen Begriff und diese Regel nicht kennen. Eine Zweckmäßigkeit ohne bestimmten Zweck schreibt Kant dem ästhetischen Gegenstand dabei explizit zu: »Schönheit ist Form der Zweckmäßigkeit eines Gegenstandes, sofern sie, ohne Vorstellung eines Zwecks, an ihm wahrgenommen wird.« (KdU § 17, B 61/AA V 236) Zweckmäßigkeit ohne Zweck soll dabei eine Zweckmäßigkeit der bloßen Form nach sein. Was das heißt, erläutert Kant in der folgenden Passage: »Das Formale in der Vorstellung eines Dinges, d. i. die Zusammenstimmung des Mannigfaltigen zu Einem (unbestimmt was es sein solle) gibt, für sich, ganz und gar keine objektive Zweckmäßigkeit zu erkennen […]« (KdU § 15, B 45 f./AA V 227). Mit dieser letzten Passage ist das Zentrum von Kants ästhetischer Theorie erreicht. Es liegt in der Formulierung: »Zusammenstimmung des Mannigfaltigen zu Einem (unbestimmt was es sein solle)«. Eine Zweckmäßigkeit ohne bestimmten Zweck nachzuvollziehen, heißt nicht primär, nach der adäquaten Verwendung eines Gegenstandes zu suchen, sondern vielmehr, seine innere Organisation nachzuvollziehen. Dass er zweckmäßig ist, heißt nichts anderes, als dass er ein Ganzes aus Teilmomenten darstellt, die »zusammenstimmend« organisiert sind. Eine Uhr stellt ein determiniertes zusammenstimmendes Ganzes dar, weil bestimmt ist, was sie sein soll, nämlich ein Instrument zur Zeitmessung. Ein ästhetischer Gegenstand stellt ein indeterminiertes zusammenstimmendes Ganzes dar, weil unbestimmt bleiben muss, was er sein soll. Die Kategorie der Zweckmäßigkeit ist eine systemtheoretische Kategorie, und ein zweckmäßiger Gegenstand ist ein systematisch organisierter Gegenstand. Man kann leicht übersehen, dass Kant mit den Kategorien der Zusammenstimmung und der Schicklichkeit auf Leitbegriffe der klassischen Metaphysik und Kosmologie Bezug nimmt. Man darf insbesondere das Wort »Zusammenstimmung« nicht als unspezifisches Allerweltswort missverstehen. Der Ausdruck hat bei Kant unmittelbar einen leibnizianischen Hintergrund. Zum Beispiel sagt Leibniz in § 53 der Monadologie, dass es einen zureichenden Grund dafür geben muss, warum Gott bei der Erschaffung der Welt unter den unendlich vielen möglichen Welten gerade diejenige Welt, in der wir faktisch leben, realisiert hat. In § 54 behauptet Leibniz, dass »dieser Grund 184 https://doi.org/10.5771/9783495808221 .

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sich nur in der convenance oder in den Graden der Vollkommenheit finden lassen kann, die diese Welten enthalten«. 6 Die von Gott geschaffene wirkliche Welt ist demnach das System mit dem höchsten Grad an Zusammenstimmung seiner Teilmomente. Leibniz steht dabei selbst in einer langen Tradition, die bis in die pythagoreische und stoische Metaphysik und Kosmologie zurückreicht, in der die Frage nach der Homologie des Kosmos im Mittelpunkt steht. Cicero hat den griechischen Ausdruck homologia mit convenientia übersetzt. 7 Johann Heinrich Lambert, der im späten 18. Jahrhundert die erste moderne Systemtheorie entworfen hat, wählt für die gemeinte Sache die deutsche Formulierung »Beisammenseinkönnen, und die dazu nötige Schicklichkeit der Teile«. 8 »Zusammenstimmung« und »Schicklichkeit« sind bei Kant daher systemtheoretische Termini, so wie der Kosmos seit der Antike das Paradigma eines Systems ist. Die Charakterisierung des ästhetischen Gegenstandes und seiner Organisation als »Zusammenstimmung des Mannigfaltigen zu Einem (unbestimmt was es sein solle)« ist die folgenreiche Grundlage einer kritisch gerechtfertigten Ontologie moderner Kunstwerke. Nach Kant ist ein ästhetischer Gegenstand ein wohlorganisiertes System, dessen Organisationsregel wir nicht kennen. Und gerade weil wir seine Regel nicht kennen, arbeiten wir uns in der ästhetischen Erfahrung von »unten nach oben« am ästhetischen Gegenstand ab: Wir versuchen, das für uns rätselhafte (weil begrifflich indeterminierte) Zusammenpassen der Elemente Schritt für Schritt nachzuvollziehen und die Systemstellen dieses fragwürdigen Gebildes nach und nach abzutasten. Mit den Aspekten des ästhetischen Gegenstandes, die dafür infrage kommen, kommen wir an kein Ende. Die ästhetische Idee ist für Kant »mit einer solchen Mannigfaltigkeit der Teilvorstellungen in dem freien Gebrauche derselben verbunden, daß für sie kein Ausdruck, der einen bestimmten Begriff bezeichnet, gefunden werden kann« (KdU § 49, B 197/AA V 316). Die Aspekte des ästhetischen Gegenstandes, die in den Nachvollzug seiner Organisation einbezogen werden müssen, sind unendlich reichhaltig. Keine einzelne ästhetische Erfahrung eines ästhetischen Gegenstandes ver-

6 Gottfried Wilhelm Leibniz: Kleine Schriften zur Metaphysik, hrsg. v. Hans Heinz Holz, Frankfurt a. M. 1965: 462. 7 Cicero: De finibus bonorum et malorum III: 21. 8 Johann Heinrich Lambert: »Fragment einer Systematologie«, in: Ders.: Logische und philosophische Abhandlungen 2, Berlin 1787: 385–413, hier: 388.

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mag diese Aspekte ein für alle Mal abzuarbeiten; und zu jedem aktuellen Modell der Integration seiner Aspekte in eine Gesamtorganisation kann es stets wieder eine weitere ästhetische Erfahrung desselben Gegenstandes geben, die zu einer Modifizierung des Modells zwingt. Damit hat Kant die Brücke zwischen der Eigenart des ästhetischen Diskurses und der Eigenart des ästhetischen Gegenstandes geschlagen. Der Unausschöpflichkeit unseres Nachdenkens in der ästhetischen Erfahrung korrespondiert der unendliche Aspektreichtum des ästhetischen Gegenstandes: Er ist ein uns unbekanntes System mit unendlich vielen Elementen. Der Gegenstand, der die von Kant beschriebene ästhetische Erfahrung veranlassen kann, ist ein Kosmos im Kleinen, eine Welt für sich: eine für uns rätselhafte, aber gleichwohl zugängliche Monade.

V. Die Grundlegung des Kunstwerks Wir überblicken nun Kants systematische Konstruktion im Zusammenhang. Am Beginn steht eine Alternative: Entweder sind ästhetische Diskurse Diskurse sui generis, oder sie sind es nicht. Im zweiten Fall verzichteten wir auf eine philosophische Ästhetik und benötigten nur eine Aufklärung über die Logik der anderen Diskurse, zu denen der angebliche ästhetische Diskurs dann gehörte. Im ersten Fall aber, falls der ästhetische Diskurs tatsächlich ein Diskurs sui generis ist, sehen wir seine Spezifika in der Unausschöpflichkeit unserer Gedanken und im selbstreflexiven Bewusstsein der Zusammenstimmung dieser Gedanken, und dann ist der ästhetische Gegenstand ein unausschöpflich reichhaltiger Gegenstand, dessen Elemente die Grundverfassung einer Zusammenstimmung zu einem System haben, dessen Regel wir nicht kennen. Diese Konstruktion ist eine transzendentalphilosophische Grundlegung des ästhetischen Gegenstandes und seiner Grundverfassung, der unendlich reichhaltigen Stimmigkeit. Es handelt sich um eine kritisch gerechtfertigte ästhetische Ontologie, denn sie entwickelt die Grundstruktur des ästhetischen Gegenstandes aus einer Kritik der ästhetischen Rationalität: aus einer Untersuchung der Bedingungen der Möglichkeit eines eigenständigen ästhetischen Diskurses und der in ihm artikulierbaren Urteile. Die Konstruktion läuft nicht auf einen Konstruktivismus hinaus. Der ästhetische Gegenstand ist der Erfahrung nach vom ästhetischen Diskurs abhängig; das prägt ihm dessen Grundstruktur ein. Zugleich ist 186 https://doi.org/10.5771/9783495808221 .

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der ästhetische Gegenstand aber der Existenz nach vom ästhetischen Diskurs unabhängig: Welche ästhetischen Sachverhalte bestehen oder nicht, liegt nicht in der Verantwortung des Diskurses. Er führt sie nicht herbei, er versucht sie vielmehr in ihrer unausschöpflichen Reichhaltigkeit und Stimmigkeit nachzuvollziehen. Stimmigkeit ist dabei kein Wald-und-Wiesen-Begriff, obwohl wir den Ausdruck oft so verwenden. Stimmigkeit ist die wesentliche Eigenschaft aller ästhetischen Gegenstände und die zentrale Kategorie einer kritisch grundgelegten ästhetischen Ontologie. Dagegen lässt sich dreierlei einwenden: dass Kant überhaupt keine Theorie des ästhetischen Gegenstands kennt (a), dass er bestenfalls eine formalistische Theorie des Gegenstands kennt (b), und dass er in Wahrheit keine Theorie des Kunstwerks kennt (c). (a) Kant hat wiederholt betont, dass durch die ästhetische Erfahrung und durch das ästhetische Urteil »gar nichts im Objekte bezeichnet wird«. 9 Eine bestimmte Tradition der Kant-Interpretation hat daraus die Konsequenz gezogen, dass Kant die Theorie ästhetischer Objekte zugunsten einer Theorie der ästhetischen Erfahrung vollständig abgeschafft hat. 10 Aber hier ist Vorsicht geboten. Dass durch das ästhetische Urteil »gar nichts im Objekte bezeichnet wird«, ist konsequent, wenn wir »Objekt« im Sinne von »normaler (physischer) Gegenstand unserer Erkenntnisurteile« verstehen. Auf einen physischen Erkenntnisgegenstand kann sich die ästhetische Erfahrung nicht beziehen, weil sie ihren eigenen Gegenstand zu keinem Zeitpunkt definitiv prädikativ bestimmt: Sie fällt zu keinem Zeitpunkt ein prädikatives Urteil über ihren Gegenstand. Aber Kant sagt auch, dass wir »eine Zweckmäßigkeit der Form nach, auch ohne daß wir ihr einen Zweck (als die Materie des nexus finalis) zum Grunde legen, wenigstens beobachten, und an Gegenständen, wiewohl nicht anders als durch Reflexion, bemerken« können (KdU § 10, B 33 f./AA V 220). Das ist so zu verstehen, dass wir in der ästhetischen Erfahrung im Modus einer Unterstellung einen neuen, eigenständigen Gegenstand als Bezugsgegenstand konstituieren: den genuin ästhetischen Gegenstand. Wenn wir uns im ästhetischen Diskurs befinden, dann transformieren wir dessen Bezugsgegenstand von einem physischen Gegenstand in einen ästhetischen Gegenstand. Damit transforZum Beispiel gleich in KdU § 1, B 4/AA V 204. Besonders pointiert bei Rüdiger Bubner: Ästhetische Erfahrung, Frankfurt a. M. 1989: 35.

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mieren wir seine raumzeitlichen physischen Prädikate in ästhetische Prädikate, in die Eigenheiten eines genuin ästhetischen Gegenstandes. Und damit transformieren wir die Logik der Subsumtion und der Klassenzugehörigkeit in eine Logik der indeterminierten Stimmigkeit. Die ästhetische Erfahrung ist die Erfahrung eines eigenständigen ästhetischen Gegenstandes mit dessen spezifischer Ordnung. (b) Die wenigen Versuche, aus der Kritik der Urteilskraft überhaupt eine Theorie des ästhetischen Gegenstandes herauszulesen, haben Kant in der Regel einen ästhetischen Formalismus zugeschrieben. 11 Das liegt zum Teil an Kants eigenen Beispielen: »So bedeuten die Zeichnungen à la grecque, das Laubwerk zu Einfassungen oder auf Papiertapeten usw. für sich nichts: sie stellen nichts vor, kein Objekt unter einem bestimmten Begriffe, und sind freie Schönheiten. Man kann auch das, was man in der Musik Phantasien (ohne Thema) nennt, ja die ganze Musik ohne Text, zu derselben Art zählen.« (KdU § 16, B 49/AA V 229) Das zuletzt gegebene Beispiel lässt unwillkürlich bereits an Eduard Hanslicks Theorie des Musikalisch-Schönen denken: »Die sinnvollen Beziehungen in sich reizvoller Klänge, ihr Zusammenstimmen und Widerstreben, ihr Fliehen und sich Erreichen, ihr Aufschwingen und Ersterben, – dies ist, was in freien Formen vor unser geistiges Anschauen tritt und als schön gefällt«. 12 Kants Theorie ist aber nicht formalistisch. In einer formalistischen Theorie wird in einseitiger Abstraktion von allen inhaltlichen und materialen Aspekten nur die Form des Gegenstandes thematisiert, die dann wie ein Gitternetz oder eine geometrische Figur ganz isoliert betrachtet werden soll. Nur ganz allgemeine Formstrukturen und Formrelationen lassen sich im Rahmen einer derartigen Theorie angeben: Symmetrie, Asymmetrie, Ganzheit, Einheit und so fort. Aber das wäre ein Zerrbild von Kants Theorie des ästhetischen Gegenstands. Wer die Form und den Inhalt eines ästhetischen Gegenstandes real gegeneinander isoliert, versteht die Logik der Verwendung der Begriffe Form und Inhalt nicht. Es handelt sich um ein Paar von ReVgl. z. B. Marcus Otto: Ästhetische Wertschätzung, Berlin 1993: Teil III; Rachel Zuckert: Kant on Beauty and Biology, Cambridge 2007: Kap. 5. 12 Eduard Hanslick: Vom Musikalisch-Schönen, Wiesbaden 211989: Kap. III: 58. Es ist allerdings auch bei Hanslick unklar, ob die These, dass das Schöne »bloße Form« (ebd.: 5) sei, wirklich so formalistisch interpretiert werden darf, wie in der Regel unterstellt wird. Darüber hinaus lässt sich nicht mit Sicherheit sagen, dass sie sich überhaupt auf die Kritik der Urteilskraft zurückführen lässt; vgl. Richard Klein: Musikphilosophie zur Einführung, Hamburg 2014: 27 f. 11

