Geschlechterarrangements in Bewegung: Veränderte Arbeits- und Lebensweisen durch Informatisierung? [1. Aufl.] 9783839427293

The speedy computerization of work leads to a progressing dissolution of given space-time-structures. What can an intell

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German Pages 332 [333] Year 2015

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Table of contents :
Cover Geschlechterarrangements in Bewegung
Inhalt
1. EINLEITUNG
Zukunft der Arbeit und Neuverhandlung von Geschlecht – Einleitung
2. BEWEGLICHE GESCHLECHTERARRANGEMENTS – NEUFORMIERUNG VON ARBEIT UND LEBEN DURCH INFORMATISIERUNG?
Neuformierung von Arbeit und Leben durch Informatisierung? Projektergebnisse – Empirische Auswertungen
3. SOCIAL MEDIA UND SOCIAL BUSINESS
Was ist sozial an den sozialen Medien? – Eine Annäherung an das Phänomen Web 2.0
Vom „Konnektivitäts-Junky“ zum „Defriender“. Auf den Spuren einer neuen digitalen Avantgarde
4. ZUKUNFT DER ARBEIT
Enterprise 2.0 – Mitmach-Medien erobern die Arbeitswelt
Die Mediatisierung von Arbeit und die Neuformierung von Lebensbereichen
5. FRAUEN UND FÜHRUNG
Frauen und Führung: Erkenntnisse der Sozial- und Organisationspsychologie
„Und Mails ganz spät abends!” Führungsfrauen berichten, wie ihre männlichen Kollegen mit Zeit und Technik umgehen: Ausdruck der hegemonialen Männlichkeit?
6. VEREINBARKEIT VON ERWERBSARBEIT SUND PRIVATLEBEN
Karriere und Vereinbarkeit – Geschlechtsspezifische Auswirkungen einer neuen Karrierepraxis in Unternehmen
Die zwei Seiten der Vereinbarkeit
Autorinnen und Autoren
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Geschlechterarrangements in Bewegung: Veränderte Arbeits- und Lebensweisen durch Informatisierung? [1. Aufl.]
 9783839427293

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Ulla Wischermann, Annette Kirschenbauer (Hg.) Geschlechterarrangements in Bewegung

Gender Studies

Ulla Wischermann, Annette Kirschenbauer (Hg.)

Geschlechterarrangements in Bewegung Veränderte Arbeits- und Lebensweisen durch Informatisierung?

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2015 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Printed in Germany Print-ISBN 978-3-8376-2729-9 PDF-ISBN 978-3-8394-2729-3 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

1. E INLEITUNG Zukunft der Arbeit und Neuverhandlung von Geschlecht – Einleitung

Ulla Wischermann | 9

2. BEWEGLICHE G ESCHLECHTERARRANGEMENTS – NEUFORMIERUNG VON ARBEIT UND LEBEN DURCH I NFORMATISIERUNG ? Neuformierung von Arbeit und Leben durch Informatisierung? Projektergebnisse – Empirische Auswertungen

Annette Kirschenbauer | 25

3. S OCIAL MEDIA UND S OCIAL BUSINESS Was ist sozial an den sozialen Medien? – Eine Annäherung an das Phänomen Web 2.0

Stefan Fey | 121

Vom „Konnektivitäts-Junky“ zum „Defriender“. Auf den Spuren einer neuen digitalen Avantgarde

Beate Großegger | 143

4. ZUKUNFT DER ARBEIT Enterprise 2.0 – Mitmach-Medien erobern die Arbeitswelt

Uli Flake | 159 Die Mediatisierung von Arbeit und die Neuformierung von Lebensbereichen

Caroline Roth-Ebner | 183

5. FRAUEN UND FÜHRUNG Frauen und Führung: Erkenntnisse der Sozial- und Organisationspsychologie

Alina S. Hernandez Bark und Rolf van Dick | 211 „Und Mails ganz spät abends!” Führungsfrauen berichten, wie ihre männlichen Kollegen mit Zeit und Technik umgehen: Ausdruck der hegemonialen Männlichkeit?

Heather Hofmeister | 230

6. V EREINBARKEIT VON ERWERBSARBEIT S UND P RIVATLEBEN Karriere und Vereinbarkeit – Geschlechtsspezifische Auswirkungen einer neuen Karrierepraxis in Unternehmen

Anja Bultemeier | 255 Die zwei Seiten der Vereinbarkeit

Annette von Alemann und Mechtild Oechsle | 293

Autorinnen und Autoren

1. Einleitung

Zukunft der Arbeit und Neuverhandlung von Geschlecht – Einleitung U LLA W ISCHERMANN

Neue Medien haben in der Geschichte der Kommunikation regelmäßig Euphorie und Skepsis zugleich hervorgerufen. Ganz gleich, ob es um die Erfindung des Buchdrucks, der Telegraphie, des Telefons, des Radios oder des Fernsehens ging, immer artikulierte sich eine öffentliche Meinung, die ein jeweils neues Zeitalter beschwor und von Revolution oder Umwälzung, oft genug auch von Untergang sprach. Auch die Geschichte der Informatisierung weist dieses Merkmal auf. So wurde das Internet in wissenschaftlichen Fachkreisen zunächst als ein „Mythos“ bezeichnet (Münker/ Roesler 1997). Es galt als ein gestaltungsoffener Raum, ein Ort „freier Kommunikation“ (Castells 2002), in dem Vieles möglich sei: etwa die Stärkung demokratischer Praxen und sozialer Bewegungen, ziviler Ungehorsam oder auch Potentiale für eine gerechtere Ausgestaltung der Geschlechterverhältnisse (Klaus 1997). Bereits nach fünf Jahren der Etablierung und Normalisierung wurde das Internet zunehmend entmythisiert und ambivalenter gesehen. Es hatte sich „vom Mythos zur Praxis“ (Münker/ Roesler 2002) gewandelt und der „Gendered Space“ (Wischermann 2004) hatte sich keineswegs als revolutionär, sondern gleichzeitig auch als sehr restaurativ erwiesen. Mit dem Web 2.0, häufig auch als Social Web bezeichnet, hat das Internet nun seit einigen Jahren eine weitere Entwicklungsstufe erreicht. Mit den – zunächst privat, inzwischen aber auch vermehrt von Unternehmen genutzten – sozialen Netzwerken scheinen Vorstellungen eines nutzergenerierten Inhaltes und eines umkehrbaren Sender-Empfänger-Modells realisierbar zu werden,

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von denen frühe Medienvisionäre, wie etwa Bertolt Brecht bei der Erfindung des Rundfunkapparats, nur zu träumen gewagt hatten (Brecht 1932/1967). Auch zu diesem neuerlichen Strukturwandel, der das Netz aus den Händen von Militärs und Wissenschaftlern, einzelner Technikfreaks und Hackern in das Leben und die Arbeit Vieler integrierte, gibt es nicht nur positive, sondern auch gewichtige skeptische Stimmen, so z. B. die USSoziologin und Technikwissenschaftlerin Sherry Turkle, die in ihrem stark rezipierten Buch „Alone Together“ (dt. „Verloren unter 100 Freunden“ (Turkle 2012) auf beunruhigende Folgen der neuen Mediennutzung via sms, twitter und sozialer Netzwerke aufmerksam gemacht hat. Vor allem die Erfindung des Smartphone, das mit seiner Mischung aus Internet und mobilem Telefon dieser Mediennutzung zum Siegeszug verhalf, wird in den Medien mit einer „Weltrevolution“ verglichen, durch die die Menschheit radikal verändert worden ist (Tuma 2012, 62). In der Tat werden vielleicht nirgends Grenzen so radikal aufgelöst wie hier: Unterhaltung und Information, Freizeit und Erwerbsarbeit, Privatheit und Öffentlichkeit werden zunehmend untrennbar und oft auch ununterscheidbar miteinander verwoben, eine Entwicklung, wie sie schon Donna Haraway in ihrem berühmten „Cyborg Manifest“ vorhergesagt hatte (Haraway 1995). Unser Buch widmet sich besonders dieser Durchlässigkeit und Grenzauflösung, die mit der Informatisierung verbunden sind. Dabei wird die private Nutzung des Internet berücksichtigt, vor allem aber die berufliche Nutzung und deren Auswirkungen auf die Arbeitswelt in den Mittelpunkt der Analysen gerückt. Es wird die Frage verfolgt, ob und wenn ja, wie Informatisierung zur Neuformierung von Erwerbsarbeit und privater Lebensführung beiträgt, bzw. beitragen kann und welche Auswirkungen das auf die Geschlechterverhältnisse sowie auf die Work-Life Balance der jeweiligen Subjekte hat und haben kann. Damit stellen wir uns in die Tradition feministischer Arbeits- und Technikforschung, die seit dem Beginn der ‚digitalen Revolution‘ kritisch diskutiert, „wie neue Technologien die Geschlechterverhältnisse verändern“ (Kahlert/ Kajatin 2004) und ob „flexible Arbeit bewegliche Geschlechterarrangements“ ermöglicht (Winker/ Carstensen 2004). Der eingangs platzierte Beitrag (Kap. 2) von Annette Kirschenbauer stellt die Ergebnisse des empirischen Forschungsprojekts „Bewegliche Geschlechterarrangements – Neuformierung von Arbeit und Leben durch In-

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formatisierung?“ vor, das am Cornelia Goethe Centrum für Frauenstudien und die Erforschung der Geschlechterverhältnisse der Goethe-Universität Frankfurt am Main durchgeführt wurde. 1 Das empirische und interdisziplinär ausgerichtete Projekt befasste sich mit den neuesten Entwicklungen der Informations- und Kommunikationstechnologien. Es verband die rasante Informatisierung von Erwerbsarbeit und die damit verbundene Auflösung gegebener Raum-Zeit-Strukturen mit der Frage nach Veränderungen der Arbeits- und Lebenswelten über die heute bekannten und teilweise auch schon umgesetzten Möglichkeiten hinaus. Dabei ging es um die Auswirkungen auf neue Beschäftigungsformen, um die Grenzverschiebungen zwischen Erwerbsarbeits- und Privatleben und um ein Abwägen der daraus resultierenden Folgen. Das Projekt konnte eine Verbindung zwischen den neuen Technologien und Fragen der Work-Life-Balance von Frauen und Männern herstellen. Dies umfasst sowohl Entwicklungen in der Arbeitswelt, als auch Entwicklungen im Privatbereich. Untersucht wurde, ob und inwiefern die neuen Technologien Potentiale beinhalten für eine intelligente Verzahnung von Erwerbsarbeit und Privatleben, in der bisherige Geschlechterarrangements beweglicher werden und eine bessere Ausbalancierung gelingen kann. Ausgangspunkt der Überlegungen war die Hypothese, dass letztlich nur bewegliche Geschlechterarrangements, in denen Männer und Frauen Privatheit und Öffentlichkeit besser austarieren (können), zu mehr Geschlechtergerechtigkeit beitragen und dadurch die Berufsund Karriereverläufe, aber auch die Ausgestaltung von Haus- und Sorgearbeit, positiv beeinflussen. Im Beitrag von Annette Kirschenbauer werden die komplexen Zusammenhänge zwischen der fortschreitenden Informatisierung und der zunehmend geforderten Balance zwischen Erwerbs- und Privatleben analysiert. Dafür werden die Anforderungen der Arbeitswelt den Bedürfnissen der Subjekte gegenübergestellt. Mit dieser Blickrichtung ist es möglich, über eine intelligente Verzahnung von Erwerbsarbeit und Privatleben nachzudenken und darüber hinaus auch Ansätze für neue Arbeitsweisen zu finden, die es (hoch)qualifizierten Frauen, die sich heute noch in der stillen Reserve

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Das Projekt wurde vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) sowie dem Europäischen Sozialfonds (ESF) unter den Förderkennzeichen 01FP1155 und 01FP1156 gefördert. Laufzeit des Vorhabens: 01.09.2011 31.12.2013.

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befinden, erleichtern, einen Einstieg ins Erwerbsleben zu finden. Inwieweit die jeweils eingesetzten Informations- und Kommunikationstechnologien die Handlungsspielräume und Profilierungschancen der Beschäftigten einschränken oder gegebenenfalls erweitern und darüber die innerbetrieblichen Geschlechterverhältnisse tangiert werden, ist ebenfalls untersucht worden. Denn angesichts der beschriebenen Entwicklungen ist es politisch, wirtschaftlich und gesellschaftlich unabdingbar, eine Veränderung der Lebensund Arbeitsumstände von Frauen zu fördern. Die Autorin gliedert ihre Darstellung der Ergebnisse in vier unterschiedliche Themenbereiche: 1. Veränderte Kommunikation: Social Media und Social Business In diesem Abschnitt werden die Entwicklung und der Einsatz von Web 2.0 Tools und ihre Auswirkungen auf die Kommunikation und Arbeitsprozesse diskutiert. Im Mittelpunkt steht dabei die Komponente „Social“ und ihre Bedeutung für die internen Abläufe in Unternehmen. Hierbei geht es um die Wechselbeziehungen zwischen Arbeit und neuen Technologien sowie um deren Potentiale für Erwerbstätige und die Unternehmenskommunikation. 2. Zukunft der Arbeit unter dem Einfluss der Informatisierung Hier werden der Strukturwandel der Arbeitswelt sowie die Umstrukturierungen hinsichtlich der Organisationsformen und -bedingungen von Erwerbsarbeit, d.h. der kontrovers diskutierte Transformationsprozess der Arbeitsgesellschaft aufgegriffen und hinsichtlich der eigenen Fragestellung des Projektes analysiert. Im Vordergrund stehen die Ambivalenzen der Veränderungen der Arbeitswelt durch Informatisierung. Es werden neue Gestaltungsmöglichkeiten für selbstbestimmtes Arbeiten, die die Flexibilisierungstendenzen eröffnen, den neu entstehenden Belastungen für die Erwerbstätigen gegenübergestellt. Ferner wird die Auflösung von Raum-ZeitStrukturen sowie die schwieriger werdende Grenzziehung zwischen Arbeit und Leben für Erwerbstätige diskutiert. Die Auswirkungen des zunehmenden Einsatzes von Informations- und Kommunikationstechnologien, der bereits dazu beigetragen hat diese Veränderungsprozesse anzustoßen, wird in Bezug auf eine Balance zwischen Privatleben und Erwerbsarbeit, aber auch auf eine mögliche Entgrenzung von Arbeit diskutiert. 3. Neue Trends im Bereich der Arbeitsformen Dieser Themenschwerpunkt orientiert sich an den empirischen Ergebnissen des Projektes. Im Mittelpunkt stehen Fragestellungen, die sich mit Teilzeit und Führung 2.0 beschäftigen, insbesondere Führung im Zeitalter von So-

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cial Media und Social Business sowie mit Führen in Teilzeit. Es wird gezeigt, dass und wie sich Führung im Unternehmen zukünftig verändert, denn der Einsatz von Social Media und Social Business hat nicht nur Auswirkungen auf die Arbeitsstrukturen und -prozesse, sondern stellt immer auch eine Herausforderung für die Führungskräfte dar. Die veränderten Anforderungen werden den Erwartungen der Erwerbstätigen aber auch denen der Führungskräfte selbst gegenübergestellt. 4. Vereinbarkeit von Erwerbsarbeit und Privatleben Nach einer – dem Beitrag zugrundeliegenden – Begriffsdefinition von Work-Life Balance (WLB) werden einige betriebliche WLB-Maßnahmen dargestellt. Dabei stehen die veränderten Ansprüche, die erwerbstätige Männer und Frauen an eine Balance von Erwerbsarbeit und Privatleben haben, im Mittelpunkt. Zunehmend sind auch immer mehr Männer an einer besseren Ausbalancierung ihres Arbeits- und Lebenszusammenhangs interessiert und formulieren diesbezügliche Ansprüche an die Unternehmen. Dabei spielt die Arbeitszeitflexibilisierung eine große Rolle. Abschließend wird resümiert und abgewogen, ob und welche Potentiale die Informatisierung für bewegliche Geschlechterarrangements beinhaltet. Die nachfolgenden Kapitel nehmen die im Forschungsprojekt verfolgten Fragestellungen und thematischen Aspekte auf, diskutieren und vertiefen sie. Ausgangspunkt für den Großteil dieser Beiträge war eine Konferenz über bewegliche Geschlechterarrangements im Kontext von Informatisierung, die im November 2013 an der Frankfurter Goethe-Universität stattgefunden hat. Gleichzeitig wurden für diese Publikation noch weitere Beiträge eingeworben, um möglichst viele Facetten des Themas mit aktuellen Forschungsergebnissen abzubilden und zugleich Fragen fortzuentwickeln, die im Verlauf des Forschungsprojektes aufgeworfen wurden. Im Kapitel 3 über „Social Media“ sind zwei Beiträge aufgenommen, die das Feld neuer Mediennutzungen abstecken. In seiner „Annäherung an das Phänomen Web 2.0“ geht Stefan Fey der Entwicklung des Web 1.0 zum Web 2.0 nach. Er betont, wie vergleichsweise statisch die Anfänge des Internet waren und wie es überwiegend passiv vor allem als Lese- und Abrufmedium genutzt wurde. In vergleichbar kurzer Zeit haben sich – so Fey – das Internet selbst, seine NutzerInnen sowie die technischen, sozialen und gesellschaftlichen Nutzungskontexte aber grundlegend verändert. Das war

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nur möglich durch eine rapide steigende Benutzerfreundlichkeit und die Möglichkeit, von nahezu überall und jederzeit per Handy oder Tablet auf das Internet zugreifen zu können. Erst seitdem ist eine deutliche Wende zur Integration in den Alltag Vieler erkennbar, bei den Nutzungsgewohnheiten ist die Interaktivität zentral geworden. Die heutigen nutzungsintensiven Anwendungskontexte sind gerahmt von technischen Erleichterungen, die der Autor in diesem Beitrag sachkundig nachgezeichnet. Informationsaustausch, Beziehungsaufbau und kollaborative Zusammenarbeit traten dadurch in den Vordergrund der Internetnutzung. Sie machen zweifellos das demokratische Potential des Internet aus. Fey spricht in seiner abschließenden Zusammenschau von einer Verschmelzung von Technischem und Sozialen im Web 2.0, die auch ihre Schattenseiten hat: Einerseits aggregieren die vielfältigen von den NutzerInnen generierten Informationen zu einer Art „kollektiven Intelligenz“, andererseits werden dafür Riesendatenmengen erfasst, ausgewertet und nicht zuletzt auch kommerziellen Zwecken zugeführt. In der Forschung wird zunehmend differenziert zwischen verschiedenen Generationen von InternetnutzerInnen. Im Zentrum stehen dabei besonders die „Generation X“, bzw. „35plus“ (vgl. Funken u.a. 2013), d.h. die ca. 30 bis 40-Jährigen, die mit anderen Medien als dem Internet großgeworden sind und den Umgang damit erst später erlernt haben sowie die „Generation Y“, auch „Millenials“ oder „Pragmatische Generation“ genannt, junge Menschen, die zwischen ca. 15 und 30 Jahre alt sind. Letztere werden auch als „Digital Natives“ bezeichnet, weil sie äußerst geübt im Umgang mit digitalen Informationen sind. Die Informatisierung ist für diese Generation selbstverständlicher Bestandteil ihres ganzen Lebens, umfasst also gleichermaßen Freizeit und Alltag sowie auch die Erwerbsarbeit. Als BloggerInnen und Social Media AktivistInnen verbringen diese jungen Menschen sehr viel Zeit im Netz, teilen sich Anderen mit und interagieren mit ihnen. Kurzum: Sie gestalten eine digitale Kultur (vgl. Carstensen 2011). Dass der weit verbreiteten Meinung zum Trotz die grenzenlose Netzeuphorie dieser Generation nicht mehr ungebrochen ist, darauf macht Beate Großegger in ihrem sehr aktuellen Beitrag „Vom ‚Konnektivitäts-Junky‘ zum ‚Defriender‘“ aufmerksam. Sie nimmt den NSA-Skandal und den kommerziellen Datenhandel zum Anlass, anti-digitalen Tendenzen nachzugehen. Die Befragungen, die das Institut für Jugendkulturforschung 2014 bei 600 14- bis 29-jährigen Österreicherinnen durchführte und die Großegger auswertet,

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zeigen eine zunehmende Distanz zu den Sozialen Medien. Sie sind zwar noch „cool“, werden aber - nicht zuletzt aufgrund von überbordender Werbung und substanzloser Kommunikation - langsam „nervig“. Eine digitale Avantgarde in dieser Generation beginnt derzeit mit einem digitalen „Ausmisten“. Sie experimentiert mit Defriending, Deliking und Defollowing und betont in ihren Selbstkonzepten Werte wie Individualität und Autonomie. Dass dabei die Privatsphäre und ‚das Recht, allein gelassen zu werden‘ (wieder) einen wichtigen Stellenwert bekommen, liegt auf der Hand. Während die intensive private Nutzung von Social Media also erste Einbußen erfährt, nimmt ihre berufliche Nutzung derzeit stark zu. Die technischen Entwicklungen ermöglichen inzwischen ein Büro in „ZigarettenetuiGröße, das mich überallhin verfolgt“ (Tuma 2012, 64) – so ein leicht genervter Journalist im Jahr 2012. Mobiles Arbeiten, die Informatisierung und Mediatisierung von Arbeit sind inzwischen für Viele zur Realität geworden, besonders in den sog. wissensintensiven Berufen. Im 4. Kapitel, das sich mit der „Zukunft der Arbeit“ befasst, geht Uli Flake neueren Entwicklungen zu „Enterprise 2.0“ nach und zeigt, wie stark Social Media inzwischen die Arbeitswelt erobern und wie zukunftsträchtig sie sind. Er beschreibt und erläutert die Einführung von Social Media in vielen Unternehmen und betont, dass diese zunehmende geschäftliche Nutzung den entsprechenden Firmen große Wettbewerbsvorteile bringt. Flake beleuchtet die aktuellen Auswirkungen, er will für diese Trends sensibilisieren und – aus gewerkschaftlicher Perspektive – die Chancen und Gefahren von Enterprise 2.0 für die Beschäftigten abwägen. Besonders die ausufernden Arbeitszeiten und die rund-um-die-Uhr-Erreichbarkeit der ArbeitnehmerInnen gelten ihm als gravierendes Gefahrenpotential für Verschlechterungen bei den Arbeitsbedingungen. Dem entsprechend geht der Beitrag davon aus, dass ein dringender Regelungsbedarf besteht und Mitbestimmung gefragt ist: Unternehmen, Beschäftigte und Gewerkschaften haben hier noch viel zu verhandeln. Dafür nennt der Verfasser wesentliche Aspekte und Forderungen und informiert detailliert und sachkundig über zahlreiche bedenkenswerte Aspekte. Auch Caroline Roth-Ebner sieht die „Zukunft der Arbeit“ im Kontext der rasanten Mediatisierung und Informatisierung. Insbesondere die medientechnische Entwicklung mobiler Kommunikation, so die Autorin, führt zur umfassenden gesellschaftlichen Transformation von Arbeit. Im Mittel-

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punkt ihres Beitrages steht die damit verbundene weitreichende „Entgrenzung“ von Privat- und Berufsleben. In ihrer zwischen 2009 und 2013 durchgeführten Studie sind Digicom-ArbeiterInnen, also Beschäftigte, für die digitale Medien zentrale Tätigkeitsfelder darstellen, mithilfe qualitativer Leitfadeninterviews danach befragt worden, wie sie mit dem Verschwimmen von beruflichen und privaten Lebensbereichen umgehen. Kennzeichnend für deren zunehmend mobiles Arbeiten sind die Flexibilisierung von Arbeitszeiten und Arbeitsorten. Damit verbunden ist oft – nicht zuletzt auf Druck der Unternehmen – ein Always-on in digitalen Arbeitskulturen. Wie widersprüchlich die Mediatisierung von Arbeit von den Betroffenen wahrgenommen und wie unterschiedlich damit individuell umgegangen wird, steht im Mittelpunkt des Beitrages, der verschiedene Mediennutzungstypen und ihr Erreichbarkeitsmanagement vorstellt und analysiert. Die Autorin verortet die flexiblen und effizienten Bewältigungsstrategien der DigicomAbeiterInnen in der Individualisierungstheorie von Beck und BeckGernsheim und sieht – wie auch Flake in diesem Kapitel – die Zukunft der Arbeit durch „Triebkräfte des Kapitalismus und Neoliberalismus“ angetrieben, „deren Werten sich die Arbeitenden weitestgehend anschließen.“ Die private wie auch berufliche Nutzung der neuen Informations- und Kommunikationsmedien – das zeigen die Studie von Annette Kirschenbauer (Kapitel 2) sowie die Kapitel 3 und 4 dieses Sammelbandes – hat große Auswirkungen auf das das Privat- und Berufsleben von Frauen und Männern. Die Auflösung fester Raum- und Zeitstrukturen und damit verbundene Mobilität und Flexibilität können – zumindest theoretisch – dazu führen, dass starre bipolare Geschlechtermuster und Arbeitsteilungen zunehmend durch „Bewegliche Geschlechterarrangements“ abgelöst werden. Dass trotz dieser neuen Möglichkeitsräume durch Informatisierung Neuaushandlungen um Geschlechtergerechtigkeit und Gleichberechtigung immer noch nicht selbstverständlich sind, ist nicht zuletzt geschlechterpolarisierenden Traditionen, Normen und Werten geschuldet, die bis heute wirksam sind und ein besonderes Beharrungsvermögen haben. Zwei Themenbereiche – „Frauen und Führung“ sowie „Vereinbarkeit“ – sind hier besonders brisant. Ende 2014 betrug der Anteil von Frauen in den Aufsichtsräten der 200 größten Unternehmen in Deutschland nach Angaben des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) 18,4 Prozent. In den Vorständen die-

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ser Unternehmen waren zu diesem Zeitpunkt nur 5,4 Prozent Frauen. 2 Seit etlichen Jahren wird über politische und rechtliche Maßnahmen diskutiert, mit denen diesem Missstand begegnet werden soll. Während der Drucklegung dieses Buches (März 2015) beschloss der Deutsche Bundestag eine von der Wirtschaft heftig kritisierte Frauenquote von 30 Prozent in Aufsichtsräten. Trotz der damit verbundenen Signalwirkung: Ob und wie sich das auf die Präsenz von Frauen in Führungspositionen auswirken wird, bleibt erst einmal abzuwarten. Denn zumindest in feministischer Forschung ist klar, dass die Quote allein nicht ausreicht, um ‚Frauen an die Spitze‘ zu bringen. So wird in Kapitel 5 „Frauen und Führung“ gezeigt, wie die „gläserne Decke“, oder in den Worten von Alina S. Hernandez Bark und Rolf van Dick das „Labyrinth“ beschaffen ist, und welche internen und externen Faktoren dazu führen, dass Frauen an irgendeinem Punkt ihrer Karriere stehen bleiben, bzw. aussteigen. Die AutorInnen haben ein breites und aktuelles Sample von Studien aus der Sozial- und Organisationspsychologie ausgewertet, das es ihnen ermöglicht, der Unterrepräsentanz von Frauen in Führungspositionen empirisch breit nachzugehen. Sie betonen die Nachhaltigkeit von Geschlechterstereotypen und Geschlechtsrollen, die etwa bei Berufswahl oder Machtmotivation von Frauen eine Rolle spielen und zeigen die Widersprüchlichkeit zwischen Geschlechtsrolle und Führungsrolle auf. Dies führt letztlich dazu, dass nach wie vor Stereotype und Vorurteile hinsichtlich der Eignung von Frauen in Führungspositionen bestehen und Frauen diskriminiert werden. Und das, obwohl Studien belegen, dass Frauen ein effektiveres Führungsverhalten als Männer zeigen und sie Unternehmenserfolge maßgeblich beeinflussen. Im Fazit werden gesellschaftliche Akteure, neben den Unternehmen/Organisationen vor allem Politik und Gewerkschaften in die Pflicht genommen, „an der Stärkung der Gleichberechtigung“ von Frauen zu arbeiten und die bestehende Inkongruenz zwischen Geschlechts- und Führungsrolle zu reduzieren. Der zweite Beitrag in diesem Kapitel arbeitet heraus, wie sehr große Organisationen auch heute noch ein auf Männer abgestimmtes Unternehmensklima haben oder in den deutlichen Worten der Familienforscherin Meier-Gräwe: wie sehr „männliche Monokulturen auf den Chefetagen nach

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http://www.diw.de/de/diw_01.c.495406.de/themen_nachrichten/managerinnen _barometer_2015_spitzengremien_grosser_unternehmen_in_deutschland_bleiben_maennerdomaenen.html (Abruf 07.03.2015).

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wie vor die Regel sind“ (Meier-Gräwe 2014). Am Beispiel einer großen Organisation mit einem Männeranteil auf der Führungsebene von 95 Prozent zeigt Heather Hofmeister auf Basis leitfadengestützter Interviews mit 14 Führungsfrauen, wie unterschiedlich deren männlichen Kollegen mit Zeit und Technik umgehen. Eine männlich dominierte Arbeitsplatzkultur mit überlangen Sitzungen ohne Verpflegung und ohne Pausen, d.h. auch ohne Rücksicht auf körperliche Bedürfnisse, bestimmt den Arbeitsalltag für alle, Alternativen dazu werden quasi nicht zugelassen. Mit Mails ganz spät abends und am Wochenende wird nicht endende Arbeit und fortwährende Erreichbarkeit demonstriert. Die Sphären Freizeit und Privatheit bleiben gänzlich unsichtbar. All dies sowie der mangelnde Zugang zu informellen Netzwerken setzt Führungsfrauen unter großen Anpassungsdruck. Hofmeister stellt heraus, dass die männlich dominierten Verhaltensweisen auf der Führungsebene großer Organisationen die allgemeinen Merkmale hegemonialer Männlichkeit erfüllen, wie sie von Connell und anderen beschrieben wurde. Ergänzend zu diesen beiden Beiträgen über „Frauen und Führung“ sei darauf hingewiesen – das zeigen auch unsere Untersuchungsergebnisse im Forschungsprojekt –, dass im Zeitalter von Social Media und Social Business derzeit eine wichtige Akzentuierung des Themas stattfindet, und zwar in Richtung „Führen in Teilzeit“, wohlgemerkt für Frauen und für Männer (vgl. Kirschenbauer i. d. Bd.). Damit ist nicht zuletzt die bessere „Vereinbarkeit von Erwerbsarbeit und Privatleben“ (Kapitel 6) angesprochen, die Vielen als Prüfstein für Gleichberechtigung und Geschlechtergerechtigkeit gilt. Dass die Vereinbarkeitsproblematik insbesondere Frauen betrifft, gilt trotz Elterngeld, Vätermonaten und dem Rechtsanspruch auf einen Kita-Platz in der Öffentlichkeit immer noch als selbstverständlich. Besonders der hohe Anteil teilzeitarbeitender Frauen belegt, wie gerade sie es sind, die den Spagat zwischen Familie und Beruf versuchen. In der Tendenz sind die Kernaussagen des Gender Daten Reports 2005 zur Vereinbarkeit weiter gültig: „Während Väter deutlich mehr bezahlte Arbeit leisten als Mütter, leisten Mütter das Gros der Familienarbeit, auch wenn sie erwerbstätig sind. Der Arbeitsein-

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satz von Vätern in der Familie nahm in den letzten zehn Jahren kaum zu“. 3 Auch die sog. Männerstudie des Instituts für Demoskopie Allensbach aus dem Jahr 2013 spricht hier eine deutliche Sprache (Bild der Frau 2013). Anja Bultemeier betont in ihrem Beitrag, dass die „alte Problemkonstellation“ der Vereinbarkeit von Erwerbsarbeit und Familie entscheidend die Karriereintegration von Frauen blockiert. Sie zeichnet differenziert nach, wie sich Karrierepraxen und Karrierestrukturen mit dem Wandel von fordistischen zu systemisch integrierten Unternehmen verändert haben und welche Chancen, aber auch Barrieren das für Frauen birgt. Mit Regina Becker Schmidt geht Bultemeier von der „doppelten Vergesellschaftung“ von Frauen aus, also der Form der Sozialisation, die dazu führt, dass Frauen sich für Familie und Beruf zuständig fühlen und in beiden Defizite erleben. Gezeigt wird aber auch die Betroffenheit von Männern, denn grundsätzlich gehen Karrieren in systemisch integrierten Unternehmen mit einer „Verdichtung von Anforderungen in vielfältigen Bewährungsproben“ einher und sind „nur sehr schwer mit aktiver Sorgearbeit in der Familie vereinbar“. Die „Unvereinbarkeitsproblematik“ könne also – wenn auch in unterschiedlicher Form – Männer und Frauen betreffen. Bultemeier sieht bei jüngeren Männern neue Ansprüche, mehr Zeit für Familie und Freizeit zu haben. Sie brechen zwar nicht unbedingt mit der traditionellen Geschlechterrolle, versuchen aber die Karrierespielregeln auszudehnen. Diese Ansprüche sowie der hohe politische und gesellschaftliche Druck auf Unternehmen, die Karrierechancen von Frauen zu verbessern, bieten aktuell günstige Gelegenheitsstrukturen dafür, „das Leben“ stärker in die Karrierepraxen von Unternehmen zu integrieren. Annette von Alemann und Mechthild Oechsle plädieren für einen erweiterten Vereinbarungsbegriff und sprechen von „zwei Seiten der Vereinbarkeit“, die heute zu berücksichtigen sind. Damit sind zum einen die Individuen, und zwar explizit Männer und Frauen gemeint und zum anderen die Organisationen. Dem entsprechend befassen sich die Autorinnen in ihrem Beitrag mit alten und neuen Vereinbarkeitskonstellationen von Müttern und Vätern (z. B. mit Führen in Teilzeit, Dual Career Couples und mit aktiver Vaterschaft) sowie mit Vereinbarkeitsdiskursen- und praxen in Organisationen, denen sie gleichermaßen „Persistenz und Wandel“ bei dieser Thema-

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http://www.bmfsfj.de/doku/Publikationen/genderreport/5-vereinbarkeit-vonfamilie-und-beruf.html (Abruf 08.03.2015).

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tik bescheinigen. Auffällig ist, dass familienfreundliche Unternehmen Mütter durchaus in Vereinbarkeitsfragen unterstützen, aber dass die Unternehmenskultur nach wie vor verhindert, eine Nutzung der Instrumente auch für Männer zuzulassen. Diese haben eher mit negativen Reaktionen zu rechnen und verzichten daher oft auf Vereinbarkeitsforderungen. Im Fazit werden die ausdifferenzierten Konstellationen, in denen Familie und Beruf heute gelebt wird, beleuchtet und betont, dass „uneingeschränkte Verfügbarkeitsnormen und Geschlechterkulturen“ in den Organisationen dazu führen, dass Vereinbarkeitsansprüche von Männern zu kurz kommen und Frauen immer noch die Reproduktionsarbeit zugewiesen werde. Angesichts von Fachkräftemangel und demographischem Wandel ist eine solche Familienfreundlichkeit nur für Frauen von Unternehmen und Organisationen zukünftig nicht mehr haltbar. Unser Forschungsprojekt über bewegliche Geschlechterarrangements im Informationszeitalter zeigt u. a., dass insbesondere jüngere Männer sich nicht mehr nur auf ihre Karriere konzentrieren wollen, sondern an mehr Zeit für Freizeit und Familie interessiert sind. Die neuen Informations- und Kommunikationstechnologien führen dazu, dass in vielen Berufen eine Entgrenzung von Erwerbsarbeit und Privatleben stattfindet. Durch das hiermit verbundene Aufbrechen von Produktion und Reproduktion/Öffentlichkeit und Privatheit eröffnen sich neue Spielräume, die immer neu austariert werden müssen. Auch wenn es sich bei diesen Neuaushandlungen um vielschichtige Prozesse mit offenem Ausgang handelt, lohnt es sich, die Potentiale für bewegliche Geschlechterarrangements auszuschöpfen – im Sinne einer größeren Geschlechtergerechtigkeit, aber auch um der inzwischen in der Sozialforschung konstatierten „Krise der Reproduktion“, die vor allem als Krise der Haus-und Sorgearbeit gefasst wird, zu begegnen. Eine grundsätzlich neue Auffassung von der männlichen Rolle sowie die radikale Veränderung der Organisation des Arbeitslebens – darauf hat schon die Sozialphilosophin Nancy Fraser vor fast zwei Jahrzehnten in einem „postindustriellen Gedankenexperiment“ hingewiesen (Fraser 1996) – sind und bleiben unverzichtbar für ihr Modell der universellen Betreuungsarbeit und sind Voraussetzung für die Gleichheit der Geschlechter.

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2. Bewegliche Geschlechterarrangements – Neuformierung von Arbeit und Leben durch Informatisierung?

Neuformierung von Arbeit und Leben durch Informatisierung? Projektergebnisse – Empirische Auswertungen A NNETTE K IRSCHENBAUER

D AS P ROJEKT „B EWEGLICHE G ESCHLECHTERARRANGEMENTS – N EUFORMIERUNG VON ARBEIT UND L EBEN DURCH I NFORMATISIERUNG ?“ Facebook, Twitter und Co. sind aus dem privaten Bereich kaum mehr wegzudenken. Aber wie sieht es inzwischen in der Arbeitswelt aus? Die zunächst hauptsächlich im Privatbereich angesiedelten Social Media und mobilen Anwendungen halten mittlerweile auch Einzug in Businessbereiche. Welchen Einfluss haben die neuen Medien und neuen Kommunikationsmöglichkeiten auf die Arbeitswelt und die Beschäftigten? Mit den Technologien und Konzepten des Web 2.0 sind neue digitale Formen der Kommunikation entstanden, durch die Interaktion, Kooperation und Partizipation noch stärker als bisher möglich werden. Diese Entwicklungen stellen eine Grundlage für die weitere Flexibilisierung von Arbeit dar. Gleichzeitig geht damit eine fortschreitende Digitalisierung und Virtualisierung aller Lebensbereiche einher, die so zu Umbrüchen in der Arbeits- und Lebenswelt beitragen können. Diesen und weiteren Fragen sind wir von September 2011 bis September 2013 in dem vom BMBF und dem ESF geförderten Projekt „Bewegliche Geschlechterarrangements – Neuformierung von Arbeit und Leben

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durch Informatisierung?“ am Cornelia Goethe Centrum für Frauenstudien und die Erforschung der Geschlechterverhältnisse der Goethe-Universität Frankfurt am Main nachgegangen. Das Projekt befasste sich mit den neuesten Entwicklungen der Informations- und Kommunikationstechnologien. Es verband die rasante ‚Informatisierung von Arbeit‘ und die damit verbundene Auflösung gegebener Raum-Zeit-Strukturen mit der Frage nach Veränderungen der Arbeits- und Lebenswelten über die heute bekannten und teilweise auch schon umgesetzten Möglichkeiten hinaus. Dabei ging es um die Auswirkungen auf neue Beschäftigungsformen, um die Grenzverschiebungen zwischen Erwerbsarbeits- und Privatleben und um ein Abwägen der daraus resultierenden Folgen. Das Projekt konnte eine Verbindung zwischen den neuen Technologien und Fragen der Work-Life-Balance von Frauen und Männern herstellen. Dies umfasste sowohl Entwicklungen in der Arbeitswelt, als auch Entwicklungen im Privatbereich. Diskutiert wurde, ob und inwiefern die neuen Technologien Potentiale beinhalten für eine intelligente Verzahnung von Erwerbsarbeit und Privatleben, in der bisherige Geschlechterarrangements beweglicher werden und eine bessere Ausbalancierung von Erwerbsarbeit und Privatleben gelingen kann. Ausgangspunkt der Überlegungen war die Hypothese, dass letztlich nur bewegliche Geschlechterarrangements, in denen Männer und Frauen Erwerbsarbeit und Privatleben, Privatheit und Öffentlichkeit besser austarieren (können), zu mehr Geschlechtergerechtigkeit beitragen und dadurch die Berufs- und Karriereverläufe, aber auch die Ausgestaltung von Haus- und Sorgearbeit positiv beeinflussen. Im Projekt wurden die komplexen Zusammenhänge zwischen der fortschreitenden Informatisierung und der zunehmend geforderten Balance zwischen Arbeit und Leben analysiert. Entscheidend dafür war die Gegenüberstellung der Anforderungen der Arbeitswelt und der Bedürfnisse der Subjekte, um so Möglichkeiten aufzuzeigen, wie eine solche Balance erreicht werden kann. Darüber hinaus galt es Ansätze für neue Arbeitsweisen aufzuzeigen, die es (hoch)qualifizierten Frauen, die sich heute noch in der stillen Reserve befinden, erleichtern einen Einstieg ins Erwerbsleben zu finden. Inwieweit die jeweils eingesetzten Informations- und Kommunikationstechnologien die Handlungsspielräume und Profilierungschancen der Beschäftigten einschränken oder gegebenenfalls erweitern und darüber die innerbetrieblichen Geschlechterverhältnisse tangiert werden, galt es ebenfalls herauszufinden. Denn angesichts der beschriebenen Entwicklungen ist

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es politisch, wirtschaftlich und gesellschaftlich unabdingbar einer Veränderung der Lebens- und Arbeitsumstände von Frauen zuzuarbeiten. Mit den empirischen Erhebungen wurde versucht die Forschungslücke in diesem Bereich zu schließen. Das Projekt hat aber auch eine mögliche Aufweichung der Grenzen zwischen Arbeits- und Berufsleben thematisiert, die nicht unbedingt negativ sein muss, sondern die vielleicht auch bedingt ist durch die Bedürfnisse der Subjekte nach mehr Freiheit und Selbstbestimmung. An diesem Punkt unserer Überlegungen kam auch der Genderaspekt zum Tragen, denn die Neuformierungen von Arbeit und Leben durch Informatisierung in Verbindung mit der möglichen Ausräumung von Barrieren für Frauen im Berufsleben und dadurch möglicher neuer Arrangements zwischen den Geschlechtern ist bislang erst unzureichend erforscht worden. An dem hier beschriebenen Spannungsfeld setzte das Forschungsprojekt an und ging den Entwicklungen in der Arbeitswelt und im Privatbereich nach, die sich durch den intensiven Einsatz neuer Informations- und Kommunikationstechnologien bisher ergeben haben. Angesichts der neuen technischen Herausforderungen war zu überlegen, ob und wie eine Ausgewogenheit von Arbeiten und Leben stattfinden kann. Dabei wurden negative und positive Aspekte einer Flexibilisierung von Arbeit durch Informatisierung recherchiert und mit Blick auf die Erfordernisse der Wirtschaft sowie mit Blick auf die Bedürfnisse der Subjekte abgewogen. Zur Analyse der komplexen Zusammenhänge zwischen neuen Technologien, den Anforderungen der Arbeitswelt und den Bedürfnissen der Subjekte wurden verschiedene Akteure in den Blick genommen: Unternehmen, Erwerbstätige aus wissensintensiven Arbeitsbereichen, ExpertInnen aus der Wirtschaftsinformatik, Organisationslehre, Betriebswirtschaft und Arbeits- und Genderforschung sowie Gewerkschaften. Zur Beantwortung der Fragestellung des Projektes wurden mehrere methodische Ansätze miteinander kombiniert: Inhaltsanalysen, Befragungen und interaktive Kommunikation.

Inhaltsanalysen Mittels Inhaltsanalysen wurden aktuelle Texte, Zeitschriften- und Zeitungsartikel, aber auch Weblogs und Chats mit Blick auf die Projektfragestellung ausgewertet und Kommunikationsinhalte jeder Art nach festgelegten Regeln in Kategorien klassifiziert. Im Projekt wurde eine strukturierende In-

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haltsanalyse durchgeführt, die das Textmaterial unter bestimmten Kriterien analysiert, um spezifische Aspekte besonders herauszufiltern (Mayring 2008). Im ersten Schritt ging es darum, Entwicklungen und neueste Trends innovativer Arbeitsformen, die sich durch neue Anwendungen in der Informations- und Kommunikationstechnologien ergeben, herauszufinden. Im zweiten Schritt wurde mittels qualitativer Textanalysen erhoben und interpretiert, inwieweit neue Anwendungen in der IuK-Technologie zu einer geänderten Nutzungs- und Arbeitswelt führen, und welche Auswirkungen dies hinsichtlich der Grenzverschiebungen zwischen Arbeits- und Privatleben hat. Dabei standen vor allem zwei Trends im Fokus der Betrachtung: Einerseits die Entwicklung, dass Unternehmen mehr Flexibilität von ihren ArbeitnehmerInnen einfordern, was zu einer Grenzverschiebung zu Ungunsten des Privatlebens führen kann. Andererseits galt es Trends auszumachen, bei denen die aus dem Privatnutzungsbereich der Subjekte stammenden Anwendungen des Web 2.0 (beispielsweise Wikis, Blogs, Chats) Einzug in den Arbeitsalltag finden und zur Flexibilisierung der Erwerbsarbeit zugunsten der ArbeitnehmerInnen führen können. Anschließend wurden diese Erhebungen im Hinblick auf die Möglichkeiten eines „Ausbalancierens“ zwischen Erwerbsarbeit und Privatleben sondiert, um neue Arbeitsweisen herauszukristallisieren, die einem gewünschten Gleichgewicht von Arbeits- und Berufsleben Rechnung tragen. Die Inhaltsanalysen bezogen Medien, Fachzeitschriften, Websites, Weblogs sowie Chats mit ein und umfassten die Bereiche Wirtschaftsinformatik, Organisationsforschung, Arbeitssoziologie und Genderforschung. Dabei interessierten Einflussfaktoren, Rahmenbedingungen und Trends, die für die Fragestellung des Projekts von Bedeutung sind. Neben einer Sekundäranalyse neuerer Literatur wurden Fachzeitschriften und Weblogs zum Thema Arbeit und Leben inhaltsanalytisch ausgewertet. In diesem Untersuchungsteil ging es darum, den derzeitigen Status-quo herauszufiltern und insbesondere neueste Trends und Prognosen hinsichtlich innovativer Arbeitsformen zu erheben.

Befragungen Im Mittelpunkt des Projektes standen empirische Erhebungen, d.h. qualitative Befragungen. Zum einen wurde mittels Interviews den Sichtweisen und Einschätzungen der betroffenen ArbeitnehmerInnen nachgegangen, um

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herauszufinden, wie sie sich ein besseres Austarieren von Arbeit und Leben vorstellen. Zum anderen wurden Befragungen bei Unternehmen durchgeführt, in denen es um ihre Anforderungen an Erwerbstätige und die Möglichkeiten der Umsetzung innovativer Arbeitsformen geht, bzw. die derzeit bereits realisierte Umsetzung solcher neuen Arbeitsformen. Gespräche mit ExpertInnen aus den Bereichen Wirtschaftsinformatik, Organisationslehre, Betriebswirtschaft und Soziologie (Arbeits- und Genderforschung) sowie Gewerkschaften konnten als Kontextanalysen die Ergebnisse der Interviews unterstützen. Die Befragung der erwerbstätigen Frauen und Männer aus wissensintensiven Arbeitsbereichen diente u.a. zur Ermittlung der Bedürfnisse und Vorstellungen von Frauen und Männern hinsichtlich der Vereinbarkeit ihrer individuellen Lebensentwürfe mit ihrer beruflichen Tätigkeit. Ferner wurden die subjektiven Einstellungen zur Arbeit mit Technologien des Web 2.0 ermittelt sowie Vor- und Nachteile der neuen Arbeitsweisen diskutiert. Individuelle Auswirkungen auf die Aushandlungsprozesse zwischen den Geschlechtern konnten dadurch erörtert werden. Es wurden 30 Interviews mit erwerbstätigen Frauen und Männern geführt. Zuerst wurde das Erhebungsinstrument (unterschiedliche Fragebögen für jede Befragungsgruppe) entwickelt, um dann auf dieser Basis die Einzelinterviews durchzuführen. Umfassende Handlungsorientierungen und Verhaltensmuster lassen sich am besten mittels qualitativer, weitgehend offener Untersuchungsmethoden erheben, um der Komplexität und Fallspezifität der Phänomene und dem persönlichen Erfahrungshintergrund der Befragten gerecht zu werden. Um die Vergleichbarkeit der Untersuchungsergebnisse zu sichern, ist allerdings eine gewisse Standardisierung der Interviewfragen notwendig, wobei die Antwortmöglichkeiten der Befragten möglichst wenig eingeschränkt werden sollen. Angesichts des Spannungsverhältnisses von Fallspezifität und Vergleichbarkeit boten sich bei der Fragestellung des Projektes leitfadengestützte, teilstrukturierte Interviews an. Die Gesprächsführung in den Interviews beinhaltet Elemente sowohl des „problemzentrierten“ (Witzel 2000) als auch des „episodischen Interviews“ (Flick 2004). Anders als in völlig offenen Interviewformen sind die Interviews hier durch eine konkrete Problemzentrierung gekennzeichnet. In einem weiteren Schritt ging es dann darum, den Stand der Erkenntnis in Unternehmen verschiedener Größenordnung und unterschiedlicher Branchen über Möglichkeiten und Bedenken bei der Umsetzung neuer Arbeitsformen zu erfragen. Hierfür wurden zehn standardisierte Interviews mit den

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Verantwortlichen in Unternehmen aus der IT-Branche, Finanzwesen, Medien, Luftfahrt, Beratung geführt. Aus den empirisch ermittelten Bedürfnissen der Subjekte und der Perspektiven der Unternehmen konnte das zukünftige Entwicklungspotential für Veränderungen der Arbeitsbedingungen bzw. -möglichkeiten ermittelt werden. Zusätzlich wurden zehn Interviews mit ExpertInnen geführt. Diese Interviews konnten die gewonnenen Erkenntnisse aus der oben genannten Inhaltsanalyse sowie der Befragung von Betroffenen und von Unternehmen ergänzen und vertiefen.

Interaktive Kommunikation Es wurde ein eigener Internetauftritt für das Projekt entwickelt. Dieses Kommunikationsforum diente zum einen der Kommunikation der Projektbeteiligten und zum anderen der Kontaktaufnahme zu potentiellen BefragungspartnerInnen. Auf der projekteigenen Webseite konnte in einem Weblog diskutiert sowie an regelmäßigen Umfragen teilgenommen werden. Im Blog werden Themenbereiche behandelt, wie beispielsweise • die Auswirkungen der neuen Informations- und Kommunikationstechnologien auf das Berufs- und Privatleben. • der Einfluss von Social Media Technologien auf Arbeitsabläufe in Unternehmen. • der Stellenwert von Arbeit im Verhältnis zum Privatleben. Nachfolgend sollen die Ergebnisse des Projektes vorgestellt werden. Grundlage dafür bilden die dargestellten methodischen Ansätze, aber insbesondere die durchgeführten Interviews, deren Ergebnisse im Mittelpunkt stehen. Die Darstellung der Ergebnisse in diesem Beitrag gliedert sich in vier unterschiedliche Themenbereiche: • Veränderte Kommunikation: Social Media und Social Business, • Zukunft der Arbeit unter dem Einfluss der Informatisierung, • Flexible Arbeitsweisen: Teilzeit und Führung 2.0, • Vereinbarkeit von Erwerbsarbeit und Privatleben.

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V ERÄNDERTE K OMMUNIKATION : S OCIAL M EDIA UND S OCIAL B USINESS Seit einigen Jahren wird die Kommunikation im Internet, welche übrigens seitens vieler Nutzer und Nutzerinnen mit dem Motiv der Verständigung und keineswegs vorrangig der Informatisierung betrieben wird (Wischermann 2004), tendenziell enger in Beziehung gebracht zu den Informatisierungsbestrebungen der Wirtschaft und anderen gesellschaftlichen Teilsystemen. Mit dem Internet hat sich ein Medium etabliert, das die Kommunikationsmöglichkeiten grundsätzlich verändert. Dadurch verändert sich auch das Verhältnis von Arbeits- und Lebenswelt (Röser 2007). In der Geschichte des Internet ist immer wieder gefragt worden, ob und wie die zunehmende digitale Mediatisierung der Gesellschaft die Kommunikation umwälzt (Münker/ Roesler 1997). Auch wurde zur Diskussion gestellt, ob das Internet die Geschlechterbeziehungen revolutionieren kann (Klaus 1997). Die Entwicklung oder genauer: Normalisierung der Praxis zeigte dann, dass viele Erwartungen und Visionen nicht eingelöst wurden (Münker/ Roesler 2002), sie zeigte allerdings auch, wie schnell und wie selbstverständlich digitale Medien in den „MedienAlltag“ der NutzerInnen integriert wurden (Röser 2007). Gleichwohl: Mit der Entstehung des Web 2.0 hat sich die Kommunikation grundlegend verändert, vielleicht sogar revolutioniert. Die Inhalte des Web 1.0 wurden von wenigen BearbeiterInnen (Personen und Organisationen) erstellt und waren überwiegend mit statischen Seiten aufgebaut. Es fungierte hauptsächlich als Informationsplattform für die BenutzerInnen, welche die bereitgestellten Informationen „konsumierten“. Das Web 2.0 hingegen zeichnet sich dadurch aus, dass die UserInnen nun nicht mehr nur „konsumieren“, sondern selbst Inhalte erstellen, bearbeiten und verbreiten können. Die Rede ist vom „Internet zum Mitmachen“, die Inhalte werden durch die Partizipation der NutzerInnen mitbestimmt (ein Beispiel hierfür ist die freie Enzyklopädie Wikipedia). Der Begriff „Web 2.0“ wurde von O’Reilly (O'Reilly 2005) geprägt und umschließt einerseits Technologien und Anwendungen, anderseits aber auch Verhaltensänderungen von Internetnutzern und -nutzerinnen. Das Internet bietet durch das Web 2.0 gänzlich neue Möglichkeiten des Umgangs mit Inhalten und eine unmittelbare gegenseitige Kommunikation (Meckel/ Stanoevska-Slabeva 2008, 15-16).

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Neue Dienste und Anwendungen prägen das Erscheinungsbild des Web 2.0, beispielsweise Video- und Musikportale, Mediatheken, Tauschbörsen, Online-Communities für verschiedene Gruppen und Interessen, Blogs und wissensbasierte Wikis (Münker 2009, 20). Zentral für diese Anwendungen sind eine „neue“ Art der Kommunikation bzw. Zusammenarbeit sowie die Vernetzung der UserInnen und der Applikationen untereinander. BenutzerInnen arbeiten beispielsweise gemeinsam an Problemlösungen oder der Erstellung von Online-Enzyklopädien, sie diskutieren über unterschiedlichste Themen in Foren und Chats, tauschen Erfahrungen aus und schließen sich in interessenbezogenen Netzwerken zusammen. Neu ist die aktive Beteiligung der InternetnutzerInnen, die so nicht länger nur als LeserIn oder KonsumentIn zu sehen sind. Im Gegenteil: Die Inhalte des Web 2.0 sind „User-generated Content“, sie werden von den NutzerInnen selbst erstellt (Schütt 2013, 7-8). Aufgrund der Dynamik dieser Dienste (insbesondere des Social Web) ist es möglich geworden, innerhalb kürzester Zeit Informationen zu verbreiten und die Aufmerksamkeit von Millionen von NutzerInnen zu erlangen, wie es für andere Medien nur schwer möglich ist. Die Erweiterung des Internet durch die Anwendungen und Dienste des Web 2.0 bestimmten seine enorme Popularität. In einem kurzen Zeitraum entwickelten sich die bisher passiv-konsumierenden NutzerInnnen zu aktivpartizipierenden NutzerInnen (Fey 2012, 62). Im Web 2.0 werden die Inhalte nicht nur gemeinsam geschaffen, sondern Ideen oder Gedanken werden der Öffentlichkeit auch (sofort) zur Beurteilung zur Verfügung gestellt, und veränderte soziale Strukturen entstehen. Mit den Technologien und Konzepten des Web 2.0 sind neue digitale Formen der Kommunikation entstanden, durch die Interaktion, Kooperation und Partizipation verstärkt möglich werden. Die massenhaft verbreitete Nutzung gemeinschaftlich geteilter, interaktiver Medien rückt immer mehr in den Mittelpunkt (Münker 2009, 132). Das Internet wird auch zunehmend „menschlich“, soziale Kontakte, egal ob romantischer, freundschaftlicher oder professioneller Natur (beispielsweise XING oder Facebook), werden im Internet gepflegt oder sogar neu gefunden. Es findet ein sozialer Austausch statt, Frauen und Männer treffen sich online und nutzen unterschiedliche Plattformen und Services für ein digitales Gemeinschaftserlebnis. 2009 wurde für diesen Trend erstmals der Begriff „Webciety“ (Berg 2009) geprägt, also die Verbindung von Web und Society hergestellt.

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Social-Media Anwendungen haben sich in der heutigen Web-Welt etabliert (siehe beispielsweise Hubert Burda Media 2014). Die „Social“Komponente gehört mittlerweile zum Standard des Internets. Weitere Entwicklungen wie beispielsweise Cloud Computing und Big Data tragen zu einer weiteren Entwicklung bei (BITKOM 2013a, 3). Diese Kommunikations- und Interaktionsmöglichkeiten, insbesondere Social Software, ursprünglich im Bereich des Privaten entstanden, bleiben aber mittlerweile nicht mehr auf den privaten Bereich beschränkt. Sie ermöglichen neue Formen der Zusammenarbeit in und außerhalb von Unternehmen und Organisationen. Web 2.0. Plattformen können Unternehmen „neue Bühnen“ (Meckel/ Stanoevska-Slabeva 2008, 26) zur Präsentation ihrer Produkte und Dienstleistungen, die über eine Firmen-Homepage hinausgehen, bieten. Es entstehen aber auch neue Instrumente, sogenannte Social Business Anwendungen, die für die interne Kommunikation im Unternehmen genutzt werden und das klassische Intranet erweitern können. Die umfassende Bedeutung der Informatisierung, die zunehmende Verbreitung von Informations- und Kommunikationstechnologien ist in allen gesellschaftlichen Bereichen zu beobachten. In Bezug auf die Erwerbsarbeit tauchen Begriffe wie Enterprise 2.0, Leadership 2.0, Social Media, Social Business etc. immer häufiger auf. Anwendungen dieser Art beziehen sich auf Anpassungen der Geschäftsprozesse und Softwareanwendungen in der Unternehmenspraxis, d.h. Unternehmen orientieren sich zunehmend an den Prinzipien des Web 2.0 (Back/ Gronau/ Tochtermann 2012, 1-3). Unternehmen nutzen verstärkt unterschiedliche Social-MediaPlattformen. Laut einer Umfrage, für die der Bundesverband Informationswirtschaft, Telekommunikation und neue Medien e. V. (BITKOM) mehr als 700 Unternehmen befragen ließ, setzen 47 Prozent von ihnen auf Social Media. Weitere 15 Prozent planen ihren Einsatz. Die Zielsetzung der meisten Unternehmen ist dabei eindeutig: 82 Prozent wollen die Bekanntheit steigern, 72 Prozent neue Kunden gewinnen und 68 Prozent die Beziehung zu diesen pflegen. Weitere Ziele sind Imageverbesserung (42 Prozent), Beziehungspflege zu Multiplikatoren (32 Prozent), Marktforschung (31 Prozent) und Gewinnung neuer Mitarbeiter (23 Prozent) (BITKOM 2012a). Im Laufe des Projektes – insbesondere in Gesprächen mit Unternehmen und mit WirtschaftsinformatikerInnen – stellte sich heraus, dass Social Business eine größere Bedeutung zukommt, als es zu Beginn des Projektes zu erwarten war. Es wurde aber auch deutlich, dass vor allem in den Medien-

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diskursen Begriffe wie Social Media und Social Business nicht eindeutig voneinander abgegrenzt werden. Nach einer Definition des Bundesverband Informationswirtschaft, Telekommunikation und neue Medien e. V. ist unter Social Business zu verstehen: „[…] alle Aktivitäten in einem Unternehmen, die auf Social Media, Social Software und Social Networks setzen, um effizientere, effektivere und nützlichere Verbindungen zwischen Menschen, Informationen und Ressourcen herzustellen – sowohl innerhalb als auch außerhalb des Unternehmens.“ (BITKOM 2013a, 6)

Abbildung 1: Social Media Nutzung in deutschen Unternehmen

Quelle: in Anlehnung an BITKOM (2012): Social Media in deutschen Unternehmen

Im Forschungsprojekt haben wir zwischen den beiden Begriffen bezüglich der Innen- und Außenwirkung unterschieden und haben uns an folgender Definition orientiert: Während sich Social Media mehr auf das Marketing bzw. die Kommunikation eines Unternehmens nach außen bezieht, bezeichnen wir Social Business als den Einsatz von Social Media zur internen Kommunikation im Unternehmen. Aktuelle Studien kommen zu dem Ergebnis, dass der Stand der Unternehmen zum Thema Social Business sehr unterschiedlich ist. So geht beispielsweise eine gemeinsame Studie von Capgemini Consulting und dem Massachusetts Institute of Technology (MIT) Center for Digital Business zu digitaler Transformation davon aus,

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dass Unternehmen immer noch „Aufholbedarf bei digitalen Technologien“ haben (Capgemini Consulting/ Massachusetts Institute of Technology (MIT) Center for Digital Business 2011). Während einige Unternehmen bereits erkennen, dass es sich bei Einführung von Social Business um einen komplexen, langwierigen Transformationsprozess handelt, der sich noch in einem Anfangsstadium befindet und bei dem es gilt, auch die Personal- und Organisationsentwicklung mit einzubeziehen, haben andere Unternehmen ihre Vorhaben zu dem Themenbereich bereits abgeschlossen oder noch gar nicht begonnen (Niemeier 2014). Wichtig hierbei ist eine strategische Ausrichtung, d.h. eine konkrete Planung der Einführung sowie die Vereinbarkeit mit den Unternehmenszielen und der Unternehmensphilosophie. Der Branchenverband BITKOM kommt in einer Studie 2013 zu dem Ergebnis, dass 71 Prozent der Befragten IT-Unternehmen bereits auf Social-Software-Lösungen, wie beispielsweise Enterprise Social Network, Wikis und interne Blogs für den internen Einsatz setzen. Schon 53 Prozent nutzen Soziale Netze wie Facebook und Xing auch für die interne Kommunikation. Aus Gründen der Datensicherheit wird diese Nutzung aber als risikoreich eingestuft. Die Unternehmen, die Social Business Tools einsetzen, sehen auch einen positiven Nutzen darin, beispielsweise für das Wissensmanagement und die Kommunikation der MitarbeiterInnen intern oder zwischen verschiedenen Unternehmensstandorten weltweit (BITKOM 2013a, 6). Unsere Interviews mit Unternehmen unterschiedlicher Branchen bestätigen diesen Trend und zeigen, dass Social Business (Blogs, Wikis etc.) bereits verstärkt beruflich intern und extern eingesetzt werden, neben den bereits möglichen Kommunikationsformen wie E-Mail, Intranet und Telefon. Die Kommunikation in Unternehmen entwickelt sich weg vom Schreiben von E-Mails, hin zur Nutzung von Social Networking. (Küll 2013) Soziale Netzwerke sind Online-Anwendungen wie beispielsweise Facebook, MySpace, Stayfriends, Pinterest und Twitter, aber auch beruflich einsetzbare Plattformen wie Xing und LinkedIn. Diese Seiten ermöglichen das Anlegen eines persönlichen Profils, wodurch die Möglichkeit besteht, „soziale Beziehungen zu anderen Nutzern explizit zu machen und mit Hilfe des so artikulierten Freundes- oder Kontakt-Netzwerkes auf der Plattform zu navigieren bzw. zu interagieren“ (Schmidt 2011, 25-26).

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Abbildung 2: Kommunikationsformen E-Mail, Instant Messaging und Social Networking im Vergleich

Quelle: in Anlehnung an Küll, Uwe (2013): Social Media. Firmen brauchen die digitale Kaffeeküche. In: Computerwoche Online, 31.05.2013.