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flexionsbegriffen, die wechselseitig gegeneinander bestimmt sind, und mit dessen Hilfe wir bestimmte Aspekte an Gegenständen gegenüber anderen Aspekten methodisch, im Modus der Reflexion, isolieren (KrV A 266–268/B 322–324). Jeder Gegenstand aber, auf den ich einen der beiden Begriffe Form oder Inhalt anwende, muss konstitutiv immer beides sein, Form und Inhalt. Das gilt insbesondere für den ästhetischen Gegenstand. Er ist unausschöpflich reichhaltig, und er hat die Grundverfassung der Zusammenstimmung. Sie ist zwar in der Tat eine Form, oder genauer: eine formale Relation der systematischen Organisation der Elemente dieses Gegenstandes. Genau deshalb aber, weil wir die Regel dieser Systemform nicht kennen, baut sie sich aus jedem einzelnen materialen Aspekt des Gegenstandes allererst auf. Es ist der springende Punkt des Gedankens einer indeterminierten stimmigen Form, dass es sich um das formale Zusammenstimmen dieser und keiner anderen materialen Elemente handelt, und dass diese sich ihrerseits von sich aus in eine Form, nämlich ihre eigene Form, fügen. Keine Form eines ästhetischen Gegenstandes kann genau dieselbe Form eines anderen ästhetischen Gegenstandes sein, denn jeder ästhetische Gegenstand stellt eine eigene Zusammenstellung jeweils anderer materialer Aspekte dar. Ästhetische Form ist zwangsläufig immer die konkrete Form konkreter Materialien: materiale Form. 13 Die Formel von der »bloßen Form der Zweckmäßigkeit« ist faktisch als Handlungsanweisung zu lesen, bei jedem ästhetischen Gegenstand stets aufs Neue aus den jeweils gegebenen Materialien die unverwechselbar eigene stimmige Ordnung des individuellen Gebildes Zug um Zug nachzuvollziehen. Nicht Bescheidung bei einigen allgemeinen abstrakten Formstrukturen ist daher der Fluchtpunkt von Kants Theorie, sondern gerade umgekehrt die unendlich detailreiche Versenkung in die Konkretheit jeweiliger ästhetischer Gegenstände. (c) Kants Theorie des ästhetischen Gegenstandes enthält schließlich auch eine Theorie des Kunstwerks. Es ist nicht so, dass die Kritik der Urteilskraft überhaupt keine oder bestenfalls eine uninformative Theorie des Kunstwerks zu bieten hätte. Ein Verdacht dieser Art wird Das Konzept der materialen Form hat Adorno später in seiner Mahler-Monographie ausgebaut: GS 13: 193–195 und 239–242. Dem folgt Gunnar Hindrichs: Die Autonomie des Klangs, Berlin 2014: § 37: »Das Material […] besitzt einen Eigensinn, aus dem die Form sich herleitet. […] Aus ihm begründet sich der musikalische Zusammenhang. Die Form des musikalischen Kunstwerkes hat das Material zu ihrem Rechtsgrund und ist materiale Form«. 13

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genährt durch Kants Lehre vom »Vorzug der Naturschönheit vor der Kunstschönheit« (KdU § 42, B 167/A V 299). Hegel hat später in seinen Vorlesungen über die Ästhetik gleich zu Beginn gegen diese Rangfolge polemisiert und die Beschäftigung mit Kunstwerken, den Manifestationen und Sedimenten des menschlichen Geistes, wieder ins Zentrum der Ästhetik gerückt. 14 Seitdem hat sich der Eindruck festgesetzt, dass Kant zur Theorie des Kunstwerks überhaupt nichts zu sagen hätte. Aber auch hier ist Vorsicht geboten. Die starke Opposition von Naturschönem und Kunstschönem spielt für Kant selbst keine herausragende Rolle. So sagt Kant ausdrücklich: »Die Natur war schön, wenn sie zugleich als Kunst aussah; und die Kunst kann nur schön genannt werden, wenn wir uns bewußt sind, sie sei Kunst, und sie uns doch als Natur aussieht.« (KdU § 45, B 180/AA V 306) Das Naturschöne existiert, ohne von uns in seiner Existenz kausal hervorgebracht zu sein; das Kunstschöne dagegen ist von uns gemacht. Aber in beiden Fällen handelt es sich um ästhetische Gegenstände, und alles, was Kant über ästhetische Gegenstände sagt, gilt für beide: Sie sind unausschöpflich reichhaltig, und sie weisen die Grundverfassung der Stimmigkeit auf. Das Problem mit den Kunstwerken besteht lediglich darin, dass sie als hergestellte Gegenstände die Unausschöpflichkeit des Nachdenkens insofern zu bedrohen scheinen, als Artefakte normalerweise in ihrem eindeutig bestimmten Zweck vollständig aufgehen. Wer einen genuin ästhetischen Gegenstand herstellen will – einen Gegenstand, der die Quelle eines eigenständigen ästhetischen Diskurses sein kann –, der muss ihn daher in der Weise herstellen, dass er sich in seiner Eigenart nicht auf einen bestimmten Zweck begrifflich festlegen läßt: so, dass er »uns doch als Natur aussieht«. Der Unausschöpflichkeit des Kunstwerks trägt Kant mit der Lehre von der ästhetischen Idee Rechnung (KdU § 49). Damit hat Kant über das Kunstwerk auch tatsächlich das Wesentliche gesagt. Die Schwierigkeit, darüber hinaus mehr zu sagen, hängt nicht mit Kant, sondern mit dem Wesen des ästhetischen Gegenstandes zusammen. Seine wesentliche Verfassung ist die radikalindividuelle Stimmigkeit seiner Elemente. Worin diese Stimmigkeit besteht, kann aber immer nur anhand einzelner konkreter Kunstwerke angegeben werden. Ästhetische Stimmigkeit ist bei jedem ästhetischen Gegenstand

Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Ästhetik I (Theorie Werk Ausgabe 13), Frankfurt a. M. 1970: 13 ff.

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notwendig etwas anderes. Deshalb kann sie überhaupt nur im Nachvollzug konkreter Werke ausführlicher diskutiert werden. Der beste Beleg dafür, dass die Kritik der Urteilskraft tatsächlich eine Theorie des Kunstwerks enthält, ist Friedrich Schlegels Kritik von Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre. Alles, was Schlegel dort über die Eigenarten des Romans sagt, die ihn als spezifisch ästhetischen Gegenstand charakterisieren, hat er in der Kritik der Urteilskraft finden können, und es ist erstaunlich, wie präzise man die frühromantische Ästhetik als Fortführung von Kant lesen kann. So heißt es über die Lehrjahre etwa: »Wer aber echten systematischen Instinkt, Sinn für das Universum, jene Vorempfindung der ganzen Welt hat, die Wilhelmen so interessant macht, fühlt gleichsam überall die Persönlichkeit und lebendige Individualität des Werks, und je tiefer er forscht, je mehr innere Beziehungen und Verwandtschaften, je mehr geistigen Zusammenhang entdeckt er in demselben.« 15 Diese Ausdifferenzierung führt zu immer weiteren Subsystemen: »so wird jeder notwendige Teil des einen und unteilbaren Romans ein System für sich«. 16 Die historische Distanz zwischen Kant und Adorno wird durch eine verborgene Traditionslinie überbrückt. Die Theorie des Kunstwerks, die in der Kritik der Urteilskraft enthalten ist, wird in der frühromantischen Ästhetik ausgeführt und fortentwickelt und vererbt sich über Benjamins Doktorarbeit über den Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik bis in Adornos späte Ästhetische Theorie.

VI. Adornos Fortführung Der Ausgangspunkt meiner Überlegungen war, dass Adorno 1957 in Darmstadt selbstkritisch die Frage nach den Kriterien der neuen Musik aufgreift und durch den Hinweis auf Kants Kritik der Urteilskraft beantwortet. Aus der folgenden Passage der Druckfassung der Vorträge über Kriterien der neuen Musik geht hervor, dass Adorno tatsächlich Kants Angebot übernommen hat: »Können ist nicht länger mehr das, wofür es einmal galt und was es in Wahrheit nie war, ein Schatz angeeigneter Verfahrungsweisen, der vom Talent ausgemünzt Friedrich Schlegel: »Über Goethes Meister« (1798), in: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe II, Paderborn 1967: 126–147, hier 133. 16 Ebd.: 134. 15

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wird, sondern besteht darin, daß jeder Zug des Gebildes, vom Kleinsten bis zur Totale, ohne Rücksicht auf überkommene Fertigkeit, aus der tragenden Anschauung der spezifischen musikalischen Sache herausspringt; und umgekehrt, daß jegliche musikalische Anschauung, alles subjektiv Unwillkürliche sich umsetzt in die Gesetzmäßigkeit des Verfahrens, das rückläufig das selbst ergreift, was genetisch als irrationaler Ursprung sich darstellt. Nur durch solche Besonderung hindurch, als Kraft, die zu dieser sich zusammenzieht, findet das Allgemeine am Kunstwerk noch sein Recht; nur in der Disziplin des übergreifenden Zusammenhangs, in den es vermöge des eigenen Impulses tritt, erhält sich das Besondere. Kriterien, welche dahinter zurückbleiben, sind anachronistisch und laufen fast unvermeidlich darauf hinaus, das Laxe oder das Pedantische als das Gute zu unterschieben.« (GS 16: 176) Adorno beschreibt das musikalische Werk als systematischen Organisationszusammenhang seiner Elemente. Dabei lässt sich der Blick wechselweise vom Kleinsten, den einzelnen Zügen des Gebildes, bis zum Ganzen, der Totale aller Einzelheiten, und wieder zurück vom Gesamtgebilde bis zu den Details richten. Das Kunstwerk kann nur dann ein spezifisch ästhetischer Gegenstand sein, wenn seine Systemstruktur nicht so wie das mechanische System einer Uhr im Begriff eines bestimmten Zwecks aufgeht. Es ist unmöglich, dass im Falle eines musikalischen Kunstwerks ein vorgängig definierter Begriff zur Verfügung stände, aus dem sich die Gesamtgestalt des Gebildes und alle notwendigen Teilfunktionen Schritt für Schritt deduzieren ließen. So etwas wäre wie eine Uhr, aber kein Gegenstand eines eigenständigen ästhetischen Diskurses. Das ist der systematische Hintergrund von Adornos Kritik der serialistischen Musik. Ginge jemand hin und stellte nach dem Vorbild eines mathematischen Algorithmus Reihen oder Formeln auf, aus denen sich alle Einzelheiten eines Musikstücks im Vorhinein ableiten ließen, dann könnte das Ergebnis kein ästhetischer Gegenstand eines ästhetischen Diskurses sein. Über diesen Gegenstand könnte nämlich nur in der Hinsicht geurteilt werden, ob die festgelegten Regeln richtig oder falsch angewendet worden sind. Urteile dieser Art gehören aber in den theoretischen Diskurs unserer Erkenntnisurteile. Der Gehalt der Regeln determinierte nicht nur das Musikstück, sondern auch unseren Diskurs über dieses Stück. Der Gegenstand solcher Urteile wäre dann aber ein physischer Gegenstand oder die physische Gestalt eines Artefakts, nicht aber ein ästhetischer Gegenstand. Deshalb beginnen für Adorno die ästhetischen Fragen im Falle der Rei192 https://doi.org/10.5771/9783495808221 .

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hentechnik immer dort, wo die vorgegebene Ableitung intentional verletzt wird. Der Bruch mit den Regeln bringt in die Organisation jenes Moment der begrifflichen Indeterminiertheit, das die notwendige Voraussetzung für die Erfahrung eines Gebildes ist, dessen Regel wir nicht kennen, und damit für die genuin ästhetische Erfahrung eines genuin ästhetischen Gegenstandes. 17 Das rettet das Werk davor, wie eine Uhr zu sein, und lässt die Möglichkeit offen, den physischen Gegenstand in einen ästhetischen zu transformieren und in einem genuin ästhetischen Diskurs als einen solchen Gegenstand zu erfahren. In der zuletzt zitierten Passage sagt Adorno, wie der musikalische Gegenstand eines genuin ästhetischen Diskurses stattdessen aufzufassen ist. Wenn die Organisation des Gebildes, bildlich gesprochen, nicht von »oben nach unten« herunterdeduziert werden darf, dann muss sie sich umgekehrt allererst von »unten nach oben« ergeben. Adorno fordert, »daß jeder Zug des Gebildes […] aus der tragenden Anschauung der spezifischen musikalischen Sache herausspring[en]« muss. Das bedeutet in jedem Fall, dass sich die ästhetische Systemordnung eines musikalischen Werkes aus der Eigenart der konkreten Details Zug um Zug ergeben muss. Noch stärker: Die Ordnung der Details baut sich aus der Dynamik dieser Details selbst auf, so dass der »übergreifende Zusammenhang«, von dem Adorno spricht, einer ist, »in den [sie] vermöge des eigenen Impulses ein[treten]«. Ganz entsprechend sieht Adorno die konstruktive Arbeit des Komponisten darin, »dem nachzuhören, wohin das Erscheinende von sich aus will« (GS 16: 235). Das wird dann eines der zentralen Themen der Ästhetischen Theorie werden, dass die Kunstwerke als genuin ästhetische Gegenstände indeterminierte Ordnungen sein müssen, die sich aus der Eigendynamik der materiellen Einzelheiten selbst zusammenfügen: »Die Einheit der Kunstwerke […] steigt aus ihren eigenen Elementen, dem Vielen auf« (GS 7: 277); »substantiell ist [Form] einzig, wo sie dem Geformten keine Gewalt antut, aus ihm In dieser Weise deutet Adorno bekanntlich bereits in der Philosophie der neuen Musik den Spätstil Schönbergs (GS 12: 112–118); vgl. auch »Musik und Technik« (1958), in: GS 16: 247 f. Musikstücke, die durch den begrifflichen Gehalt vorgegebener Regeln restlos determiniert wären, wären keine Prätendenten für genuin ästhetische Urteile. Denselben Punkt hat Claus-Steffen Mahnkopf gegen die »digitale Revolution« in der Musik eingewendet, die Harry Lehmann und Johannes Kreidler propagieren; vgl. Johannes Kreidler/Harry Lehmann/Claus-Steffen Mahnkopf: Musik, Ästhetik, Digitalisierung. Eine Kontroverse, Hofheim 2010.

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aufsteigt« (GS 7: 213): »Form objektiviert die einzelnen Impulse nur, wenn sie ihnen dorthin folgt, wohin sie von sich aus wollen« (GS 7: 180). Die zentrale Erweiterung des kantisch-frühromantischen Modells besteht nun in Adornos Darmstädter Überlegungen in der Frage, was »Zusammenstimmung des Mannigfaltigen zu Einem (unbestimmt was es sein solle)« in der neuen Musik konkret heißen kann. Dabei ist es die erste und wichtigste Einsicht Adornos, dass die Stimmigkeit musikalischer Formen nie auf Modelle der Symmetrie, der Ausgewogenheit oder der Geschlossenheit restringiert werden kann. Das Insistieren auf Stimmigkeit bedeutet nirgends Klassizismus, und es ist auch kein Zeichen für ein anachronistisches Festhalten an überholten Formmodellen der traditionellen Musik. Das Prinzip der Stimmigkeit verhindert nicht die Musik der Avantgarde, es ermöglicht sie. Da sich die indeterminierte Zusammenstimmung unausschöpflich reichhaltiger musikalischer Einzelheiten nie auf vorgegebene Begriffe festlegen lässt, ist sie gerade der Garant, und der einzig mögliche, immer anderer, immer neuer, stets offener Musik. Adorno hat in Darmstadt gelernt, statt auf Formkategorien wie Vorder- oder Nachsatz auf das grundlegende Prinzip indeterminierter Stimmigkeit zu setzen. Das Resultat ist nicht das reaktionäre Festhalten an den Werkideen des neunzehnten Jahrhunderts, als das seine Musikphilosophie immer noch karikiert wird, sondern der visionäre Aufbruch ins Offene, in die »informelle Musik«. Das ist der wahre Fluchtpunkt indeterminierter Stimmigkeit, dass jedes einzelne neue Werk in seiner Individualität seine eigene unverwechselbare Form realisiert, und dass deshalb eine unabsehbare Unendlichkeit neuer, erst noch zu entwickelnder individueller Werkformen vor uns liegt. Umgekehrt sind die offenen Formen neuer Musik aber auch als stimmige Formen lesbar und kritisierbar. Sie sind in ihrer Verletzung der geschlossenen Form nicht die Widerlegung der Stimmigkeit, sondern deren Entfaltung. Sie zeigen, welch unreglementierte Vielfalt an Ausprägungen indeterminierte Stimmigkeit annehmen kann. Die fragmentarischen Werke der neuen Musik, in denen das musikalische Geschehen in scheinbar unzusammenhängende Ereignisinseln zerfällt, folgen der immanenten Logik einer »Synthesis zweiten Grades«: »Die authentischen Werke der Desintegration wären solche, in denen der Zerfall einen Sinn der Kunstwerke stiftete« (GS 16: 618). Parallele Überlegungen stellt Adorno auch für Montagegebilde und für intentional »sinnlose« Musikwerke an, wie sie etwa im Falle von 194 https://doi.org/10.5771/9783495808221 .