Lange Zeit wurde (und wird oftmals heute immer noch) die E-Mail für den Austausch von firmeninternen und –externen Informationen eingesetzt, unabhängig davon „ob das Instrument für den entsprechenden Kommunikationszweck überhaupt geeignet ist“ (Pieper 2013, 41). Dabei sollte die EMail ursprünglich als ein Instrument zum asynchronen Austausch über eine größere Distanz eingesetzt werden und den Brief ersetzen (Pieper 2013, 4142). Mittlerweile sind einige Unternehmen bestrebt, die „E-Mail-Flut“ einzudämmen. So beschreibt Stefan Pieper in seiner Veröffentlichung „In drei Jahren weg von der E-Mail – Wie künftig in Unternehmen kommuniziert wird“ das Pilotprojekt „Zero E-Mail“ in einem Unternehmen. Ziel dieses Projektes ist es, auf E-Mails in der internen Zusammenarbeit komplett zu verzichten. Dies löste eine breite öffentliche Diskussion aus und das Vorhaben wurde sehr kritisch, wenn nicht als unmöglich, beurteilt. Das Unternehmen wollte mit aufgestellten Regeln zur Reduzierung der E-Mails erreichen, dass bereits vorhandene alternative Technologien (z.B. Chats, Wikis, Social Network) häufiger eingesetzt werden und eine höhere Akzeptanz erreicht wird. Zusätzlich sollte ein Umdenken stattfinden, d.h. ein kultureller Wandel im Unternehmen erfolgen. Das E-Mail Aufkommen konnte in dem Pilot-Projekt bereits nach kurzer Zeit um 30 Prozent reduziert werden. Von Bedeutung ist, dass sich die Kommunikation bereits nach kurzer Zeit durch einen bewussteren Einsatz von E-Mails verändert hatte, und zwar von einem „Pull“ hin zu einem „Push“ Ansatz (Pieper 2013, 44-45). Auch von

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der Seite der Erwerbstätigen gibt es den Wunsch die Anwendungen aus dem privaten Bereich zur Unternehmenskommunikation einzusetzen. „Aber diese Erfahrung, ich habe ein Problem, mit dem ich sonst Wochen lang zu tun hätte, ich schmeiß das ins Internet und habe in zwei Minuten eine Antwort, die mich befriedigt, ist schon irgendwie ein tolles Erlebnis. Und das hätte ich auch gerne im Unternehmen. Und da hakt es natürlich daran, dass die Dinge nicht implementiert sind und man schon gar nicht die Möglichkeit hat, zum Beispiel alle Kollegen in der Firma irgendwie was zu fragen.“ (Interview_SPS2)

Einer aktuellen Studie zum Thema „Enterprise Social“ von Microsoft (Microsoft Deutschland GmbH 2013) zufolge, möchten erwerbstätige Frauen und Männer immer weniger auf ihre gewohnten Instrumente, d.h. sozialen Netzwerke, im Berufsalltag verzichten. Die ArbeitnehmerInnen sehen Vorteile in der Nutzung der Sozialen Medien am Arbeitsplatz, gehen aber davon aus, dass die ArbeitgeberInnen eben diese Vorteile unterschätzen. Da die sogenannten „Mitmachnetze“ die unternehmensinterne Zusammenarbeit und Kommunikation stark verändern, insbesondere in Bezug auf die Transparenz und Möglichkeit ungefragt Feedback zu geben, zögern viele Unternehmen Soziale Medien auch intern einzusetzen (Mesmer 2013). Die bisher aufgezeigten Veränderungen sind längst noch nicht abgeschlossen. Auch während der Projektlaufzeit konnten wir im Rahmen der Sekundäranalyse die Dynamik miterleben und die weitgreifenden Veränderungen in den Medienkonjunkturen nachverfolgen. Ein weiterer wichtiger Aspekt ist, dass sich der durch die Technologien des Web 2.0 ausgelöste Wandel nicht nur auf die Unternehmenskommunikation beschränkt sondern auch Auswirkungen auf die internen Arbeitsprozesse hat. Dies zeigen unsere Befragungen mit Unternehmen aus den Bereichen IT, Finanzwirtschaft, Medien, Luftfahrt und ManagementBeratung. Die Rede ist von einer „Öffnung der Prozesse“ (Interview_UI1), und zwar ganz bewusst und gewünscht von den Unternehmen. „Aber hier geht es tatsächlich darum, dass man die Prozesse verändert, dass man die Prozesse öffnet im Sinne von Social, also im Sinne von Mitmachfirma […]. Das heißt, dass man Leuten, die gar nicht unbedingt die Zuständigkeit für etwas haben, erlaubt, sich zu beteiligen. Und unterstrichen und fett gedruckt ist das Wort „erlaubt“. Also dass man das vielleicht in der Vergangenheit hier und da auch schon

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mal gemacht hat, ist sicherlich richtig, aber dass das offiziell erlaubt und gefördert und gewünscht ist, ist im Wesentlichen das Neue. Und dass man das dann auch Tools-artig unterstützt, ist noch mal was Neues.“ (Interview_UI1)

Die Anwendung der Social Business Tools, die dies unterstützen, erfordert jedoch - wie bereits am Beispiel des „Zero E-Mail“ Projektes verdeutlicht werden konnte – auch ein Umdenken in den Organisationsstrukturen der Unternehmen. Um den MitarbeiterInnen mehr Selbstbestimmung und Flexibilität zu gewähren, ist nicht nur der Einsatz der Technologien notwendig. Die weitreichenden Veränderungen verlangen vielmehr ein Umdenken in bestehenden Unternehmen. Dirk Hellmuth verweist in seinem Artikel „Social Enterprise 2.0 – die Unternehmensorganisation der Zukunft“ (Hellmuth 2012) auf die Aufgabe der Unternehmen, MitarbeiterInnen attraktive Angebote zu bieten. Social Enterprise 2.0 versteht er als eine moderne Unternehmensform, die ihren Schwerpunkt auf Unternehmenskultur, transparenten Austausch und umfassenden Einsatz von Technologien setzt. Als Hauptgedanken formuliert er diesbezüglich: • Schaffung einer Unternehmenskultur des Vertrauens, der Mitwirkung und Transparenz, • Unternehmensprozesse sollten dahingehend angepasst werden, dass es möglich wird den MitarbeiterInnen mehr Freiheit und Flexibilität zu gewähren, • Vorhandensein einer technologischen Basis, die eine Informationstransparenz, den direkten Austausch sowie die Flexibilität der Arbeitsweisen fördert (Hellmuth 2012). Dadurch, dass das Internet eine zunehmende gesellschaftliche Transparenz herstellt, wo Informationen nicht mehr hierarchisch gesteuert werden, wird eben diese Transparenz auch von den Unternehmen erwartet. Alleinige Entscheidungen der Unternehmensführung sind im Social Enterprise 2.0 nicht vorgesehen. Vielmehr sind Transparenz, Bereitstellung von Informationen, Flexibilität hinsichtlich der Arbeitszeiten und Vertrauen wichtige Grundvoraussetzungen für Unternehmen. Damit geht auch ein neuer Anspruch an eine Führungskraft einher. „Künftig ist Moderation wichtiger als Kontrolle. Die Führung setzt lediglich Rahmenbedingungen und moderiert das Team auf dem Weg zum Ergebnis, ohne diesen vorzugeben“ (Hellmuth 2012). Auch Führungskräfte müssen „Fragen transparent beantworten und auch

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mal Kritik hinnehmen. Ein soziales Netzwerk ist darum nicht nur Software, sondern wir beginnen, völlig anders zu kommunizieren und zu arbeiten“ (Mesmer 2013). Social Business kann demzufolge nicht losgelöst von Aspekten wie Unternehmenskultur, Führung, Work-Life Balance etc. gesehen werden. Nur wenn diese Faktoren berücksichtigt werden, können die Potentiale der neuen Technologien erfolgreich im Unternehmen genutzt werden. Und auch nur dann wird der Nutzen der neuen Kommunikationsmöglichkeiten für die Erwerbstätigen erkennbar. „Und was ich immer sage, wenn sie ihre täglichen Arbeitsprozesse nicht ändern, dann bringt das nichts. In meiner Abteilung sind wir komplett von dem E-Mail hinund herschreiben auf Social Business Software geswitcht. Ich habe in der Woche 400 E-Mails weniger, aber wir sind auch konsequent und haben aus einer Bringschuld eine Holschuld gemacht.“ (Interview_UL2)

Von Bedeutung für den produktiven Einsatz und die Nutzung von Social Business Tools ist die Akzeptanz im Unternehmen. Veränderungen sollten (von den MitarbeiterInnen und den Führungskräften) als Chance und nicht als Gefahr verstanden werden. Dafür spielt sowohl eine offene Kommunikation als auch eine offene Unternehmenskultur eine große Rolle. Die Selbststeuerung der Erwerbstätigen gewinnt an Bedeutung und stellt sie gleichzeitig vor neue Herausforderungen (Günther 2013). Soziale Medien dokumentieren unterschiedliche Arten von Informationen (für bestimmte Personen wichtige, für andere unwichtige Informationen) und ArbeitnehmerInnen werden nicht per se mit diesen Daten, z.B. per E-Mail, versorgt, d.h. sie müssen sich die Informationen selbst abholen (von „Push“ zu „Pull“) und selbst entscheiden, welche sie zur Bewältigung bestimmter Aufgaben benötigen. Dies erfordert neue Fertigkeiten, die erst erworben werden müssen (Schütt 2013, 61). Erfahrungen in Unternehmen, die bereits auf die Sozialen Medien innerhalb ihrer Unternehmenskommunikation setzen, zeigen, dass ihr Einsatz produktiv sein kann. Voraussetzung dafür ist aber, „dass die Technologien, die eingesetzt werden, auch gelebt werden.“ (Interview_UC3) Es geht nicht nur darum, neue Technologien zu implementieren, sondern Veränderungen in den Arbeitsprozessen und –strukturen in den Unternehmen durch die Technik zu unterstützen. Dadurch werden Unternehmenskultur und -kommunikation gravierend beeinflusst. Ein Unternehmen, das zu 100 Prozent

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auf Social Business umgestellt hat und andere Unternehmen bei der Einführung berät, kommt zu der Aussage: „Wir sprechen ja nicht einfach von einem neuen E-Mail-Programm oder einem neuen Telefon, sondern wirklich von etwas, was plötzlich infrage stellt, ob ich Wordund Excel-Dokumente brauche, ob ich irgendwas designen muss und ob ich vielleicht einen Entwurfsstand plötzlich der ganzen Öffentlichkeit zeige, wo ich vorher drei Korrekturen gesetzt habe, bevor ich mich getraut habe überhaupt was zu zeigen. Das verändert massiv.“ (Interview_UC3)

Die Beurteilung von Social Business Tools ist abhängig ist von der bevorzugten Art der Kommunikation und der ausgeübten Tätigkeit. Eine Kombination aus Face-to-face- und Online-Kommunikation wird von fast allen Befragten bevorzugt. Die Anwendung von Social Business und die damit verbundenen Entwicklungen und Veränderungen werden abhängig von den Aufgaben und Unternehmen, die es einsetzen überwiegend positiv beurteilt. Widerstände und Ängste werden meist vor der Einführung artikuliert. Zum Beispiel wirkt es verunsichernd, dass Führungsaufgaben in Frage gestellt sind: „Da stehen Ängste dahinter, da ist Widerstand da, das stellt auf einmal Führungsaufgaben infrage. Was passiert, wenn alles auf einmal online ist? Müssen Führungskräfte noch Entscheidungen treffen, wenn das Team das auch alleine kann?“ (Interview_UC3) Hinzu kommt, dass die Nutzung sozialer Netzwerke auch aus Gründen des Datenschutzes für bedenklich gehalten wird. Wichtig ist hierbei, dass die Implementierung von Social Business ein Lernprozess ist, ein „Umdenken“ bei dem die Medienkompetenz für den Nutzen und die Akzeptanz eine große Rolle spielt. Aus einem Interview mit einer Arbeitnehmerin geht hervor, dass die zunehmende Anzahl der zur Verfügung stehenden technischen Werkzeuge genau diese Medienkompetenz voraussetzt und diese erst „erlernt“ werden muss: „Ja ich glaube, dass die Vielfalt der Möglichkeit miteinander kommunizieren zu können, die schon Menschen auch vor zu große Herausforderungen stellt. Also so die Qual der Wahl. Was nutze ich jetzt. […] Also solche Medien sinnvoll und nützlich zu gebrauchen und ich glaube, dass es dabei einigen Menschen noch an der Reife fehlt.“ (Interview_SBT1)

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Medienkompetenz bedeutet in diesem Zusammenhang, die sozialen Medien „richtig“ zu nutzen. Das heißt, „die Entscheidung treffen zu können, welche Medien in welchem Zusammenhang bzw. zur Bewältigung welcher Aufgabe am effektivsten eingesetzt werden können“ (Interview_EB1), unter Berücksichtigung der Datensicherheit. Hinzu kommt bei der Informationsbeschaffung das Finden geeigneter Daten sowie die qualitative Beurteilung der zur Verfügung stehenden Datenquellen. Der Aufbau eines persönlichen Netzwerkes, in dem man um Rat fragen kann und in dem man selbst Wissen weitergibt, gehört auch zur Medienkompetenz (Schütt 2013, 2728). Noch weiter geht die Bedeutung, wenn zusätzlich zur Informationsbeschaffung und der Beurteilung der gefundenen Informationen noch die Steuerung der persönlichen Umsetzung der Tätigkeit hinzu kommt. Das heißt, AnwenderInnen sollten die Fähigkeit erwerben, potentielle gesundheitliche Gefahren zu erkennen und eine stark überzogene Nutzung zu vermeiden, also auch mal abschalten zu können und lernen die Fülle an Informationen und Daten zu filtern, also einzugrenzen (Schütt 2013, 27-28). „Dazu ist es aber genauso wichtig bei den Lernenden eine ,kritische Vernunft‫ ދ‬zu etablieren, ein ,Digital Sense Making‫ދ‬, das es erlaubt die Flut der verfügbaren Informationen effizient zu nutzen“ (Schütt 2013, 28). Es geht nicht nur um eine veränderte Art zu kommunizieren, sondern die Kommunikation hat auch einen entscheidenden Einfluss auf die Weitergabe von Wissen, d.h. sie stellt ein wichtiges Vermittlungsmedium für Wissen dar. Der Einsatz von Wikis, Blogs, Chats und Social Network bietet die Möglichkeit – unabhängig von Raum und Zeit – Kommunikation und Wissen miteinander zu verbinden, auch dadurch, dass die Eins- zu- EinsBeziehung im Informationsaustausch immer mehr an Bedeutung verliert. Der Prozess der Wissensentstehung wird transparenter und leichter zugänglich für alle Beteiligten. Wissen beinhaltet eine Kombination aus Informationen von MitarbeiterInnen, Dokumenten, Nachrichten, Datenbanken und anderen Datenquellen, es wird leichter dokumentierbar. Die Beispiele aus der Praxis zeigen, dass vorhandene Hierarchien, die bisher häufig durch einen „Wissensvorsprung und die Verfügungsmacht über Wissen“ (Günther 2013) legitimiert wurden, zukünftig durch eben diese Transparenz und Vernetzung stärker in Frage gestellt werden können. Gerade wissensintensive Unternehmen können Vorteile aus dem Einsatz von Social Business ziehen. Dort sind laut einer Studie von McKinsey

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Produktivitätssteigerungen bis zu 25 Prozent möglich (Chui/ Manyika/ Bughin u.a. 2012). Die befragten ExpertInnen aus der Wissenschaft und den Gewerkschaften betonen zudem die Wechselbeziehungen zwischen Arbeit und neuen Technologien. „Ich glaube, dass die digitalen Medien heutzutage eben auch Ausdruck sind von der gewandelten Arbeitswelt. […], dass da Facebook oder Xing und soziale Netzwerke und vieles andere im Web 2.0 die dazu passenden Technologien sind, dass aber die Entwicklung der Arbeitswelt auch Voraussetzung war in irgendeiner Art und Weise. […] Und gleichzeitig produzieren die aber natürlich wieder was neues, verstärken das usw., also das ist einfach eine Wechselbeziehung.“ (Interview_ECT7)

Alle Befragten teilen die Ansicht, dass es derzeit zu gravierenden Veränderungen oder sogar Umbrüchen in den Arbeitsstrukturen und der Art zu Arbeiten kommt, die durch den Einsatz von neuen Technologien forciert werden. Hinzu kommt, dass sich beispielsweise räumlich verteilte Projektteams oder Arbeitsgruppen immer häufiger in virtuellen Räumen „treffen“, um gemeinsam zu arbeiten. Eine Möglichkeit, um auch hier eine Vertrauenskultur aufzubauen bzw. zu bewahren, vergleichbar mit Gesprächen in der Kaffeeküche, sieht die Soziologin Nicola Millard im Einsatz von Social Business Tools. Diese könnten eine Art „Kaffeeküchen-Kommunikation“ (Küll 2013) in einer dezentralen, digitalisierten Arbeitswelt darstellen. Auch unsere Interviews bestätigen diese Aussage: „Bei so einer großen Firma haben sie ja nie alle Kollegen in einer Location, so dass sie mal eben schnell jemanden fragen können. Insofern war das quasi auch in der Vergangenheit immer ein kleines Problem. Und Social Business schafft es jetzt, quasi die große Firma weltweit zu einer Kaffeeecke, zu einer virtuellen Kaffeeecke zusammen zu führen. Dazu sind so Sachen wie intern genutztes Microblogging, also das kennt man besser unter Twitter, nützlich. […] Diese Möglichkeiten schaffen etwas mehr Transparenz, […], die quasi klassisch nur zu vergleichen ist mit der Kaffeeecke, mit der physischen Kaffeeecke. Da komme ich rein und erlebe im Prinzip Zufallsgespräche, die mir aber in der Regel sagen, was ist neu.“ (Interview_UI1)

Im Social Business bekommt dieser Mechanismus der Kaffeeecke eine ganz neue und wichtige Bedeutung und zwar aus folgenden Gründen: Die

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so übermittelten Informationen sind meist sehr aktuell (z.B. was bestimmte Personen in gerade diesem Moment machen bzw. was sie planen zu tun) und sie können sofort kommentiert werden, d.h. unterschiedliche Meinungen werden publik gemacht. Auch Personen, die nicht für einen bestimmten Bereich oder ein spezifisches Thema explizit verantwortlich sind, können „zuhören“ und „mitreden“. Ausschlaggebend ist auch, dass die gesamte Kommunikation und somit der Informationsaustausch ohne jegliche Kontrolle stattfindet. Erwerbstätige können sich beteiligen, sind aber nicht verpflichtet. Anders als bei einem herkömmlichen Austausch über E-Mails (Schütt 2013, 64). Social Business kann als eine Lösung für künftiges Arbeiten stehen, mit „deren Hilfe Unternehmen bereits heute die Zusammenarbeit und Kommunikation fernab der E-Mail organisieren“ (Küll 2013), wenn die Rahmenbedingungen stimmen. Doch der fortschreitende strukturelle Wandel steht erst am Anfang. Fest steht, dass zukünftig eine Ausweitung der Möglichkeitshorizonte stattfinden wird, welche (auch) die Erwerbstätigen durch den Einsatz der Social Business Instrumente umsetzen können und werden. Doch dieser Veränderungsprozess wird noch einige Zeit in Anspruch nehmen, insbesondere in Bezug auf die veränderten Arbeitsweisen und Arbeitsprozesse. In den letzten Jahren haben sich – trotz der technologischen Entwicklungen – in vielen Unternehmen, die Arbeitsweisen (in Richtung Social Business) nur gering gewandelt (Schütt 2013, 3). Doch immer mehr Unternehmen erkennen bzw. sehen sich den Anforderungen ihrer MitarbeiterInnen und auch der Kunden gegenüber, bisher starre Unternehmensprozesse zu überdenken und flexibler zu gestalten. Einige AutorInnen, so beispielsweise Peter Schütt gehen sogar davon aus, dass „die Art und Weise wie wir zusammenarbeiten zurzeit vor dem größten Umbruch seit der Erfindung des Computers“ (Schütt 2013, 2) stehe: „Es ist eine enorme Vielfalt in den Zugriffsmöglichkeiten auf Informationen entstanden, womit aber auch der umgekehrte Weg geebnet wurde: Wissensträger sind heute jederzeit und überall wesentlich besser erreichbar als noch vor fünf Jahren. Unter diesen Gesichtspunkten erscheint führenden Unternehmen ein Überdenken fast aller Prozesse mit Einbeziehung eventueller Wissensträger zu Recht als notwendig.“ (Schütt 2013, 2)

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Forciert werden die aufgezeigten Entwicklungen auch durch die starke Weiterentwicklung und Etablierung des mobilen Breitbandinternet. Mittlerweile ist es möglich, auch über drahtlose Netze auf multimediale Daten und auf Soziale Netzwerke zuzugreifen. Somit können Erwerbstätige, unabhängig von Ort und Zeit, über Mobiltelefone und Tablet-PCs benötigte Daten und Informationen abrufen und diese auch für ihre berufliche Tätigkeit nutzen. So entstehen zusätzlich zu den bereits bestehenden Angeboten und Diensten im Web 2.0 bereits neue Formen der Kommunikation, wie beispielsweise „Mobile Weblogs“, so genannte „MoBlogs“ (siehe hierzu ausführlicher beispielsweise Döring/ Gundolf 2006; Connor Graham/ Rouncefield/ Satchell 2010), also Weblogs, die (nur) über mobile Geräte erstellt und bearbeitet werden. Erweiterungen bestehender Social Media Anwendungen werden durch mobile Formen (z.B. Apps) möglich. Hieraus wird deutlich, dass die Entstehung des „Internet zum Mitmachen“ die Grundlage für weitere technologische Entwicklungen und damit auch der Kommunikation und der Art zu arbeiten bilden kann (Meckel/ StanoevskaSlabeva 2008, 30-35). Ein Beispiel für eine solche zukünftige Form der Informationsvermittlung und Informationsverteilung ist Google Glass, ein Computer mit Display, Internetzugang, Mikrofon und Kamera integriert in eine Brille (Porteck/ Sokolov/ Zota 2013). Dieser zukünftige Trend kann bedeuten: „Nichts ist mehr privat. Die Menschheit ist 24 Stunden auf Sendung. Und genauso lang hört die Welt zu. Hier liegen die Potenziale von Social Media: Sie sind der größte Versammlungs- und Marktplatz unseres Globus. Hier trifft sich die Welt und tauscht sich aus“ (Meyer 2014). Bei diesen Trends in der Informations- und Kommunikationstechnologie sollte aber keinesfalls der kritische Blick verloren gehen, denn diese Entwicklung kann und sollte nicht nur als Potential gesehen werden, sondern eben auch als Belastung oder Gefahr. Das Potential für Veränderungen ist bei den Aspekten des „Social“ im Web 2.0 vorhanden. Die Kommunikation über räumliche Grenzen hinweg, der Austausch zwischen „unbekannten“ Personen hat vielfältige Wirkungen – positive, aber auch negative (siehe dazu beispielsweise Christakis/ Fowler 2010; Görig 2011; Turkle 2012; Weber 2012).

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Abbildung 3: Potentiale von Social Media

Quelle: Günther, Jochen (2013): Die Transparenz des Wissens. Wie Social Media Organisationen verändern. Computerwoche online, 08.03.2013.

Diese Ambivalenz zwischen positiven und negativen Auswirkungen bezieht sich nicht ausschließlich auf die „soziale“ Komponente, sie betrifft die Digitalisierung allgemein. Unsere Gespräche mit Erwerbstätigen, ExpertInnen und Unternehmen bestätigen diese Aussage, aber auch andere Studien führen diesen Zusammenhang an. Abbildung 4: Risiken durch Social Media

Fehlende Vorkehrungen gegen "Shitstorm"

41,9%

Interna dringen nach außen

37,6%

Private Social Media verschwenden Arbeitszeit

34,2%

Es ensteht ein falsches Unternehmensbild

23,1%

Gefahren für die Unternehmens-IT Social Media werden überschätzt

22,2%

18,0%

Quelle: in Anlehnung an Günther, Jochen (2013): Die Transparenz des Wissens. Wie Social Media Organisationen verändern. Computerwoche online, 08.03.2013.

Nach einer im Auftrag der Fachmesse Internet World vom Institut Ibi Research an der Universität Regensburg im Jahr 2014 durchgeführten Studie sehen 75 Prozent der Befragten sehr starke Auswirkungen der Digitalisie-

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rung auf das Berufsleben (ibi research/ Internet World Messe 2014, 12). 2013 waren es nur 61 Prozent (ibi research/ Internet World Messe 2013, 11). Positiv wird von den Befragten die zeitliche und räumliche Unabhängigkeit eingeschätzt, durch die es möglich wird, neue Arbeits- und Geschäftsmodelle und so auch neue Arbeitsplätze zu schaffen. Im Gegensatz dazu stehen die negativen Aspekte wie beispielsweise permanente Erreichbarkeit und der wachsende Zeitdruck. Eine Folge des Einsatzes der neuen Technologien ist auch das Verschwimmen der Grenzen zwischen Arbeit und Freizeit, und es werden starke Auswirkungen auf die persönliche Gesundheit wahrgenommen (ibi research/ Internet World Messe 2014, 6). Festzuhalten bleibt: Die Technologien des Web 2.0, insbesondere die Social Networks, haben Veränderungen herbeigeführt, die nicht nur auf den privaten Bereich beschränkt bleiben, sondern zunehmend Unternehmen und Organisationen betreffen und so weitreichende Auswirkungen auf die Art, wie wir derzeit arbeiten und zukünftig arbeiten werden, haben. Dies betrifft die Kommunikation, die Arbeitsstrukturen und Arbeitsprozesse, aber auch den Umgang mit Wissen. „Wir stehen mehr oder weniger am Übergang von der Informations- in die Resonanzgesellschaft. Plötzlich ist die Wahrscheinlichkeit sehr hoch, dass eine beliebige Frage ins Internet gestellt in wenigen Minuten beantwortet wird. Das ist neu. Etwas Vergleichbares gab es bis dato nicht. […] Bisher stand immer die Jagd nach Informationen im Vordergrund; Informationen, die man braucht, um Entscheidungen zu unterfüttern.“ (Schütt 2013, 8)

Während Informationen und Daten bisher „gesammelt“ wurden, ist es nun nur noch wichtig, wo und welche Informationen abgerufen werden können. Um die bestehende Informationsflut zu bewältigen müssen neue Fähigkeiten erworben werden, dabei spielt die Medienkompetenz eine bedeutende Rolle. Darauf müssen sich nicht nur Erwerbstätige einstellen, sondern auch Verantwortliche in den Unternehmen, insbesondere auch in den Personalabteilungen bei der Auswahl zukünftiger BewerberInnen. „Wer also am schnellsten und einfachsten herausfindet, was ankommt, worauf Kunden positiv reagieren, was Konsens erzeugt – mit anderen Worten: wo Resonanzzustände sind – wird sich von anderen positiv absetzen.“ (Schütt 2013, 9) Es muss ein Lernprozess stattfinden, denn nicht nur die Technologien verändern sich, auch Unternehmenskultur und Führungsverhalten müssen

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demzufolge angepasst werden, damit der Einsatz der Social Business Instrumente produktiv sein kann. Vertrauen wird wichtiger als Kontrolle werden. Der Einsatz mobiler Endgeräte wird zukünftig weiter steigen. Auch die Nutzung privater Mobiltelefone und Tablet PCs am Arbeitsplatz wird unter dem Stichwort „Bring your own Device“ (BYOD) diskutiert. Mittlerweile erlauben bereits 43 Prozent der Informations- und Telekommunikationsunternehmen ihren MitarbeiterInnen, eigene Geräte für ihre berufliche Tätigkeit zu verwenden (BITKOM 2012b). Der Einsatz von Social Business Technologien beinhaltet vielfältige Potentiale aber auch negative Aspekte. Erst die nächsten Jahre werden zeigen, inwieweit es gelingen wird, diese Möglichkeiten auszuschöpfen. Aus unseren Interviews mit Unternehmen und erwerbstätigen Frauen und Männern konnten wir erkennen, dass es bereits Best Practice Beispiele gibt, die erkennen lassen, dass die Einführung von Social Business Software produktiv sein kann, insbesondere dann, wenn die eingesetzten Technologien „auch gelebt werden“ und Unternehmenskultur und Führungsstil dies unterstützen. Einige Autoren geben aber zu bedenken, dass Social Media (und besonders Social Business) zwar in den Medien diskutiert wird, aber ihrer Meinung nach immer noch kein fester Bestandteil in Unternehmen sei (Stocker 2012). Eine zukunftsorientierte, positive Einschätzung dieses Zusammenhangs gibt die Geschäftsführerin eines Beratungsunternehmens wieder: „Mal fünf Jahre vorausgedacht, wenn alle Unternehmen in irgendeiner Form Social Software haben, das ist Fakt. Das Problem ist nur, dass ein Bruchteil davon in der Lage ist das Riesenpotenzial dahinter zu nutzen. […] Und das von allen Fronten her gesehen. Performance, Kultur, Work-Life-Balance - ich habe nämlich die Freiheit, ich kann dann arbeiten, wenn ich eingreifen will, ohne dass ich Angst haben muss, dass ich irgendwie Informationsstand verpasse usw. Aber da muss man einfach lernen das zu nutzen. Und in ein paar Jahren ist dann das die Frage. Dieses Wie. Wie habt ihr es geschafft das reinzubringen ins Unternehmen, das zu verankern mit eurer Kultur, eurer Strategie, um das zu nutzen?“ (Interview_UC4)

Die beschriebene Entwicklung ist sicher nicht mehr aufzuhalten, wohin der Weg gehen wird ist dagegen in vielen Bereichen noch unsicher. Sicher ist aber, dass die Technologien des Web 2.0, insbesondere die sozialen Netze weitreichende Veränderungen ausgelöst haben und ein Umdenken und Um-

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strukturierungen in den Unternehmen forcieren. „The new technologies are significant because they can potentially knit together an enterprise and facilitate knowledge work in ways that were simply not possible previously.“ (McAfee 2006)

Z UKUNFT DER ARBEIT I NFORMATISIERUNG

UNTER DEM

E INFLUSS

DER

Die Informatisierung hat entscheidenden Einfluss auf den Wandel der Arbeitswelt. Ein Großteil des Strukturwandels, den wir mit Begriffen wie „Tertiarisierung“, „Übergang zur Dienstleistungsgesellschaft“ oder „Wissensgesellschaft“ bezeichnen, hat in der Informatisierung der Arbeit seine Basis (Dostal 1995; Baukowitz/ Berker/ Boes u.a. 2006). Informatisierung und Flexibilisierung von Arbeit können einander gegenseitig bedingen. Mit der zunehmenden Flexibilisierung von Arbeit steht nicht nur die Gestaltung von Arbeitszeiten und Beschäftigungsbedingungen zur Debatte, sondern auch das institutionelle Arrangement „Normalarbeitsverhältnis“, das als Norm (bisher) großen Einfluss auf das Verhältnis von Arbeit und Lebensweisen hatte. Diskussionen, die sich mit der Zukunft der Arbeit beschäftigen, gehen oftmals von der These aus, dass sich das Normalarbeitsverhältnis endgültig im Rückgang befindet und die mit ihm verbundenen Systeme der sozialen Sicherung ebenfalls rückläufig sind. Atypische Beschäftigungsverhältnisse, wie Leiharbeit oder befristete Tätigkeiten, werden sich weiter ausbreiten (siehe dazu z.B. Promberger 2006; Mayer-Ahuja/ Wolf 2007; Janczyk 2009). Als Konsequenz daraus werden immer weniger Beschäftigte im Normalarbeitsverhältnis arbeiten, wodurch es an „Normalität“ verliert. Erwerbstätige arbeiten dann nicht mehr unter dem Schutz der sozialen Sicherung und tragen die Risiken als UnternehmerInnen der eigenen Arbeitskraft selbst. Sie sind zur Ausübung ihrer beruflichen Tätigkeit nicht mehr auf eine arbeitsrechtliche Form festgelegt. Durch die entstehenden wirtschaftlichen Unsicherheiten gerät auch das Modell des männlichen Alleinverdieners mehr und mehr ins Wanken, völlig neue Erwerbsbiographien entstehen. Die Erwerbstätigen arbeiten selbstverantwortlich und vermarkten ihre Arbeitskraft mit dem Ziel der Beschäftigungsfähigkeit („Employability“) sowie der Teilhabe am Erwerbsgeschehen (Vanselow 2003, 11). Diese

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Veränderungen wurden von Voß und Pongratz hinsichtlich der Entwicklung des „verberuflichten Arbeitnehmers“ hin zum „Arbeitskraftunternehmer“ thematisiert, der die geforderte Fähigkeit der Selbstkontrolle, Selbstökonomisierung und Selbstrationalisierung der Erwerbstätigen betont (siehe beispielsweise Pongratz/ Voß 2003). Weitreichende Veränderungen werden zum einen ausgelöst durch den demografischen Wandel und durch die zunehmende Erwerbsbeteiligung von Frauen. Zudem steigen die Forderungen nach einer besseren Vereinbarkeit von Berufs- und Privatleben. Durch Globalisierung, steigenden Wettbewerb, veränderte Kundenbedürfnisse und den fortschreitenden Einsatz von Informations- und Kommunikationstechnologien wird von ArbeitnehmerInnen zur Erfüllung ihrer Tätigkeit ein hohes Maß an räumlicher und zeitlicher Flexibilität vorausgesetzt (Hinz 2008, 43). Zunehmend scheinen diese Entwicklungen aber auch neue Perspektiven zu bieten. Das bedeutet, „dass Informations- und Kommunikationstechniken – insbesondere die digitalen Kommunikationsmedien – neue Freiräume und neue Handlungsmöglichkeiten für informellen Austausch und informelle Arbeitskoordination eröffnen“ (Funken/ Schulz-Schaeffer 2008, 11) können. Die Beschäftigungsverhältnisse lassen sich sowohl intern als auch extern flexibilisieren. Zum einen werden Erwerbsformen, die nicht zu dem Normalarbeitsverhältnis zu zählen sind, durch niedrigere Hürden oder Förderungen attraktiver gemacht. Zum anderen wird (intern) versucht durch flexible Arbeitszeiten und Arbeitsbedingungen das Normalarbeitsverhältnis wettbewerbsfähiger zu machen. Traditionelle Beschäftigungsverhältnisse sind bei weiblichen Erwerbstätigen stärker gesunken. Diese Verteilung ist keineswegs geschlechtsneutral. Die Zunahme der Beschäftigung von Frauen ist demzufolge vor allem auf den Anstieg der Teilzeitbeschäftigung zurückzuführen. Es bleibt festzuhalten, dass die Umstrukturierungen und Veränderungen hinsichtlich der Beschäftigungsverhältnisse in den letzten Jahren zu einer relativ ungleichen Verteilung von Risiken zwischen erwerbstätigen Frauen und Männern in sogenannten atypischen und in Normalarbeitsverhältnissen geführt haben (Eichhorst/ Kuhn/ Thode u.a. 2009, 5960). Die Entgrenzung von Arbeit und die daraus resultierende Selbstorganisation der Erwerbstätigen haben zur Folge, dass ArbeitnehmerInnen verstärkt persönliche Potentiale in die Arbeit einbringen müssen, um die veränderten Anforderungen zu bewältigen. Dies ist ambivalent, einerseits ent-

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stehen neue Möglichkeiten zur Selbstentfaltung und andererseits besteht der Zwang die eigene Persönlichkeit in die Arbeit zu „investieren“. Die Rede ist von der Subjektivierung von Arbeit (siehe beispielsweise Kleemann/ Matuschek/ Voß 2003; Moldaschl/ Voß 2003; Schönberger/ Springer 2003). Mit der Subjektivierung von Arbeit steht nicht nur eine möglicherweise grundlegende Veränderung der (betrieblichen) Arbeitsorganisation auf dem Prüfstand, sondern auch die Rolle des Individuums in modernen Gesellschaften, das offensichtlich mit neuen Gestaltungsmöglichkeiten, aber eben auch Anforderungen konfrontiert ist. Diese Tendenzen bleiben nicht auf die Welt der Arbeit beschränkt, sondern stehen in vielfältigen Korrespondenzbeziehungen zu gesellschaftlichen Veränderungen (Kratzer/ Sauer 2005, 125-127). Der Transformationsprozess der Arbeitsgesellschaft wird kontrovers diskutiert. Die Flexibilisierungstendenzen eröffnen einerseits neue Gestaltungsmöglichkeiten für selbstbestimmtes Arbeiten, bergen aber auch neue Belastungen für die Erwerbstätigen. Insgesamt bleiben die Diskussionen ambivalent: Der Wandel der Arbeitswelt, insbesondere die Entgrenzung von Arbeit, befördert die „Integration“. Er beinhaltet aber auch für Viele „Gefährdung und Ausgrenzung“ (so schon Lohr 2009). Neue Möglichkeitsräume entstehen, aber eben auch viele Unsicherheiten. Studien über individuelle Bewältigungsstrategien der Erwerbstätigen liegen vor (siehe beispielsweise Manske 2007; Lohr 2009; Funken/ Stoll/ Hörlin 2011). Lohr und Nickel sprechen in Bezug auf die zunehmenden Belastungen der Erwerbstätigen von „riskanten Chancen“. Die neuen Erwerbsformen würden zwischen „Integration, Gefährdung und Ausgrenzung“ (Lohr 2009, 208) sortieren und so ein großes Gefährdungspotential darstellen, insbesondere für weibliche Erwerbstätige. „Davon sind Frauen in besonderem Maße betroffen. Frauen sind aber auch zunehmend auf der Seite der „MacherInnen“, der neuen Leistungsfähigen zu finden. Gerade in Bezug auf Frauen lässt sich von einem Paradoxon reden: Ihre verstärkte Erwerbsarbeit weist auf eine erweiterte Teilhabe und gesellschaftliche Integration, zugleich sind Frauen trotz und zum Teil gerade wegen dieser erweiterten Teilhabe am Erwerbsprozess in höchstem Maße mit Gefährdungen und sozialen Risiken konfrontiert. Die Segmentierung zwischen den Erwerbsformen - und damit zwischen Chancen und Risiken - scheint sich dramatisch zu verstärken, insbesondere auch in der Gruppe der Frauen.“ (Lohr 2009, 208)

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Restrukturierungen innerhalb der Unternehmen, Subjektivierung und Entgrenzung der Arbeit und die dadurch bedingten Veränderungen der Arbeitsbedingungen konzentrieren sich nicht nur auf Randgruppen der Erwerbstätigen, sondern beziehen immer häufiger abhängig Beschäftigte mit ein. Zudem werden auch Berufswege flexibilisiert. Die Erwerbstätigen werden zunehmend gefordert, ihre berufliche Biographie selbst in die Hand zu nehmen, sie müssen Entscheidungen treffen, sich auf Veränderungen einstellen und ihre Laufbahn selbst planen. Sie müssen „als Individuum agieren“ (Castel 2011, 19). Dabei wird es GewinnerInnen und VerliererInnen geben, einige Erwerbstätige werden die Anforderungen besser erfüllen können als andere (Castel 2011, 19-20). Dieser Prozess birgt jedoch nicht nur negative Aspekte in sich, er kann auch neue Möglichkeiten der Arbeitsgestaltung und Selbstentfaltung eröffnen, auch in entgrenzten Erwerbsformen. Unklar ist, inwiefern diese Möglichkeiten geschlechtsspezifische Ungleichheiten aufweisen. Die Folgen der Veränderungsprozesse bleiben nicht nur auf die Erwerbsarbeit beschränkt, zunehmend werden auch die außerberuflichen Lebensbereiche der Subjekte mit einbezogen; einerseits bezüglich der persönlichen individuellen Kompetenzen, die die Erwerbstätigen aufweisen müssen und andererseits hinsichtlich der Verwischung der Grenzen von Arbeit und Privatleben (Kirschenbauer 2013, 134). Der fortschreitende Einsatz von Informations- und Kommunikationstechniken, besonders in höher qualifizierten wissensintensiven Tätigkeiten, gehört substantiell zu den maßgeblichen Veränderungen von Arbeit. Neue Arbeitsfelder und Möglichkeiten der Kommunikation entstehen, starre Raum-Zeit-Strukturen lösen sich auf. Feste Arbeitszeiten an einem bestimmten Arbeitsort bilden nicht mehr die Grundlage für ein Beschäftigungsverhältnis. Aufgaben können von jedem Ort und zu jeder Zeit erledigt werden. Einhergehend mit dem Wandel hin zur Wissensgesellschaft wird die Tendenz verstärkt, dass eine dauerhafte Präsenz am Arbeitsplatz zur Erledigung der Aufgaben nicht länger zwingend nötig ist. Für ArbeitnehmerInnen entsteht zunehmend die Möglichkeit, selbstbestimmt den Arbeitsalltag aus zeitlicher und räumlicher Sicht planen zu können. Technologien wirken so nicht eindimensional, sondern schaffen Raum für Arbeitsorganisation und erweitern Entscheidungs- und Handlungsspielräume (Winker/ Carstensen 2004, 167; Böhle/ Bolte/ Pfeiffer u.a. 2008, 108).

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Auch die bloße Erledigung sich ständig wiederholender Aufgaben wird abgelöst durch innovative Arbeitswelten, in denen Freiräume und Handlungsmöglichkeiten entstehen, die ohne die technischen Entwicklungen in dieser Form nicht möglich wären. Ferner entstehen neue Typen von Unternehmen, die virtuell agieren und global vernetzt sind sowie neue Berufszweige. Jedoch weist Boes auf die Ambivalenz dieser Entwicklung hin: „Während also zeitgleich Arbeitslosigkeit weiter wächst und der Zeit- und Leistungsdruck in den Unternehmen stark steigt, wird hier der Eindruck erweckt, dass moderne Lohnarbeit ihren Zwangscharakter verliert und frei von Herrschaft zur Emanzipation selbst wird. Es gilt: Selbstmanagement statt Fremdbestimmung, Eigeninitiative statt sturem Zuständigkeitsdenken.“ (Boes 2005, 4)

Die Ergebnisse verdeutlichen die Komplexität der Zusammenhänge, so vielfältig die Facetten des Wandels der Arbeitswelt auch sind, so vielfältig sind die Möglichkeiten und Unsicherheiten, die sich daraus ergeben können. Die technischen Entwicklungen und die Veränderungen der Arbeitswelt können auch zu einer zunehmenden Belastung und erhöhtem Leistungsdruck führen. Flexibel arbeiten zu können, bedeutet oft, flexibel arbeiten zu müssen, d.h. erhöhten, oft unausgesprochenen, Arbeitsanforderungen zu entsprechen. Dadurch wird es für die Erwerbstätigen erschwert, eine ausreichende Balance zwischen Erwerbsarbeit und Privatleben zu erreichen. Diese Ambivalenz mobilen Arbeitens wird inzwischen in der Öffentlichkeit wahrgenommen, sie wird in Medien, Politik und bei Gewerkschaften diskutiert. Als Reaktion auf den zunehmende Belastung, den Leistungsdruck und den hohen Anspruch an persönliches Engagement und Flexibilität, zeichnet sich immer mehr ab, dass viele Erwerbstätige Arbeit und Karriere einen geringeren Stellenwert beimessen - besonders unter Führungskräften. An die Stelle des klassischen Aufstiegs innerhalb einer Unternehmenshierarchie tritt verstärkt der Wunsch nach einer besseren Vereinbarkeit von Berufsund Privatleben. Unter dem Titel „Wer will noch Chef werden?“ (Werle 2012) hat das Manager Magazin 2012 die Umfrageergebnisse des Deutschen Führungskräfteverbandes zur Haltung hinsichtlich Beruf und Karriere von Führungskräften veröffentlicht. Im Ergebnis „gaben 59 Prozent der zumeist bereits einige Jahre im Berufsleben stehenden Befragten an, ihr Wunsch nach hierarchischem Aufstieg habe in den vergangenen fünf Jah-

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ren abgenommen.“ (Werle 2012) Die Bereitschaft, das Privatleben zugunsten des Berufs zurückzustellen, hat für 61 Prozent der Befragten eher abgenommen, wie Abbildung 5 veranschaulicht. Abbildung 5: Einstellung zu Beruf und Karriere

Quelle: in Anlehnung an Werle, Klaus (2012): Wer will noch Chef werden? Immer mehr Talente verzichten auf den Führungsanspruch. In: Manager Magazin 08/2012, 94.

Interessant ist in diesem Zusammenhang die Frage, wie wir in Zukunft arbeiten und leben werden, bzw. wo und ob überhaupt Grenzen zwischen Erwerbsarbeit und Privatleben weiter existieren, und zu wessen Gunsten diese verlaufen werden. Wissenschaftliche Studien sehen erste Ansätze zur Beantwortung dieser Frage beispielsweise darin, gesellschaftliche und betriebliche Organisation von Arbeit einerseits und den arbeitenden Menschen andererseits als Ausgangspunkt der Beobachtung zu wählen und in ihrem notwendigen Zusammenwirken zu untersuchen. Pfeiffer (Pfeiffer 2004) sieht im Begriff des „Arbeitsvermögens“ eine zentrale Kategorie und erweitert dadurch den Blickwinkel auf das Subjekt und auf seine formalen Aspekte, auf seine Tauschwertseite. Jürgens (Jürgens 2006) bringt in diesem Zusammenhang den Begriff der „Grenzziehung“ ins Spiel, der Bezug nimmt zur gesellschaftlichen Arbeitsteilung und dem Verhältnis zwischen Erwerbsarbeits- und Privatleben. Bei der Etablierung von Grenzen zwischen Lebensbereichen geht es um den Zusammenhang von Produktion und

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Reproduktion (von Arbeits- und Lebenskraft), der bisher vor allem in dem Vereinbarkeits-Diskurs zu Beruf und Familie diskutiert wurde. Diese Perspektive gewinnt zunehmend an Bedeutung, da die etablierten Arbeitsformen im Zuge der Entgrenzung von Erwerbsarbeit in neuer Weise auf die ganze Person zugreifen, so dass der außerbetriebliche Lebenszusammenhang eine wachsende Relevanz für individuelles Arbeitsvermögen, betriebliche Arbeitsorganisation und die Entwicklung von Arbeit insgesamt erhält (Jürgens 2006, 7-9). Durch die zunehmende Informatisierung und die – bereits angesprochene – Auflösung der Raum-Zeit-Strukturen, wird die Grenzziehung für Erwerbstätige offensichtlich immer schwieriger (siehe dazu auch Roth-Ebner 2015 in diesem Band). Unsere Forschungsergebnisse bestätigen, dass durch die technischen Entwicklungen und die daraus folgenden neuen Formen der Kommunikation sowie der zeitlichen und räumlichen Flexibilität eine freiere Gestaltung von Arbeitszeit und -ort möglich wird. Neu ist, dass diese Flexibilität auf viele Branchen übertragbar ist und auch bereits gelebt wird. Veränderungen der Raum-Zeit-Strukturen bedingen veränderte Arbeitsprozesse und eine neue Gewichtung der Kommunikationsmöglichkeiten. Die neuen Technologien ermöglichen eine räumlich verteilte Kommunikation. Einer Vielzahl von Medien steht eine noch größere Zahl an Kommunikationsmöglichkeiten gegenüber, die situativ ausgewählt werden müssen. Die Arbeitsbedingen verändern sich. Hinzu kommen eine Beschleunigung der Informationsflüsse sowie eine starke Vergrößerung der zirkulierenden Datenmengen. Die Kommunikation zeichnet sich durch eine hohe Dynamik aus. Zwar kann eine neu entwickelte oder veränderte Technologie nicht allein die dargestellten Veränderungen auslösen. Jedoch unterstützt die zunehmende Informatisierung diese Prozesse, indem sie die Möglichkeiten bietet, beispielsweise mobil zu arbeiten. In diesem Zusammenhang wird auch das Thema der ständigen Verfügbarkeit diskutiert. Denn es ist die kritische Frage im Blick zu behalten, ob „grenzenlos mobil“ nicht immer öfter „grenzenlos tätig“ bedeutet. Die befragten ExpertInnen im Forschungsprojekt führen die Forderungen nach neuen Grenzziehungen bzw. gesetzlichen Regelungen an: „Und ich glaube es wäre auch aus betrieblicher Sicht sinnvoll […], wieder neue Grenzziehungen vorzunehmen. Also dass sozusagen nicht die Erwartungshaltung ist, dass Führungskräfte rund um die Uhr erreichbar sind beispielsweise. Also das trägt

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nicht zu einer Verbesserung insgesamt der Zeitkultur in Unternehmen bei. Weil man es dann den einzelnen es überlässt, selber Grenzen zu ziehen und auch natürlich Schuldzuweisungen sehr leicht direkt oder indirekt ermöglicht, wenn Personen dann doch nicht erreichbar sind. Und ich glaube, dass der Schutz sozusagen der Freizeit und der Privatsphäre etwas ganz wichtiges sozusagen dafür ist, damit Arbeitskräfte in der Arbeitszeit auch effektiv arbeiten. […] Und ich glaube die Gefahr der Selbstausbeutung ist durch diese Entgrenzungssituation schon relativ groß. Und insbesondere für Führungskräfte, weil da natürlich das Arbeitspensum tendenziell unendlich ist. Der Schutz vor Selbstausbeutung funktioniert nicht gut und man kann den Umgang mit diesem Problem nicht individualisieren. Das ist keine gute Lösung“. (Interview_EG3)

Demgegenüber tendieren einige Unternehmen, wie auch viele Erwerbstätige eher dazu, die Grenzziehungen individuell den Subjekten zu überlassen. Einige interviewte Erwerbstätige sehen vorgegebene Grenzen sogar als einen Eingriff in ihre selbstbestimmte, flexible Möglichkeit zu arbeiten. Die befragten Frauen und Männer sind sich der großen Herausforderung der Eigenverantwortung bewusst, fühlen sich damit aber meist nicht überfordert. Auffällig ist, dass der Wunsch nach „freiem Arbeiten“ umso größer ist, je höher die Identifikation mit der ausgeübten Tätigkeit ist. Arbeit wird als Lebensinhalt gesehen: „Das was ich beruflich mache ist eigentlich, denke ich fast zu 50 Prozent, das was mich als Mensch ausmacht.“ (Interview_SJ4). Diese Erwerbstätigen sind sich dessen bewusst, dass die Grenzen zwischen Beruf und Privatleben vollständig fehlen, sehen dies aber als „selbstbestimmt“. „[…] das kommt häufiger vor. Das ist ja so das Ding bei der Kreativität. Das lässt sich nicht wirklich steuern, wann du die Idee hast und ich glaube das geht fast allen Kreativen so, dass wenn die Idee da ist, du sie auch gleich umgesetzt sehen willst und dann ist es egal ob es nachts um drei ist, oder sonntags morgens um halb sieben. Dann wird dann eben gearbeitet. Nein. Klare Grenzen gibt es da keine.“ (Interview_SJ4)

Aussagen wie diese wurden in unseren Interviews ausschließlich von Erwerbstätigen, die im Kreativbereich oder in der IT-Branche arbeiten, getroffen. Auch von den ExpertInnen wurde angesprochen, dass in bestimmten Berufszweigen, ArbeitnehmerInnen ihren Beruf als Hobby sehen.

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„Es gibt natürlich diese typischen Unternehmen, wo dann einfach schon sehr stark entgrenzt gearbeitet wird und dann auch diejenigen, die das selber auch so wollen, weil sie natürlich das, was sie da tun, sowieso sehr gerne machen und das eher ein Hobby ist, mit dem man halt zufällig auch Geld verdienen kann, aber es gibt eben auch die anderen.“ (Interview_ECT7)

Auch Generationsunterschiede spielen für die unterschiedlichen Wahrnehmungen eine Rolle. Die befragten Erwerbstätigen der Generation Y lehnen neue Grenzziehungen weitgehend ab. Für sie – Frauen und Männer – steht im Vordergrund, dass sie immer und überall arbeiten können (und wollen). Dies bestätigt die Aussage einer Netzarbeiterin, die Mutter von zwei Kindern ist: „Da kann ich meinen Laptop mitnehmen und überall arbeiten. Ich nutze es total gerne, gerade wenn wir am Wochenende mal wegfliegen oder so. Ich nutze jede freie Minute um das irgendwie zu integrieren, in wirklich tote Zeit - U-Bahn fahren oder so. Ich bin da total hinterher, dass ich keine Zeit verliere oder einfach nur herum sitze. Das kann ich auch gar nicht aushalten, ich muss das machen. Nein also wirklich, ich nehme es überall mit hin, wo es geht“ (Interview_SNA12)

Selbst große Belastungen treten in den Hintergrund, da die gewünschte „Selbstbestimmtheit des Arbeitens“ und die starke Identifikation (Beruf als Hobby) viel stärker betont und gewichtet werden. „Also es ist schon so, dass ich jetzt wahnsinnig viele Aufträge hatte, dass ich echt vorm Computer gesessen habe und hätte heulen können, weil ich einfach körperlich am Ende war. Also jeden Abend bis nachts um eins arbeiten, das war dann halt schon einfach zu viel. Aber dieses Freie, da ist es halt ganz schön, dass man sich da eben selber einteilen kann, wie es passt.“ (Interview_SNA12)

In unseren Befragungen konnten zu diesem Aspekt von Arbeit keine genderspezifischen Unterschiede festgestellt werden. Gender spielt, insbesondere bei den NetzarbeiterInnen sowie der Generation Y vordergründig demzufolge keine Rolle mehr, d.h. es wird nicht thematisiert. Allerdings kann das Beispiel der Netzarbeiterin nicht stellvertretend stehen für die Aussagen der anderen interviewten weiblichen und männlichen Erwerbstätigen.

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So wie die neu entstandenen Freiheiten, die durch die zunehmende Informatisierung geschaffen werden, ambivalent zu sehen sind, so unterschiedlich ist auch der Umgang er Erwerbstätigen damit. Während einige er Befragten für sich neue Möglichkeiten sehen und diese auch nutzen, versuchen andere ganz bewusst eigene Ansätze der Grenzziehungen umzusetzen. Zu fragen wäre hier, inwieweit beispielsweise eine freie Zeiteinteilung der ArbeitnehmerInnen wirklich unabhängig und selbstbestimmt möglich ist. Wenn nun dienstliche E-Mails und Informationen überall und jederzeit abrufbar sind, stellt sich die Frage, ob nicht dadurch oft ungefragt verlangt wird, dies auch zu nutzen – nach Feierabend, am Wochenende und im Urlaub. „[…] habe ich zwischen Weihnachten und Neujahr mit meinem Chef telefoniert, aber das war dann auch okay für mich, ich fand das jetzt nicht schlimm. Das gehörte für mich halt irgendwie dann auch zum Selbstverständnis dazu. […] Ich hatte aber auch nicht das Gefühl, dass ich da jetzt dazu gezwungen wurde, sondern dass das jetzt von mir aus dann halt auch so angenommen wurde.“ (Interview_SMN13)

Feierabend erscheint so plötzlich ein beliebiger Begriff zu sein. Entscheidet man sich unabhängig und selbstständig dafür, ab einer bestimmten Uhrzeit keine Mails mehr abzurufen, kann sich dies unter Umständen negativ auf die Karriere auswirken. „Ich habe den alten Job auch deswegen gewechselt, weil ich mich geweigert habe ein Blackberry zu nehmen. Weil ich gesagt habe, dass wenn irgendetwas Wichtiges ist, kann er auch per Telefon anrufen und nicht nur eine SMS schicken oder mailen. Das war das Ende. […] Das ist ein ungeschriebenes Gesetz, dass du immer erreichbar sein musst und ich habe mich geweigert. Damit bist du von der Liste, der zu Promotenden (Anm. d. V. befördern). Bist du gestrichen, ja.“ (Interview_SAB11)

Aber auch hier gibt es Unterschiede zwischen den Anforderungen der Unternehmen an die MitarbeiterInnen. Regelungen hierzu werden in Bezug auf die Zuständigkeit kontrovers diskutiert. Wer soll die Grenzen ziehen? Aus der Politik wird mittlerweile „Funkstille nach Feierabend“ 1 (Frey

1

Ursula von der Leyen hat sich für ein Handyverbot nach Feierabend ausgesprochen.

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2012) gefordert. Es müsse in den Unternehmen klare Regeln geben in Bezug auf Handykultur und Mailverkehr, da viele ArbeitnehmerInnen es als Belastung sehen würden, wenn sie nach Feierabend noch für den/die ArbeitgeberIn erreichbar sein sollen. Verantwortlich dafür seien die Betriebe. Die Gewerkschaften hingegen sehen es eher kritisch, dass die Politik die Verantwortung an die Unternehmen abgeben möchte. Ansätze der Unternehmen, um die Erreichbarkeit nach Feierabend einzuschränken sind vorhanden, so schalten beispielsweise Volkswagen und die Telekom die Weiterleitung von E-Mails nach Feierabend ab. Andere Unternehmen (z.B. BMW, Bayer, Eon, Henkel) haben keine technischen Sperren, sondern erklären explizit, dass in der Freizeit keine Mails bearbeitet werden müssen oder sollen (Kaufmann 2014). Auch das Magazin Der Spiegel hat sich diesem Thema in dem Schwerpunkt „Sei doch mal still!“ (Mascolo/ Müller von Blumencron/ Brinkbäumer u.a. 2012) gewidmet und weist auf bedingungslose Erreichbarkeit und Unmündigkeit hin, die vor allem durch Smartphones ausgelöst werde. Susanne Amann und Markus Dettmer diskutieren dies in ihrem Artikel „Aus! Zeit!“ mit besonderem Bezug auf die Arbeitswelt und beschreiben „das Prinzip der digitalen Anwesenheit“. Sie stellen die These auf, dass „Smartphones die Arbeitswelt revolutionieren“ und die technischen Möglichkeiten eine massive Veränderung der Arbeitswelt bewirkt haben. Zwar stieg damit einerseits eine räumliche und zeitliche Unabhängigkeit für ArbeitnehmerInnen, jedoch birgt diese scheinbare Selbstbestimmung auch deutliche Grenzen. Dies kann durch unsere Befragungen bestätigt werden: „Das hängt aber auch schon mit dem Handy zusammen. Also wenn jemand ein Handy hat von einer Firma, dann ist es schon so, dass man es nicht ausmacht, dass man was tun kann, das wird ja nicht vorgeschrieben, dass die Mitarbeiter um 19 Uhr noch erreichbar sind. Aber wenn sie das Handy anhaben, werden sie dann auch teilweise angerufen. Vielleicht von einem Kollegen aus den USA oder auch vom Management, die dann wichtige Umsatzzahlen brauchen oder so was. Das passiert. Und wird natürlich jetzt immer wichtiger, immer mehr. Das steigt, durch die Nutzung von Social-Media, Social-Networking und E-Mail auf dem Smartphone eigentlich. Ja. Seitdem es iPhones gibt oder auch Blackberrys, ist es natürlich so, dass die Mitarbeiter, die dann auch unterwegs sind oder abends noch irgendwie arbeiten, aus welchem Grund auch immer.“ (Interview_USO9)

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Ob dies nun von den Unternehmen erwartet wird oder aber von den Subjekten bewusst oder unbewusst unterstützt wird, ist nur schwer zu beantworten und individuell verschieden. So gibt auch Franz Schultheis von der Universität St. Gallen zu bedenken, dass es nicht eindeutig ist, welche Seite die Verantwortung trägt. Man müsse sich fragen „wann die Technik die Ursache sei und wann soziale Praktiken bestimmte Verhaltensweisen dominieren (…). Arbeitnehmer sind oft Täter und Opfer zugleich.“ (Amann/ Dettmer 2012, 73) Noch einen Schritt weiter geht Turkle, die sogar davon spricht, dass Smartphones generell zur Vereinsamung führen können, die BenutzerInnen wollen „miteinander sein, aber gleichzeitig auch woanders, an Orten, die man nach Belieben besuchen und verlassen kann.“ (Haffner 2012) In der Studie „Arbeit 3.0: Arbeiten in der digitalen Welt“ (BITKOM 2013b) des IT-Branchenverbandes Bitkom gaben zuletzt 77 Prozent der Befragten an, auch außerhalb der Arbeitszeit per Handy oder E-Mail für KollegInnen, Vorgesetzte und Kunden erreichbar zu sein. 30 Prozent sind jederzeit erreichbar und 32 Prozent zu bestimmten Zeiten, zum Beispiel abends an Wochentagen oder am Wochenende. Weitere 15 Prozent sind nur in Ausnahmefällen und 16 Prozent gar nicht erreichbar (BITKOM 2013b, 28). Von den Unternehmen wünschen sich fast 29 Prozent generell keine Erreichbarkeit ihrer MitarbeiterInnen außerhalb der Arbeitszeit, weitere 28 Prozent möchten ihre Angestellten nur in wenigen Ausnahmefällen auch nach Dienstschluss erreichen können. Es gibt aber auch Unternehmen, die weitaus höhere Anforderungen an die Erwerbstätigen haben: 19 Prozent wollen ihre MitarbeiterInnen unter der Woche auch in den Abendstunden erreichen können und an den Wochenenden 17 Prozent. Aber 17 Prozent möchten auch, dass die ArbeitnehmerInnen quasi jederzeit verfügbar sind (BITKOM 2013b). Aus unseren Interviews mit Erwerbstätigen war zu entnehmen, dass die neuen Arbeitsweisen, die mit einer ständigen Verfügbarkeit einhergehen, nicht nur negativ gesehen werden. Sie können auch Vorteile bieten, da die MitarbeiterInnen so auch – zumindest in gewissen Grenzen und weitgehend selbstbestimmt – entscheiden können, beispielsweise früher nach Hause zu gehen und dafür abends noch einmal zu arbeiten. Die Frage ist nur, wo fängt der „Zwang“ an bzw. wo hört die Selbstbestimmtheit auf. Hierzu sind Regelungen notwendig, aber auch eine Unternehmenskultur, d.h. eine Kultur der Nichterreichbarkeit, die einerseits den neuen flexiblen Arbeitsfor-

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men Rechnung trägt und andererseits die Unsicherheiten und Risiken für die Erwerbstätigen begrenzt und somit nicht die ganze Verantwortung auf die Subjekte abwälzt. Einige Unternehmen begründen, dass es unterschiedliche Lebenswürfe gäbe und sie diesen Rechnung tragen möchten, d.h. auch berücksichtigen wollen, dass es eben auch ArbeitnehmerInnen gibt, die sich bei der Ausübung ihrer Tätigkeit nicht an restriktive Arbeitszeiten halten möchten. Gerade den Nachwuchskräften wollen einige Unternehmen die Möglichkeit anbieten, berufliche Aufgaben unterwegs oder im Home Office zu erledigen und sich somit von der Präsenzkultur zu verabschieden. Ziel ist die Flexibilität und so eine ausreichende Balance zwischen Erwerbs- und Privatleben zu ermöglichen. Die technischen Voraussetzungen sind mit Social Business und mobilen Endgeräten gegeben. Unternehmen, die diese Strategie verfolgen, sprechen davon „nichts zu verbieten. Das passe nicht zur Flexibilität.“ (Hoffmann 2014) Voraussetzung dafür ist jedoch – wie auch bei der Einführung von Social Business – eine Kultur des Vertrauens, die erst einmal aufgebaut werden muss (Hoffmann 2014). Aus den Interviews im Projekt ist zu entnehmen, dass ein Großteil der befragten Erwerbstätigen gerne ihre Arbeitszeit selbstbestimmt einteilen würde, auch in Führungspositionen. Zum einen, um mehr Zeit für Familie und Kinder zu haben: „Die Uhrzeiten werden flexibler. Einige sagen, das ist günstig, andere das ist nicht günstig. Ich finde das günstig in dem Sinne, so die Tage von neun bis sechs sind praktisch vorbei. Wenn es bedeutet, dass die Tage viel länger werden […], ist das nicht unbedingt positiv, aber wenn man das Büro so um 16:00 Uhr verlassen kann und dann wieder um acht oder neun, wenn die Kinder im Bett sind, einloggen kann oder Gespräche mit den USA führen kann, dann ist das gut.“ (Interview_SDU14)

Zum anderen, um einfach die Möglichkeit zu haben, sich die Freizeit besser einzuteilen: „Und aus meiner Sicht ist das auch die Erwartungshaltung von den Leuten, die in Zukunft arbeiten, die wollen nämlich Mittag, im Sommer, wenn es schön ist, wollen die nämlich in der Sonne liegen und abends wollen sie arbeiten. Ich arbeite manchmal auch ganz gern bis nachts um was zu machen. Aber ich muss darauf achten, dass meine Mitarbeiter nach 19 oder 20 Uhr nicht mehr arbeiten. […] Und das ist mein Problem. [...] Es gibt viele die sagen, was ich auch verstehen kann, sie arbeiten

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lieber Samstag, Sonntag, wenn es regnet und sind Montag, Dienstag zu Hause als umgekehrt. Das ist einfach das Thema.“ (Interview_SUL15)

Bei der Betrachtung der Zukunft der Arbeit unter dem Einfluss der technologischen Entwicklung ist von Bedeutung, dass die Informatisierung sowohl zur Strukturierung von Arbeitsprozessen beitragen, aber auch neue Formen der Arbeitsorganisation ermöglichen kann (Funken/ SchulzSchaeffer 2008, 26). Sie kann neue Freiräume für Erwerbstätige und Unternehmen fördern, stellt ArbeitnehmerInnen aber auch zunehmend vor große Anforderungen. Unabhängig davon macht der Einsatz der Technologien des Web 2.0 eine veränderte Unternehmenskultur notwendig, insbesondere die (Nicht-)Erreichbarkeit betreffend. Dass sich die Arbeitswelt verändert hat und sich weiter verändern wird, ist wohl unstrittig. Die Entwicklungen sind Flexibilisierung, Dezentralisierung, Vernetzung, Vermarktlichung sowie Subjektivierung. Diese Trends entstehen unter dem Einfluss der Informatisierung bzw. wären ohne die technologischen Veränderungen in dieser Form kaum möglich. Der Wandel der Arbeitswelt setzt das klassische Organisationsmodell unter Druck, Kundenbeziehungen werden neu gestaltet, die interne Kommunikation verändert sich, Hierarchieebenen werden abgebaut. In Bezug auf die Arbeitsorganisation findet eine Verlagerung der Verantwortung von oben nach unten statt, d.h. von Führungspositionen auf die MitarbeiterInnen. So entstehen neue Unsicherheiten, die vor allem die Subjekte zu bewältigen haben. „Mithin wird in zunehmendem Maße auf die Subjektivität der Beschäftigten zugegriffen, die ihre gesamten Humanressourcen, ihre Kreativität, ihr implizites Wissen, ihre Intuition sowie auch ihre prosozialen Werte in den Arbeitsprozess einbringen sollen.“ (Funken/ Schulz-Schaeffer 2008, 172173) Die dargestellten Veränderungen sind insbesondere in wissensintensiven Unternehmen zu beobachten, die besonders flexibel sind und häufig Gebrauch von den neuen Technologien machen. In diesen Unternehmen haben Erwerbstätige die Möglichkeit für ihre berufliche Tätigkeit gegebene Raum-Zeit-Strukturen zu verlassen. Hier konnten wir beobachten, dass der Einsatz der Informations- und Kommunikationstechnologien bereits dazu beigetragen hat die beschriebenen Veränderungsprozesse anzustoßen oder dass diese bereits stattgefunden haben. Wir konnten auch feststellen, dass dieser Wandel durch Informatisierung zu einer besseren Balance zwischen

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Privatleben und Erwerbsarbeit führen kann, aber auch Gefahr läuft, durch die damit verbundene Entgrenzung von Arbeit zu scheitern.

Neue Trends im Bereich der Arbeitsformen Im vorherigen Abschnitt wurden der bereits vorhandene Strukturwandel der Arbeitswelt sowie die Umstrukturierungen hinsichtlich der Organisationsformen und -bedingungen von Erwerbsarbeit verdeutlicht. Im Folgenden werden nun neue Trends im Bereich der Arbeitsformen erörtert. So werden zukünftig, etwa um die Produktions- und Dienstleistungen an schwankende Märkte anzupassen, funktions- und berufsorientierte Organisationsformen mit hierarchischen Strukturen und starrem Arbeitszeitregime noch stärker durch Formen eines prozessbezogenen Personaleinsatzes sowie durch dezentralisierte Strukturen und flexibilisierte Arbeitszeitregelungen ersetzt. Das Normalarbeitsverhältnis weicht neuen Beschäftigungsformen, wie Teilzeit, freiberuflichen, selbstständigen oder befristeten Tätigkeiten (Hinz 2008, 1-2). Ein Umdenken in Bezug auf Arbeitsformen wird in den Unternehmen auch durch eine neue Generation von Berufseinsteigern notwendig. Die nachrückende Generation der meist unter 30-Jährigen ist bereits von klein auf mit den modernen Technologien und Kommunikationsmitteln aufgewachsen. Viele möchten flexible Arbeitszeiten, ohne ständigen Anwesenheitszwang und mit ihren mobilen Geräten auch von zu Hause oder Unterwegs arbeiten können, auf Vertrauensbasis und eher ergebnisorientiert als durch starre Regeln und Hierarchien bestimmt (Mesmer 2010). Der jungen Generation technikerfahrener Mitarbeiter, den sogenannten „Digital Natives“, steht ein genereller Trend hin zu einer immer älter werdenden Belegschaft gegenüber, verursacht durch den demographischen Wandel in Deutschland. Diesbezüglich werden die Arbeitsteams in der Zukunft heterogener, auch Konflikte aufgrund der Generationsunterschiede und verschiedenen Erfahrungshorizonte sind nicht auszuschließen. Die Teams werden zukünftig gemischter sein im Hinblick auf andere Merkmale wie Geschlecht, Familienstand, Gesundheitszustand und Nationalität. Daher werden auch verschiedene individuelle Bedürfnisse und Prioritäten zunehmen. Da diese innerhalb der verschiedenen Mitarbeitergruppen und auch lebensphasenspezifisch stark unterschiedlich sind, werden in Zukunft

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die Möglichkeiten der flexiblen Arbeitszeitgestaltung zunehmen müssen (Knauth/ Karl/ Elmerich 2008, 46). Die zeitliche Dimension der Arbeitsleistung verliert zunehmend an Bedeutung. Das Arbeitsergebnis steht im Mittelpunkt und nicht die geleisteten Arbeitsstunden. Eine weitere Veränderung wird sein: Vertrauen ist wichtiger als Kontrolle, d.h. Unternehmen werden eher auf ein Wertesystem bauen anstatt auf Regelungen, die als Kontrollmechanismen fungieren (Wendehost 2011). Ein weiterer Trend ist das „Crowd-Sourcing“, bei dem MitarbeiterInnen in virtuellen Teams aus verschiedenen Standorten eines Unternehmens oder auch durch Hinzunahmen von externen oder freien MitarbeiterInnen zusammen gesetzt werden. Sie kommunizieren über das Internet, Telefonund Videokonferenzen sowie Instant Messaging und werden nach Bedarf für festgelegte Projekte zusammen gestellt und wieder aufgelöst. Die Crowd wird vor allem funktional definiert und nicht über Hierarchien (Müller 2011). Vor allem in IT-Unternehmen werden flexible Arbeitsmodelle frühzeitig angewendet. So arbeitet IBM nach dem Prinzip „flexible Work“, d.h. es gibt keine festen Arbeitsorte mehr, die Erwerbstätigen können von extern arbeiten, auch über Smartphones und Tablet PCs, oder im Unternehmensgebäude ihren Laptop an einem frei verfügbaren Arbeitsplatz anschließen (Pesch 2011). Neu ist auch das „Just in Time Workforce“-Modell, dessen Ziel es ist, die eigenen MitarbeiterInnen schneller und flexibler einzusetzen als bisher. Es soll die Möglichkeit bieten, Personal ohne festen Aufgabenbereich flexibel als Springer einzusetzen. Weiterhin können Erwerbstätige verschiedener Arbeitsgruppen die Fähigkeiten für die Aufgaben der anderen erlernen und umgekehrt, um bei Bedarf die Tätigkeiten übernehmen zu können. Im Sinne des Crowd-Sourcing können MitarbeiterInnen aus verschiedenen Standorten und Abteilungen bei Bedarf zu einem Team zusammen gestellt werden, wahlweise können aus der Ferne externe KollegInnen per Internet mit arbeiten. Komplexe Jobs werden in kleine, einzelne Projekte zergliedert, ebenso lassen sich komplexe Projekte breiter definieren, so dass bei Bedarf fremde KollegInnen eingesetzt werden können. Das Personal einer Firma kann an andere Unternehmen ausgeliehen werden und umgekehrt (Kröger 2012). Zunehmend kann der Zugriff der Erwerbstätigen, durch die zur Verfügung stehenden leistungsfähigen mobilen Endgeräte, auf Unternehmensda-

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ten und -programme auch mobil erfolgen. Die Unternehmen können unterschiedliche Endgeräte und Software je nach Einsatzbereich abstimmen und verwenden. Cloud Computing bietet eine weitere Möglichkeit, jederzeit mobil die benötigten Informationen zur Verfügung zu haben. Die Einbindung privat genutzter Geräte (z.B. Notebooks, Smartphones) und Anwendungen (Social Media u.a.) in das berufliche Umfeld wird verstärkt stattfinden. Für die Unternehmen stellen diese Veränderungen eine Herausforderung dar, insbesondere aus Sicherheitsaspekten und der erforderlichen Integration in die Unternehmensnetzwerke (Dell/ Intel 2012, 2012a). Im Zusammenhang mit neuen Arbeitsformen sind zunehmend Coworking und Coworking Spaces sichtbar, die eine neue Alternative gegenüber dem klassischen Homeoffice bieten. Der erste Coworking Space entstand 2005 in San Francisco und hat sich binnen weniger Jahre weltweit verbreitet. Die Idee der Coworking Spaces liegt darin, sich je nach individuellen Bedingungen und Auftragslage kurz- oder längerfristig einen Arbeitsplatz in einem Gemeinschaftsbüro anmieten zu können. Dadurch entsteht neben der Möglichkeit der freien Einteilung vor allem der Austausch mit anderen NutzerInnen des Coworking Spaces. Dies wiederum kann einen Aufbau eines beruflichen Netzwerkes unterstützen und den Austausch mit Gleichgesinnten ermöglichen. Eine erste Definition von Coworking macht deutlich: „Die immateriellen Zusatzleistungen, wie die Möglichkeit des Wissenstransfers, des informellen Austauschs, der Kollaboration und Interaktion mit Anderen sind für die Nutzer kein Nebenaspekt, sondern als Hauptmotiv häufig wichtiger, als die reine Bereitstellung eines Schreibtischs für flexibles Arbeiten.“ (Döring 2010, 20)

Diese Beschreibung weist im Kern auch darauf hin, dass der von Angestellten oftmals als negativ empfundene Aspekt des Arbeitens im Homeoffice, nämlich der Verzicht auf den direkten fachlichen und persönlichen Austausch, hier aufgehoben werden kann. Das Arbeiten in Coworking Spaces wird zu einem wesentlichen Teil von NetzarbeiterInnen genutzt. Die steigende Verbreitung von Coworking Spaces kann auch als eine Strategie interpretiert werden, um der Entgrenzung von Arbeit entgegen zu steuern, räumlich, zeitlich und sozial (Merkel/ Oppen 2013, 6). Dieser kurze Überblick der zukünftigen Trends kann keineswegs alle möglichen Entwicklungen aufgreifen, er soll lediglich aufzeigen, welche Möglichkeiten und aber auch Gefahren sich zukünftig bei dem verstärkten

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Einsatz der modernen Kommunikationsmittel und neuen Arbeitsformen ergeben können. Auch hier können wir wieder von vielfältigen Ambivalenzen sprechen sowie einer Verwischung der Grenzen zwischen Arbeits- und Privatwelt. Das Zukunftsinstitut in Kelkheim stellt in ihrer Studie „Work:design“ sogar die These auf, dass es „zwischen Arbeiten und Privatleben künftig keine Trennlinie mehr geben wird“ (Computerwoche 2012).

Flexible Arbeitsweisen: Teilzeit und Führung 2.0 Die im Rahmen des Forschungsprojektes durchgeführten Interviews mit erwerbstätigen Frauen und Männern und Unternehmen zeigten, dass sowohl für die ArbeitnehmerInnen als auch für die Unternehmen zwei weitere Themenbereiche zentral waren: „Teilzeit“, „Führen in Teilzeit“ sowie „Führung 2.0“. Ein Ergebnis unserer Interviews mit Erwerbstätigen ist, dass Männer und Frauen zunehmend an einer besseren Ausbalancierung ihres Arbeitsund Lebenszusammenhangs interessiert sind und auch diesbezügliche Erwartungen an die Unternehmen haben, d.h. sie möchten nicht nur flexibel arbeiten, sondern zunehmend auch in bestimmten Lebensphasen die Arbeitszeiten (zumindest vor Ort) reduzieren. Teilzeit 2001 hat die Bundesregierung das Gesetz über die Teilzeitarbeit und befristete Arbeitsverträge (TzBfG) (Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz (BMJ) 2001) verabschiedet, um den Anspruch auf Teilzeitarbeit gesetzlich zu verankern und zu fördern. „Ziel des Gesetzes ist, Teilzeitarbeit zu fördern, die Voraussetzungen für die Zulässigkeit befristeter Arbeitsverträge festzulegen und die Diskriminierung von teilzeitbeschäftigten und befristet beschäftigten Arbeitnehmern zu verhindern.“ (§1 TzBfG) Dabei gilt als teilzeitbeschäftigt, „dessen regelmäßige Wochenarbeitszeit kürzer ist als die eines vergleichbaren vollzeitbeschäftigten Arbeitnehmers“ (§2 Abs. 1 TzBfG). Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales sieht in diesem Gesetz vor allem die Möglichkeit zur Ausweitung von Teilzeitarbeit von Frauen und Männern in allen Berufsgruppen – auch bei leitenden Angestellten (Bundesministerium für Arbeit und Soziales

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(BMAS) 2006). So heißt es in §6 Förderung von Teilzeitarbeit wörtlich: „Der Arbeitgeber hat den Arbeitnehmern, auch in leitenden Positionen, Teilzeitarbeit nach Maßgabe dieses Gesetzes zu ermöglichen“ (Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz (BMJ) 2001). Zudem sollen durch das Gesetz die Vereinbarkeit von Beruf und Familie und gleichstellungspolitisch die Chancengleichheit zwischen Frauen und Männern gefördert werden (Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) 2006). Neben der Möglichkeit zur Teilzeitarbeit räumt der Gesetzgeber durch das sogenannte „Flexi II-Gesetz“ 2 die Möglichkeit ein, durch Ausgleich von Mehrarbeit eine Auszeit zu nehmen. Das Flexi II-Gesetz ist arbeitszeitpolitisch als Einstieg in eine biographieorientierte Zeitgestaltung zu interpretieren und greift beispielsweise für Weiterbildungsaktivitäten, längere familiär bedingte Auszeiten für Kindererziehung oder Pflege von Angehörigen. (Riedmann/ Kümmerling/ Seifert 2011, 6) Dabei wird geleistete Mehrarbeit auf einem Arbeitszeitkonto gutgeschrieben, wodurch eine längerfristige Arbeitsbefreiung, beispielsweise ein Sabbatical ermöglicht wird (Riedmann/ Kümmerling/ Seifert 2011, 23-24). Eine andere Möglichkeit ist die Regelung des Ausgleichs von zusätzlichem Freizeitanspruch durch das Gehalt (Bundesministerium für Familie 1999, 58). Diese bestehenden Möglichkeiten wurden auch in den geführten Interviews mit den Unternehmen mehrfach beschrieben: „100 Prozent arbeiten und 75 Prozent Gehalt bekommen und damit mir eine Sabbatical-Zeit vorfinanzieren. Solche Modelle werden wir - ich gehe davon aus dieses Jahr einführen. Und das ist dann auch im Notfall, bei Pflege auch andersrum möglich, dass ich kurzfristig eine Sabbatical mache, um Pflege zu ermöglichen, um dann anschließend praktisch so ein Modell zu haben. Reduziertes Gehalt zur Finanzierung dieser Pause.“ (Interview_UBD7)

Einige Autoren (siehe hierzu beispielsweise Hess 2002; Alex 2009) verweisen darauf, dass ein Sabbatical durchaus als „Win-Win-Modell“ gesehen werden kann, um beispielsweise Erwerbstätigen die Möglichkeit zu geben, sich zu regenerieren und einem Burn-Out vorzubeugen. Darüber hinaus

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Gesetz zur Verbesserung der Rahmenbedingungen für die Absicherung flexibler Arbeitszeitregelungen (Flexi II-Gesetz).