Kritik der avantgardistischen Vernunft

Cage vorliegen; so ist dessen Klavierkonzert »konsequent und sinnvoll einzig im Tabu über jegliche Idee vom musikalischen Sinnzusammenhang« (GS 16: 483). An der einmal eingeschlagenen Weise ihrer Zusammenhangbildung können die entsprechenden Musikstücke dann allerdings auch kritisiert werden. Nur unter dieser Voraussetzung ist es möglich, langweilige Montagen, redselige FragmentSammlungen, in die Beliebigkeit austrudelnde Sinnlosigkeitskompositionen und andere misslungene Stücke als das zu beurteilen, was sie sind: schlechte Musik. Kants Idee der indeterminierten Zusammenstimmung erweist sich also als fundamental für das Verständnis und die Kritik der neuen Musik, der gewesenen und der erst noch kommenden, in all ihrer disparaten Vielfältigkeit.

VII. Die Kriterien der neuen Musik Die Ausgangsfrage von Adornos Darmstädter Vorlesungen ist bei alledem noch unbeantwortet: Was sind denn nun die Kriterien der neuen Musik? Im Lichte der voraufgegangenen Überlegungen könnte die folgende Antwort naheliegen: Ein neues musikalisches Werk ist genau dann ein gelungenes Werk, wenn es ein unendlich reichhaltiger und in seinen Einzelheiten indeterminiert zusammenstimmender Gegenstand ist. Dann, und nur dann, vermöchte es ein genuin ästhetischer Gegenstand eines genuin ästhetischen Diskurses zu sein. Aber diese Antwort beruht auf einem Missverständnis. Sie gibt die Stimmigkeit der unendlichen Detailfülle eines Werkes als Kriterium für dessen Gelungensein an. Stimmigkeit ist aber nicht das Kriterium für gelungene Kunstwerke, sondern deren Wesen. Das gelungene Kunstwerk besteht darin, eine stimmige Ordnung unausschöpflich vieler Aspekte zu sein. Nichts, das nicht in dieser Weise besteht, kann ein gelungenes Kunstwerk sein. Stimmigkeit kann also gar nicht das gesuchte Kriterium sein; sie ist vielmehr dasjenige, wofür wir ein Kriterium suchen. Auch bei Adorno ist das genannte Missverständnis präsent. Nachdem er im Aufsatz über die Kriterien der neuen Musik den »übergreifenden Zusammenhang« beschrieben hat, in den das Besondere »vermöge des eigenen Impulses tritt«, fährt er fort: »Kriterien, welche dahinter zurückbleiben, sind anachronistisch« (GS 16: 176). Adorno fasst also Stimmigkeit selbst als Kriterium der neuen Musik auf. Damit verwechselt er aber das Entscheidungsmerkmal des Ge195 https://doi.org/10.5771/9783495808221 .

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lungenseins neuer Musik mit dessen Wesen. Der Aufsatz legt darüber hinaus nahe, dass Adorno präzise benennbare Wesenszüge für stimmige neue Musik angeben will, so etwa mit dem Postulat des Charakteristischen (GS 16: 211–218). Selbst dann, wenn die Stücke der neuen Musik auf Entwicklungsformen vollständig verzichten, sollen ihre einzelnen Formteile dennoch in jeweils charakteristischer Weise plastisch durchgestaltet und gegeneinander differenziert sein. Adorno will sich damit gegen die drohende Langeweile indifferenter Glasperlenspiel-Musik zur Wehr setzen (GS 16: 208–211). Daran ist richtig, dass ein langweiliges Werk kein gelungenes Werk sein kann. Aber was es heißt, nicht langweilig zu sein, und allgemeiner: was es heißt, stimmig zu sein, kann nie durch präzise definierte inhaltliche Kriterien ein für alle Mal festgelegt werden. Denn jedes Werk der neuen Musik muss seine eigene individuelle Form finden und realisieren. Diese Form aber kennen wir nie vor dem Werk, sondern immer nur zugleich mit ihm, und deshalb kann jede präzisierte Vermutung über ihre Gestalt sich immer auch als falsch erweisen, und das selbst relativ zu einem bestimmten historischen Entwicklungsstand der Musik. Es muss nur ein neues Werk kommen, das gegen alle vermeintlichen Wesenszüge der Stimmigkeit verstößt, und das dennoch ein in sich stimmiges Werk ist, um uns kraft seiner Existenz vom Gegenteil zu überzeugen. Wir müssen zu den Besonderheiten des ästhetischen Diskurses selbst zurückgehen, um eine Antwort auf die Frage nach den Kriterien der neuen Musik finden zu können. Kants zentrale Idee war gewesen, dass die ästhetische Erfahrung und der ästhetische Gegenstand korrelativ aufeinander bezogen sind. Zu den unausschöpflich reichhaltigen Gedanken unserer ästhetischen Erfahrung, die wider Erwarten dennoch, wie fragil und tastend auch immer, zusammenstimmen, passt das unausschöpflich reichhaltige und stimmig geordnete Kunstwerk als Korrelat dieser Erfahrung. Wir unterstellen es interpretativ als Anlass unserer ästhetischen Erfahrung. Nichts also lässt sich gerechtfertigterweise über das Kunstwerk, seine Beschaffenheit und sein Gelungensein aussagen, das nicht relativ zu den Eigenheiten des ästhetischen Diskurses begründet werden könnte. Solange wir über ein neues musikalisches Werk reden, nachdenken, Kritik formulieren und Kritikgründe austauschen, Einwände gegen Kritik zu bedenken geben und Gegenkritik artikulieren, neue Perspektiven auf das Werk zur Diskussion stellen, es im Lichte dieser Debatte erneut hören, wiederum als Anlass zu erneuter Auseinander196 https://doi.org/10.5771/9783495808221 .

Kritik der avantgardistischen Vernunft

setzung nehmen – solange können wir gerechtfertigterweise die Unterstellung aufrecht erhalten, dass wir uns auf ein musikalisches Kunstwerk beziehen. Wenn wir aber aufhören, derartige diskursive Aktivitäten in bezug auf das fragliche Stück zu unternehmen und es auf Dauer gesehen niemand von uns mehr zum Anlass für eine diskursive Auseinandersetzung nehmen mag – dann ist alles über dieses Stück gesagt. Dann hört aber zwangsläufig auch die ästhetische Erfahrung auf, weil ihr Spezifisches nicht mehr länger besteht: das unaufhörliche Nachdenken. Dann gibt es keinen Grund mehr, dem Gegenstand unseres nun ans Ende gekommenen Diskurses zu unterstellen, er sei unendlich reichhaltig und in dieser Reichhaltigkeit stimmig organisiert. Er war dann zwar durchaus ein Anwärter dafür gewesen, den Status eines gelungenen ästhetischen Gegenstandes verliehen zu bekommen. Er hat aber diese Anwartschaft nicht erfüllen können. Mit dem ästhetischen Diskurs kommt die Unterstellung an ein Ende, er sei ein Kunstwerk. Das, was wir für die Dauer unserer diskursiven Auseinandersetzung für ein Kunstwerk hielten, ist gar keines gewesen, sondern nur ein Machwerk oder ein Gebrauchsgegenstand oder ein ganz normales Objekt. Diese Beobachtung führt auf ein indirektes und negatives Kriterium für die Stimmigkeit und damit das Gelungensein eines neuen musikalischen Kunstwerks. Es ist ein Meta-Kriterium, denn es ist ein Kriterium, das sich nicht direkt auf die Eigenschaften eines Werkes bezieht, sondern indirekt auf den Diskurs über ein Werk. Das Kriterium besagt: Diejenigen Kunstwerke, über die wir aufgehört haben, einen spezifisch ästhetischen Diskurs zu führen, weil alles über sie gesagt worden ist, sind keine Kunstwerke oder doch nur misslungene; die gelungenen Kunstwerke sind, bis auf Weiteres jedenfalls, die anderen. Es ist wichtig, dass es sich dabei tatsächlich um einen spezifisch ästhetischen Diskurs handeln muss, in dessen Mittelpunkt Gedanken über den Gegenstand der ästhetischen Erfahrung und dessen Organisation stehen. Wenn wir zum Beispiel von den heroischen Werken der zweiten Wiener Schule ausschließlich noch die Ohrfeigen zu berichten wüssten, die sie bei ihrer Uraufführung verursacht haben, dann wären etwa Weberns Orchesterstücke op. 6 gerade nicht mehr der Gegenstand eines ästhetischen Diskurses. Sie wären es auch dann nicht, wenn sie zwar immer noch regelmäßig aufgeführt, aber eben doch nur als Vorder- oder Hintergrundrauschen eines schwelgenden oder dämmernden Konzertpublikums gehört würden. Anwärter auf den Status des gelungenen Kunstwerks sind sie nur, insofern sie nach 197 https://doi.org/10.5771/9783495808221 .

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wie vor ernsthafte, das heißt sachbezogene ästhetische Auseinandersetzung provozierten: Streit um die stimmige Ordnung dessen, was wir im Konzert hören und in der Partitur lesen können. Mit Hilfe des vorgeschlagenen Kriteriums können wir lediglich negativ angeben, welche Gegenstände relativ zur gegenwärtigen Lage unserer ästhetischen Diskurse keine oder bestenfalls misslungene Kunstwerke sind. Auch hier gibt es freilich die Möglichkeit, dass in späteren Zeiten einige der längst vergessen geglaubten Stücke wieder ausgegraben und erneut zum Gegenstand der ästhetischen Debatte gemacht werden können. Ihre Anwartschaft darauf, gelungene Kunstwerke zu sein, tritt dann erneut ein. Umgekehrt kann diese Anwartschaft jederzeit auch wieder verloren gehen. Das gilt selbst für die klassischen Werke, also für diejenigen, die es mit weitest möglicher Beharrlichkeit und Permanenz geschafft haben, Gegenstände unserer ästhetischen Auseinandersetzungen zu sein. Ihr antagonistisches Schicksal besteht darin, im Panzer ihrer Rezeption am Ende so eingeschnürt werden zu können, dass wir keinen Anlass mehr verspüren, überhaupt noch etwas Sachhaltiges zu ihnen zu sagen. Dass etwas ein gelungenes Kunstwerk ist, ist der höchste Status, den der ästhetische Diskurs überhaupt zu vergeben hat. Kunstwerke haben ihn aber nie ein für alle Mal. Definitiveres können wir auch über diejenigen Gegenstände nicht sagen, die wir heute als gelungene Kunstwerke behandeln.

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Musik und Kritik nach Adorno Perspektiven für die Musikwissenschaft Susanne Kogler

Die Geisteswissenschaften sind in den letzten Jahren von einer Welle der methodologischen Neuorientierung erfasst worden. Mit der New History ist die Reflexion des fiktiven Moments der Geschichtsschreibung in die Geschichtswissenschaft eingewandert. 1 Auch die Musikwissenschaft denkt aktuell vermehrt über ihre Ausrichtung nach. 2 In den Debatten um künstlerische Forschung tut sich ein Spannungsfeld zwischen Ästhetik und philologisch ausgerichteter Musikwissenschaft auf, das die Unterscheidung zwischen systematischer und historischer Musikwissenschaft in Frage stellt. 3 Eine ähnliche Tendenz ist in der Diskussion um die sich derzeit etablierenden, methodisch zunehmend auf digitale Quellen zurückgreifenden Digital Humanities zu beobachten. 4 Musikkritik kommt in den akademischen Debatten allerdings – sofern überhaupt – eher am Rande vor. Das erscheint insofern bemerkenswert, als von Seiten der Musikerinnen und Musiker Kritik durchaus als relevant für ihr Tun angesehen wird. Georg Friedrich Haas etwa hat jüngst darauf hingewiesen, dass Kritik eine wichtige »Instanz der Kontrolle der Veranstalter« und »engagierter Musikjournalismus heute dringender erforderlich denn je« sei. 5 Indem Peter Hagmann dafür plädiert, »das Urteil […] als Ausgangspunkt für jene Reflexion zu sehen, die als das Ziel von Musikkritik zu verstehen ist«, stellt er Musikkritik in einen größeren FunktionszusammenVgl. Alun Munslow: The New History, Harlow 2003. Vgl. Historische Musikwissenschaft. Grundlagen und Perspektiven, hrsg. v. Michele Callela u. Nikolaus Urbanek, Stuttgart/Weimar 2014. 3 Vgl. Henk Borgdorff: The Conflict of the Faculties. Perspectives on Artistic Research and Academia, Leiden 2012. 4 Vgl. Jerome McGann: A New Republic of Letters. Memory and Scholarship in the Age of Digital Reproduction, Cambridge/Mass. 2014; Debates in the Digital Humanities, hrsg. v. Matthew K. Gold, Minneapolis 2012. 5 Österreichische Musikzeitschrift 2011, H. 6: 18. 1 2

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Susanne Kogler

hang, der Kritik an die Agenden der Musikwissenschaft heranrückt. 6 Der Bildungsauftrag, den Johannes Kalitzke in der Vermittlungsfunktion der Kritik sieht, verstärkt diese Affinität der Kritik zur Musikwissenschaft. 7 Was die zeitgenössische Kunst betrifft, hat Marc Jimenez angesichts der Vielfalt des heute Gebotenen festgestellt, es gebe keine Krise. Das Gute in der Masse aufzuspüren, wäre jedoch die vordringliche Aufgabe von Ästhetik heute: unsere Fähigkeit zu denken zu nützen und damit der kulturellen Indifferenz Paroli zu bieten. 8 Nach Jimenez wäre die kritische Tradition der europäischen Ästhetik gegen die anglo-amerikanische wieder stark zu machen. In eine ähnliche Kerbe schlägt Andrew Bowie, der die Machtlosigkeit der in der Tradition der analytischen Philosophie stehenden Philosophy of Music gegenüber der Musik und den Bedarf nach einer Revision dessen betont, was Musik für die Philosophie leisten könne. 9 Es ist kein Zufall, dass sich viele der hier zitierten, gegenüber der aktuellen wissenschaftlichen Praxis kritischen Stimmen mit dem adornoschen Denken intensiv auseinandergesetzt haben und mehr oder weniger stark darauf aufbauen. Ästhetisches Denken in der Nachfolge Adornos schließt Kritik ein. Wie Kultur insgesamt bedarf Kunst seiner Ansicht nach der Kritik angesichts der Dominanz der Kulturindustrie in der Kunstproduktion. Allerdings hat Adorno den gesellschaftlichen Hintergrund von Kunst, deren Verstrickung in ökonomische und machtpolitische Mechanismen, als Ziel kritischer Reflexion angesehen und nicht ein rein künstlerisches Qualitätsurteil. Richard Klein hat in einem ähnlichen Sinne anhand von Nietzsches Wagnerkritik für eine kritische Ästhetik plädiert, die den über ihre Zeit hinausweisenden Gehalt der Werke ebenso reflektiert wie ihre Zeitgebundenheit. 10 Kritik im Sinne Adornos hat zumeist Werk-, Interpretationsund Kompositionskritik im Auge, wie sie z. B. auch von Susan Ebd.: 22 Ebd.: 29 8 Vgl. Marc Jimenez: »Towards an Aesthetic of Risk«, in: Contemporary Music. Theoretical and Philosophical Perspectives, hrsg. v. Max Paddison u. Irène Deliège, Burlington 2010: 249–258. 9 Vgl. Andrew Bowie: »Was heißt ›Philosophie der Musik‹«, in: Musikphilosophie (Sonderband Musik-Konzepte), München 2007: 5–18. 10 Richard Klein: »Die Geburt der Musikphilosophie aus dem Geiste der Kulturkritik. Zu Friedrich Nietzsches Wagner«, in: Musikphilosophie, ebd.: 19–33. 6 7

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Musik und Kritik nach Adorno

McClary, bewunderte und bekämpfte Gallionsfigur musikwissenschaftlicher Genderforschung, unter expliziter Berufung auf die Kritische Theorie mit feministischer Stoßrichtung praktiziert worden ist. 11 Im Folgenden soll Adornos Kritikbegriff in Hinblick auf ein Weiterdenken für die heutige musikwissenschaftliche Praxis ausgelotet werden. Wie könnte Musikwissenschaft nach Adorno im 21. Jahrhundert einen kritischen Anspruch erheben? Betrachtet man die Rezeption der Kritischen Theorie in den 1960er Jahren, können mit Henning Schramm mehrere Aspekte genannt werden 12, die auch für Überlegungen zu einer aktuellen Positionierung der Musikwissenschaft von Interesse erscheinen: (a) Kritische Theorie war im Besonderen in der Nachkriegszeit aktuell, als sich die Dimension des Politischen verengte und Gegenstimmen laut wurden. Der Ausgangspunkt, »die gesellschaftlichen Verhältnisse so nicht zu akzeptieren und sie einer radikalen Kritik zu unterwerfen«, mahnt daher eine Auseinandersetzung mit den politischen Implikationen geisteswissenschaftlicher Forschung ein. (b) Als Kritik der gesellschaftlichen Verhältnisse hat die Kritische Theorie, wie es Alexander Kluge festgehalten hat, das Denken und die Haltung der Menschen wesentlich beeinflusst und auch Eingang in die Institutionen gefunden. 13 Allerdings scheint eine explizit kritische Ausrichtung hier – wohl auch aufgrund der bereits erwähnten vermehrten Orientierung am angelsächsischen Sprachraum – heute wieder weniger gefragt zu sein. 14 Dass die Rezeption der Kritischen Theorie in den 1960er Jahren vor allem in einer kritischen HalVgl. Susan McClary: Feminine Endings. Music, Gender and Sexuality, Minneapolis 1991: 3–34. 12 Vgl. Henning Schramm: »Wirkungsgeschichte und politische Rezeption der Kritischen Theorie in den 60er Jahren« (Vortrag an der Frankfurter Universität am 12. 8. 2012), in: http://www.henningschramm.de/essays-und-aufs%C3%A4tze/ [13. 11. 2014.]. 13 Ein Beispiel ist hier das in Kontakt mit Adorno von dem Musikkritiker Harald Kaufmann 1967 gegründete Institut für Wertungsforschung an der damaligen Akademie für Musik und darstellende Kunst in Graz. Adorno trug mit seinen Überlegungen wesentlich zur Positionierung des Instituts bei, wobei die anfänglich stärker soziologische Orientierung durch eine ästhetisch-philosophische ersetzt wurde. Vgl. Theodor W. Adorno: »Reflexion über Musikkritik«, in: Symposion für Musikkritik (Studien zur Wertungsforschung 1), hrsg. v. Harald Kaufmann, Graz 1968: 7–21. 14 Die New Musicology wird eher als Ausnahme gewertet und findet nur eingeschränkt Befürworter. Vgl. Michele Calella: »Das Neue von Gestern und was übrig bleibt. New Musicologies«, in: Historische Musikwissenschaft (Anm. 2): 82–110. 11

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tung gesehen wird, stellt einmal mehr die gesellschaftspolitische Dimension von Adornos Denken ins Zentrum. (c) Nicht nur Kritik an der Gesellschaft als Ganzes, sondern auch die Auseinandersetzung mit aktuellen Themen machte die Kritische Theorie für die »Jugend« Ende der 1960er Jahre attraktiv. Insbesondere ist die Ökonomisierung der Gesellschaft ein von der Frankfurter Schule aufgeworfenes Problemfeld, das auch heute noch zu bearbeiten notwendig bleibt. Im ersten Teil meiner Ausführungen steht mittels der Relektüre zweier Texte aus den Bänden Kulturkritik und Gesellschaft Adornos Kritikbegriff im Zentrum. Reflektiert man von Seiten der Musikwissenschaft über Kritik bei Adorno, sollten vor allem die Termini »immanente Kritik«, »Stimmigkeit«, »Synthese« und »Logik« neu durchdacht werden. 15 Diese werkbezogenen Überlegungen ergänzend, wird im Ausgang von Adornos Unterscheidung zwischen immanenter und transzendenter Kritik der Kritikbegriff auf gesellschaftskritische Implikationen hin befragt. Die Frage der Kritik zieht dabei die der möglichen Bezugnahme von Kunst auf die Welt und, damit einhergehend, auch die nach der Beziehung von Natur- und Geisteswissenschaften nach sich. Des Weiteren wird Adornos Auffassung ästhetischer Erfahrung in Zusammenhang mit seinem Kritikverständnis beleuchtet. Der zweite Teil stellt ein mögliches Weiterdenken Adornos zur Diskussion. Ausgehend von Lyotards Kritik der Kritischen Theorie wird der Fokus einer produktiven Adornorezeption auf die Frage gerichtet, wie auf der Basis ästhetischer Erfahrung eine gesellschaftskritische Dimension der Kunst zur Sprache gebracht werden kann, ohne dass vorweg eine bestimmte geschichtsphilosophische Perspektive eingenommen werden muss. Zudem werden Überlegungen Hans Ulrich Gumbrechts zu Stellenwert, Methode und Inhalt der Geisteswissenschaften sowie Hannah Arendts Politikverständnis miteinbezogen. Mit Gumbrecht, der sich auch auf Lyotard bezieht, kann Kritik als aktuell zu erfahrende Emergenz von Sinn verstanden werden, von der ausgehend die Geisteswissenschaften zu einer Steigerung von Komplexität beitragen können. Mit Arendt, deren Philosophie auch bei Lyotard präsent ist, können Überlegungen

15 Vgl. Guido Kreis: »Die philosophische Kritik der musikalischen Werke«, in: Adorno-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, hrsg. v. Richard Klein, Johann Kreuzer u. Stefan Müller-Doohm, Stuttgart/Weimar 2011: 74–85.

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Musik und Kritik nach Adorno

angestellt werden, wie die Dimension des Politischen in der (musik) wissenschaftlichen Praxis kultiviert werden könnte.

I.

Kritik bei Adorno

Zwei Texte sind für Adornos Kritik-Begriff besonders wichtig: Kulturkritik und Gesellschaft, geschrieben 1949, publiziert in Soziologische Forschung in unserer Zeit, Leopold von Wiese zum 75. Geburtstag (1951), und Wozu noch Philosophie, ursprünglich ein Vortrag, übertragen vom Hessischen Rundfunk im Januar 1962, überarbeitet veröffentlicht im Merkur, November 1962. Bemerkenswert ist, dass Adorno 1962 für die Philosophie diagnostiziert, was heute weitgehend auch für die Auseinandersetzung mit Musik zu gelten scheint: Er »rechnet die Idee der Kritik selbst zu der heute zerrütteten Tradition […].« (GS 10/2: 461) Kritik meint allerdings für ihn nicht Werk- oder Konzertkritik, sondern ist angesichts des Versagens der Kultur eine unhintergehbare ethische Notwendigkeit: »Kritik ist ein unabdingbares Element der in sich widerspruchsvollen Kultur, bei aller Unwahrheit doch wieder so wahr wie die Kultur unwahr.« (GS 10/ 1: 15) Verstanden als Selbstkritik schließt sie – in Anknüpfung an Walter Benjamin – Sprachkritik ein. Ziel von Kritik ist aus Adornos Sicht bereits seit der Antike Aufhebung der Verdinglichung, Thematisierung des Leidens am unfreien Leben. (GS 10/1: 20) 13 Jahre später, in Wozu Philosophie hat er die Gefährdung kritischen Denkens noch drastischer ausgedrückt: »Ungewiß gleichwohl, ob Philosophie […] überhaupt noch an der Zeit sei; ob sie nicht zurückbleibe hinter dem, was sie zu begreifen hätte, dem auf die Katastrophe zutreibenden Zustand der Welt. Für Kontemplation scheint es zu spät.« (GS 10/2: 469) Mit der Forderung nach Kritik ist die nach Teilhabe an der Welt verbunden: Dass Philosophie »die gesellschaftliche und politische Realität und ihre Dynamik in sich hineinnehmen muss, bedarf keines Wortes«, heißt es wenig später. (GS 10/2: 470) Problematisch erscheint Adorno an der Philosophie der Verlust gesellschaftlicher Bedeutung, ihr »Bankrott den realen gesellschaftlichen Zwecken gegenüber«. »Der Krisis des humanistischen Bildungsbegriffs, über die ich nicht viel Worte zu machen brauche, ist Philosophie als erste Disziplin im öffent-

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lichen Bewußtsein erlegen, nachdem sie ungefähr seit Kants Tod durch ihr Mißverhältnis zu den positiven Wissenschaften, zumal denen von der Natur, sich verdächtig gemacht hatte. […] Sie hat zugleich durch Abstinenz von bestimmtem Inhalt […] ihren Bankrott den realen gesellschaftlichen Zwecken gegenüber erklärt. Freilich setzte sie nur das Siegel unter einen Prozeß, der weithin ihrer eigenen Geschichte gleichkam. Immer mehr Bezirke wurden ihr entrissen und verwissenschaftlicht; ihr blieb kaum eine Wahl, als entweder selber auch eine Wissenschaft zu werden oder eine winzige und tolerierte Enklave […].« (GS 10/2: 460)

Kritisch ist für Adorno bereits die Philosophiegeschichte als Weiterführung des Denkens – Weiterführung im Sinne einer Arbeit an aktuellen Problemen. Zeitkern und geschichtlicher Stellenwert einer Philosophie ergeben sich aus den Problemen, die sie mit anderen teilt (GS 10/2: 462). Kritische Musikwissenschaft wäre – in solchem Sinne unspektakulär – eine kritische Auseinandersetzung mit tradierten Sichtweisen und Richtungen. Worum es Adorno jedoch darüber hinaus geht, ist, in Auseinandersetzung mit Kunst radikal kulturkritisch zu argumentieren. Darin liegt für Adorno das Ziel der Philosophie. Die Ähnlichkeit seiner Sicht der Philosophie und der Musikgeschichte ist daher kein Zufall: Erinnert doch die Gegenüberstellung von Positivismus und Ontologie nicht zuletzt an jene von Neoklassizismus und Dodekaphonie in der Philosophie der neuen Musik. Es ist die Differenz zwischen Empirismus und Metaphysik, die seiner Ansicht nach die gegenwärtige Situation bestimmt und die es zu kritisieren gilt. Die Herausforderung, vor die diese Differenz uns stellt, betrifft die Methodik und Vorgehensweise. Zu betonen ist, dass der Begriff Metaphysik in diesem Zusammenhang auf ethische Fragen verweist: wie angesichts der Endlichkeit des Lebens gedacht und gelebt werden könne. Dass in der Musikphilosophie Erfahrung der Sache und distanzierte Betrachtung paradigmatisch ineinandergreifen, begründet für Adorno ihren Rang. Dies wohl nicht zuletzt auch deshalb, weil er selbst als Musiker auf diesem Gebiete am sachhaltigsten argumentieren zu können dachte. Sachlichkeit bedeutet dabei auch Zweckfreiheit des Denkens, Unabhängigkeit von dem, was gesellschaftlich gefordert wird. »Heute gibt es eigentlich kaum mehr Theorie, und die Ideologie tönt gleichsam aus dem Räderwerk der unausweichlichen Praxis. Kein Satz mehr wird zu denken gewagt, dem nicht explizit, in allen Lagern, eben der Hinweis, für wen er gut sei, fröhlich beigegeben wäre […]. Unideologisch ist aber der

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Musik und Kritik nach Adorno

Gedanke, der sich nicht auf operational terms bringen läßt, sondern versucht, rein der Sache selbst zu jener Sprache zu verhelfen, welche ihr die herrschende sonst abschneidet.« (GS 10/1: 24)

Der Aktualitätsanspruch, den Adorno geltend macht, ist ein doppelter: politisch-gesellschaftliche Relevanz bedingt die Auseinandersetzung mit aktueller Thematik sowie mit neuer bzw. aktuell präsenter älterer Kunst. (GS 10/2: 473) Kritik muss für Adorno im Sinne der Dialektik der Aufklärung von der Einsicht getragen sein, zugleich Teil des Kritisierten zu sein und doch auch eine distanzierte Position einnehmen zu können. Kritik ist daher nicht als traditionelle Ideologiekritik aufzufassen. »Der dialektische Kritiker an der Kultur muß an dieser teilhaben und nicht teilhaben. Nur dann läßt er der Sache und sich selber Gerechtigkeit widerfahren. Die herkömmliche transzendente Kritik der Ideologie ist veraltet.« (GS 10/1: 29) Daraus ergeben sich für ihn zwei wichtige Schlussfolgerungen: Kritik ist konsequenterweise nie eindimensional, sondern immer dialektisch: thematisiert Positives und Negatives. Dass dieser Umstand häufig übersehen wird, liegt auch am polemischen Stil von Adornos musikkritischen Schriften. Ausnahmen sind seine Texte zu Mahler und Berg, die er als Modelle kritischer Haltung ansieht. Kritik ist aber immer auch Selbstkritik: Reflexion des Kritikers hinsichtlich der eigenen Befangenheit. Um seinen dialektischen Kritikbegriff zu präzisieren, unterscheidet Adorno zwischen immanenter und transzendenter Kritik. Immanente Kritik hat die Maßstäbe des Kritisierten im Blick, transzendente geht darüber hinaus und zielt aufs Ganze. »In der Tat darf die dialektische Wendung der Kulturkritik nicht die Maßstäbe der Kultur hypostasieren. Sie hält sich dieser gegenüber beweglich, indem sie ihre Stellung im Ganzen einsieht. Ohne solche Freiheit, ohne Hinausgehen des Bewußtseins über die Immanenz der Kultur wäre immanente Kritik selber nicht denkbar: der Selbstbewegung des Objekts vermag nur zu folgen, wer dieser nicht durchaus angehört.« (GS 10/1: 23)

Die transzendente Perspektive geht vom »gesellschaftlichen Wirkungszusammenhang« aus: »Für den gesellschaftlichen Wirkungszusammenhang ist es vermutlich weit weniger wichtig, welche besonderen ideologischen Lehren ein Film seinen Betrachtern einflößt, als daß die nach Hause Gehenden an den Namen der Schauspieler und ihren Ehehändeln interessiert sind. Vulgäre Begriffe wie

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der der Zerstreuung sind angemessener als hochtrabende Erklärungen darüber, daß der eine Schriftsteller Vertreter des Klein- und der andere des Großbürgertums sei. Kultur ist ideologisch geworden […] im weitesten Maße auch als Sphäre des Privatlebens. Diese verdeckt mit dem Schein von Wichtigkeit und Autonomie, daß sie nur noch als Anhängsel des Sozialprozesses sich fortschleppt. Leben verwandelt sich in die Ideologie der Verdinglichung, eigentlich die Maske des Toten. Darum hat die Kritik oftmals weniger nach den bestimmten Interessenlagen zu fahnden, denen kulturelle Phänomene zugeordnet sein sollen, als zu entziffern, was von der Tendenz der Gesamtgesellschaft in ihnen zutage kommt, durch die hindurch die mächtigsten Interessen sich realisieren. Kulturkritik wird zur gesellschaftlichen Physiognomik.« (GS 10/1: 24 f.)

In der Verdrängung von Transzendenz besteht für Adorno der Kern der kapitalistischen Ideologie: Darstellung beschränke sich auf Abbildung der Gegebenheiten, Fragen nach Sinn und Recht würden nicht mehr angesprochen. Die immanente Kritik, unverzichtbare Komplettierung der transzendenten, ist Analyse des Gegenstandes im eigentlichen Sinn, jedoch auf eben den gesellschaftlichen Wirkungszusammenhang bezogen, der auch die transzendente Perspektive des Kritikers bestimmt. Gerade hier setzt Kritik an Adornos Sicht an, weil sie Maßstäbe an das Kritisierte heranträgt, die diesem nicht immanent sind. Dies weist allerdings seine Position als Kulturkritik aus im Gegensatz zu einer sich als (objektiv) verstehenden (Musik)wissenschaft. Stellt sich die Frage, inwieweit man Adorno heute folgen will, ist die antikapitalistische Stoßrichtung der Kritischen Theorie mitzubedenken, wobei die folgenden Aspekte eine Basis für Anschlussmöglichkeiten und Revisionen umreißen können.