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sind die ArbeitnehmerInnen für diese Auszeit sehr dankbar und äußern dies gegenüber dem Unternehmen durch starke Loyalität und ein hohes Maß an Interesse an ihrer beruflichen Tätigkeit. Eine längere Auszeit vom Berufsleben wird oftmals für Pflege- oder Sorgearbeit genommen, aber auch für berufliche Weiterbildung oder längere Reisen genutzt (Oberhofer 2010). Die angebotenen Möglichkeiten in Teilzeit zu arbeiten sind vielfältig. Einige Beispiele sind: Eine stunden- oder tageweise Reduzierung der Arbeitszeiten, die Ansammlung von einem sogenannten Zeitguthaben auf einem Langzeitkonto bzw. Lebensarbeitskonto oder Jobsharing, d.h. dass sich zwei ArbeitnehmerInnen eigenverantwortlich eine Stelle teilen (siehe z.B. Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) 2006a). Bei der Betrachtung der Teilzeitquoten von Frauen und Männern in Deutschland muss man feststellen, dass diese heute sehr weit auseinander liegen. „Teilzeitarbeit ist weiterhin eine Domäne weiblicher Arbeitskräfte“ (Ulich/ Wiese 2011, 120). 2011 waren 46 Prozent der erwerbstätigen Frauen im Alter von 15 bis 64 Jahren in Deutschland teilzeitbeschäftigt, d.h. die Arbeitszeit beträgt weniger als 32 Stunden. Im Vergleich dazu üben nur 10 Prozent der erwerbstätigen Männer eine Tätigkeit in Teilzeit aus (Statistisches Bundesamt (Destatis) 2012, 30). Nicht alle Teilzeitbeschäftigten arbeiten freiwillig verkürzt. Teilzeitbeschäftigte, die gern länger arbeiten würden und dafür auch zur Verfügung stünden, werden als unterbeschäftigt bezeichnet (Statistisches Bundesamt (Destatis) 2012, 30). In Deutschland arbeiten Frauen deutlich häufiger in TeilzeitBeschäftigungen als im EU-Durchschnitt. Die durchschnittliche Teilzeitquote in Europa liegt bei 32 Prozent. 55 Prozent der erwerbstätigen Frauen in Deutschland gaben als Grund für ihre Teilzeittätigkeit die Kinderbetreuung, die Pflege von Angehörigen oder andere familiäre und persönliche Gründe an. Im europäischen Vergleich arbeiten 46 Prozent der Frauen aus den angeführten Gründen verkürzt (Statistisches Bundesamt (Destatis) 2013). Bei der Unterscheidung zwischen Müttern und Vätern mit mindestens einem minderjährigen Kind, die in Teilzeit arbeiten, kommt das Statistische Bundesamt auf Basis der Daten des Mikrozensus zu folgendem Ergebnis: 2012 arbeiteten mehr als zwei Drittel (69 Prozent) der erwerbstätigen Mütter in Teilzeit. Der Anteil der in Teilzeit arbeitenden Väter hingegen lag nur bei 6 Prozent. Dabei konnten regionale Unterschiede festgestellt werden:

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Während die Teilzeitquote der Mütter im Osten bei 44 Prozent lag, war die der Mütter im Westen mit 75 Prozent deutlich höher. Gerade umgekehrt verhielt es sich bei den Vätern, wenn auch mit geringeren Unterschieden: Im Westen arbeiteten 5 Prozent und im Osten 8 Prozent der Väter in Teilzeit. Im Zeitraum zwischen 1996 und 2012 lässt sich eine starke Zunahme der teilzeittätigen Mütter in Deutschland feststellen (1996: 51 Prozent, 2012: 69 Prozent), was insbesondere auf die stark steigende Teilzeitquote im Osten zurück zuführen ist (1996: 23 Prozent, 2012: 44 Prozent) (Keller/ Haustein 2013, 867). Bemerkenswert sind die unterschiedlichen Motive für die Ausübung einer Teilzeittätigkeit. Während 81 Prozent der Mütter aus familiären oder persönlichen Gründen nicht Vollzeit arbeiten, gaben die Väter dies nur zu 25 Prozent an. 39 Prozent der Väter reduzieren ihre Arbeitszeiten nicht freiwillig, sie tun dies, da sie keine Vollzeitstelle finden (Keller/ Haustein 2013, 867-868). Abbildung 6: Gründe für Teilzeitbeschäftigung bei Müttern und Väter (Ergebnisse des Mikrozensus) Mütter

Väter 7,8% 8,9%

82,5% 76,9%

Persönliche und familiäre Gründe 9,7% 14,1%

2012

Keine Vollzeittätigkeit zu finden

Sonstige Gründe

39,9% 27,3% 25,1% 32,6% 35,0% 40,2%

1996

Quelle: in Anlehnung an Keller, Matthias/ Haustein, Thomas (2013): Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Ergebnisse des Mikrozensus 2012. In: Wirtschaft und Statistik, Statistisches Bundesamt (Destatis) Heft 12/2013, 868.

Andere AutorInnen, die sich mit Teilzeitarbeit bei Männern beschäftigen, sehen eine andere Gewichtung der Motive. So ist die Rede von dem Wunsch der männlichen Erwerbstätigen nach Steigerung der Lebensqualität, nach Persönlichkeitsentfaltung durch vielseitiges Engagement sowie nach einer partnerschaftlichen Rollenverteilung (Schär-Moser 2002, 139). Auch das Ziel eine angemessene Balance von Arbeit und Privatleben zu erreichen, kann ein Grund für Arbeitszeitreduzierung sein (Winiger 2011, 65).

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Die Ergebnisse des Projektes zu den Motiven für eine Teilzeittätigkeit von Frauen und Männern, weisen auch auf einen besseren Ausgleich von Lebens- und Arbeitszeit hin. Zwar bestätigen die Interviews, dass der Anteil der weiblichen Arbeitnehmer, die in Teilzeit arbeiten, höher ist als bei den männlichen Erwerbstätigen, jedoch lässt sich eine veränderte Entwicklung erkennen, die durch den Einsatz neuer Medien forciert werden kann. Wir konnten feststellen, dass immer mehr der befragten männlichen Erwerbstätigen Ansprüche entwickeln, ihre Arbeitszeit zu reduzieren. Hier findet eine deutliche Verschiebung zwischen den Geschlechtern statt. Beide sehen in den neuen Technologien eine Chance flexibler arbeiten zu können und dadurch auch die Möglichkeit Arbeitszeit zu verlagern und zu reduzieren. Zu diesem Ergebnis kommt auch eine Umfrage von Accenture (Accenture 2014): „Immer mehr Väter fragen nach flexiblen Arbeitszeitmodellen, denn sie wollen ihre Kinder nicht nur im Schlafanzug sehen, sondern Verantwortung übernehmen. Inzwischen nutzen fast genauso viele Väter wie Mütter bei Accenture die Elternzeit.“ (Weidner 2014) In der beruflichen Realität ist es immer noch so, dass die meisten Männer (und auch Väter) über eine Vollzeitstelle verfügen und diese auch bevorzugen. Oftmals findet dies mit der Begründung statt, dass Teilzeit gleichgesetzt wird mit fehlender Leistungsbereitschaft (Sims 2014). Das hat zur Folge, dass die Familienarbeit in Deutschland zwischen Vätern und Müttern immer noch sehr ungleich aufgeteilt ist, und das auch in den Familien, in denen die Frauen berufstätig sind (Frankfurter Allgemeine online 2014). Ein erwerbstätiger Vater würde beispielsweise gerne die Arbeitszeit reduzieren, wenn es seine Tätigkeit zulassen würde: „Ich könnte mir gut vorstellen, dass ich meinetwegen nur 80 oder 75 Prozent mache. Also einen Tag mehr frei habe in der Woche. Das ist nur bei unserer Betriebsgröße halt absolut nicht drin. […] Also vom Prinzip her könnte ich mir das schon gut vorstellen für mein Leben. Das würde mir, glaube ich, ganz gut gefallen.“ (Interview_SR3)

Selbst ohne familiäre Verpflichtungen, können sich Männer eine Arbeitszeitreduzierung vorstellen, um beispielsweise ihren Hobbies nachzugehen: „Klar. Also ich meine wenn es ansonsten irgendwie von den Lebenshal-

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tungskosten her machbar ist, würde ich es auf jeden Fall tun. Ja ich hätte gerne mehr Zeit für andere Dinge.“ (Interview_SJ4) Aber auch bei den befragten weiblichen Erwerbstätigen findet die Möglichkeit in Teilzeit zu arbeiten weitaus mehr Akzeptanz, wenn familiäre Verpflichtungen vorliegen, obwohl mehr Freizeit zu haben positiv beurteilt wird. „Verlockend finde ich das. Es gibt auch einige, interessanterweise auch Kolleginnen bei uns im Haus, gar nicht einmal die, die Kinder haben, aber die auf eine 80 Prozent Regelung gegangen sind. Oftmals ist der Freitag frei, aber ich habe auch eine Kollegin, die nimmt sich bewusst den Mittwoch frei. Was ich sehr spannend finde, weil sie sagt, dass sie immer zwei Tage hat, wieder frei, zwei Tage und andererseits ist die Zeit, die ich nicht im Büro bin auch nicht so lange, dass wenn mal etwas ist, ich dann auch nicht entsprechend reagieren kann. Ich hatte schon mal darüber nachgedacht, aber weniger aus dem Hintergrund, dass ich mehr Freizeit für mich brauche, sondern eher, weil ich eigentlich leidenschaftliche gerne selbständig wäre und mich das reizt bei meinem Mann mit in der Firma rumzuwerkeln. Von daher würde wahrscheinlich der nicht arbeitende Tag als Angestellte dazu führen, dass ich dann das Büro meines Mannes auf Trab halte.“ (Interview_SHB6)

Zumindest für eine bestimmte Lebensphase wird eine Arbeitszeitreduzierung angedacht: „Wäre auf jeden Fall eine Option. Im Augenblick noch nicht so. Aber für so in eine paar Jahren ist es auf jeden Fall eine Option, die ich auch schon so ein bisschen im Hinterkopf habe. Mal gucken, ob sie sich verwirklichen lässt.“ (Interview_SBB5) Der Gesundheitsreport 2013 (Techniker Krankenkasse 2013) kommt sogar zu der unseres Erachtens unwahrscheinlichen Vermutung, dass Männer, die einer Teilzeit-Beschäftigung (oder einem befristeten Arbeitsverhältnis) nachgehen, häufiger gesundheitliche Beeinträchtigungen zeigen würden als Frauen in dieser Situation. Grund dafür sei das immer noch vorherrschende klassische Rollenmodell. Männliche Erwerbstätige würden sich in einer atypischen Situation befinden, mit der sie nicht gut zurechtkommen würden, da das Modell des klassischen Alleinernährers der Familie ins Wanken gerate. Als Handlungsempfehlung wird vorgeschlagen, nicht nur die Akzeptanz bei den Arbeitgebern, sondern auch die eigene Wahrnehmung der Männer in ihrem Rollenverhalten zu verändern (Die Welt 2013; Spiegel online 2013). Mittlerweile existieren sogar Pilotprojek-

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te, wie beispielsweise der „Teilzeitmann“ in der Schweiz (Dachverband der Schweizer Männer- und Väterorganisationen 2013), die Männer zur Teilzeitarbeit ermutigen sollen. Von vielen Frauen und Männern werden als Gründe, die gegen Teilzeit sprechen, häufig das geringere Einkommen sowie die fehlende Akzeptanz bei den Arbeitsgebern, aber auch bei den Kollegen und Kolleginnen angeführt. „Oder ich will mal so sagen, solche Leute werden […] nicht bestraft dafür, aber eine Beförderung ist sehr schwierig.“ (Interview_SLB8) Eine befragte ArbeitnehmerIn kommt zu der Aussage: „Während Teilzeit bei Müttern noch eher akzeptiert wird, sind andere private Gründe für eine Arbeitszeitreduzierung noch schwieriger durchzusetzen.“ (Interview_SKB10) In den Interviews mit kinderlosen erwerbstätigen Frauen wurde sogar die Frage aufgeworfen: „Braucht man immer ein Kind, nur damit man ungestraft in Teilzeit arbeiten kann?“ (Interview_SKB10) Ohne Kinder wird eine Arbeitszeitreduzierung als schädlich für die eigene Karriere angesehen: „Es wäre möglich, aber ich weiß nicht, ob ich mir damit nicht auf lange Sicht schade würde. Weil das eher so gewertet wird, dass wer Teilzeit arbeitet nicht wirklich an dem, was er macht, interessiert ist. Das ist schon bei Vorgesetzten nicht so gerne gesehen. Es sei denn man hat jetzt Kinder. Dann ist das eine andere Sache, dann ist das legitim, aber das sehe ich halt auch oft, dass die Kolleginnen mit Kindern und in Teilzeit, wenn man das ganz platt sagt, nicht ganz für voll genommen werden. Also für bestimmte Projekte werden die dann gar nicht eingesetzt oder […] die werden nicht als gleichberechtigte Mitarbeiter dann betrachtet. Das fällt schon oft auf.“ (Interview_STB7)

Selbst wenn Teilzeitmodelle im Unternehmen angeboten werden, werden sie von den weiblichen Erwerbstätigen eher als Alternative für eine andere Lebensphase gesehen, in denen eine Etablierung im Job bereits stattgefunden hat: „Also ich glaube, jetzt momentan nicht. Also bei uns gibt es im Prinzip schon viele Teilzeitmodelle. Es wird auch schon gelebt, allerdings eben vor allem von Müttern, die dann auf Teilzeit gehen, um sich besser um ihre Familie kümmern zu können. Nur da sind, also ich finde es für mich jetzt momentan nicht attraktiv, weil ich jetzt schon gern eigentlich auch weiterkommen möchte im Job und mich halt da erst mal

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so etablieren möchte und der Eindruck ist halt irgendwie schon ganz klar so mit Teilzeit, dass das dafür nicht gedacht ist, dass man dann irgendwie noch irgendwelche Ambitionen hat.“ (Interview_SXB9)

Aber auch die Beeinträchtigung der Karrieremöglichkeiten, die offensichtlich fehlende Identifikation mit dem Job oder die Angst vor Verlust des Arbeitsplatzes spielen bei einigen Erwerbstätigen eine Rolle. „Im Moment nicht, weil bei uns im Unternehmen seit Jahren immer mehr Stellen abgebaut werden und man da als Teilzeitkraft mal unter Umständen schneller dabei ist als als Vollzeitkraft. Das ist schon einfach eine Erwägung auch auf die Zukunft hin zu sagen, da verzichtet man im Moment mal lieber auf den Luxus, um sich da ein bisschen sicherer zu positionieren.“ (Interview_STB11)

Es gibt mittlerweile aber auch positive Beispiele, darunter auch BerufseinsteigerInnen ohne Kinder oder andere Sorgeverpflichtungen. Jutta Rump (siehe dazu beispielsweise Rump/ Eilers 2014) sieht in diesem Trend die Zukunft, denn gerade durch den demographischen Wandel und den Fachkräftemangel können ArbeitnehmerInnen – ihrer Meinung nach – mehr Marktmacht erlangen und flexiblere und kürzere Arbeitszeiten einfordern. Diese Ansprüche sind zunehmend bei den jüngeren Erwerbstätigen zu beobachten. Allerdings stehen Arbeitgeber dem immer noch sehr kritisch gegenüber. Aber auch die jüngeren erwerbstätigen Frauen und Männer zögern häufig ihre Wünsche gegenüber den Unternehmen auszusprechen (Klüber 2013). Teilzeit in Führungspositionen Auch wenn im Teilzeit- und Befristungsgesetz (§6 TzBfG) (Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz (BMJ) 2001) ausdrücklich betont wird, dass auch Führungskräften Teilzeitarbeit zu ermöglichen ist, findet dies in der Praxis nur selten Anwendung. Die im Forschungsprojekt befragten Unternehmen stellen ein immer noch bestehendes Strukturproblem in Bezug auf Teilzeit, insbesondere für Führungskräfte, heraus: „Es ist natürlich abhängig von den Bereichen, in denen die Leute arbeiten und auch von der Aufgeschlossenheit von Vorgesetzten. Es gibt immer noch welche, die im-

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mer noch der Meinung sind, man kann Stellen nicht teilen. Es gibt immer noch die Diskussion oder es wird wenn möglich nicht darüber diskutiert, ob Führung teilbar ist, obwohl wir hier auch mittlerweile Führungskräfte haben, die teilzeitig arbeiten, aber das ist ein zähes Geschäft das durchzusetzen“. (Interview_UH5)

Werden neue Arbeitsmodelle verwirklicht, geht die Initiative bisher oft von den Erwerbstätigen aus, die eigene Lösungsvorschläge (beispielsweise drei Führungskräfte teilen sich zwei Stellen) machen und versuchen diese durchzusetzen. Denn „Präsenz“ spielt in vielen Unternehmen immer noch eine große Rolle, „was aber mehr mit mentalen Strukturen als mit Strukturen am Arbeitsplatz zu tun hat.“ (Interview_UD6) Bei Teilzeitarbeit und flexiblen Arbeitszeitmodellen allgemein sowie bei Führen in Teilzeit ganz besonders spielen Informationen und Kommunikation eine zentrale Rolle. Transparente Strukturen sind von besonderer Bedeutung (Fauth-Herkner 2014). In den befragten Unternehmen, die Social Business Tools einsetzen und die die in diesem Beitrag bereits dargestellten Veränderungen umgesetzt haben, ist Arbeit meist dezentral organisiert und der Arbeitsort verliert an Bedeutung, d.h. es hat bereits ein Umdenken bezüglich der Präsenz stattgefunden. Und genau hier ist ein Ansatzpunkt zu sehen, um Teilzeitarbeit für Führungskräfte und für Unternehmen attraktiver zu machen. Dezentralisierung und strukturierte Organisationsabläufe könnten dazu beitragen, wegzukommen von der geforderten ständigen Verfügbarkeit und somit Anwesenheit vor Ort. Somit würde auch die Präsenz am Arbeitsplatz an Bedeutung verlieren und wäre nicht mehr ausschlaggebend für Beförderung und Karriere. Wenn Erwerbstätige auf Managementebene diesem Beispiel folgen, wird es auch für andere MitarbeiterInnen leichter werden, ihre Wünsche und Bedürfnisse zur (zeitweisen) Reduzierung der Arbeitszeit für bestimmte Lebensphasen zu äußern (Hipp/ Stuth 2013, 5). Die befragten ExpertInnen betonen, dass zur Akzeptanz von „Führen in Teilzeit“ erst einmal eine bestimmte Führungskultur durchbrochen werden muss: „Also wenn es um Führen in Teilzeit geht, dann geht es erst mal darum, dass eine bestimmte Führungskultur insofern durchbrochen wird als gesagt wird, Führungspositionen sind nicht per se oder zwingend Fulltimejobs. Das ist sozusagen ein Bruch mit einer deutschen Führungskultur, die in anderen Ländern beispielsweise so über-

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haupt nicht gilt. Also wenn Sie nach Skandinavien schauen, werden Sie dieses extensive Zeitmanagement und dieses Führen mit hohen Präsenzen verbunden und diesem zeitlichen Überdehnen verbunden beispielsweise nicht finden. […] Also das ist dann die Frage praktisch, wie bricht das eine Unternehmenskultur, wo bricht das eine Unternehmenskultur und wie akzeptiert ist es dann. […] Wenn Sie eine Unternehmenskultur haben, in der es klares und ungeschriebenes Gesetz ist, dass man 60 Stunden arbeitet und darüber werden die Karrieren gemacht, dann wird das wahrscheinlich kontraproduktiv sein, wenn man sich da auf eine Teilzeitstelle hin begibt.“ (Interview_EAB4)

In Deutschland, so das Ergebnis einer WZB-Studie (Hipp/ Stuth 2013), arbeiten nur fünf Prozent der Manager und Managerinnen in Teilzeit. Nach Geschlechtern unterteilt sind es 14,6 Prozent weibliche, aber lediglich 1,2 Prozent männliche Führungskräfte. Gründe für diese geringen Anteile sehen die AutorInnen in der Arbeitskultur und in den hohen Anforderungen, die an Führungskräfte gestellt werden. Sie kommen aber auch zu der Aussage, dass eine Arbeitszeitreduzierung auf Führungsebene, Teilzeitarbeit generell aufwerten würde (Hipp/ Stuth 2013, 3). Teilzeit in Führungsetagen ist mit höherem Koordinierungsaufwand in Bezug auf Erreichbarkeit und Terminplanung verbunden und erweckt oftmals den Eindruck, nicht umsetzbar zu sein. Doch auch hier findet ein Umdenken statt: „Unternehmen haben zusehends ein Interesse daran, den Arbeitszeitwünschen ihrer Führungskräfte entgegenzukommen und den high potentials die Angst vor etwaigen Karrierenachteilen zu nehmen.“ (Hipp/ Stuth 2013, 2) Einige Unternehmen haben erkannt, dass auch Führungskräfte sich um Sorgeaufgaben kümmern wollen bzw. müssen oder eine Auszeit benötigen. Bei flexiblen und reduzierten Arbeitszeiten ist es einfacher, Beschäftigte, d.h. vorhandenes Wissen, an das Unternehmen zu binden. Angesichts von Fachkräfteengpässen werden Teilzeitarbeit und flexible Arbeitszeiten darum in Zukunft immer wichtiger. Führen in Teilzeit kann zudem zur Reduzierung der Geschlechtersegregation am Arbeitsmarkt beitragen, denn wenn Führungsaufgaben auch in Teilzeit ausgeübt werden können, sind diese Positionen leichter für Frauen zugänglich. Wenn die Zahl der Manager, die ihre Arbeitszeit reduzieren, steigt, kann dies darüber hinaus auch positive Auswirkungen auf die in Teilzeit arbeitenden Männer in anderen Unternehmensbereichen haben (Hipp/ Stuth 2013, 2).

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Ein Beispiel für eine solche Umsetzung ist die Initiative „Führen in Teilzeit“, die 2011 in dem IT-Unternehmen Datev umgesetzt wurde. Ziel war es auch Führungskräften die Möglichkeit zu geben, ihre Arbeitszeit den persönlichen Bedürfnissen und Wünschen anzupassen. Bei Datev sind 21 Führungskräfte in Teilzeit tätig, davon fünf Männer und 16 Frauen. Seit dem Start der Initiative hat sich der Anteil der Teilzeit-ManagerInnen fast vervierfacht, wobei das Geschlechterverhältnis nahezu stabil geblieben ist (König 2013). 2011 wurde bei Bosch das Projekt „More“ (Mindset Organisation Executives) gestartet, bei dem 150 Führungskräfte vier Monate lang im Selbstversuch verschiedene Teilzeitmodelle testeten. Nach Beendigung der Testphase wollten 80 Prozent der Beteiligten ihre Arbeitszeit auch zukünftig reduzieren (80 Prozent der Arbeitszeit). Ziel war es Vorbildfunktionen zu etablieren und so die Unternehmens- und Führungskultur nachhaltig zu verändern (Gatterburg 2013). Eine Handlungsempfehlung an Wirtschaft und Politik kann darin bestehen, dass eine zumindest zeitweise Reduzierung der Arbeitszeiten – eben auch für Führungskräfte – verstärkt unterstützt und insbesondere akzeptiert wird. Erst wenn Teilzeit dieses – gerade für männliche Erwerbstätige – negative Image ablegen kann, werden Arbeitszeitreduzierungen verstärkt von Frauen und Männern nachgefragt werden. Auch die befragten ExpertInnen sehen in einer veränderten Verfügbarkeitskultur einen wichtigen Schritt: „Also insofern glaube ich bedarf es nicht nur einer veränderten Arbeitszeitkultur und Verfügbarkeitskultur, sondern auch einer veränderten Zusammensetzung insgesamt auf den Leitungsebenen. Aber die Arbeitszeit ist sicher ein wichtiger Schritt und dieses ständige Argument, dass man eben eine Leitungsposition nicht in Teilzeit erledigen kann, wenn es gelänge das zu durchbrechen, wäre sicher ein großer Fortschritt. Nicht nur für Frauen, auch für Männer.“ (Interview_EG3)

Von Beschäftigten in Führungspositionen wird die Bereitschaft zu einem auch zeitlich hohen Engagement im Beruf erwartet. Kohn und Breisig (Kohn/ Breisig 1999) stellten 1999 fest, dass es einen positiven Zusammenhang gibt zwischen der Anzahl der Wochenarbeitsstunden und der Position in der Unternehmenshierarchie (Kohn/ Breisig 1999, 163) Nur wer viel arbeitet, hat die Möglichkeit Karriere zu machen. Von Führungskräften wird erwartet, mindestens ebenso lang wie ihre MitarbeiterInnen anwesend zu sein. Da Führungskräfte selbst auch wieder einen nächsthöheren Vorge-

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setzten haben und dort dasselbe Prinzip greift, resultiert daraus „eine spiralförmige Aufblähung des Arbeitszeitvolumens mit zunehmender Hierarchiestufe“ (Kohn/ Breisig 1999, 165). Mittlerweile wird aber auch Kritik an diesem Karriere- und Führungsmodell laut. Die Rede ist davon, dass die Führungskultur erneuert werden sollte, denn „Zurzeit kommen nicht unbedingt die Leute mit den größten Führungsqualitäten nach oben, sondern die härtesten.“ (Müller 2012) Zunehmend werden diese Anforderungen auch in gesellschaftlichpolitischen Diskursen über die geringe Anzahl von Frauen in Führungspositionen hinterfragt, d.h. der Zusammenhang zwischen einer Führungsaufgabe und der großen Anzahl an Arbeitsstunden wird in Frage gestellt (Techniker Krankenkasse 2013, 58-60). Denn diese „unendliche Verfügbarkeit“, die das „kulturelle Bild“ einer Führungskraft prägt, wirke insbesondere abschreckend auf viele Frauen: „Viele denken, man kann nur eine gute Führungskraft sein, wenn man das in Vollzeit macht und wenn man das am besten in einer 80-Stunden-Woche macht. […] Ich glaube, das schreckt auch viele - gerade Frauen - überhaupt von einer Führungsposition ab, weil das ja immer noch ein ganz bestimmtes kulturelles Bild gibt, wie eine Führungskraft oder eine super, klasse, optimale Führungskraft auszusehen hat. […] dann denkt sich Frau wahrscheinlich – gerade wenn sie zwei Kinder hat – „wie soll ich das denn überhaupt schaffen, dann muss ich ja irgendwie so eine Überfrau sein, um das irgendwie hinzukriegen“, und dann baut sie ja noch mal so zusätzlichen Druck auch auf. Und deshalb finde ich es gut, wenn eine Debatte aufbricht, zu sagen, die optimale Führungskraft ist jetzt nicht die Führungskraft, die ständig verfügbar ist und unbedingt Vollzeit arbeiten muss.“ (Interview_EF2)

Viele Frauen äußern Befürchtungen, den Anforderungen nicht gerecht werden zu können. Insofern könnte eine Debatte um Führen in Teilzeit bzw. das Überdenken der Führungskultur für Männer und Frauen dazu führen, dass mehr Frauen Interesse an einer Führungsaufgabe haben. Dazu können langfristig auch die Umgestaltung der Arbeitsprozesse und der Einsatz der neuen Technologien beitragen – dies erfordert jedoch auch ein Umdenken in Bezug auf die „gläserne Decke“, d.h. auf die Vorbehalte gegenüber Frauen in Führungspositionen allgemein. Und diese Vorbehalte bestehen immer noch, sogar in der IT-Branche, die als eine Vorzeigebranche für flexibles Arbeiten bezeichnet wird. An-

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spruch und Realität liegen noch weit auseinander. Auch hier spielen mentale Barrieren unter anderem eine sehr große Rolle (Hänig 2014). In Einzelfällen in unseren Interviews wird nicht von Vorbehalten gegenüber Frauen gesprochen, sondern gegenüber Führungskräften, die auch Mutter sind: „Was ich definitiv empfunden habe ist, dass seitdem ich ein Kind habe bin ich abgeschrieben. Weil dir keiner zutraut, dass du hundert Prozent bei der Arbeit bist. Und bei Meetings spät abends kannst Du auch nicht teilnehmen.“ (Interview_SAB11) Ein Zukunftsszenario für das Jahr 2020 (Schaffnit-Chatterjee 2008) sieht folgende Entwicklungen in einem Wechselspiel zwischen strukturellem Wandel und weiblichen Erwerbstätigen: Die Studie kommt zu der Prognose, dass sich im Jahr 2020 Familie und Beruf besser vereinbaren lassen aufgrund flexiblerer Arbeitsmodelle, einer familienfreundlicheren Politik und einem „Mentalitätswandel in Geschlechterfragen“. Die Autorin geht davon aus, dass zukünftig mehr Frauen, vor allem Mütter berufstätig und auch in Führungspositionen tätig sein werden, da die Nachfrage nach weiblichen Arbeitskräften steigen werde. Und auch das Rollenverständnis von Männern in der Familie unterliege einem Wandlungsprozess, Väter spielen eine größere Rolle. Beeinflusst wird die beschriebene Entwicklung maßgeblich durch eine verstärkte Informatisierung und Wissensintensität, die Einfluss auf die Flexibilisierung von Arbeit hat (Schaffnit-Chatterjee 2008). Ganz so positiv wird die Entwicklung von Frauen in Führungspositionen von unseren befragten ExpertInnen nicht beurteilt: „Ja, also ich glaube die Chancen von Frauen in Führungspositionen werden sich nicht von alleine verbessern. Zwar wird es so sein, dass über den Fachkräftemangel die Nachfrage nach hochqualifizierten Arbeitskräften steigen wird und Frauen aufgrund der bisher eher geringen Erwerbsquoten da ein wichtiges Arbeitskräftepotenzial darstellen. Damit sie aber tatsächlich innerhalb von Unternehmen in Führungspositionen kommen glaube ich muss sich deutlich mehr ändern. Denn gerade um die Führungspositionen herrscht eine hohe Konkurrenz und es wird immer auch genug Männer geben, die sich für Führungspositionen interessieren.“ (Interview_EG3)

Die Veränderung der Technologien, die zur Kommunikation in Unternehmen eingesetzt werden, kann maßgeblichen Einfluss auf die Unternehmenskultur haben. Im Projekt konnten wir feststellen, dass Präsenz und Anwesenheit durch den Einsatz von Social Business Software an Bedeu-

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tung verliert – für Frauen und für Männer, aber auch für Führungskräfte. Dies könnte auch Frauen ansprechen, die derzeit dem Arbeitsmarkt prinzipiell zur Verfügung stehen, die aber nicht aktiv nach Arbeit suchen oder nur wenige Stunden arbeiten. Hindernisse sind nach wie vor die Kinderbetreuung oder Care Verpflichtungen. Dabei würde ein Großteil der in Teilzeit arbeitenden Frauen ihre Wochenarbeitszeit gerne ausweiten (Lenz 2013). Doch verhindern die oftmals noch vorhandene Präsenzkultur, die geforderte ständige Verfügbarkeit und wenig flexible Arbeitszeiten – besonders bei Führungskräften – dies oftmals (Lenz 2013). Die Möglichkeit, dass auch hochqualifizierte Frauen in Teilzeit arbeiten könnten, wird von den befragten ExpertInnen positiv beurteilt: „Es eröffnet bessere Möglichkeiten für Frauen, wenn sie Teilzeit arbeiten können, weil bei vielen Frauen ja durchaus aufgrund der Vereinbarkeitsfrage, das müssen nicht nur Kinder sein, es können auch die Eltern sein, die im Alter gepflegt werden müssen etc., natürlich Probleme haben also acht, zehn, zwölf Stunden zu arbeiten an einem Tag. Und ich denke viele hochqualifizierte Frauen, die sich dann sagen, also dieses Dilemma können wir nicht stemmen, das können wir nicht aufhalten, dann müssen wir eben ganz aussteigen, da hätten sie die Chance zwei Interessen, zwei Begabungen und Kompetenzen und Qualifikationen miteinander zu verbinden und den Unternehmen würde vieles an Erfahrungswissen und an Kompetenzen nicht verloren gehen.“ (Interview_EBF5)

Führung im Zeitalter von Social Media und Social Business In Verbindung mit Social Media und Social Business und den Auswirkungen auf die Kommunikation, die Arbeitsstrukturen und Arbeitsprozesse tauchen verbreitet Begriffe wie „Führung 2.0“, „Leadership 2.0“, „Chef 2.0“ oder „Enterprise 2.0“ auf. Vereinzelt ist mittlerweile sogar bereits die Rede von „Leadership 3.0“ (siehe z.B. Münster 2014). Zum Ausdruck gebracht wird durch diese Bezeichnungen, wie sich Führung im Unternehmen zukünftig verändernd. Der Bezug zu dem Begriff „2.0“ soll ausdrücken, dass es sich dabei um eine neue Entwicklungsstufe handelt, vergleichbar mit der Entwicklung des Internet hin zum Web 2.0. Zusätzlich wird so auch der direkte Bezug zu Social Media und Social Business hergestellt (Petry 2013a). Alle Begriffe beziehen sich auf die Einflussfaktoren auf Führung, die durch den „dynamischen Gebrauch der Medien und die Erhöhung der un-

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ternehmerischen Veränderungsgeschwindigkeit“ (Aron-Weidlich 2012, 5), also den Einsatz von Technologien des Web 2.0 entstehen. Werden die Potentiale von Social Business intern im Unternehmen genutzt, d.h. haben Veränderungen der Unternehmenskultur, der Kommunikation sowie der Arbeitsprozesse und -strukturen stattgefunden, hat sich hierfür die Bezeichnung „Enterprise 2.0“ etabliert. Eine gängige Definition von Enterprise 2.0 ist: „Einsatz von Social Media zur Steigerung der Effektivität und Effizienz unternehmensinterner Aktivitäten. Der Begriff umfasst dabei nicht nur die Tools selbst, sondern auch eine Tendenz der Unternehmenskultur – weg von der hierarchischen, zentralen Steuerung und hin zur autonomen Selbststeuerung von Teams, die von Managern eher moderiert als geführt werden.“ (Petry/ Schreckenbach 2013, 237)

Abbildung 7: Anzahl der Unternehmen, die sich mit Enterprise 2.0 befassen

Quelle: Petry, Thorsten/ Schreckenbach, Florian (2013): Enterprise 2.0 Transformation: Social Media unternehmensintern nutzen. In: Zeitschrift Führung und Organisation (zfo) Nr. 4/2013, 82. Jg., 238.

Die Anzahl der Unternehmen, die sich mit Enterprise 2.0 befassen, ist in den letzten Jahren kontinuierlich angestiegen. (siehe Abbildung 7) Während sich 2006 nur 4 Prozent der Unternehmen mit diesem Thema beschäftigten, waren es 2012 bereits 60 Prozent. Allerdings herrscht bei vielen Verantwortlichen noch Unsicherheit darüber, welche genaue Bedeutung dieser Transformationsprozess für das Unternehmen und die Führungsaufgaben haben könnte. Zusätzlich verfügen

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sie noch nicht über ausreichende Kompetenzen bei der Umsetzung. Folgender Auszug aus einem Interview spiegelt die Verunsicherung, auch bezüglich der Begriffsbestimmungen, deutlich wieder: „Was auch immer dahinter steckt. […] Da gibt es ja im Moment diverse Literatur. Wir sind uns, um ehrlich zu sein, noch nicht sicher, ob es ein neues Führungsmodell braucht oder ob es einfach eher eine Art Führungsrolle braucht. […] ob es Leadership 2.0 braucht, was auch immer sich unter dem Modewort versteckt. Und dass wir im Moment überlegen, ob es ein neues Führungsmodell dazu braucht oder ob uns bestehende Führungsmodelle Anker geben und wir eher darüber nachdenken sollten, wie wir in bestimmten Situationen mit welchen Rollen umgehen müssen, um mit diesen Situationen umzugehen. Sowohl in einer virtuellen Plattform, als auch in jeder realen Situation. Unser Ansatz ist es eher, wir sehen, es gibt bestimmte Situationen als Führungskraft, ob das jetzt in irgendeiner Plattform ist oder in im Realen und ich brauche eigentlich ein bestimmtes Rollenset. Und ich habe in dem virtuellen Team verschiedene Situationen, mit denen ich unterschiedlich umgehen muss. Führungsmodell hin oder her. Also die Führungsmodelle bisher geben uns glaube ich schon einen gewissen Anker und wir müssen dann weiter definieren, wo wir beginnen wollen.“ (Interview_UBC8)

Auch Führungsaufgaben komplexer geworden, denn Führung 2.0 heißt auch, Individuen und Netzwerke bzw. Technologien zum Wohle des einzelnen Subjektes und dem Erfolg des Unternehmens sinnvoll einzusetzen (Aron-Weidlich 2012, 9). Der Einsatz von Social Business hat nicht nur Auswirkungen auf die Unternehmenskultur und die Arbeitsstrukturen, sondern stellt auch eine Herausforderung für Führungskräfte dar. Im Enterprise 2.0 verlieren hierarchische Strukturen an Bedeutung, ArbeitnehmerInnen bekommen zunehmend mehr Eigenverantwortung, Führungskräfte arbeiten öfter auf gleicher Stufe mit ihren MitarbeiterInnen zusammen (Gomez/ Schikorra 2013). Die Hierarchien innerhalb von Organisationen basieren oftmals auf einem Informationsvorsprung, der durch die Veränderungen des Informationsmanagements nun nicht mehr in dieser Form gegeben ist. Informationen werden nicht mehr Top-down (z.B. per E-Mail) weitergegeben, sondern stehen vielen Erwerbstätigen gleichzeitig in Form von Wikis, Blogs im sozialen Netz zur Verfügung.

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Somit ist „in einer Zeit tendenziell zunehmender Informationsüberflutung, vielmehr das Steuern der Aufmerksamkeit erforderlich und wird dementsprechend von der Mitarbeiterschaft auch gewünscht. Es geht bei moderner Führung also vermehrt um Grenzsetzung, Vorleben der gewünschten Unternehmenskultur, Festlegung der Richtung und der Ziele und um steuernde Vorgaben zu Zeitachsen – und insgesamt weniger um fachliches Detailwissen seitens der Führungskraft.“ (Schütt 2013, 101)

So kann aus einer „Einweg-Kommunikation“ eine „Zweiwege-Kommunikation“ im Unternehmen entstehen, wenn die ArbeitnehmerInnen die Möglichkeit bekommen, Feedback zu bestimmten Entscheidungen der Führungskräfte zu geben (Klein 2012). Allerdings wird diese „Kultur des Teilens“ nicht von allen Führungskräften befürwortet, da sie ihr Wissensmonopol, und somit ihren Informationsvorsprung, nicht gerne abgeben möchten. Um weg zu kommen von der Vorstellung „Wissen ist Macht“, also von den bestehenden (geschlossenen) Wissensdomänen, ist es ausschlaggebend, Akzeptanz für diese neue Kultur zu schaffen. Dazu ist die Bereitschaft zu Veränderungen Voraussetzung, d.h. nicht nur die MitarbeiterInnen sehen sich im Enterprise 2.0 neuen Herausforderungen gegenüber, auch die Führungskräfte (Buhse 2010; Gomez/ Schikorra 2013). Vorhandene Entscheidungshierarchien bleiben zwar bestehen, aber die Kommunikation und die Wechselbeziehungen lösen sich von den „alten“ Hierarchien. Die „neue“ Kultur zeichnet sich durch eine direktere Kommunikation, eine größere Informations- und Entscheidungstransparenz, eine offenere Führung sowie eine höhere Motivation, Wissen zu teilen, aus (Petry/ Schreckenbach 2013, 238). Aber auch die die ausreichende Einbindung der MitarbeiterInnen ist zu berücksichtigen (Pfeiffer 2010, 77). Aus unseren Interviews mit Unternehmen, konnten wir entnehmen, dass viele Führungskräfte den anstehenden Veränderungen noch kritisch gegenüber stehen, aber auch aus Unkenntnis darüber, welche Aufgaben auf sie zukommen werden: „Wir sind ja nun gerade an der Quelle dran der Entscheider. Da ist natürlich die Auseinandersetzung, wie gehe ich denn damit um, wenn ich als Führungskraft permanent online sein muss und wenn ich im Netz verfolgen muss, was gerade alles passiert. Wie führe ich eigentlich eine Mannschaft, die sich selbst führen will? Und das - weil Führung ist ja nach wie vor wahnsinnig gefragt und gebraucht. Und Führung auch als Vorbild. Also es ist auch viel stärker gefragt Work-Life-Balance her-

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zustellen von Sicht der Führung, also als Führungskraft auch zu sagen, hier ist eine Grenze.“ (Interview_BC8)

Gründe dafür werden aber auch darin gesehen, dass Führungskräfte oftmals nicht über die Erfahrungen von Social Media Anwendungen aus dem privaten Bereich verfügen, im Gegensatz zu ihren MitarbeiterInnen. „ […] wobei das Interessante ist, dass - ich sage mal - die höheren Führungskräfte typischerweise ja schon leicht fortgeschrittenen Alters sind und natürlich auch unheimlich beschäftigt sind aufgrund der hohen Arbeitsanforderungen und deshalb in der privaten Nutzung von Social Media eher selten auftauchen. […] Und das ist häufig ein Bremsfaktor bei der Einführung dieser Dinge, weil die das einfach nicht wirklich kennen. Während dann die Mitarbeiterschaft das aus dem privaten Umfeld kennt und laut danach schreit, wir brauchen das unbedingt auch in der Firma.“ (Interview_UI1)

Auch die Erwartungen, die MitarbeiterInnen an Führungskräfte haben, befinden sich in einem Wandlungsprozess. In einer Onlinestudie von Petry (Petry 2013a) wurden 235 Führungskräfte und Personalverantwortliche zum Thema „Führung 2.0“ befragt. Ermittelt werden sollte u.a., welche konkreten Erwartungen sich aus den zuvor dargestellten Einflussfaktoren auf eine „Führungskraft 2.0“ ergeben. (siehe Abbildung 8) Hinsichtlich der Erwartungen an eine Führungskraft im Social-MediaZeitalter liegt der Fokus vor allem auf Offenheit. Führungskräfte müssen offen kommunizieren, regelmäßiges offenes Feedback an die MitarbeiterInnen geben und auch selbst für Kritik offen sein. Ein ganz wichtiger Aspekt für Führung 2.0 ist demzufolge die Offenheit, so dass auch von „Open Leadership“ gesprochen werden kann. Ein weiterer Punkt ist, dass Erwerbstätige mehr „Freiheit“ haben möchten und auch von ihrer Vorgesetzten erwarten, dass sie sie dabei unterstützen, d.h. beispielsweise Selbststeuerung und –organisation zulassen und fördern. Führungskräfte sollen einen Teil der Steuerungskontrolle aufgeben, die sich auf die Kontrolle der Arbeit bezieht und nicht auf die Kontrolle der Ziele. MitarbeiterInnen sollen frei entscheiden können, wie sie vorgegebene Ziele erreichen wollen (Petry 2013b). „Führungskräfte stehen dann vor der Aufgabe, zu entscheiden: „wo genau ist der Rahmen dessen, was ich voraussetze und wo fängt die Freiheit

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an diesen Rahmen dann auszufüllen für den Mitarbeiter und so was zu definieren und authentisch zu leben.“ (Interview_UBC8) Abbildung 8: Erwartungen an Führungskräfte

Quelle: Petry, Thorsten (2013a): Web 2.0, Enterprise 2.0…Führung 2.0? – Eine aktuelle Studie zu veränderten Erwartungen an Führung, saatkorn.

Es wird aber auch deutlich, dass Führung 2.0 kein Themenbereich der Abteilung Informationstechnologie ist, sondern ein vielschichtiger Transformationsprozess im Unternehmen. Social Business Software kann als ein Hilfsmittel gesehen werden, um beispielsweise unterstützend bei der Kommunikation oder dem Informationsaustausch zu wirken. Der sichere Umgang mit sozialen Medien wird zwar von den Führungskräften erwartet, hat aber nicht oberste Priorität (Petry 2013a). Ferner ist die geforderte Transparenz ein Thema, die nicht zu unterschätzen ist, da Vorgesetze und ArbeitnehmerInnen erst lernen müssen damit umzugehen. „Da sind ja jetzt auch wirklich, das sind ja viele Kompetenzen tatsächlich oder Führungsanforderungen, die jetzt nicht neu sind, aber das Thema Transparenz darf man nicht unterschätzen. Virtuelle Führung oder Virtualisierung der Zusammenarbeit im Unternehmen schafft eine völlig andere Transparenz. Deshalb haben viele Menschen auch Angst davor sich mit solchen Systemen überhaupt zu beschäftigen, weil die Sachen, oh, da kann man ja jeden meiner Schritte nachvollziehen und ich wäre der gläserne Mitarbeiter oder die gläserne Führungskraft. Und gerade Führungskräfte sind ja auch geprägt, je weiter man in der Hierarchie hochkommt, mehr so zu lavie-

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ren und bloß möglichst wenig Angriffsfläche so zu bieten und Mitarbeiter sind genauso sozialisiert, da muss ein ganz neues Vertrauen entstehen. Und auch von mir als Führungskraft ein ganz anderer Umgang damit, wie ich mit der neu entstehenden Transparenz umgehe. Ich werde für alle anderen transparent. Ich werde damit angreifbar, kritisierbar. Ich hinterlasse Spuren sichtbar, die man eigentlich versucht normalerweise zu verwischen. ich kann das auch nicht mehr löschen.“ (Interview_UBC8)

Die Aufgaben von Führungskräften werden sich durch den Einfluss der Technologien verändern, Führungskräfte werden weiterhin Entscheidungen treffen, „verlieren“ aber alte Funktionen und bekommen neue Aufgabenbereiche hinzu. Einen bedeutenden Einfluss auf Vorgesetzte haben auch die veränderten Ansprüche der Beschäftigten, insbesondere die der „Digital Natives“. So spricht beispielsweise Maren Lehky vom „Chef als Mentor“, der die Anforderungen, wie beispielsweise „Freiräume statt Gängelung, Partnerschaft statt Hierarchie, Sinn statt Sicherheit“ erfüllen sollte (Lehky 2011, 212). Auch aus unseren Interviews mit Unternehmen zeigte sich, dass Führungskräfte zukünftig verschiedene Rollen einnehmen müssen, nicht nur als Vorgesetzte oder Vorgesetzter, sondern auch als „Mensch“: „Es muss flexibel sein, weil - ich habe keine einzige Standardsituation. Gerade in Social Software. Das ist ja noch mehr Veränderung und Wandel an einem Tag und also es stellt andere Herausforderungen an mich als Führungskraft als mich als Mensch. da muss ich auch für mich als Mensch in eine Rolle gehen. Ich habe ja auch noch ein Umfeld neben der Arbeit. Und das andere ist, wie gehe ich eigentlich gegenüber meinen Mitarbeitern um? Bin ich in der Rolle des Vorbilds? Bin ich in der Rolle des Projektmanagers, der ein Ziel hat, der ein Team in eine gewisse Richtung führt? Oder bin ich gerade in der Rolle, der sagt, okay, mein Mitarbeiter hat eine gewisse Lebensphase, ich muss ihn darin unterstützen, ich muss ihm Beistand geben, ich muss ihn trösten, wenn er gerade in Schwierigkeiten ist usw. Ich glaube eher an dieses situative Modell, wo man fragt, in welche Rollen muss ich denken und was muss ich an Rollenzapp drauf haben?“ (Interview_UBC8)

Es bleibt festzuhalten, dass die Kommunikation im Unternehmen, insbesondere Feedback und Transparenz an Bedeutung gewinnt und Führung an-

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spruchsvoller wird. „Kommunizieren, einbinden, überzeugen. Das sind die neuen Führungsprinzipien.“ (Bund/ Heuser 2012)

V EREINBARKEIT

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Begriffsdefinition Work-Life-Balance Innerhalb der theoretischen Diskurse, die sich mit Erwerbstätigkeit und Privatleben beschäftigten, hat sich der Begriff Work-Life-Balance (WLB) weitestgehend durchgesetzt. Er tauchte zuerst in den 1960er Jahren in Großbritannien auf und beschrieb hier die prekären Arbeitsbedingungen von unqualifizierten ArbeiterInnen und arbeitenden Müttern. In den 1980er Jahren avancierte der Begriff in den USA zum Lifestyle- und Szenebegriff, ehe er sich auch in Deutschland verbreitete (Kaiser/ Ringlstetter 2010, 15). Aber auch in der Praxis, d.h. innerhalb der Unternehmen ist zunehmend die Rede von Work-Life Balance. Immer mehr Unternehmen werben mit Arbeitsplätzen, die eine WLB gewährleisten, um so auch als ArbeitgeberInnen dem Wettbewerbsdruck und den Anforderungen zukünftiger MitarbeiterInnen gerecht zu werden (Kaiser/ Ringlstetter 2010, XVII). Allerdings besteht für den Begriff Work-Life-Balance keine klare und einheitliche Definition. Vielmehr scheint Work-Life-Balance ein Themengebiet zu bezeichnen, zu dem „Problemstellungen und Fragen zur Abgrenzung, Koordination und Integration verschiedener Lebensbereiche“ (Resch/ Bamberg 2005, 171) gehören. Allgemein wird unter dem Begriff oft das (zeitliche) Gleichgewicht zwischen Berufs- und Privatleben verstanden. Dies impliziert damit auch eine Dichotomie zwischen der Arbeit und dem übrigen Leben – eine Unterscheidung, die häufig kritisiert wird, auch von den befragten ExpertInnen. „[…] Vereinbarkeit von Familie und Beruf oder Vereinbarkeit von Leben im Beruf das finde ich immer so schwierig - weil, Work-Life-Balance geht ja davon aus, dass das was ich hier mache nicht mein Leben sei, das würde dann sehr dramatisch sein, wenn ich das nicht als Leben bezeichnen würde, was wäre es denn dann? Es ist die Vereinbarkeit von Privatleben und Arbeitsleben […].“ (Interview_EBD8)

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Im Folgenden soll der Definitionsversuch von Silke Michalk und Peter Nieder kurz erörtert werden. Während die Vereinbarkeitsproblematik früher vor allem als ein Problem von erwerbstätigen Frauen angesehen wurde, ist der Begriff heute weiter gefasst: Gemeint ist der Ausgleich verschiedener Lebensbereiche wie Erwerbstätigkeit, Familie (Kinder, Pflegeaufgaben und Haushalt), Hobbies, Ehrenamt und vieles mehr - angesprochen werden sollen sowohl weibliche als auch männliche Erwerbstätige. Dabei geht es um eine zeitliche Ausgewogenheit der Sphären, aber auch um eine psychische Balance von Lebens- und Arbeitswelt, die sich für jeden Einzelnen individuell gestalten kann, um zufrieden mit seiner Lebensführung zu sein. Liegt keine Balance von Erwerbstätigkeit und anderen Lebensbereichen vor, kann es langfristig zu physischen und psychischen Erkrankungen kommen (Michalk/ Nieder 2007, 21). Genauer bedeutet Work-Life Balance: „den Menschen ganzheitlich zu betrachten (als Rollen- und Funktionsträger) im beruflichen und privaten Bereich (der Lebens- und Arbeitswelt) und ihm dadurch die Möglichkeit zu geben, lebensphasenspezifisch und individuell für beide Bereiche die anfallenden Verpflichtungen und Interessen erfüllen zu können, um so dauerhaft gesund, leistungsfähig, motiviert und ausgeglichen zu sein“. (Michalk/ Nieder 2007, 22)

Eine einheitliche Definition wird dadurch erschwert, dass es heute eine interdisziplinäre Beschäftigung mit der Thematik gibt. So wird in der Soziologie und Psychologie sowohl nach den Zusammenhängen von Berufs- und Privatleben gesucht, als auch welche Rolle der Mensch darin einnimmt. In der Arbeits- und Organisationspsychologie steht vor allem die Verschärfung der Konflikte beziehungsweise das Ungleichgewicht der verschiedenen Domänen im Fokus. Innerhalb der Genderforschung und der Betriebswirtschaftslehre werden meist praxisorientierte und anwendungsorientierte Aspekte erforscht (Kruse 2009, 15). Wissenschaftliche Untersuchungen beschäftigen sich mit unterschiedlichen Ansätzen zum Thema Work-Life Balance: Einige Studien betrachten Erwerbsarbeit als zentrale Kategorie und beschäftigen sich mit den Auswirkungen auf das Privatleben. Andere wiederum thematisieren betonen die Wechselwirkungen zwischen den beiden Bereichen (insbesondere Erwerbsarbeit und Familie) und analysieren diese Zusammenhänge. Zentral sind dabei die Belastungen und Anforderungen in allen Lebensbereichen, Part-

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nerschaften werden zunehmend mit einbezogen. Diese Aspekte werden mittlerweile für Frauen und Männer, Mütter und Väter thematisiert, die Rolle geschlechtlicher Arbeitsteilung findet Berücksichtigung (so schon Beck-Gernsheim 1981). Arbeiten im Rahmen der feministischen Forschung sehen in der geschlechtsspezifischen Teilung des Arbeitsmarktes den Ausgangspunkt, warum eine Balance zwischen Beruf und Privatleben für Frauen und Männer nur schwer zu erreichen ist. Von Bedeutung ist, dass nicht nur der zeitliche Aspekt der Ausgewogenheit (beispielsweise die Belastung berufstätiger Mütter), sondern auch die Qualität der einzelnen Bereiche mit einbezogen wird. Zunehmend rücken so auch die Bedürfnisse und Anforderungen der Erwerbstätigen in den Mittelpunkt der Betrachtungen (Resch/ Bamberg 2005, 173-174). Die Frage nach einer Balance von Arbeit und Leben ist nicht einfach zu beantworten und auch nicht unumstritten. Immer wieder wird nach einem „richtigen“ Verhältnis gefragt, das eben nicht nur die zeitliche Komponente beinhalten sollte. Von Bedeutung ist auch, dass die Belastungen und Anforderungen in beiden Bereichen (Erwerbstätigkeit und Privatleben) berücksichtigt werden müssen (Kratzer/ Menz/ Pangert 2013, 189-190). Die Vereinbarkeit von Erwerbs- und Privatleben wird heute nach wie vor in Medien- und Politikdiskursen vor allem als ein Problem von erwerbstätigen Frauen angesehen. Insbesondere feministische Forschungen weisen darauf hin, dass Vereinbarkeit weiter gefasst werden muss. Das Vereinbarkeitsthema war (und ist immer noch) lange Zeit auf Frauen fokussiert, da diese häufiger mit der Bewältigung von Berufs- sowie Familien- und Hausarbeit konfrontiert waren (und sind). Das Thema darf jedoch nicht auf ein „Frauenproblem“ reduziert werden und somit die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung als quasi gegeben voraussetzen. Es bedarf vielmehr einer Perspektivverschiebung: Das Vereinbarkeitsproblem muss als gesellschaftliches Problem der Organisation, Gestaltung und Verteilung von Arbeit angesehen werden. Weiterhin darf der Blick nicht nur auf Familie, Kinder und Erwerbstätigkeit gerichtet sein, auch andere Gruppen, wie kinderlose Paare und Eltern mit erwachsenen Kindern, Menschen mit familiären Pflegeaufgaben, soziale Kontakte und Ehrenämter müssten in die Diskussion einbezogen werden und gehören mit zur BalanceProblematik (Janczyk 2009, 200). Ziel für Männer und Frauen ist eine zeitliche Ausgewogenheit der Sphären, aber auch eine psychische Balance von Lebens- und Arbeitswelt,

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die sich für jeden Einzelnen individuell gestalten kann, um zufrieden mit seiner Lebensführung zu sein. Dabei ist es wichtig, Arbeit umfassend zu begreifen, um zukünftig der Vorstellung von sinnvoller Lebensarbeit zu folgen, also der „Teilhabe von Männern und Frauen am ganzen Leben“ (Notz 2011). Wir sprechen hier von einem erweiterten Arbeitsbegriff, der sich nicht einseitig an der Erwerbsarbeit orientiert und die Vereinbarkeit von Arbeit und Leben nicht nur als ein Problem weiblicher Erwerbstätiger begreift. Die interviewten ExpertInnen sprechen von einer „gesellschaftlich anderen Debattenkultur“ (Interview_EF2): „Es ist einfach ein stärkeres Bewusstsein dafür da ist, dass Lebenszeit auch endlich ist, und dass man dann guckt, wie können wir denn irgendwie Arbeit und Leben gut vereinbaren, dass wir eben auch Zeit haben, uns mit Kindern zu beschäftigen, oder auch Leute, die keine Familie haben, dass da andere Interessen sind. Da gibt's einen gesellschaftlichen Wandel und da gibt's auch in der Wirtschaft einen Wandel, dass diese Anforderungen auch stärker artikuliert werden von den Beschäftigten, und dass Änderungen her müssen.“ (P 5: Interview_EF2)

Betriebliche WLB-Maßnahmen Den Hintergrund betrieblicher WLB-Maßnahmen stellt vor allem der Strukturwandel der Arbeitsgesellschaft im Zuge der Transformierung von einer Industrie- zu einer Dienstleistungsgesellschaft dar. Es findet ein Prozess der Informatisierung von Arbeit statt, also des verstärkten Einsatzes von modernen Informations- und Kommunikationstechnologien innerhalb der Arbeitsabläufe und des Arbeitsalltags. Neue Organisations- und Beschäftigungsformen entstehen. Diese Entwicklungen sowie der demographische Wandel, die Veränderung der Geschlechterverhältnisse und damit die wachsende Erwerbsbeteiligung von Frauen stellen Herausforderungen für die Unternehmen dar und werden langfristig die Arbeitsformen verändern. Durch die Informatisierung wird eine neue Zusammenarbeit auch über große Distanzen hinweg möglich. Sinkende Kosten im Bereich der Technologien tragen zu ihrer Verbreitung bei. Dies erfordert eine spezielle Ausbildung – in Unternehmen steigt damit die Nachfrage nach hochqualifizierten ArbeitnehmerInnen. Gleichzeitig sehen sich die Betriebe mit einer neuen Generation von BerufseinsteigerInnen konfrontiert, die von ihren künftigen

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ArbeitgeberInnen eine bessere Work-Life-Balance verlangen (Kruse 2009, 4-5). Der Arbeitsmarkt wird - wie bereits erörtert - flexibler, Stichpunkte sind z.B. häufigere berufliche Veränderungen, der Erwerb neuer Kompetenzen und befristete Verträge. Die Gefahr bei diesen Entwicklungen ist, dass eine Unsicherheit der eigenen beruflichen Existenz besteht und der Leistungsdruck zunimmt. Zudem erfolgt eine Identifizierung mit dem Beruf stärker über Aufgaben und Tätigkeiten und nicht mehr über die Zugehörigkeit zu einem bestimmten Unternehmen (Kruse 2009, 8). Dieser Wandel geht also auch mit dem Verlust der Identifikation mit der eigenen Arbeit einher, das Verständnis von Arbeit und das Selbstverständnis der Erwerbstätigen verändern sich. Arbeit erfährt eine schleichende Abwertung im Vergleich zum Privatleben, dennoch verleiht sie dem Einzelnen weiterhin als wichtige Instanz eine gesellschaftliche Existenz, Wohlstand und soziale Anerkennung (Kruse 2009, 10). Betriebliche Work-Life-Maßnahmen werden angesichts der sich zuspitzenden Konflikte zwischen Arbeit und Privatleben an Bedeutung zunehmen, denn es ist eine fortschreitende Subjektivierung und Entgrenzung der Arbeit festzustellen. Vor allem von Führungskräften wird erwartet, sich mit allen persönlichen Ressourcen zur Verfügung zu stellen. Viele ArbeitnehmerInnen sehen sich dem „Arbeiten ohne Ende“ gegenüber, was nicht mit familiären und anderen privaten Pflichten zu vereinbaren ist (Janczyk 2009, 16). Die hohen Anforderungen, die aufgrund der Entgrenzung der Arbeit entstehen, führen oft zu einer quantitativen Ausweitung der Arbeitszeit gegenüber der Freizeit. Es bleibt weniger Zeit für Familie, Freunde, Hobbies und der Partizipation am gesellschaftlichen Leben. Dies kann gesundheitliche Beeinträchtigungen zur Folge haben: Lange Arbeitszeiten gehören, wie auch unsichere Beschäftigungsverhältnisse, Arbeitsintensivierung, hohe emotionale Beanspruchung und eine schwache WLB zu den großen psychosozialen Risiken der Erwerbstätigen (Kruse 2009, 12). In der Praxis sind vielfältige Maßnahmen und Programme zum Thema Work-Life Balance in den Unternehmen zu finden. Dazu zählen u.a. flexible Arbeitszeiten, Seminare zu vielfältigen Themen aus dem Bereich Gesundheit und Ernährung, Sportangebote oder auch Maßnahmen zur Unterstützung bei Betreuungs- oder Sorgeaufgaben (Resch/ Bamberg 2005, 172).

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„[…] wir gerade dabei sind, ein betriebliches Gesundheitsmanagement einzuführen. Uns geht es hauptsächlich um das Thema Gesundheit und Führung. Da legen wir momentan den Fokus drauf, um den Führungskräften ein bisschen deutlich zu machen, inwieweit hat mein Führungsverhalten Einfluss auf meine Krankheitsquote? […] Wir möchten uns zu einer sogenannten Healthy Company entwickeln.“ (Interview_SD10)

Schon seit den 1990er Jahren haben sich Unternehmen in Deutschland verstärkt bemüht, mit WLB-Maßnahmen qualifizierte Kräfte zu gewinnen und zu halten, also die Attraktivität des Unternehmens für hochqualifiziertes Personal zu steigern sowie eine Erhöhung der Mitarbeiterbindung zu erreichen. Auch eine generelle Produktivitätssteigerung wird sich durch eine bessere Vereinbarkeit erhofft. (Michalk/ Nieder 2007, 26) Betriebliche WLB-Maßnahmen werden von gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Entwicklungen beeinflusst, insbesondere dem demographischer Wandel, dem Strukturwandel der Arbeit, dem allgemeinen Wertewandel in der Gesellschaft sowie gesellschaftspolitische Entwicklungen hinsichtlich der Chancengleichheit zwischen Männern und Frauen. In Bezug auf WLB-Maßnahmen stehen bei den Unternehmen Effizienzund Produktivitätssteigerungen (wie beispielsweise Senkung von Fehlzeiten, Steigerung der Motivation, Loyalität, Optimierung betrieblicher Abläufe sowie langfristige Sicherung von Humankapitalinvestitionen) den Kosten der Durchführung gegenüber. Dies können Entwicklungskosten für Maßnahmen, Sach- und Personalkosten, Aufwand für die Begleitung durch das Personalwesen, Betriebskosten, Kosten für Managementtraining und der Qualifizierung der Führungskräfte sein. Jedoch zeigten Umfragen und Untersuchungen, dass durch WLB- und familienfreundliche Maßnahmen die Unternehmen langfristig Geld sparen, da ArbeitnehmerInnen z.B. schneller wieder an den Arbeitsplatz zurück kehren und Kosten für Überbrückung und Wiedereingliederung sinken (Michalk/ Nieder 2007, 37, 41). Die Personalmarketingstudie 2012 (Bundesministerium für Familie 2012) kommt zu dem Ergebnis, dass Zeit für die Familie für viele Menschen an erster Stelle steht. Zwei Drittel aller Beschäftigten zwischen 25 bis 39 Jahren (und 60 Prozent der 40 bis 49 Jährigen) würden für eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf sogar den Arbeitsplatz wechseln (IG Metall 2014).

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WLB-Maßnahmen müssen sich an den unterschiedlichen Lebensphasen orientieren, da sich die Gewichtung der Lebensbereiche (z.B. Karriere, Familie, Betreuung von Angehörigen) jedes Menschen im Verlauf seines Berufslebens verschiebt (Michalk/ Nieder 2007, 55). Einige Befragte gehen sogar soweit, dass sie im Einsatz der Social Business Tools eine große Unterstützung bei der Umsetzung von WLB-Maßnahmen sehen: „Also es ist ein Riesenpotenzial dahinter. Das ist eigentlich wahnsinnig flexibel für jede Lebenssituation vom Karrieredurchstarter über den, der langsam Familie gründet, der mitten in der Familie drin ist, der dann langsam in die nächsten Jahrgänge kommt, wo man eben über Pflege nachdenkt, etc. Es ist auch eine Herausforderung sich bewusst zu sein, was es bedeutet, wenn man 24 Stunden online sein kann. […] Dass man sich auch an diese Lebensmodelle anpasst. Betrifft ja auch junge Väter, die mal in Teilzeit gehen wollen oder ihre Elternzeit besetzen.“ (Interview_SUC15)

Bisherige betriebliche Maßnahmen zur Vereinbarkeit konzentrieren sich vor allem auf die Arbeitszeitflexibilisierung und die Arbeitsorganisation (Michalk/ Nieder 2007, 67). Ein Beispiel ist die Arbeit im Home Office. Das Thema Home Office wird in den Mediendiskursen kontrovers diskutiert. So wurde die Diskussion auch durch das Verbot des Home Office bei Yahoo ausgelöst. Yahoo gab als offizielle Begründung für das Verbot an, die Zusammenarbeit im Unternehmen verbessern zu wollen. Die Reaktion von Microsoft steht im Gegensatz dazu. Sie gehen davon aus, dass flexible Arbeitsmodelle und besonders Home Office ein wichtiger Wettbewerbsfaktor sind. Die Möglichkeit, von zuhause aus zu arbeiten, erleichterten aus ihrer Sicht die bessere Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben (Königes 2012). Die Studie „Arbeiten in der Digitalen Welt“ (BITKOM 2013b) des ITBranchenverbandes Bitkom von 2013 hat ergeben: 21 Prozent der Befragten arbeiten täglich von zu Hause, weitere zwölf Prozent mindestens einen Tag in der Woche (zusammen 33 Prozent) und weitere 13 Prozent mindestens einmal im Monat. Zusammen genommen arbeiten also 46 Prozent der Befragten zumindest gelegentlich im Home Office. Zwischen Männern und Frauen gibt es dabei kaum Unterschiede, ebenso ist Home Office in den Altersgruppen fast gleich verbreitet (BITKOM 2013b, 9-10).

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Allerdings wird die Zweiteilung Büroarbeitsplatz und Home Office zunehmend durch die Möglichkeit mobil zu arbeiten aufgeweicht. Werden berufliche Tätigkeiten von unterwegs erledigt, auch per Smartphone oder Tablet PC, zählen viele Erwerbstätige dies nicht zur Definition von Home Office (Dobe 2014). Home Office wird im Rahmen von flexiblen Arbeitszeitmodellen mittlerweile insbesondere von den jüngeren ArbeitnehmerInnen aber auch zunehmend von den älteren erwartet. Eine Ursache wird u.a. in den steigenden Pflegeaufgaben gesehen (Dobe 2014). Ein Nachteil des Home Office liegt für die Erwerbstätigen darin, dass sie befürchten dadurch länger zu arbeiten. Viele MitarbeiterInnen arbeiten zuhause mehr, da sie das Gefühl haben zu wenig zu leisten. Dieses Gefühl der Minderleistung entstehe, weil der Face-to-Face-Kontakt fehle, der wichtig für die Kommunikation ist. Hinzu kommen die fehlenden sozialen Kontakte, d.h. die Isolation von Kollegen und Kolleginnen. Einige Erwerbstätige sehen Home Office als negativen Einflussfaktor für die Karriere an (Dobe 2014). Abbildung 9: Gründe für die Arbeit im Home Office

Quelle: BITKOM, (2013): Arbeit 3.0: Arbeiten in der digitalen Welt, 10.

Aber auch die Unternehmen stehen oftmals dem Home Office kritisch gegenüber, d.h. Präsenz wird mit Leistung gleichgesetzt. Aber auch hier ist es ganz wichtig, eine Kultur des Vertrauens zu schaffen, ohne die es nicht möglich sein wird, eine Situation zu erreichen, die für MitarbeiterInnen und Unternehmen zufriedenstellend ist. Festzuhalten bleibt aber, dass der wichtigste Grund für die Arbeit im Home Office für die Erwerbstätigen (die Home Office nutzen) die bessere

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Vereinbarkeit von Arbeit und Familie (86 Prozent) sowie der – damit eng zusammenhängende – Gewinn an zeitlicher Flexibilität (79 Prozent) ist. Das Arbeiten von zuhause wird auch aufgrund der Zeitersparnis des Wegfalls des Arbeitsweges (63 Prozent) und der besseren Ausstattung des heimischen Arbeitsplatzes (66 Prozent) positiv bewertet. Allgemein haben 65 Prozent eine höhere Zufriedenheit mit der Arbeit. Im Vergleich dazu spielt die geringere Kontrolle durch Vorgesetze und KollegInnen, die in öffentlichen Diskursen stark betont wird, eine untergeordnete Rolle (BITKOM 2013b, 10).

Work-Life Balance und Geschlechterverhältnisse In Bezug auf Work-Life Balance sind bei den Geschlechtern Unterschiede festzustellen. Einige Unternehmen sehen in der Arbeitszeitflexibilisierung einen positiven Einfluss für erwerbstätige Frauen, insbesondere Mütter: „Ich glaube, was einen großen Unterschied machen kann ist, wenn Väter sich auch Zeit nehmen. Dann sind Mütter nicht mehr das Problem. Sie werden oft als Problem betrachtet.“ (Interview_SDU14) Hinzu kommt, wenn immer mehr Männer sich um Kinder und Familie kümmern, d.h. sich mehr Zeit dafür nehmen, erzeugt dies einen gewissen Druck auf die Wirtschaft, flexibler zu werden (Brost/ Wefing 2014). Unsere Interviews mit Erwerbstätigen zeigen, dass Männer und Frauen zunehmend an einer besseren Ausbalancierung ihres Arbeits- und Lebenszusammenhangs interessiert sind und auch diesbezüglich Ansprüche an die Unternehmen haben. Immer mehr wünschen sich - gerade zur Vereinbarung von Privatleben und Erwerbsarbeit - flexible Arbeitszeiten, ohne ständigen Anwesenheitszwang und möchten mit mobilen Geräten auch von zu Hause oder unterwegs arbeiten können, auf Vertrauensbasis und eher ergebnisorientiert als durch starre Regeln und Hierarchien bestimmt. Die technischen Voraussetzungen dafür sind zunehmend gegeben. Dies wird aus einem Interview mit einer erwerbstätigen Frau, die in einem Unternehmen arbeitet, das Social Software einsetzt, deutlich: „Ich bin Unternehmerin, Führungskraft, Mutter von zwei Kindern, ich arbeite viel von zu Hause aus, ich arbeite viel zu Zeiten, wo andere nicht arbeiten, was für mich völlig in Ordnung ist und mir eine Balance sichert, dass ich auch Zeit für meine pri-

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vaten Lebenswelten habe, aber es wird alles nur ermöglicht durch die Technologie, die wir bei uns eingeführt haben. Damals bei meinem ersten Kind hatten wir das noch nicht und bei meinem zweiten Kind hatten wir die Social Software, was das für einen Riesenunterschied gemacht hat für mich am Ball zu bleiben und mitwirken zu können und auch auf dem Laufenden zu sein, was läuft und mich da einbringen zu können im Vergleich zu vorher. Und das ist für mich in meiner Führungsrolle ganz, ganz entscheidend gewesen. Dass ich nie ,off‫ ދ‬war, aber es auch nicht als Belastung empfunden habe immer, auch während der Auszeit, ja ,on‫ދ‬, also trotzdem im Unternehmen zu sein, weil ich ganz smart ohne viel Aufwand immer auf dem Laufenden war und eingreifen konnte.“ (Interview_SUC15)

Dennoch bestehen auch weiterhin große Geschlechterasymmetrien, wenn die Erwerbstätigkeit von Frauen beziehungsweise Müttern betrachtet wird. Noch immer gibt es große Unterschiede in der Erwerbsquote, d.h. weitaus mehr Männer arbeiten in Vollzeit als Frauen. Kinder unter 18 Jahre im Haushalt verringern weiterhin die Chance von Frauen auf eine Vollzeitstelle. Die Erwerbsbeteiligung von Müttern hängt also vor allem vom Alter der Kinder ab und ist umso geringer, je jünger die Kinder sind. Mit Erreichen des Kindergartenalters nimmt auch die Erwerbstätigkeit der Mütter wieder zu, auf die Erwerbsbeteiligung von Vätern hat das Alter der Kinder jedoch keinen nennenswerten Einfluss (Hinz 2008, 229). Auch in Führungspositionen sind Mütter noch unterrepräsentiert, je höher das Einkommen beziehungsweise je prestigeträchtiger das Tätigkeitsfeld, desto geringer ist die Kinderzahl der arbeitenden Frauen. Viele hochqualifizierte Frauen möchten heute aber nicht mehr entweder auf Kinder oder auf ihre Karrierebestrebungen verzichten (Hinz 2008, 91). Die Wünsche und Bedürfnisse der Familien müssen demnach mit den Interessen der Arbeitgeber vereint werden, in einem Kompromiss muss ein „familienorientiertes Arbeitszeitmuster“ entstehen. Dabei haben die Unternehmen auch eigene Interessen, denn mit familienfreundlichen Maßnahmen können sie die Zufriedenheit der MitarbeiterInnen steigern, qualifizierte MitarbeiterInnen können somit eher gewonnen bzw. gehalten werden (Hinz 2008, 242). Eine weitere wichtige Zielgruppe der Work-Life Balance Maßnahmen sind ältere ArbeitnehmerInnen. Die Personalpolitik in den Unternehmen muss sich zukünftig stärker auf die demographische Entwicklung einstellen. Ältere MitarbeiterInnen werden langfristig wichtiger für Unternehmen. Personalstrategien, die heute oftmals auf jüngere Erwerbstätige zugeschnit-

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ten sind, müssen angepasst werden (Michalk/ Nieder 2007, 73). Die Balance zwischen Arbeit und anderen Lebensbereichen gewinnt an Bedeutung, auch für Führungskräfte. Aber auch die Generation Y hat diesbezüglich Ansprüche. Im Vergleich zu älteren Erwerbstätigen fordern die Jüngeren Freiräume von den Arbeitgebern ein, wie z.B. Teilzeit, Feierabend, Home Office. Für sie ist es u.a. wichtig, dass Erwerbsarbeit zeitliche Flexibilität ermöglicht und genug Zeit für das Privatleben bleibt (Kunze 2013a). Das Karrierenetzwerk careerloft.de hat dazu Umfrageergebnisse veröffentlicht mit den Punkten, die für BerufseinsteigerInnen hinsichtlich der Wahl ihrer zukünftigen ArbeitgeberInnen von Bedeutung sind und hebt hervor: „Neben dem attraktiven Gehalt spielen Wohlfühl-Faktoren und die Vereinbarkeit von Arbeit, Freizeit und Familie eine immer bedeutsamere Rolle.“ (Mayer 2012) Unternehmen müssen sich anpassen, um für zukünftige BewerberInnen attraktiv zu bleiben. Zudem ist auf den Aspekt von Zeit und Raum hinzuweisen. Neben einer flexiblen Arbeitszeit fordert die Generation Y eine maximale Flexibilität beim Einsatz der Arbeitsmittel und Arbeitsmethoden, die unabhängig vom Aufenthaltsort einsetzbar sind. Auch hier wird darauf Bezug genommen, dass Arbeitgeber umdenken müssen (Mesmer 2010). Mit Blick auf die Geschlechterverhältnisse kommt Jutta Allmendinger zu der Aussage, dass auch Frauen Beruf und Familie haben wollen und sich die Vorstellungen von Frauen und Männern immer mehr angleichen: „Haben wir in den vergangenen Jahren noch deutliche Unterschiede zwischen Männern und Frauen gesehen, verbunden mit starken Stereotypisierungen des jeweils anderen Geschlechts, ähneln sich heute die Einstellungen zu allen Bereichen des Lebens sehr stark.“ (Kunze 2013) So fordern Frauen und Männer, jüngere und ältere Erwerbstätige zunehmend flexiblere Arbeitszeitmodelle, mobiles Arbeiten mit eigenen Geräten („Bring your own device“) und die Nutzung von Social Media Tools für ihren Berufsalltag (Reder 2014). Mit den Technologien des Web 2.0 stehen nicht nur die Grenzziehungen zwischen Erwerbsarbeit und Privatleben, sondern auch zwischen Öffentlichkeit und Privatheit sowie Nutzenden und Produzierenden zur Disposition (Ballenthien/ Carstensen 2011). Die in diesem Beitrag beschriebenen technologischen Entwicklungen, die auch dazu beitragen, dass sich RaumZeit-Strukturen verändern, können die Grenzverschiebungen beeinflussen, auch in Richtung einer zunehmenden Entgrenzung.

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Unsere ExpertInnengespräche bestätigen, dass die Grenzen zwischen Erwerbsarbeit und Privatleben in den letzten Jahren viel durchlässiger geworden sind. Die Arbeitsformen (Erwerbsarbeit, Hausarbeit, Versorgungsarbeit) verschränken sich in neuer Weise. Das macht sich biographisch daran bemerkbar, dass die Menschen ihre Alltage, ihren Lebenslauf anders organisieren müssen und dass neue Arbeitsarrangements entstehen. Für die gesellschaftliche Dimension bedeutet dies, dass die Grenzen zwischen den gesellschaftlichen Bereichen (Privat-, Gemeinwirtschaft, Staat) neu ausgehandelt werden müssen. Zu diesem Schluss kommen auch Ballenthien und Carstensen in ihrer Studie „Subjektkonstruktionen und digitale Kultur“ (Carstensen/ Schachtner/ Schelhowe u.a. 2014): „Es ist deutlich sichtbar, dass gegenwärtig eine Reihe von Grenzen neu verhandelt werden. Innerhalb der beschriebenen Prozesse der Entgrenzung fehlen (bisher) neue gesellschaftliche Routinen oder gültige Vorgaben. Unsere Befragten füllen diese Lücke mit den unterschiedlichsten Umgangsweisen. Sie handeln zwischen Selbstvermarktungsdruck, Zeitgeist, inmitten widersprüchlicher Diskurse, sie sind damit überfordert, sie sind davon genervt, oder sie schöpfen daraus Kraft und genießen es.“ (Ballenthien/ Carstensen 2011)

Während einige Erwerbstätige durch die notwendigen subjektiven Grenzziehungspraktiken neue Möglichkeiten schaffen, sind andere ArbeitnehmerInnen damit überfordert. Wandlungsprozesse in der Arbeitswelt unter dem Einfluss des technologischen Fortschritts bilden einen sinnvollen Ausgangspunkt, um nach Neuaushandlungen der Geschlechterordnung zu fragen. Interviewte erwerbstätige Männer sehen es positiv, dass die zunehmende Flexibilität dazu beitragen kann, Veränderungen in den Geschlechterverhältnisse zu bewirken. Die Potentiale sind vorhanden, die Gestaltung der Aushandlungsprozesse bleibt bisher den Subjekten überlassen, und ist demzufolge individuell geprägt. Wir konnten insbesondere dann positive Einschätzungen finden, wenn die Erwerbstätigen in Unternehmen tätig sind, die die neuen Technologien bereits einsetzen. „Ich bin heute im Home Office. Ich kann mich um meine Kinder kümmern, wenn sie gerade zuhause sind. Und wenn sie dann abends weg sind oder beim Sport, dann arbeite ich wieder. Ja. Das, also, die Flexibilität ist damit signifikant geändert wor-

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den, mit diesen ganzen Möglichkeiten. Und das ist auch das Schwierige. Also jeder selbst muss schauen, dass er diese Balance bekommt, diese Work-Life-Balance.“ (Interview_SSE16, männlich)

Gleichwohl stehen die Neuaushandlungen noch stark verwurzelten, traditionellen Strukturen gegenüber, so dass Männer und Frauen ihre eigene Situation noch als eher untypisch beurteilen. „Ja, wir sind insofern vielleicht eher untypisch, als wir wirklich eine echte gelebte 50:50-Verteilung haben, mit vielleicht sogar im Moment einer Priorität, oder mit mehr Kinder bei meinem Mann. Und bei mir ist es dann schon oft so, wenn mein Job gerade mehr von mir abverlangt, dann macht er mehr.“ (Interview_SMH17)

Die grundlegende Rollenverteilung in Deutschland ist heute noch immer so, dass Hausarbeit überwiegend Frauensache ist. Während Frauen durchschnittlich 164 Minuten am Tag dafür aufwenden, verbringen Männer nur halb so viel Zeit mit diesen Tätigkeiten (Koschnitzke 2014). Die Ungleichgewichte bleiben aber häufig auch dann bestehen, wenn beide Partner erwerbstätig sind (Rohmann/ Schmohr/ Bierhoff 2002). Die Studie „Frauen auf dem Sprung“ (Allmendinger 2009) stellt ebenfalls fest, dass in den Partnerschaften die klassische Rollenverteilung oftmals weiterhin besteht, was aber nicht den Wünschen der Frauen entspricht, die häufig einer Doppelbelastung ausgesetzt sind (Frankfurter Allgemeine online 2014). Die meisten Frauen und Männer haben das Ziel, Familie und Erwerbstätigkeit zu verbinden. Eine Trennung der beiden Bereiche ist in Auflösung. Immer häufiger sind bei Familien mit Kindern beide Elternteile berufstätig. Allerdings immer noch sehr verbreitet in der Konstellation, dass der Mann Vollzeit arbeitet und die Frau Teilzeit. Haushalts-, Erziehungs- oder Pflegeaufgaben bleiben damit den Frauen überlassen, die eben „nur“ Teilzeit arbeiten (Bundesministerium für Familie 2011). Wenn Zeitressourcen umverteilt werden, d. h. Erwerbstätige Flexibilisierungsmöglichkeiten durch die neuen Technologien nutzen, kann dies zu einer ausgeglichenen Aufteilung der Haus- und Sorgearbeiten zwischen den Partnern beitragen. „Wenn ich es vergleiche mit der Zeit, als ich noch fünf Tage nine-to-five arbeiten gegangen bin (Anm. d.V. der/die Interviewte arbeitet jetzt auch im Home Office) und natürlich unter der Woche weniger Zeit hatte, hatte „X“ eigentlich den Großteil

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der Hausarbeit übernommen, weil für mich dann am Wochenende nie was übrig war. Ich glaube, dass das schon einen positiven Einfluss auf die Gleichberechtigung untereinander hat. Wenn beide nach dem Modell arbeiten. Ansonsten hat derjenige, der eben mehr Zeit zu Hause verbringt, ganz klar das Nachsehen.“ (Interview_SJ4)

Unsere Forschungsergebnisse zeigen, dass Potential für bewegliche Geschlechterarrangements vorhanden ist. Auch Männer haben veränderte Ansprüche an eine Balance von Erwerbsarbeit und Privatleben. Auch andere Studien (z.B. Bild der Frau 2013) weisen darauf hin, dass die Auflösung der traditionellen, starren Geschlechterrollen von einer deutlichen Mehrheit der Männer (61 Prozent) und von 75 Prozent der Frauen befürwortet wird. Traditionelle Strukturen der geschlechterspezifischen Aufgabenteilung werden gleichwohl auch heute noch von 26 Prozent der Männer und von 14 Prozent der Frauen als positiv empfunden (Bild der Frau 2013, 27). Diskrepanzen zwischen den Geschlechtern bestehen weiterhin in der Motivation und der konkreten Umsetzung: Männer sind oftmals mehr daran interessiert, ihre freie Zeit für Hobbies oder zur Selbstverwirklichung zu nutzen als ihre Beteiligung an Haus- und Sorgearbeiten zu verstärken. Festzuhalten bleibt: Bestehende Veränderungsprozesse sind erkennbar und die Auswirkungen auf die Geschlechterarrangements werden auch von den Erwerbstätigen erkannt und oftmals bewusst umgesetzt.

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AUSBLICK

Fundamentale Transformation von Erwerbsarbeit Die Studie „Social Media in deutschen Unternehmen“ (BITKOM 2012a) des Bundesverbandes Bitkom von 2012 kommt zu dem Ergebnis, dass derzeit fast die Hälfte der Unternehmen in Deutschland (47 Prozent) Social Media nutzen und weitere 15 Prozent planen die Nutzung bereits konkret. Allerdings wird Social Business in der internen Kommunikation bisher nur von 17 Prozent der Unternehmen eingesetzt. Das bedeutet, dass sich die Einführung in den Anfängen befindet und der Umstellungsprozess in den Unternehmen somit noch andauert. Unsere Interviews mit Unternehmen zeigen aber bereits: Durch den Einsatz neuer Technologien, vor allem den Einsatz von Social Business-

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Technologien, verändern sich Arbeitsweisen, Arbeitsstrukturen und damit Hierarchien und Kommunikationsweisen fundamental. Das wird an den von uns befragten Unternehmen, die diese Technologien bereits umsetzen, deutlich. Die Präsenzzeit der ArbeitnehmerInnen am Arbeitsplatz geht in ihrer Bedeutung zurück, es kann vermehrt mobil und zeitflexibel gearbeitet werden. Gleichzeitig entsteht eine Verfügbarkeitserwartung, eine ambivalente Kultur der ständigen Erreichbarkeit, die mit einer Entgrenzung von Erwerbsarbeit und Privatleben einhergeht. Hier wird zukünftig anzusetzen sein, d.h. die vorhandenen Potentiale von Social Business lassen sich ohne eine Veränderung bzw. Anpassung der Unternehmenskultur nicht produktiv nutzen. Dabei sollte das Vertrauen und die Akzeptanz der Nicht-Erreichbarkeit bzw. Nicht-Präsenz berücksichtigt werden. Social Business in Unternehmen ist demzufolge nicht nur ein technisches sondern vielmehr ein kulturelles Thema. Allein der Einsatz der neuen Technologien wird nicht zwangsläufig zu einer Veränderung der Unternehmenskultur führen. Wir konnten in unserem Projekt feststellen, dass sich Unternehmensstrukturen wandeln müssen, d.h. Offenheit, Transparenz, Vertrauen und Vernetzung fördern sollten. Erst dann können die Möglichkeiten von Social Business als Potentiale für Unternehmen und Erwerbstätige genutzt und so neue Kommunikationsweisen umgesetzt werden. Dies kann die interne Kommunikation positiv beeinflussen, insbesondere dann, wenn es sich um wissensintensive Tätigkeitsbereiche handelt. Dies ist jedoch ein langfristiger Prozess, der gezielt geplant und bewusst gestaltet werden sollte.

Veränderte Ansprüche der Beschäftigten an die Arbeitswelt Der Anspruch der Beschäftigten (Männer und Frauen) an die Arbeitswelt verändert sich dahingehend, dass die Erwerbstätigen vermehrt mitgestalten und selbstbestimmter arbeiten wollen. Sie sind daran interessiert, in neuen und flexiblen Raum- und Zeitstrukturen zu arbeiten und legen, wie jüngste Studien zeigen, vermehrt Wert auf eine gute Work-Life-Balance. Hierin liegt ein großes Potential zur Neuaushandlung der Geschlechterverhältnisse hinsichtlich einer besseren Vereinbarkeit von Erwerbs- und Privatsphäre. Besonders bei der Generation Y, auch bei Erwerbstätigen, die sich sehr stark mit ihrer Tätigkeit identifizieren (in unseren Interviews häufig aus

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dem Kreativ- oder Informatikbereich), wird die Mobilisierung und Flexibilisierung von Erwerbsarbeit und die damit verbundene Subjektivierung und Individualisierung von Arbeit kaum als Belastung gesehen. Für sie stehen Selbstorganisierung und Eigenverantwortung obenan. Andere Erwerbstätige suchen angesichts der Entgrenzung von Arbeit durch Informatisierung individuelle Lösungswege und Praktiken der Grenzziehung zu entwickeln und umzusetzen.

Aushandlungsprozesse: Herausforderungen für politische und gewerkschaftliche AkteurInnen Die Arbeitsgesellschaft verändert sich rasant. Immer mehr Menschen versuchen für sich eine Balance zwischen Beruf und Privatleben zu erreichen. So sind beispielsweise auch männliche jüngere Führungskräfte nicht mehr bereit rund um die Uhr zu arbeiten. Hier ergeben sich neue Ansatzpunkte zur Chancengerechtigkeit für Frauen und Männer. Viele Gleichstellungsmaßnahmen, wie beispielsweise die Frauenquote, vernachlässigen diese aktuellen Entwicklungen. Dabei ist es von besonderer Bedeutung, zuerst die veränderten Strukturen und Arbeitsformen und die sich daraus ergebenden Ansprüche der weiblichen und männlichen Erwerbstätigen an Arbeit zu betrachten. Erst darauf aufbauend – mit einem neuen Verständnis von Arbeit – wird es möglich, Wege aufzuzeigen, die Frauen mehr Chancen in Beruf und Gesellschaft eröffnen. Im Spannungsfeld der Bedürfnisse der Subjekte und wirtschaftlichen Interessen der Unternehmen ist es wichtig, neue Aushandlungsprozesse zu initiieren. Hier sind Gewerkschaften und Politik besonders gefordert sich an der Entwicklung neuer Rahmenbedingungen zu beteiligen. Grundsätzlich besteht der Wunsch der Erwerbstätigen und der Rat der ExpertInnen, in den Unternehmen Arbeitszeit- und Verfügbarkeitskulturen zu schaffen, die es den Beschäftigten erlauben, möglichst selbstbestimmt zu arbeiten, aber auch „nicht erreichbar zu sein“. Das bedeutet, dass ungebrochene Ansprüche von Unternehmen an Beschleunigung und Entgrenzung zu relativieren sind. Erst diese Veränderung der Unternehmenskultur kann zu einer besseren Work-Life-Balance von Männern und Frauen führen und zudem die Berufs- und Karriereverläufe von Frauen positiv beeinflussen. Bisher liegt die Verantwortung für die Balance zwischen Erwerbsarbeit und

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Privatleben und damit die Entscheidung, wann Beschäftigte erreichbar sind und wann und wo sie arbeiten, - zumindest vordergründig - bei ihnen. Dies darf aber nicht weiter allein auf die Subjekte abgewälzt werden. Hier sind neben Unternehmen und Subjekten auch die gesellschaftlichen und politischen Kräfte in der Pflicht, müssen gesellschaftliche Routinen und politische Rahmungen aufgebaut werden.

Bewegliche Geschlechterarrangements? Die Ergebnisse des Forschungsprojektes zeigen, dass die Informatisierung viele Potentiale für die Neuaushandlung von Geschlechterarrangements enthält, auch wenn die Entgrenzung von Erwerbsarbeit und Alltagsleben durchaus ambivalent zu sehen ist. Festzuhalten bleibt, dass durch das Aufbrechen der Grenzen zwischen Produktions- und Reproduktionssphäre neue Spielräume entstehen und dass der männlich und weiblich konnotierte Dualismus von Öffentlichkeit und Privatheit zunehmend zur Disposition steht. Die Befragungen belegen, dass die Flexibilisierung von Erwerbsarbeit eine bessere Vereinbarkeit von Berufs- und Privatleben schafft, und zwar für Männer und Frauen. Veränderungen in der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung sind in unseren Interviews erkennbar. Es handelt sich aber um vielschichtige Prozesse, deren Ausgang bisher offen ist. Denn erst in dem Moment, wenn Männer und Frauen ihre vermehrten Ansprüche an eine bessere Work-Life-Balance mit einer gleichberechtigten Vereinbarkeit von Erwerbsarbeit und Haus- und Sorgearbeit verbinden, also als Wunsch und Aufgabe für beide Geschlechter formulieren, findet ein grundlegendes Umdenken statt. Und das Vereinbarkeitsproblem ist dann kein Frauenproblem mehr. Aufgrund der traditionellen und verfestigten Geschlechterstrukturen, die immer wieder zur Rekonstitution hegemonialer Männlichkeit beitragen, werden diese Veränderungsprozesse - im Vergleich zur technologischen Entwicklung - eher langsam fortschreiten. Tendenzen für einen Wandel sind aber zu erkennen - insbesondere dann, wenn eine erforderliche Kultur von den Unternehmen geschaffen wurde. Festzuhalten bleibt: Die durch Informatisierung ausgelösten Entwicklungen sind nicht linear, sondern im Gegenteil sehr dynamisch. Es handelt sich um variable Prozesse, die gleichermaßen Chancen, Ambivalenzen und Gegenläufiges enthalten. Die tiefgreifenden Transformationen benötigen

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und bieten Raum für Neuaushandlungen, in denen in jedem Fall auch „Bewegliche Geschlechterarrangements“ zur Disposition stehen. In Bezug auf die Geschlechterverhältnisse führen zunehmende Veränderungen im Bereich der Erwerbsarbeit ganz langsam zum Aufbrechen alter Traditionen. Flexible Arbeitszeiten und Arbeitsorte machen individuelle Aushandlungen möglich und stellen rollentraditionelle Aufteilungen in Frage. Dennoch wird diese Veränderung nur sehr langsam deutlich; eine „Trägheit“, die im Gegensatz steht zur rasanten Weiterentwicklung der technischen Möglichkeiten.

Ausblick Es ist unumstritten, dass das Internet und insbesondere das Web 2.0 zu einer neuen Art der Kommunikation geführt hat. Dieser Wandel hat großen Einfluss auf die Arbeitsstrukturen und Arbeitsprozesse. Gesellschaftsverändernde Wirkungen durch ehemals Neue Medien gab es schon immer und das ist nichts Neues, nur der zeitliche Ablauf, d.h. die Dynamik der Entwicklung ist eine andere. Veränderungen vollziehen sich heute innerhalb kurzer Zeit (Klotz 2010, 12). Die Schnelligkeit der Entwicklung ist bei der Generation Y, die mit den Neuen Technologien aufgewachsen ist, gut zu beobachten. Die Mediennutzung und das Kommunikationsverhalten haben sich fundamental verändert (Klotz 2010, 10). Durch die Nutzung der Sozialen Medien, Wikis, Blogs und mobile Anwendungen hat sich die Medienkompetenz verändert und auch die Art des Wissensaustauschs. Auf diesen Wandel müssen Unternehmen zukünftig reagieren. Auch wenn die Klassifizierung nach Generationen sich nicht immer so trennscharf nachzeichnen lässt, d.h. dass es auch Männer und Frauen gibt, die einer bestimmten Generation nach dem Geburtsjahr entsprechen, aber von ihrem Lebensstil eher zu einer anderen Generation passen, dient sie doch als Anhaltspunkt. Die Rede ist mittlerweile schon von der „Generation Z“ (siehe beispielsweise Rieder 2014) oder auch „Gen Z“, die wieder ganz anders sei als die Generation Y, da sie die erste Generation ist, die vollkommen in der digitalen Umgebung aufgewachsen ist. So wird ganz deutlich, dass die beschriebene Dynamik erhalten bleibt oder noch forciert wird und der Veränderungsprozess noch lange nicht ab-

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geschlossen sein wird, für die Erwerbstätigen und für die Unternehmen. Aber auch die Unterschiede werden deutlich, d.h. es wird nicht „richtig“ oder „falsch“ geben in Bezug auf Führung und Arbeitsweisen, sondern im Mittelpunkt wird das differenzierte Vorgehen stehen, um sich den individuellen Bedürfnisse anzupassen. Hinzu kommen neue Arten von Beschäftigung. Die Ergebnisse des Projektes zeigen u.a., dass viele klassische Angestelltentätigkeiten verstärkt von sogenannten NetzarbeiterInnen übernommen werden. NetzarbeiterInnen arbeiten vorwiegend freiberuflich, sind also unabhängig, nicht angestellt und übernehmen kurzfristig Arbeitsaufträge, die ihnen über derzeit entstehende Internetplattformen zur Verfügung gestellt werden (ein Beispiel ist die Plattform www.workio.com). Nach ersten Erkenntnissen, entscheiden sich NetzarbeiterInnen oft für diese Form der Tätigkeit, um möglichst sinn- und identitätsstiftend arbeiten zu können. Der Wunsch nach flexibler Arbeit und Unabhängigkeit von Zeit und Raum spielt eine große Rolle, ohne dabei allerdings auf eine soziale Absicherung, wie in Normalarbeitsverhältnissen üblich, verzichten zu wollen. Häufig wählen NetzarbeiterInnen daher (bisher) eine Kombination aus Festanstellung und freier Tätigkeit. Dieser Trend ist darauf zurückführen, dass Aushandlungen in Bezug auf ihre Arbeitsbedingungen, aber auch in Bezug auf Privatleben und Familie zunehmend eine Rolle spielen. NetzarbeiterInnen sind von der Altersstruktur her zu einem großen Teil der sogenannten Generation Y oder der Digitalen Bohème zuzurechnen. Erste Ergebnisse zeigen, dass auch bei ihnen zunehmend Aushandlungen und Absprachen in Bezug auf Hausarbeit, Betreuung und Sorgeverpflichtungen stattfinden. Deutlich ist, dass sich immer mehr Frauen für diese Form der Tätigkeit entscheiden, um ihren beruflichen und privaten Alltag besser vereinbaren zu können. Wichtig ist, dass diese Aushandlungsprozesse bei den jüngeren NetzarbeiterInnen gerade im Entstehen sind. Freie Tätigkeiten weiten sich immer mehr aus und schließen nun vielfältige Berufe und Tätigkeiten mit ein. So zeigen die Erkenntnisse des Projektes, dass wir zukünftig sowohl von einer veränderten Form der Arbeit, aber auch von neuen Wegen diese Arbeitsleistung anzubieten ausgehen müssen. Die Rede ist von einer „neuen Stufe der Wissensarbeit“ (Schwenck 2011). Auch in wirtschaftlich unsicheren Zeiten, in denen immer weniger Berufstätige in Normalarbeitsverhältnissen beschäftigt sind und Unterneh-

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men immer weniger bereit sind unbefristete Verträge anzubieten, birgt die Möglichkeit der Netzarbeit die Chance, kurzfristig Arbeitsaufträge zu erhalten und somit weiterhin beschäftigt zu sein. Dies kann aber für viele Erwerbstätige zu prekären Arbeitsbedingungen führen. Gerade hier sind Politik und Gewerkschaften gefragt, sich mit den neuen Situationen auseinander zu setzen.

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3. Social Media und Social Business

Was ist sozial an den sozialen Medien? Eine Annäherung an das Phänomen Web 2.0 S TEFAN F EY

Das sogenannte Web 2.0 hat als Schlagwort für einen vergleichsweise neuen Entwicklungsstrang des World Wide Web und daran anknüpfende Debatten sowohl im alltäglichen Sprachgebrauch als auch in der journalistischen Berichterstattung, ja selbst in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Phänomen inzwischen einen festen Platz. Insbesondere die dem Web 2.0 zugerechneten Dienste und Anwendungen erfreuen sich nach wie vor einer geradezu beispiellosen und ungebrochenen Popularität. Rein quantitativ hat sich die Nutzung von Web 2.0-Angeboten im Internet längst von einem Rand- zu einem Massenphänomen entwickelt (Busemann/ Gscheidle 2011, 362, 366; Münker 2009, 18). Doch was ist gemeint, wenn vom Web 2.0 gesprochen wird? Nicht selten wird der Begriff unpräzise oder unpassend bzw. geradezu beliebig verwendet. Durch die größtenteils positive Besetzung ist Web 2.0 zu einer Art Modewort geworden, mit dem sich insbesondere AnbieterInnen kommerzieller Internetangebote gerne schmücken. Ebersbach/Glaser/Heigl (2008, 27) weisen den Begriff daher eigentlich auch als zu „unscharf“ und potenziell ungeeignet für eine wissenschaftliche Verwendung zurück. Auch Tim Berners-Lee, der als „Erfinder“ des World Wide Web gilt, gibt zu bedenken: „I think Web 2.0 is of course a piece of jargon, nobody even knows what it means” (Laningham/ Berners-Lee 2006). Populär wurde der Begriff vor allem durch den USamerikanischen Computerfachverlag O’Reilly. Die regelmäßig stattfindenden Web 2.0-Konferenzen des Verlags und der Aufsatz What is Web 2.0?

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des Verlagsgründers Tim O’Reilly (2005) trugen entscheidend zur Etablierung des Begriffes bei. Bereits dort wird Web 2.0 zur Beschreibung von Entwicklungen und Veränderungen der Internetlandschaft und des World Wide Web auf breiter Front verwendet. Dem Web 2.0 wird dabei zum Teil eine technische bzw. technologische, gesellschaftliche und soziale, ökonomische sowie zuweilen auch eine rechtliche Dimension zugebilligt. Es geht dort u.a. um soziale Verhaltensweisen und Ordnungsprinzipien sowie um technologische Weiterentwicklungen, um veränderte Geschäftsmodelle und -strategien ebenso wie um deren rechtliche und gesellschaftliche Konsequenzen. Kritisiert wird vielfach auch der Sinngehalt der Metapher Web 2.0, welche einen Versionssprung impliziert. In Anlehnung an die diskreten Sprünge klassischer Softwareprodukte sei die Entwicklung des World Wide Web mit der Version 2 gegenüber der vorherigen Version dem inzwischen ebenfalls in den Sprachgebrauch eingegangenen (World Wide) Web 1.0, mit dem die Frühphase des Internets bezeichnet wird auf einer neuen Stufe angekommen. Diese Analogie sei jedoch, so die KritikerInnen (Bruns 2008, 3; Münker 2009, 21 f.), zumindest zum Teil irreführend bzw. unglücklich gewählt. Einen solchen Sprung habe es historisch so nie gegeben. Zwar sei das World Wide Web in den vergangenen Jahren ‚gefühlt‘ auf einer neuen Stufe angekommen, dies sei jedoch eher auf eine graduelle Entwicklung zurückzuführen. Eine andere Lesart des implizierten Versionssprunges nimmt Bezug auf den von O’Reilly als geradezu paradigmatisch beschriebenen Orientierungswandel, der sich zwischen diesen beiden Entwicklungsabschnitten vollzogen haben soll. Das World Wide Web habe sich im Übergang zum Web 2.0 von einem Veröffentlichungs- zu einem Partizipationsmedium gewandelt und damit u.a. die tief greifenden, spürbaren Veränderungen (mit-)ausgelöst, die heute unter dem Schlagwort Web 2.0 diskutiert werden und längst weit über diese Nutzungskontexte hinausgehen. Und in der Tat scheint sich mit dem Web 2.0 ein Potenzial zu verwirklichen, das viele BeobachterInnen bereits in der Frühphase des Internets angelegt sahen: Eine Vision des Internets (und in Verlängerung des World Wide Web) als interaktives und partizipatives Medium (Drüeke/Winker 2005, 33 f.). Die Partizipation der NutzerInnen einzeln, vor allem auch aber auch die Kollaboration in Gemeinschaften, in der Form von (vernetzten) Communities ist es, die BeobachterInnen heute wiederum von den sozialen Medien (Social Media) des Web 2.0 bzw. vom Social Web sprechen lassen. Das Web 2.0 sei weniger eine „neue Internet-Architektur […] sondern eher eine

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neue soziale Bewegung“ (Kuhlen zit. nach Ebersbach/Glaser/Heigl 2008, 9). In der Tat sind soziale und kollaborative Prozesse im und für das Web 2.0 von entscheidender Bedeutung, technische und soziale (Steuerungs-) Mechanismen im Web 2.0 oft tief miteinander verschränkt. Um sich dem Phänomen Web 2.0 aus diesen verschiedenen Perspektiven anzunähern, sollen im Folgenden zum einen die Entstehungsvoraussetzungen und - bedingungen der Entwicklung zum Web 2.0, zum anderen die im Kontext des Web 2.0 ablaufenden (technischen und sozialen) Prozesse und ihr Zusammenwirken, näher betrachtet werden.

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STATISCHE W ORLD W IDE W EB UND DIE ZUNÄCHST GERINGE P ARTIZIPATION DER N UTZER I NNEN Prophezeiungen einer interaktiven, partizipativen Nutzung begleiteten die Einführungsphase neuer Medien und Informationstechnologien schon lange bevor sich Ende der 1980er/Anfang der 1990er Jahre das Internet einem breiten Publikum öffnete und das World Wide Web das Licht der Welt erblickte. Auch in Bezug auf das Internet waren BeobachterInnen anfangs optimistisch (Kubicek 1998, 59 f.; Seeber 2008, 46 f.). Diese teils hohen Erwartungen ließen sich in ersten Studien zum NutzerInnenverhalten jedoch zunächst nicht nachweisen: „Sehr deutlich wird, dass der utopische Aspekt nach und nach abgenommen hat, während eine zum Teil ernüchternde Auseinandersetzung mit dem begann, was tatsächlich vor und auf den Bildschirmen getan wurde“ (Hartmann/Wimmer 2011, 14). Das Internet wurde, das World Wide Web miteinbegriffen, in der breiten Masse zunächst noch überwiegend passiv, entsprechend der Nutzungsgewohnheiten der bekannten Massenmedien, vor allem als Abrufmedium verwendet (Marschall 1998, 49 ff.): „Festzustellen ist eine deutliche Fixierung auf die Funktionslogiken massenmedialer Kommunikation, weshalb die Potenziale digitaler, interaktiver Medien oft nicht zum Tragen kommen“ (Leggewie/Bieber 2003, 141). Statische Inhalte prägten das Bild des frühen World Wide Web. Münker (2009, 16 f.) spricht in Anlehnung an Lessig für diese Phase von einem Read only-Netz. Die anfängliche Euphorie schlug relativ schnell um in Ernüchterung. SkeptikerInnen prophezeiten, dass dem Internet (wie schon zuvor im Kontext neuer IuK-Technologien

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beobachtet) ein „Umbau […] zu einem Verteilmedium“ (Rilling 1998, 40) bevorstünde, auch auf Grund der sich zu diesem Zeitpunkt zunehmend abzeichnenden Kommerzialisierung. Die liebevoll gestalteten, von einzelnen InternetnutzerInnen oft hobbymäßig betriebenen Internetseiten, die persönlichen Homepages, wurden zunehmend von professionellen Angeboten aus dem sichtbaren Teil des World Wide Web verdrängt. Dies kann als ein Grund dafür gesehen werden, dass die Entwicklungen rund um das Web 2.0 später von einigen BeobachterInnen als Renaissance nutzerInnengenerierter Inhalte bzw. als „Rückeroberung des WWW durch die Nutzer“ (Ebersbach/Glaser/Heigl 2008, 11) gefeiert wurde. Die Internetvisionen der 1990er Jahre fasst Münker (2009, 11) folgendermaßen zusammen: „Zu früh, mit den falschen Argumenten, und deswegen, wie sich zeigen sollte, zu Unrecht […]“. Zu früh waren diese vor allem, weil sie die Phase der Adaption der Technik, ihrer gesellschaftliche Aneignung, (noch) nicht ausreichend berücksichtigten (konnten). So wurden allein auf der Basis des technologischen Potenzials ambitionierte Annahmen über eine vermeintliche Nutzung aufgestellt, die nicht zuletzt durch ihre zu technikdeterministische Perspektive, (zumindest zunächst) unerfüllt blieben (Katzenbach 2008, 21 f.). Die empirischen Ergebnisse der Frühphase litten darunter, dass sich für das Internet noch keinen genuinen Nutzungsgewohnheiten herausgebildet hatten – die NutzerInnen mit dem Internet noch nichts anzufangen wussten – und es in der Zwischenzeit analog zu den bereits vertrauten Medienangeboten nutzten (Münker 2009, 59 f.). Münker und Roesler (2002, 12) bemerken daher auch: „Das Internet nach der Entzauberung des anfänglichen Hypes als bloßen Mythos abtun hieße, das Kind mit dem Bad auszuschütten.“ Welz (2002, 5) nannte 2002 u.a. fünf wesentliche Einschränkungen in Bezug auf das partizipative Potenzial des frühen Internets, darunter u.a. die zu diesem Zeitpunkt nur (1) eingeschränkt zur Verfügung stehende Bandbreite, die (2) wenig repräsentative Zusammensetzung der NutzerInnen, deren (3) zurückhaltendes Nutzungsverhalten und (4) zum Teil noch fehlende Medienkompetenz sowie die (5) Dominanz der Massenkommunikation in weiten Teilen des Internets. Nahezu in all diesen Bereichen waren in den letzten Jahren jedoch deutliche Veränderungen zu beobachten, die letztlich auch dazu geführt haben könnten, dass sich die Rahmenbedingungen für das so genannte Web 2.0 im Vergleich zum Internet der frühen Phase deutlich verbessert haben könnten.

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SOZIAL AN DEN SOZIALEN

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AUF DEM W EG ZUM W EB 2.0 – W IE SICH DAS I NTERNET IN DER Z WISCHENZEIT VERÄNDERTE Nicht nur das Internet selbst, sondern auch die NutzerInnen sowie die technischen, sozialen und gesellschaftlichen Nutzungskontexte haben sich jedoch in der vergleichsweise kurzen Zeitspanne zwischen der Frühphase und dem heutigen Web 2.0 zum Teil signifikant verändert bzw. weiterentwickelt. Am deutlichsten zeigt sich dies an der dramatischen Entwicklung der NutzerInnenzahlen und der quantitativen Nutzung. Das Internet hat sich in der Zwischenzeit von einem Nischenmedium einer kleinen, elitären NutzerInnengruppe (den sogenannten Early Adopters) mehr und mehr zu einem Massenmedium mit einem Massenpublikum entwickelt und stellt für manche Bevölkerungsgruppen inzwischen sogar das Leitmedium dar (van Eimeren/Frees 2011, 334 ff., 348). Im Zuge des Web 2.0, aber auch schon zuvor, gab es Anzeichen dafür, dass die InternetnutzerInnen die starren Nutzungsgewohnheiten und Beschränkungen der frühen Phase abgelegt und in Folge einer Gewöhnung an das Medium genuine Nutzungsgewohnheiten ausgebildet haben. Die Medienkompetenz der NutzerInnen ist gestiegen, was sich auch in qualitativen Zuwächsen in der Nutzung widerspiegelt, auch wenn nach wie vor signifikante Unterschiede zwischen einzelnen NutzerInnengruppen zu beobachten sind (van Eimeren/Frees 2011, 335). Technische Verbesserungen haben den Zugang zum bzw. Umgang mit dem Internet erheblich erleichtert. Das schmalbandige, kabelgebundene, zeitabhängig abgerechnete Einwahl-Internet der Frühphase ist dem breitbandigen, mobilen, ständig-verfügbaren always on-Internet (Lovink 2008, 61) gewichen (Initiative D21 e.V., 21; Fisch/Gscheidle 2008, 395). Erlaubten die Rahmenbedingungen der Frühphase meist nur eine sehr gezielte, geplante Internetnutzung, kann unter heutigen Bedingungen in immer mehr Situationen auf das im Hintergrund mitlaufende Internet zurückgegriffen werden. Die Kombination aus Smartphone oder Tablet und mobilem Internetzugang ermöglicht schon heute einer signifikanten Anzahl an NutzerInnen nahezu überall und jederzeit auf das Internet zuzugreifen (Bundesverband Informationswirtschaft 2011, 11, 26). Signifikate Verbesserungen sind auch auf der Anwendungsebene zu beobachten, u.a. in Bezug auf Angebotsfülle und BenutzerInnenfreundlichkeit (Usability). Einfach zu bedienende, moderne Webapplikationen haben die Einstiegshürden für die aktive Teilnahme und die Beteiligung an der Produktion von Inhalten im World

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Wide Web weiter gesenkt und dazu beigetragen, dass in den vergangenen Jahren ein deutlicher Schub in der aktiven Teilnahme der NutzerInnen zu verzeichnen ist (Altmann 2010, 180; Busemann/Gscheidle 2011, 362). Fasst man diese Entwicklungen zusammen, wird deutlich, wie stark diese einzelnen Entwicklungen auch ineinandergreifen: Die Verwobenheit technischer Voraussetzungen und sozialer Nutzungspraxis wird gerade auf der Anwendungsebene besonders deutlich sichtbar. Breitbandanschlüsse mit ihren höheren Übertragungsraten machten viele Angebote technisch erst sinnvoll nutzbar, zeitunabhängige Abrechnungsmodelle erlaubten es den NutzerInnen, ohne Kostendruck beliebig viel Zeit im Internet zu verbringen und machten so erst eine ungezwungenere Internetnutzung möglich. Ein Zuwachs internetfähiger Geräte und benutzerInnenfreundliche Anwendungen sorgten dafür, dass das Internet in immer mehr Situationen zur Verfügung stand und auch genutzt werden konnte. Dies erlaubte letztendlich auch die immer stärkere Integration des Internets in unser alltägliches Leben: „Für die normalen Nutzer gilt: Solange die Technik selbst noch ein Problem darstellt, wird ihre Einbettung in den Alltag nicht gelingen, was Voraussetzung ist, um sie massenhaft als Gebrauchsgegenstand zu nutzen.“ (Kubicek 1998, 66) NutzerInnen verbringen mehr und mehr Zeit im, oder besser gesagt, mit dem Netz (van Eimeren/Frees 2011, 346 ff.). Das Internet ist, wie Münker (2009, 78) richtig bemerkt, in der heutigen Zeit „keine digitale Nebenwelt mehr“. Viele Bereiche des Alltags sind mittlerweile digitalisiert bzw. mediatisiert worden (Schmidt 2009, 85; Hartmann/Wimmer 2011, 8). Auch für die Herausbildung des Web 2.0 waren diese Entwicklungsprozesse, wie sich noch zeigen wird, von entscheidender Bedeutung.

D AS (W ORLD W IDE ) W EB ALS P LATTFORM FÜR INTERAKTIVE W EBAPPLIKATIONEN – TECHNISCHE ASPEKTE DES W EB 2.0 Was heute als dem Web 2.0 zugehörig gilt, blickt zum Teil auf eine kürzere oder längere Vorgeschichte zurück (Ebersbach/Glaser/Heigl 2008, 19; Schmidt 2009, 15). Vorläufer heutiger Web 2.0-Anwendungen existierten zum Teil bereits in der Frühphase des Internets, wenn auch in teils anderer Form, weniger erfolgreich oder vereinzelt. Insbesondere im Bereich der sogenannten Social Networking Sites ist es offensichtlich, dass vergleichbare

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Angebote bereits lange vor dem Web 2.0 existierten, jedoch kaum Erfolg hatten. Die Website SixDegrees.com erlaubte bereits 1997 die Abbildung sozialer Beziehungsnetzwerke und den gegenseitigen Austausch über eine Internetplattform, erreichte jedoch niemals die Popularität heutiger Angebote und wurde bereits 2000 wieder eingestellt. Kurz darauf im Jahr 2002 entstand mit Friendster ein Angebot, dass heute als erste Social Networking Site neueren Typs gilt und unmittelbar erfolgreich war (Boyd/Ellison 2008). Möller (2005, 14) weist darauf hin, dass bereits die erste Internetseite überhaupt (info.cern.ch (1990)) im Nachhinein als eine Art Weblog verstanden werden kann. Tim Berners-Lee veröffentlichte dort in regelmäßigen Abständen Links zu neuen Angeboten im World Wide Web. Das sogenannte WikiWikiWeb, heute fast ausschließlich nur noch kurz Wiki genannt, wurde von Ward Cunningham bereits 1995, ursprünglich als Hilfsmittel in der Softwareentwicklung programmiert. Noch bis ca. zur Jahrtausendwende waren Wikis vor allem in der Entwicklerszene verbreitet. Bis sich die heutigen Nutzungskontexte der Wikis entwickelten und sich um einzelne Seiten größere Gemeinschaften bildeten, deren Hauptzweck die Pflege der Inhalte des Projekts war, verging jedoch noch einige Zeit: Die Online-Enzyklopädie Wikipedia wurde beispielsweise erst im Jahr 2001 gegründet (Schmidt 2009, 25). Mit Hilfe von Scriptsprachen, wie z.B. Perl, war die Programmierung von serverseitigen, dynamischen Internetseiten bereits seit der Frühphase des Internets möglich, wenn auch mit einigen Abstrichen bei der BenutzerInnenfreundlichkeit. Auch die Grundprinzipien und Schlüsseltechnologien des Web 2.0, darunter u.a. JavaScript und XML, stammen zum überwiegenden Teil noch aus der Frühphase des Internets: „And in fact, […] Web 2.0 […] means using the standards which have been produced by all these people working on Web 1.0. It means using the document object model, it means for HTML and SVG and so on, it's using HTTP, so it's building stuff using the Web standards, plus Java script of course.” (Laningham/Berners-Lee 2006)

Ihr Potenzial in Bezug auf die Entwicklung benutzerInnenfreundlicher Webapplikationen konnten diese Technologien, so scheint es, jedoch aus verschiedensten Gründen erst zu einem späteren Zeitpunkt entfalten:

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„Interestingly, many of the capabilities now being explored have been around for many years. In the late '90s, both Microsoft and Netscape had a vision of the kind of capabilities that are now finally being realized, but their battle over the standards to be used made cross-browser applications difficult. […] [A]t least so far we haven't seen the destructive competition over web standards that held back progress in the '90s.” (O’Reilly 2005)

Diente das World Wide Web der Frühphase noch überwiegend der Bereitstellung und dem Abruf von Informationen bzw. der Präsentation von überwiegend statischen Inhalten sind den Anwendungsszenarien heute kaum noch Grenzen gesetzt. Der Browser übernimmt zunehmend die Aufgabe einer BenutzerInnenoberfläche für sogenannte Webapplikationen. Dies entspricht einem allgemeinen Trend. Das Internet der heutigen Zeit setzt stärker als je zuvor auf das World Wide Web. Das sogenannte Web als Plattform (Web as a platform) bietet für immer mehr Anwendungsgebiete, bis hin zur Verdrängung klassischer Software und anderer Internetdienste, eine web- bzw. browserbasierte Lösung an, was zur Folge hat, dass sich sowohl Dienste, wie auch Inhalte in diesem Bereich konzentrieren (Schmidt 2009, 13). Viele Aufgaben für die zuvor noch eine spezielle Software benötigt wurde, lassen sich heute schlicht und einfach mit dem Browser erledigen. Das klassische Modell der Entwicklung und Distribution von Software – in der Form eines in sich geschlossenen Produktes – wird im und durch das Web 2.0 immer öfter durch das so genannte Software as a ServiceModell ersetzt. Bei diesem Modell wird die Anwendung als Dienstleistung über eine, an das Internet angebundene, zentrale Infrastruktur des Anbieters bereitgestellt, und kann so von den AnwenderInnen unabhängig von bestimmten Geräten plattformübergreifend, am eigenen oder einem fremden PC, unterwegs von einem Laptop, Smartphone oder Tablet aus ohne vorherige Installation oder Einrichtung im Browser genutzt werden. Die Bereitstellung der Anwendung über eine zentrale Plattform, auf die die NutzerInnen gemeinsam zugreifen, ebnete darüber hinaus auch den Weg für die Integration von Kollaborationsfunktionen und die Ausnutzung von Synergieeffekten innerhalb der Anwendung. Frühe webbasierte Anwendungen operierten noch überwiegend nach einem starren Interaktionsmodell: Anfragen des Browsers (Client) an den Server, in der Form eines Klicks auf einen Hyperlink oder Button bzw. das Versenden eines zuvor ausgefüllten Formulars wurden vom Server zunächst entgegengenommen und in Folge mit ei-

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ner neuen Seite beantwortet, die die nachgefragten Informationen bzw. eine Reaktion auf die Eingaben des Benutzers enthielt. Web 2.0-Applikationen hingegen erlauben es, u.a. mithilfe von Asynchronous JavaScript and XML, abgekürzt AJAX, diese Interaktionen in den Hintergrund zu verschieben, und Inhalte direkt im Browser, nahezu in Echtzeit zu verändern, ohne dass dafür die komplette Internetseite neu vom Server geladen werden müsste. Die beim Aufruf der Webapplikation lokal im Browser ausgeführte Scriptsprache JavaScript initiiert hierbei im Hintergrund, regelmäßig oder ausgelöst durch bestimmte Interaktionen der NutzerInnen, asynchrone Anfragen an den Server, um bei Bedarf gezielt Informationen nachzuladen bzw. auszutauschen. Der Server stellt diese i.d.R. im XML (Extensible Markup Language) oder einem anderen standardisierten Format (wie z.B. JSON (JavaScript Object Notation)) bereit. Durch die gezielte Manipulation einzelner Elemente bzw. Bereiche der Webseite über das Document Object Model (DOM, einer Art Baumstruktur, die alle Elemente einer Webseite enthält und adressierbar macht) werden diese Informationen direkt in die geladene Seite integriert. Diese Hintergrundprozesse erlauben erst die Simulation eines Benutzererlebnisses, welches dem klassischer Software sehr nahekommt (Ebersbach/ Glaser/Heigl 2008, 163-170). Die u.a. mit Hilfe von AJAX bzw. JavaScript geschaffenen softwareähnlichen BenutzerInnenoberflächen moderner Web 2.0 Applikationen sollen ein sogenanntes Rich User Experience ermöglichen, die Applikationen selbst werden daher auch als Rich Internet Applications (RIA) bezeichnet. Der überwiegende Teil der populären Web 2.0-Anwendungen ist, zumindest in der Basisversion, für die NutzerInnen kostenlos (sogenanntes Freemium-Modell). Viele der Dienste finanzieren sich darüber hinaus vor allem auch über Werbeeinnahmen. KritikerInnen weisen in Bezug auf die Auswertung und ggf. die Weitergabe der Daten der NutzerInnen daher auch auf die versteckten Kosten der Nutzung dieser Plattformen hin. Auf der anderen Seite spielen diese Plattformen mit ihren kostenlosen (Basis-) Diensten, wie z.B. YouTube, aber auch Hosting-Dienstleister, wie z.B. Blog- oder Filehoster, sowie das umfangreiche Angebot an Webapplikationen der Suchmaschine Google eine wesentliche Rolle bei der Senkung von Einstiegshürden zur aktiven Partizipation. Sie stellen insbesondere für NutzerInnen mit vergleichsweise geringen Kenntnissen einfache und kostengünstige Arbeitsmittel zur Verfügung und erleichtern damit die Aufbereitung

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und Bereitstellung von Inhalten im Web 2.0 und darüber hinaus (Altmann 2010, 181). Abschließend sind mit dem Begriff Web 2.0 auch bestimmte technische Mittel zur Vereinfachung der Vernetzung bzw. des Austauschs zwischen verschiedenen Angeboten und den dort gespeicherten Daten verbunden. Diese erleichtern die Kombinierbarkeit sowie die Integrierung von Funktionen und Inhalten einzelner Dienste in andere (Internet-)angebote. Auf diesem Wege haben die Plattformen des Web 2.0 auch darüber hinaus im World Wide Web eine gewisse Ubiquität erreicht. So ist es keineswegs unüblich, dass auf fremden Internetseiten z.B. auf das Kartenmaterial von Google Maps zurückgegriffen, ein Video von YouTube oder eine Bildergalerie von Flickr eingebunden wird, bzw. NutzerInnen aufgefordert werden, sich auf der Seite mit den Zugangsdaten einer bekannten Plattform (beispielsweise Facebook oder Twitter) anzumelden. Gleichzeitig besteht vielfach die Möglichkeit den Link des entsprechenden Angebots über diese Dienste weiterzuverbreiten (auf Facebook zu posten oder zu twittern). Auch in den Beiträgen klassischer Medien – im Printjournalismus, Radio oder Fernsehen – finden sich immer öfter Verweise auf bzw. Übernahmen aus Web 2.0-Angeboten. Schlüsseltechnologien in diesem Bereich sind u.a. offene Web-APIs (Application Programming Interface), webbasierte Programmierschnittstellen, sowie einfache Austauschformate, wie z.B. die bereits erwähnten XML-basierten Formate (O’Reilly 2005). Von einfachen sogenannten Widgets oder kopierbaren Quelltextvorlagen, die den NutzerInnen zur Verfügung gestellt werden und die diese nur noch zur eigenen Seite hinzufügen brauchen, bis hin zu mächtigen Programmierschnittstellen, die das gezielte Aufrufen von Funktionen und die Abfrage von Daten erlauben, stellen viele Plattformen eine breite Palette fein abgestufter Integrationslösungen zur Verfügung, die letztendlich auch die Popularität und den Marktanteil der jeweiligen Plattform steigern sollen.

E NTSTEHUNGSBEDINGUNGEN UND – V ORAUSSETZUNGEN DES W EB 2.0 Für die nutzungsintensiven Anwendungskontexte des Web 2.0 waren die zwischenzeitlichen Veränderungen der Rahmenbedingungen der Internetnutzung vermutlich von entscheidender Bedeutung. Höhere Bandbreiten,

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geringere Latenzen und zeitunabhängige Abrechnung trugen zum einen dazu bei, dass sich durch verkürzte Lade- und schnellere Reaktionszeiten die Attraktivität der Applikationen steigerte, bzw. sich komplexere und datenintensivere Applikationen realisieren ließen, zum anderen erlaubten sie es den NutzerInnen, die Plattformen ohne Zeit- und Kostendruck zu nutzen. Sinkende Opportunitätskosten ermöglichten so erst ungezwungenere Formen der Internetnutzung, bis hin zu scheinbar trivialer Nutzung. Dies sowie die zunehmende Mobilität des Internetzugangs ermöglichte die Einbettung des Internets in alltägliche Handlungszusammenhänge, was für viele Web 2.0-Anwendungen ebenfalls von erheblicher Bedeutung ist (Altmann 2010, 13, 236; Schmidt 2009, 14). Gleichzeitig führte die immer bessere Versorgung mit internetfähigen Geräten und benutzerInnenfreundlichere Anwendungen und Angebote dazu, dass die Einstiegshürden für die aktive Nutzung immer weiter gesenkt wurden. Flankiert von steigenden NutzerInnenzahlen begünstigte dies auch das Entstehen kritischer Massen von NutzerInnen um spezifische Angebote herum. Insbesondere in Bezug auf die Praxis des Bloggens lässt sich zeigen, dass diese Entwicklungen von entscheidender Bedeutung für die Entstehung dieser Praxis waren sowie deren soziale Ausformung mitgeprägt haben (Lovink 2008, 61). Die Zeit um die Jahrtausendwende (1999-2001) sowie die darauffolgenden Jahre können auf der Basis der vorherigen Erkenntnisse zwar kaum als eindeutiger bzw. absoluter Start- bzw. Ausgangspunkt des Web 2.0 gelten. Es spricht jedoch vieles dafür, dass sich ab diesem Zeitpunkt in verschiedensten Bereichen in- und außerhalb des Internets zunehmend günstigere Rahmenbedingungen entwickelten, die den mit dem Web 2.0 verbundenen, zumindest teilweise bereits vorhandenen, Konzepten, Technologien und Angeboten letztendlich zum Durchbruch verhalfen. Ähnlich wie Schrape (2010, 94 f.) es für den Buchdruck beschreibt, könnte dies die Überblendung bereits vorhandener Technologien zu dem, was heute allgemein unter dem Begriff Web 2.0 subsumiert wird, überhaupt erst ermöglicht haben. Die veränderten Rahmenbedingungen erlaubten demnach letztendlich die gesellschaftliche Nutzbarmachung des bereits zur Verfügung stehenden technologischen Potenzials und verhalfen dem Internet so in der Form des Web 2.0 zu einer Art Renaissance.

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D IE R OLLE DER N UTZER I NNEN UND NUTZER I NNENGENERIERTER I NHALTE SOZIALE ASPEKTE DES W EB 2.0 Ebersbach/Glaser/Heigl (2008) verschieben mit dem von ihnen geprägten Begriff des Social Web den Schwerpunkt weiter in den Bereich des Sozialen. In Abgrenzung zum Web 2.0 und den zuvor beschriebenen Webapplikationen besteht das Social Web aus: „[…] webbasierten Anwendungen, […] die für Menschen […] den Informationsaustausch, den Beziehungsaufbau und deren Pflege, die Kommunikation und die kollaborative Zusammenarbeit […] in einem gesellschaftlichen oder gemeinschaftlichen Kontext unterstützen, sowie […] den Daten, die dabei entstehen und […] den Beziehungen zwischen Menschen, die diese Anwendungen nutzen.“ (Ebd., 35)

Im Zentrum des Social Web stehen weniger die Plattformen und die ihnen zugrunde liegenden Technologien, sondern vielmehr deren NutzerInnen und das von ihnen geschaffene soziale Umfeld. Im Kontext des Web 2.0 auf Plattformen wie Wikipedia, Twitter, YouTube oder Facebook sowie in den vielen Weblogs und darüber hinaus würden, so auch das US-amerikanische Magazin TIME (Grossman 2006), Millionen von NutzerInnen in einem zuvor so nicht zu beobachtenden Ausmaß in unterschiedlichen Kontexten koordiniert zusammenarbeiten. Grund genug für das Magazin, die vielen einzelnen NutzerInnen Ende 2006 kollektiv zur einflussreichsten Person des Jahres zu küren, auch in Anerkennung der wachsenden gesellschaftlichen Bedeutung der sogenannten nutzerInnengenerierten Inhalte (user generated content). Festzustehen scheint, dass die Partizipation der NutzerInnen in vielen Bereichen des Web 2.0 eine entscheidende Rolle spielt. Bei vielen Plattformen tritt die eigentliche Webapplikation eher in den Hintergrund. Den Vordergrund bilden die von den NutzerInnen mithilfe der auf der Plattform bereitgestellten Werkzeuge generierten Inhalte, welche den eigentlichen Anziehungspunkt darstellen. Neu sind dabei weniger die nutzerInnengenerierten Inhalte, sondern vielmehr der Stellenwert, der diesen eingeräumt wird. Waren diese auf frühen Internetportalen vor allem als ein weiteres Zusatzangebot anzusehen, welches neben redaktionellen Inhalten eine oft sekundäre bzw. ergänzende Rolle spielte, sind die Beiträge der NutzerInnen

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auf den Plattformen des Web 2.0 oft die Haupt-, wenn nicht sogar die ausschließliche Attraktion. Das World Wide Web besteht nicht mehr primär aus in sich geschlossenen, mit statischen Inhalten gefüllten Internetseiten - Inhalte werden nicht nur im World Wide Web abgelegt, also veröffentlicht vielmehr schaffen die NutzerInnen der interaktiven Plattformen diese in vielen Fällen erst gemeinsam im und mithilfe des Web 2.0, partizipieren in kollaborativen Prozessen, die Inhalte, gleichzeitig aber auch soziale und unterstützende Strukturen hervorbringen (Bruns 2008, 21 ff.). Viele Angebote ‚leben‘ im übertragenen Sinne regelrecht von dieser Partizipation. Sie sind angewiesen auf eine kritische Masse von NutzerInnen, ohne die die Plattformen leer und häufig auch ohne Funktion wären, da die Aktivität oder die Beiträge der NutzerInnen entweder bei der Produktion, oder aber auch der Strukturierung der Inhalte auf den jeweiligen Plattformen eine entscheidende Rolle spielen. Der Nutzen bzw. Mehrwert des Angebotes ergibt sich so oft erst durch die bzw. aus der Bevölkerung der Plattform mit NutzerInnen. Sie bringen diese Angebote durch bzw. im Zuge ihrer Nutzung überhaupt erst hervor und erzeugen auf diese Weise, wie im Falle von Wikipedia, mitunter gemeinsam durch über eine Milliarde kleine und größere Beiträge eine ganze Enzyklopädie (Wikimedia Foundation 2014). Die Plattformen stellen lediglich die notwendigen Werkzeuge bereit, für die Inhalte sorgen die NutzerInnen in Folge (weitestgehend) selbst. Wie stark die Abhängigkeit der Plattformen von ihren NutzerInnen ist und wie sehr diese die Ausrichtung bzw. Funktionsweise der Angebote formen, zeigen Beispiele von Plattformen, wie z.B. MySpace oder Friendster, die durch eine sich spontan entwickelnde, von der ursprünglichen Intention der BetreiberInnen abweichende, Nutzung im Laufe ihrer Entwicklung eine Transformation erlebten (Boyd/Ellison 2008, 215 f.; Schmidt 2009, 67). Aufgrund der wesentlichen Rolle, die die Aktivitäten der NutzerInnen auf den Plattformen spielen, lässt es sich vonseiten der BetreiberInnen kaum beeinflussen, dass diese die ihnen gegebenen Spielräume dahin gehend nutzen, ihre kollektiven Vorstellungen auf die Plattform zu übertragen und diese so zu verändern bzw. mitzuprägen. Die Plattformen spielen dabei vielfach nur noch die Rolle eines „automated intermediary“ (O‘Reilly 2005), eines zwischengeschalteten Vermittlers, der die auf den Plattformen ablaufenden sozialen Prozesse durch das Bereitstellen einer technischen Infrastruktur bzw. technischer Hilfsmittel unterstützt, bis zu einem gewissen Grad aber auch lenken kann. Ebersbach/Glaser/Heigl (2008, 208) sprechen von einem „Paradigmen-

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wechsel […] der Arbeitsformen“, welcher sich im Kontext der Plattformen des Web 2.0 abzeichne. Auch Bruns (2008), der mit seinem an Tofflers (1980) Begriff des Prosumers (dt. Prosument) angelehnten Begriff des Produsers (dt. Produtzer) einem Portmanteau aus den Begriffen Produzent (producer) und Nutzer (user) das ambivalente Verhältnis der Gemeinschaft zum (eigens) Geschaffenen, dem user generated content, beschreiben will, sieht in den Produktionskontexten des Web 2.0 Modi der kollaborativen Zusammenarbeit institutionalisiert, die sich in ihren (Organisations-)Strukturen stark von den klassischen Produktionsmodellen und -zusammenhängen und ihren Rollenzuweisungen unterscheiden. „[I]t highlights that within the communities which engage in […] collaborative creation […] the role of 'consumer' and even that of 'end user' have long disappeared, and the distinctions between producers and users of content have faded into comparative insignificance. In many of the spaces […], users are always already necessarily also producers […], regardless of whether they are aware of this role – they have become a new, hybrid, produser.” (Bruns 2008, 2)

Produktion und Nutzung des (gemeinsam geschaffenen) Werkes fallen in den kollaborativen Projektzusammenhängen des Web 2.0 i.d.R. zusammen. Eine ProduserIn trägt im Web 2.0 u.U. gerade auch durch ihr NutzerInnenverhalten verändernd als ProduzentIn zum Projekt bei. Aus der Wertschöpfungskette, an deren Ende ein fertiges Produkt steht, wird im ProdusageModell ein sich ständig aktualisierender Kreislauf, an dessen Anfang und Ende bzw. in dessen Mitte die ProduserInnen in ihrer Doppelrolle (oft als gleichberechtigte Partizipierende) stehen. Die gemeinsame Aufgabe gilt niemals als abgeschlossen („permanently unfinished“). Es werden jeweils nur Artefakte eines sich ständig verändernden Objektes produziert. Das Ergebnis einer Änderung ist oft unmittelbar oder nur mit kurzer Verzögerung (für alle) sichtbar. Neben technischen Hilfsmitteln stellen vor allem auch soziale und gruppendynamische Prozesse die Qualitätssicherung der individuellen Beiträge sicher: Da sich konstruktive Beiträge positiv, und destruktive Beiträge langfristig negativ auf den Stand der NutzerInnen innerhalb der Gemeinschaft auswirken, besteht i.d.R. ein hohes Maß an Selbstregulation. Anschaulich wird dies an der Kontinuität der Weiterentwicklung, aber auch an der ständigen Unabgeschlossenheit der Artikel der Online-Enzyklopädie Wikipedia (Bruns 2007a). Die NutzerInnen kümmern sich inner-

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halb des Web 2.0 eben nicht nur um die Produktion von Inhalten, sondern schaffen vor allem auch soziale Organisationsstrukturen, die die in den jew. Kontexten ablaufenden (sozialen und kollaborativen) Prozesse organisieren bzw. aufrechterhalten: „[T]he object of the communal effort is almost always as much the development of social structures to support and sustain the shared project as it is the development of that project itself.“ (Bruns 2007) Deutlich wird dies erneut am Beispiel der Online-Enzyklopädie Wikipedia: Wie und auf welche Weise im Rahmen von Wikipedia eine Enzyklopädie entsteht, ist nahezu vollständig das Ergebnis von Verständigungsprozessen der um die Plattform herum entstandenen NutzerInnengemeinschaft (Stegbauer 2009). Im Kern stellte das Wiki-System, welches Wikipedia zugrunde liegt, zumindest anfangs, lediglich ein leistungsfähiges Revisionssystem dar und konnte als vollständig neutral gegenüber potenziellen Inhalten gelten. Die Ausbildung von Regeln und koordinierenden Strukturen sowie eines Selbstverständnisses, welche die kollaborativen Prozesse auf der Plattform begleiten und unterstützen, ist nahezu ausschließlich Ergebnis des sich im Projektkontext entwickelnden sozialen Gefüges, wird nahezu vollständig von der Gemeinschaft der NutzerInnen bestimmt und ist somit ggf. auch Wandlungsprozessen ausgesetzt: „In vielen Projekten ist die Herausbildung von Traditionen und Gewohnheiten zu beobachten, die zum Teil auch kodifiziert werden. […] Nichteinhaltung wird sanktioniert, häufig durch Ausschluss oder Nichtbeachtung der Beiträge des Teilnehmers. […] Eine Binnendifferenzierung der Aufgaben […] ist […] zu beobachten. Ein gemeinsames Ziel, an dem sich die Mitglieder ausrichten, wird in der Regel funktional definiert. Bilder sammeln, Wissen zusammentragen oder Links organisieren.“ (Ebersbach/Glaser/Heigl 2008, 192 f.)

Daraus folgt: Der Erfolg einer spezifischen Plattform oder eines bestimmten Projektes ist alles andere als garantiert, sondern immer auch das Ergebnis eines soziales Experimentes, das im Zweifelsfall auch schiefgehen kann, wie etliche weniger erfolgreiche, aufgegebene oder gescheiterte Projekte, auch im Kontext des Web 2.0, bezeugen. Ebersbach/Glaser/Heigl (2008, 208 f.) und Bruns (2007b) analysieren daher auch die Grundprinzipien bzw. Rahmenbedingungen für ein Gelingen der kollaborativen Prozesse in den jeweiligen Projektzusammenhängen des Web 2.0. Sie betonen da-

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bei vor allem die Bedeutung einer offenen und selbstbestimmten Teilnahme sowie das Vorhandensein intakter und flacher Community-Strukturen: Im Idealfall sollte die Teilnahme an dem jeweiligen Projekt dabei zunächst möglichst keinen Beschränkungen unterliegen und an keine Bedingungen geknüpft sein. Angestrebt wird, dass die Gemeinschaft aus einer möglichsten großen Zahl unterschiedlich motivierter NutzerInnen besteht, die ihr gewünschtes Betätigungsfeld und den Grad ihrer Involviertheit weitgehend selbst bestimmen. Ein Einstieg bzw. eine Teilnahme ist so bereits mit kleineren Beiträgen und ohne besondere Vorkenntnisse möglich (Bruns 2008, 24 f.). Innerhalb der Strukturen der Gemeinschaft sollten sich in Folge nur begrenzt Hierarchien (aus-)bilden können, die sich darüber hinaus daran orientieren sollten, welchen Beitrag die NutzerInnen zum Projekt geleistet haben. Kontinuierliche Mitarbeit und von anderen NutzerInnen als wichtig bzw. wertvoll angesehene Beiträge sollten einen Aufstieg in den Strukturen des Projektes ermöglichen (Bruns 2010, 201 f.). In der Praxis, auch der des Web 2.0, finden sich diese Prinzipien bzw. Bedingungen selbstverständlich immer nur zum Teil wieder. Es bedarf jeweils einer gesonderten Prüfung, inwieweit und inwiefern diese Idealvorstellungen in den verschiedenen Bereichen des Web 2.0 und den Projektzusammenhängen umgesetzt sind bzw. auch auf Dauer aufrecht erhalten werden können, was zum Teil auch kritisch gesehen wird (Stegbauer 2009, 58, 65, 306; Shirky 2003).

Z UR V ERSCHMELZUNG VON T ECHNISCHEM S OZIALEM IM K ONTEXT DES W EB 2.0

UND

Im Hintergrund der Plattformen spielen die technischen Werkzeuge, die teils hochkomplexen unterstützenden Programmroutinen und Algorithmen, dennoch oft eine wichtige Rolle, zuallererst bei der Ermöglichung und zum Teil auch bei der Effizienzsteigerung der auf der Oberfläche der Plattformen stattfindenden sozialen, kollaborativen Prozesse. NutzerInnengenerierte Inhalte werden nicht zuletzt auch technisch (weiter-)verarbeitet, so dass soziale und technische Aspekte auch auf diese Weise miteinander verschmelzen. So wird z.B. das soziale Verhalten von NutzerInnen auf verschiedenen Webplattformen auf unterschiedlichste Weise ausgewertet, um daraus zusätzliche Informationen bzw. Daten zu gewinnen (sogenanntes

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Participation Capture (Bauwens zit. nach Bruns 2008, 245)). Auch beim Zusammentragen und bei der Auswertung bzw. Aufbereitung der auf den Plattformen anfallenden kleinteiligen, aber in der Summe immensen - ohne entsprechende Hilfsmittel teils undurchschaubaren - Datenmengen, sind die einzelnen NutzerInnen oft zwingend auf technische Unterstützung und geeignete Werkzeuge angewiesen: „Without the data, the tools are useless; without the software, the data is unmanageable“ (O'Reilly 2005). Die auf verschiedenste Weise zusammengetragenen Informationen, zu deren Entstehung eine große Anzahl an NutzerInnen einen wie auch immer gearteten, im Zweifelsfall auch unbewussten, passiven Beitrag geleistet haben, wird in aggregierter Form auch als „kollektive Intelligenz“ (nach Lévy 1997) oder „wisdom of the crowd(s)“ (nach Surowiecki 2004) bezeichnet, der Prozess selbst wird oft als Crowdsourcing (Howe 2006) bezeichnet. Ein Beispiel für die vielfältige Nutzung der kollektiven Intelligenz der NutzerInnen sind nutzerInnengeschaffene Hierarchien bzw. Ordnungen, sogenannte Folksonomies (Vander Wal 2007, in Anlehnung an den Begriff taxonomy) (Ebersbach/Glaser/Heigl 2008, 145). Diese werden mittlerweile an verschiedensten Stellen des Internets eingesetzt, um z.B. Datensätze in Kategorien und Hierarchien einzuordnen oder aber auch um Beziehungen zwischen einzelnen Datensätzen herzustellen oder deren Popularität zu ermitteln. Die Beiträge der einzelnen NutzerInnen können dabei von aktiv bis passiv rangieren: Sie können aktiv dazu aufgefordert werden, z.B. als Haupt- oder Nebenaufgabe bei der Produktion von Inhalten, Einordnungen bzw. Kategorisierungen vorzunehmen (z.B. durch das sogenannte Tagging u.a. im Kontext von Wikipedia oder Social-Bookmarking-Diensten wie z.B. Delicious). In vielen anderen Kontexten (z.B. beim Online-Shopping oder bei der Aufbereitung von Suchmaschinenergebnissen) werden Beiträge auch im Rahmen der allgemeinen Nutzung des Angebots ohne besonderes Zutun der NutzerInnen (passiv) (mit-)erhoben. So lässt sich zum Beispiel das NutzerInnenverhalten auf der Basis der hinterlassenen Spuren auf etwaige Zusammenhänge und Präferenzen hin untersuchen. Beispiele für solches Participation Capture sind etwa Empfehlungssysteme auf der Basis der Präferenzen anderer NutzerInnen. So werten etwa Onlineshoppinganbieter wie z.B. Amazon, Web 2.0-Plattformen (wie z.B. die auf Musik bzw. Bücher spezialisierten Dienste last.fm oder Goodreads), aber auch Suchmaschinenanbieter wie Google routinemäßiges Verhalten der NutzerInnen ih-

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res eigenen Angebotes aus, um auf dieser Basis Empfehlungen auszusprechen und Einstufungen vorzunehmen (Bruns 2008, 175). Auf der einen Seite tragen derartige Verfahren dazu bei, das volle Potenzial der Partizipation der NutzerInnen der Angebote auszuschöpfen bzw. nutzbar zu machen, auf der anderen Seite sammeln sich so bei den BetreiberInnen der Plattformen im Zweifelsfall aber auch riesige Mengen, teils hochsensibler, Daten an. Den wenigsten NutzerInnen wird im Detail bekannt sein, welche Spuren sie beim Besuch eines Internetangebots hinterlassen, wie diese verarbeitet und wie lange diese gespeichert werden. Vom Verhalten der NutzerInnen erfahren zudem in vielen Fällen nicht nur die jeweiligen BetreiberInnen, sondern über eingebettete Module, die im Hintergrund und ohne Zutun der NutzerInnen nachgeladen werden, oft auch eine ganze Reihe von Drittanbietern. Schlussendlich erlaubt erst das Ineinandergreifen von geeigneten technischen Werkzeugen bzw. Hilfsmitteln und intakten, unterstützenden sozialen Strukturen den innerhalb des Web 2.0 entstandenen Communities die Nutzbarmachung des Potenzials der vielen (Kleinst-)beiträge der einzelnen NutzerInnen. Nur unter diesen Bedingungen fügen sich die Beiträge in einen Prozess der (kollaborativen) Verarbeitung ein, der es erlaubt deren Potenzial kontinuierlich weiterzuentwickeln. Gleichzeitig wird auch deutlich, dass im Web 2.0 die Technik mitunter Erfüllungsgehilfe des Sozialen ist, dass die wesentlichen im Kontext des Web 2.0 stattfindenden Prozesse oft sozialer Natur sind: „Die vernetzte public sphere ist nicht aus Werkzeugen gemacht, sondern aus sozialen Praktiken, welche durch diese Werkzeuge ermöglicht wurden.“ (Benkler 2006, 219, zit. nach Münker 2009, 26). Ohne die aus der kollektiven Praxis und den kollaborativen Prozessen entstehenden NutzerInnengemeinschaft(en) um die jeweiligen Angebote herum, würden die unterliegenden technischen Prozesse oft zum Stillstand kommen oder ihr vorgegebenes Ziel verfehlen. Sie sind in ihrer Funktion auf die Beiträge und/oder die Unterstützung aus der „Community“ angewiesen. Es erscheint daher als angebracht, zumindest von einem Teil des Web 2.0 als Social Web, bzw. von den sozialen Medien des Web 2.0 zu sprechen. Die nachhaltige Transformation des World Wide Web vom einem Veröffentlichungs-, hin zu einem Partizipationsmedium im Zuge des Web 2.0 kann darüber hinaus zumindest zum Teil auch als Ausdrucksform eines sich zeitlich verzögert abspielenden Prozesses der Aneignung des Internets durch die NutzerInnen bzw. als Folge einer vertiefenden gesellschaftlichen und

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sozialen Integration des neuen Mediums in alltägliche Lebensabläufe verstanden werden.