Wahrheit Zu Adornos Kritikverständnis gehört eine spezifische Auffassung von Wahrheit: »Zugleich aber hat die dialektische Theorie, will sie nicht dem Ökonomismus verfallen und einer Gesinnung, welche glaubt, die Veränderung der Welt erschöpfe sich in der Steigerung der Produktion, die Verpflichtung, die Kulturkritik in sich aufzunehmen, die wahr ist, indem sie die Unwahrheit zum Bewußtsein ihrer selbst bringt.« (GS 10/1: 22)

Adornos emphatisches Wahrheitskonzept sieht in der Selbstpräsentation des Ganzen das Aktuelle, das es auf seine Wahrheit bzw. Un206 https://doi.org/10.5771/9783495808221 .

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wahrheit hin kritisch zu befragen gilt. Wahrheit konzipiert er als eine gesellschaftskritische Kategorie: als das, was anders wäre als der Status Quo. Dieser Wahrheitsbegriff, Basis für die Kritik am begrifflichen Denken in der Negativen Dialektik, richtet sich gegen den auf Erfassen der Tatsachen ausgerichteten, in der Moderne vorherrschenden Wahrheitsbegriff. Dieser bestätige die Weltordnung in ihrer derzeitigen Verfassung und trage somit wesentlich zum Erhalt des Status quo bei.

Natur Mit Adornos Auffassung von Wahrheit ist ein weiterer wesentlicher Aspekt verbunden: seine Überlegungen zur Beziehung von Naturwissenschaft und Philosophie. Durch Teilhabe des Denkens an der Macht und am kapitalistischen System werde Erkenntnis in der modernen Welt letztlich unmöglich, selbst der Gedanke bleibe in der Wiederholung des Gleichen befangen. Die vom Positivismus diktierte Immanenz mache Transzendenz und damit jede Hoffnung auf Veränderung zunichte: »In der Prägnanz des mythischen Bildes wie in der Klarheit der wissenschaftlichen Formel wird die Ewigkeit des Tatsächlichen bestätigt und das bloße Dasein als der Sinn ausgesprochen, den es versperrt.« (GS 3: 44) Ebenso wie materielle Versorgung keine Freiheit bringe, sei mit Wissen, das bloß der Information diene und zum Konsumgut degradiert werde, keine kritische Kraft verbunden, sondern Zersetzung des Geistes zum Kulturgut. Die Beziehung zur Natur ist für Adorno ein Hauptthema: »Es ist die Identität des Geistes und ihr Korrelat, die Einheit der Natur, der die Fülle der Qualitäten erliegt. Die disqualifizierte Natur wird zum chaotischen Stoff bloßer Einteilung und das allgewaltige Selbst zum bloßen Haben, zur abstrakten Identität.« (GS 3: 26) Indem das Denken den »Zwangsmechanismus« durchschaue und reflektiere, solle es gelingen, diesem zu entkommen. (GS 3: 56) Selbstbesinnung besteht für Adorno und Lyotard in Kritik an Herrschaft, die es anzusprechen und von der es sich zu distanzieren gelte. In bewusstem Widerspruch zu Nietzsche wird Aufklärung als Änderung der Haltung hin zu Gewaltlosigkeit verstanden. Bescheidenheit erlaube es, den Zustand der Entfremdung in ein neues Verhältnis zur Natur zu verwandeln: »Naturverfallenheit besteht in der Naturbeherrschung, ohne die Geist nicht existiert. Durch die Bescheidung, in der dieser als Herrschaft 207 https://doi.org/10.5771/9783495808221 .

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sich bekennt und in Natur zurücknimmt, zergeht ihm der herrschaftliche Anspruch, der ihn gerade der Natur versklavt.« (GS 3: 57) Nähe zur aktuellen Philosophie, aber auch zu den Naturwissenschaften kennzeichnet seine Überlegungen. Die Naturwissenschaft ist für Adorno explizit ein wichtiger Bezugspunkt der Philosophie. »Unter den fälligen Aufgaben der Philosophie ist sicherlich nicht die letzte, ohne amateurhafte Analogien und Synthesen dem Geist die naturwissenschaftlichen Erfahrungen zuzueignen. Sie und der sogenannte geistige Bereich klaffen unfruchtbar auseinander; so sehr, daß zuweilen die Beschäftigung des Geistes mit sich selbst und der gesellschaftlichen Welt wie eitles Spiel erscheint. Hätte die Philosophie nichts anderes zu tun, als das Bewußtsein der Menschen von sich selbst auf den Stand dessen zu bringen, was sie von der Natur wissen […], so wäre das schon einiges. […] Soweit ist sie einig mit dem Positivismus, mehr noch mit der modernen Kunst, vor deren Phänomenen das meiste, was heute philosophisch gedacht wird, beziehungslos versagt.« (GS 10/2: 470 f.)

Subjekt und Objekt Adornos Forderung nach Praxisrelevanz geht mit einer spezifischen Form der Verbindung von Subjektivität und Objektivität einher, ist doch Subjektivität nicht ohne das Objektive zu denken. »Gerade das Subjekt- und Bedingtsein weist zurück auf […] die vergesellschafteten Menschen.« (GS 10/2: 466) Unzulänglichkeit rechnet Kritik daher »nicht eilfertig dem Individuum und seiner Psychologie, dem bloßen Deckbild des Mißlingens zu, sondern sucht es aus der Unversöhnlichkeit der Momente des Objekts abzuleiten. Sie geht der Logik seiner Aporien, der in der Aufgabe selber gelegenen Unlösbarkeit, nach. In solchen Antinomien wird sie der gesellschaftlichen inne. Gelungen aber heißt der immanenten Kritik nicht sowohl das Gebilde, das die objektiven Widersprüche zum Trug der Harmonie versöhnt, wie vielmehr jenes, das die Idee von Harmonie negativ ausdrückt, indem es die Widersprüche rein, unnachgiebig, in seiner innersten Struktur prägt.« (GS 10/1: 27)

Dialektik besteht für Adorno letztlich in der Bewegung und damit Anerkennung eines Status zwischen Vermittlung und Unmittelbarkeit: »Nichts anderes aber heißt Dialektik, als auf der Vermittlung des scheinbar Unmittelbaren, und der auf allen Stufen sich entfaltenden Wechselseitigkeit von Unmittelbarkeit und Vermittlung zu insistieren. Dialektik ist kein

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dritter Standpunkt sondern der Versuch, durch immanente Kritik philosophische Standpunkte über sich und über die Willkür des Standpunktdenkens hinauszubringen. Gegenüber der Naivetät des willkürlichen Bewußtseins, das sein Beschränktes, ihm Gegebenes für unbeschränkt hält, wäre Philosophie die bindende Verpflichtung zur Unnaivetät.« (GS 10/2: 467)

»Dialektik schließt auch das Verhältnis von Aktion und Kontemplation ein« (GS 10/1: 24), so Adorno in Kulturkritik und Gesellschaft, »selbstgenügsame […] Kontemplation« ist für ihn ungenügend (GS 10/1: 30). Nach Adorno hat der Kritiker seine eigene transzendente Perspektive zu bestimmen. Historische Betrachtungsweise ist – auch im Sinne Nietzsches – nur dann von Nutzen und nicht von Nachteil, wenn weniger Affirmation des Vergangenen als Perspektivenverschiebung daraus resultierte. Der Blick wendet sich dabei weg vom Schaffen des künstlerischen Individuums hin zu künstlerischen und gesellschaftlichen Tendenzen und Fragen, die für das Verständnis der Gegenwart relevant sind. Da Kritik zugleich Selbstkritik der Vernunft beinhaltet, ist es für Adorno wesentlich, den Geist mit seinem Anderen, dem Materiellen und Konkreten, zu konfrontieren. In dieser Konfrontation liege die einzige Möglichkeit einer Selbstbesinnung des Denkens. Sie vollzieht sich in Form von Kulturkritik, wobei die Theorie an die Kunsterfahrung anknüpft. Die Verpflichtung zur Kulturkritik leitet Adorno aus der zunehmenden Abkapselung der Kultur in einen Sonderbereich ab, dessen Funktionieren auf die Ordnung des kapitalistischen Systems angewiesen sei, wodurch Kultur zunehmend suspekt wird. Ideologiekritik ist seiner Konzeption nach als Kritik an konkreten Werken auszuführen und versteht sich dabei als Anwalt der Pluralität in einer totalitär strukturierten Gesellschaft: »Wer kritisiert, vergeht sich gegen das Einheitstabu, das auf totalitäre Organisation hinauswill.« (GS 10/2: 788) Damit siedelt Adorno eine auf Kunst bezogene Philosophie zugleich innerhalb der Lebenspraxis und in Distanz zu ihr an und vermittelt die beiden entgegengesetzten Pole in Benjamins Denken, wie Hauke Brunkhorst hervorhob: »Unlike Benjamin, Adorno endeavours to avoid both the ›transcendental intervention‹ that is the Messianic revolution and resurrection that concludes history and any position purely within that socio-historical reality, that is the political realism of mere adaption that leaves the world at least as it is.« 16 Insofern als aus der Perspektive dieser Kritik 16

Hauke Brunkhorst: Adorno and Critical Theory, Cardiff 1999: 44.

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»alles anders sein könnte«, nimmt Adorno, wie Brunkhorst gezeigt hat, weniger einen weltfern-utopischen, als einen radikal-experimentellen Standpunkt ein: »Instead of allowing real life to become paralysed by the tragedy of mortality and of consoling all hope for some future utopian reconciliation, aesthetic modern art refers to the extraaesthetic freedom of an experimental life as one of the institutions of radical institutional critique. This links even the most radical and esoteric art with public critique and utterly profane learning processes in an egalitarian society.« 17 Hier deutet sich ästhetische Erfahrung als Teil der Welt und Ausgangspunkt der Kritik an. Es manifestiert sich ein erweitertes Verständnis des politischen Anspruchs der Kunst. Die dialektische Methode Adornos zielt auf zweierlei ab: einerseits das kritische Potential der Kunst herauszuarbeiten, das kritischem Denken als Modell dienen soll; andererseits die Verstrickungen von Musik und Herrschaftsdenken zu entlarven. Auch hierin spielt die Verbindung von Transzendenz und Immanenz eine Rolle. Dabei fordert Adorno explizit eine neue Methodik jenseits des wissenschaftlichen Methodikkonsenses: »Die Berufung auf Wissenschaft, auf ihre Spielregeln, auf die Alleingültigkeit der Methoden, zu denen sie sich entwickelte, ist zur Kontrollinstanz geworden, die den freien, ungegängelten, nicht schon dressierten Gedanken ahndet und vom Geist nichts duldet als das methodologisch Approbierte. Wissenschaft, das Medium von Autonomie, ist in einen Apparat der Heteronomie ausgeartet. […] Denken, das offen, konsequent und auf dem Stand vorwärtsgetriebener Erkenntnis den Objekten sich zuwendet, ist diesen gegenüber frei auch derart, daß es sich nicht vom organisierten Wissen Regeln vorschreiben läßt.« (GS 10/2: 468)

Der Erfahrung soll ein höherer Stellenwert zukommen. Für Adorno ist Kunst, die Erfahrung ermöglicht wahr, denn sie hebt die Verdinglichung auf. Das von ihm geforderte Denken »kehrt den Inbegriff der in ihm akkumulierten Erfahrung den Gegenständen zu, zerreißt das gesellschaftliche Gespinst, das sie verbirgt, und gewahrt sie neu. […] Wovon die philosophische Phänomenologie träumte, wie einer, der zu erwachen träumt, das »Zu den Sachen«, könnte einer Philosophie zufallen, die […] die subjektiven und objektiven Vermittlungen mitdenkt […].« (GS 10/2: 468 f.)

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Ebd.: S. 120

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II.

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Die Suche nach neuen Formen politischer Wirkungsmöglichkeit ist für Jean-François Lyotard zentral. Wie Kritik in der postmodernen Ära verstanden werden könnte, ohne die Irrtümer von Marx und Hegel zu wiederholen, kann als eine der seine Philosophie prägenden Grundfragen gelten. Bei der Diagnose seiner postmodernen Gegenwart kommt er im Besonderen zwei Punkte betreffend zu einer Adorno vergleichbaren kritischen Perspektive: So legt er in La condition postmoderne zwei grundsätzliche Kritikpunkte am Wissen dar: Erstens stellt sich vor dem Hintergrund seiner Analyse des Kapitalismus die Frage nach der Funktion des Wissens in der Gesellschaft neu; zweitens kritisiert er die ungerechtfertigte Dominanz einer Wissensform über alle anderen, wodurch die Frage nach der Funktion des Wissens eine ethische Grundierung erhält. In diesem Zusammenhang wurde von zwei Gegnern Lyotards gesprochen: dem äußeren, dem ökonomischen, und dem inneren, dem akademischen Diskurs. 18 Die Veränderung der Rolle des Wissens habe zudem Auswirkungen auf die Qualität des Wissens, das zunehmend durch Technifizierung normiert werde. Technische Kompatibilität ist Voraussetzung dafür, dass Wissen als solches verwertet werden kann. Die Sprache werde daher hinsichtlich des Anwenderkreises exklusiver. Lyotards Auffassung, dass in der Informationsgesellschaft Wissen in Form von Information ebenso zur Ware werde wie alle anderen Konsumgüter, macht seine Nähe zur Position der zweiten Generation der Frankfurter Schule deutlich. Zunehmende Abstraktion und damit Entfremdung kennzeichnet seiner Auffassung nach den Umgang mit dem Wissen, wobei Entfremdung, wie er betont, in diesem Kontext als rein gesellschaftsimmanente Kategorie zu verstehen sei. 19 Auch mit der Frage der Wahrheit setzt sich Lyotard auseinander. Vom Kriterium der Effizienz dirigiert und dominiert, werde die Frage nach Wahrheit in der Informationsgesellschaft zunehmend problematisch. Wer an der Macht ist, besitze die Mittel und die Technik der Beweisführung und damit auch die Macht, die Wahrheit auf seine

Vgl. Francis Guibal: »Penser (avec Jean-François Lyotard). Le temps du risque«, in: Témoigner du différend … quand phraser ne se peut. Autour de Jean-François Lyotard, hrsg. v. Pierre-Jean Labarrière, Paris 1981 : 11–58. 19 Vgl. Jean-François Lyotard: »Notes sur le Retour et le Capital«, in: Ders.: Des dispositifs pulsionnels, Paris 1994 : 215–227, hier 220. 18

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Seite zu bringen. Die Frage nach Entscheidungskriterien stelle sich daher dringlicher als je zuvor. Die Forderung, operationell zu sein oder zu verschwinden, bedrohe alle dem Effizienzkriterium inkommensurablen Sprach- und Lebensformen. Lyotard begegnet dieser Gefährdung jedoch anders als Adorno. Er entwickelt als »Gegengift« die Idee des postmodernen Wissens. Dieses zeichnet sich seiner Definition nach durch Vielfalt und Kreativität aus und korrespondiert mit der Vorstellung einer systemsprengenden narrativen Vielfalt. Diese ist als instabil und radikal individuell gedacht. Da ihre Normierbarkeit begrenzt ist, kann sie als Gegenmodell zum Funktionalismus der dem System kompatiblen modernen Wissenschaften dienen. Statt Effizienz soll Differenz in der postmodernen Welt das Wissen legitimieren, Paralogie die große Erzählung ersetzen. Auf Gerechtigkeit, Schönheit und Glück ausgerichtete Wissensformen, also traditionell der Ethik und der Ästhetik zugehörige Bereiche, erfahren gegenüber dem empirisch überprüfbaren Wissen eine Aufwertung. Erzählen ist als Zeugnis-Ablegen zu verstehen. Als Fülle kleiner Erzählungen stelle sich Geschichte in der geänderten Narrationspraxis in neuem Licht dar. Durch die wolkenähnlichen Zusammenballungen erfundener, gehörter, berichteter oder gespielter Erzählungen werde die Macht des Staates als einer erzählenden und sinngebenden totalitären Instanz gebrochen. Viele Geschichten zu erzählen, sei eine Form spielerischer Machtausübung, die das Ziel der Intellektuellen sein solle. 20 Lyotard strebt damit ein radikales Umdenken an. Vor allem solle die Unterdrückung des Körperlichen, des Sinnlichen – er nennt hier besonders das Ohr – korrigiert werden. Der Alternative zwischen einer für ihn praxisfernen Kritik und unkritischem Funktionalismus versucht Lyotard, einen dritten Weg entgegen zu setzen. 21 Dabei nimmt er von Dialektik Abstand, was auch vor dem Hintergrund der Frage nach Gerechtigkeit zu sehen ist. Während sich in der Kommunikationsordnung der Wissenschaften die Ungleichheit zwischen Wissenden und Nichtwissenden im hierarchisch geordneten Gesellschaftsgefüge verfestigt, steht in seinem narrativen Modell die Austauschbarkeit der Erzählerfunktion im Vordergrund. Die Möglichkeit des Erzählerwechsels lässt das narrative Wissen als Korrektiv der großen Erzählung erscheinen, wobei die Rolle des Erzählers vor allem 20 21

Vgl. Ders.: Instructions païennes, Paris 1977: 39. Vgl. Ders.: La condition postmoderne, Paris 1979: 29.