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W AS IST

SOZIAL AN DEN SOZIALEN

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Vom „Konnektivitäts-Junky“ zum „Defriender“ Auf den Spuren einer neuen digitalen Avantgarde B EATE G ROSSEGGER

Wir schreiben das Jahr 2014. Das Internet ist aus unserem Leben nicht mehr wegzudenken. Digitale Technologien beherrschen in vielerlei Hinsicht unseren Alltag. Online Social Media boomen. Die Euphorie ist groß. Doch das ist lediglich die eine Seite der Medaille. Die andere zeigt eine Netzgesellschaft, in der es ganz gehörig gärt. Internet-Pionier Sascha Lobo lässt mit dem Sager „Das Internet ist kaputt“ aufhorchen. Kristoffer Gansing, Kurator der Transmediale, spricht von „Postinternet“ im Sinne von „Widerstand gegen die totale Digitalisierung“. Ja, selbst der Ex-CEO der Deutschen Telekom, René Obermann meint: „Digital is not sexy any longer“ (De:Bug 01/02/2014, 25). Alles in allem scheint es so, als wäre die Idee der digitalen Gesellschaft gegen die Wand gefahren und müsse sich nun neu sortieren. Der NSA-Skandal, den Edward Snowden 2013 aufdeckte, hat eine Grundsatzdebatte losgetreten. Digitalen Utopien, die sich aus der Hoffnung auf eine freiere, demokratischere, partizipativere Welt formierten, wurde die Basis entzogen. Und so weht nun ein antidigitaler Wind durch die uns gewohnten Kommunikationslandschaften. Der Gedanke, dass Datenpannen und kommerzieller Datenhandel die breite Masse der Internet- und Smartphone-NutzerInnen zu gläsernen Menschen machen, stößt immer mehr Usern sauer auf. Und auch die Leitphilosophie, dass man im digitalen Zeitalter ständig „connected“, x-fach vernetzt und – zumindest für seine

144 | B EATE G ROSSEGGER

Netzwerkkontakte – möglichst immer erreichbar sein sollte, beginnt langsam zu nerven. Manche haben sogar bereits die Reißleine gezogen. Sie sagen: „Stopp, wir vernetzen uns sonst noch zu Tode!“ Die zu beobachtende Absetzbewegung macht auch vor Online Social Media nicht Halt. Marketing, Politik und Pädagogik preisen Social Media zwar nach wie vor als das absolute Non-plus-ultra insbesondere, wenn es um Kommunikation mit jungen Zielgruppen geht. Digitale Eliten meinen mittlerweile aber, der Social-Media-Boom habe seinen Höhepunkt bereits überschritten. Selbst viel beachtete NetztheoretikerInnen wie Geert Lovink schlagen vor, sich vom Web 2.0 zu verabschieden, und zwar möglichst rasch, bevor „diese Episode“, wie er es nennt, endgültig ausläuft (Lovink 2012, 12). Und es scheint, als würde die Zukunft der Netzgesellschaft gerade neu verhandelt.

O NLINE S OCIAL M EDIA SIND DERZEIT NOCH COOL , WERDEN ABER LANGSAM „ NERVIG “ Dass das Web 2.0 viele tolle Seite hat, ist keine Frage und es ist auch keine große Neuigkeit. Plattformen wie Facebook, Instagram, Tumblr und Co. punkten bei jungen Usern mit vielfältigen Kommunikations-, Gestaltungsund Beteiligungsmöglichkeiten. Im Web 2.0 erzählen sie aus ihrem Leben, dokumentieren ihren Alltag mit Bildern und kurzen Texten, posten zu allerlei Themen spontane Meinungsbekundungen. Vor allem aber vernetzen sie sich mit ihresgleichen. Online Social Media sind zum Hauptspielort der digitalen Netzwerkphilosophie geworden. Sie bieten dem digitalen Netzwerker einen idealen Handlungsraum. Dieser zeigt sich als echter „Konnektivitäts-Junky“: Er ist geradezu süchtig danach, sein Online Social Netzwerk permanent zu vergrößern. Nicht selten nimmt das durchaus paradoxe Züge an. Was ihm fehlt, ist „die Fähigkeit des Kappens von Verbindungen, fehlschlagende Verbindungen auszuhalten oder gar die Nicht-Verbindung anzustreben und zu genießen“ (Stäheli 2013, 4). Selbstwert wie auch den Wert anderer bemisst er allem voran an der Zahl der Netzwerkkontakte. Damit folgt er einem fragwürdigen Diktat der digitalen Netzgesellschaft: nämlich, dass es nicht ausreicht, sich ein Netzwerk zu schaffen und es zu pflegen, sondern dass Aktivitäten gesetzt werden müssen, die das Netzwerk immer weiter wachsen lassen.

V OM „K ONNEKTIVITÄTS -J UNKY “ ZUM „D EFRIENDER “ | 145

Die Internetpraxis des Netzwerkers ist in ihrer Zielrichtung demnach radikal expansiv. Und die Folgen sind absehbar: überkomplexe Strukturen, in denen Netzwerken zum Selbstzweck verkommt. Redundante Knotenpunkte und inhaltlich subtanzlose Kommunikation produzieren Unmengen an Informationsmüll. Kommunikation wird auch dann aufrechterhalten, wenn sich diejenigen, die über Online Social Media „kontakten“, gar nicht füreinander interessieren. Geert Lovink bezeichnet so geartete Strukturen als „Netzwerke ohne Grund“: Diejenigen, die sie nutzen, werden, je länger und je intensiver sie diese nutzen, immer tiefer in die Höhlen des (Pseudo-) Sozialen hineingezogen, ohne dass sie wissen, wonach sie eigentlich suchen (Lovink 2012, 15). Für DatenhändlerInnen mag das großartig sein. Unter jungen Social Media Usern wächst indessen aber die Einsicht, dass das kein Idealzustand ist. Spricht man sie darauf an, sagen sie: „Langsam wird es wirklich mühsam.“ Was also tun? Die Antwort scheint naheliegend: Worum es geht, ist nicht eine Absage an das Internet, sondern vielmehr eine veränderte Internetpraxis. Intellektuelle Köpfe wie Urs Stäheli (2013) empfehlen dosierte Entnetzung oder, um es im Jargon des digitalen Zeitalters zu sagen, wohl überlegtes „Defriending“, „Deliking“ und „Defollowing“. Für Jugendliche, die sich im digitalen Mainstream zuhause fühlen, ist dies zwar noch eine etwas schräge Vorstellung. In jugendkulturellen Trendsetter-Milieus scheint das Spiel mit der „Entnetzung“ aber bereits eröffnet, und zwar erstaunlicher Weise völlig ohne erlebnisasketischen Beigeschmack. Das zeigt eine qualitative Trendexploration des Instituts für Jugendkulturforschung aus 2013/2014, in deren Rahmen Fokusgruppendiskussionen mit 15- bis 22-jährigen Mainstream-Jugendlichen sowie fokussierte Interviews mit Szene-Jugendlichen durchgeführt wurden. Sehen wir uns die Argumente der einen und dann die der anderen nun etwas näher an.

300 F ACEBOOK -F REUNDE UND MEHR : DER S TANDORT DES DIGITALEN M AINSTREAMS

AKTUELLE

Der durchschnittliche Teenager ist heute mehrere Stunden täglich online. Mobile Internetnutzung hat bei Mainstream-Kids mittlerweile annähernd gleich großen Stellenwert wie Onlinenutzung über Computer und Notebook. Und Social Media sind bei jungen „Digital Natives“ fester Bestandteil der Medienrepertoires.

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Tabelle 1: Online Social Media. Von 14- bis 29-Jährigen genutzte Anwendungen und Angebote 14 bis 29 Jahre gesamt

Geschlecht

Alter

weiblich

männlich

14 bis 19

20 bis 29

YouTube

86,2

90,0

82,3

90,1

84,1

Facebook

85,3

88,0

82,7

88,2

83,9

WhatsApp

68,8

76,0

61,7

82,3

62,0

Instagram

21,0

26,7

15,3

34,0

14,4

Tumblr

7,8

9,0

6,7

9,4

7,1

Pinterest

6,5

12,3

0,7

5,9

6,8

Nichts davon

3,3

1,7

5,0

3,0

3,5

Basis

600

300

300

203

397

Quelle: Institut für Jugendkulturforschung: Jugend und Freizeit 2014, rep. für 14- bis 29-jährige ÖsterreicherInnen, n=600

Im Jugendalter stehen Online Social Communitys bei den kommunikativen Tätigkeiten im Internet an allererster Stelle. Innerhalb der Community verschicken die jungen „Digital Natives“ vorzugsweise Nachrichten (82 Prozent der 12- bis 19-jährigen Social Community User), chatten (76 Prozent) oder geben einen nonverbalen Kommentar mittels „Gefällt-mir-Button“ ab (69 Prozent). Um alle Neuigkeiten innerhalb der Community in Echtzeit zu erfahren, lassen sich zwei von drei Internet-Usern dieser Altersgruppe auf ihrem Handy benachrichtigen, sobald im sozialen Netzwerk etwas Neues passiert. Durchschnittlich sind die jungen Onliner in 1,2 Communitys aktiv und haben knapp 300 Freunde. Nach wie vor beherrscht Facebook den Markt: 80 Prozent der 12- bis 19-jährigen InternetnutzerInnen nutzen Facebook (Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest 2013, 29ff). Als „Zweitplattformen“ dienen – vor allem mit steigendem Alter – jene Angebotssphären des Web 2.0, die von Papa, Mama, Opa und Oma bislang noch kaum frequentiert werden, wie Tumblr, Instagram und Co. Und wen die Langeweile plagt, der geht auf ask.fm, eine Plattform, die von Jugendlichen als oft sinnloses, gelegentlich informatives, in jedem Fall aber lustiges Frage-Antwort-Spiel beschrieben wird und damit ein geradezu ideales Tool ist, um sich die Zeit zu vertreiben.

V OM „K ONNEKTIVITÄTS -J UNKY “ ZUM „D EFRIENDER “ | 147

words of relevant mouth: ask.fm killt Langeweile digital native – female: „Bei ask ist es so: Leute stellen dir Fragen und du beantwortest sie.“ „Ich habe ask eigentlich nur aus purer Langeweile.“ „Da posten die Leute dann auch immer auf Facebook: Fragt’s mich, mir ist langweilig!“

Halten wir also fest: Die Jugend ist heute x-fach digital vernetzt. Und: Dank internetfähiger Handys ist sie mittlerweile auch großteils mobil und in Echtzeit an allem Möglichen und Unmöglichen dran. In Sachen „Austausch im Freundeskreis“ via Handy boomt derzeit WhatsApp. In der Altersgruppe der 12- bis 19-jährigen haben 70 Prozent der Handy-Besitzer WhatsApp auf dem Handy installiert. Die MessengerApp WhatsApp ist unter den jungen App-Besitzern damit die populärste App, und zwar deutlich vor Community-Apps wie Facebook und SpieleApps (vgl. Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest 2013, 53). Wer die kleine Ablenkung für zwischendurch sucht, vergnügt sich möglicherweise zudem auch noch mit „Vines“. „Vines“ sind kurze Videos, die man mit einer kostenlosen App via internetfähigem Handy mit FreundInnen teilt; aus Sicht der digitalen Kids ist das kultiger Nonsense, den man gerne mitmacht – zumindest solange, bis der aktuelle „Hype“ wieder vorbei ist.

O NLINE S OCIAL M EDIA: P RO UND C ONTRA Für Jugendliche sind Online Social Media zu einem „Must have“ geworden. Und sie sind zugleich auch ein Stück „Gewohnheit“, das – großteils eher unspektakulär – ihren Alltag strukturiert. „Wenn du in der U-Bahn sitzt und zehn Minuten fahren musst, dann holst du halt das Handy heraus und schaust, was es Neues auf Facebook gibt. Und wenn dir langweilig ist, schaust du auf WhatsApp, anstatt einfach die Zeit zu genießen, die du frei hast.“ So beschreiben Jugendliche ihre Social Media Nutzung. „Und eigentlich ist es unnötig“, fügen sie dem noch hinzu. Selbst diejenigen, die 300, 500 oder noch mehr Facebook-FreundInnen haben und, um im oft monotonen, oft zu anstrengend empfundenen Alltag ein wenig Zerstreuung zu finden, gewohnheitsmäßig jederzeit und von überall aus mobil online gehen, sind in ihrer Haltung gegenüber Online Communitys offenbar nicht ganz so unkritisch, wie man es ihnen gerne unterstellt. Vielmehr machen sie sich über „Pro“ und „Contra“ durchaus Ge-

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danken. Was für Online Social Media spricht, ist klar: Online Social Media sind eine super Möglichkeit, um über weitere Distanzen Beziehungen aufrecht zu erhalten und mit netten Menschen, die in einer anderen Stadt oder gar in einem fernen Land leben, in Kontakt zu bleiben. Insbesondere für SchülerInnen und Studierende sind sie darüber hinaus auch noch in einer weiteren Hinsicht ein praktisches Tool: Man „shared“ Lernmaterialien, postet Fragen zum Lernstoff und vorsorgt Seinesgleichen mit wichtigen Infos über Stärken und Macken der Lehrenden. Daneben gibt es aber auch einige Aspekte, die an Online Social Media wirklich „nerven“, und zwar so sehr, dass Jugendliche sagen: Mein persönlicher Trend geht mittlerweile eher weg davon. Ein Hauptkritikpunkt ist die kommerzielle Zersetzung des Online Social Webs, die eine Konsequenz des aktuellen Online-Social-Marketing-Booms ist. Junge Online Social Community User haben das Gefühl, allseits mit Marketingbotschaften „zugespamt“ zu werden – vor allem Facebook fährt sich hier gerade kräftige Sympathieeinbußen ein. Ein zweiter wichtiger Kritikpunkt ist der Informationsmüll, der sich in den Social Communitys ansammelt, im Sinne von Unmengen substanzlos-unthematischer Kommunikation, wo „alle nur mehr liken und dazu alle dasselbe liken“. Auch das „nervt“. Abgesehen davon kennt man einen Großteil der Leute aus dem eigenen Netzwerk kaum. Viele hat man irgendwann einmal irgendwo getroffen und dann „geadded“, weil man dachte: „Okay, gut, vielleicht entsteht da ein Kontakt, aber“, so die Erfahrung der Jugendlichen, „nach zwei Monaten denkt man sich, dieser Typ interessiert mich so etwas von überhaupt nicht.“ Ursula, 21, eine Akteurin aus der HipHop-Szene, kann all diese Argumente nur zu gut nachvollziehen. Und auch sie findet, dass vor allem Facebook zunehmend „nervig“ wird: „Man geht rein und wird mit einer Informationsvielfalt überflutet. Und es kommen auch voll viele Werbungen: Da hast du die Posts und dann ist dazwischen auf einmal eine Werbung. Das ärgert mich extrem.“ Ihr Resümee fällt hart aus: „Es wird eigentlich einfach immer blöder.“ Deshalb geht sie mittlerweile auch deutlich weniger online als früher. Dennoch findet sie Social Communitys „grundsätzlich cool: mit vernetzen und so.“ Das „Pro“ überwiegt bei ihr derzeit also noch das „Contra“. In Ursulas Freundeskreis ist die Stimmung hingegen bereits gekippt. Einige ihrer FreundInnen sind, trotz aller Vorzüge, die Social Media haben, nicht mehr gewillt, dem Diktat des „Connecting People“ ohne Wenn und

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Aber zu folgen. Sie setzen mittlerweile auf „Defriending“, „Deliking“ oder „Defollowing“ und experimentieren damit, Teil einer Absetzbewegung zu sein. words of relevant mouth: „Mittlerweile geht mein Trend eher gegen Facebook” digital native – male: „Mittlerweile geht mein Trend eher gegen Facebook, weil Facebook verdient sein Geld fast nur mit Werbungen. Und ständig kommt irgendeine Benachrichtigung, wer was geliked und irgendwo einen Kommentar zu etwas abgegeben hat. Jeder liked nur irgendetwas: jeder liked heute Rage Comics oder Vines.“ digital native – female: „Ich habe Facebook eigentlich nur, um mit Freunden in Kontakt zu sein, die nicht in Österreich leben. Ich schaue da ein paar Mal die Woche rein. Aber ich versuche es auch eher ein bisschen zu vermeiden, weil dieses ständige wissen Müssen, was auf der Welt passiert, ist viel Stress für den Kopf.“ digital native – female: „Ich war früher täglich online, aber jetzt interessiert’s mich nicht mehr so, weil meine ganze Startseite nur noch voll ist von irgendwelchen witzigen Videos und irgendwelchen Pages, die ich liken muss, und ich habe tausend Veranstaltungseinladungen in den Nachrichten ... Es posten die Leute eigentlich nur selten etwas, was mich interessiert.“

„S LICE

OF LIFE ”: R OMAN UND DIGITALEN AUSMISTEN

C ANDICE

BEIM

Ins Lebenspraktische gewendet, bedeutet „Defriending“, „Deliking“ oder „Defollowing“ nichts anderes als digital auszumisten und sich von unnötigem Netzwerkballast zu befreien. Doch passt digital Ausmisten wirklich in die Welt cooler, junger „Digital Natives“? Im ersten Moment würde man vermutlich sagen: „Nein.“ Man würde beim digitalen Ausmisten eher an nicht ganz zeitgemäße Langeweiler oder ewige Mauerblümchen denken. Doch damit liegt man falsch. Wer sich am „Defriending“, „Deliking“ oder „Defollowing“ erprobt, ist nicht zwangsläufig technologisch oder kulturell zurückgeblieben, sondern kann durchaus auch ein lifestyleorientierter Typ sein und sich mit jugendkulturellen Spielarten der schönen neuen OnlineWelt gut auskennen. Die „Defrienders“, die wir im Rahmen unserer Trendexploration kennen gelernt haben, sind jedenfalls junge Leute, die nicht nur jugendkulturell angebunden, sondern innerhalb der jugendkulturellen Welten, in denen sie sich bewegen, auch gut vernetzt sind. Ja, sie sind sogar AkteurInnen des Szenekerns.

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Nehmen wir zum Beispiel Roman. Er ist 17, in der Rock- und MetalSzene unterwegs, steht auf die Red Hot Chilli Peppers, hört aber auch Metallica und spielt selbst in einer Band: E-Gitarre und Bass. Um Werbung für die Band zu machen, war er im Social Web eine zeitlang sehr aktiv. Nicht nur Facebook, sondern auch andere Plattformen, insbesondere Instagram, waren für ihn wichtig. Mittlerweile findet er Instagram aber mühsam. „Ich habe Instagram eigentlich immer nur wegen der Band verwendet“, erzählt er. „Ich bin Leuten gefollowed, damit sie zurück followen. So wollte ich Werbung für die Band machen. Aber es ist mit der Zeit einfach total anstrengend geworden. Wenn ich Instagram starte, sehe ich so viele, denen ich folge, und ich kenne eigentlich keinen von denen. Jeder lädt nur irgendein unnötiges Bild hoch. Und teilweise denke ich mir: Wer zum Teufel ist das?“ Was Roman nervt, sind weniger konkrete Personen, sondern es ist vielmehr die Tatsache, dass Online Communitys voll sind mit „Anybodys“, die einem persönlich großteils völlig gleichgültig sind. Bei Facebook ist ihm das mit der Zeit so sehr auf die Nerven gegangen, dass er die Verbindungen gekappt hat. „Früher hatte ich wirklich viele Facebook-Freunde“, erzählt Roman. „Aber dann bin ich das durchgegangen und dachte mir: Wer sind diese Leute? Ich öffne eine Seite und da steht nur irgendein Scheiß von irgendwelchen Leuten, die ich nicht mal kenne. Da habe ich mein Facebook-Profil dann gelöscht und ein neues erstellt.“ Wie das geht und vor allem was man beim Löschen des Facebook-Profils beachten sollte, darüber informieren Computerzeitschriften und einschlägige Foren. Und auch Tools wie seppukoo.com bieten für den „digitalen Selbstmord“ Unterstützung an. Roman hat also beschlossen, „digitalen Selbstmord“ zu begehen. Doch als er das tat, hatte er bereits einen „Plan B“. Er wusste, dass er für ausgewählte FreundInnen wieder auferstehen wollte. Er wollte also nie digital tot sein, sondern suchte einfach nur nach einem Weg, um den Online-SocialMüll, der sich über die Zeit bei ihm angesammelt hatte, wieder los zu werden. „Das neue Profil ist jedenfalls wirklich nur mit den Leuten, mit denen ich was zu tun habe“, sagt er bestimmt. Auch Candice hatte früher zig Facebook-FreundInnen, doch dann hat auch sie ausgemistet. Heute ist sie lediglich für ganz wenige Leute über Facebook erreichbar. Und das auch nicht durchgängig. „Früher war ich wirklich jeden Tag drauf. Ich habe mir gedacht: Oh, what’s happening there, what’s happening there? Und irgendwann einmal wurde es so viel. Als ich

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dann auch noch bemerkt habe, was mit meinen Daten passiert, habe ich es ziemlich stark runtergeschraubt“, erzählt Candice. So wie Roman ist sie an Jugendkulturen interessiert, allerdings hat sie nicht in Rock und Metal, sondern in Reggae und Goa ihre jugendkulturelle Lifestyle-Heimat gefunden: „Unter der Woche höre ich gerne Reggae: das ist so chillig – man kann so schön durch den Tag gehen … Aber, wenn ich am Wochenende fortgehen will, brauche ich eine wirklich fetzige Goa-Party: Das macht dann wirklich Spaß. Goa ist irgendwie magisch: Das ist der Abschluss der Woche, die Woche endet mit einem fetten Knall“, sagt sie. Die Klamotten, die Candice trägt, näht sie sich selbst: Sie will nicht auf Style-Vorgaben der Modeindustrie angewiesen sein, sondern so aussehen, wie sie selbst es möchte. Und auch, was ihr Medienrepertoire betrifft, lässt sie sich vom Mainstream nicht beirren. Dass man ein paar hundert Facebook-FreundInnen braucht, um in der jugendlichen Gesellschaft der Altersgleichen respektiert zu sein, glaubt sie nicht. So wie Roman hat sich auch Candice vor nicht allzu langer Zeit dafür entschieden, digital auszumisten. Sie hat dabei allerdings einen anderen Weg gewählt als Roman. Sie hat alle ihre Facebook-Kontakte zunächst einem Relevanzcheck unterzogen und dann jeden, der ihr nicht wichtig genug war, entfernt. „Ich habe wirklich lange gebraucht, um die Leute auszusortieren“, erzählt sie. „Aber ich habe mir die Zeit genommen. Ich habe mir gesagt: Das musst du ja nur einmal machen.“ Ja, und dann hat sie es einfach getan. Für die maximale Größe ihres Online Social Netzwerkes hat sich Candice eine strikte Grenze gesetzt: Vierzig bis maximal fünfzig Kontakte dürfen es sein. Ist die Fünfzigermarke erreicht und möchte sie einen neuen Kontakt hinzufügen, muss ein alter raus. Diesbezüglich ist sie konsequent. Und sie hat das Gefühl, damit gut zu fahren. Nebenbei bemerkt: Candice informiert ihre Netzwerkkontakte, bevor sie sich „entfreundet“. Sie schreibt ihnen: „Nimm’s nicht persönlich, aber wir reden einfach nicht miteinander. Also werde ich dich aus meinem Facebook-Account löschen.“ Und: „Hier ist meine Handy-Nummer, falls du mich anrufen und mit mir in Kontakt bleiben willst.“ Sie will die Leute, die ihr nichts bedeuten, zwar los werden, aber sie will dabei nicht respektlos sein. Auf die Nachfrage, warum sie sich für das digitale Ausmisten entschieden hat, antwortet Candice ähnlich wie Roman. Sie sagt: „Mir ist es einfach so auf die Nerven gegangen, dass jeder posten musste, ob er gerade am Klo war oder was er gerade gegessen hat. Das interessiert mich ehrlich gesagt

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nicht. Ich habe mir gesagt: Alle Leute, mit denen ich in den letzten sechs Monaten nicht kommuniziert habe, wollen anscheinend nicht wirklich etwas von mir wissen. Da kommt bestenfalls ein Hi, was machst du? und das war’s dann auch schon – also oberflächlicher Smalltalk. Da habe ich angefangen, Leute zu löschen: am Anfang die, die mir auf den Nerv gegangen sind, und dann eben auch Leute, wo ich mir dachte, ich kenne sie ja nicht einmal wirklich.“ In ihrem persönlichen Umfeld hat ihr Ansatz, digital auszumisten, mittlerweile übrigens NachahmerInnen gefunden: „Ich habe damit angefangen. Und dann haben die anderen plötzlich auch gemerkt, wie nervig ihre Community war. Und jetzt macht’s die Runde ...“

G IBT

ES DEN TYPISCHEN

„D EFRIENDER “?

Bleibt die Frage: Gibt es typische „Defriender“? Jugendliche, die den digitalen Mainstream repräsentieren, sagen: „Ja, schon.“ Und QuerdenkerInnen wie Roman, Candice oder auch Ursula meinen: „Sowieso.“ Wenn man es aus der Perspektive junger „Digital Natives“ betrachtet, lässt sich das Phänomen allerdings nicht so ohne weiteres auf einen einzigen Sozialcharakter reduzieren. Jugendliche unterscheiden vielmehr unterschiedliche Typen des „Defriender“. Da gibt es zum einen diejenigen, die in ihrem Habitus irgendwie an Harry Potter erinnern und damit gute Voraussetzungen mitbringen, um auf wahlloses Kontakteknüpfen zu pfeifen und „Defriender“ zu werden. Andererseits gibt es hochintelligente Nerds wie Sheldon, eine Figur aus der populären TV-Comedy-Serie „The Big Bang Theory“, die grundsätzlich ein wenig anders „ticken“ als der Durchschnittsmensch (weshalb sie letztlich auch so komisch wirken), die es aber dennoch immer wieder schaffen, mit ihrem unverkennbaren Nerd-Humor die Lacher auf ihre Seite zu holen, was ihnen das Image eines kultigen „schrägen Vogels“ verschafft. Und schließlich drittens wären – in der weniger schrulligen, alltagstauglichen Variante – dann eben auch jugendkulturorientierte Jugendliche wie Roman oder Candice zu nennen, die durchwegs den Bildungsschichten entstammen, mit einer lifestyletauglichen, weltoffenen Art auffallen und in ihrem Freizeitverhalten „outgoing“ sind. Was diese drei Typen verbindet, ist, dass sie in ihren Selbstkonzepten Werte wie „Individualität“ und „Autonomie“ stark verankern. Im Klartext heißt das: Sie haben ihren eigenen Kopf und orientieren sich nicht selten an

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Ideen, die im Mainstream noch nicht angekommen sind. Dem nicht genug: Der typische junge "Defriender" hasst nichts mehr als plumpe Vereinnahmungsversuche – egal ob die von kommerzieller wie auch von pädagogischer Seite kommen. Und: „Er ist einer, der der Privatsphäre kennt und selbst auch ein Privatleben hat.“

„T HE

RIGHT TO BE LET ALONE ”: DIGITALEN Z EITALTER

P RIVATSPHÄRE

IM

Der Begriff „Privatsphäre“ entstammt ursprünglich der bürgerlichen Kultur und ist mittlerweile rund 200 Jahre alt. Die Amerikaner Louis Brandeis und Samuel Warren definierten Privatsphäre einst als „right to be let alone“, also als Recht, in Ruhe gelassen zu werden, berichtet die deutsche Wochenzeitung „Die Zeit“ (Die Zeit vom 23.1.2014, 20). Das ist lange her. An jenem Punkt der Entwicklung, an dem die digitale Gesellschaft heute angekommen ist, scheint diese Definition jedoch aktueller denn je, und zwar gleich in mehrerlei Hinsicht. Zum einen ist da die Tatsache, dass die schöne neue Onlinewelt einen „gläsernen Menschen“ geschaffen hat, dessen Privatleben das Etikett „privat“ nicht mehr wirklich verdient. Der von Edward Snowden 2013 aufgedeckte NSA-Skandal hat uns gelehrt, dass Geheimdienste regelmäßig und in großem Umfang auf Online-Daten von Privatpersonen zugreifen und, wie man hört, sogar verschlüsselte Daten knacken. Und auch die anhaltende mediale Berichterstattung über kommerzielle Nutzung von User-Daten hat uns sensibilisiert. Wir wissen, dass die Internetökonomie heute einem simplen Prinzip folgt: NutzerInnen, die für die von ihnen genutzten Dienste kein Geld bezahlen, bezahlen – im Falle von Werbeeinschaltungen – mit Aufmerksamkeit, die die BetreiberInnen an Werbekunden verkaufen, oder sie bezahlen mit persönlichen Daten, die die BetreiberInnen der Dienste verkaufen. Manche sagen sich zwar: „Mir doch egal – ich habe ja nichts zu verbergen.“ Andere fordern aber mittlerweile durchaus lautstark ihr Recht „to be let alone“. Verborgene Rechenzentren für AktivistInnen entstehen. Abhörfeste Telefoniedienste wie Cryptostorm machen von sich Reden. Sichere EMailverbindungen definieren einen neuen Markt. Ja, selbst im Versicherungssektor kommen die Steine ins Rollen. Die Zahl der Versicherungspo-

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licen gegen Cyberattacken ist laut Medienberichten 2013 um ein Drittel in die Höhe geschnellt (Die Zeit vom 23.1.2014). Abgesehen von der aktuellen Datenschutzdebatte ist „Privatsphäre“ heute aber auch noch in einer anderen Hinsicht Thema: als Statement gegen die Gesetzmäßigkeiten der „performativen Ökonomie“, die die Gegenwartsgesellschaft prägen und besagen, dass man nur dann erfolgreich sein kann, wenn man auf Privatheit verzichtet und stattdessen bereit ist, sich am Leitwert „Prominenz“ abzuarbeiten. Das heißt, man muss sich permanent selbst inszenieren und vermarkten, um seinen „Öffentlichkeitswert“ zu steigern und in die Welt der „Erfolgreichen“ einzugehen. Im Kontext der „performativen Ökonomie“ haben digitale Tools große Bedeutung, denn sie ermöglichen „Selfmarketing“ in Echtzeit – noch dazu über weite Distanzen. Erfolgsmenschen und solche, die das noch werden wollen, können daran kaum vorbei, so heißt es zumindest. Doch der Erfolg, den man hier generiert, hat auch seinen Preis. Wer mitspielt, verliert sein „right to be let alone“ und geht in einem „Performing“, das die Erwartungen anderer bedient und der Frage „Wer bin ich und wer will ich überhaupt sein?“ kaum Platz lässt, völlig auf. Ein Großteil derer, die betroffen sind, hat das Problem vermutlich noch nicht wirklich erkannt. In der kreativen Kernszene der elektronischen Musik, in der Selbstpräsentation und Selbstvermarktung immer schon Thema waren, hört man es jedoch rumoren. Da gibt es Artists, die klar zu erkennen geben, dass sie nicht mehr bereit sind, ihr Spiel nach den Regeln der digitalen Erfolgsgesellschaft zu spielen. Und es gibt Szenemedien, die bereit sind, über diese QuerdenkerInnen auch zu berichten. Nehmen wir zum Beispiel „Burial“. Er tut das, womit die digitale Erfolgsgesellschaft vermutlich am wenigsten klarkommt: Er hat kein Interesse, berühmt zu sein oder viel Kohle zu machen, und dieses Nichtinteresse zeigt er noch dazu offensiv. Und trotzdem (oder vielleicht auch gerade deshalb) hat er seine Fans. Oder, um ein zweites Beispiel zu nennen: „Four Tet“. Der wiederum hat beschlossen, fortan alles aus seinem Leben zu verbannen, was ihm entweder unwichtig ist oder was ihn nervt. „Pressetermine standen da ganz oben auf meiner Streichliste“, sagt er. Denn: „Eines von fünfzig Interviews bringt etwas, der Rest ist sinnlos. Meistens wirst du nach Dingen gefragt, die auf deiner Wikipedia-Seite stehen. Dieses Hochwürgen der ewig gleichen Antworten macht müde“ (Groove Januar/Februar 2014, 26).

V OM „K ONNEKTIVITÄTS -J UNKY “ ZUM „D EFRIENDER “ | 155

Artists wie diese entziehen sich bewusst dem Steigerungsspiel einer zunehmend öffentlichkeitsfixierten, digitalen Erfolgsgesellschaft. Slogans wie „Simplify your life“ oder „Reduce to the max“, die bereits seit Jahren als eine Art Lebenshilfe für gestresste Businessmenschen kursieren, passen dennoch nicht so recht in ihre Kultur. Sie reklamieren schlicht und einfach ihr „right to be let alone“ und holen sich damit die Gestaltungsmacht über ihr Leben und ihre Kreativarbeit zurück. Und sie machen auch kein Geheimnis daraus, dass dies für sie die Zukunftsformel ist. Alles andere macht nämlich langfristig kaputt, denn es zwingt dazu, eigene Prioritäten hintanzustellen, und birgt damit die Gefahr, sich selbst zu verlieren. Früher nannte man das „Entfremdung“.

Words of relevant mouth Sämtliche im Beitrag gebrachten O-Töne sind Aussagen aus zwei Trendgruppendiskussionen, die exklusiv für Tracts durchgeführt wurden: eine Gruppendiskussion mit 15- bis 22-jährigen Mädchen/jungen Frauen aus Wien (durchgeführt vom Institut für Jugendkulturforschung am 16.12.2013) sowie eine weitere Gruppendiskussion mit 15- bis 22-jährigen Jungs/jungen Männern aus Wien (durchgeführt vom Institut für Jugendkulturforschung am 18.12.2013) sowie InterviewpartnerInnen im Rahmen des Eigenforschungsschwerpunktes „Jugendkulturen im Fokus“ des Instituts für Jugendkulturforschung 2013

L ITERATUR Baumgartner, Ekkehart (2011): Liquid Structures. Auf dem Weg in die narzisstische Gesellschaft. Berlin. Four Tet. „Hey, bist du Burial?“ In: Groove Januar/Februar 2014, 24-29. Giganten (2013): Zu neugierig. In: Die Zeit vom 7.11.2013, 24. Großegger, Beate (2013): Schöne neue Online-Welt. Die „Generation Facebook“ kommuniziert entgrenzt, mobil und in Echtzeit – wohin führt der Trend? Dossier des Instituts für Jugendkulturforschung, Wien, 2013. http://jugendkultur.at/wp-content/uploads/Dossier_schoene_neue _Onlinewelt_Grossegger_2013.pdf. (3.7.2014). Großegger, Beate (2014): Kinder der Krise. Berlin.

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Institut für Jugendkulturforschung (2014): Jugend und Freizeit 2014 (Tabellenband zur Eigenstudie). Wien. Lovink, Geert (2012): Das halbwegs Soziale. Eine Kritik der Vernetzungskultur. Bielefeld. Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest (Hrsg.) (2013): JIMStudie 2013. Jugend, Information, (Multi-) Media. Basisuntersuchung zum Medienumgang 12- bis 19-Jähriger. Stuttgart. Reichert, Ramón (2008): Amateure im Netz. Selbstmanagement und Wissenstechnik im Web 2.0. Bielefeld. Roundtable. Internetkunst im Afterglow. In: De:Bug, 01/02/2014, 24-29. Stäheli, Urs 2013): Entnetzt euch! Praktiken und Ästhetiken der Anschlusslosigkeit. In: Mittelweg 36. Zeitschrift des Hamburger Instituts für Sozialforschung, August/September 2013, 2-28. Thomas, Tanja (Hrsg.) (2008): Medienkultur und soziales Handeln. Wiesbaden. Wie ein Phönix. In: Die Zeit vom 23.1.2014, 19-20. Zittlau, Jörg (2012): Nerds. Wo eine Brille ist, ist auch ein Weg. Berlin.

4. Zukunft der Arbeit

Enterprise 2.0 - Mitmach-Medien erobern die Arbeitswelt* U LI F LAKE

Enterprise 2.0 ist Hype. Die „2.0-Systeme“ und die mit ihnen korrespondierenden Ideologien sind in den Unternehmen und Verwaltungen „angekommen“. Die Kurve, die die Aufmerksamkeit und Zustimmung zu diesen neuen Technologien ausdrückt, steigt. Gleichzeitig wächst die Skepsis vor Überschätzung und die Angst und Kritik vor den Risiken. Diese gegensätzlichen Entwicklungen finden sich sowohl bei den großen als auch bei den mittelständischen Unternehmen und Verwaltungen. Andererseits sind immer mehr Arbeitnehmer von diesen Systemen direkt oder indirekt betroffen. Ein klarer Blick nützt da den Betriebs- und Personalräten, wenn sie in „ihrem“ Unternehmen bzw. „ihrer“ Dienststelle mit solchen Anwandlungen konfrontiert werden. Dieser Beitrag soll deshalb sensibilisieren und Perspektiven aufzeigen, um bei aller Begeisterung eine Orientierung über die Systeme und deren Chancen und Risiken für die Beschäftigten zu bekommen. Es werden sowohl Regelungsmöglichkeiten aufgezeigt als auch Mitbestimmungshinweise gegeben.

D IE „2.0-S YSTEME “ IM Ü BERBLICK Natürlich sind Intranet und Internet keine neuen Themen in den Unternehmen. Sie bekommen aber einen qualitativ neuen Stellenwert, sollten sich

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die Annahmen der Befürworter und Benutzer der 2.0-Systeme bewahrheiten.

Erste Annäherung: Web 2.0 – Enterprise 2.0 „Web 2.0“ ist eine schillernde Bezeichnung. Als Verkaufslabel und inzwischen quasi umgangssprachlich genutzt, steht das „2.0“ für etwas grundlegend Neues. Im Zusammenhang mit dem Internet ist „Web 2.0“ ein Begriff, der – wie manches in der Informations- und Kommunikationstechnologie – Phänomene unspezifisch, eher mehrdeutig bezeichnet. Technisch geht es im Wesentlichen jedenfalls um mediale, interaktive oder kollaborative Elemente des Internet, die zunächst häufig mit einer Programmiersprache („Java-Script“) realisiert wurden: Jeder Nutzer einer entsprechenden Internetseite kann selbst Inhalte eingeben, bewerten, verknüpfen – wie es z. B. von Wikipedia bekannt ist. Der Begriff Enterprise (deutsch: Unternehmen, Betrieb) wird im EDVKontext häufig als Attribut (Adjektiv) genutzt, um andere Zusammenhänge auf den wirtschaftlichen bzw. unternehmerischen Aspekt zu fokussieren (z. B. ERP 1 = Enterprise Resource Planning für ein SAP-System). Enterprise 2.0 umfasst (IT-)Werkzeuge, Ziele und Rahmenbedingungen, um Unternehmensziele durch das Zusammenwirken von Beschäftigten im Sinne des Web 2.0 zu realisieren. Der Begriff steht für den Einsatz von Software zur Zusammenarbeit, Projektkoordination, zum Wissensmanagement und zur Innen- und Außenkommunikation in Unternehmen. Diese Werkzeuge sollen den „freien“ Wissensaustausch unter den Arbeitnehmern fördern. Sie erfordern ihn aber auch, um sinnvoll zu funktionieren. Der Begriff schließt daher sowohl die Werkzeuge selbst, als auch eine Tendenz der Veränderung von Unternehmenskultur – weg von der hierarchischen, zentralen Steuerung und hin zur autonomen Selbststeuerung von Teams, die von Managern durch Moderieren geführt werden – mit ein. 2

1

Enterprise Resource Planning (ERP) = Sammelbegriff für Software-Systeme, die alle für die Unternehmenssteuerung wichtigen Datenverarbeitungsfunktionen zusammenfassen; SAP-ERP ist zurzeit das Hauptprodukt der SAP AG.

2

Beschreibung in Anlehnung an Wikipedia.

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Sollte sich diese angenommene Tendenz – jeder kann überall mitreden und damit mitgestalten – bewahrheiten, würden sich die Kultur, die Arbeitsweise, die Betriebsorganisation grundlegend ändern. Natürlich könnte gefragt werden: Würde dies dann auch zu einer „Geschäftsführung 2.0“ oder „Interessenvertretung 2.0“ führen – und/oder ist dies erwünscht? Die Gestaltung und Einbeziehung einer Technik hängen letztlich von dem Ziel ab, das die Protagonisten haben – deswegen ist es sinnvoll und wichtig, sich als Belegschaftsvertretung auch mit diesen Aspekten zu beschäftigen. Abbildung 1: Anwendungen Web 2.0

Soziale Netzwerke – Systeme, bekannt durch private Nutzung Social networks – also „Mitmach“-Netzwerke – sind Systeme, bei denen die User als formelle oder informelle Gruppe gemeinsam eigene Inhalte mittels Internettechnik erstellen oder sich oder Gruppenmitglieder mit Inhalten/Themen versorgen. Damit übernimmt der Nutzer eine aktive Rolle bei der Erstellung der Internetinhalte, was zu der Sichtweise geführt hat, diese Technik sei demokratischer oder mache das Internet demokratischer. Social networks sind weltweit erreichbare Internet-Plattformen zum Austausch von Meinungen, Ideen und Erfahrungen und zur Realisierung von Gewinnen. Sie erscheinen in verschiedenen Formen, z.B. Blogs, Netzwerke, Wikis, Foto- und Video-Plattformen. Sie ermöglichen aber alle, selbst zu publizieren, statt – wie vor Jahren – Inhalte nur zu lesen. Für den geübten User sind sie relativ einfach zu bedienen und zu nutzen. Hinzu

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kommt, dass manche sich von und bei der Nutzung unterhalten fühlen. Im Kern sind diese Systeme durch ihre „private“ Nutzung so bekannt geworden. • Wikipedia ist eine Enzyklopädie, in die jeder Nutzer Beiträge stellen kann und jeden Beitrag „im Prinzip“ ändern kann. • Facebook ist ein Netzwerk, mit über 500 Millionen Nutzern weltweit. Diese sind allerdings nicht lediglich Kunden, sondern gleichzeitig auch Datenlieferanten. Auf Facebook ist die am schnellsten wachsende Gruppe die „35-plus“-Gruppe. Die Datenschutzeinstellungen bei Facebook sind kaum nachvollziehbar bzw. sie sind absichtlich so komplex, dass sie nie richtig eingestellt sind. Deshalb ist es quasi Standard, dass sich Facebook des lokalen Rechners bedient: Ein Nebeneffekt ist dabei, dass die Namen des lokalen Adressbuchs abgesogen werden können. • Twitter ist eine Anwendung, mit der Kurztexte im Umfang von 140 Zeichen als Nachrichten oder sogenannte Tagebucheinträge in „Echtzeit“ verbreitet werden. Es soll 30 Millionen Nutzer haben. (Skowronek 2009a, 34 ff.) • LinkedIn ist ein meist eher geschäftlich genutztes Netzwerk, zur Pflege bestehender Geschäftskontakte und zum Knüpfen von neuen Verbindungen, mit ungefähr 500 000 Nutzern in Deutschland. • Flickr wird zur Veröffentlichung von Fotos genutzt. Die Site hat circa 32 Millionen Nutzer weltweit. • YouTube dient der Veröffentlichung von Videos. Pro Monat sollen sieben Millionen Videos angeschaut werden. • XING ist eine berufliche und geschäftliche Kontaktbörse. • Teamwork im Netz ermöglicht Google Wave. Dort kann der User chatten, diskutieren, Fotos freigeben, Umfragen starten, Termine koordinieren und Texte bearbeiten. Die Nebenwirkungen Beim Spiel kann man einen Menschen in einer Stunde besser kennenlernen als im Gespräch in einem Jahr (Platon). Die Menge an persönlichen Informationen, die die User dieser Systeme jeder weiteren Benutzung durch andere weltweit zur Verfügung stellen, ist erstaunlich. Jeder, der dort Informationen hineinstellt, gibt im Grunde sein Recht auf Privatsphäre ab.

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Tabelle 1: GLOSSAR Intranet:

firmeninterne Form des Internet

Web 2.0:

technische Sicht auf die x-te Generation des Internet ab 2003 als Mitmach-Internet und Marketing-Instrument

Social Media:

Sammelbegriff für alle hier diskutierten Systeme

Social Networks:

soziologische Sicht auf die Mitmach-Netzwerke

Blog:

Tagebuch/ Kommentare eines Menschen

Wiki:

System zum gemeinsamen Arbeiten an Texten

RSS:

abonnierte Kurznachrichten

Portal:

Zusammenfassung von Inhalten aus unterschiedlichen Anwendungen auf einer „Einstiegsseite“ durch eine Art Verlinkung

SharePoint:

gemeinsame Dateiablage und mehr …

D IE S YSTEME

BERUFLICH GESCHÄFTLICHER

N UTZUNG

In den Unternehmen werden heute Präsentationen und Dokumente zu Themen, die die Kollegen weltweit interessieren könnten, sofort online gestellt. Arbeitnehmer können Dokumente dort über eine spezielle Suchmaske finden, mit einem „Tag“ versehen, beurteilen und sogar für eigene Zwecke weiterverwenden. SharePoint-Produkte von Firmen wie Microsoft oder IBM ermöglichen den Nutzern, Dokumente, Adressdaten und Nachrichten online anderen Teilnehmern zugänglich zu machen. Der Kreis der Teilnehmer kann beschränkt werden. Die Dokumente sind von jedem Rechner aus zugänglich und können parallel von mehreren Nutzern bearbeitet werden. Die Dateien werden entweder auf dem lokalen PC oder einem Unternehmensserver gespeichert. Die aufwendigeren Pakete dieser Serien nehmen viele weitere Aufgaben wahr, etwa für Internetseiten oder als Anwendungsserver für Excel und Access. Das hört sich zunächst wie die allseits bekannte Dateiablage an. In diesem System mischen sich Altbekanntes und Neues und jetzt kann unternehmensgrenzen- und systemübergreifend per Browser auf die Daten zugegriffen werden.

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Nutzungsprofile der Unternehmen Nach einigen Untersuchungen kann inzwischen davon ausgegangen werden, dass die Mehrheit der Führungskräfte soziale Netzwerke nutzt. Abbildung 2: Einsatz von Web 2.0-Systemen in Unternehmen

Quelle: Defacto Research & Consulting, zitiert nach FAZ vom 26.6.2010

Die Motivation für die Nutzung ist aber unterschiedlich. Nach einer Umfrage der Wirtschaftswoche sollen die DAX-30-Unternehmen Social Networks für folgende Zwecke nutzen: Abbildung 3: DAX-30-Unternehmen nutzen Social Networks

Quelle: WirtschaftWoche - Umfrage 2010 (wiwo.circ-it.de/infografiken/karriere/ 2010/2010-19-IG-Facebook/verwendung.htm)

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Abbildung 4: Gesamtverteilung der Nutzung auf die Medien

Alles in allem sind soziale Medien aber auch in den Personalabteilungen angekommen. Schließlich beinhalten sie vielfältige Möglichkeiten für das Personalwesen. Die Personaler sehen darin vor allem ein RecruitingInstrument. Es gibt allerdings auch Gründe, warum diese Medien von Unternehmen (noch) nicht genutzt werden. Die Hauptgründe nennt die folgende Untersuchung: Abbildung 5: Gründe für Nicht-Nutzung der Medien

Quelle: Thorsten zur Jacobsmühlen plus Partner, Social Media Report HR 2010, Februar 2010

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Die Hauptgründe für eine (Noch-)Nicht-Nutzung sind also fehlende Zeit und zu wenig Manpower – sprich: Arbeitnehmer, die dies durchführen könnten. Aber auch fehlendes Wissen ist ein gewichtiges Motiv. „Potenziale“ I Neue Verkaufsstrategie: Autobauer umwerben Kunden bei Facebook. Für viele Jugendliche ist ein Auto ein Gebrauchsgegenstand wie viele andere. Die Imagekampagnen der Autohersteller verfangen bei ihnen nicht. Um das zu ändern, soll das Internet helfen. Die Beispiele von Ford und Volkswagen zeigen, dass die Autobauer ihre Kunden zunehmend im Netz suchen, bei Laune halten – und schließlich als Käufer gewinnen. „Potenziale“ II Die Arbeitswelt steht vor einer Kulturrevolution, sagen die Verfechter dieser Systeme. Unternehmen mit einer ausgeprägten Zusammenarbeitskultur sollen laut Forrester Research, Harvard Business School ihre Produktivität um bis zu 250 Prozent steigern. Mindestens 30 bis 40 Prozent des gesamten E-Mail-Verkehrs könnten in den nächsten fünf Jahren eingespart werden, indem Mitarbeiter Informationen vorrangig auf diesen Online-Portalen veröffentlichen, statt sie zu mailen. „Potenziale“ III Social-Media-Aktivitäten sollen „Marken“ aufwerten. Der Bekanntheitsgrad kann dadurch steigen: Dies wirkt kaufentscheidend und dient der Erschließung neuer Umsatzquellen, so die Werbebranche. Neben diesen Marketinggesichtspunkten glaubt die Mehrzahl der Unternehmen, dass durch die Umstellung auf Enterprise 2.0 entscheidende Wettbewerbsvorteile entstehen. Aus folgenden Gründen: • Es kann sich prinzipiell jeder einmischen und kann sein Wissen teilen. • Entscheidungen werden transparenter, Konzepte runder, das Gefühl der Mitsprache und das Engagement steigen. So kommen auch jene Experten zu Wort, an die zunächst gar nicht gedacht wurde. • Die Projektteams können sich jederzeit verändern. • Vor allem dann, wenn neue Probleme auftauchen und die dafür erfahrensten Kollegen gesucht werden. Die Hinweise dazu kommen meist von den Mitlesern. So beschleunigt sich auch der Auswahlprozess für die jeweils besten Fachkräfte.

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Es werden Projekt-Dubletten vermieden. Wenn zufällig drei Teams an drei Standorten an einem vergleichbaren Problem laborieren, wird dies im Wiki-Netz schnell sichtbar. Ineffizienzen werden so vermieden, bevor sie entstehen. • Durch die effizienteren Arbeitsabläufe verbessern die Unternehmen langfristig die Qualität ihrer Produkte. • Durch die stärkere Vernetzung aller Beschäftigten wird Wissen schneller aktiviert. • Und auch dies findet sich heute immer häufiger: Wikis werden zur Projektunterstützung und Intranet-Information eingesetzt. • Erweiterte Adressbücher sollen oder dürfen genutzt werden – auch mit Bildern, Angaben zu Hobbys, Geburtstag oder Firmeneintritt bzw. Firmenkarriere. Und über alles läuft eine Suchfunktion. Vermutlich ist von den eher uneingeschränkten Befürwortern dieser Systeme kaum ein wirklich kritisches Wort zu hören. • •

AUF WELCHE ( GESELLSCHAFTLICHEN ) TRIFFT E NTERPRISE 2.0?

B EDINGUNGEN

Eine angemessene Bewertung der Enterprise 2.0-Perspektiven muss die Rahmenbedingungen in dieser Gesellschaft in die Betrachtung mit einbeziehen.

Das Arbeitsverhältnis Manche Vorgesetzte erwarten, dass sich die „Projekt“-Arbeitnehmer an den sozialen Medien beteiligen. In Unternehmen werden diese Aktivitäten noch formal als freiwillig deklariert. Die bei den Befürwortern von Enterprise 2.0-Systemen so nett benannten Mitarbeiter sind real Arbeitnehmer, also abhängig Beschäftigte. Die Freiwilligkeit der Aktivitäten im Freizeitbereich, wie das Surfen in sozialen Netzwerken am Abend, lässt sich kaum auf die Aktivitäten des Arbeitsverhältnisses übertragen. Es sei denn, man ist der Ansicht, jeder sollte freiwillig zu jeder Zeit mehr arbeiten.

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Es liegt im „Wesen“ der Social Networks, dass wegen der Vernetzung „immer was zu tun ist“. User verbringen dort täglich mehr als eine halbe Stunde (Bager 2010). Wie wird diese Arbeitszeit bewertet? Dass Enterprise 2.0-Systeme Spaß machen können, verstärkt das Dilemma: Die Möglichkeiten zur betriebswirtschaftlichen Verwertung des ganzen Menschen wird durch die Motivation der Beschäftigten erhöht. Damit können die Arbeitnehmer noch leichter „wie Zitronen ausgepresst“ werden und sie haben dabei noch Spaß. Wenn das gewollt ist, dann …

Perspektive Demografie Mit welchen Menschen haben wir es in den Betrieben zu tun? Sicher ist es nicht nur die „35-plus“-Generation. Abbildung 6: Alterspyramide der Erwerbstätigen insgesamt und HRSTC – Techniker und Absolventen des Tertiärbereichs in der EU, 2004

Angaben über die Altersverteilung in den Betrieben machen deutlich, dass die Hauptansprechpersonen von Enterprise 2.0 nur eine begrenzte Anzahl von Arbeitnehmern sind. Passiert hier nicht eine systemische Ausgrenzung der nicht „35-plus“-Gruppen? Einen weiteren Hinweis auf diese Selektion gibt die 90-9-1-Regel. 3 90 Prozent der Nutzer lesen und schauen nur zu, steuern aber selber nichts bei. 3

90-9-1-Regel nach Jacob Nielsen, Experte für Internetgebrauchstauglichkeit (Usability).

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9 Prozent der Nutzer beteiligen sich von Zeit zu Zeit, aber andere Dinge sind ihnen wichtiger. Ein Prozent der User macht häufig mit. Von ihnen stammen die meisten Beiträge, manchmal scheint es, als hätten sie sonst überhaupt nichts zu tun, denn sie kommentieren oft schon Minuten nach jedem Ereignis, zu dem sie sich äußern. Diese Überlegungen unterstützen die Vermutung: Es geht gar nicht um alle Beschäftigte, sondern um eine spezielle Gruppe von Top-Performern. Soll damit eine Kultur in den Unternehmen gefördert werden, die die digitalen Top-Performer fördert, die anderen aber im Prinzip ausschließt?

V ON DER F IRMENHIERARCHIE Z UKUNFT “

ZUR

„G ESCHICHTE

DER

Abbildung 7: Von der Firmenhierarchie zur „Geschichte der Zukunft“

Firmen-Kultur Ein Austausch mit diesen neuen Medien – da sind sich alle Befürworter ausnahmsweise einig – setzt eine hierarchiefreie Kommunikation quasi voraus. Gibt es diese in jedem Unternehmen, das Enterprise 2.0 einsetzt? Ist diese Kultur in Ihrem Unternehmen erwünscht? Bewegt sich die Leitung des Unternehmens in Richtung Geschäftsführung 2.0? Auch unter diesem Gesichtspunkt, so die Vermutung, geht es bei der Enterprise 2.0-Nutzung um eine bestimmte Gruppe von (Projekt-) Arbeitnehmern. Hinzu kommt: Für den „Erfolg“ von social networks wird die Bedeutung der unterstützenden Rolle der Vorgesetzten hervorgehoben. Gibt es genügend vorbildliche Vorgesetzte in den betreffenden Unternehmen?

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Widerstände und Ängste Viele Anwender der neuen Systeme fühlen sich überfordert, weil in den Unternehmen in der Regel, wenn überhaupt, nur eine Schmalspurqualifizierung erfolgt – Schnupperkurse. Die Fragen der Beschäftigten werden in den Unternehmen kaum ehrlich beantwortet: • Wer liest meine Beiträge und reagiert wie darauf? • Welche Datenspuren hinterlasse ich? • Wie bekomme ich Beiträge, die ich doch nicht veröffentlicht haben möchte, wieder spurlos weg?

C HANCEN

UND

R ISIKEN VON E NTERPRISE 2.0

Bei der Bewertung von Software-Systemen im Zusammenhang mit der Mitbestimmung werden in der Regel einzelne Software-Anwendungen bzw. Applikationen betrachtet. Dieses Vorgehen wird bei Web 2.0-Systemen teilweise schwierig, da die beschriebenen Funktionen quasi systemübergreifend von verschiedenen Anwendungen ausgeführt werden können.

Wikis und Blogs Das Wiki dient dazu, Wissen in Form von Informationen zu sammeln und dem Unternehmen und seinen Beschäftigten zur Verfügung zu stellen (Skowronek 2010). Wenn die Bereitschaft dazu da ist, das Dokumentieren von Informationen – zunächst für lau – zu leisten, funktioniert das Wiki. Der Nutzen für den „Einsteller“ kann, muss aber nicht dadurch entstehen, dass er die Informationen der anderen Teilnehmer bekommt. Im Grunde will der Arbeitgeber mit der Wiki-Technik informelle Prozesse der Hilfestellung für sich formalisieren und die Erkenntnisse aller Beteiligten nutzen. Wikis werden in offener als auch geschlossener Form genutzt. Letztere dient häufig der Abwicklung von Projekten. Eine wesentliche Funktion bei Wikis ist die Bewertung: Bewerten von Beiträgen macht jeder – im Kopf. Wenn der Arbeitgeber eine Bewertungsfunktion für die Wikis einführen will, bedeutet dies: Bewertungen haben auch einen „steuernden“ Effekt – schlechte Werte führen dazu, dass die

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weitere Bearbeitungszeit für diesen Beitrag „effektiviert“ wird. Nachteilig könnte sein, dass „quere Ideen“ ausscheiden. Diese haben aber häufig das Potenzial für Gutes. Ob die negativen Interpretationen bei „abgewerteten“ Ideen ausbleiben, muss bezweifelt werden. Basis des Austauschs in einem Wiki ist in der Regel eine „Policy“. Diese wird zu einem wichtigen Ansatz der Mitbestimmung. Folgende Aspekte sind dabei insbesondere zu beachten: • Wie wird mit Bildern von Beschäftigten umgegangen? Das Recht am eigenen Bild ist unbedingt zu beachten (§§ 22 und 23 des Gesetzes „betreffend das Urheberrecht an Werken der bildenden Künste und Photographie“, kurz KUG genannt) (Schierbaum 2010, 23). • Woher weiß der Beschäftigte, was das Persönlichkeitsrecht im Einzelnen heißt? So kann beispielsweise der Glückwunsch zur Beförderung in einem Wiki ohne Zustimmung eine Gesetzesverletzung sein. Die Kenntnis der Persönlichkeitsrechte ist ein Schulungsthema, genau wie die Behandlung von Urheberrechten! Das Beachten von Urheberrechten ist im Zweifel keine triviale Angelegenheit. • Interne Blogs als Erlaubnis für spontane Äußerungen mag in einer offenen Gesellschaft funktionieren. Verallgemeinerbare Erfahrungen aus Unternehmen liegen wenig vor (Meyer / Buchholz 2010). Der Arbeitgeber kann es für Mitteilungen und Austausch von der Konzernspitze aus einsetzen. Dies kann zur Erhöhung der Transparenz beitragen. Der Grad der „Ablenkung“ und Aufmerksamkeit durch diese Systeme ist aber hoch. Offene Systeme Dadurch, dass jeder etwas beitragen kann, Informationen teilen kann, werden Entscheidungen möglicherweise verständlicher und das Gefühl der Teilhabe stellt Mitarbeiter zufriedener. Gute und sinnvoll genutzte Wikis und Blogs kosten aber Zeit. Ist es realistisch, dass die Arbeitnehmer neben ihrer arbeitsvertraglichen Hauptaufgabe dafür noch die Zeit haben? Oder geht der Arbeitgeber indirekt davon aus, dass das Arbeiten an den Systemen in der Freizeit erfolgt? Dulden oder gar fördern die Vorgesetzten diesen Aufwand? Nur bei ausdrücklicher Förderung können diese Systeme überhaupt funktionieren.

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Geschlossene Systeme Sie dienen zum Management und zur Dokumentation von Projekten und (virtuellen) Gruppen. Projektteams werden durch diese Systeme leicht veränderbar. Projektleiter stellen wenn nötig Gruppen anders oder neu zusammen. Wer entscheidet über die Bildung einer geschlossenen Gruppe? Werden in den geschlossenen Wikis gegebenenfalls Mitbestimmungsrechte beachtet (so z. B. § 92 BetrVG – Personalplanung durch Projektleiter; § 90 BetrVG – Versetzungen)? Sind in geschlossenen Wikis verbindliche Anweisungen enthalten? Bekommen die Beschäftigten dadurch nicht eine „Holschuld“?

Grundrecht auf Meinungsfreiheit Nach Art. 5 des Grundgesetzes (GG) hat jeder das Recht, seine Meinung frei zu äußern und zu verbreiten. Im Prinzip natürlich auch im Arbeitsverhältnis. Die Begrenzung der Meinungsfreiheit ist nun aber (leider) aufgrund der wirtschaftlichen Interessen eher größer. Die Rücksichtnahmepflicht, auch Loyalitätspflicht genannt, wenn die „umfassend“ definierten wirtschaftlichen Schäden des Unternehmens eine Rolle spielen, grenzt die Meinungsfreiheit doch real stark ein. Auch moralische Kategorien wie Schmähkritik oder verleumderische Aussagen sind im Streitfall eher „Rechte des Stärkeren“. Wann immer Arbeitnehmer ihre Themen über soziale Medien verbreiten, wird daraus ein Dilemma entstehen. Insbesondere natürlich dort, wo es keine für alle deutlichen Grenzformulierungen und keine ständigen Sensibilisierungsprozesse aller Beteiligten gibt – da kommt es dann vor, dass Mitarbeiter schon einmal „über das Ziel hinausschießen“ (Stepan 2010).

Freiwilligkeit In einer Reihe von Unternehmen werden die Fragen des Datenschutzes dadurch „umgangen“, dass die Nutzung der Systeme freiwillig sei. Es stellt sich dabei aber die Frage: Wie freiwillig ist freiwillig und welche Freiwilligkeit ist es?

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Die Freiwilligkeit des Bundesdatenschutzgesetzes (BDSG) bedeutet: Die freiwillige Zustimmung ist jederzeit widerrufbar mit der Konsequenz der Löschung der Beiträge. Weiß aber überhaupt jemand, wie das Löschen von Beiträgen einer Person in den Systemen geht? Und wie können geschlossene Wikis zur Projektsteuerung freiwillig sein? In vielen Unternehmen ist die „private“ Internetnutzung strikt verboten oder nur in Pausen erlaubt. Dies funktioniert nicht zusammen mit Enterprise 2.0. Damit „landet“ das Unternehmen in der geduldeten privaten Nutzung – mit allen Konsequenzen! (Karg 2010) Einer Studie von Cisco zufolge untersagen 44 Prozent der deutschen Unternehmen den Umgang mit sozialen Medien während der Arbeitszeit komplett.

Umfragen Viele Systeme erlauben Umfragen durch jeden. Unterliegen diese Umfragen aber nicht nach § 94 BetrVG der Mitbestimmung? Wer sichert die Information an den Betriebsrat nach § 80 BetrVG in diesen Systemen?

RSS-Feeds Die Versorgung mit RSS-Kurznachrichten sorgt für Informationen von Quellen, die der Nutzer selbst gewählt hat. Fast alle Tageszeitungen bieten diesen Service. Ein Hauptproblem ist, dass diese Systeme zusätzliche Aufmerksamkeit erfordern – sie lenken also von der eigentlichen Arbeit ab. Es gibt allerdings Werkzeuge, die diese „Lifestream“-Melange aus allen Blogs, RSS-Feeds usw. eines Nutzers bündelt (siehe zur Nutzung von RSS durch die Interessenvertretung auch Skowronek 2009).

SharePoint SharePoint ist ein Produkt der Firmen Microsoft und IBM zur Integration von Dokumentenablagen in Office-/Outlook-/Notes-Systemen. Es ermöglicht damit die Veröffentlichung von Dokumenten, Adressdaten und Nachrichten. Neue Content-Management-Systeme integrieren Wiki- und Blog-

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Technik mit Inhalten und Unternehmensdokumenten aus dem SharePointSystem in einem „Portal“. Die Dokumentation mittels SharePoint im Enterprise 2.0-Kontext erhöht die Anforderung an die Beachtung des Urheberrechts.

Suchfunktion Wann vergisst Google, wann vergessen Suchsysteme? Webdienste sammeln nicht nur Informationen über die Nutzer, sondern auch über deren Bekannte und Freunde. Jedes Datum, Hobby, jede Bemerkung über Kollegen oder die eigene Befindlichkeit (= Gesundheitsdaten), über Tarifabschlüsse (= eventuell Gewerkschaftszugehörigkeit) werden auswertbar. Wenn man es merkt, ist es allerdings in der Regel zu spät (interessant dazu: Lindemann/ Schneider 2011).

Social Media als Marketinginstrument der Unternehmen 4 Die Erfahrungen von Unternehmen mit Social Media ist sehr unterschiedlich. Für die meisten, insbesondere die größeren Firmen, gehört es mittlerweile einfach dazu, hier mitzumischen (siehe dazu Sinn 2010). Manchmal ist es die eigentlich fehlende Motivation und deshalb halbherzige Umsetzung, aber manchmal ist es auch schlichte Unkenntnis, fehlende Erfahrung und schlechte Beratung, wenn der Einsatz von sozialen Medien als Teil der Unternehmenskommunikation nach hinten losgeht. Im Unterschied zu früheren „neuen“ Medien gibt es hier keine Kostenbarriere, die mittelständische und kleine Firmen von der Nutzung abhalten könnte. Die Entscheidung für den Einsatz von sozialen Medien sollte wohl überlegt getroffen werden, denn es werden Erwartungen bei Kunden und Interessierten geweckt, auf die man dann besser auch adäquat vorbereitet sein sollte. Absolutes Muss ist ebenfalls die offene und angemessene Antwort auch auf kritische Fragen und Anmerkungen. Ein Beispiel: Ein Unternehmen hatte seine Präsenzen bei Facebook, Twitter & Co. als Werbekanal ausgelegt. Als

4

Autorin des Kapitels „Social Media als Marketinginstrument der Unternehmen“ ist Daniela Schopp.

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nach zahlreichen Pannen die Kunden diese Plattformen des Unternehmens für eine Diskussion über dieses Thema nutzten, fiel den Verantwortlichen nicht etwa ein, die Kundenbeschwerden angemessen zu beantworten und Hinweise zu geben auf weitere Informationen auf der Website. Es fand sich zunächst der Hinweis, dass an dieser Stelle solche Nachrichten unerwünscht seien und hier nicht diskutiert würden, da dies nicht der Zweck dieser Kanäle sei. Doch, genau das ist der Zweck solcher Angebote – die gleichberechtigte Kommunikation und der Austausch auch unter Betroffenen, Kunden, Interessierten!

Gesamtbetriebsrat/Betriebsrat Soziale Netzwerke sind natürlich auch gute Instrumente, um die Arbeit der Interessenvertretung zu unterstützen (Demuth 2009). Allerdings lässt sich das nicht „von selbst“ erledigen. Dürfen bzw. können die Gremien diese Instrumente auch nutzen? Wenn ja, hat jemand „anderes“ dort Löschrechte? Gibt es genügend Ressourcen, mit den Medien zu arbeiten?

Nutzung der Daten durch Personal-/HR-Abteilung Für die Rekrutierung von neuen Mitarbeitern sollen beispielsweise die Einträge von „Externen“ ausgewertet werden (siehe auch Frijia 2009): Es gibt in Unternehmen aber die Tendenz, die Informationen der Beschäftigten auszuwerten, um „zwischen den Zeilen“ Hinweise auf Über/Unterforderungen sowie Geeignet-/ Ungeeignetheit für bestimmte Ausgaben zu bekommen. Zusätzlich können diverse Hinweise aus den Enterprise 2.0-Systemen zum Talentmanagement zusammengefasst werden.

Fotos und dann … Goggles, eine Applikation für Android-Telefone, kann durch die Kamera des Handys Formen und Muster erkennen. Richtet man die Kamera auf einen Baum, erkennt sie einen Baum, richtet man sie auf ein Produkt, werden Produktinformationen eingeblendet.

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Die Gesichtserkennung ist derzeit noch deaktiviert. Solche Algorithmen sind allerdings bereits in Apples iPhoto und in Googles Online-Fotodienst Picasa (kritisch dazu Haverkamp 2011, 36) integriert: Wenn man das Gesicht eines Freundes in seinen persönlichen Alben erst einmal oft genug „getaggt“ hat, erkennt der Algorithmus das Gesicht auf allen weiteren Fotos wieder. Die Technik ist noch verbesserungswürdig, macht aber große Fortschritte. Wer weiß schon, wie viele Fotos von ihm selbst im Netz existieren? Auf Gruppenfotos von Partys, als zufälliger Passant auf der Straße? Wie viele Bilder von uns in derzeit noch nicht öffentlich einsehbaren Fotoalben und Archiven schlummern und wie lange es wohl dauert, bis auch sie vom Internet verschlungen werden, oder auftauchen, weil etwa Facebook seine Privatsphäreneinstellungen „angepasst“ hat? Wer – selbst unter den Internetverweigerern – würde sich eine Einschätzung wohl zutrauen?

M ÖGLICHKEITEN DER M ITBESTIMMUNG Die Mitbestimmung zu diesen Systemen unterscheidet sich zunächst nicht zur Mitbestimmung zu jedem anderen EDV-System. Die Interessenvertretung muss für sich entscheiden, ob sie den Prozess der Einführung mitgestalten will, indem sie z.B. die Themen der Enterprise 2.0-Anwendung mit auswählt. Oder sie will „nur“ das „Schlimmste“ verhindern. Entscheidend ist immer, welche Ziele das Gremium verfolgen will und seine Einschätzung der Chancen und Risiken für „sein“ Unternehmen. Davon hängt alles weitere ab.

Möglichkeiten der Regelung Im klassischen Fall würde der Einsatz und der Betrieb des Systems in einer Einzelvereinbarung geregelt, mit der dann z.B. festgelegt ist, dass der Betrieb ausschließlich auf Basis des in Anlage X beschriebenen Systems erfolgt und die Auswertungen in einer Anlage Y beschrieben sind. Nun machen zwei Aspekte diese Form der Regelung schwierig: • Wikis und Blogs als Enterprise 2.0-Anwendungen sind im Unternehmen häufig relativ jung (zwei Jahre?). Was kann bei dem dynamischen

E NTERPRISE 2.0 | 177

System bis zum Ende der Legislaturperiode dieser Belegschaftsvertretung noch alles passieren - was bedeutet dies für die Regelung? • Die genannten Enterprise 2.0-Funktionen finden sich unter Umständen in unterschiedlichen Anwendungen, sodass es gegebenenfalls eine Flut von Vereinbarungen geben wird. Eine denkbare Alternative könnte eine Prozessvereinbarung sein. In dieser Rahmenprozessvereinbarung für Web 2.0/ Enterprise 2.0 könnten Regeln für Prozesse beschrieben werden. Bestimmte, als besonders sensibel erachtete Anwendungen könnten in diesem Kontext mit einer Einzelvereinbarung abgesichert werden.

Regelungsgegenstände Richtlinie zu Enterprise 2.0 Als Regelung nach § 87 Abs. 1 Nr. 1 BetrVG wird die „Policy“ zwischen Arbeitgeber und Betriebsrat festgelegt. Wenn der Arbeitgeber daran interessiert ist, dass die Interessenvertretung sein Vorhaben stützt und damit die Beschäftigten eher mitmachen, wird es kaum eine Detaildebatte geben, welche der einzelnen Regelungen einer erzwingbaren Mitbestimmung unterworfen werden müssen. Der gesunde Menschenverstand ist ein brauchbares Maß für die Belegschaftsvertretung, ob die Bestimmungen der Policy im Unternehmen tauglich sein können. Es muss für den Arbeitnehmer eindeutig und absolut klar (!) sein, welche Inhalte er einbringen darf. Formulierungen, wie „die Beachtung aller Gesetze“ sind untauglich. Wer kennt schon alle Gesetze. Bilder und Videos, auf denen ein Mensch eindeutig zu identifizieren ist, dürfen nur mit ausdrücklicher Zustimmung der betroffenen Person veröffentlicht werden und müssen bei Widerspruch ohne Zeitverzug entfernt werden. Führungskultur Damit Vorgesetzte und Führungskräfte eine Vorbildfunktion übernehmen und mit dem Beschäftigten verantwortungsvoll umgehen können, müssen sie diesbezüglich geschult werden. Die Rolle der Führungskraft muss immer wieder hinterfragt werden, denn Arbeitnehmer werden zum Teil selbstständiger agieren. Die regelmäßigen Schulungs- und gegebenenfalls Coachingpläne werden mit den zuständigen Interessenvertretungen abgestimmt.

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Leistungs- und Verhaltenskontrolle Eine Kontrolle der Leistung oder des Verhaltens findet nicht statt. Es werden auch keine Kontaktprofile erstellt. Systeme oder Funktionen, die zu einer Leistungs- und Verhaltenskontrolle benutzt werden sollen, müssen in einer Einzelvereinbarung geregelt werden. Hinzu könnte das Problem der „Zweckentfremdung durch Querleser“ kommen: Denkbar wären da Formulierungen, die es allen Teilen des Unternehmens, die Erkenntnisse aus dem System für Ihre Zwecke nutzen wollen (z. B. Personalentwicklung), zur Pflicht macht, diese Nutzung, die Datenfelder und die Zwecke in einem eigenen (interessant dazu Lindemann/ Schneider 2011) Wiki-Teil bzw. per Mail an den Mitarbeiter zu dokumentieren. Freiwilligkeit Soweit die Teilnahme an (Teil)-Systemen verpflichtend wird, bedarf es dazu verbindlicher Regelungen, z. B. durch die Aufnahme in geregelten Zielvereinbarungen. „Die Einführung von Enterprise 2.0-Systemen in den Unternehmen und Verwaltungen sollte von den Interessenvertretern genau betrachtet werden.“ Umfragen Bei Umfragen muss die zuständige Interessenvertretung informiert werden. Technische oder organisatorische Lösungen sind möglich. Macht der Betriebs- oder Personalrat ein Mitbestimmungsrecht geltend, darf die Umfrage nur nach seiner Zustimmung online geschaltet werden. Schulungen/Qualifizierung Qualifizierungsangebote, die auch die spezielle Situation und Vorkenntnisse von unterschiedlichen Arbeitnehmern (Alter, Bildungsstand, Vorerfahrungen) berücksichtigt, müssen für alle Nutzer angeboten werden. Ergonomie Die Systeme müssen in ihrer Gesamtheit softwareergonomischen Prinzipien genügen. Dies ist in regelmäßigen Abständen unter Beteiligung der Arbeitnehmervertretung zu überprüfen.

E NTERPRISE 2.0 | 179

Datenschutz Die Zugriffe auf die Server dürfen nur anonymisiert erfolgen. Löschfristen für die Daten sind zu benennen. Hier ist auch eine Verschärfung denkbar: Alle Datenfelder, die personenbezogene Daten enthalten, sind zu benennen und die Zwecke der Erhebung konkret festzulegen. Freiwilligkeit – verbindliche Arbeitsanweisungen Wenn in den Systemen für die Arbeitnehmer verbindliche Anweisungen enthalten sind, gilt: Die über das System veröffentlichten verbindlichen Anweisungen werden dem Arbeitnehmer zusätzlich (per Mail) bekannt gegeben. Gesundheit / Gefährdungsbeurteilung Die Nutzung der Systeme ist Arbeitszeit. Gerade wenn der Zugriff von überall her zu jeder Tages-/Nachtzeit erfolgen kann, sind klare Vereinbarungen notwendig. Enterprise 2.0 ist ein Thema von Gefährdungsbeurteilungen. Viele Anwender fühlen sich von den „Lifestreams“ überfordert. Die Arbeitszeiten eskalieren – es gibt immer etwas zu tun. Jeder zweite Erwerbstätige muss heutzutage mittlerweile bereits am Wochenende arbeiten. Diese Systeme verstärken zusätzlich noch die Tendenz zur Entgrenzung. Die Faktoren der psychischen Belastung müssen mit qualifizierten Methoden erkundet werden. Strenges Verwertungsverbot Arbeitsrechtliche Maßnahmen (z. B. Abmahnung oder Kündigung), die aus einem Verstoß gegen das Verbot der Verhaltens- und Leistungskontrolle mithilfe des Systems resultieren, sind unwirksam. Erkenntnisse, die unter Verstoß gegen eine Vereinbarung gewonnen wurden, dürfen vom Arbeitgeber nicht im arbeitsrechtlichen Urteilsverfahren verwertet werden. Verwendet der Arbeitgeber Erkenntnisse, die aufgrund von Daten über Verhalten und Leistung gewonnen sein können, so muss der Arbeitgeber beweisen, dass die Erkenntnisse entweder mithilfe des Systems in Übereinstimmung mit der Vereinbarung erlangt wurden oder aus Quellen außerhalb des Systems stammen.

180 | U LI F LAKE

F AZIT Die Einführung von Enterprise 2.0-Systemen in den Unternehmen und Verwaltungen sollte von den Interessenvertretern vor dem Hintergrund der hier benannten Chancen und Risiken genau betrachtet werden. Egal, ob man den Rahmen abstecken oder die Systeme en détail regeln möchte, deutlich sollte sein, dass die Entwicklung dieser Systeme im Fluss ist und manches jetzt noch gar nicht abschließend zu bewerten ist. Wer jetzt noch nicht genug hat, kann die Systeme privat selbst probieren. Ich rate aber zu einem Placebo: Vor allem nicht aus dem Betriebs/Personalratsbüro, sondern mit einem neuen Betriebssystem (Linux) in einer virtuellen Maschine, keine Realnamen auf diesem System und dann immer mit einem Künstlernamen (Pseudonym) anmelden. Wir müssen ja nicht alle Heinz Mustermann heißen – man kann sich doch so nette Biographien ausdenken.

* Dieser Beitrag ist erstmals erschienen in: Computer und Arbeit, 2011, Ausgabe 2, 4-11.

L ITERATUR Bager, Jo (2010): Megacommunities. Soziale Netzwerke verändern die Online-Landschaft. In: c’t 7/2010, 104-107. Demuth, Ute (2009): Twitter, Facebook, Blogs & Co. Was an den „Sozialen Medien“ für den BR/PR interessant ist … In: Computer und Arbeit, 10/2009, 33-37. Frijia, Daniele (2009): Personalauswahl 2.0. Nutzen und Gefahren Sozialer Medien. In: Computer und Arbeit, 12/2009, 33-35. Haverkamp, Josef (2011): Google optimal nutzen. Ein kleiner Workshop für Interessenvertretungen. In: Computer und Arbeit, 1/2011, 33-37. Karg, Moritz (2010): Arbeitgeber als Provider. Privates muss auch privat bleiben. In: Computer und Arbeit, 6/2010, 18-20. Lindemann, Marcus / Schneider, Jan (2011): Datenschutz-Fallrückzieher. Ein Netizen entdeckt den Wunsch nach Privatsphäre. In: c’t 1/2011, 108-110.

E NTERPRISE 2.0 | 181

Meyer, Ulrich R. / Buchholz, Rainer (2010): Neue Kommunikationswege für Betriebs- und Personalräte – Blogs für die Arbeit der Interessenvertretung. In: Computer und Arbeit, 5/2010, 31-34. Schierbaum, Bruno (2010): Veröffentlichte Belegschaften. Mitarbeiterdaten auf der Homepage des Arbeitgebers. In: Computer und Arbeit, 11/2010, 20-25. Sinn, Dieter K. (2010): „New Marketing“. Die Informationstechnologie verändert Marketing und Vertrieb. In: Computer und Arbeit, 4/2010, 20-23. Skowronek, Andreas (2009): Digitaler Nachrichtenticker statt „Schwarzes Brett“ – RSS-Technik als Kommunikationsmittel mit der Belegschaft. In: Computer und Arbeit, 5/2009, 31-33. Skowronek, Andreas (2009a): Twitter oder: Wozu Microblogging? TwitterTechnologie hält Einzug in Unternehmen. In: Computer und Arbeit, 11/2009, 34-37. Skowronek, Andreas (2010): „Wiki“ in der Arbeitswelt. In: Computer und Arbeit, 11/2010, 34-37. Stepan, Mirco (2010): „Mein Chef macht Jagd auf Kranke“. Äußerungen von Beschäftigten im Internet – was ist erlaubt? In: Computer und Arbeit, 11/2010, 18-19.

Die Mediatisierung von Arbeit und die Neuformierung von Lebensbereichen C AROLINE R OTH -E BNER

1. E INLEITUNG Mit dem technologischen Wandel der letzten Jahrzehnte, vor allem mit der rasanten Entwicklung der mobilen Kommunikation bis hin zu internetfähigen Smartphones und Tablet PCs, sind nahezu alle Bereiche des menschlichen Alltags als mediatisiert zu bezeichnen. Dies betrifft insbesondere den Lebensbereich der Arbeit, welcher zu einem großen Teil durch die Nutzung digitaler Medien charakterisiert ist. Der Begriff Mediatisierung von Arbeit zielt auf das Zusammenspiel von medientechnologischen Entwicklungen und der gesellschaftlichen Transformation von Arbeit ab (vgl. Roth-Ebner/ Waldher 2012, 2) und beschreibt, wie sich die durch Nutzung von Medien (heute insbes. digitaler Medien) geprägte Arbeit gestaltet und welche Implikationen dies für die Arbeitenden, aber auch für Organisationen und die Gesellschaft hat. 1 Den für diesen Sammelband grundlegenden Begriff der Informatisierung von Arbeit interpretiere ich als einen Teilaspekt der Mediatisierung von Arbeit (vgl. Roth-Ebner 2013, 24). Damit soll betont werden, dass Arbeit zunehmend von Informations- und Kommunikationstechnologien durchdrungen wird.

1

In diesem Beitrag wird vorrangig die Ebene der Individuen beleuchtet, da dies dem Zuschnitt der Studie „Mediatisierung von Arbeit“ entspricht, welche dem Beitrag zu Grunde liegt.

184 | C AROLINE R OTH -E BNER

In der Soziologie wird der Wandel von Arbeit intensiv unter dem Schlagwort der Entgrenzung diskutiert. Dabei wird in der Literatur oftmals die neue Arbeitswelt der alten gegenübergestellt und eine Erosion des Normalarbeitsverhältnisses konstatiert. Es handelt sich dabei um „eine abhängige Beschäftigung, die im Idealfall von der Lehre bis zur Rente im selben Betrieb stattfindet. Der typische „Normalarbeiter“ ist vollzeitbeschäftigt und sozialversichert, verfügt über Rechtsansprüche aus Arbeitsrecht, Tarifvertrag und Betriebsvereinbarung, verbringt die Werktage mit regelmäßigen Arbeitszeiten an einem von der Wohnung getrennten Arbeitsplatz und ist in klare betriebliche Strukturen von Arbeitsteilung und Hierarchie eingebunden.“ (Mayer-Ahuja 2004, 269)

Das Normalarbeitsverhältnis ist jedoch eher ein „Ideal-Bild“, das für Vergleiche mit der Ist-Situation hergenommen wird, um die Innovationskraft der neuen Arbeitsmodelle zu betonen, wie die Arbeitssoziologin Nicole Mayer-Ahuja relativiert. So konnte das Normalarbeitsverhältnis auch in seiner „Blütephase in den späten 1960er Jahren“ nie Gültigkeit für die breite Masse beanspruchen, sondern es galt vorwiegend für höher qualifizierte männliche Arbeiter und Angestellte, während Niedrigqualifizierte und Frauen weniger davon betroffen waren (vgl. ebd., 270). Ungeachtet dieser unscharfen Trennlinie zwischen neuen und alten Arbeitsverhältnissen betrachtet Günter Voß das Erodieren der Grenzen zwischen Arbeit und Heim angesichts der im industriellen Zeitalter lange dominierenden Trennung von beruflichen und privaten Lebensbereichen als „erstaunliche historische Entwicklung“ (Voß 1998, 479). Dieses Aufweichen bzw. Verflüssigen (Bauman 2003) der Grenzen zwischen Privat- und Berufsleben steht im Mittelpunkt dieses Beitrages. Dabei beziehe ich mich auf Teilergebnisse aus einer eigenen Studie zur Mediatisierung von Arbeit, welche im Zeitraum zwischen 2009 und 2013 durchgeführt wurde. Forschungsleitend war die Frage, wie sich unter dem Einfluss der Nutzung digitaler Medien die Wahrnehmung von und der Umgang mit Raum und Zeit bei der Arbeit gestalten und welche Potenziale und Herausforderungen dabei für die Beschäftigten entstehen. Auch die Strategien und Kompetenzen, mit denen diese den neuen Raum- und Zeitphänomenen mediatisierter Arbeit begegnen, sollten untersucht werden. Als konkreten Untersuchungsbereich wurde für die Studie jener der Digicom-Arbeit ausgewählt. Damit sind Arbeitsfelder gemeint, in welchen

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VON

A RBEIT | 185

Kommunikation mit digitalen Medien zentrale Tätigkeiten darstellen. Sehr häufig sind die Beschäftigten in solchen Tätigkeitsbereichen örtlich und zeitlich flexibel, weshalb der Aspekt der Entgrenzung von Lebensbereichen in der Personengruppe der Digicom-Arbeiter/innen als zentral angenommen wurde. Von Managern/Managerinnen über Projektkoordinatoren und -koordinatorinnen bis hin zu Wissenschaftlern/Wissenschaftlerinnen oder Unternehmern/Unternehmerinnen, ob Teilzeit oder Vollzeit beschäftigt, ob angestellt oder freiberuflich – Digicom-Arbeiter/innen stammen aus unterschiedlichsten Berufen und Beschäftigungsverhältnissen. Tabelle 1: Interviewte nach Alter und Geschlecht Alter

Anzahl m

w

20 – 30

3

2

31 – 40

3

4

41 – 50

4

4

Gesamt

10

10

Tabelle 2: Interviewte nach Art des Arbeitsverhältnisses und Geschlecht Anzahl Art des Arbeitsverhältnisses

m

w

Angestellt, Vollzeit

4

6

Angestellt, Teilzeit

-

2

Freiberuflich tätig

2

1

Selbstständig 2

4

1

in leitender Position

8

4

nicht in leitender Position

2

6

Position im Unternehmen

2

Ein Interviewter war zum Zeitpunkt der Untersuchung in unterschiedlichen Arbeitszusammenhängen und Firmen sowohl freiberuflich als auch selbstständig tätig. Ich zähle ihn zu den Selbstständigen.

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Eine Fragestellung, die auf Wahrnehmungen von Raum und Zeit und das Raum- und Zeithandeln von Menschen abzielt, verlangt nach beschreibendinterpretativen Zugängen. Korrespondierend dazu wurde als zentrale Methode das qualitative Leitfadeninterview gewählt. In der Zeit zwischen März und Oktober 2010 wurden 20 Interviews mit Digicom-Arbeitern und Arbeiterinnen geführt. Eine detaillierte Samplebeschreibung kann aus Anonymitätsgründen nicht erfolgen, Tabelle 1 und Tabelle 2 liefern jedoch einen groben Überblick über die demografischen Daten der Interviewpartner/innen und ihre Art des Arbeitsverhältnisses. Zur Vorbereitung auf die Gespräche wurden die Interviewpartner/innen gebeten, eine Woche lang ihr Mediennutzungsverhalten bei der Arbeit in einem vorstrukturierten Tagebuch zu protokollieren. Dadurch wurden einerseits die Befragten sensibel für das eigene Nutzungsverhalten; andererseits halfen die Aufzeichnungen der Interviewerin bei der Vorbereitung auf die Gespräche. Nach den Interviews wurde die Methode des Visualisierens (Schachtner 1993) durchgeführt, wobei die Befragten gebeten wurden, zu einem vorgegebenen Impuls/einer vorgegebenen Frage ein Bild zu zeichnen. Dieses wurde im Anschluss daran verbal besprochen, um die subjektive Bedeutung der Visualisierung für die Zeichnenden zu erfassen. Die Methode trägt im Sinne der Methodentriangulation zu einem tieferen Verständnis der Datenlage bei (vgl. Flick 2000, 318). Dabei können die Bilder ergänzende oder aber auch kontrastierende Aspekte zum Interview beinhalten oder das Interview auf einen bestimmten Aspekt hin zuspitzen (siehe Abbildung 1 und 3 in diesem Beitrag). Die qualitativ generierten Daten wurden angelehnt an die methodologischen Prinzipien der Grounded Theory (Glaser/Strauss 1967) ausgewertet, indem Codes und Kategorien gebildet und diese entsprechend eines „paradigmatischen Modells“ Strauss/Corbin (1996, 101) zueinander in Beziehung gesetzt wurden. Um die Reichweite der Ergebnisse zu erhöhen, wurde basierend auf den Erkenntnissen aus dem qualitativen Studienteil eine Online-Umfrage durchgeführt, bei der 445 auswertbare Datensätze generiert wurden. Als Zielgruppe wurden dabei nicht Digicom-Arbeiter und -Arbeiterinnen definiert, sondern Personen, welche für ihre Arbeit digitale Medien nutzen – unabhängig von der Intensität der Mediennutzung. Ziel war es, zu überprüfen, inwieweit die Ergebnisse aus den Interviews mit DigicomArbeitern und -Arbeiterinnen für eine breitere Personengruppe Gültigkeit

D IE M EDIATISIERUNG

VON

A RBEIT | 187

haben oder sich davon unterscheiden. Die Stichprobe der Online-Befragung setzte sich wie in Tabelle 3 dargestellt zusammen. Tabelle 3: Sample der Online-Befragung Soziodemografische Daten, Art der Berufstätigkeit

N=445

Geschlecht N (%) Männlich

140 (31,5)

Weiblich

301 (67,5)

keine Angabe

4 (1,0)

Alter M (SD)

37,05 (10,39)

Kinder N (%) Kinder ja

158 (35,5)

Kinder nein

282 (63,4)

keine Angabe

5 (1,1)

Höchste abgeschlossene Schulbildung N (%) Allgemeinbildende Höhere Schule (Gymnasium)

43 (9,7)

Berufsbildende Höhere Schule mit Matura (Abitur)

76 (17,1)

Berufsbildende Mittlere Schule ohne Matura (Abitur) Hochschule/Fachhochschule/Universität

19 (4,3) 291 (65,3)

Lehrabschluss

12 (2,7)

keine Angabe

4 (0,9)

Art der Berufstätigkeit N (%) selbstständig (z. B. freiberuflich, gewerbetreibend)

97 (21,8)

unselbstständig tätig, Vollzeit

236 (53,0)

unselbstständig tätig, Teilzeit/geringfügig

172 (38,7)

Position im Unternehmen N (%) in leitender Position

127 (28,5)

nicht in leitender Position

318 (71,5)

In diesem Beitrag werde ich auf ausgewählte Ergebnisse dieser Untersuchung rekurrieren, welche in Hinblick auf die Entgrenzung und Neuformierung von Lebensbereichen relevant sind. Dabei werde ich sowohl auf qualitative sowie quantitative Daten als auch auf theoretische Erklärungsansätze

188 | C AROLINE R OTH -E BNER

aus unterschiedlichen wissenschaftlichen Disziplinen (v.a. der Soziologie und Medien- und Kommunikationswissenschaften) zurückgreifen.

2. D IE N EUFORMIERUNG

VON

L EBENSBEREICHEN

„Entgrenzung“ ist in Zusammenhang mit dem Verschwimmen von beruflichen und privaten Lebensbereichen nicht als völlige Auflösung von Grenzen zu verstehen, sondern vielmehr als eine Neuformierung von Grenzen, als Transformation von Be- und Entgrenzungen. Gerade der Einsatz raumund zeitüberwindender Technologien und der entsprechenden mobilen Endgeräte sowie die Tatsache, dass Arbeit heute vorwiegend aus Information und Kommunikation besteht und kaum mehr an Materielles gebunden ist, tragen zur Entgrenzung der vormals eher getrennten privaten und beruflichen Lebenssphären bei. Dies zeigt sich in den Ergebnissen meiner Studie in einer Flexibilisierung von Arbeitszeiten und -orten sowie in den damit in Zusammenhang stehenden Möglichkeiten der flexiblen und mobilen Arbeit. Deutlich wird ein individualisierter Umgang mit den neuen Be- und Entgrenzungsphänomenen, wie in den folgenden Abschnitten erläutert wird.

2.1. Entgrenzung durch zeitliche Flexibilität Die Studienergebnisse zeigen, dass die Mehrheit der interviewten DigicomArbeiter/innen in der Gestaltung ihrer Arbeitszeiten weitestgehend flexibel und an keine Kernarbeitszeiten gebunden ist. Dies betrifft vor allem die Führungskräfte und die freiberuflich oder selbstständig Tätigen sowie die drei Wissenschaftler/innen der Stichprobe. Die hochqualifizierten Angestellten der Stichprobe, welche in verantwortungsvollen Positionen tätig sind, arbeiten nach einem Gleitzeitmodell oder nach einem All-in-Vertrag mit Kernarbeitszeiten. Lediglich drei der 20 Interviewten haben fix vereinbarte Arbeitszeiten. Es sind dies die Angestellten auf den unteren Hierarchieebenen. Daraus kann geschlossen werden, dass die Freiheit der Zeiteinteilung tendenziell mit dem Grad der Hierarchie bzw. mit der Unabhängigkeit von unternehmerischen Strukturen ansteigt. Ein hohes Ausmaß an zeitlicher Flexibilität zeigt sich auch in den Ergebnissen der Online-

D IE M EDIATISIERUNG

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Umfrage. Mehr als ein Drittel der Befragten war zum Zeitpunkt der Befragung völlig frei in der Wahl ihrer Arbeitszeiten, und rund 40 Prozent arbeiteten nach einem Gleitzeitmodell. Lediglich 29 Prozent gaben an, sich nach fix festgelegten Arbeitszeiten richten zu müssen. Dass die DigicomArbeiter/innen verglichen mit den online Befragten zeitlich noch flexibler sind, kann anhand der Stichprobencharakteristika erklärt werden. Demnach befindet sich die überwiegende Mehrheit der Interviewten in einer Führungsposition bzw. arbeitet auf selbstständiger Basis, während dies bei der Online-Stichprobe auf weniger als 30 Prozent der Befragten zutrifft. Dies bestätigt wiederum den Zusammenhang zwischen hierarchischer Stellung bzw. Bindung an das Unternehmen und freier Zeiteinteilung. Die Grenzen zwischen beruflichen und privaten Lebensbereichen können so stark verschwimmen, dass diese kaum noch wahrgenommen werden. So werden der verpflichtende Besuch von Abendveranstaltungen des Arbeitgebers/der Arbeitgeberin und das Lesen von Fachlektüre abends im Bett von vielen genauso wenig als Arbeit gesehen wie das frühmorgendliche oder das spätabendliche Checken von E-Mails. 3 Auch davon abgesehen leisten die Digicom-Arbeiter/innen ein beträchtliches Ausmaß an Mehrarbeit. Eine 25-jährige Projektmanagerin mit fixen Arbeitszeiten erläuterte im Interview ihre Arbeitszeiten wie folgt: „Manchmal schaffe ich es tatsächlich, um 18 Uhr zu gehen, aber das ist [lacht] eher selten. Im Schnitt würde ich sagen so 19 Uhr rum. Im Extremfall bin ich aber auch schon mal bis vier Uhr morgens da gewesen. Das kommt so ungefähr alle zwei Monate einmal vor. Also das ist sehr unterschiedlich. Ich würde sagen, in der Woche arbeite ich so etwas um die, also laut Arbeitsvertrag 40, aber in der Realität ist das dann glaube ich eher 60 [Stunden, C.R.-E.]“.

Die Überstunden werden der Projektmanagerin weder bezahlt noch durch Zeitausgleich abgegolten, was bei den interviewten Digicom-Arbeitern und -Arbeiterinnen durchaus keinen Einzelfall darstellt. Drei Personen (zwei Unternehmer/innen sowie ein fest angestellter Manager) gaben an, mehr als 61 Stunden pro Woche zu arbeiten. Sieben Interviewte schätzten ihre Wochenarbeitszeit zwischen 51 und 60 Stunden, sechs Personen zwischen 41

3

In der Online-Umfrage gab jede dritte Person an, E-Mails zumindest teilweise vor dem Schlafengehen und nach dem Aufstehen zu checken.

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und 50 Stunden ein. In den beiden letztgenannten Gruppen finden sich sowohl Unternehmer/innen als auch freiberuflich Beschäftigte und unselbstständig Tätige. Vier Digicom-Arbeiter/innen arbeiteten zum Zeitpunkt der Untersuchung weniger als 40 Stunden pro Woche. Es handelt sich dabei um zwei teilzeitbeschäftigte Frauen, einen hauptberuflichen Studenten und um einen selbstständigen Informatiker. Die hohe Bereitschaft zur Mehrarbeit (sowie der Erreichbarkeit über die Arbeitszeit hinaus, wie noch gezeigt werden wird) entspricht der Haltung des „unternehmerischen Selbst“ (Bröckling 2007), das seine Arbeit nicht als abgegrenzt von seinen anderen Lebensbereichen sieht, sondern bereit ist, seine gesamte Persönlichkeit in den Arbeitsprozess einzubringen. Für Personen mit flexibler Arbeitszeiteinteilung sind für die Wahl der Arbeitszeit pragmatische Überlegungen bzw. die Tagesverfassung ausschlaggebend. Ein 30-jähriger selbstständiger Informatiker etwa arbeitet gerne sonntags, wenn er sonst nichts zu tun hat. Für eine 45-jährige Wissenschaftlerin ist es abends oder sonntags besonders sinnvoll zu arbeiten, da sie zu diesen Zeiten viele Kollegen/Kolleginnen und Studierende online antrifft und sich mit ihnen per Chat unterhalten kann. Auch wenn im Gegensatz zu diesen beiden Fällen die meisten DigicomArbeiter/innen „arbeitsfreie“ Wochenenden anstreben, sind alle fast ausnahmslos auch zwischendurch am Wochenende beruflich tätig bzw. zumindest für Anfragen erreichbar oder bearbeiten ihre E-Mails (siehe Abschnitt 3). Digicom-Arbeiter/innen mit Kinderbetreuungspflichten versuchen ihre Arbeitszeit möglichst so zu gestalten, dass noch Zeit für die Kinder bleibt. Dies gelingt z.B., indem Teilzeit gearbeitet wird oder indem ein paar Nachmittagsstunden mit den Kindern verbracht werden und dann am Abend weitergearbeitet wird. Letzteres ist bei einem 37-jährigen Sales- und Marketingmanager der Fall, wie er im Interview erzählte: „Und in der Früh hole ich meine Zahlen und schaue mir an, was die To-Do-Liste ist, dann bringe ich die Kinder in die Schule. Also, ich stehe früher auf, dann mache ich Frühstück, dann bringe ich die Kinder in die Schule, und dann fängt meine Arbeit an. Das ist eben genau um sechs, da mache ich kurz meine E-Mails, dann bin ich für die Familie da zwei Stunden oder 1,5. Dann fange ich zum Arbeiten an, und am Abend ist es auch so. Wenn die Kinder noch munter sind, wenn ich nach Hause komme, da tue ich nichts ..., bin nur für die Kinder da, und dann arbeite ich wieder, wenn alle im Bett sind.“

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Voraussetzung für Arrangements dieser Art ist die ortssouveräne Nutzungsmöglichkeit digitaler Medien, um die Arbeit unkompliziert auch von zuhause aus aufzunehmen bzw. fortführen zu können. Die bereits erwähnte 45-jährige Wissenschaftlerin betonte sogar, dass digitale Medien und deren flexible Nutzungsweisen die Voraussetzung dafür sind, dass sie trotz zweier betreuungspflichtiger Kinder, Hund und Haus ihrer Erwerbsarbeit nachgehen kann. Entgrenzungsprozesse finden jedoch nicht einseitig statt, sondern betreffen auch private Erledigungen und private elektronische Kommunikation während der eigentlichen Arbeitszeit. In der Online-Umfrage gab knapp die Hälfte der Befragten an, während der Arbeit auch Privates zu erledigen, z.B. privat zu emailen, Social Network Sites zu pflegen oder OnlineShopping zu betreiben. Wie aus einigen Stellen in den Interviews interpretiert werden kann, könnten private Aktivitäten während der Arbeit von den Digicom-Arbeitern und -Arbeiterinnen als Ausgleich für ihren hohen Einsatz für das Unternehmen – sei es durch Mehrarbeit oder durch Erreichbarkeit in der Freizeit – gesehen werden. Dies ist etwa bei einer 40-jährigen Projektmanagerin der Fall, welche die Vermischung von Lebensbereichen für sich ambivalent bewertet: „Vorteil ist wenn ich sage: ‚Ok, ich gehe auf Lunch wann immer ich will, teile mir meine Arbeit ein, verschwende Zeit an Skype, auf Skype wenn meine Schwester online ist‘. Nachteile natürlich, wenn der Chef im Urlaub anruft und sagt: ‚Ich brauche den und den Plan‘. Oder am Wochenende. Es hält sich die Waage. Es stört mich nicht wirklich, wie gesagt. Ich habe Vorteile und Nachteile.“

Angesichts des hohen Ausmaßes an Mehrarbeit, das die DigicomArbeiter/innen leisten, und ihres hohen Engagements für den Beruf kann jedoch davon ausgegangen werden, dass derartige Ablenkungen zumindest im Sample der Digicom-Arbeiter/innen kaum zu Minderleistungen führen.

2.2. Entgrenzung durch örtliche Flexibilität Die Arbeitsrealität der Digicom-Arbeiter/innen ist nicht nur durch zeitliche, sondern auch durch ein hohes Ausmaß an örtlicher Flexibilität gekennzeichnet. Die Mehrheit von ihnen kann den Arbeitsort weitestgehend frei

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wählen. Dies betrifft die Führungskräfte, Selbstständigen bzw. freiberuflich Tätigen sowie die drei Wissenschaftler/innen der Untersuchungsgruppe. Überwiegend örtlich an das Firmengebäude gebunden arbeiten vier Digicom-Arbeiter/innen, welche allesamt festangestellt sind und dabei hochqualifizierten und verantwortungsvollen Tätigkeiten nachgehen. Diese Personen können entweder im Rahmen von fest installierten „Home-OfficeTagen“ oder in sonstigen Ausnahmefällen auch teilweise von zuhause aus arbeiten. Drei Digicom-Arbeiter/innen, welche in den unteren Hierarchieebenen einer Festanstellung nachgehen, sind bei ihrer Arbeit gänzlich an den Standort des Unternehmens gebunden. Es sind dieselben Personen, welche auch fix vereinbarte Arbeitszeiten haben. Dies lässt den Schluss zu, dass örtliche Flexibilität, genauso wie die zeitliche, zunehmend mit steigender Hierarchie bzw. mit größerer Unabhängigkeit von unternehmerischen Strukturen (wie es etwa bei freiberuflich Arbeitenden der Fall ist) gegeben ist. Der Vergleich mit den Daten aus der Online-Umfrage bestätigt die hierarchische Stellung bzw. die Bindung an das Unternehmen als bedeutendes Unterscheidungskriterium hinsichtlich der örtlichen Flexibilität. So sind die weitestgehend nicht in Führungspositionen tätigen Befragten aus der Online-Umfrage örtlich deutlich weniger flexibel als die interviewten DigicomArbeiter/innen, die sich häufig in Führungspositionen befinden bzw. auf freiberuflicher bzw. selbstständiger Basis tätig sind. Wie die im Vorfeld der Interviews erhobenen Mediennutzungsprotokolle sowie die Aussagen aus den Interviewgesprächen erkennen lassen, arbeiten die örtlich ungebundenen Digicom-Arbeiter/innen an den verschiedensten Plätzen: im Büro, zuhause (sogar im Bett), im Grünen, unterwegs (Bahn, Flugzeug, Wartehallen, Auto …), im Caféhaus oder im Hotel. Das Kriterium der Effizienz steht im Mittelpunkt der Überlegungen, an welchen Orten die Arbeit verrichtet wird. Ist ein Tapetenwechsel nötig, um frische Energie zu tanken und auf neue Ideen zu kommen, wird gezielt auch ein Café aufgesucht oder die Arbeit in freier Natur verrichtet. Wartezeiten, die z.B. bei Geschäftsreisen in Transitzonen entstehen oder aber auch im privaten Rahmen, werden ebenfalls mit beruflichen Tätigkeiten überbrückt, indem etwa via Smartphone rasch E-Mails gecheckt und beantwortet werden. Vor allem das Home-Office wird alternierend zum Firmenbüro gerne für konzentrierte Arbeitsphasen genutzt, da die Digicom-Arbeiter/innen hier in weitestgehend störungsfreier Umgebung sind. Zudem entfallen Fahrtzeiten

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zum und vom Büro, welche im Sinne der Effizienz wiederum zum Arbeiten genutzt werden können. Eine festangestellte Digicom-Arbeiterin erklärte die Vorteile dieses Vorgehens wie folgt: „Ich kann ganz früh anfangen und habe diese Fahrerei nicht und spare mir dadurch halt Zeit. Vieles kann man halt von zuhause aus erledigen, von dem was ich arbeite. Es ist ganz oft auch so, dass ich konzentrierter bin weil ich nicht ständig ... das Telefon geht auch, aber ich habe da jetzt nicht die Möglichkeit mit anderen zu sprechen oder dass mal jemand rein kommt ins Zimmer.“

Wie in dem Zitat anklingt, erreichen die Digicom-Arbeiter/innen sehr wohl auch im Home-Office berufliche Anfragen, z.B. in Form von Telefonaten. Die Störungen halten sich jedoch in Grenzen, da zumindest keine Interaktion face-to-face stattfindet. Aber auch die örtlich gebundenen Arbeitnehmer/innen erledigen oftmals im Rahmen von Überstunden Arbeit zuhause, um nicht Erledigtes abzuschließen oder um in Ruhe Recherchen durchzuführen. Ich nenne dieses Phänomen komplementäre Telearbeit. Diese Form der Entgrenzung wird durch die ortsunabhängige Nutzungsmöglichkeit digitaler Medien gefördert. Notebook, Tablet PC, Smartphone und vor allem mobiles Internet, WLan sowie Remote Control 4 sind die transportable Arbeitsumgebung der Digicom-Arbeiter/innen und die Werkzeuge der Entgrenzung. „Mein Büro [ist, C.R.-E.] der Computer in dem alles drinnen ist, was ich brauche und ich da natürlich auch mobilen Internetzugang eingebaut habe. Da ist es ganz egal, wo ich mich aufhalte“, erzählt ein 43-jähriger Unternehmer, der auch schon einmal ein Online-Seminar (Webinar) am Badestrand veranstaltet hat. Die Visualisierung, welche ein 29-jähriger TV-Aufnahmeleiter zum Impuls „Das ist mein Arbeitsraum“ angefertigt hat, illustriert den Stellenwert von digitalen Medien für entgrenztes Arbeiten (siehe Abbildung 1). In der Erklärung seiner Zeichnung sagte der Digicom-Arbeiter, dass sein Smartphone die „reduzierteste Form von Kommunikation“ sei, die er für seine Arbeit benötige und dass es in dieser Hinsicht seinen Arbeitsraum

4

Remote Control ist eine softwarebasierte Anwendung ähnlich einer Fernsteuerung, mit deren Hilfe bei aufrechter Netzwerkverbindung von einem beliebigen Computerarbeitsplatz auf einen anderen eingeschalteten Computer zugegriffen werden kann.

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darstellt. Dieser ist flexibel transportierbar und trägt damit zur Entgrenzung von beruflichen und privaten Sphären bei. Abbildung 1: Das Büro reduziert auf das Smartphone, 29-jähriger TVAufnahmeleiter

3. Z UM A LWAYS - ON

DIGITALER

ARBEITSKULTUREN

Wie aus dem vorherigen Abschnitt hervorgeht, spielen digitale Medien eine zentrale Rolle bei der Neuformierung von Lebensbereichen. Dies betrifft nicht nur den Bereich der komplementären Telearbeit, sondern auch jenen der beruflichen Kommunikation, welche via Telefon, Instant Messenger oder E-Mail die Freizeit unterbricht. Auch schon die Tatsache, für ein Unternehmen erreichbar zu sein, kann Auswirkungen auf das Wohlbefinden in der arbeitsfreien Zeit haben – selbst dann, wenn das Unternehmen diese Möglichkeit der Kontaktaufnahme nicht nutzt. Deshalb plädiert die Kommunikationswissenschaftlerin Miriam Meckel für eine „sporadische Unerreichbarkeit“ (Meckel 2007, 153), eine gezielte temporäre Auszeit von Kommunikationsmedien. Einige der befragten Digicom-Arbeiter/innen zelebrieren diese Enthaltsamkeit bewusst und verzichten sogar weitgehend auf private Medienkommunikation in der Freizeit, um Abstand zu den Technologien zu gewinnen. Den meisten Interviewten jedoch stellt sich die von Meckel umformulierte Shakespeare‘sche Seins-Frage “to be connected or not to be“ (Meckel 2001, 64). Beispielhaft ist der Fall eines freiberuflichen Digicom-Arbeiters. Aufträge werden ihm oftmals sehr kurzfristig, z.B.

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am Abend vor dem Abgabetermin, mitgeteilt. Ist er gerade nicht erreichbar, wird der Auftrag an jemand anderen vergeben. Die nicht gegebene Erreichbarkeit wird in diesem Fall nachträglich sanktioniert – die Frage der Erreichbarkeit ist auf eigenes Risiko zu klären.

3.1. Permanente kommunikative Präsenz Wie die Resultate der Online-Umfrage, dargestellt in Abbildung 2, zeigen, ist die Mehrheit der Befragten auch außerhalb ihrer Arbeitszeit für ihr Unternehmen erreichbar. Lediglich fünf Prozent stehen ihren Unternehmen bzw. Kunden/Kundinnen in der Freizeit überhaupt nicht zur Verfügung. Bemerkenswert ist, dass über 40 Prozent der Befragten angaben, auf freiwilliger Basis erreichbar zu sein, während bei lediglich drei Prozent diese Erreichbarkeit auch unternehmensseitig erwartet bzw. verlangt wird. Dieses Ergebnis verweist zum einen auf eine stark subjektivierte Haltung der Arbeitenden und zum anderen auf ein „Dispositiv mediatisierter Konnektivität“ (Steinmaurer 2013, 8), womit der Kommunikationswissenschaftler Thomas Steinmaurer die Dauervernetztheit des Individuums als eine neue Kommunikationsform identifiziert. Zudem lassen Aussagen aus den Interviews die Interpretation zu, dass Unternehmen ihre Erwartungshaltung subtiler ausdrücken, sodass diese implizit übernommen wird. Ein Beispiel ist der Fall des oben erwähnten freiberuflichen Digicom-Arbeiters. Direktere Erwartungshaltungen, auch im Rahmen der Freizeit für das Unternehmen verfügbar zu sein, sind mit der unternehmensseitigen Ausstattung von Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen mit statusträchtigen Geräten (v.a. Smartphones) verbunden, wodurch sich die Arbeitenden dem Unternehmen gegenüber verpflichtet fühlen. „Ja, ja. Logisch! Dafür haben wir den BlackBerry!“, lautet die Antwort einer Digicom-Arbeiterin auf die Frage nach ihrer beruflichen Erreichbarkeit außerhalb der Arbeitszeiten, welche ähnlich auch von weiteren DigicomArbeitern und -Arbeiterinnen beantwortet wurde. Indem Thomas Steinmaurer die oben erwähnte Dauervernetzung als Dispositiv bezeichnet, verweist er insbesondere auf die hegemonialen Strukturen, auf die Zwänge und Risiken, welche damit einhergehen (vgl. Steinmaurer 2013, 8f.). Diese lassen sich durch die impliziten und expliziten Erwartungen der Unternehmen und den Druck, erreichbar zu sein, anhand der Studienergebnisse bestätigen.

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Abbildung 2: Erreichbarkeit der online Befragten Erreichbarkeit in der Freizeit (N=445; %) Ich bin prinzipiell erreichbar, aber meine ArbeitgeberInnen bzw. die KollegInnen nutzen die Möglichkeit nur selten.

54,8

Ich bin eigentlich immer erreichbar, aber auf freiwilliger Basis.

41,8

Man kann mich kontaktieren, ich reagiere aber nicht immer darauf.

36,4

Ich bin im Falle von Krankheit erreichbar.

34,8

Ich bin in Ausnahmefällen, die konkret vereinbart werden, erreichbar.

28,1

Ich bin am Wochenende erreichbar.

25,8

Ich bin im Urlaub erreichbar.

18,4

Ich habe ein schlechtes Gewissen, wenn ich nicht sofort auf eine Anfrage außerhalb meiner Arbeitszeit reagiere. Ich bin überhaupt nicht erreichbar. Von mir wird permanente Erreichbarkeit verlangt und/oder erwartet.

11 5,2 3,4

Wie die meisten online Befragten ist auch die Mehrheit der interviewten Digicom-Arbeiter/innen nach eigenen Angaben ständig erreichbar, sei es via (Mobil-)Telefon oder durch regelmäßiges Checken von E-Mails. Kann ein Telefonat nicht sofort entgegengenommen werden, wird möglichst schnell zurückgerufen. Nur wenige Digicom-Arbeiterinnen und -Arbeiter lehnen dies für sich ab und schalten das Mobiltelefon auch einmal ganz ab, legen es weg bzw. gehen bewusst nicht ans Telefon und checken auch keine beruflichen E-Mails in der Freizeit. Die Mehrheit ist für ihre Unternehmen bzw. für ihre Kundinnen und Kunden permanent kommunikativ präsent. Auch wenn rasche Reaktionen und schnelle Kommunikationswege von den Digicom-Arbeitern und -Arbeiterinnen in mediatisierten, beschleunigten und entgrenzten Arbeitszusammenhängen als notwendig gesehen werden, um laufende Arbeitsprozesse nicht zu blockieren und sich selbst informiert zu halten, wird die permanente kommunikative Präsenz teilweise und von einzelnen als „Fluch“ wahrgenommen. Die Technik „verfolgt einen natürlich auch überall hin“, stellte ein Beschäftigter mit Führungsverantwortung im Interview fest. Die Visualisierung einer Teilzeitbeschäftigten unterstreicht diesen negativen Aspekt der medialen Dauervernetztheit. Die Angestellte wird häufig außerhalb ihrer regulären Arbeitszeiten in beruflichen Angelegenheiten kontaktiert, sowohl via Mobiltelefon als auch

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per E-Mail. Da sie sich in ihrer arbeitsfreien Zeit um ihr Kleinkind kümmert, ist dies für sie schwer handzuhaben, wie sie im Interview erklärte: „Das ist halt einfach ein bisschen schwierig, weil ich dann auch im Grunde beiden nicht gerecht werden kann. Eigentlich will ich ja auch mit ihm [dem Kind, C.R.-E.] spielen, das ist ja auch meine freie Zeit, die ich mit ihm nutzen möchte. Auf der anderen Seite habe ich natürlich auch den Anspruch, dass ich den Anrufer oder das irgendwie erledigen möchte oder zur Zufriedenheit aller irgendwie die Sache gelöst haben möchte. Das ist für mich auch unbefriedigend, wenn ich dann sage: ‚Tut mir leid, ich kann jetzt nicht mehr, weil mein Kind hier schreit‘. Das ist auch für einen selber dann blöd.“

Ihre visualisierte Antwort auf die Frage, was digitale Medien für ihre Arbeit bedeuten, ist in Abbildung 3 dargestellt. Der äußere Kreis, so die DigicomArbeiterin, symbolisiere „das Einnehmende“ der Medien (Internet, Mobiltelefon, Festnetztelefon und Notebook). Sie fühlt sich ihren eigenen Angaben zufolge in diesem Kreis gefangen. Dass die Angestellte um ihre Person in der Mitte der Zeichnung einen weiteren Kreis gezeichnet hat, könnte ein Indiz dafür sein, dass sie die Grenze zwischen sich und dem Unternehmen zu ziehen versucht, worauf sie im Interview auch immer wieder zu sprechen kommt. Es scheint ihr jedoch nicht so zu gelingen, wie sie es sich wünscht, da sie als Teilzeitarbeitende auch selbst den Anspruch hat, ihr Unternehmen nicht im Stich zu lassen. Abbildung 3: Gefangen in digitalen Medien, festangestellte DigicomArbeiterin

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Der Fall der Teilzeitbeschäftigten kontrastiert mit jenem der oben erwähnten Wissenschaftlerin, für die das orts- und zeitsouveräne Arbeiten mit digitalen Medien eine Notwendigkeit ist, um ihre Arbeit und ihr Familienleben miteinander vereinbaren zu können. Diese unterschiedliche, teils auch widersprüchliche Wahrnehmung und Bewertung der Phänomene mediatisierter Arbeit ist ein zentrales Ergebnis der gesamten Studie (dazu mehr in Abschnitt 4).

3.2. Mediennutzungstypen im Fokus von Entgrenzung Wie aus den bisherigen Erläuterungen hervorgegangen ist, sind Praktiken der Grenzziehung – aufgrund des strategischen Charakters dieser Verhaltensweisen könnte man auch von Grenzmanagement sprechen – eine individuelle Angelegenheit. Diese werden von den Arbeitenden je nach biographischem und beruflichem Kontext, aber auch abhängig von individuellen Präferenzen und von konkreten Situationen unterschiedlich gestaltet. Im Rahmen der quantitativen Auswertung wurde aus den durch die OnlineUmfrage gewonnenen Datensätzen mittels Clusteranalyse eine Typenbildung durchgeführt, welche es erlaubt, trotz individueller Praktiken Profile von ähnlichen Umgangsweisen, Motiven und Werthaltungen in Zusammenhang mit der Mediennutzung der Befragten zu erstellen. 5 Diese Mediennutzungstypen geben auch Aufschluss darüber, wie die Online-Befragten mit dem Thema der Entgrenzung von Arbeit umgehen und wie sie diese wahrnehmen. Folgende Mediennutzungstypen kristallisierten sich aus den Daten heraus: 6 Die Geplagten (28 Prozent), die Medienprofis (23 Prozent), die Skeptiker/innen (20 Prozent), die Optimistinnen und Optimisten (17 Prozent) sowie die Wenig-Nutzer/innen (12 Prozent). Letztgenannte nehme ich aus der weiteren Beschreibung aus, da sie aufgrund der geringen Intensität der Mediennutzung für die Zusammenhänge zwischen Mediennutzung und Entgrenzung keine relevanten Daten liefern.

5

Die statistischen Berechnungen wurden von Mag. Dr. Birgit Senft, M.Eval.

6

Ich beziehe mich in diesem Abschnitt auf die Beschreibung der Mediennut-

durchgeführt. zungstypen aus meiner Habilitationsschrift (vgl. Roth-Ebner 2013, 242-264).

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Die Geplagten Die Arbeitsrealität der Geplagten ist vor allem durch Flexibilität geprägt, sowohl in zeitlicher Hinsicht als auch bezüglich der Arbeitsorte. Private und berufliche Lebensbereiche verschwimmen bei diesem Typus stark. Viele haben sich auch zuhause ein Büro eingerichtet, von wo aus sie zumindest teilweise arbeiten; daneben arbeiten sie aber auch unterwegs, z.B. im Flugzeug oder in der Bahn. Die meisten von ihnen sind der Meinung, digitale Medien würden die flexible Gestaltung von Arbeitszeiten und orten erleichtern. Geplagte nutzen wie alle Typen stark das Internet, aber auch intensiv das Mobiltelefon. Wie der Clustername schon verrät, leiden die Geplagten in vielerlei Hinsicht unter den Herausforderungen der Mediennutzung, so auch unter dem Druck, erreichbar zu sein. Personen dieses Typus checken häufig ihre beruflichen E-Mails vor dem Schlafengehen und/oder nach dem Aufstehen und sind (meist auf „freiwilliger Basis“) auch außerhalb der Arbeitszeit erreichbar, also teilweise auch an Wochenenden, im Urlaub oder im Krankenstand. Von allen Typen sind sie diejenigen, die am ehesten ein schlechtes Gewissen bekommen, wenn sie nicht sofort auf eine berufliche Anfrage außerhalb der Arbeitszeit reagieren (17 Prozent der Geplagten gaben dies an). Überhaupt arbeiten Geplagte vielfach auch in ihrer „Freizeit“ 7, wozu die Ubiquität von digitalen Medien Vorschub leistet. Gleichzeitig gaben sie an, sich in der arbeitsfreien Zeit bewusst weniger mit Medien zu beschäftigen. Sehr oft bringen sie auch private Ressourcen (Computerausstattung, Mobiltelefon usw.) in die Arbeit ein. Personen des Typus der Geplagten haben am wenigsten Ausgleich zur Arbeit von allen Typen. Dies alles führt zu einer schlechten „Balance“ 8 zwischen Arbeit und Privatleben, der schlechtesten im Vergleich mit den

7

Der Begriff „Freizeit“ muss hier jedoch relativiert betrachtet werden, denn wenn die eigentlich arbeitsfreie Zeit mit Arbeit verbracht wird, kann sie weder als frei von beruflichen Verpflichtungen gesehen werden noch trägt dies zur Erholung von der Arbeit bei.

8

Auch wenn sich bei weitestgehend entgrenzten Arbeitsbedingungen die Frage nach der „Balance“ zwischen Arbeit und Privatleben anders stellt als bei einem Nine-to-Five-Job, der im Büro erledigt wird, verwende ich die Formulierung, da sie auch im Fragebogen so verwendet wurde. Nicht zuletzt ist gerade bei entgrenzt arbeitenden Menschen diese Frage ein Gradmesser, wie belastend sie ihren entgrenzten Alltag empfinden.

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anderen Gruppen. 9 Der Typus der Geplagten enthält wenig überraschend den größten Anteil an Selbstständigen; außerdem sind in diesem Typus die meisten Personen mit Kindern zu finden. Die Medienprofis Hochflexibel und entgrenzt ist auch die Arbeitsweise der Medienprofis. Sie unterscheiden am wenigsten von allen Gruppen zwischen privaten und beruflichen Lebensbereichen. Sie haben die flexibelsten Arbeitszeiten und sind auch räumlich/örtlich am unabhängigsten (nur vier Prozent von ihnen haben genau festgelegte Arbeitszeiten). Es sind die digitalen Medien, welche ihnen zu dieser Flexibilität verhelfen; von allen Gruppen ist dieser Aspekt bei den Medienprofis am stärksten ausgeprägt. Medienprofis sind besonders medienaffin. Sie bedienen sich – nicht nur beruflich, sondern auch privat – eines großen Repertoires an Kommunikationsmedien wie Mobilkommunikation, Instant Messaging, Online-Netzwerken, Webmeetings oder digitaler Kalender. Personen dieser Gruppe arbeiten immer und überall und leisten von allen Typen am meisten Mehrarbeit. Dementsprechend haben sie eine schlechte (nach den Geplagten die zweitschlechteste) „Balance“ zwischen beruflichen und privaten Lebensbereichen. Am häufigsten von allen Typen gaben Medienprofis an, ihre E-Mails vor dem Schlafengehen oder bereits nach dem Aufstehen zu checken, und sie sind auch am meisten von allen in der arbeitsfreien Zeit für berufliche Anfragen erreichbar, z.B. am Wochenende, im Krankenstand oder im Urlaub. Oft verwenden sie auch private Ressourcen für die Arbeit. Sie lassen sich aber auch bei der Arbeit durch private Medientätigkeiten (z.B. Online-Shopping) ablenken. In demografischer Hinsicht ist bei den Medienprofis auffällig, dass diesem Typus viele Personen in leitenden Funktionen und Selbstständige angehören, sehr häufig auch aus der IT-Branche. Im Vergleich zu den anderen Typen haben die Medienprofis eher weniger Kinder. Die Skeptiker/innen Skeptiker/innen sind von allen Typen räumlich am meisten an den Arbeitsort gebunden und zeitlich am wenigsten flexibel. Sie trennen am stärksten

9

Die Ergebnisse zur „Balance“ zwischen Arbeit und Privatleben resultieren aus den Antworten auf die Frage in der Online-Befragung, wie leicht bzw. schwer den Befragten diese „Balance“ im Alltag fällt.

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von allen zwischen beruflichen und privaten Lebensbereichen und nehmen auch selten Arbeit mit nach Hause. Ebenso selten kommt es vor, dass sie unterwegs oder auf Reisen arbeiten. Skeptiker/innen haben eine generell kritische Einstellung zu digitalen Medien. Die Erreichbarkeitsproblematik (in der Freizeit) stellt sich ihnen jedoch (im Unterschied zu den Geplagten) kaum. Skeptiker/innen gaben mit 40 Prozent im Vergleich zu den anderen Typen oft an, dass es konkret vereinbarte Ausnahmefälle sind, zu denen sie erreichbar sind. Von allen Gruppen haben sie am meisten Ausgleich zur Arbeit. In ihrer Freizeit beschäftigen sie sich bewusst weniger mit digitalen Medien. Im Vergleich zu anderen Typen nehmen sie (nach den WenigNutzern und -Nutzerinnen) am ehesten eine distanzierte Haltung zu digitalen Medien ein. Ihre „Balance“ zwischen beruflichen und privaten Lebensbereichen ist im mittleren Bereich, aber verglichen mit den Geplagten oder Medienprofis als gut einzuschätzen. Personen des Typus Skeptiker/in sind im Gegensatz zu den Geplagten und den Medienprofis selten in leitenden Funktionen bzw. als Selbstständige tätig. Die Optimistinnen/Optimisten Optimisten und Optimistinnen ähneln hinsichtlich der Separation von beruflichen und privaten Lebenssphären stark den Skeptikern/Skeptikerinnen. Sie sind im Wesentlichen an Arbeitsorte und -zeiten gebunden und in ihrer Freizeit kaum für den Betrieb erreichbar. Optimisten/Optimistinnen nutzen digitale Medien sehr pragmatisch und verfügen über hohe Kompetenzen im Grenzmanagement. Anders als die Skeptiker/innen sind sie durch eine positive Einstellung zu digitalen Medien charakterisiert und betonen demnach auch stärker die Vorteile als die Nachteile der Mediennutzung. Die Frage der Erreichbarkeit in der Freizeit für berufliche Belange sehen sie entspannt; immerhin ist diese für die Optimisten/Optimistinnen am wenigsten relevant. Ebenso selten nehmen sie Arbeit mit nach Hause. Auch ihnen gelingt – ähnlich wie den Skeptikern/Skeptikerinnen – die Trennung von beruflichen und privaten Lebensbereichen gut. Da sie eine positive Einstellung zu digitalen Medien haben, verzichten sie in der Freizeit weniger auf Medienaktivitäten als die Skeptiker/innen. Optimisten/Optimistinnen haben von allen Typen die beste „Balance“ zwischen Arbeit und Privatleben. In diesem Typus sind der Anteil an unselbstständig Erwerbstätigen sowie auch

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der Anteil an Teilzeitbeschäftigten am höchsten. Personen mit Kindern sind bei den Optimisten/Optimistinnen am wenigsten häufig zu finden. 10 Zusammengefasst verdeutlicht die Darstellung der Mediennutzungstypen abermals die Zusammenhänge zwischen der Art der Beschäftigungsverhältnisse bzw. der hierarchischen Position und dem Grad der Entgrenzung. Mit zunehmender Unabhängigkeit von unternehmerischen Strukturen und zunehmender Verantwortung geht eine stärkere Entgrenzung von beruflichen und privaten Lebensbereichen einher. In Zusammenhang damit scheint die Frage nach der „Balance“ zwischen Arbeit und Privatleben zu stehen, wobei diese bei entgrenzt Arbeitenden tendenziell schlechter ist als bei Personen mit stärkerer Separation der Lebensbereiche.

4. I NDIVIDUELLES G RENZMANAGEMENT Die Zuspitzung von Verhaltensweisen in Form von Mediennutzungstypen hat gezeigt, dass sich das Phänomen der Entgrenzung in Zusammenhang mit der Mediennutzung empirisch auf unterschiedliche Weise darstellt. Speziell die qualitativen Interviews verweisen auch auf die Tatsache, dass ein und dasselbe Phänomen sowohl Chancen und Risiken impliziert, sodass die Entgrenzung von Lebensbereichen mit Karin Lohr und Hildegard Nickel (2005) als „riskante Chance“ bezeichnet werden kann. Unter den Bedingungen einer zunehmenden Subjektivierung von Arbeit (Moldaschl/Voß 2002), welche die Arbeitenden in ihrer gesamten Individualität und Leistungskraft herausfordert und welche nach Eigenverantwortung, Selbstverwaltung und -organisation der Subjekte verlangt, sind diese „riskanten Chancen“ eine individuelle Angelegenheit und werden auch unterschiedlich wahrgenommen. Einige wenige Digicom-Arbeiter und -Arbeiterinnen sehen die Entgrenzung von Lebensbereichen als Bereicherung für ihr Leben und ziehen da-

10 Das Ergebnis, wonach der Typus der Optimisten/Optimistinnen von allen Typen die wenigsten Personen mit Kindern beinhaltet und jener der Geplagten die meisten, lässt die Annahme zu, dass Personen mit Betreuungspflichten unter den Herausforderungen digitaler Medien stärker leiden. Auch wenn die Interviews diese Ansicht unterstützen, sind differenziertere Untersuchungen erforderlich, um die Hypothese bestätigen zu können.

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raus kreatives Potential. Andere wiederum erlauben ein gewisses Maß an Entgrenzung, um unternehmensweite oder teaminterne Prozesse nicht zu behindern. In diesem Fall spielt das Motiv der Effizienz, gepaart mit Solidarität, eine zentrale Rolle, wie eine festangestellte Digicom-Arbeiterin mit Führungsverantwortung erklärte. Dass sie auch am Wochenende ihre EMails checkt, begründete sie wie folgt: „Ich sage einmal so. Samstags gibt es viele Kollegen, die Samstagvormittag oder Nachmittag noch Sachen aufarbeiten. So nach dem Motto: ‚Kurz reinschauen und schauen, brennt da was? Traut er sich bloß nicht anzurufen?‘ Das mache ich durchaus.“ Der Großteil der Digicom-Arbeiterinnen und -Arbeiter betreibt in irgendeiner Form Grenzmanagement, sei es durch räumliche Abgrenzung, durch Unterscheidung zwischen beruflichen und privaten Geräten oder durch so genanntes Erreichbarkeitsmanagement.

4.1. Räumliche Grenzziehung Die Grenzlinie zwischen dem Privaten und dem Beruflichen wird – sofern möglich – vor allem anhand räumlicher Kriterien gezogen. Exemplarisch formuliert dies eine 30-jährige Produktmanagerin so: „Wenn ich da rausgehe, dann bin ich in der Freizeit. Sobald ich die Tür von dem Büro zumache, ist das hinter mir. In der Früh fängt es an, wenn ich da bin.“ Gefragt danach, wie sie es empfinde, wenn sie von zuhause aus arbeite, sagte sie, dass dies eher zur Freizeit zähle, weil zuhause ihr privater Ort sei. D.h., auch wenn dies nicht so wahrgenommen wird, greift die Arbeit auf den privaten Bereich über. Dies ist auch der Grund, warum eine andere DigicomArbeiterin am Wochenende zum Arbeiten extra ins (unweit entfernte) Büro fährt und bewusst nicht zuhause arbeitet. So bleibt das Private frei von Arbeit. Ein 30-jähriger Informatiker, der auf selbstständiger Basis an Projekten arbeitet, verfügt über kein Büro, das von seinem Wohnort getrennt wäre. Dennoch nutzt er in seiner Privatwohnung ausschließlich das Arbeitszimmer zum Arbeiten, um den Rest der Wohnung „privat“ zu halten. Für die Zukunft wünscht er sich eine Arbeitsplatzsituation, welche ihm ein Arbeiten außer Haus ermöglicht. Diesen Wunsch teilen auch weitere freiberuflich Arbeitende, welche von zuhause aus arbeiten.

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4.2. Trennung mittels kommunikationstechnologischer Infrastruktur Eine weitere Form der Grenzziehung bezieht sich auf die kommunikationstechnologische Infrastruktur. Getrennte E-Mail-Accounts für berufliche und private Belange sind eine gängige Maßnahme von Digicom-Arbeitern und -Arbeiterinnen. Teilweise werden diese auch mittels unterschiedlicher Geräte (Notebooks) verwaltet und genutzt. Dies ermöglicht die Konzentration auf rein private oder rein berufliche Nachrichten und Aufgaben, je nachdem, in welcher Sphäre man sich gerade bewegt. Gebündelt werden private und berufliche Mitteilungen häufig auf den Smartphones der Digicom-Arbeiter und -Arbeiterinnen, die ihnen jederzeit mobilen Zugriff auf ihre E-Mails ermöglichen. Zwar, so betonen jene, die ihre E-Mails via Smartphone abrufen, sei an der Anzeige erkennbar, ob es sich um jeweils berufliche oder private Nachrichten handle. In der Regel werden die beruflichen E-Mails via Smartphone dann aber zumindest zum Teil auch in der Freizeit abgerufen. Außerdem kann schon die alleinige Anzeige, man hätte eine berufliche E-Mail erhalten sowie die Sichtbarkeit der Absenderin/des Absenders und des Betreffs eine Belastung darstellen.

4.3. Erreichbarkeitsmanagement Wie gezeigt wurde, ist nicht nur die Mehrheit der Digicom-Arbeiter und -Arbeiterinnen, sondern auch der Großteil der Online-Befragten außerhalb der Arbeitszeit für berufliche Belange erreichbar. Dennoch setzen einzelne Personen bewusst Grenzen, was ihre berufliche Verfügbarkeit außerhalb der Arbeitszeit betrifft. Dies passiert häufig in Zusammenhang mit individuellen Überlegungen, welche teils strategischen Charakter haben, teils aber dem spontanen Empfinden Rechnung tragen. Ein Beispiel für ersteres ist ein 29-jähriger TV-Aufnahmeleiter. Er ist prinzipiell bereit, auch in der Freizeit für sein Unternehmen ansprechbar zu sein, setzt dazu aber bewusst Ausnahmen: „[…] exzessiv soll es natürlich auch nicht sein, sonst gewöhnen sich die Leute daran. Also das ist auch eine Erziehungsmaßnahme oder der Gedanke einer Erziehungsmaßnahme dahinter, dass ich dann eben nicht immer abnehme. Weil sonst ge-

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wöhnen sich die Leute daran, dass man eh immer erreichbar ist und sich immer um alles kümmert.“

Die Haltung des Digicom-Arbeiters ist exemplarisch für viele andere, welche für sich selbst einen Kompromiss aus dem Verfügbarsein für das Unternehmen und dem Achten auf das eigene Wohlbefinden schließen. Häufig werden Anrufbeantworter und Mailboxen als Filter genutzt. Die darauf deponierten Nachrichten können zeitsouverän abgehört werden, und gegebenenfalls kann zeitverzögert darauf reagiert werden. Diese Strategie wird nicht nur in der Freizeit angewandt, sondern durchaus auch während der Arbeit, um ungestört an einer Aufgabe arbeiten zu können. In Unternehmen, welche zur internen Kommunikation Instant Messenger verwenden, kann über den Präsenzstatus die Nicht-Erreichbarkeit signalisiert werden, wie eine 30-jährige Produktmanagerin im Interview erklärte: „Ja, es gibt eh nur fünf verschiedene Statustypen, Meldungen halt […] das ist das ‚Abwesend‘, wenn ich wirklich nicht am Platz bin. Dann gibt es ‚Beschäftigt‘, das ist bei uns in letzter Zeit sehr beliebt. Da bekommst du gar keine ... Normalerweise wenn du angeschrieben wirst, kommt ein Pop-Up. Du siehst sofort die Nachricht. Und wenn du aber ‚beschäftigt‘ bist, dann wird das unterdrückt, dann kommt das nicht. […] Und ‚unsichtbar‘ ist man eigentlich nie bei uns, weil man eh den ganzen Tag online ist. Weil wir es eben auch brauchen, um miteinander zu kommunizieren. Da hat es keinen Sinn, dass man da unsichtbar ist.“

Die zitierte Digicom-Arbeiterin leitet ein virtuelles Team, das an einem Firmenstandort im Ausland arbeitet. Die Statustypen, welche Auskunft über die virtuelle Präsenz der Personen geben, erleichtern die Kommunikation und stellen eine Transparenz des gesamtes Teams her, welche mittels konventioneller („alter“) Medien wie etwa dem Telefon nicht möglich wäre. Die Ergebnisse aus der Online-Umfrage bestätigen den individualisierten Umgang mit der Erreichbarkeit. Lediglich ein Drittel der Befragten gab an, es gäbe dazu klare Regeln im Team bzw. im Kolleg/inn/enkreis, während dies auf die Hälfte der Befragten nicht zutrifft.

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5. R EFLEXION UND AUSBLICK Die Ausführungen zur Mediatisierung und Informatisierung von Arbeit in Zusammenhang mit der Neuformierung von Lebensbereichen lassen sich im Lichte der Theorie der Individualisierung interpretieren, die in gegenwärtigen entgrenzten, flexibilisierten und subjektivierten Arbeitszusammenhängen anhaltend aktuell ist. In der Gegenwartsgesellschaft muss die/der Einzelne immer wieder eigene Entscheidungen treffen, sodass er/sie von Beck-Beck-Gernsheim als „homo optionis“ (1994a, 16) bezeichnet wird. Zudem muss das Individuum in einer beschleunigten Gesellschaft auch unmittelbar dazu im Stande sein, Entscheidungen zu treffen. Wenn im Fall des erwähnten freiberuflichen Digicom-Arbeiters abends das Telefon läutet und er sieht, es ist sein Chef, der ihn sprechen möchte, muss er sofort entscheiden, ob er den Anruf beantwortet oder nicht, wodurch ihm gegebenenfalls ein Auftrag verloren geht. Individualisierung bedeutet auch Destabilisierung (vgl. Lash 2011, viii). Die offerierten Freiheiten, die Wahlfreiheiten können mit Ulrich Beck und Elisabeth Beck-Gernsheim als „riskante Freiheiten“ (Beck/Beck-Gernsheim 1994b) bezeichnet werden, da mit jeder Entscheidung Möglichkeiten wegfallen und Risiken/Zwänge hinzukommen. Die Studienergebnisse haben gezeigt, wie die Nutzung von Informations- und Kommunikationstechnologien individuelles Handeln fördert, aber auch erfordert. Lösungsansätze, welche lediglich auf der Ebene der Individuen ansetzen, greifen jedoch zu kurz. Es bedarf auch auf der Strukturebene Regulatorien, die das Handeln steuern bzw. einen Rahmen dafür bereitstellen. So sind etwa gesetzliche Bestimmungen zur Thematik der Erreichbarkeit (weiter) zu entwickeln, welche in Unternehmen verbindlich umgesetzt werden und der systematischen Ausbeutung von unter dem Druck des prekären Arbeitsmarktes stehenden „allzeit bereiten“ Arbeitskräften vorbeugen. Die Studienergebnisse verweisen weiters auf die gegenwärtigen zentralen Triebkräfte des Kapitalismus und Neoliberalismus, deren Wertesysteme sich auch die Arbeitenden weitestgehend anschließen. Dies manifestiert sich einerseits in deren Grundhaltung als „Arbeitskraftunternehmer[/innen]“ (Voß/Pongratz 1998), indem sie sich selbst als Unternehmen begreifen, die auf dem Markt reüssieren müssen. Andererseits zeigt sich dies in deren Streben nach Effizienz, verstanden als „möglichst günstiges Verhältnis von Aufwand und Ertrag“ (Wilhelmi 2012, 97). So hat sich Effi-

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zienz in meiner Studie als zentraler Wert und Maßstab des Handelns der Digicom-Arbeiter/innen und auch der darüber hinaus online befragten Personen herausgestellt. In Anlehnung an Richard Sennetts „Flexiblen Menschen“ (Sennett 2006) spreche ich daher vom effizienten Menschen, zumindest was die Ergebnisse zur mediatisierten Arbeit anbelangt. Sharon Kleinman hat aber mit ihrem Sammelband „The Culture of Efficiency“ (2009) gezeigt, dass dies durchaus auch in anderen gesellschaftlichen Bereichen Gültigkeit hat.

L ITERATUR Bauman, Zygmunt (2003): Flüchtige Moderne. Frankfurt a.M.. Beck, Ulrich (1994): Jenseits von Stand und Klasse? In: Beck, Ulrich/BeckGernsheim, Elisabeth (Hrsg.): Riskante Freiheiten. Individualisierung in modernen Gesellschaften. Frankfurt a.M., 43-60. Beck, Ulrich/Beck-Gernsheim, Elisabeth (1994a): Individualisierung in modernen Gesellschaften. Perspektiven und Kontroversen einer subjektorientierten Soziologie. In: Beck, Ulrich/Beck-Gernsheim, Elisabeth (Hrsg.): Riskante Freiheiten. Individualisierung in modernen Gesellschaften. Frankfurt a.M., 10-39. Beck, Ulrich/Beck-Gernsheim, Elisabeth (Hrsg.) (1994b): Riskante Freiheiten. Individualisierung in modernen Gesellschaften. Frankfurt a.M.. Bröckling, Ulrich (2007): Das unternehmerische Selbst. Soziologie einer Subjektivierungsform. Frankfurt a.M.. Flick, Uwe (2000): Triangulation in der qualitativen Forschung. In: Flick, Uwe/Kardorff, Ernst v./Steinke, Ines (Hrsg.): Qualitative Forschung. Ein Handbuch. Reinbek bei Hamburg, 309-318. Glaser, Barney G./Strauss, Anselm L. (1967): The Discovery of Grounded Theory. Strategies for Qualitative Research. New York. Kleinman, Sharon (Hrsg.) (2009): The Culture of Efficiency. Technology in Everyday Life. New York. Lash, Scott (2011): Individualization in a Non-Linear Mode. Foreword. In: Beck, Ulrich/Beck-Gernsheim, Elisabeth: Individualization, Institutionalized Individualism and its Social and Political Consequences. London et al., vii-xiii.