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gesellschaftlichen Außenseitern zukomme. 22 Selbstkritik der Kritik zum Programm zu machen, wie Adorno es fordert, ist aus Lyotards Sicht unmöglich, weil für ihn die Position, die die Kritik gegenüber ihrem Gegenstand einnimmt, immer auch eine autoritäre ist, »Negativität als Macht«, und deshalb abzulehnen. 23 Das dem System inhärente kritische Potential wahrzunehmen und affirmativ zu bestärken, ist die Strategie, die er anstrebt, um das Bestehende zu verändern. Entscheidend ist, dass die Flexibilität der Narrationspraxis verschiedene Standorte des Subjekts erlaubt. 24 Der Kunst weist auch Lyotard eine wichtige Funktion zu. Da er letztlich einen Weg sucht, dem allumfassenden Funktionalismus zu entkommen, sind ihm jene Bereiche wichtig, wo das Unbekannte, nicht Planbare und Paradoxe im Zentrum steht: die Wissenschaften und die Kunst, soweit sie auf Entdeckung des Neuen ausgerichtet sind und sich Innovation im Sinne von kalkuliertem Fortschritt, Effizienzdenken und Positivismus widersetzen. Vielfalt entstehe, wo Widerspruch und Sensibilität für das Inkommensurable vorhanden seien. Den experimentellen Künsten kommt dabei ein entscheidender Stellenwert zu: Praktiken des Happening und der entmusikalisierten Musik, Formen des Sit-in und Sit-out, der Reise und der Light Shows. Lyotard betont auch die Wichtigkeit von sexuellen Befreiungsbewegungen, Okkupationen, Squattings, Produktion von Klängen, Wörtern und Farben ohne die Absicht, Werke zu schaffen. Anderes und anders zu produzieren sei Ziel. 25 Wie Adorno ist Lyotard davon überzeugt, dass sich Kunst und Wissenschaft gegen im Dienst der etablierten Machtverhältnisse stehende Rationalität und Konsum richten wie auch gegen Aufklärung im Sinne von alles erleuchtender Helle. Kunst diene nicht der Repräsentation, sondern stehe in destruktivem Spannungsverhältnis zur repräsentativen Ordnung. Damit wird sie zu einer anarchischen Haltung verpflichtet, in der der künstlerische Energiefluss dem der Systemenergie gleicht, ohne allerdings den systemerhaltenden Normierungen zu folgen. Der hohe Stellenwert der Kunst für den Entwurf einer gesellschaftskritischen Sicht ist beiden Philosophen gemeinsam und dient Vgl. Ders.: Instructions païennes (Anm. 20): 34 f. Vgl. Ders.: Adorno come diavolo, in: Ders.: Des dispositifs pulsionnels (Anm. 19): 99–113, hier 110. 24 Vgl. Ders.: Instructions païennes (Anm. 20): 47. 25 Vgl. Ders.: Capitalisme énergumène, in: Ders.: Des dispositifs pulsionnels (Anm. 19): 21–56, hier 52. 22 23

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letztlich einem politischen Ziel. Dieses kann als Einsatz für Gerechtigkeit auf den Punkt gebracht werden. Zu betonen ist dabei, dass mit der zunehmenden Bedeutung von Kunst eine Veränderung des Politikverständnisses einhergeht, die Lyotards politische Philosophie letztlich in Kunstphilosophie übergehen lässt: Auseinandersetzung mit Kunst wird zur Grundlage der philosophischen Suche nach Gerechtigkeit. 26 Diese Perspektive weiter zu entwickeln, scheint vordringliche Aufgabe zu sein, wenn man über Musik und Kritik im Anschluss an Adorno nachdenkt. Richard Klein hat anhand von Nietzsches Wagnerkritik die Herausforderung der Idee einer Gegenwart angesprochen, die mehr sein könne als ein Modus der Zeit: »kein übergeschichtliches Ideal, aber auch keine Position im Schema der Zeit«. Der Kunst jeglichen Wahrheitsgehalt zugunsten eines pluralistischen postmodernen Relativismus abzusprechen, sei demgegenüber nahezu eine Kapitulation: »Am Ende lässt Nietzsches Wagnerkritik einen Diskurs schlecht aussehen; der für das Besondere der Kunst Partei ergreift, indem er dessen ›Partialität‹ so sehr verinnerlicht, dass sich ihm die Frage, was dieses Besondere denn von (den Spannungen) der Welt mitteilt, aus der es hervorgegangen ist und in der es wahrgenommen wird, schon gar nicht mehr stellt. Wiewohl es unserem Kritiker misslingt, den Weltgehalt seines Gegenstandes von dessen musikalischen Kategorien her einsichtig zu machen, erinnert der kulturpolitische Furor, mit dem er dies alles tut, gleichwohl daran, dass die Form eines Kunstwerks Form eines Inhalts ist und dass die Aufgabe der Philosophie darin besteht, solchem Inhalt einen Sprache zu geben; wie entstellt und verfremdet er auch sein mag. Diese Erinnerung ist heute vonnöten, wird doch zunehmend ein Modell ästhetischer Autonomie gepflegt, dessen versonnene Indifferenz niemanden und nichts bedroht und das aus der Tatsache, dass sich die militante geschichtsphilosophische Avantgarde bis auf Weiteres eine Karenzzeit verdient hat, das Recht ableitet, philosophische und soziale Kritik von Werken überhaupt aus der Ästhetik zu verbannen.« 27

Die Frage, wie eine kritische Dimension der Kunst erfahren und zur Sprache gebracht werden könnte, zieht die Frage nach dem Verständnis von ästhetischer Erfahrung nach sich. Eine Brücke zwischen Kritik und ästhetischer Erfahrung schlug Marcus Steinweg, indem er Vgl. Olivier Dekens: Lyotard et la philosophie (du) politique, Paris 2000: 73. Klein: »Die Geburt der Musikphilosophie aus dem Geiste der Kulturkritik« (Anm. 10): 33.

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Adornos Ästhetische Theorie auf das Verhältnis von Transzendenz und Immanenz befragte. Bei Adorno stehe der utopische Gehalt des Kunstwerks, Schauplatz der Vermittlung von Immanenz und Transzendenz, im Zentrum. Dieser zeige sich dem Subjekt in der Relation des Kunstwerks zur Welt. Der »Affront der etablierten Realität«, den das Kunstwerk beinhalte, resultiere aus einer »Umbelichtung des Vertrauten«, »die, wenn sie auch nicht ihre Substitution durch eine zweite ganz andere Welt ist, ein radikal verändertes Verhältnis zu ihr freisetzt, ein Unruheverhältnis, eine Art Fieber, die dem Subjekt die Unvertrautheitsanteile seiner Wirklichkeit offenbart«. 28 Auf die Bedeutung von Transformationsprozessen wies auch Philip Ursprung hin. In multimedialer experimenteller Kunst werde, indem Hintergrund und Form in Wechselbeziehung treten, die Aufmerksamkeit auf die »Möglichkeiten der Transposition zwischen den verschiedenen Medien« gelenkt. 29 Was hier ins Zentrum der Aufmerksamkeit tritt ist nichts anderes, als dass ästhetische Erfahrung eindimensionale Festschreibungen von Sinn unterläuft. Bildlichkeit verstanden als eine Form von Sprachlichkeit, die auf das Nichtsagbare zielt, »ist nicht auf das materiale Artefakt des Gemäldes oder auf entsprechende elektronische Erzeugermedien beschränkt«, sondern »öffnet sich erst, wenn die prädikative Logik beziehungsweise die Logik der Abbildung an ihre Grenzen getrieben wird«. 30 Wie Ursprung erläutert, basiert jede Form, in der sich Sinn artikuliert, auf einem energetischen Fond, steht in Wechselwirkung mit einem strukturell nicht identischen Hintergrund. Dieser kann in Anknüpfung an Jean Clam auch als »Resonanzgrund«, der in den Formen nachhallt, bezeichnet werden. Wenn »Zwischenräume und Übergänge, die in ihrer Dynamik aller Formgebung entzogen bleiben, sich zeigen« werden aisthetische Formen der Wahrnehmung aktiviert. Dies geschieht »augenblicklich«, wobei Simultaneität »nicht als Gegensatz zur Prozessualität des Wahrnehmens, sondern als ihre Komplementärform« zu verstehen ist. Die Wahrnehmung schreitet sukzessive von einer Figur zur Marcus Steinweg: »Kunst zwischen Immanenz und Transzendenz«, in: Das Versprechen der Kunst. Aktuelle Zugänge zu Adornos Ästhetischer Theorie, hrsg. v. Marcus Quent u. Eckhardt Lindner, Wien/Berlin 2014: 257–265, hier 263 29 Philip Ursprung: »›Experimentelle Kunst ist niemals tragisch‹. Kunst und Leben seit den 1960er Jahren«, in: Ausweitung der Kunstzone. Interart Studies. Neue Perspektiven der Kunstwissenschaften, hrsg. v. Erika Fischer-Lichte, Kristiane Hasselmann u. Markus Rautzenberg, Bielefeld 2010: 91–110, hier 50. 30 Ebd.: S. 52 28

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nächsten voran, um dann »die separaten Partien auf das offene Ganze des Resonanzgrunds zurückzubeziehen«: »die eben noch mit ›Sachen‹ assoziierten Flächen werden von distinkten Bedeutungseinheiten zu dynamischen Übergängen aus Linien und Farben. Durch ihre um sich greifenden Verbindungen entsteht ein prozesshaftes Kontinuum omnipräsenter Resonanzen. Das aufleuchtende ›Ganze‹, das sich auf diese Weise zeigt, bis die Wahrnehmung wieder in die Sukzession zurücksinkt, gibt in seiner versammelten Fülle gerade ›nichts zu sehen‹.« 31 Den Fokus auf Bildlichkeit zu setzen heisst demnach, »nach einem Umgang mit Sprache zu fragen, der propositionale Strukturen verflüssigt und ihr ausgeschlossenes Anderes freilegt; einem Sagen, das nicht nur feststellt, wie die Dinge sind, sondern Situationen provoziert, in denen die Modalitäten ihres Erscheinens selbst sich zeigen«. 32 Hat Ursprung bei dieser Darstellung der ästhetischen Sprachlichkeit auch nur Bild- und Wortsprache im Visier, ist sie auch für musikalische Sprachlichkeit charakteristisch, weist sie doch auf die verändernde Perspektive auf die Welt hin, die die Kunst bietet. Die von Ursprung erwähnte Plötzlichkeit und Dynamik der ästhetischen Erfahrung hat auch Hans Ulrich Gumbrecht, ausgehend von einer Parallele zwischen Natur- und Geisteswissenschaften, in den Blick genommen und mit dem Begriff der Emergenz zu fassen versucht. »Statt auf sich anbiedernde Komplementarität möchte ich deshalb auf eine – meines Wissens kaum je bemerkte (oder gar analysierte) Parallele zwischen Naturwissenschaften und Geisteswissenschaften in unserer Gegenwart setzen. Ich möchte behaupten, dass das Paradigma ›Emergenz‹ heute auch in den Geisteswissenschaften eine zunehmend gewichtige Rolle spielt, und zwar im Kontext einer Umorientierung von Sinn-Identifizierung (Interpretation, Hermeneutik) hin zu Fragen, welche mit Sinn-Emergenz – auf transzendentaler und auf historisch spezifizierender Ebene – zu tun haben.« 33

Die Aktualität der geisteswissenschaftlichen Methode könnte mit Gumbrecht in der Fokussierung von »Emergenz« gesehen werden: zwischen Konstruktivismus und Ontologie zu vermitteln, indem »Form-mit-Substanz-als Ereignis« in seiner Präsenz gedacht wird.

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Ebd.: S. 55 Ebd. Hans Ulrich Gumbrecht: Präsenz, Frankfurt a. M. 2012: 142

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Emergenz entscheide sich von Entwicklung, weil es nicht um Veränderung, sondern um Erscheinung eines Phänomens gehe: »›Emergenz‹ weist die Fragen nach Ursprung und Ziel solchen Heraufkommens ab. ›Emergenz‹ ist nicht bewirkt von einem handelnden Subjekt. Was immer emergiert, ist Substanz und wird deshalb präsent, und zugleich hat es in jedem Augenblick eine (in beständiger Veränderung befindliche) Form. Was emergiert, ist unvermeidlich, wie man in der Medizin sagt, ein ›raumfordernder Prozess‹.« 34

Emergenz führt von Werkexegese zur Interpretation des sich Zeigenden. Kategorien wie Stimmigkeit, Wahrheit und Sinn werden aus dieser Sicht in neuer Weise dynamisiert und aktualisiert. Auf den transformierenden dynamischen Charakter der ästhetischen Erfahrung rekurriert auch Steinweg, wenn er von der »Blindheit des Formgefühls« spricht, die von Adorno der Reflexion von außen gegenübergestellt wird. Anna Danilina charakterisiert die spezifische Erkenntnis, die Kunst eingeschrieben ist, als Transzendierung: »als ein je spezifischer Vollzug, in dem etwas gegebenes transzendiert, also auf Unbestimmtes hin überschritten wird«. 35 Ästhetische Erfahrung definiert sie dementsprechend als »die durch […] Kunst ermöglichte Verrückung der Wahrnehmungsstruktur«. 36 Alle diese Beschreibungen der ästhetischen Erfahrung verweisen auf die mimetische Verhaltensweise, die Adorno zufolge dem Kunstwerk eingeschrieben ist und auch dessen Rezeption prägt. In der philosophischen Auseinandersetzung mit Adorno hat sie unterschiedliche Deutungen erfahren. Dass bei Adorno Kunst als Verhaltensweise konzipiert ist und damit als Form von Praxis, hat beispielsweise Michael Hirsch betont, wobei er das kontemplative Verhalten zu den Dingen »als das Modell richtigen Verhaltens« versteht, das in der geistigen und künstlerischen Arbeit modellhaft und zukunftsweisend verwirklicht sei. Für ihn liegt die politische Dimension der Kunst darin, dass das künstlerische Schaffen selbst ein antikapitalistisches Verhalten darstelle. Zugleich überschreitet er die Grenzen der Kunst: ästhetische Betrachtungsweise der Dinge fungiere als Vorwegnahme des richtigen Lebens. »Das kontemplative Verhalten ist bestimmte Negation desjenigen ›normalen‹ Verhaltens, zu dem wir üblicherEbd.: 14 Anna Danilina: »Kunst, Gesellschaft und Erfahrung. Die ästhetische Form als Kritik«, in: Das Versprechen der Kunst (Anm. 28): 41–65, hier 49. 36 Ebd.: 63 34 35