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Lohr, Karin/Nickel, Hildegard Maria (Hrsg.) (2005): Subjektivierung von Arbeit. Riskante Chancen. Münster. Mayer-Ahuja, Nicole (2004): Grenzen der Entgrenzung von Arbeit im Bereich Neue Medien. Ein Projektverbund geht ans Werk. In: Hirschfelder, Gunther/Huber, Birgit (Hrsg.): Die Virtualisierung der Arbeit. Zur Ethnographie neuer Arbeits- und Organisationsformen. Frankfurt a.M., 267-272. Meckel, Miriam (2007): Das Glück der Unerreichbarkeit. Wege aus der Kommunikationsfalle. Hamburg. Meckel, Miriam (2001): Die globale Agenda. Kommunikation und Globalisierung. Wiesbaden. Moldaschl, Manfred/Voß, Günter G. (Hrsg.) (2002): Subjektivierung von Arbeit. München/Mering. Roth-Ebner, Caroline (2013): Mediatisierung von Arbeit. Zur Dynamik von Medien(kommunikation), Raum und Zeit in der Arbeitswelt. Habilitation. Universität Klagenfurt. Roth-Ebner, Caroline/ Waldher, Karin (2012): Editorial. In: MedienJournal 36, 1, 2-4. Schachtner, Christel (1993): Geistmaschine. Faszination und Provokation am Computer. Frankfurt a.M.. Sennett, Richard (2006): Der flexible Mensch. Die Kultur des neuen Kapitalismus. 2. Aufl. Berlin. Steinmaurer, Thomas (2013): Kommunikative Dauervernetzung. In: MedienJournal 37, 4, 4-17. Strauss, Anselm/Corbin, Juliet (1996): Grounded Theory. Grundlagen Qualitativer Sozialforschung. Weinheim. Voß, Günter G. (1998): Die Entgrenzung von Arbeit und Arbeitskraft. Eine subjektorientierte Interpretation des Wandels der Arbeit. In: Mitteilungen aus der Arbeitsmarkt- und Berufsforschung 31, 3, 473-487. Voß, Günter G./Pongratz, Hans J. (1998): Der Arbeitskraftunternehmer. Eine neue Grundform der „Ware Arbeitskraft“? In: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 50, 1, 131-158. Wilhelmi, Rüdiger (2012): Konsens durch Effizienz. Ordnungsökonomik als Utilitarismus? Korreferat zu Alexander Lenger und Nils Goldschmidt. In: Aufderheide, Detlef/Dabrowski, Martin (Hrsg.): Effizienz oder Glück? Wirtschaftsethische und moralökonomische Perspektiven der Kritik an ökonomischen Erfolgsfaktoren. Berlin, 95-104.

5. Frauen und Führung

Frauen und Führung: Erkenntnisse der Sozial- und Organisationspsychologie A LINA S. H ERNANDEZ B ARK UND R OLF VAN D ICK

1. E INLEITUNG Die Gleichberechtigung von Frauen und Männern im Arbeitsleben hat sich in den letzten Jahrzehnten in allen westlichen Industrienationen weiterentwickelt. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts erreichen Frauen gleiche bzw. höhere Bildungsabschlüsse als Männer und machen ca. 50% der Arbeitnehmenden aus (Catalyst 2012, 2014; Eurostat 2013b). Aber trotz dieser Fortschritte sind Frauen vor allem in den oberen Führungs- und Managementpositionen weiterhin – basierend auf ihrem Anteil an der Gesamtbevölkerung bzw. den Arbeitnehmenden – unterrepräsentiert (Catalyst 2013, 2014; European Commission 2013; Eurostat 2013a). Diese Entwicklung zeigt sich nicht nur in Deutschland, sondern in den meisten westlichen Ländern (United Nations 2010; Hernandez Bark/Escartin/van Dick 2014b). Früher wurde vor allem der Begriff der gläsernen Decke verwendet, welcher suggeriert, dass Frauen an irgendeinem Punkt ihrer Karriere an eine unsichtbare Decke stoßen, welche den weiteren Aufstieg verhindert und die sie nicht überwinden können (Morrison/White/Van Velsor 1987). Jedoch impliziert diese Metapher eine Passivität seitens der Frauen und die Überwindung nur eines Hindernisses (vgl. Eagly/Carli 2007). Dies spiegelt jedoch nicht die Realität wider, da Frauen auf dem Weg in die oberen Führungsetagen nicht auf eine undurchlässige Decke stoßen, sondern vielmehr mit verschiedenen Hindernissen oder Schwierigkeiten konfrontiert sind, welche es zu über-

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winden gilt (ebd). Daher ist die Metapher des Labyrinthes von Eagly und Carli (2007) passender und wird mittlerweile auch stärker verwendet. Im Rahmen dieses Beitrages werden zunächst die Grundlagen bzw. Ursachen dieser Hindernisse dargestellt, um dann auf Möglichkeiten für eine Erhöhung des Frauenanteils in Führungspositionen einzugehen.

2. G RUNDLAGEN DER U NTERREPRÄSENTANZ VON F RAUEN IN F ÜHRUNGSPOSITIONEN Betrachtet man mögliche Ursachen für die Unterrepräsentanz von Frauen in Führungspositionen, lassen diese sich in verschiedene Unterkategorien unterteilen. Ein Aspekt sind strukturelle Rahmenbedingungen, die die Vereinbarkeit von Beruf und Familie erleichtern. Hierzu zählen beispielsweise Kinderbetreuungsangebote oder Elternzeit (vgl. Hernandez Bark/Van Quaquebeke/van Dick in Druck). Diese strukturellen Bedingungen sollen jedoch nicht im Fokus dieses Beitrages stehen, sondern vielmehr psychologische Grundlagen der Unterrepräsentanz. Beschäftigt man sich mit den Grundlagen, sind vor allem zwei Ansätze von Bedeutung: der evolutionäre und der soziokulturelle Ansatz (vgl. Eagly/Wood 1999). Evolutionäre Ansätze nehmen an, dass Unterschiede zwischen Frauen und Männern auf geschlechtsspezifische Umweltanpassungen von Frauen und Männern im Laufe der Evolution zurückzuführen sind. Demnach besitzen Frauen und Männer evolutionär bedingt unterschiedliche Dispositionen und Verhaltenstendenzen, welche bis heute zum Tragen kommen. Somit beziehen sie sich auf distale, d.h. weiter zurückliegende und fernere, Ursachen. Soziokulturelle Ansätze hingegen nehmen an, dass Frauen und Männer sich an gesellschaftliche Normen anpassen, und dass diese Anpassung Unterschiede im Verhalten von Frauen und Männern evoziert. Somit bezieht sich der soziokulturelle Ansatz auf proximale Gründe, d.h. eher im hier und jetzt verortete Ursachen. Obwohl beide Ansätze biologische und Umwelteinflüsse berücksichtigen, sind für die psychologischen Grundlagen der Unterrepräsentanz vor allem die proximalen Gründe von Bedeutung und werden im Folgenden näher erläutert.

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2.1 Geschlechtsstereotype und Geschlechtsrollen Geschlechtsrollen sind sozial geteilte Annahmen darüber, was weibliche und was männliche Attribute sind (Biddle 1979). Sie stehen in enger Beziehung zu Geschlechtsstereotypen, welche aus einer deskriptiven und einer präskriptiven Komponente bestehen (Cialdini/Trost 1998). Die deskriptive Komponente beschreibt das aktuelle Verhalten von Frauen und Männern, wohingegen die präskriptive Komponente beschreibt, wie Frauen und Männern sich verhalten sollten, d.h. was normativ von ihnen erwartet wird. Geschlechtsrollen und Geschlechtsstereotype sind eng miteinander verknüpft (vgl. Eagly/Karau 2002). Stereotype sind mentale Kategorien bzw. Abbildungen, die Menschen im Laufe ihres Lebens bilden. Sie dienen der Informationsverarbeitung und helfen die Komplexität und den Aufwand von Verarbeitung zu reduzieren. Jedoch erleichtern sie nicht nur die Informationsverarbeitung, sondern können auch zu Fehlern in dieser führen, beispielsweise indem stereotypinkonsistente Information nicht mit verarbeitet wird. Dies ist relevant, da Stereotype vor allem bei leicht erkennbaren Kategorien wie beispielweise Alter oder Geschlecht meist unbewusst aktiviert werden und Informationsverarbeitung und dadurch die Wahrnehmung und Bewertung einer Person beeinflussen (Devine 1989; Fiske 1998). Somit bilden Geschlechtsstereotype eine elementare Grundlage bei der Beschäftigung mit der Thematik Frauen und Führung, da sie Bewertung und Wahrnehmung von außen, d.h. durch andere Personen, prägen. Gleichzeitig beeinflussen Geschlechtsrollen und –stereotype aber auch das Individuum selbst. Während der Sozialisation werden Geschlechtsstereotype und –rollen erlernt und ins Selbstkonzept integriert (Feingold 1994). Dadurch fließen sie auch in Selbststandards und Präferenzen von Individuen ein und beeinflussen deren Verhalten (Eagly 1987). Ferner sind Menschen motiviert im Einklang mit ihren Geschlechtsrollen zu handeln und ihre Geschlechtsrollen zu erfüllen (Diekman/Eagly 2008; Evans/Diekman 2009). Das dahinterstehende, leitende Prinzip ist die Nutzenmaximierung in sozialen Interaktionen (Eagly/Wood 1999). Denn rollenkonsistentes Verhalten steht in Verbindung zu positivem Affekt, verbessertem Selbstwert und positiven Reaktionen der Interaktionspartner, wohingegen rolleninkonsistentes Verhalten durch Missbilligung sozial sanktioniert wird (vgl. Guerrero-Witt/Wood 2010).

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Trotz einiger Veränderungen in den letzten Jahrzehnten zeigen Untersuchungen, dass weibliche und männliche Geschlechtsrollen sich immer noch unterscheiden (Bosak/Sczesny 2011). Die weibliche Geschlechtsrolle umfasst kommunale Charakteristiken wie unterstützend, liebevoll, oder mitfühlend sein, wohingegen die männliche Geschlechtsrolle mit agentischen Charakteristiken wie kompetitiv, dominant, bestimmt, oder kontrollierend sein in Verbindung steht (Abele u.a. 2008; Williams/Best, 1990).

2.2. Konsequenzen der Geschlechtsrollen Ebenso wie Geschlechtsstereotype entwickeln Menschen auch eine Vorstellung davon, was Führung und eine Führungskraft ausmacht (vgl. Lord/Maher 1991). Dadurch müssen aktuell wahrgenommene Informationen über eine (potentielle) Führungskraft nicht mehr einzeln beurteilt, sondern können mit Hilfe eines im Laufe des Lebens entwickelten Führungsprototypen kategorisiert und bewertet werden. Gemäß der Forschung zu impliziten Führungstheorien (Schyns 2008) sind somit weniger objektive Führungsqualitäten, als vielmehr Wahrnehmungsprozesse für die Reaktion auf eine (potentielle) Führungskraft entscheidend. Somit besitzt die Passung zwischen der Führungsvorstellung (Führungsprototyp) und der realen Führungskraft bei der Wahrnehmung und Beurteilung von Führungskräften – unbewusst – eine hohe Relevanz: Je höher die Passung zwischen dem Führungsprototyp und der (potentiellen) Führungskraft, desto höher ist die Akzeptanz durch die Mitarbeitenden. Allerdings zeigt die Forschung auch, dass Führungsprototypen meist männliche Attribute und Rollenvorstellungen enthalten (Johnson u.a. 2008; Scott/Brown 2006). Diese Tatsache beschreibt Schein (2001) in den „think manager – think male” Phänomenen. Dass diese Vorstellung trotz eines leichten Wandels noch immer aktuell ist, zeigt die Meta-Analyse von Koenig und Kollegen (2011). Unter Berücksichtigung von Studien dreier unterschiedlicher Forschungsparadigmen (u.a. dem Think managerthink male Paradigma), finden sie, dass Führung noch immer stärker mit agentischen, ergo mit der männlichen Geschlechtsrolle assoziierten Eigenschaften in Verbindung gebracht wird. Dies führt zu einer Nichtpassung zwischen der weiblichen Geschlechtsrolle und der Vorstellung von Führung (Heilman 1983; Lyness/Heilman 2006). Durch die konfligierenden Erwar-

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tungen der weiblichen Geschlechtsrolle und der (männlich konnotierten) Führungsrolle leiden Frauen, die eine Führungskarriere anstreben, eher unter einem Rollenkonflikt und damit einhergehenden negativen Gefühlen als Männer, die eine Führungsrolle anstreben (Eagly u.a. 1994). Weiterhin führt die Inkongruenz zwischen der weiblichen Geschlechtsrolle (kommunal) und der Führungsrolle (agentisch) zu zwei Formen von Diskriminierung (Eagly/Karau 2002). Erstens werden Frauen als weniger passend für Führungsrollen wahrgenommen und zweitens, wenn sie die Erwartungen basierend auf der Führungsrolle erfüllen, werden sie „als Frau“ schlechter beurteilt als männliche Führungskräfte (ebd.). Demnach sind weibliche Führungskräfte mit einem doppelten Standard (um kompetent wahrgenommen zu werden, müssen sie bessere Leistungen erbringen als männliche Kollegen) und einem double bind (sie müssen tough und nett sein) konfrontiert (ebd.). Diese Auswirkungen der Geschlechtsrollen sowie der Inkongruenz zwischen der weiblichen Geschlechtsrolle und der Führungsrolle zeigen sich auch in verschiedenen Studien. Frauen empfinden Führungsrollen als weniger erreichbar und nehmen an, dass diese mit interpersonalen Problemen einhergehen würden (Killeen/Lopez-Zafra/Eagly 2006; Lips 2000). Eine andere Studie zeigte, dass angenommen wird, dass Männer in maskulinkonnotierten und in geschlechtsneutralen Branchen (z.B. in Autoindustrie, Handwerk) eine bessere Leistung erbringen und eher befördert werden als Frauen (García-Retamero/López-Zafra 2006). Gleichzeitig wird der Erfolg von Männern unabhängig von der Branche internal attribuiert, d.h. ihren Fähigkeiten zugeschrieben, wohingegen der Erfolg von Frauen external attribuiert wird, d.h. beispielsweise dem Glück oder anderen nicht in der Person liegenden Gründen, und nur in feminin-konnotierten Branchen (z.B. in der Kleidungsindustrie, Pflege) wurde auch der Erfolg von Frauen auf ihre Fähigkeiten zurückgeführt (ebd.). Weiterhin wurde gezeigt, dass internalisierte Geschlechtsrollen zu geschlechtsstereotypen Karriereinteressen und geschlechtsspezifischen Fernzielen von Frauen und Männern führen, was zur Aufrechterhaltung der existierenden Segregation im Arbeitsmarkt beiträgt (Evans/Diekman 2009). Auch Studien (Schuh u.a. 2014; Hernandez Bark/Escartin/van Dick 2014a), die den Zusammenhang zwischen Geschlecht, Macht- und Führungsmotivation und dem Innehaben von Führungspositionen untersuchen, deuten auf die Relevanz der weiblichen Geschlechtsrolle bei der Unterrepräsentanz von Frauen in Führungspositionen

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hin. Machtmotivation beschreibt interpersonale Unterschiede in dem Wunsch andere zu beeinflussen (McClelland 1985; Miner 1978). Führungsmotivation beschreibt die Motivation Führungsrollen zu übernehmen (Chan/Drasgow 2001). Man kann hierbei zwischen drei Komponenten der Führungsmotivation differenzieren: (1) affektive Führungsmotivation (Freude am Führen anderer), (2) sozial-normative Führungsmotivation (Gefühl von Verpflichtung andere zu führen) und (3) nonkalkulative Führungsmotivation (Führen aus Kalkulation, i.S. einer Kosten-NutzenAnalyse; ebd.). Die Studien zeigen, dass Frauen eine niedrigere Machtmotivation und affektive Führungsmotivation als Männer besitzen und dass dies zu der Unterrepräsentanz von Frauen in Führungspositionen beiträgt (Hernandez Bark/Escartin/van Dick 2014a; Schuh u.a. 2014). Es wird angenommen, dass die niedrigere Machtmotivation von Frauen durch die Inkongruenz zwischen der weiblichen Geschlechtsrolle und dem Besitz bzw. Streben nach Macht beeinflusst wird und beispielsweise eine Redefinition von Macht, welche kongruenter zu der weiblichen Geschlechtsrolle ist, diese Geschlechtsunterschiede reduzieren könnte (vgl. Hernandez Bark 2014). Zusammenfassend zeigen diese Befunde, dass Geschlechtsrollen sowohl die Berufs- bzw. Studienwahl als auch die Motivation, Führungs- und Machtpositionen zu übernehmen, beeinflussen (vgl. Hernandez Bark/ Escartin/van Dick 2014b). Zusätzlich wird der Erfolg von weiblichen und männlichen Führungskräften unterschiedlich attribuiert: Bei Männern werden Erfolge ihren Fähigkeiten zugeschrieben, wohingegen der Erfolg von Frauen eher nicht in der Person liegenden Gründen zugeschrieben wird. Somit stellen Geschlechtsrollen bzw. –stereotype sowie deren Inkongruenz zu der Führungsrolle ein (unbewusstes) Hindernis für Frauen auf dem Weg in Führungspositionen dar, auf deren Abbaumöglichkeiten am Ende des Kapitels näher eingegangen wird.

3. R ELEVANTE ASPEKTE IM Z USAMMENHANG G ESCHLECHT UND F ÜHRUNG

VON

Nachdem die Bedeutung der Geschlechtsrollen als möglicher Einflussfaktor für die Unterrepräsentanz von Frauen in Führungspositionen dargelegt wurde, fokussiert dieser Abschnitt, ob es weitere Argumente – neben dem ethischen Argument, dass Frauen und Männer gleichberechtigt sind und die

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gleichen Möglichkeiten haben sollten – für eine Erhöhung der Repräsentanz von Frauen in Führungspositionen gibt. Dafür werden zunächst die Forschungsbefunde zum Verhalten von weiblichen und männlichen Führungskräften dargestellt und anschließend auf Befunde zum Zusammenhang zwischen der Repräsentanz von Frauen in oberen Führungspositionen und Unternehmenserfolg bzw. Unternehmenspolitik näher eingehen.

3.1. Geschlecht und Führungsverhalten Eine Möglichkeit für weibliche Führungskräfte, mit dem double-bind – also dem Zeigen von kommunalen (weibliche Geschlechtsrolle) und agentischen (Führungsrolle) Charakteristiken – umzugehen, ist ihr Führungsverhalten mit kommunalen Aspekten anzureichern, welches dadurch kongruenter zu den Erwartungen auf Grund der weiblichen Geschlechtsrolle wird (Eagly/Karau, 2002). Dass weibliche Führungskräfte diese Möglichkeit nutzen, zeigen verschiedene Meta-Analysen: Frauen führen tendenziell demokratischer und partizipativer als Männer, wohingegen Männer stärker autokratisch und direktiv führen (Eagly/Johnson 1990; van Engen/Willemsen 2004). Zwei im Zusammenhang mit Geschlecht und Führung interessante Führungskonzeptionen sind (1) die transformationale Führung und (2) die androgyne Führung. Transformationale Führung umfasst vier Komponenten: (1) die Führungskraft agiert als Rollenvorbild für die Mitarbeitenden (idealized influence), (2) die Führungskraft geht individuell auf die Mitarbeitenden ein (individual consideration), (3) die Führungskraft motiviert die Mitarbeitenden mittels inspirierender Visionen (inspirational motivation) und (4) die Führungskraft unterstützt die individuelle Weiterentwicklung der Mitarbeitenden und regt sie an neue Lösungsansätze zu finden (intellectual stimulation). Transformationale Führung zählt zu den effektivsten Führungsverhaltensweisen und steht in positiver Beziehung zu Arbeitszufriedenheit, Engagement und Leistung der Mitarbeitenden (Judge/Piccolo 2004; Wang u.a. 2011). Gleichzeitig ist transformationales Führungsverhalten, v.a. individual consideration, kongruenter zu der weiblichen Geschlechtsrolle und ermöglicht weiblichen Führungskräften, die Inkongruenz zwischen den Erwartungen basierend auf ihrer weiblichen Geschlechtsrolle (kommunal) und der Führungsrolle (agentisch) zu reduzieren (Eagly/Karau 2002). Dies

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spiegelt sich auch in dem konsistenten Befund wieder, dass weibliche Führungskräfte stärker als männliche Führungskräfte transformationales Führungsverhalten zeigen (z.B. Eagly/Johannesen-Schmidt/van Engen 2003; Gartzia/van Engen 2012). Die Relevanz von Geschlechtsrollen für das Führungsverhalten zeigt sich jedoch nicht nur in dem gezeigten Führungsverhalten, sondern auch in der Erwartung der Umwelt an das Führungsverhalten von Frauen und Männern. Personen erwarten von Frauen auch mehr transformationales Führungsverhalten als von Männern und erachten verschiedene Aspekte der transformationalen Führung als relevant für die Beförderung von Frauen und Männern (Vinkenburg u.a. 2011). Neben der Annahme, dass die weibliche und männliche Geschlechtsrolle gegensätzlich definiert sind, kann man beide auch als komplementär zueinander verstehen. Dieser komplementäre Ansatz wird nach Bem (1974) als Androgynität bzw. die Fähigkeit definiert, stereotypinkonsistente Eigenschaften in das eigene Selbst zu integrieren. Dies trifft auch auf Führungskräfte zu und androgyne Führungskräfte kombinieren maskulin und feminin konnotierte Eigenschaften. Androgyne Führungskräfte werden von den Mitarbeitenden positiv bewertet (Kark/Waismel-Manor/Shamir 2012) und besitzen eine höhere emotionale Intelligenz (Gartzia/van Engen 2012). Unter der Gleichstellungsperspektive sind diese Befunde als positiv zu bewerten, da Individuen, die sich über sowohl maskulin konnotierte als auch feminin konnotierte Eigenschaften definieren, nicht nur sehr effektiv führen, sondern auf lange Sicht die Veränderung der Führungsvorstellung (Integration weiblicher Eigenschaften) unterstützen. Diese Veränderung der Führungsvorstellung reduziert die Inkongruenz der Rollenerwartungen für Frauen in Führung und würde dadurch Gleichberechtigung im Führungskontext stärken.

3.2. Repräsentanz von Frauen in oberen Führungspositionen und Unternehmenserfolg bzw. –politik Bisher wurde auf Studien eingegangen, die zeigen, dass die weibliche Geschlechtsrolle die Karriereentscheidungen von Frauen beeinflusst und die Inkongruenz zwischen der weibliche Geschlechtsrolle und der Führungsrolle zu Nachteilen für Frauen führt sowie das weibliche Führungskräfte ten-

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denziell ein effektiveres Führungsverhalten zeigen. Im Fokus dieses Abschnittes steht der Zusammenhang zwischen der Repräsentanz von Frauen, Leitungspositionen und organisationaler Leitung sowie Unternehmenspolitik, welche für die Beantwortung der Frage, ob eine Erhöhung der Repräsentanz von Frauen sinnvoll ist, relevant sind. Welcher Zusammenhang besteht zwischen der Repräsentanz von Frauen in Leitungspositionen und der organisationalen Leistung? Auf der einen Seite gibt es die Annahme, dass Homogenität mit mehr Kooperation und weniger Konflikten einhergeht (Tajfel/Turner 1986; Williams/O´Reilly 1998). Demnach würde Geschlechtshetereogenität zu intragruppalen Barrieren und Konflikten führen, was negative Auswirkungen auf die Unternehmensleistung besitzen würde. Auf der anderen Seite gibt es die Ressourcen orientierte Sichtweise, welche annimmt, dass Geschlechtsheterogenität auf Grund von komplementären Perspektiven und Kompetenzen von Frauen und Männern eine Ressource darstellt, was positive Auswirkungen auf die Unternehmensleistung besitzen würde (Barney 2001). Für erstere Annahme spricht beispielsweise das Ergebnis der Untersuchung von Mínguez-Vera und Martin (2011), welche einen negativen Zusammenhang zwischen der Repräsentanz von Frauen im Vorstand und der Unternehmensleistung sehen (Return of Equity, ROE). Jedoch stellt sich dieser negative Zusammenhang teilweise komplexer dar. So fanden Adams und Ferreira (2009) zwar eine negative Beziehung zwischen der Repräsentanz von Frauen im Vorstand und der Unternehmensleistung, gleichzeitig zeigte sich aber, dass (a) weibliche Vorstände weniger Anwesenheitsprobleme hatten als männliche, (b) Geschlechtsdiversität im Vorstand die Anwesenheitsprobleme der männlichen Mitglieder reduzierte, und (c) der Anteil weiblicher Vorstände mit einer gleichheitsbasierten Bezahlung der Vorstände assoziiert war. Viele andere Studien unterstützen eher die ressourcenorientierte Annahme und finden positive Zusammenhänge. So finden sich positive Börsenreaktionen und Auswirkungen auf den Unternehmenswert nach der Ernennung von weiblichen Vorstandsmitgliedern (Campbell/Minguez-Vera 2010) und ein positiver Zusammenhang zwischen der Repräsentanz von Frauen in Vorstand bzw. Topmanagement und der Unternehmensleistung (Joy u.a. 2007; Krishnan/Park 2005). Auch eine Untersuchung von 89 europäischen Unternehmen ergab ein ähnliches Bild: Die Unternehmensleistung von Unternehmen mit einem höheren Frauenanteil war besser als der

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jeweilige Branchendurchschnitt (Desvaux/Devillard-Hoellinger/Baumgarten 2007). Betrachtet man den Zusammenhang zwischen der Repräsentanz von Frauen in Topmanagement bzw. Vorstand und Aufsichtsräten, zeigt sich, dass ein hoher Frauenanteil mit einer größeren Philanthrophie und mehr wohltätigen Spenden (Williams 2003) sowie mit weniger Entlassungen in Zeiten finanzieller Krisen (Matsa/Miller 2012, 2013) einher gehen. Ein ähnliches Bild findet sich für die Politik: Wenn Frauen Mitglieder von Regierungen und Kommissionen mit Entscheidungsbefugnissen sind, setzen sie sich eher für Veränderungen zum Wohle der Interessen von Frauen, Kindern und Familien ein sowie für das allgemeine Wohlbefinden (z.B. Gesundheitswesen, Bildung; vgl. Paxton/Kunovich/Hughes 2007, Wängnerud 2009). Somit zeigt sich meist ein positiver Zusammenhang zwischen der Repräsentanz von Frauen in Leitungspositionen und dem Unternehmenserfolg sowie zu nachhaltiger (Unternehmens-)Politik. Somit gibt es vielfältige – auch ökonomische – Gründe, die neben dem ethischen Argument für eine Erhöhung des Frauenanteils in oberen Führungspositionen sprechen.

4. M ÖGLICHKEITEN DER S TÄRKUNG G LEICHBERECHTIGUNG

DER

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass Geschlechtsrollen und die Inkongruenz zwischen der weiblichen Geschlechtsrolle und der Führungsrolle einen Erklärungsansatz für die Unterrepräsentanz von Frauen in Führungspositionen bilden. Hierbei beeinflussen Geschlechtsrollen sowohl die Berufspräferenzen als auch die Machtmotivation. Daraus folgende Möglichkeiten zur Verringerung der Inkongruenz zwischen Führungsrolle und Geschlechtsrolle für Frauen stellen einerseits eine Veränderung der Vorstellung von Führung (Führungsrolle) sowie eine Veränderung der Geschlechtsrollen dar. Da Frauen ein effektiveres Führungsverhalten als Männer zeigen und der Anteil von Frauen in Topführungspositionen bzw. Vorstand (meist) in einem positiven Zusammenhang zum Unternehmenserfolg sowie einer nachhaltigeren / sozialen Unternehmenspolitik steht, sollten sowohl Politik und gesellschaftliche Akteure wie Gewerkschaften als auch Organisationen/Unternehmen an einer Stärkung der Gleichberechtigung ar-

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beiten. Hierbei kann man verschiedene Maßnahmen mit unterschiedlichen Foki differenzieren: (1) individuumszentrierte (z.B. Training, Coaching) und (2) organisationszentrierte (z.B. flexible Arbeitszeitmodelle, gleichstellungsförderliche Führungskompetenzmodelle; vgl. Elprana/ Hernandez Bark in Druck; Hernandez Bark/ Van Quaquebeke/ van Dick in Druck). Unabhängig davon, welche Form der Maßnahme genutzt wird, ist es für die Akzeptanz von Gleichstellungsmaßnahmen entscheidend, dass sie transparent sind und Leistungsaspekte, v.a. falls sie Stellenbesetzungen oder Beförderungen betreffen, berücksichtigt werden (Wagner/Schmermund 2001). Da der Fokus dieses Beitrages auf psychologischen Grundlagen und (unbewusster) Diskriminierung basierend auf der Inkongruenz zwischen weiblicher Geschlechtsrolle und Führungsrolle liegt, werden im Folgenden kurz drei Möglichkeiten zur Reduktion dieser Inkongruenz erläutert. Die erste kostengünstige, aber wirksame und praktikable Maßnahme ist der Gebrauch geschlechtergerechter Sprache, beispielsweise in Stellenausschreibungen. Noch immer wird oft in Leitlinien oder Unternehmenswebseiten das generische Maskulinum (bspw. „Mitarbeiter“, „a politician…he …“) verwendet, obwohl beide Geschlechter gemeint sind. Als Gründe für die Verwendung des generischen Maskulinums anstatt geschlechtergerechte Sprache oder Beidnennung („Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen“) werden beispielsweise Platzmangel oder Erleichterung des Leseflusses genannt. Jedoch ist das generische Maskulinum nicht eindeutig, da es entweder nur Männer oder beide Geschlechter meinen kann. Ferner begünstigt das generische Maskulinum einen male bias in der mentalen Repräsentation, d.h. es wird an eine männliche Person gedacht. Im Gegensatz dazu fördert die Verwendung von Sprachformen, die grammatikalisch für beide Geschlechter gelten, wie zum Beispiel Neutralisierungen (bspw. „Mitarbeitende“) oder die Beidnennung („Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter") die Inklusion von Frauen in die mentale Repräsentation (Stahlberg u.a. 2007). Ferner finden sich auch direkte Effekte: Bei Benutzung der Beidnennung werden beispielsweise männlich-konnotierte Berufe weniger stark als typisch männlich geschlechtsneutral wahrgenommen und das Interesse bei Mädchen für typisch männliche Berufe gefördert (Vervecken/Hannover/Wolter 2013). Weitergehend zeigen experimentelle Studien, dass weibliche Bewerbende bei Stellenanzeigen mit generischem Maskulinum (z.B. „Geschäftsführer“) als weniger geeignet wahrgenommen werden, weniger wahrscheinlich eingestellt werden und einen niedrigeren Lohn zugesprochen bekommen als

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männliche Bewerbende (Horvath/Sczesny 2014). Diese Form der Benachteiligung lassen sich durch die Verwendung von geschlechtergerechter Sprache reduzieren. Den zweiten Ansatzpunkt bieten Führungskompetenzmodelle, welche die für Führungskräfte relevanten Kompetenzen definieren. Die meisten größeren Unternehmen und Organisationen besitzen Führungskompetenzmodelle und nutzen diese auch für bei der Führungskräfteauswahl und -entwicklung. Diese Standardisierung selbst ist ein positiver Aspekt, da sie Diskriminierung reduzieren kann. Jedoch können Führungskompetenzmodelle, wenn sie beispielsweise im Sinne des Think manager-Think maleParadigmas konzipiert wurden und überwiegend männlich konnotierte Fertigkeiten und Kompetenzen enthalten, zu einer systematischen Benachteiligung von Frauen führen. Zusammen mit den stattfindenden Veränderungen in der Arbeitswelt (bspw. flachere Hierarchien) steigt die Bedeutung der sozialen Fähigkeiten, welche eher mit der weiblichen Geschlechtsrolle assoziiert sind. Gleichzeitig umfasst effiziente Führung nicht ausschließlich männlich konnotierte Kompetenzen (z.B. strategisches Handeln/Denken), sondern auch weiblich konnotierte Kompetenzen (z.B. individuelle Unterstützung der Mitarbeitenden; vgl. Abschnitt 3.1). Daher sollten Kompetenzmodelle einerseits diese Dualität widerspiegeln und andererseits berücksichtigen, welche mentalen Repräsentationen („weiblich“ vs. „männlich“) mit der gewählten Formulierung des Kompetenzbereiches verbunden sind. Berücksichtigen Unternehmen dies, sollte die subjektive Wahrnehmung der Frauen als auch in der Wahrnehmung der Entscheidungstragenden die Inkongruenz für Frauen reduziert werden. Ein dritter Ansatzpunkt ist die Darstellung von männlichen und weiblichen Führungskräften in den Medien und Unternehmensmaterialien. Da die Führungsvorstellung noch immer stärker mit männlich assoziiert ist (Koenig u.a. 2011) und die Passung zwischen Führungsprototyp und wahrgenommener Information determiniert, in welchem Ausmaß eine Person als Führungskraft wahrgenommen wird (Lord/Maher 1991), stellt die Veränderung der Führungsvorstellung eine Möglichkeit zur Reduktion (unbewusster) Diskriminierung dar. Stereotypinkonsistente Stimuli können zu einer Veränderung impliziter Stereotype ohne Anstrengung, intensive Selbstreflektion und Änderungsabsicht des Individuums, d.h. ohne erhebliche bewusste Reflexion, führen (Asgari/Dasgupta/Stout 2012). Beispielsweise stärkt das Zeigen von und die kurze Beschäftigung mit Bildern weiblicher Führungskräfte

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die Assoziation zwischen Frauen und Führung (Van Quaquebeke/Schmerling 2010). Ferner sollte bei der Auswahl von Fotos auf den Aufnahmewinkel geachtet werden, denn ein Aufnahmewinkel von oben herab fotografiert geht einher mit einer geringeren Machtzuschreibung, wohingegen ein Aufnahmewinkel von unten nach oben fotografiert mit einer höheren Machtzuschreibung einhergeht (Giessner u.a. 2011). Somit kann auch durch die bedachte Auswahl und den gezielten Einsatz von Fotos unbewusste Benachteiligungen gezielt abgebaut werden, beispielsweise indem bei Fotos von weiblichen Führungskräften der Aufnahmewinkel berücksichtigt wird.

5. F AZIT Die Inkongruenz zwischen der weiblichen Geschlechtsrolle und der Führungsvorstellung begünstigt die Benachteiligung von Frauen in Führung auf vielfältige Weise (u.a. Berufswahl, Machtmotivation, Bewertung vom Führungspotential und -fähigkeiten durch andere). Gleichzeitig bildet sie auch einen fruchtbaren Ansatzpunkt für Maßnahmen zur Stärkung der Gleichberechtigung von Frauen in Führung. Ferner wurde dargelegt, dass die Stärkung der Gleichberechtigung von Frauen in Führung nicht nur aus moralischen oder ethischen Beweggründen, sondern auch aus ökonomischer Perspektive sinnvoll ist.

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„Und Mails ganz spät abends!” Führungsfrauen berichten, wie ihre männlichen Kollegen mit Zeit und Technik umgehen: Ausdruck der hegemonialen Männlichkeit? H EATHER H OFMEISTER

E INFÜHRUNG Zahlreiche Studien über Organisationen und Führungsthemen sind sehr stark auf Genderfragen ausgerichtet. 1 Diese umfangreiche Literatur illustriert die Herausforderung für Frauen in Organisationen, insbesondere solche auf Führungsebene 2, die Unerbittlichkeiten beruflicher Karrieren 3 und unausgesprochene männliche Verhaltensregeln und Erwartungen, die Karrieren auf höherem Niveau begleiten, wie etwa die unbegrenzte Verfügbar1

Benschop/Doorewaard 1998; Brettschneider 2006; Britton 2000; Cohen/ Broschak/Haveman 1998; Eagly/Carli 2003; Gherardi 1994; Gherardi/Poggio 2001; Kanter 1993; Kelly/Ammons/Chermack/Moen 2010; Kolb/Fletcher/ Meyerson/Merrill-Sands/Ely 2003; P.Lewis/Simpson 2010.

2

Eagly/Johannesen-Schmidt/van Engen 2003; Eagly/Johnson 1990; Eagly/Karau 2002; Hofmeister/Hahmann 2009; Kram/Hampton 2003; A. E. Lewis/FagensonEland 1998.

3

Baron/Hannan/Burton 1999; Hodges/Budig 2010; Marini/Fan 1997; Marsden/ Kalleberg/Cook 1996; Murgia/Poggio 2009; Valian 1998.

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keit für das Unternehmen („the greedy Workplace“) oder das Konkurrenzverhalten. 4 Im Folgenden wird die Dynamik zwischen männlichen und aus der Subjektperspektive weiblicher Führungskräfte rekonstruiert. Die Geschlechterdynamik in Organisationen wird durch eine qualitative Betrachtungsweise erschlossen, indem Frauen in einer sehr männlich dominierten Organisation in Deutschland interviewt werden (bei 95 Prozent Männern auf Führungsebene). Meine ursprüngliche Absicht war es, die Strategien dieser in männlichdominierten Organisationen erfolgreichen Frauen zu verstehen. Das Ergebnis überraschte mich: Diese Frauen verlagerten das Thema der Interviews durchweg von ihren eigenen Initiativen und Karrieren hin zu Beschreibungen dessen, was „die Herren“ tun, wie diese sich verhalten und wie unverrückbar festgelegt die Strukturen zu sein scheinen. Obwohl es sich hier um diejenigen Frauen handelt, die mit den Männern am selben Tisch sitzen und sich offiziell auf gleichem Niveau befinden, waren die Interviews von einer unterliegenden Strömung von Pessismismus, Verachtung und Hilflosigkeit geprägt. Um dies einzuordnen und den Widerspruch zwischen dem Erfolg der Frauen einerseits und ihrer eigenen Wahrnehmung der Ausgrenzung andererseits zu verstehen, nutze ich Barbara Rismans Sicht von Gender als Struktur (Risman 1998) und R.C. Connell und J. Messerschmidts Definition der hegemonialen Männlichkeit (Connell/Messerschmidt 2005).

Z UM F ORSCHUNGSSTAND Organisationen verkörpern sowohl Struktur als auch Kultur (Aaltio/Mills 2002; Gherardi 1994), aber anstatt die extensive Literatur wiederzugeben, orientiere ich mich in erster Linie an zwei Kernsichtweisen: Gender als Struktur und Männlichkeiten. Barbara Risman und andere argumentieren überzeugend, dass Gender in Strukturen der Gesellschaft eingebettet ist inklusive der Strukturen von Organisationen (Risman 1998, 26). Diese Strukturen können durch unter-

4

Hearn 1993, 1999, 2004; Hodges/Budig 2010; Kelly et al. 2010; Murgia/Poggio 2009; Williams 2000.

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schiedliche Personen beobachtet werden, unabhängig davon, ob sie diese sehen möchten oder als wünschenswert erachten. Laut Connell und Messerschmidt (2005), gibt es nicht nur eine Männlichkeit, sondern viele, je nach Situation, und diese Männlichkeiten werden aktiv in Interaktion konstruiert (Connell/Messerschmidt 2005, 841). Ein einziger Typus von Männlichkeit ragt über alle anderen hinaus und ist daher charakterisiert durch verbreitete kulturelle Akzeptanz, eine dominante Art und Weise, wie über Männer gesprochen wird und sie über sich selbst reden. Zugleich manifestiert er sich in institutionell festgeschriebenen Verhaltensmustern, wie etwa Jobanforderungen, die Konkurrenzverhalten und individuellen Erfolg voraussetzen oder auch im Ausschluss von alternativen Lebensmodellen (Connell/Messerschmitt 2005, 832). Indem sie den Ausdruck Hegemonie benutzen, heben Connell und Messerschmidt hervor, dass die Dominanz oder Macht einer bestimmten Art von Männlichkeit durch „Kultur, Institutionen und Überzeugung“ erlangt wurde (ebd. 834). Da „at the local level, hegemonic patterns of masculinity are embedded in specific social environments, such as formal organizations” (Connell/ Messerschmitt 2005, 839), müssen Forschende zum Verständnis hegemonialer Muster von Männlichkeit ein spezielles soziales Umfeld, insbesondere eine Organisation, detailliert untersuchen, indem sie die Diskursmuster betrachten und feststellen, ob es eine offensichtliche Dominanz einer speziellen Männlichkeit gibt (Hearn, 1993). Ich vermute, dass die Chancen, ein solches dominantes Muster zu entdecken, in Organisationen mit hohem Männeranteil größer sind, und dass die hegemoniale Männlichkeit am stärksten durch die „Sieger“ dieser Organisation, die Männer in der Führungsebene, ausgedrückt wird. Da Strukturen oft für diejenigen, die sich darin befinden, unsichtbar sind, werden Männer am wenigsten in der Lage sein, den Umfang der hegenomialen Männlichkeit in ihren Organisationen zu beschreiben. Führungsfrauen hingegen, die in derselben Umgebung arbeiten, sind möglicherweise in einer besseren oder zumindest anderen Position, um die Dimensionen der hegemonialen Männlichkeit in ihren Organisationen benennen zu können. Daher bin ich der Meinung, dass die Forschungsfrage, wie drücken männliche Führungskräfte die hegemoniale Männlichkeit in männlich dominierten Organisationen aus bzw. wie verkörpern sie sie, auch auf eine Art und Weise angesprochen werden kann, die neue Einsichten bringt, indem man Frauen in Führungspositionen zu Interaktionen innerhalb der internen Führungskreise befragt.

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D ATEN UND M ETHODEN Deutschland ist seit einiger Zeit durch die Europäische Union unter Druck geraten, seine Unterrepräsentation von Frauen in Führungspositionen zu untersuchen und zu korrigieren, da es sich mit seinem Prozentanteil von Frauen auf Führungsebene weit unterhalb derjenigen anderer Länder befindet. 5 Das hier vorgestellte Unternehmen hatte auf allen Ebenen, insbesondere in der Führungsebene, einen niedrigeren Anteil von Frauen als alle anderen deutschen Unternehmen gleicher Größe und gleicher Ausrichtung. Aufgrund von äußerem politischen Druck erlaubte mir dieses Unternehmen, eigene Untersuchungen über die Ursachen des generell niedrigen Frauenanteils anzustellen. Das Objekt dieser Untersuchung ist ein deutsches Unternehmen mit über 10.000 Angestellten, welches als Beispiel für eine extrem männliche Führungskonzentration ausgesucht wurde: Im Jahr 2007 waren weniger als 5 Prozent der Führungsmitglieder Frauen. Das Unternehmen selbst ist auf Wissenschaft und Technik spezialisiert und stark in Richtung Forschung und Entwicklung ausgerichtet. Mit Führungsmitgliedern sind Menschen gemeint mit unbefristeter Anstellung, Einstellungs- und Kündigungsbefugnis innerhalb ihres eigenen Teams sowie eigener Verantwortung für die Leistungen des Teams und die Teamfinanzen. Die Teamgrößen lagen zwischen 4 und 150 Angestellten und die Teams zeichneten sich generell durch eine hohe Fluktuation aus (in diesem und in ähnlichen Unternehmen). Die Führungskräfte kann man in zwei verschiedene hierarchische Kategorien einteilen: Beide haben das gleiche Maß an Verantwortlichkeit und Autorität in ihren jeweiligen Teams. Beide Führungsebenen ergaben zusammen etwa 450 Personen, davon waren zur Zeit der Erfassung 23 Frauen: 2/3 der Führungsfrauen gehörten zur zweiten Ebene, wohingegen nur ein Viertel der männlichen Führungskräfte auf diesem Level waren. Ich hatte alle diese Frauen zu den Interviews eingeladen; 14 von ihnen (60 Prozent) sagten zu.

5

Bispinck/Dribbusch/Öz 2008; Bundesagentur für Arbeit 2008; Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend 2008a; Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend 2008b; Fischer 2008; Grenz/Kortendiek/Kriszio/Löther 2008; Grenz/Kriszio 2008; Mehr/Rees 2007; Wissenschaftsrat 2007; Zimmer/Krimmer/Stallmann 2007.

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Die Interviews wurden in Deutsch durchgeführt und mit atlas.ti transkribiert und codiert. Die strukturierten leitfadengestützten Interviews dauerten im Schnitt 90 Minuten und befassten sich hauptsächlich mit den Erfahrungen der Frauen innerhalb des Unternehmens, beginnend mit den Bewerbungsverfahren und übergehend zu den Vorstellungsgesprächen, Verhandlungen und Einstellungsverfahren. Ich fragte nach ihren Erfahrungen mit der täglichen Arbeit innerhalb des Unternehmens, insbesondere mit Gremienarbeit und alltäglichen Routinesituationen im wechselseitigen Zusammenspiel. Ich bat sie, den Einfluss auf ihre Zufriedenheit und ihren Erfolg in der Arbeit zu beschreiben, ihre Aussichten für die Zukunft (beabsichtigen sie, im Unternehmen zu bleiben; wie sind ihre Aussichten auf Beförderung) und schließlich ihre Meinung zur Ursache des niedrigen Anteils an Frauen auf Führungsebene und welche Lösungen sie sich vorstellen könnten, um dies zu ändern. Die Interviews waren so konzipiert, dass sie in gleicher Weise auch mit männlichen Führungskräften durchgeführt werden könnten. In der Datenanalyse habe ich die Inhaltsanalyse verwendet. Dieser Beitrag konzentriert sich auf die Muster, die rund um Dimensionen aus der Theorie der hegemonialen Männlichkeit zu Tage traten. Ein Vergleich dessen, was Frauen und Männer auf Führungsebene zum Beispiel über ihre Arbeitserfahrungen im Unternehmen sagen, wäre sicherlich eine notwendige Voraussetzung, um beurteilen zu können, ob die Unternehmenskultur von Männern und Frauen auf gleiche Weise erlebt wird. Dennoch ergeben die Aussagen der Frauen alleine ein kraftvolles Bild dessen, wie die unterrepräsentierte Gruppe auf höherer Führungsebene die dominante Gruppe sieht. Laut Michael Schwalbe sind weibliche Führungskräfte, die sich in einem männlich-dominierten Unternehmen und/oder einer männlich-dominierten Industrie befinden, besonders empfindsam für die durch ihre männlichen Kollegen geschaffene Atmosphäre, sowohl innerhalb als auch außerhalb des Unternehmens. Indem ich die männlichen Führungskräfte durch die Augen der weiblichen Führungskräfte beobachte, kann ich Eigenarten des Verhaltens dieser männlichen Führungskräfte sowie die dadurch geschaffene Atmosphäre, deren sie sich selbst möglicherweise gar nicht bewusst sind, beschreiben (Schwalbe 2001).

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E RGEBNISSE Ich ordne die Ergebnisse in drei Themenbereiche basierend auf Themen, die aufkamen, wenn Frauen insbesondere über das Verhalten ihrer männlichen Kollegen sprachen. Die Themen sind: • die Länge der Arbeitstage und Sitzungen, • der Umgang mit körperlichen Bedürfnissen, • die Beurteilung „the greedy workplace“ durch die Frauen.

Länge der Arbeitstage und Sitzungen: ausgedehnt aufgrund der Technik Ich habe gefragt, „Wie ist das für Sie, Beruf und Privatleben zu organisieren? Passt das zusammen?” Eine Frau antwortet: „Nein, aber ich habe bislang noch in keinem anderen Unternehmen Emails bekommen, die meine Kollegen mitten in der Nacht geschrieben haben.” 6 „In welcher Situation ist das passiert?” Sie antwortete: „Passiert total oft. Ja. Es gibt bei uns schon Kollegen, es sind alles Männer, die schicken nachts um halb zwölf oder um zwei Uhr irgendwelche Protokolle. Oder Emails, dass sie etwas gerade gelesen haben und schicken ‘ne Info weiter. Noch nirgendwo sonst ist mir das aufgefallen. Ich finde es merkwürdig [...] Also wenn es nur mal zufällig vorkommt, dann […] Es gibt ja kein Mal zufällig. Das ist es ja nicht. Für mich ist es ‘ne Demonstration von: Ich bin so wichtig, ich muss auch ganz spät noch arbeiten. Und ich hab so wahnsinnig viel zu tun, dass ich dann auch noch nachts um halb zwölf unbedingt ganz wichtige Sachen erledigen muss. Also ich schlaf um halb zwölf meistens. Und dann lese ich auch keine Emails. Ich sehe die dann halt erst am nächsten Morgen. Aber ich muss sagen, ich find das irgendwie, ich mein’ es hat jeder ja ‘nen anderen Arbeitsrhythmus. Aber warum machen die nachts keine anderen Sachen, warum schreiben die Emails? Keine Ahnung. Wichtigtuerei.“ [Interview 1]

Die Interviewte beschreibt in der Tat eine sehr klare Vorstellung: Sie sagt selbst, dass es eine Demonstration von Wichtigkeit, Aktivität und Prioritä-

6

Zur besseren Lesbarkeit wurden die Interviewzitate redigiert.

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ten ist, wenn diese Kollegen (sie nutzt den Plural) implizieren möchten, dass sie unglaublich beschäftigt und wichtig sind und dass sie rund um die Uhr arbeiten müssen – und können. Und im Vergleich zu anderen Unternehmen, wo man von zuhause oder woanders in derselben Führungsposition in derselben Branche arbeiten kann, berichtete eine Frau, und beileibe nicht die einzige: „Hier…, man ist wirklich täglich hier. Und auch von 9 bis 18 Uhr oder so trifft man eigentlich die Herren im Büro an. Die meisten. […] Aber ich denke, wahrscheinlich wäre es den Männern auch lieber, wenn sie Zeit für ihre Familie haben könnten und zu Hause bleiben könnten.” [Interview 2]. Eine andere Frau meinte in Bezug auf die in Sitzungen verbrachten Stunden: „Ich geh dann auch ganz einfach um halb zehn aus der Sitzung, selbst wenn die Herren noch nicht fertig sind. Ich find das einfach unmöglich, wenn man dann da sieben Stunden” [Interview 11] Ich fragte alle Frauen nach der zeitlichen Planung der Führungssitzungen. „Die sind ja immer nur abends” habe ich oft gehört. „Also unsere Führungskräftesitzungen fangen [abends H.H.] um 6 Uhr an und dauern manchmal bis 10 Uhr. Und da ist man total platt. Wir haben vorher Abteilungssitzung, die fängt dann [nachmittags] um 2, 3 Uhr an, dann hat man von 3 Uhr bis 10 Uhr noch nicht mal Zeit irgendwas zu essen, wenn man sich nicht irgendwas mitgenommen hat. Also das ist natürlich hart. Aber es geht nicht anders.” [Interview 11]

Sie ist die nicht die einzige, die dies berichtet: eine andere Frau, aus einer anderen Abteilung, sagt: „Es sind viele Sitzungen abends. [Eine H.H.] zum Beispiel ist 18 Uhr. 18 bis 19 Uhr. 19:30 würde man dann vielleicht mit der Diskussion fertig sein. 20 Uhr Essen gehen. Also das wird dann immer sehr, sehr spät.“ [Interview 2] Ich fragte die Frauen nach dem Grund für diese langen Sitzungen. Eine erste Antwort war: „Die sind nicht immer effizient. Das denke ich auch immer hinterher, Das hätte man in der halben Zeit auch schaffen können.” [Interview 6]. Ich fragte, was man tun könne, um sie effizienter zu machen. Sie sagt: „Dass man die Kollegen bittet, bei der Sache zu bleiben. Manchmal ist auch eine solche Diskussion ganz hilfreich, auch wenn es länger dauert, weil es die Luft rei-

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nigt. … Also, für den Frieden, usw. ist es manchmal ganz günstig, dass die Leute sich aussprechen. Aber manchmal kommt man eben auch, so hat man das Gefühl, ‚Diese Bemerkung hätte man jetzt auch runterschlucken können.’ Das hatte eigentlich nur anekdotischen Wert.… Also ich meine, das setzt natürlich immer eine sehr straffe Sitzungsführung voraus. Das eben halt können die Leute unterschiedlich gut. Also, dass sie sagen, ‚Okay. Also, die Diskussion ist jetzt sehr spannend. Ich möchte die eigentlich nicht abwürgen, aber wir müssen noch dieses und jenes bearbeiten. Und, können wir jetzt mal zu einer Abstimmung kommen?’ Oder verschieben die Abstimmung auf einen anderen Termin. Könnte sinnvoller sein.“ [Interview 6]

Der zweite Grund, warum die Treffen so lang sind, war „ironischer weise“ Effizienz. Eine andere Frau war der Meinung, dass diese Sitzungen ohne Pausen effizienter waren: „Ich meine, um was geht es? Meistens um Abstimmungen. Aufzeigen. Kaum dass Leute irgendetwas dagegen reden. Sicherlich nicht die [Führungskräfte H.H.]. Wenn dann der [Mitarbeitende H.H.].” [Interview 2] Ob nun die Sitzungen aufgrund von Effizienz oder Ineffizienz lang sind, jedenfalls meinten viele der Führungsfrauen, dass die Sitzungen lang sind und spät stattfinden, weil lange Arbeitstage für Führungskräfte normal sind. Und sagt jemand da etwas dagegen? „Ja. Es gab jetzt…habe ich vorhin gerade gelesen, die [Mitarbeitenden H.H.] hatten das letzte Mal…gefragt, ob es denn so spät sein muss, das würde außerhalb ihrer regulären Arbeitszeit stattfinden. Also, das sind ja immerhin Personen, die haben reguläre Arbeitszeit. Führungskräfte haben das ja nicht. Habe ich den Eindruck zumindest. Für die ist das ganz normal. Und es wurde abgelehnt. Also, es wird nicht verschoben. Nein, machen wir nicht. Geht nicht. Können wir nicht. Ich habe nur das Protokoll gelesen, ich war auf der Sitzung nicht dabei, aber…ich glaube, der Punkt ist halt der, dass die…also wann…wann hat man Zeit? Wenn die ganze Arbeit des Tages vorbei ist. Wenn die ganzen Besprechungen…besprochen sind. Dann ist es abends um 6, und dann hat jeder Zeit noch für Zusätzliches. Also da sind dann halt sonst keine Termine, zu denen man sich treffen kann.“ [Interview 1]

Diese Beschreibung zeigt deutlich, dass diese Führungsfrau den allgemeinen Standpunkt von Führungskräften einnimmt, dass die gemeinsamen Sitzungen nicht Teil des üblichen Arbeitstages sind, sondern dass es sich dabei um etwas Zusätzliches handelt, das warten muss, bis ihre Leitungsfunktion

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innerhalb des Teams erfüllt ist. Und es ist Teil der Erwartungshaltung, die diese und andere Führungspersonen vertreten, zumindest in der Öffentlichkeit, dass private Zeit – für Familie, Hobbys, Einkaufen, Kochen, Sport und vieles mehr – keine Priorität hat. Anders ausgedrückt, die Abendstunden gehören auch zum Arbeitstag einer Führungskraft, und wer immer sich in irgendeiner Weise dagegen äußert, bringt damit zum Ausdruck, dass er oder sie nicht zu dieser Eliteklasse von Führungskräften gehört. Eine Führungsfrau beschreibt sehr deutlich, wie das System sich selbst aufrecht erhält durch die Struktur der Sitzungen: „Es gibt aber auch einen Grund dafür, weshalb [es hier] so konservativ ist. Denke ich. Weil, wir haben hier sehr viel mehr Arbeitsbelastung als an anderen Unternehmen. Also jedenfalls, ich war in [Stadt H.H.] und ich weiß, da war ich in den ruhigeren Zeiten immer zuhause. Könnte ich hier nicht machen. Und, wenn man so viel Belastung hat, dann ist es natürlich schwierig, wenn man was Neues macht. Was Neues zu machen kostet Kraft, kostet Zeit. Und die haben wir nicht. Wir müssen Leute einstellen, die direkt in unser System reinpassen. Ja? Das denke ich so.“ [Interview 2]

Körperliche Bedürfnisse im Arbeitstag einer Führungskraft Eine andere in Unternehmen häufige Erwartungshaltung ist, dass körperliche Bedürfnisse wie Hunger, Durst oder der Wunsch nach Toilettenpausen völlig unberücksichtigt bleiben. Das Thema kam in meinem ersten Interview auf und blieb ein häufiges Thema quer durch alle Abteilungen und wurde von vielen Führungsfrauen thematisiert. Sie gingen davon aus, dass Nahrung, Getränke und Pausen individuelle Verantwortlichkeiten sind und dass das Unternehmen sich nicht um solche menschlichen Einschränkungen kümmert: „Also, ich nehme mir immer etwas zu trinken mit, weil ich halte es nicht aus so lange ohne Getränk, aber es gibt nur ganz wenige, die was dabei haben. Ist alles Selbstversorgung. Also, ich denke es wäre auch für so eine Kultur gut, wenn es irgendwie…wenn man abends anfängt, man macht eine Viertelstunde Pause zwischen der Sitzung auch irgendwann mal und es gibt etwas zu trinken und ein belegtes Brötchen

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oder so. Ich glaube, wir könnten uns das alle leisten. Finanziell und von der Figur wahrscheinlich auch. Aber nein.“ [Interview 1]

Eine Führungsfrau berichtete von ihrer Abteilung: „Wir sitzen dann meistens seit zwei Uhr. Erst mal zwei Stunden, manchmal auch nur eine Stunde, und wenn es dann bis sieben Uhr geht und man nichts zu trinken hat, finde ich ein bisschen anstrengend. Nein da gibt es nichts, das ist rein fachlich. Ist nicht so, dass man irgendein persönliches Gespräch führt. Das passiert nicht.” [Interview 2]

Interviewerin: „Gibt es eine Pause?“ „Nein. Wir ziehen das durch. Und hoffen, möglichst schnell fertig zu sein. Alles auf Effizienz.” [Interview 2] Ich fragte, ob sich dieses Unternehmen in Bezug auf die Anerkennung von körperlichen Bedürfnissen unterscheide: „An anderen [Stellen H.H.] war es anders?” „Also, ich weiß auch von Kollegen, die machen diese Sitzungen während des Mittagessens. Also es geht erst mal drum, dass man zusammen isst. Und dann wird erst zusammen besprochen. Das gibt’s bei anderen Unternehmen doch irgendwie, irgendwo.” Interviewerin: „Aber hier ist daran nicht zu denken?” „Ich glaube nicht, nein.” [Interview 1] Eine Führungsfrau antwortete auf meine Frage: „Wir haben immer diese aufeinanderfolgenden Sitzungen und es geht oft nicht aus, dass da Zeit zwischen ist, sondern man rennt dann von der einen Sitzung direkt in die nächste. Da haben wir keine Zeit, uns etwas zu essen zu holen.” [Interview 11]. Falls Essen und Trinken angeboten wird, sind es die Frauen, die dies organisieren. Eine meiner Gesprächspartnerinnen berichtete über Essen und Trinken in Sitzungen: „Und komischerweise funktioniert das nur dann, wenn Frauen irgendwo dann die Versorgung machen. Es ist selbstverständlich, dass (sonst)… kein Trinken, kein Essen.” [Interview 5] Eine andere meinte: „Also bei [Abteilungssitzungen H.H.], da versucht die Sekretärin zumindest was zu trinken hin zu stellen.” [Interview 2] Aus einer anderen Abteilung wird geschildert: „Also in der Regel ist innerhalb der [Abteilung H.H.] die Verpflegung, was also Flüssigkeiten usw. anbelangt, immer gegeben. Und wenn nicht, stehe ich auf und hole etwas.” [lacht H.H.] [Interview 6]. Ich fragte weiter, „Und wenn es da ist, wer bringt es?” Sie antwortet, „Ja, also ob das jetzt die Sekretärin ist, oder ir-

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gendeine Mitarbeiterin. Typischerweise…” Ich: „Es ist nie ein Mann?” Ihre Antwort: „Habe ich noch nie gesehen, ob es männliche Wesen sind, die die Tische decken. Ja.” [Interview 6] Eine Führungsfrau schildert einen einzigartigen Moment, den sie mit einer anderen, inzwischen pensionierten Führungsfrau geteilt hat [sie mischt ihr Englisch und Deutsch in ihrer Aussage]: „Und die andere Frau war inzwischen [in Pension H.H.]. Und sie hat gesagt, Wer vorträgt hat ’nen trockenen Mund. Und wer ’nen trockenen Mund hat, braucht Wasser. Und ich geb’ Dir welches. Das Wasser war einfach…es gibt jemand, der versteht, wie meine Situation ist. Und da…ich bin noch nicht mal auf die Idee gekommen zu fragen, „Can I have some water? It was only a small thing, but I felt she… she understands my situation at the moment.” [Interview 5]

Die Führungsfrau empfand eine Seelenverwandtschaft mit einer anderen Frau, die ihre körperlichen Bedürfnisse bemerkte und ihr half, diese zu befriedigen. „Das geht vielleicht noch so gerade. Aber ist schon an manchem Arbeitstag für mich schwierig, auf die Toilette zu gehen, weil dann jeder … immer der Termin, einer folgt auf den anderen und das ist dann immer …Aber ich sage immer, wir sind es ja selber schuld. Dann müssen wir mal sagen: So. Entschuldigung, ich brauche jetzt mal drei Minuten.” [Interview 11]

Der Preis des Erfolgs hier: „The Greedy Workplace“ Es gibt eine lange Tradition der Forschung zum Konzept „the greedy workplace“ 7. Führungsfrauen äußerten ihre Wahrnehmung der langen Arbeitsstunden und Sitzungen und sie sprachen über die erwarteten persönlichen Opfer, um in diesem Unternehmen auf Führungsebene erfolgreich sein zu können. Ich fragte: „Haben Sie das Gefühl, Frauen haben die gleiche Chance, Ihre Qualifikationen zu etablieren oder aufzubauen?” Eine antwortete:

7

Coser 1974; Flam 1993; Handy 1978; Kelly et al. 2010; Moen/Huang 2010; Moen/ Roehling 2005.

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„Also mittlerweile würde ich sagen ‚ja’. Es stellt sich aber immer die Frage: ist man bereit, auf Kinder zu verzichten? Also ich meine sonst…aber auch das ist mittlerweile möglich. Und wenn eben da eine bessere Infrastruktur wäre, wäre das bei mir und weiblichen Personen möglich. Ich kenne also junge Kolleginnen, die es auch geschafft haben, Karriere zu machen und Kinder zu bekommen. Und das finde ich ja eben halt genau die Sache. Nämlich aussterben sollten wir auch nicht unbedingt.“ [Interview 6]

Dafür ist mehr als eine gute Infrastruktur vonnöten, meinten andere Führungsfrauen: „Und wenn ich den Anspruch habe, ich will großes Geld verdienen, ich will Führungsverantwortung haben, ich will einen Job machen … dann ist das auch nicht mit einer 40-Stunden-Woche erledigt. Da muss ich bereit sein, auch mindestens 60 Stunden die Woche zu arbeiten. Und ich glaube, das bieten … fordern diese Jobs. Unabhängig vom Geschlecht. Und dann zu sagen, ich will mich aber auch um meine Kindererziehung kümmern, ich will aber auch meinen Hobbies nachgehen, ich will aber auch Elternauszeit haben, dann ist das der falsche Weg. Also für diese Karrierejobs muss ich irgendwann auch mal in irgendeinem Bereich zurückstecken.“ [Interview 8]

Sie spricht weiter über die Arbeitsbelastung und wie diese steigt, je höher man auf der Leiter steigt: „Und ich muss ganz klar sagen, es ist immer mehr geworden. Als ich mit meinem Studium fertig war und ich habe [angefangen H.H.], war ich mir ganz klar, warum habe ich jemals im Studium gejammert über zu viel Arbeit? Und das wird immer mehr. Und Leute, die jetzt während der [Anfangsphase H.H.] hier als Ingenieur arbeiten und sagen, das ist mein Limit, mehr kann ich nicht, der wird nachher ein Problem haben.“ [Interview 8]

S CHLUSSFOLGERUNG

UND

D ISKUSSION

Zu den Eigenarten sozial dominanter Männlichkeiten zählen „cultural consent, discursive centrality, institutionalization, and the marginalization or delegitimation of alternatives” (Connell/Messerschmidt 2005, 846). Egal

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welche Abteilung, in diesem Unternehmen beschreiben die Führungsfrauen das Verhalten ihrer männlichen Kollegen und der Unternehmenskultur so, dass sie den Normen der hegemonialen Männlichkeit entsprechen. Ich konzentriere mich hier in der Zusammenfassung auf zwei Themenbereiche: den Umgang mit Zeit und das Problem des Körpers. Dann beschreibe ich die Beobachtungen, die im Laufe der Untersuchungen zur Sprache kamen und schließe mit einer Diskussion über die Einschränkungen dieser Untersuchung ab.

Umgang mit Zeit Die Frauen beschrieben eine Arbeitsplatzkultur, die keine Pausen in Sitzungen vorsah, keine zeitliche Beschränkung der Sitzungen und keine Zeit des Tages oder der Nacht, zu der die Arbeit zu Ende ist: Arbeit geschieht rund um die Uhr. Die Arbeit dominiert das Leben der Führungskräfte, zumindest auf einer symbolischen, demonstrativen Ebene. Diese Einstellung zu Zeit – dass sie in erster Linie dafür da ist, die Arbeit zu erleichtern – ist ein allgemeines Merkmal von hegemonialer Männlichkeit. Dieser Umgang mit Zeit beeinflusst die Unternehmenskultur insofern, als er signalisiert, dass jemand, der hier erfolgreich sein möchte, die Arbeit und das Unternehmen an die Spitze der Prioritätenliste setzen muss. Ob die Arbeit tatsächlich die Priorität Nr. 1 für Männer in Führungsposition hat, ist ein anderes Thema; der Punkt ist, dass Männer Erfolg damit hatten zu demonstrieren, – ihren weiblichen Kolleginnen gegenüber und wahrscheinlich auch untereinander und gegenüber den Männern auf unteren Beschäftigungsebenen – dass die Arbeit alles übertrumpft. Ein Privatleben oder das Bedürfnis nach Schlaf oder Ruhe bleiben unsichtbar.

Das Problem des Körpers Die Unsichtbarkeit oder Problematisierung der körperlichen Bedürfnisse ist der zweite Teil des Musters, das aus den Gesprächen mit den Führungsfrauen deutlich wird. Was ich als „Problem des Körpers“ bezeichne, bezieht sich auf die Art und Weise, wie Führungskräfte ihre eigenen menschlichen Körper in diesem Unternehmen ignorieren, insbesondere ihre Bedürfnisse

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nach Schlaf, Ruhepausen, Nahrung, Wasser und Ausscheidung. Der Körper scheint als eine Unannehmlichkeit definiert zu sein, als ein Hindernis, das man am besten aus dem Bewusstsein verdrängt, um die zeitlichen Anforderungen der Führungspflichten zu erfüllen. Die Frauen berichteten, dass es keine Pausen zwischen oder während der Sitzungen gab, auch wenn diese sieben oder neun Stunden andauerten. Projekte gingen ohne Pause ineinander über. Wasser wurde nur in bestimmten Abteilungen zur Verfügung gestellt, ansonsten musste jede und jeder sein oder ihr eigenes Wasser zu den Sitzungen mitbringen, was die wenigsten taten, wie die Führungsfrauen berichteten. Essen gibt es noch viel seltener und auch nur dann, wenn Frauen es mitbringen. Aufgrund fehlender Toilettenpausen mussten die Frauen die Sitzungen verlassen, wenn es ganz dringend wurde, oder sie mussten sich für die nächste Sitzung mit den Worten „ich brauche nur ein paar Minuten“ entschuldigen. Der springende Punkt ist, dass die meisten Frauen wiederholt erwähnten, dass sie sich genötigt fühlten auszuhalten und die physischen Erfordernisse ihrer Arbeit zu ertragen, und dass die Männer anscheinend weitermachten, wenn die Frauen schon ihre Grenzen überschritten hatten, ganz gleich ob es um eine spätabendliche Sitzung ging oder das Schreiben von Berichten mitten in der Nacht. Zusammengefasst impliziert die durch diese Frauen dargestellte Kultur und das Verhalten die Ausbeutung des Körpers und die Tendenz den Körper an seine physiologischen Grenzen zu treiben. Zufälligerweise hat dieses Unternehmen auch eine hohe Burnoutrate unter seinen Führungskräften. Wenn Führungskräfte mit sich selbst so umgehen, dann stellt sich die Frage, wie sie ihre Angestellten behandeln und ob dies mit gleichem Mangel an Respekt für die körperlichen Grenzen geschieht.