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weise angehalten werden. Es hat deswegen einen utopischen Überschuss.« 37 Mag man der prinzipiellen Charakterisierung der Funktionslosigkeit der Kunst als notwendig anderes Verhalten auch zustimmen, erscheint doch der Raum des Politischen, der sich hier als nonverbaler Praxisraum auftut, ungenügend: einerseits zu sehr a priori definiert und andererseits in die Sprachlosigkeit verbannt. Im Unterschied zu solch rein praktischen Ansätzen von Kritik, wie sie auch Lyotard ansatzweise skizziert, ist dagegen der Gedanke einer Verbindung von Immanenz und Transzendenz geltend zu machen, hat doch Adorno selbst auf die Notwendigkeit der Reflexion und damit der begrifflichen Durchdringung der Kunsterfahrung verwiesen und diese Aufgabe der Philosophie zugedacht. Jan Völker brachte das unlängst wie folgt auf den Punkt: »Kunst benötigt Philosophie zwar als Interpretation, jedoch als solche, die den in der Kunst nicht begrifflich erfassten Wahrheitsgehalt aufzuheben und vermittelt darzustellen vermag.« 38 Verbalisierung des in der Kunst mimetisch-sinnlich und daher begriffslos Erkannten kann daher als Aufgabe von transzendenter Kritik angesehen werden. Dabei muss die Schnittstelle zwischen Kunst und Welt zur Sprache kommen. In Anschluss an Ferdinand Zehentreiter 39 kann dazu festgehalten werden, dass ein Werk, von dem man sich angesprochen, berührt fühlt, etwas beinhaltet, das die Welt des Rezipienten mit der des Kunstwerks verbindet: dass es auf nonverbaler oder präverbaler Ebene eine geteilte Welterfahrung zum Ausdruck bringt. Nochmals ist zu betonen, dass es eine nicht begriffliche Erfahrung ist, die das Kunstwerk und den Rezipienten verbindet. Diese kann auch als eine Erinnerung an etwas bereits Bekanntes in neuer, oft auch künstlerisch radikalisierter Form charakterisiert werden. Was genau erinnert oder neu erfahren wird, ist allerdings vielfältig und individuell und nicht a priori festzulegen. Wie viele Kommentatoren sieht auch Zehentreiter ästhetische Erfahrung in

Michael Hirsch: »Funktionen der Funktionslosigkeit. Ästhetischer und politischer Messianismus nach Adorno«, in: Das Versprechen der Kunst (Anm. 28): 67–86: 74 38 Jan Völker: »Aufgabe und Elend der Philosophie«, in: Das Versprechen der Kunst (Anm. 28): 87–116, hier 91. 39 Ferdinand Zehentreiter: »Sensory Cognition as an Autonomous Form of Critique. Reflexions on Redefining a ›critical Theory of art‹«, in: Critical Composition Today, hrsg. v. Claus Steffen Mahnkopf, Hofheim 2006: 43–61 37

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Musik und Kritik nach Adorno

Hinblick auf die Ergänzung der Erkenntnis um die sinnliche Erfahrung als kritisch per se. Will man allerdings nicht Adornos philosophische Zeitdiagnose dem kritischen Gehalt der Kunst zugrunde legen, sondern seinen Kritikbegriff weiterführen, sollte darüber hinaus jedoch eine Präzisierung des jeweiligen kritischen Gehaltes der Kunst vorgenommen werden. Dafür ist entscheidend, dass Rezipient und Werk ein gemeinsames Interesse teilen. Dadurch, dass es geteilt wird, ist es nicht nur individuell vorzustellen, sondern erhält überindividuelle Bedeutung. Wird ein solch geteiltes Interesse zur Sprache gebracht, wächst der Kunst eine kritische Dimension zu, die mit Hannah Arendt als eine politische verstanden werden kann. Denn für Arendt ist es nicht das Genie, sondern der Rezipient, der das Werk in die kollektive Debatte einbringt und damit dessen Wert für die menschliche Gemeinschaft begründet. 40 Mit Arendt zeichnet sich hier demnach ein Weg ab, der sowohl der Individualität und Vielheit als auch der Allgemeinheit der ästhetischen Erfahrung und ihrer spezifischen politischen Wirkungsform Rechnung trägt. Auch Gumbrecht sieht ästhetische Erfahrung zugleich als individuell und doch allgemein an. Die daraus resultierende Komplexität ins kollektive Bewusstsein einzubringen, stellt sich für ihn als essentielle Herausforderung für die Geisteswissenschaften heute dar. Unsere »breite Gegenwart« zeichne sich durch Omnipräsenz der Vergangenheit aus: »In den bis in unsere Gegenwart folgenden Jahrzehnten hat sich dann eine neue […] Konstruktion von Zeit als Prämisse aller Erfahrungsbildung anstelle des historischen Weltbildes etabliert. Statt Vergangenheit beständig hinter uns zu lassen, werden wir im neuen Chronotop von Erinnerungen und Gegenständen aus der Vergangenheit überflutet. […] Statt uns in die Zukunft als einen offenen Horizont der Möglichkeiten zu bewegen, kommt Zukunft heute als vielfach bedrohende auf uns zu. Zwischen der Zukunft endlich, die uns bedroht, und der Vergangenheit, die uns überflutet, ist aus der kaum wahrnehmbaren kurzen Gegenwart eine sich immer stärker verbreiternde Gegenwart der Simultaneitäten geworden.« 41

Vgl. Susanne Kogler: »Autorschaft, Genie, Geschlecht. Einleitende Überlegungen zum Thema«, in: Autorschaft, Genie, Geschlecht. Musikalische Schaffensprozesse von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart, hrsg. v. Kordula Knaus u, Susanne Kogler, Köln (u. a.) 2013: 9–22. 41 Gumbrecht: Unsere breite Gegenwart, Berlin 2010: 104 f. 40

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Susanne Kogler

Mit dem noch namenlosen neuartigen Zeitempfinden geht, wie Gumbrecht an der Universität beobachtet hat, ein neues Verständnis der Klassiker einher. »Ganz unproblematisch gehören die Klassiker und zumindest die Möglichkeit, zur Form des Kanons zurückzukehren, zu den Elementen dieser heterogenen Sphäre der Simultaneität. […] Im neuen Chronotop ist die absolute Dynamik der ›geschichtlichen‹ Zeitbewegung und ohnehin die Dynamik der Zeitbeschleunigung abgeschwächt und inzwischen vielleicht schon in Stagnation umgeschlagen. Das macht unseren Umgang mit den Klassikern entspannter, weil ihre unmittelbare Sagkraft nun nicht mehr bedroht ist – und auch nicht mehr die Ausnahme bleibt. Im neuen Chronotyp sind die Gegenstände der Vergangenheit mit wahrhaft verwirrender Vielfalt präsent und müssen nicht gegen das Vergessen bewahrt und durchgesetzt werden.« 42

Die Lesart der Klassiker, die Gumbrecht an seinen Studierenden beobachtet, ist mit einer »existentialistischen Perspektive« verbunden, die er wie folgt charakterisiert: »Wir beziehen die Begriffe, Bilder und Szenen aus den klassischen Texten nicht mehr selbstverständlich auf Probleme ›der heutigen Gesellschaft‹ oder gar auf Probleme ›der Menschheit an sich‹, sondern setzen sie in vielfache Beziehungen zu Situationen und Herausforderungen des individuellen Lebens. Nicht in Beziehung zu Situationen und Problemen unseres je eigenen Lebens, sondern in Beziehung zu typischen Herausforderungen des Lebens, die vielen Lesern vertraut sind.« 43

Für Gumbrecht besteht die Rolle der Geisteswissenschaften wie der Universität insgesamt darin, sich für eine Überproduktion von Komplexität einzusetzen. Diesen Zweck teilten die klassischen Naturwissenschaften mit den Geisteswissenschaften: »Wir könnten in diesem sehr spezifischen Kontext sagen, dass wir, anstatt den Geisteswissenschaften (und den klassischen Naturwissenschaften) praktische Funktionen zu übertragen, zunächst einmal betonen sollten, dass ihre tatsächliche Berufung die Produktion von Komplexität ist, und zweitens darauf bestehen, dass die Produktion von Komplexität die eine Kernfunktion von Universitäten ist.« 44

42 43 44

Ebd.: 105. Ebd.: 107 f. Gumbrecht: Präsenz (Anm. 33): 164 f.

220 https://doi.org/10.5771/9783495808221 .

Musik und Kritik nach Adorno

Ziel sei, die Studierenden »in der Konfrontation mit der Komplexität zu bestärken«. 45 Aus Gumbrechts Sicht ist eine solche Auseinandersetzung mit Kunst unpolitisch. Mit Hannah Arendt kann es als politische Aufgabe angesehen werden, die individuelle ästhetische Erfahrung zur Sprache zu bringen und in der Komplexität der breiten Gegenwart zu diskutieren. Mit ihr gewinnt Lyotards Gedanke der narrativen Vielfalt im Hinblick auf Kunstrezeption politische Relevanz. Dabei ist es entscheidend, Beziehungen zu stiften. Denn der von Arendt konzipierte Zugang zum Politischen unterscheidet sich von wissenschaftlicher Objektivität darin, dass letztere einen distanzierten Standpunkt außerhalb des Gegenstandes einnimmt. Arendt spricht dagegen von Unparteilichkeit, was meint, dass der Standort des Betrachtenden der des Zusammenhänge Stiftenden sei. Es geht darum, so Karl-Heinz Breier, »den Erscheinungsraum selbst von innen her auszuleuchten, indem das Verhältnis der unterschiedlichen Standorte und Blickwinkel untereinander ins öffentliche Gespräch gebracht wird.« 46 Nach Arendt kann den Phänomenen nur entsprochen werden, wenn wir sie »in ihren Bezügen in Erscheinung treten lassen«. 47 Als politisch Handelnde wirken wir auch unserer eigenen Entfremdung entgegen. In Vita activa oder Vom tätigen Leben führt Arendt aus, dass wir uns durch solche politische Tätigkeit als lebendige gestaltungsfähige Wesen erfahren. »Es gleicht einer zweiten Geburt, wenn wir uns handelnd in die Welt einmischen. Mit unserer leiblichen Geburt treten wir in die Natur ein, mit unserem Handeln bahnen wir uns einen Weg in die Welt.« 48 Politisch zu handeln bedeutet auch, der Welt gegenüber Verantwortung zu übernehmen. »Im Politischen zeigen sich die unterschiedlichen Sichten auf die Welt, und sie können sich nur eröffnen, wenn handelnde und sprechende Menschen in all ihrer Pluralität dafür Sorge tragen, einen Handlungs-, Urteils- und Erinnerungsraum zu gründen und zu bewahren, der den menschlichen Fähigkeiten Raum gibt, ja der es den Menschen ermöglicht, als politische Wesen in Erscheinung zu treten. Jenseits aller Notwendigkeit entfaltet sich das Politische, wenn es Räume, Einrichtungen, Institutionen gibt, in denen sich Menschen als weltorientierte Bürger, denen an der Qualität ihrer Welt sowie an der Qualität ihrer Bezüge untereinander gelegen ist, verbinden können.« 49 45 46 47 48 49

Ebd. Karl-Heinz Breier: Hannah Arendt zur Einführung, Hamburg 22001: 14 Ebd.: 14 Ebd. Ebd.: 81

221 https://doi.org/10.5771/9783495808221 .

Susanne Kogler

Der politische Raum ist ein Raum der Freiheit, der Herrschaftslosigkeit. In ihm verbinden sich Gleiche. Eine Möglichkeit der Verbindung von Musik und Kritik könnte in einem solchen Sinne darin liegen, auf Basis der ästhetischen Erfahrung als gesellschaftlich relevant erachtete künstlerische Positionen vergleichend zur Sprache zu bringen und damit den Raum des Politischen um sinnliche Erfahrungen zu ergänzen. Im Sinne von Gumbrechts Gedanken einer Steigerung von Komplexität könnte dies auch eine Aufgabe der universitären Musikwissenschaft sein. Die Herausforderung für die Musikwissenschaft liegt nicht zuletzt dabei darin, die den Werkkanon prägende Vorstellung von Autonomie zu überdenken. Aus Sicht der Philosophie zeichnet sich hier eine Verbindung von kommunikationsorientierten kritischen Positionen wie etwa der von Jürgen Habermas und jenen poststrukturalistischer Denker ab, die wie beispielsweise Lyotard die Präsenz des Unaussprechbaren betonen. Denn es wird deutlich, dass beiden der politische Raum als Ort vielfältiger Kommunikation ein wesentliches Anliegen ist.

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Personenregister

Abbate, Carolyn 154, 158 Albert Roussel 105–106 Aragon, Louis 127 Arendt, Hannah 202, 219, 221 Aristoteles 13, 21–23 Arnheim, Rudolf 102 Assmann, Jan 161 Augustinus, Aurelius 61 Bach, Carl Philipp Emanuel 39 Bach, Johann Sebastian 33, 38, 76 Bachelard, Gaston 108 Bartók, Béla 122 Bartsch, Rudolf Hans 128 Bauer-Lechner, Nathalie 125 Beethoven, Ludwig van 15–20, 22– 34, 36–39, 41–45, 47–48, 50–53, 55–60, 62–63, 65–76, 119–120, 123–124, 126, 129–131, 143, 147, 150–151, 155 Benjamin, Walter 13, 35, 71, 127, 152, 191, 203, 209 Bent, Ian D. 163, 168 Berg, Alban 34, 102, 122, 135, 151 Berger, Karol 38 Bertés, Heinrich 128 Blume, Friedrich 126–127, 140 Boehmer, Konrad 113 Bonacker, Thorsten 118 Borgdorff, Henk 199 Borges, Jorge Luis 114 Borio, Gianmario 174 Boulez, Pierre 110–111, 113, 116– 117, 175 Bourdieu, Pierre 91, 96 Bowie, Andrew 200

Brahms, Johannes 105–106, 126 Braudel, Fernand 97 Breier, Karl-Heinz 221 Brendel, Alfred 125 Brinkmann, Reinhold 38–39 Brotbeck, Roman 104 Bruckner, Anton 45 Brunkhorst, Hauke 209–210 Bubner, Rüdiger 152, 187 Büchner, Georg 131 Burke, Edmund 75 Busse Berger, Anna Maria 161 Cadenbach, Rainer 104 Calella, Michele 156, 161–162 Callela, Michele 199 Canguilhem, Georges 109 Carroll, Noel 102 Cavallotti, Pietro 163 Celestini, Federico 161 Chafe, Eric T. 104 Cicero 185 Clam, Jean 114, 215 Clarke, Timothy J. 100 Cook, Nicholas 46 Cornelius, Hans 122 Czolbe, Fabian 163 Dahlhaus, Carl 25–26, 34, 42, 52, 65, 73–74, 101, 118, 124, 153 Danilina, Anna 217 Danuser, Hermann 150, 153, 155, 159 Debussy, Claude 104–106 Dekens, Olivier 214 Derrida, Jacques 161

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Personenregister Descartes, René 64 Dibelius, Ulrich 123, 129 Diderot, Denis 104 Dierks, Sonja 166 Doležel, Lubomir 116 Durkheim, Emile 92 Dürr, Walther 125, 133 Dutilleux, Henri 112 Duve, Thierry de 100 Eggebrecht, Hans Heinrich 63 Eisler, Hanns 122 Enescu, George 105–106 Ernst, Wolfgang 102, 108 Essl, Karlheinz 111 Ette, Wolfram 21–22 Fahlbusch, Markus 132 Fellow, John 106 Ferneyhough, Brian 116 Fischer-Lichte, Erika 154 Foerster, Heinz von 115 Foucault, Michel 100, 104, 107, 109, 111, 114 Friedrich, Caspar David 126–127, 131, 140, 142 Friedrich, Lars 107 Fuhrmann, Manfred 21 Fuhrmann, Wolfgang 38–39, 164 Galison, Peter 112 Geck, Martin 31 Georgiades, Thrasybulos G. 38, 134 Gervais, Françoise 105 Goethe, Johann Wolfgang von 131, 133, 191 Goeyvaerts, Karel 173–174 Gold, Matthew K. 199 Goody, Jack 161 Gould, Steven Jay 112 Grüny, Christian 57 Guibal, Francis 211 Gülke, Peter 33, 49, 54, 123, 133–134, 147 Gumbrecht, Hans Ulrich 154, 158, 160, 170, 202, 216, 219–222

Haas, Georg Friedrich 199 Haas, Max 161 Habermas, Jürgen 80, 87–92 Hagmann, Peter 199 Halm, August 51 Hamacher, Werner 145 Hanslick, Eduard 188 Harnoncourt, Nikolaus 126 Havelock, Eric A. 161 Haydn, Joseph 38–39, 43–44, 129 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 13– 14, 16, 20, 23, 26, 41, 47–48, 108, 117, 190, 211 Heidegger, Martin 21, 103 Heile, Björn 100 Heine, Heinrich 142 Hentschel, Frank 156 Hepokoski, James 105 Hilmar, Ernst 124 Hindrichs, Gunnar 189 Hinrichsen, Hans-Joachim 34, 43, 71, 73–75, 120, 124–125, 132, 136, 150, 166 Hirsch, Michael 217–218 Hoffmann, E. T. A. 131 Holtmeier, Ludwig 34, 102 Honegger, Arthur 112–113 Hubig, Christoph 108 Hughes, Everett C. 93 Humboldt, Wilhelm von 148 Husserl, Edmund 61, 67, 122 Iddon, Martin 173 Jankélévitch, Vladimir 154, 158 Janz, Tobias 154, 157 Jimenez, Marc 200 Jolivet, André 105, 110–114 Kaden, Christian 164–165 Kalitzke, Johannes 200 Kant, Immanuel 24, 100, 117, 148, 173, 175–176, 178–191, 195–196 Kapp, Reinhard 155, 166 Kaufmann, Harald 201 Kierkegaard, Sören 47 Kittler, Friedrich 107

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Personenregister Klein, Richard 18, 34–35, 58, 60, 66, 150, 155, 157, 159, 166, 188, 200, 202, 206, 214 Kluge, Alexander 201 Klumpenhouwer, Henry 102 Koch, Heinrich Christoph 65 Kogler, Susanne 219 König, René 81 Koselleck, Reinhart 39 Kracauer, Siegfried 102 Krämer, Sybille 157, 160–164, 168– 169 Kreidler, Johannes 105, 117, 193 Kreis, Guido 60, 202 Krenek, Ernst 71, 136 Kretschmar, Dirk 100 Kreuzer, Johann 155, 166 Kurth, Ernst 102 Kurtz, Michael 173 Kusch, Martin 117

Meder, Norbert 102 Mendelssohn Bartholdy, Felix 126 Mersch, Dieter 110–111, 116, 152, 154–155, 162, 170 Messiaen, Olivier 110, 113 Metzger, Heinz-Klaus 174 Michaels, Joachim 107 Milhaud, Darius 110 Monteverdi, Claudio 104 Mozart, Wolfgang Amadeus 38–39, 43–44, 129 Müller, Ruth E. 60, 64 Müller, Wilhelm 133, 136, 142 Müller-Doohm, Stefan 155, 166 Munslow, Alun 199

Lambert, Johann Heinrich 185 Lehmann, Harry 101, 116–117, 193 Leibniz, Gottfried Wilhelm 184–185 Lepenies, Wolf 39 Lévi-Strauss, Claude 98–99 Linke, Cosima 34 Luhmann, Niklas 100–104, 110, 114– 118 Lukács, Georg 51 Lyotard, Jean-François 202, 207, 211– 214, 218, 221–222

Oechsle, Siegfried 38–39 Oevermann, Ulrich 93–94 Ong, Walter 161

Magnus, David 163 Mahler, Gustav 37, 78, 87, 117, 119, 125, 131, 148, 151, 159 Mahnkopf, Claus-Steffen 117, 193 Man, Paul de 105, 107, 110, 116–118 Manninen, Juha 117 Mar, Jonathan del 46 Marshall, Thomas H. 92–93 Martin, Thomas 103, 116–118 Marx, Karl 47, 211 Maurer-Zenck, Claudia 105 Mauser, Siegfried 120 McClary, Susan 47, 201 McGann, Jerome 199

Nielsen, Carl 106 Nietzsche, Friedrich 13, 35, 47, 158, 200, 209, 214 Nono, Luigi 175

Paech, Joachim 103 Parsons, Talcott 92–93, 114 Paul, Jean 75–76 Pavel, Thomas 116 Platon 13, 161–162 Popper, Karl 79 Pousseur, Henri 163 Powell, Larson 100, 106 Prange, Regine 141–142 Proust, Marcel 49 Ratz, Erwin 34 Ravel, Maurice 105 Reger, Max 104 Rheinberger, Hans-Jörg 108–109, 111–112 Riemann, Hugo 36–37, 47 Roberts, David 104 Ronen, Ruth 116 Rosa, Hartmut 39 Rosen, Charles 16, 30, 38, 57, 130 Ryan, Marie-Laure 116

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Personenregister Saussure, Ferdinand de 161 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph 13, 47 Schlegel, Friedrich 191 Schlenker, Wolfgang 148 Schleuning, Peter 31 Schmidt, Jochen 137 Schmitt, Ulrich 31 Schnabel, Artur 125 Schnebel, Dieter 130–131 Schönberg, Arnold 34, 36, 38, 48, 105, 119, 122, 135, 139, 173–174 Schopenhauer, Arthur 13, 47 Schramm, Hening 201 Schreyvogel, Joseph 142 Schubert, Franz 47, 53, 57, 119–140, 142–148 Schumann, Robert 51, 106 Seidel, Wilhelm 37, 39 Sekles, Bernhard 122 Shakespeare, William 46 Simeone, Nigel 111 Spaun, Joseph von 125 Spitteler, Carl 125 Steinweg, Marcus 214–215, 217 Steuermann Eduard 143 Stockhausen, Karlheinz 110, 116, 173, 175 Stolzenberg, Jürgen 60, 65 Strauss, Richard 122 Strawinsky, Igor 105, 111, 119 Strohm, Reinhard 153 Suhrkamp, Peter 121–122, 146

Taylor, Charles 64 Theunissen, Michael 57 Tholen, Georg Christoph 103, 107 Tiedemann, Rolf 122 Tomlinson, Gary 104 Treitler, Leo 161 Troeltsch, Ernst 81 Uehlein, Friedrich A. 60 Ungeheuer, Elena 163 Unseld, Siegfried 121–122, 132, 146 Urbanek, Nikolaus 37, 58, 150–151, 154–156, 161–162, 199 Ursprung, Philip 215 Utz, Christian 154 Varèse, Edgard 113 Völker, Jan 218 Wagner, Richard 17, 106, 119, 151, 154, 156–158, 200 Wald, Melanie 38 Warnke, Martin 89 Weber, Max 29, 40–41, 92, 103, 118 Webern, Anton 34, 122, 135 Wiese, Leopold von 203 Williams, Raymond 100 Wittgenstein, Ludwig 83 Wolff, Frank 139 Wörner, Karl Heinz 106 Zehentreiter, Ferdinand 218 Zenck, Martin 76

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Die Autorinnen und Autoren

Wolfram Ette. Zur Zeit Professor für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Ludwig Maximilian Universität München. Forschungsschwerpunkte: Theorie des Dramas; Literatur und Psychoanalyse; Literatur und Musik. Publikationen: Kritik der Tragödie. Über dramatische Entschleunigung (2012, 2. Auflage 2015); Die Aufhebung der Zeit in das Schicksal. Zur »Poetik« des Aristoteles (2003.); Freiheit zum Ursprung. Mythos und Mythoskritik in Thomas Manns Josephs-Tetralogie (2002). Lyrik und Kurzessayistik: Online-Texte: wolframettetexte.wordpress.com. Adresse: Prof. Dr. Wolfram Ette, Reinhardtstr. 9, D-09130 Chemnitz. E-Mail: [email protected]. Richard Klein. Hrsg. v. Musik & Ästhetik, Honorarprofessor an der Staatlichen Hochschule für Musik Freiburg, Mitarbeiter an der Adorno-Forschungsstelle der Carl von Ossietzky-Universität Oldenburg. 1980 A-Examen in Kirchenmusik und Konzertexamen in Orgel. 1990 Promotion in Musikwissenschaft. Gastdozenturen, Lehraufträge im In- und Ausland. Wissenschaftliche Leitung internationaler Tagungen. Neuere Buchveröffentlichungen: My Name It Is Nothin’. Bob Dylan: nicht Pop, nicht Kunst (2006); Adorno-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung (2011, Mithrsg.). Richard Wagner und seine Medien. Für eine kritische Praxis des Musiktheaters (2012, mit Johanna Dombois). Musikphilosophie zur Einführung (2014). Adresse: Dr. Richard Klein, Langackernstr. 2, D-79289 Horben. E-Mail: [email protected]. Jürgen Stolzenberg ist emeritierter Professor für Geschichte der Philosophie am Seminar für Philosophie der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Er ist u. a. korrespondierendes Mitglied der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen, Vorsitzender der Interakademischen Kommission »Leibniz-Edition« und Mitglied des Wis227 https://doi.org/10.5771/9783495808221 .

Die Autorinnen und Autoren

senschaftlichen Beirats der Historisch-Kritischen Gesamtausgabe der Schriften Richard Wagners. 2010/2011 war er Fellow der Carl Friedrich von Siemens Stiftung, München, mit einem musikphilosophischen Projekt. Zahlreiche Publikationen zu Kant und zur klassischen deutschen Philosophie, zum Neukantianismus, zu Heidegger, zur Hermeneutik und zur Musikphilosophie. Neuere Veröffentlichung: »Seine Ichheit auch in der Musik heraustreiben«. Formen expressiver Subjektivität in der Musik der Moderne (München 2011). Adresse: Prof. Dr. Jürgen Stolzenberg, Seminar für Philosophie der MartinLuther-Universität Halle-Wittenberg, Schleiermacherstr. 1, D-06114 Halle (Saale). E-Mail: [email protected]. Ferdinand Zehentreiter. Klavier, Soziologie, Philosophie und Musikwissenschaft in München und Frankfurt a. M. 2010-2012 Vertretungsprofessur für Soziologie und Sozialpsychologie an der Johann Wolfgang von Goethe-Universität Frankfurt a. M. Privatdozent ebendort am FB für Gesellschaftswissenschaften, Lehrbeauftragter für Musikwissenschaft an der Musikhochschule Frankfurt. Arbeitsschwerpunkte: Pragmatismus, Strukturalismus, Ästhetik, Erfahrungstheorie, Kritische Theorie. Zahlreiche Aufsätze zu kultursoziologischen und ästhetischen Fragen. Buchpublikationen u. a.: Materialität des Geistes – zur Sache Kultur: im Diskurs mit Ulrich Oevermann (2001, Hrsg. u. a.). Demnächst erscheint: Musikästhetik. Ein Konstruktionsprozess (Weilerswist 2016). Adresse: PD Dr. Ferdinand Zehentreiter, c/o Judith Zimmermann, Wiesenstr. 50, D-60385 Frankfurt a. M. E-Mail: [email protected]. Larson Powell ist Professor für Deutsche Literatur an der University of Missouri – Kansas City. Neuere Publikationen: The Differentiation of Modernism (Rochester 2013). Zu Medienkünsten nach 1945: The Meaning of Working through the East Germany (2014); Die gespenstische Politik der DEFA (2013); Excursions and Recursions. Kittler’s Homeric Wake (2012). Aufsätze auf Englisch, Deutsch, Französisch und Polnisch zu Medientheorie und Filmmusiktheorie, zum DEFA-Film, Film in Osteuropa, Musikwissenschaft, Adorno. Eine Monographie über den DEFA-Regisseur Konrad Wolf und eine Herausgeberschaft zur Musik in der DDR sind in Vorbereitung, außerdem der erste Sammelband auf Englisch zur Geschichte und Theorie des deutschen Fernsehens und schließlich einen Beitrag zu Komponisten der Gegenwart. Adresse: Prof. Dr. Larson Powell, 228 https://doi.org/10.5771/9783495808221 .

Die Autorinnen und Autoren

Department of Foreign Languages and Literatures, Scofield Hall 206A, University of Missouri – Kansas City, 5100 Rockhill Road, Kansas City, MO 64110, USA. E-Mail: [email protected]. Gabriele Geml ist Philosophin und Literaturwissenschaftlerin. Nach einem Studium in Wien und Aufenthalten an der Universität Nizza und der Duke University, NC/USA war sie DFG-Stipendiatin und Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Goethe-Universität Frankfurt (Institut für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft). In Wien war sie Junior Fellow am IFK und Universitätsassistentin am Institut für Philosophie. Neben ihrer wissenschaftlichen Tätigkeit absolvierte sie das Psychotherapeutische Propädeutikum an der Universität Wien und an der Wiener Psychoanalytischen Akademie. Sie ist Gründerin und Vorstand von »akut. Verein für Ästhetik und angewandte Kulturtheorie«. 2015 ist sie Fellow in Residence des Kollegs Friedrich Nietzsche der Klassik-Stiftung Weimar. Adresse: Gabriele Geml, Rupertgasse 18, Tür 19, 1140 Wien. E-Mail: gabriele.geml@ univie.ac.at. Guido Kreis ist Privatdozent für Philosophie und Akademischer Rat auf Zeit an der Universität Bonn. Promotion Heidelberg 1999; Habilitation Bonn 2014. Arbeitsgebiete: Metaphysik, Erkenntnistheorie, Philosophie des objektiven Geistes, Ästhetik, Klassische deutsche Philosophie, Kritische Theorie. Wichtigste Veröffentlichungen: Cassirer und die Formen des Geistes (Berlin 2010); Negative Dialektik des Unendlichen: Kant, Hegel, Cantor (Berlin 2015); Was sich nicht sagen läßt (Berlin 2010, hg. mit J. Bromand); Gottesbeweise: von Anselm bis Gödel (Berlin 2011, hg. mit J. Bromand); Gotteswiderlegungen (hrsg. mit J. Bromand, i. V.). Adresse: PD Dr. Guido Kreis, Institut für Philosophie, Universität Bonn, Poppelsdorfer Allee 28, D-53115 Bonn. E-Mail: [email protected]. Nikolaus Urbanek. Universitätsassistent am Institut für Musikwissenschaft der Universität Wien. 2008 Promotion mit einer Arbeit über Adornos Beethoven-Fragmente. Derzeitige Arbeits- und Forschungsschwerpunkte: Musikästhetik und Musikphilosophie; Musikgeschichte des 18., 19. und 20. Jahrhunderts, Grundlagen der Musikgeschichtsschreibung; Theorie der musikalischen Schrift. Buchpublikationen in Auswahl: Spiegel des Neuen. Musikästhetische Untersuchungen zum Werk Friedrich Cerhas (Bern 2005); webern_21 229 https://doi.org/10.5771/9783495808221 .

Die Autorinnen und Autoren

(Wien 2009: hg. mit Dominik Schweiger); Auf der Suche nach einer zeitgemäßen Musikästhetik. Adornos »Philosophie der Musik« und die Beethoven-Fragmente (Bielefeld 2010); Historische Musikwissenschaft. Grundlagen und Perspektiven (Stuttgart 2013: hg. mit Michele Calella). Adresse: Dr. Nikolaus Urbanek, Institut für Musikwissenschaft, Universität Wien, Spitalgasse 2–4, A-1090 Wien. E-Mail: [email protected]. Susanne Kogler studierte Musikpädagogik, Klassische Philologie und Musikwissenschaft an der Karl-Franzens-Universität und der Kunstuniversität Graz. Dissertation zum Thema Sprache und Sprachlichkeit im zeitgenössischen Musikschaffen (Graz/Wien 2003). 2012 Habilitation am Institut für Musikwissenschaft der Universität Graz mit der Studie Adorno versus Lyotard. Moderne und postmoderne Ästhetik (ersch. Freiburg/München 2014). Zahlreiche Publikationen zur Musikgeschichte und Ästhetik des 19.–21. Jahrhunderts. Website: http://www.susannekogler.at. Adresse: PD Dr. Mag. Susanne Kogler, Prochaskagasse 14a, A-8045 Graz. E-Mail: [email protected].

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