Weitere Beobachtungen Eigenschuld Die Aussagen der Führungsfrauen in diesem Unternehmen machen mehrere Gemeinsamkeiten deutlich, obschon die Frauen in verschiedenen Abteilungen und mit verschiedenen Kollegen arbeiten. Ein gemeinsames Thema war die Art und Weise, wie die Frauen sich selbst die Schuld geben. Ein Kriterium „nicht den Standards zu genügen“ betraf lange Arbeitsstunden und späte Sitzungen ohne Essen und Trinken. Die Frauen haben diese Werte an-

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scheinend so sehr verinnerlicht, dass sie persönliche Verantwortung dafür übernehmen, wenn sie nicht auf dem Niveau und in der Art und Weise, die das Unternehmen für normal erklärt, an den Aktivitäten teilnehmen. Die Neigung mancher Frauen, sich selbst die Schuld zu geben, verwundert nicht, wenn man bedenkt, dass die Genderstruktur – dominiert durch die hegemonialen männlichen Ideale – sehr stark verinnerlicht wird. Diese Frauen suchen nicht nur häufig die Schuld bei sich selbst, wenn sie sich der durch die männlichen Kollegen gesetzten Norm nicht anpassen, sondern häufig profitieren sie auch bzw. haben in der Vergangenheit davon profitiert, gerade indem sie diese Normen und Erwartungen erfüllten, die aus einer Kultur der hegemonialen Männlichkeit erwachsen, wie etwa die Verfügbarkeit für das Unternehmen rund um die Uhr, die Missachtung der körperlichen Bedürfnisse und die Vermeidung von Fürsorgeverpflichtungen. Risman schreibt: „Gender structure at the interactional and institutional levels so thoroughly organizes our work, family, and community lives that even those who reject gender inequality in principle sometimes end up being compelled by the ‘logic’ of gendered situations and cognitive images to choose gendered strategies” (1998, 34-35). Die Unbequemlicheit der „Effizienz” Ein weiterer Punkt, auf den viele Frauen hinwiesen, war die Art und Weise, wie die Annahme einer logischen, effizienten, aufgabenorientierten Herangehensweise an die Arbeit letztlich zu körperlichen Unannehmlichkeiten, Erschöpfung und Ineffizienz führte. Siebenstündige Sitzungen ohne Pausen, Nahrung oder Getränke, weit bis in die Nacht hinein, zeichneten sich einerseits aus durch ein Interesse daran durchzumachen, um schneller zu Ende zu kommen, andererseits durch eine Auflösung in einen offen-füralle-Wettbewerb, in dem es darum ging, wer am lautesten und am längsten reden kann, und wo Inhalt und Effizienz deutlich in den Hintergrund verdrängt wurden. Den Frauen fiel dies auf und sie brachten es zur Sprache, in manchen Fällen verließen sie die Sitzung oder schalteten ab. Keine Frau erwähnte, dass männliche Kollegen manchmal früher gehen würden. Ob Männer tatsächlich nicht früher gehen oder ob es den Frauen nur nicht aufgefallen ist, lässt sich aus diesen Ergebnissen nicht ableiten. Es ist jedoch wahrscheinlich, dass diese langen und späten Sitzungen ohne Erfrischungen auch für männliche Körper und die Konzentrationsfähigkeit der Männer eine Erschwernis bedeuten. Es wäre interessant, mit den männlichen Füh-

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rungskräften darüber zu reden, ob sie auch dieses Unbehagen empfinden und ob sie wünschen, dass es anders wäre. Viel Aushalten In diesem Zusammenhang ist abschließend zu bemerken, dass die Frauen feststellen, dass sie viele Unannehmlichkeiten ertragen müssen, um auf diesem Niveau ihre Arbeit zu tun. Sie sagten häufig: „es ist hart“ und „es ist anstrengend“. Wenn in Deutschland über das Thema Frauen in Führungsposition diskutiert wird, geht es selten um die Kehrseite der Arbeitsbedingungen: nicht nur lange Arbeitstage, sondern auch Umstände von physischem Unbehagen. Eine mögliche Erklärung, warum Frauen diese Umstände deutlicher auffallen, während Männer diese nicht wahrnehmen, ist die Gender-Sozialisierung. Von Männern in Deutschland wird erwartet, dass sie ihre körperlichen Bedürfnisse unterdrücken, zäh und stark sind und nie Schwäche zeigen. Dieser Männlichkeitscode schließt das Eingeständnis von Gefühlen aus. Selbst ein Einwurf wie „lasst uns mal lüften” oder „ich denke, nach einer Pause werden wir effektiver arbeiten“ oder „wir sollten uns vielleicht erst einmal beruhigen und die Sache noch einmal neu angehen“, würde als Eingeständnis einer Schwäche gewertet und entspricht somit nicht dem Ideal dessen, was einen guten, starken Mann ausmacht. Und da ein „guter Mann“ und eine „gute Führungskraft“ sehr ähnlich definiert werden, (Eagly/Makhijani/Klonsky 1992), würde solch ein menschliches und ehrliches Vorgehen zu einer Ächtung durch andere Männer und zu einem Verlust von Macht und Respekt der Führungsposition führen. Oder aber es wäre eine revolutionäre, erfrischende Demonstration von Ehrlichkeit und Stärke. Die Frauen, die von den Arbeitsbedingungen berichteten, sind besonders erfolgreich. Sie sind in äquivalenten oder beinahe äquivalenten Positionen wie die Männer und sie alle leiten ihre eigenen Teams. Wenn diese Frauen sich mit einem Gefühl der eigenen Verantwortung für die Schwierigkeit ihrer Arbeitsbedingungen und einem Gefühl von Hilfslosigkeit gegenüber den sozialen und physischen Mustern des Arbeitszeitgebrauchs herumschlagen, dann ist es eine offene, aber berechtigte Frage, wie dieses Verhalten die Art und Weise beeinflusst, in der Männer in Bezug auf Frauen agieren. Zudem wäre zu fragen, wie sich dies auf die Sichtweise der Frauen auf niedrigeren Ebenen gegenüber den vorgesetzten Frauen als

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Vorbilder auswirkt und darauf, wie attraktiv für sie höhere Leitungspositionen erscheinen.

Einschränkungen der Studie Interviews mit Männern in Führungspositionen desgleichen Unternehmens würden weitere Erkenntnisse über die wahrgenommene Unternehmenskultur liefern. Sind den Männern die Ausmaße der von ihnen dominierten Arbeitsplatzkultur bewusst, die die Frauen beschrieben? Oder sehen sie andere Aspekte? Erleben die Männer die Mühen ihrer Arbeit in gleichem Maße wie die Frauen oder fallen ihnen andere Aspekte ihrer Arbeit auf? Beobachtungen der Beteiligten würden darüber hinaus die aktuellen Gegebenheiten beleuchten, denn es könnte durchaus sein, dass eine kleine Anzahl männlicher Führungskräfte mit einem besonders auffälligen Verhalten die Wahrnehmung der weiblichen Kolleginnen beeinflusst. Eine systematische Analyse des Inhalts von Sitzungen und Gesprächen würde den Beobachtungen der Frauen noch mehr empirische Glaubwürdigkeit verleihen. Zudem könnte ein Blick auf den Terminkalender eines Vierteljahres einen besseren Eindruck der tatsächlich geplanten Zeiten für Sitzungen liefern. Neun von 23 Frauen auf diesen Ebenen waren zu einem Interview nicht bereit. Sie kamen alle aus zwei Abteilungen: Die eine davon ist als die Abteilung mit der höchsten Arbeitsbelastung bekannt. Gleichzeitig verfügt diese Abteilung über die größte Unabhängigkeit vom Kern des Unternehmens; sie hat eigene Verantwortlichkeiten und Verbindungen zu anderen Unternehmen und zur Öffentlichkeit. Die andere Abteilung ist diejenige mit dem größten Anteil an Frauen auf der Führungsebene. Im Falle der Abteilung mit der höchsten Arbeitsbelastung und der geringsten Anbindung an das Unternehmen gehe ich davon aus, dass die Frauen, die die Gelegenheit eines Interviews ablehnten, sich unter Zeitdruck fühlten und daher eine Beteiligung für unmöglich hielten. Im Falle der Abteilung mit der höchsten Anzahl an Führungsfrauen vermute ich, dass die Sorge vor dem Bekanntwerden der Grund für ihre Ablehnung war. Eine Frau bestätigte mir dies offen, und aus der Zurückhaltung der Frauen aus dieser Abteilung schließe ich auf eine allgemeine Besorgtheit diesbezüglich. Sexismus und Frauenfeindlichkeit waren in dieser Abteilung entsprechend den Interviewergebnissen am höchsten. Es könnte Thema einer künftigen Untersuchung sein

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festzustellen, ob und warum dieses hohe Maß an Sexismus sich ausgerechnet dort manifestiert, wo der Anteil der Frauen auf Führungsebene 1/5 und nicht 1/20 beträgt, wie es in anderen Abteilungen der Fall ist. Ich vermute, dass die höhere Anzahl an Frauen von den Männern in der Abteilung als Bedrohung empfunden wird. Die Sorge vor einer Verweiblichung des inneren Kreises – sowie das Bedürfnis, eine spezielle Maskulinität zum Vorteil der Männer in der Abteilung zur Schau zu tragen – führt zu einer Dynamik von Ausgrenzung und Missachtung der weiblichen Kollegen in ihrer Abteilung. Weitere Forschungen könnten diese Beobachtung untermauern. Auf jeden Fall sind etliche Frauen in dieser Abteilung nach vielen Jahren der ausgrenzenden Behandlung durch die Männer dazu übergegangen, sich selbst von fast allen wichtigen Sitzungen der Führungskräfte auszuschließen, und sie haben sich auch nicht an dieser Untersuchung beteiligt. Wie eingangs erwähnt, handelt es sich hier um einen deutschen Kontext. Die Frauen selbst waren der Meinung, dass es in Deutschland kulturelle Verhaltensunterschiede zu anderen Nationen gibt, zum Beispiel eine geringere Tendenz, die Bedürfnisse anderer im Berufsleben wahrzunehmen und höfliche, diplomatische Umgangsweisen zu pflegen. Dieses Thema kam wahrscheinlich auch aufgrund der Dynamik zwischen einer amerikanischen Interviewerin und deutschen Führungskräften zur Sprache. Die Auflösung der gesetzlichen Barrieren zur Berufstätigkeit von Frauen hat keineswegs zur Auflösung aller kulturellen und ideologischen Barrieren und zur vollständigen und respektierten Beteiligung der Frauen geführt. Eine der letzten Domänen männlicher Vorherrschaft, die Führungsfunktion, ist ein heftig verteidigtes Territorium, und es gibt noch eine Vielzahl kultureller Praktiken, um Frauen entweder auszuschließen oder um sie überzeugen, dass sie dort nicht hingehören. Für Führungsfrauen in Deutschland könnte ein Bewusstsein dafür, dass Genderkultur ihre Arbeitsstellen durchdringt, und eine offene Diskussion darüber, wie diese Kultur aussieht und wie sie sich anfühlt, dazu beitragen, die Macht dieser Kultur zu reduzieren.

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6. Vereinbarkeit von Erwerbsarbeit und Privatleben

Karriere und Vereinbarkeit – Geschlechtsspezifische Auswirkungen einer neuen Karrierepraxis in Unternehmen A NJA B ULTEMEIER

1. D IE AUSGANGSLAGE : B LOCKIERTER F ORTSCHRITT IN DER K ARRIEREINTEGRATION VON F RAUEN ? Das Thema Frauen und Karriere steht aktuell ganz oben auf der politischen Agenda. In dieser Legislaturperiode soll endlich gelingen, was jahrelang nicht durchsetzbar und von der EU-Kommissarin Viviane Reding immer wieder vergeblich angemahnt wurde, nämlich einen Fortschritt in der Beteiligung von Frauen an Führungspositionen in Unternehmen zu erreichen. Im Raum stehen nun eine Geschlechterquote von 30 Prozent für die Aufsichtsräte börsennotierter Unternehmen, verbindliche Zielvorgaben zum Anteil von Frauen in Vorständen, Aufsichtsräten und im oberen Management börsennotierter und mitbestimmungspflichtiger Unternehmen, die von diesen jedoch selbst festgelegt werden können, sowie eine „Vorreiterrolle“ von Unternehmen, bei denen der Bund beteiligt ist. Diese gesetzlichen Vorgaben sind der vorläufige Höhepunkt einer politischen Auseinandersetzung, die bereits vor einigen Jahren begonnen hat. So wurde 2001 zwischen der Bundesregierung und den Spitzenverbänden der deutschen Wirtschaft eine „Vereinbarung zur Förderung der Chancengleichheit von Frauen und Männern in der Privatwirtschaft“ abgeschlossen (vgl. Langes 2010). Die Steigerung des Anteils von Frauen an Führungspositionen war ein zentrales Ziel dieser „freiwilligen Selbstverpflichtung“ der

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Wirtschaft. Eine neue Dynamik in die öffentliche Diskussion brachte dann 2010 der Vorstoß der Deutschen Telekom AG zur Einführung einer Frauenquote im Management. Der Beschluss des Unternehmens sieht vor, bis 2015 30 Prozent der Führungspositionen im oberen und mittleren Management mit Frauen zu besetzen. Andere Unternehmen und ebenso die Politik gerieten dadurch unter „Zugzwang“; es gab „Spitzentreffen“ zwischen Vertretern/-innen aus der Politik und den Vorständen der DAX-Unternehmen zu dieser Thematik und viele Unternehmen legten in der Folge Zielvereinbarungen zur Beteiligung von Frauen an Führungspositionen vor. Die Bilanz all dieser Bemühungen ist jedoch ernüchternd. Bei den Unternehmen bewegt sich nur sehr wenig: Zwar ist der Frauenanteil in den Aufsichtsräten der 200 umsatzstärksten Unternehmen zwischen 2012 und 2013 um etwa zwei Prozentpunkte auf gut 15 Prozent gestiegen, stagniert jedoch bei den Vorständen auf einem Wert von gut 4 Prozent (Holst/Kirsch 2014). Mit Blick auf die DAX-30-Unternehmen, die besonders im Fokus öffentlicher Aufmerksamkeit stehen, ist sogar eine negative Entwicklung zu beobachten: Der Anteil von Frauen in Vorständen fällt um anderthalb Prozentpunkte auf gut sechs Prozent (ebd.). Das Top-Management bleibt damit eine „Männerbastion“. Betrachtet man die Entwicklung von Frauen im Mittelmanagement ergibt sich ein etwas anderes Bild: Hier ist ihr Anteil zwischen 2006 und 2012 von 21,1 Prozent auf 28,8 Prozent gestiegen. Aber zugleich verlangsamt sich die Entwicklung seit 2010 deutlich und ist mit einem Anstieg von nur 0,2 Prozentpunkten zwischen 2011 und 2012 kaum wahrnehmbar (Schwarze u.a. 2012). Diese extrem zähe Entwicklung zeigt sich auch in der Gesamtbetrachtung des Top- und Mittelmanagements: So ist zwischen 2010 und 2011 ein Anstieg von 0,8 Prozentpunkten auf 20,2 Prozent zu konstatieren und zwischen 2011 und 2012 ein Anstieg von nur mehr 0,1 Prozentpunkten auf 20,3 Prozent (ebd.). Seit 2012 ist wieder etwas mehr Bewegung in den Unternehmen zu beobachten. Der Anteil von Frauen im Mittelmanagement erhöht sich um 1,1 Prozentpunkte und liegt 2013 bei 29,9 Prozent (Schwarze/Frey/Hübner 2013, 18) und auch die Gesamtbetrachtung des Top- und Mittelmanagements zeigt eine Zunahme um 0,7 Prozentpunkte auf 21 Prozent (ebd., 6). Trotz dieser leichten Verbesserung im Verhältnis zur Stagnation der vorausgegangenen Jahre spiegeln die Daten insgesamt eine nur sehr zögerliche Entwicklung wider. Eine besondere Problemkonstellation zeichnet sich dabei in den großen Unternehmen

K ARRIERE UND V EREINBARKEIT | 257

ab: Hier liegt der Frauenanteil an Führungspositionen des Top- und Mittelmanagements gerade mal bei 15,4 Prozent (ebd., 7). Was ist also los in den Unternehmen? Warum gelingt es nicht, zu einem Durchbruch in der Integration von Frauen in Führungspositionen zu gelangen? Konträr zur engagierten öffentlichen Auseinandersetzung seit dem Vorstoß der Telekom ist in den Unternehmen nur sehr wenig passiert. Werden darin bereits die Grenzen in der Beteiligung von Frauen erkennbar? Findet eine Gleichstellung der Geschlechter nur auf der „Vorderbühne“ proklamatorischer Reden statt, während auf der „Hinterbühne“ weiterhin Ausschließungsmechanismen gegenüber Frauen wirken (Funder/Dörhöfer/ Rauch 2006, 36)? Und reichen die gesetzlichen Vorgaben aus, daran wirklich etwas zu verändern? Diese Fragen stellen sich in zugespitzter Weise vor dem Hintergrund grundlegender Veränderungen in den Unternehmen selbst, die seit den 1990er Jahren an Kontur gewonnen haben: neue Organisationsformen, der verstärkte Einsatz von Informations- und Kommunikationstechnologien, neue Formen kollaborativer Arbeit in Projekten, bei der kommunikative und soziale Kompetenzen eine zentrale Rolle spielen. Waren es doch gerade diese Veränderungen – die „Kompetenzrevolution“ (Vester/Gardemin 2001, 478) in den Unternehmen mit ihrem Bedeutungsgewinn von „soft skills“ – die neue Hoffnungen für die Karriereintegration von Frauen nährten. Birger P. Priddat (2001) attestiert den Frauen sogar einen „komparativen gender-Vorteil“ (ebd., 15), weil sie in der Kombination von Beruf und Familie, der „hyperorganization of organizations“ (ebd., 8), gerade jene Schlüsselkompetenzen – Kommunikationsfähigkeit und Organisationsgeschick, Problemlösungsverhalten etc. – erwerben würden, die genau den neuen Anforderungsprofilen für Führungskräfte entsprächen. Die tatsächlichen Entwicklungen bestärken diese Hoffnungen nicht; ein „Gender-Vorteil“ für Frauen lässt sich nicht erkennen. Im Gegenteil, die Zahlen deuten weiterhin auf massive Probleme bei der Karriereintegration von Frauen hin. Aber woran liegt das? Warum gelingt es den Unternehmen nicht, die Fortschritte in der Bildungsbeteiligung von Frauen, ihre exzellenten Abschlüsse, auch in entsprechende Fortschritte bei den Karrierechancen zu transferieren? Um Antworten auf diese Fragen zu finden, soll der Blick auf die Karrierepraxis in den Unternehmen gelenkt werden; sie wird im Mittelpunkt der nachfolgenden Ausführungen stehen. Es ist die Karrierepraxis mit ihren „Spielregeln“, Auswahlentscheidungen, Anforderungen

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und Bewährungsproben, die im Ergebnis die Ungleichheit in der Chancenverteilung von Frauen und Männern hervorbringt und sich in den enttäuschenden Daten und Entwicklungen zum Frauenanteil an Führungspositionen spiegelt. Indem diese soziale Praxis und damit gleichsam der Prozess des „Karrieremachens“ konkret entfaltet wird, werden zugleich auch die Mechanismen der Grenzziehung gegenüber Frauen erkennbar. Dabei zeigt sich, dass die Karrierepraxis vor allem eine alte Problemkonstellation neu akzentuiert: die Vereinbarkeit von Erwerbsarbeit und Familie. Die Auswirkungen der Karrierepraxis auf die Vereinbarkeit dürften entscheidend zum blockierten Fortschritt in der Karriereintegration von Frauen beitragen. Im Folgenden werden Ergebnisse präsentiert, die im Projekt „Frauen in Karriere“ 1 in einem fünfjährigen Forschungsprozess gewonnen wurden. Im Zentrum des Projekts standen die Analyse der Karrierestrukturen und Karrieremechanismen vor allem großer Unternehmen der Elektroindustrie, der Informations- und Telekommunikationsbranche sowie der Bankenwirtschaft und die darauf bezogenen Handlungsstrategien von Frauen und Männern. Dabei wurden insgesamt 325 qualitative Interviews mit weiblichen und männlichen Beschäftigten und Führungskräften unterschiedlicher Hierarchieebenen geführt. So konnten tiefe Einblicke in die Karrierepraxis und die damit korrespondierende geschlechtsspezifische Chancenverteilung gewonnen werden. Um die Vereinbarkeit von Karriere und Familie im Kontext einer neuen Karrierepraxis auszuloten, sollen in einem ersten Schritt zunächst die zugrunde liegenden Veränderungen in den Unternehmen skizziert werden. Es zeigt sich, dass mit den Veränderungen zugleich die Basis für die traditionelle Karrieregestaltung erodiert und Karriere im Kontext „systemisch integrierter Unternehmen“ (Bultemeier/Boes 2013, 103 f.) neu gedacht werden muss. Darauf aufbauend werden in einem zweiten Schritt zentrale Momente

1

Das Projekt „Frauen in Karriere“ wurde zwischen Dezember 2008 und November 2013 als Kooperationsprojekt zwischen dem Institut für Sozialwissenschaftliche Forschung München und der Friedrich-Alexander-Universität ErlangenNürnberg durchgeführt. Es wurde gefördert vom Bundesministerium für Bildung und Forschung und vom Europäischen Sozialfonds. Neben der Autorin waren als Mitarbeiter/-innen des Projektteams Andreas Boes, Tobias Kämpf, Barbara Langes, Thomas Lühr, Kira Marrs, Rainer Trinczek und als studentische Hilfskraft Simone Bauer beteiligt.

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der neuen Karrierepraxis von Unternehmen vorgestellt. Diese generiert Anknüpfungspunkte für neue Chancen, vor allem aber neue Risiken, die in einer „Ausschließlichkeit“ des Karriereprozesses liegen, wodurch Karriere und Familie zum Gegensatz werden. In einem dritten Schritt folgt ein Perspektivenwechsel von der Ausgestaltung der Praxis zu den individuellen Handlungsstrategien von Frauen und Männern in Auseinandersetzung mit dieser Praxis. Dabei wird zum einen deutlich, in welchem Ausmaß die Vereinbarkeitsproblematik die Karriereverläufe von Frauen strukturiert und ausdifferenziert. Zum anderen offenbaren die unterschiedlichen Karrieremuster jedoch eine gemeinsame Grundqualität: Sie sind im Kern „Unvereinbarkeitskarrieren“. Der Beitrag endet mit einem Plädoyer für eine Öffnung der Karrierepraxis für das Leben. Erst wenn die Ausschließlichkeit der Karriere durchbrochen wird, kann ein nachhaltiger Fortschritt in der Karriereintegration von Frauen gelingen.

2. K ARRIEREN IM W ANDEL DER U NTERNEHMEN Karrierestrukturen und Karrierepraxen sind eng verbunden mit der Organisation der Unternehmen und der Arbeit. Diese definiert Möglichkeiten und Grenzen der Karriere, ist Grundlage der Anforderungen an Karrierekandidaten/-innen sowie der Entscheidungspraxis und beeinflusst maßgeblich das dominante Karriereverständnis. Grundlegende Veränderungen in den Parametern von Organisation und Arbeit ziehen deshalb auch grundlegende Veränderungen in der Karrieregestaltung nach sich. Die traditionelle „Organisationskarriere“, wie wir sie auch heute noch in einzelnen Aspekten beobachten können, ist eng verbunden mit der tayloristisch-fordistischen Unternehmenskonzeption. Bis weit in die 1970er Jahre hinein war dies die dominante Leitvorstellung von auf Massenproduktion ausgerichteten industriellen Großunternehmen. Konstitutiv ist eine funktionale Unternehmensorganisation, bei der die funktionalen Säulen wie Entwicklung, Produktion und Vertrieb weitgehend unverbunden nebeneinander stehen und eine hohe Eigenständigkeit aufweisen, so dass auch den Leitern dieser Bereiche eine hohe Gestaltungsmacht zukommt (vgl. Beckman 1996). Mit weit reichenden Entscheidungsbefugnissen ausgestattet, fungieren sie als „Fürsten im Reich“, während das Top-Management ihnen gegenüber nur vergleichsweise geringe Kontrollpotentiale hat.

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Neben der funktionalen Organisation ist die „wissenschaftliche Betriebsführung“ ein weiteres Kennzeichnen dieser Unternehmenskonzeption. Die strikte Trennung von Planung und Ausführung der Arbeit (vgl. Braverman 1977) führt zu einem enormen Anwachsen von planenden und leitenden Tätigkeiten. Intendierte Produktivitätsfortschritte auf Seiten der Handarbeit bewirken zugleich als unintendierte Nebenfolge ein Anwachsen jener Beschäftigtengruppen, die mit der Planung und Leitung der Arbeit beschäftigt sind. Im Ergebnis kommt es zu einer Ausdifferenzierung von Leitungsebenen und zur Entstehung von bürokratisch geformten, tief gestaffelten Hierarchien mit vielfach kaskadierten Entscheidungs- und Befehlsketten. Als prototypisch für ein solches Unternehmen kann General Motors stehen, das in seiner Hochphase als fordistisch-tayloristisches Unternehmen 14 Hierarchieebenen aufwies (vgl. Womack/Jones/Roos 1991). Mit dieser Ausgestaltung des fordistischen Unternehmens korrespondieren nun spezifische Karrierestrukturen und Karrierepraxen. So verläuft Karriere entlang der Aufbauorganisation der Unternehmen in den funktionalen Säulen als „Kaminkarriere“ oder „funktionale Karriere“ (Faust/Jauch/Notz 2000, 177). Die Beschäftigten verbleiben in den jeweiligen Säulen und steigen dort sukzessiv auf; Querbewegungen als Wechsel zwischen den Säulen finden in der Regel nicht statt. Folgt die funktionale Kanalisierung der Karriere der Logik der funktional gegliederten Organisation, so ist die hierarchische Ausdifferenzierung die Grundlage der „Statuskarriere“ (Baethge/Denkinger/Kadritzke 1995). Jeder Schritt auf der Karriereleiter ist mit einem Zuwachs an Geld, Macht und Prestige verbunden. Die tiefe hierarchische Ausdifferenzierung ist auch Voraussetzung für das glaubhafte „Aufstiegsversprechen“, das nach Baethge/Denkinger/Kadritzke (1995) einen zentralen Bestandteil des Einbindungsmodus für Führungskräfte bildet. Nur wenn tatsächlich eine Vielzahl an Karrierepositionen zur Verfügung steht, könne Karriere als Anreiz für Kreativität und Leistungsbereitschaft dienen. Dies gilt zumindest unter den Bedingungen langfristiger Bindung, hoher Beschäftigungssicherheit und geringer individueller Leistungstransparenz, wie sie für das fordistische Unternehmen konstitutiv sind. In einer solchen Konstellation sind auch Karriereabstiege nicht vorgesehen; Beschäftigte und Führungskräfte werden in „betriebszentrierten Arbeitsmärkten“ (Lutz 1987) langfristig gebunden und sind in ihrem Erleben durch die „Zukunftsgewissheit“ (Castel 2000, 341) geprägt. Karriere bleibt so auf ei-

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ne Organisation beschränkt – Kaminkarriere und Statuskarriere verdichten sich zur Organisationskarriere. Bei der Auswahl der Karrierekandidaten kommt den Führungskräften in den funktionalen Bereichen zentrale Bedeutung zu. Als „Fürsten im Reich“ entscheiden sie weitgehend eigenständig, wer aufsteigen darf und wer nicht. Dabei sind sie teilweise in bürokratische Regelsysteme eingebunden, die personale Entscheidungen einschränken können, diese jedoch nicht aufheben – so z.B. indem frei werdende Stellen formal ausgeschrieben werden müssen. Als Auswahlkriterien bei Karriereentscheidungen fungieren Seniorität und Leistung. Während Seniorität den in den langfristigen Bindungen angelegten Zuwachs an Erfahrung widerspiegelt, bildet die Leistung den Motor der „Aufstiegskonkurrenz“: „Die Ungewissheit darüber, wer nach welchen Kriterien aufsteigt, ist die sprudelnde Quelle der Aufstiegskonkurrenz“ (Faust 2002, 70). Hier liegt „eine wichtige Machtbasis des jeweiligen Vorgesetzten“ (ebd., 71), der die Leistungskriterien definiert oder interpretiert. Frauen sind in dieser Phase auf die Randbereiche des fordistischen Unternehmens konzentriert. Da sie nicht den Vorstellungen des „Normalarbeitnehmers“ entsprechen und mit ihren diskontinuierlichen Erwerbsbiographien auch das zentrale Karrierekriterium der Seniorität nicht erfüllen, bleiben sie vom Aufstieg ausgeschlossen. Die traditionelle Organisationskarriere korrespondiert so mit einer ausgeprägten Geschlechtersegregation (vgl. Achatz 2008) und erzeugt für eine Frauen eine Situation, die als „begrenzte Integration mit beschränkten Möglichkeiten“ (Cyba 1998, 37) beschrieben werden kann. Dieser Gesamtkomplex von Karriere gerät seit den 1990er Jahren in Bewegung und zwar mit den grundlegenden Veränderungen in den Unternehmen, die in dieser Zeit an Kontur gewinnen. In der Aufbauorganisation wird die funktionale Gliederung in einzelne Säulen ersetzt oder ergänzt durch „Lines of Business“, die cross-funktionale Beziehungen abbilden. Diese Lines of Business setzen am Markt oder am Kunden an und organisieren davon ausgehend den kompletten Prozess der Leistungserbringung. Die Entstehung von Projektarbeit und Projektabteilungen an der Schnittstelle zum Markt oder Kunden ist Ausdruck dieses neuen Organisationsprinzips. Heute weisen viele Unternehmen eine Matrixorganisation auf, die funktionale und prozessorientierte Organisationsprinzipien verbindet und so die Bündelung von Wissen und die Skaleneffekte der funktionalen Gliede-

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rung ebenso nutzt wie die Marktnähe und Flexibilität der Prozessorientierung. So entstehen Unternehmen, die eine hohe Marktreagibilität und Veränderungsflexibilität aufweisen und deren einzelne Einheiten nicht gegeneinander isoliert, sondern über durchgängige Wertschöpfungsprozesse systematisch zueinander in Beziehung gesetzt werden. Damit korrespondiert eine konsequente „Dezentralisierung“ der Unternehmen (Faust/Jauch/ Notz 2000; Minssen 2008), was sowohl die Schaffung eigenständiger Einheiten mit unternehmerischer Verantwortung als auch die Verlagerung von Verantwortung auf die Mitarbeiter bedeutet. Die Anforderungen dynamischer Märkte lassen sich nicht mehr mit tief gestaffelten Hierarchien bewältigen, und dies gilt ebenso für die Komplexität wissensbasierter Arbeit. So gehen die Dezentralisierung und die Reduzierung von Hierarchieebenen Hand in Hand; flache Hierarchien, der Abbau von Führungspositionen und die mit der Verantwortungsverlagerung auf die Mitarbeiter verbundene „Transformation von Führung“ (Bultemeier/Boes 2013, 107) kennzeichnen die sich wandelnden Unternehmen. In diesem Kontext erfährt auch die Expertenrolle, die fachliche Beratung der Führungskräfte, eine Aufwertung und wird zum Ausgangspunkt für eine eigenständige Expertenlaufbahn in den Unternehmen, die neben die Führungs- und Projektkarriere tritt. Ermöglicht wird die Dezentralisierung durch parallel verlaufende Prozesse der Zentralisierung, die eine Gesamtsicht auf das Unternehmen erzeugen und die einzelnen Einheiten zueinander in Beziehung setzen. Grundlage dafür ist eine „neue Qualität der Informatisierung“ (Baukrowitz/Boes 1996; Boes/Kämpf 2012), die ein „informatorisches Abbild“ (Baukrowitz/Boes 1996) des gesamten Unternehmens und damit auch einen veränderten Steuerungs- und Kontrollzugriff ermöglicht (Boes/Bultemeier 2008). Die Etablierung eines „Management by Objectives“, d.h. der Steuerung anhand von Zielvereinbarungen und Kennzahlen, ist Ausdruck dieser Veränderung und der dadurch geschaffenen Transparenz. So ist die Dezentralisierung nicht nur induziert durch die gewollte Marktnähe und Komplexitätsbewältigung, sondern auch getragen von der informatorischen Durchdringung und dem damit einhergehenden verbesserten Steuerungszugriff des oberen Managements gegenüber dem Gesamtunternehmen. Im Ergebnis zeichnet sich so eine neue Leitvorstellung in den grundlegenden Veränderungsbestrebungen der Unternehmen ab: das „systemisch integrierte Unternehmen“ (Bultemeier/Boes 2013, 97). Konträr zur divisio-

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nalen Struktur des fordistischen Unternehmens wird hier versucht, die einzelnen Einheiten entlang der Idee durchgängiger Wertschöpfungsprozesse zueinander in Beziehung zu setzen und sie als Momente eines interdependenten Systems zu begreifen, dessen Ziel es ist, einen Kundennutzen zu bewirken. „Systemisch bedeutet […], dass die organisatorischen Subeinheiten eben nicht gegeneinander isoliert werden, sondern im Gegenteil entsprechend ihrer realen Interdependenz bei der Leistungserbringung so in Beziehung gesetzt werden, dass ‚alles mit allem zusammenhängt’. Demnach sind beispielsweise Entwicklung, Produktion und Vertrieb drei funktionale Teilmomente eines auf den Kunden gerichteten Leistungserstellungsprozess, deren Beziehungen untereinander notwendig interdependent sind. Interdependent bedeutet hier: Es muss davon ausgegangen werden, dass jede Aktivität in einer organisatorischen Teileinheit der systemischen Organisation zwingend Wirkungen in allen anderen zeigt. Nicht das Denken im eigenen ‚Silo’ bestimmt die Wahrnehmung der Abteilung, sondern die Vorstellung des ‚Beständig in Beziehung-Stehens’ zu anderen Abteilungen.“ (Ebd., 103)

Die systemische Integration wird dabei durch zwei gegensätzliche, jedoch komplementär verbundene Mechanismen ermöglicht: einerseits die informatorische Durchdringung und andererseits die Herstellung von Öffentlichkeiten im Unternehmen (ebd., 104). Erst die informatorische Abbildbarkeit ermöglicht eine Gesamtsicht auf die Unternehmen und deren inhärente Interdependenzbeziehungen. Dies stellt wiederum die Grundlage dafür da, die Arbeit in einzelnen Abteilungen sowie in einer cross-funktionalen Beziehung zwischen verschiedenen Abteilungen als durchgängige Prozesse zu beschreiben. Prozesse und Kennzahlen bilden das „Gerüst“ des Unternehmens, das die Rahmenbedingungen und Parameter für das Handeln von Beschäftigten und Führungskräften bereitstellt, kanalisiert und in eine systemische Bezogenheit bringt. Die neue Bedeutung, die diesem informatorischen „Gerüst“ der Unternehmen zugeschrieben wird, zeigt sich auch an der Etablierung von eigenständigen Abteilungen zur „Betriebssteuerung“, die sich mit der Definition und

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dem Ausrollen von Prozessen, der Festlegung und Anpassung von KPIs 2, der informatorischen Infrastruktur und einer explizit cross-funktionalen Perspektive beschäftigen. Das informatorische „Gerüst“ reicht jedoch nicht aus, um eine systemische Perspektive zu realisieren. Wäre es so, würden starre Unternehmen ohne Fluidität und Veränderungskapazität entstehen, was jedoch der besonderen Qualität wissensbasierter Unternehmen widersprechen würde. Diese leben vielmehr von der Expertise, der Kreativität, Innovationsbereitschaft und vor allem der Kollaboration ihrer Mitarbeiter/-innen. Das „ScientificManagement“ der tayloristischen Ära stößt dort an Grenzen, wo komplexe Prozesse und Interdependenzen nicht mehr von außen analysiert werden können: „Das System als solches ist so komplex, das kann keiner im Ganzen durchschauen. Das geht gar nicht, dass eine Person dieses ganze System versteht.“ (Abteilungsleiter, Elektrotechnik) 3 Die dezentrale Expertise der Mitarbeiter/-innen muss jedoch sinnvoll aufeinander bezogen und in eine organisatorische Einheit gebracht werden. In den von uns untersuchten Unternehmen geschieht dies über Kommunikation und die Schaffung unternehmensbezogener „Öffentlichkeiten“ (Bultemeier/Boes 2013, 105). Öffentlichkeiten sind die Arenen, in denen die systemische Integration hergestellt wird. So werden „Kaffeeecken“ eingerichtet, in denen die Beschäftigten Gelegenheit zur ungezwungenen Kommunikation erhalten, Teams tauschen sich in „Daily Scrums“ aus, Abteilungen treffen sich zu „Pre-Lunch-Meetings“, um fachliche Themen teamübergreifend zu debattieren und „Social Media“ werden als Mittel der Kommunikation eingesetzt. Neben die Koordination über Prozesse und Kennzahlen tritt so die Koordination über Kommunikation und öffentliche Aushandlung. Darin drückt sich zugleich ein grundlegender Wandel der Arbeit aus: Zusätzlich zur eigentlichen Fachlichkeit gewinnen die Fähigkeiten zur Kommunikation und zum öffentlichen Agieren zentrale Bedeutung. Die fachliche Expertise bleibt für das Unternehmen „wertlos“, wenn sie nicht kommuniziert werden kann (Ahrens 2004). In systemisch integrierten Unternehmen lässt sich

2

Die Abkürzung KPI bedeutet Key Performance Indicator. Als KPI wird ein Set an Kennzahlen definiert, über die sich ein Unternehmen in einem bestimmten Kontext Aussagen über strategisch relevante Sachverhalte verspricht.

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Zitiert nach Bultemeier/Boes (2013, 109).

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deshalb ein Wandel der Fachlichkeit in Richtung einer „systemischkommunikativen Fachlichkeit“ (Bultemeier/Boes 2013, 111) beobachten. Mit dem grundlegenden Wandel in den Unternehmen erodieren somit die Rahmenbedingungen und Parameter, die die traditionelle Organisationskarriere in den funktionalen Kaminen getragen haben. Alte Strukturen brechen auf und ein veränderter Kontext zwingt dazu, Karriere neu zu denken. Es sind diese Veränderungen, in die der „Gendertrouble“ (Butler) platziert werden muss, den Pasero (2004) als ein „historisch neues Phänomen“ (ebd., 143) begreift. Erstmals würden Frauen und Männer überhaupt um gleiche Positionen konkurrieren und seien der Festlegung auf eine komplementäre, jedoch asymmetrische Rollenverteilung – z.B. Chef und Sekretärin – entronnen. In dieser Konstellation sind Frauen nicht mehr auf die Randbereiche der Unternehmen beschränkt, sondern dringen zunehmend in hochqualifizierte und prestigereiche Segmente vor. Und doch scheint diese Öffnung für die Frauen zugleich in spezifischer Weise begrenzt zu sein, wie es in den Daten und Entwicklungen zum Frauenanteil in Führungspositionen zum Ausdruck kommt. Auskunft über diese Begrenzungen gibt die neue Karrierepraxis in den Unternehmen.

3. D IE

NEUE K ARRIEREPRAXIS IN SYSTEMISCH INTEGRIERTEN U NTERNEHMEN

In den untersuchten Unternehmen können wir mit den Umstrukturierungen auch Momente einer neuen Karrierepraxis beobachten. Erstaunlich ist, dass sich über Unternehmens- und Branchengrenzen hinweg bereits einheitliche Muster abzeichnen. Dies bedeutet weder, dass sich die Unterschiede zwischen den Unternehmen auflösen, noch dass die traditionelle Karriere bereits der Vergangenheit angehört. Vielmehr lassen sich unternehmensspezifisch unterschiedliche Variationen von alt und neu erkennen, experimentieren die Unternehmen noch mit der Ausgestaltung ihrer Karrierestrukturen und Karrieremechanismen und ist der Prozess der Suche nach neuen Lösungen keinesfalls abgeschlossen. Dennoch werden die Konturen einer neuen Karrierepraxis, die eng mit dem Leitbild des systemisch integrierten Unternehmens verbunden ist, deutlich sichtbar. Es ist diese Karrierepraxis mit ihren Anforderungen, Spielregeln, Auswahlentscheidungen und Akteurskonstellationen, die maßgeblich über die Möglichkeiten zur Verein-

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barkeit von Karriere und Familie und damit auch über die Karrierechancen von Frauen bestimmt.

3.1. Von der „Kaminkarriere“ zur „Rotationskarriere“ Eines der augenfälligsten Merkmale einer neuen Karrierepraxis ist die „Rotationskarriere“ (Bultemeier/Boes 2013, 115). Mit der Auflösung der tief gestaffelten Hierarchien in den funktionalen Silos verliert die Kaminkarriere ihre organisatorische Grundlage und ihre Legitimation. Statt des Verbleibs innerhalb eines Funktionsbereichs über die gesamte Karriere hinweg, wird heute von den Mitarbeiter/-innen Mobilitätsbereitschaft erwartet. Wechsel zwischen Jobs und Funktionsbereichen, zwischen unterschiedlichen Geschäftsbereichen, zwischen Stab und Linie, zwischen der Zentrale und den operativen Bereichen, zwischen unterschiedlichen Karrierepfaden sowie den nationalen und internationalen Standorten der Unternehmen sollen zum Aufbau von „Erfahrungsbreite“ beitragen. Das Ziel ist es, die Beschränkungen einer funktionalen Perspektive aufzubrechen; die „Mitarbeiter/-innen sollen „über den Tellerrand hinausblicken“, sie sollen in der Lage sein, die Erfahrungen, die sie in einem Bereich gemacht haben, in einen anderen zu transferieren und neue Impulse zu setzen. Die Rotationskarriere folgt damit der Logik der systemischen Integration. Über vielfältige Wechsel sollen die Mitarbeiter/-innen befähigt werden, das Unternehmen in seiner Gesamtheit und seinem systemischen Zusammenwirken entlang der Lines of Business besser zu verstehen. Die Unternehmen wählen unterschiedliche Lösungswege um die Rotationen zu realisieren (ebd.). In einigen Unternehmen ist die Häufigkeit der Wechsel für das Erreichen der jeweiligen Führungsebene verbindlich festgeschrieben. Wer die unterste Führungsebene erreichen möchte, muss einen Wechsel entweder zwischen Karrierepfaden, Funktionen, Bereichen oder internationalen Standorten vorweisen können, für die Abteilungsleiterebene sind es schon zwei und von einem Bereichsleiter werden in seiner Karriereentwicklung drei solcher Wechsel erwartet. Andere Unternehmen verzichten auf eine formale Festschreibung, obwohl auch hier effektive Wechsel und häufig vor allem internationale Erfahrungen für einen Karriereaufstieg erwartet werden. Ein weiteres Lösungsmuster generalisiert soziale Mobilität im Unternehmen. In diesem Fallbeispiel wird von den Beschäftigten ein

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Wechsel nach fünf Jahren, von den Karrierekandidaten/-innen, also den „Top Talents“, ein Wechsel nach drei Jahren erwartet. Die Rotationen werden so Teil der Normalität einer neuen Arbeitspraxis und sind nicht nur mit Blick auf den Karriereaufstieg relevant. Für die Mitarbeiter/-innen bedeutet die Rotationskarriere, dass sie sich immer wieder auf neue Situationen einstellen müssen. Ein Wechsel in eine neue Funktion, einen neuen Bereich oder ein fremdes Land ist mit Einarbeitungszeit und Anstrengungen verbunden, mit dem Neuen vertraut zu werden. Die Personalverantwortlichen einiger Unternehmen gehen davon aus, dass die Mitarbeiter/-innen nach ungefähr fünf Jahren ein Gebiet beherrschen und danach keine weiteren Lernerfahrungen möglich sind. Von ihnen wird erwartet, dass sie „die Komfortzone verlassen“ und sich neuen Anforderungen und Herausforderungen stellen. Das Arbeitsleben bleibt so abwechslungsreich, absorbiert aber auch mehr Zeit und Kraft, weil Routinen durch die Wechsel bewusst durchbrochen werden. Zeiten, in denen „auf Halten gespielt wird“ und Erfahrungen genutzt werden können, um Prioritäten in privaten Lebensbereichen zu setzen, gehen so immer stärker zurück. Zugleich stellt die Rotationskarriere neue Anforderungen an die örtliche Mobilität, die mit lebensphasenspezifischen Belangen kollidieren können, wie z.B. der Betreuung von kleinen Kindern. Die Rotationskarriere setzt so auf die permanente Weiterentwicklung der Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen; neben der Aktualisierung ihres Fachwissens sind sie gefordert, „Organisations- und Kommunikationskompetenz“ (Priddat 2004, 166) und systemspezifisches Wissen über die Interdependenzen im Unternehmen aufzubauen.

3.2. Von personalen zu systemischen Karriereentscheidungen Mit den Umstrukturierungen in den Unternehmen verändern sich nicht nur die Karrieremuster. Empirisch zu beobachten ist auch eine neue Art und Weise, wie Karriereentscheidungen generiert werden (Bultemeier/Boes 2013, 119 ff.). Anders als im fordistischen Unternehmen wird in stärker systemisch integrierten Unternehmen die Auswahl der Karrierekandidaten/innen nicht mehr den einzelnen Führungskräften und ihren persönlichen Präferenzen überlassen. Es ist nicht mehr der „Fürst im Reich“, der im

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funktionalen Silo allein darüber entscheidet, wer promoviert wird und wer nicht. Vielmehr finden Auswahlentscheidungen heute nach zentral definierten Standards und Prozessen statt, die vereinheitlicht sind und für das gesamte Unternehmen Gültigkeit haben. In allen großen Unternehmen des Projektnetzwerks konnten wir vom Human Ressource Management entwickelte und unternehmensweit „ausgerollte“ Prozesse zur Nominierung der Karrierekandidaten/-innen beobachten. In diesen Prozessen sind Zeitpunkt, Verfahrenweise, Auswahlkriterien und Akteursbeteiligungen genau definiert. Wichtigste Instanz dieser Prozesse sind die „Kalibrierungsmeetings“. In den Kalibrierungsmeetings treffen sich die Führungskräfte einer Ebene funktionsübergreifend und bewerten gemeinsam die Führungskräfte oder Beschäftigten der darunter liegenden Ebene. So kommen z.B. die Abteilungsleiter eines Bereichs zusammen, um alle Gruppenleiter dieses Bereichs hinsichtlich ihres Potentials zu bewerten. Die Kalibrierungsmeetings finden „kaskadiert“, über alle Hierarchiestufen der Unternehmen statt, so dass im Idealfall alle Mitarbeiter eines Unternehmens durch dieses Bewertungssystem laufen. Mit den Kalibrierungsmeetings wird ein grundlegender Wandel der Entscheidungsmodi eingeleitet (ebd., 124 f.): • Statt der persönlichen Präferenzen leiten nun zentral und professionell definierte Kriterien die Auswahlentscheidungen an. Diese Kriterien sind an der systemisch-kommunikativen Fachlichkeit orientiert und spiegeln die Anforderungen dieser neuen Arbeitspraxis wider. So sind u.a. Proaktivität, Überzeugungskraft und Verantwortungsbewusstsein zentrale Kriterien zur Bestimmung des Karrierepotentials. • An die Stelle von Einzelentscheidungen treten kollektive Entscheidungsprozesse, die zugleich die traditionell funktionale Betrachtungsweise zugunsten einer unternehmensbezogenen Perspektive aufbrechen. Die Führungskräfte entscheiden gemeinsam, auch wenn der unmittelbar Vorgesetzte zunächst einen Vorschlag zur Potentialbewertung macht. Ebenso wie dieser müssen auch die anderen Führungskräfte vom Potential der Person überzeugt sein, um einer Nominierung zum „Top Talent“ oder „High Potential“ zuzustimmen. • Die Auswahlentscheidungen finden so nicht mehr im Verborgenen – dem Wirkungsbereich der einzelnen Führungskräfte –, sondern öffentlich statt. Die Führungskräfte werden mit ihren Entscheidungen, aber auch ihren Fähigkeiten, Mitarbeiter/-innen zu fördern, sichtbar. Durch die Aushandlung wird so eine „kollektive Selbstkontrolle des Manage-

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ments“ (ebd., 125) erzeugt. Selbst der mächtigste Ressortchef kann seine Mitarbeiter nicht mehr durch die Teilnahme an Karriereprogrammen belohnen, wenn die anderen Führungskräfte bei diesen kein Potential erkennen können. Die kollektive Aushandlung erzeugt so einen Rechtfertigungsdruck, auch wenn Machtasymmetrien zwischen den beteiligten Akteuren dadurch nicht ausgeschaltet werden. Im Ergebnis wird durch die Kalibrierungsmeetings eine „neue Stufe der Versachlichung“ in den Auswahlentscheidungen erreicht, „weil auch die Interpretationen und Wahrnehmungsweisen nicht mehr der individuellen Autonomie der Führungskräfte überlassen bleiben, sondern durch die Öffentlichkeit des Prozesses kollektiv zugänglich gemacht werden“ (ebd.). Obwohl in allen Unternehmen unseres Partnernetzwerks Kalibrierungsmeetings stattfinden, unterscheiden sich die Unternehmen doch sehr in der Verbindlichkeit und Reichweite, mit der sie dieses Instrument nutzen und damit auch tradierte personale Entscheidungen ausschalten (ebd., 126). Während in einigen Unternehmen die kollektiv nominierten „High Potentials“ einen Pool bilden, aus dem freie Führungspositionen ausschließlich besetzt werden, ist in anderen Unternehmen ein Nebeneinander zwischen kollektiver Nominierung und personaler Besetzungspraxis zu beobachten. Hier dienen die „Shortlists“ mit den „High Potentials“ als Orientierung, ohne bei der Stellenbesetzung zwingend zu sein. Die Führungskräfte können bei der Stellenbesetzung davon abweichen, stehen dann jedoch unter Rechtfertigungsdruck gegenüber der Personalabteilung. Für Beschäftigte mit Karriereambitionen bedeuten diese Veränderungen in der Entscheidungspraxis der Unternehmen, dass es ihnen nicht nur gelingen muss, den unmittelbaren Vorgesetzten, sondern auch die Führungskräfte aus anderen Abteilungen und Bereichen von sich zu überzeugen. Dazu müssen sie unternehmensweit „sichtbar“ werden. Das kann nur über Aufgaben und Projekte gelingen, die diese Sichtbarkeit auch erzeugen: Pilotprojekte, Taskforces, wichtige Kundenschulungen, Fachvorträge vor der Abteilung, die Betreuung und Koordination zentraler Unternehmensprozesse und anderes mehr. Der Radius, in dem Karrierekandidaten wirken und sich vernetzen müssen, erhöht sich dadurch deutlich, ebenso wie die Aufwendungen, die dafür zusätzlich zur normalen Jobfunktion notwendig sind.

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3.3. Differenzierte Bewährungsproben zur Erschließung des Karrierepotentials Worauf fokussiert nun die neue Entscheidungspraxis in den Unternehmen? Was sind zentrale Entscheidungskriterien? Der Schlüsselbegriff in diesem Kontext lautet „Potential“ (ebd., 120). Die Entscheidungspraxis zielt auf die Identifizierung und Nominierung der Potentialträger/-innen als zukünftige Führungskräfte des Unternehmens. In den Unternehmen wird „Potential“ als „vermutete Anlage“ oder als „Wette auf die Zukunft“ verstanden (ebd., 121). Von den „High Potentials“ wird angenommen, dass sie als zukünftige Führungskräfte oder Projektleiter bestehen können. Potential ist somit etwas, das sich im Vorfeld nicht abschließend erfassen lässt und für das es doch Anhaltspunkte gibt. Diese Anhaltspunkte müssen im konkreten Tun erkennbar werden und sie müssen etwas anderes erfassen als die „Leistung“ in der eigentlichen Funktion, die neben dem Potential in den Kalibrierungsmeetings ermittelt wird. Potential fokussiert damit auf eine besondere inhaltliche Qualität der Arbeitspraxis und ist „im Kern ein Praxisbegriff“ (ebd., 127). In den Unternehmen unseres Samples wird das Potential der Mitarbeiter/-innen in vielfältigen, teilweise hierarchisch gestaffelten Bewährungsproben erschlossen und es zeigt sich im besonderen Vollzug der systemisch-kommunikativen Fachlichkeit (ebd.). Die Unternehmen sind heute in viel stärkerem Maße als früher darauf angewiesen, dass die Mitarbeiter/innen sich intensiv mit dem Unternehmen auseinander setzen, neue Ideen generieren und Verbesserungen anregen. Von ihnen wird erwartet, dass sie ihr Wissen teilen, sich über funktionale Grenzen hinweg austauschen und die Organisation in ihren Interdependenzen verstehen. Nur so lässt sich die Komplexität wissensbasierter Unternehmen bewältigen. In diesem Kontext gewinnt eine Fähigkeit an Bedeutung, die wesentlich für die weiteren Karrierechancen ist: die „öffentlichen Positionierung“ (ebd., 132, Bultemeier 2011, 55). In allen Unternehmen unseres Samples wird über diese Fähigkeit der Zugang zum Management strukturiert. Dabei wird die öffentliche Positionierung als komplexes Handlungsmuster nicht von vornherein vorausgesetzt, sondern im Arbeitsprozess über verschiedene Stufen beobachtet und entwickelt. Die Fähigkeit zur Positionierung wird für die direkten Vorgesetzten zunächst an einer spezifischen Haltung zur Arbeit sichtbar. Karriereaspiranten

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fallen dadurch auf, dass sie sich eigenständig, in der ersten Person mit ihrer Arbeit auseinandersetzen, mithin „Position beziehen“ und z.B. Verbesserungsvorschläge machen. Dabei ist der Handlungsradius noch sehr begrenzt – die Positionierung erfolgt innerhalb des Teams oder der Arbeitsgruppe. Die Führungskraft registriert jedoch, dass sich die Person intensiv mit der Arbeit auseinander setzt und Neues transferieren kann. Diese erste Positionierung fungiert als „fachliche Bewährungsprobe“ (Bultemeier 2011, 55). Im weiteren Entwicklungsverlauf erweitert sich der Handlungsradius der Positionierung. Positionierung bedeutet nun ein machtvolles Agieren. Von den Karrierekandidaten/-innen wird erwartet, dass sie eigenständig „Themen treiben“ und diese auch in der Organisation verankern können. Dies beinhaltet auch die Fähigkeit, kommunikativ überzeugen zu können und dient damit als „kommunikative Bewährungsprobe“ (ebd.). Ein Bereichsleiter aus dem Bankensektor beschreibt diesen Komplex an Verhaltenserwartungen sehr anschaulich: „… schaffen Sie es, Themen in der Organisation durchzusetzen oder – Durchsetzen klingt so negativ, aber ich sag mal: gegen den klassischen üblichen bürokratischen Apparat irgendwie Dinge ans Laufen zu kriegen, können Sie Lösungen irgendwie erarbeiten, wo Sie verschiedene Interessen unter einen Hut bringen, schaffen Sie es mit all den widersprüchlichen Interessen, was hinzukriegen, pushen Sie aber schon Themen nach vorne, ohne aggressiv zu sein, […] aber trotzdem was zu bewegen. Also: Wie agiert man, wie bewegt man sich in der Organisation, wie schaffen Sie es, Dinge weiterzuentwickeln, wie treten Sie auf…?“ (Bereichsleiter, Banken)4

Letztlich mündet die Positionierung dann in eine „öffentliche Exponierung“ (ebd.) – die Karriereaspiranten müssen unternehmensweit „sichtbar“ werden. Damit demonstrieren sie, dass sie in der Lage sind, den engen Bereich ihres Teams und ihrer Abteilung zu verlassen, um Themen von unternehmensweiter Relevanz zu treiben. Sie positionieren sich zugleich als Karrierekandidaten/-innen, die andere Führungskräfte von den eigenen Kompetenzen überzeugen können. Wenn dies gelingt, haben sie auch die „öffentliche Bewährungsprobe“ (ebd.) bestanden. In unseren Partnerunternehmen haben viele Frauen Schwierigkeiten mit der Sichtbarkeit artikuliert, obwohl ihnen die Karriererelevanz der öffentli-

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Zitiert nach Bultemeier/Boes (2013, 131).

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chen Positionierung deutlich bewusst ist (Bultemeier/Boes 2013, 148 ff.). Dabei geht es nicht um die fachliche Positionierung in den Teams und Arbeitsgruppen, die Frauen ebenso wie Männer praktizieren. Vielmehr geht es um den mit der öffentlichen Exponierung verbundenen Anspruch, zukünftige Führungskraft zu sein. Diesen Anspruch müssen Frauen in der Regel gegen die Zuschreibungen einer Managementwelt für sich reklamieren, die sie immer noch negiert oder als Risiko betrachtet. Sie sind also gefordert, sich gegen ihre Verortung im Unternehmen zu positionieren. Das fällt vielen Frauen schwer; andere verweigern sich diesem Anspruch und drohen damit ins „Karriereabseits“ zu geraten (Bultemeier 2011, 58). Die Fähigkeit zur öffentlichen Positionierung ist heute zentrale für die Realisierung einer Aufstiegskarriere. Sie ersetzt die „Seniorität“ als zentrale Karrieredeterminante der traditionellen Kaminkarriere. Dabei korrespondiert sie mit der neuen kollektiven Entscheidungspraxis in den Kalibrierungsmeetings und steht im Kontext der systemisch-kommunikativen Fachlichkeit. Systemisch integrierte Unternehmen sind auf die öffentliche Positionierung angewiesen, weil sie zur Strukturbildung in komplexen und öffentlichen Situationen beiträgt (Bultemeier/Boes 2013, 111). In der öffentlichen Positionierung verdichten sich so die Anforderungen einer neuen Arbeitspraxis. Inhaltlich zielt der Potentialbegriff somit auf das komplexe Handlungsmuster der öffentlichen Positionierung. Über dieses ausgereifte Handlungsmuster verfügen die Karriereaspiranten nicht von Beginn an; es ist also auch für die Führungskräfte nicht gleich vollständig erkennbar. Vielmehr muss es in der Praxis entwickelt und erschlossen werden. Die Potentialerkennung ist deshalb an vielfältige, teilweise hierarchisch gestaffelte Bewährungsproben gebunden, die die Karrierekandidaten/-innen durchlaufen müssen. Mit der inhaltlichen Qualität des Potentialbegriffs korrespondiert somit zugleich auch ein spezifischer Prozess des „Karrieremachens“, in dem die Bewährungsproben sequentiell angeordnet und unterschiedliche Phasen identifizierbar sind (Bultemeier/Boes 2013, 136 ff.; Bultemeier 2011, 66 f.). Der Karriereprozess beginnt weit unterhalb der ersten offiziellen Karriereposition und endet auch dann nicht, wenn keine weiteren Karriereschritte mehr angestrebt werden. Er basiert auf der Bereitschaft der Beschäftigten, zusätzlich zu ihrem Job Zusatzaufgaben „on top“ zu übernehmen. Gerade in den hochqualifizierten Bereichen der IT- und Elektrotechnischen

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Industrie werden heute sehr gute Leistungen in der Funktion selbstverständlich vorausgesetzt, so dass vor allem das Potential differenzierend wirkt. Dennoch sind überdurchschnittliche Leistungen der erste Schritt, um die Aufmerksamkeit des Vorgesetzten zu binden. Diese Leistungen müssen zunächst erarbeitet werden (Bultemeier/Boes 2013, 136). In einem zweiten Schritt müssen die Beschäftigten ihr Potential in vielfältigen Bewährungsproben immer wieder zeigen. Diese Bewährungsproben werden systematisch ausgeweitet, um das Potential auszureizen (ebd.). Wie das in der Praxis aussehen kann, beschreibt beispielhaft ein Gruppenleiter aus der Elektroindustrie: „… ich habe eine Mitarbeiterin, die ganz normal Software entwickelt […], da habe ich gesehen, über zwei, drei Jahre hinweg: In jedem Mitarbeitergespräch hat sie meine Erwartungshaltung immer übertroffen. ‚Das geht so nicht weiter, da muss ich mehr machen.’ Dann haben wir den Schritt gemacht, wir haben ihr die Aufgabe gegeben, Prozessexperte zu werden […]. Den Job hat sie gekriegt, hat mit der normalen Aufgabe erst einmal gar nichts zu tun. Hat aber nach sich gezogen, sie muss sich direkt an den Geschäftsbereich wenden, dort einklinken in die entsprechenden Runden, Informationen mitbringen, bei uns Schulungen halten. Die ist ein ganz ruhiger Charakter und die hat das alles perfekt gemacht. Und jetzt haben wir den nächsten Schritt gemacht und haben gesagt: ‚Okay, das hat sie immer noch alles voll erfüllt’, und jetzt kommt der nächste Schritt und jetzt haben wir sie zum Prozesseigner gemacht […], also noch eine Aufgabe oben drauf. Und mittlerweile, seit kurzem, ist sie auch noch stellvertretende Teamleiterin in einem Team mit neun Mitarbeitern. Das ist so eine Person, wo ich sagen könnte, die können wir anschieben.“ (Gruppenleiter, Elektrotechnik) 5

In einem dritten Schritt kommt es dann darauf an, von den Vorgesetzten strategisch im Unternehmen platziert zu werden. Komplementär zur systemischen Entscheidungsfindung sind hierzu Aufgaben notwendig, die eine unternehmensweite Sichtbarkeit garantieren. Der Karriereprozess kulminiert dann viertens in der Übernahme einer offiziellen Karriereposition, ohne dass damit der Bewährungsprozess endet (ebd.). Karrierepositionen sind heute nicht mehr „in Stein gemeißelt“; Karriereabstiege sind möglich und in den Kalibrierungsrunden wird jedes Jahr aufs Neue darüber befunden, ob

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Zitiert nach Bultemeier/Boes (2013, 130).

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die Führungskräfte auf ihren Positionen adäquat eingesetzt sind. Das „System permanenter Bewährung“ (Boes/Bultemeier 2010) aktualisiert so den Karriereprozess, auch wenn keine weiteren Karriereschritte anvisiert werden. Ist ein Aufstieg in der Hierarchie geplant, beginnt der Karriereprozess von neuem. Von den Mitarbeiter/-innen aus unseren Partnerunternehmen wird der Karriereprozess als extrem zeitaufwendig, anstrengend und emotional bindend beschrieben. Der Karriereprozess erfordert die ganze Person und lässt kaum Zeit und Raum für Aktivitäten außerhalb der Arbeit (Bultemeier/Boes 2013, 137). In dieser Phase gehören überlange Arbeitszeiten und das Arbeiten am Wochenende zur Normalität und die „High Potentials“ eines Unternehmens werden dadurch erkennbar, dass sie nicht mehr „stechen“, sich also aus den Zeiterfassungssystemen ausklinken. Um Karriere zu machen, bedarf es einer Fokussierung auf Karriere – „muss das absolut Prio A sein, Karriere machen zu wollen“ (Mitarbeiter aus der Elektrotechnik).

3.4. Die zentrale Bedeutung der Zeit In dieser sozialen Konstruktion des Karriereprozesses kommt der Zeit eine zentrale Bedeutung zu. In der zeitlichen Verfügbarkeit für das Unternehmen liegt eine entscheidende Weichenstellung, ob eine Karriere möglich ist oder nicht (ebd., 136). 6 Dies wird an zwei Aspekten besonders deutlich: der Negierung von Teilzeitbeschäftigten (ebd., 155 ff.) und der Undurchlässigkeit des Karriereprozesses gegenüber Unterbrechungen (ebd., 153 ff.). Teilzeitarbeit stellt mit Blick auf eine Karriere in der betrieblichen Praxis einen „Unzustand“ dar (ebd., 155). In der Betrachtungsperspektive vieler Führungskräfte kommt in der Teilzeitarbeit die fehlende Bereitschaft, sich voll und ganz dem Unternehmen zu widmen, zum Ausdruck. Beschäftigte in Teilzeit werden so gar nicht erst als Karrierekandidaten/-innen anerkannt, auch wenn sie ihre Karriereambitionen noch so sehr signalisieren;

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Auch Nickel/Hüning (2008) betonen die zentrale Bedeutung der Zeit. In einem Kontext „des fortwährenden Appells an das Engagement und die Eigeninitiative für den Betrieb, wird zeitliche Verfügbarkeit für den Betrieb zum ausschlaggebenden Faktor der Karrierechancen“ (ebd., 224 f.).

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sie fallen durch das Wahrnehmungsraster ihrer Vorgesetzten: „… und ich bin nur Teilzeit. Mein Abteilungsleiter nimmt mich nicht, nicht wahr.“ (Mitarbeiterin, Elektrotechnik) 7 Hinzu kommt, dass es für Teilzeitkräfte schwierig ist, die zeitintensiven Bewährungsproben „on top“ zu durchlaufen. In unseren Partnerunternehmen haben wir so keinen Karriereaufstieg in Teilzeit finden können – mit zwei Ausnahmen. Zwei Mitarbeiterinnen ist es gelungen, ausgehend von einer 80Prozent-Stelle in die unterste Führungsebene aufzusteigen. Diese Frauen haben aber, ebenso wie andere Karriereaspiranten auch, deutlich mehr als 100Prozent gearbeitet. Mit ihrer Arbeitszeitreduktion haben sie sich vielmehr für „Notfälle“ gerüstet, um z.B. legitimieren zu können, dass sie nach Hause gehen, wenn das Kind krank ist. Sie haben also den Verfügbarkeiterwartungen der Unternehmen voll und ganz entsprochen und sich ihre „Notfallsouveränität“ durch einen Gehaltsverzicht „erkauft“ (ebd.). Während somit ein Aufstieg in Teilzeit in der Regel nicht gelingt, ist es durchaus möglich, in einer Führungsposition die Arbeitszeit zu reduzieren. Auch hier scheint eine „magische Grenze“ bei 80Prozent der formalen Arbeitszeit zu liegen. Da sich jedoch das Aufgaben- und Verantwortungsspektrum zumeist nicht im gleichen Maße wie die Arbeitszeit reduziert, ist die Belastung eins solchen Arrangements sehr hoch. Arbeit und Zeit verdichten sich und den Führungskräften bleibt keine Kraft mehr, um die Bewährungsproben für einen weiteren Karriereschritt zu durchlaufen. Der Karriereprozess als Aufstiegsbewegung endet (ebd.). Die zentrale Bedeutung der Zeit zeigt sich jedoch nicht nur in synchroner, sondern auch in diachroner Perspektive, im biografischen Verlauf. Wer Karriere machen möchte, ist gefordert, dies permanent zu beweisen. Ein Karrierestreben nach Phasen der Latenz wirkt für Führungskräfte häufig unglaubwürdig. Hinzu kommt, dass in der Karrierepraxis Unterbrechungen eigentlich nicht vorgesehen sind (ebd., 153). Dabei spielt vor allem die Langfristigkeit und Komplexität des Karriereprozesses über gestaffelte Bewährungsproben eine zentrale Rolle. Die Errungenschaften dieser Bewährungsproben als informelle Karrierevorstufen werden in der Regel nicht dokumentiert und gehen bei einer Unterbrechung verloren, zumal ein Wiedereinstieg meist nicht im selben Bereich erfolgt. Für Führungskräfte stel-

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Zitiert nach Bultemeier/Boes (2013, 155).

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len die Bewährungsproben immer auch Förderinvestitionen dar und sie verhalten sich zurückhaltend, wenn mit Unterbrechungen zu rechnen ist. In dieser Perspektive werden Frauen prozessimmanent zum „Risiko“ (ebd.).

3.5. Fazit: Die neue Karrierepraxis zwischen Professionalisierung und Verdichtung Die Karrierepraxis in systemisch integrierten Unternehmen ist insgesamt durch zwei ganz unterschiedliche Entwicklungen geprägt. Auf der einen Seite steht eine stärkere Professionalisierung von Karriereentscheidungen, die mit einer gewachsenen Bedeutung des Human Ressource Managements korrespondiert (vgl. Kels 2009). In den großen Unternehmen unseres Samples erfolgt die Nominierung der Karrierekandidaten/-innen in einem kollektiven Prozess nach festgelegten Kriterien und unter der Leitung oder Moderation der Personalverantwortlichen. Damit steckt in den Kalibrierungsmeetings auch das Potential, die „homosoziale Reproduktion“ (Kanter 1977, 54, 63) oder „homosoziale Selbstrekrutierung“ (Quack 1997, 14) personaler Auswahlentscheidungen – also die Auswahl nach sozialen Ähnlichkeiten, die dazu führt, dass Männer vorrangig andere Männer nominieren – zu durchbrechen. So werden die Kalibrierungsmeetings in jenen Unternehmen, wo verbindliche Zielvorgaben für den Anteil von Frauen in Führungspositionen existieren, zum effektiven Instrument, um die Karrierechancen von Frauen zu verbessern. Führungskräfte, die keine Frauen nominieren und damit nicht zur Zielerreichung beitragen, werden sichtbar; die Personalverantwortlichen nutzen ihre neue Rolle, um einen „Wettbewerb“ zu initiieren und kollektive Lernerfahrungen zu generieren (vgl. ausführlich Bultemeier/Boes 2013, 141 ff.). Diese neue Entscheidungspraxis ermöglicht so einen Zugriff auf Karriereentscheidungen und ihre Steuerung, wie es im fordistischen Unternehmen nicht möglich war. Von dieser Professionalisierung können Frauen profitieren. Auf der anderen Seite ist die Karrierepraxis durch eine spezifische Verdichtung gekennzeichnet, eine Verdichtung der Zeit, der Aufmerksamkeit, der Motivation und der Entwicklungsdynamik. Der Karriereprozess ist ein Prozess ohne Puffer, der die ganze Person anspricht und auf intensive Weise einbindet. So tragen die Rotationen den Anspruch einer dauerhaften personalen Weiterentwicklung durch die wiederholte Konfrontation mit neuen

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Anforderungen und Umfeldbedingungen. Die Positionierung setzt eine eigenständige Auseinandersetzung voraus und bindet die Aufmerksamkeit sowohl in der Generierung neuer Themen als auch der Verankerung dieser Themen in der Organisation. Ebenso setzt die Potentialbestimmung die Bereitschaft voraus, sich immer wieder neuen Bewährungsproben zu stellen und Zusatzaufgaben „on top“ zu übernehmen, während zugleich die zeitlichen Verfügbarkeitserwartungen eine Arbeitszeitreduzierung oder Unterbrechung des Karriereprozesses unmöglich machen. Im Ergebnis führen diese vielfältigen Verdichtungen zu einer „Ausschließlichkeit“ der Karriere (ebd., 152; Bultemeier 2011, 65). Der Karriereprozess lässt sich nicht mehr oder kaum noch mit der Übernahme aktiver Verantwortung in anderen Lebensbereichen vereinbaren; Familie und Karriere werden zum Gegensatz: „… das ist meine persönliche Überzeugung, dass sich einige Dinge einfach auch ausschließen. Und zwar Thema Familie und Karriere.“ (Unterabteilungsleiter, Banken) 8 Der Karriereprozess systemisch integrierter Unternehmen folgt so einem neuen Rhythmus und weil es für diesen neuen Rhythmus noch keine betrieblichen oder gesellschaftlichen Regulationsformen gibt, kann die Ausschließlichkeit, die er erzeugt, zu einer Karrierefalle vor allem für Frauen werden.

4. U NVEREINBARKEITSKARRIEREN : K ARRIEREMUSTER VON F RAUEN UND M ÄNNERN IM V ERGLEICH Manfred Auer (2000) hat mit dem Konzept der „Vereinbarungskarriere“ darauf hingewiesen, dass Karrieren nicht über eine isolierte Betrachtung des Erwerbsbereichs erschlossen werden können. Karrieren würden sich vielmehr aus dem Zusammenspiel und dem Spannungsverhältnis der beiden unterschiedlichen gesellschaftlichen Bereiche von Erwerbsarbeit und Familie ergeben. Eine „Vereinbarungskarriere“ bezeichnet somit jenen Zeitabschnitt, „in der Erwerbsarbeit und Elternschaft – insbesondere die Verantwortung für noch nicht selbständige Kinder – aufeinandertreffen und gestaltet werden müssen“ (ebd., 26 f.). Dabei wählt Auer mit Bezug auf Luhmann (1994) einen weiten Karrierebegriff, der nicht nur auf den Aufstieg

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Zitiert nach Bultemeier/Boes (2013, 152).

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innerhalb einer betrieblichen Hierarchie beschränkt ist, sondern Karriere als „universelle Lebensform“ (ebd., 198) begreift. Ist die Vereinbarungskarriere somit fokussiert auf die Phase, in der Erwerbs- und Sorgearbeit in der Praxis tatsächlich miteinander in Einklang gebracht werden müssen, wirkt die Problematik der Vereinbarkeit in einem weiteren Rahmen. Die bloße Antizipation einer gelingenden oder misslingenden Vereinbarkeit kann Karriere- und Lebensentscheidungen maßgeblich beeinflussen – zumindest bei den Frauen. Dabei trifft die Vereinbarkeitsproblematik auf eine unterschiedliche soziale Verortung der Geschlechter. Regina Becker-Schmidt hat bereits in den 1980er Jahren anhand einer Untersuchung zu Industriearbeiterinnen die „doppelte Vergesellschaftung“ von Frauen herausgearbeitet (Becker-Schmidt 1987; vgl. auch Becker-Schmidt/Knapp/Schmidt 1985). Anders als Männer seien Frauen für zwei unterschiedliche Bereiche sozialisiert – die Erwerbsarbeit und die Familie. 9 In der Kombination würden beide Bereiche jedoch „nichts Ganzes“ (Becker-Schmidt 2008, 67) ergeben; vielmehr würden Frauen für diese Lebensentwürfe einen hohen Preis bezahlen: „Beides zusammen ist zuviel, eins allein ist zu wenig.“ (Becker-Schmidt/Knapp/Schmidt 1985, 11) Frauen könnten so aus der größeren Vielfalt ihrer Lebenspraxis keine Vorteile ziehen. Im Gegenteil: „Es ist ein Dilemma: Wie immer Frauen sich entscheiden – für Familie und gegen den Beruf, gegen Familie und für den Beruf oder für beides – in jedem Fall haben sie etwas zu verlieren.“ (BeckerSchmidt 2008, 67) Die Vereinbarkeitsproblematik stellt sich so nicht nur für Frauen und Männer auf unterschiedliche Weise sondern sie stellt sich auch in zugespitzter Form, wenn es nicht nur um die Vereinbarkeit von Beruf und Familie – also um die Karriere als „universelle Lebensform“ – geht, sondern wenn eine Aufstiegskarriere im Konkurrenzkampf um knappe Po-

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Die Aktualität der „doppelten Vergesellschaftung“ von Frauen zeigt sich auch in quantitativen Studien und Entwicklungen am Arbeitsmarkt. So konnte Allmendinger (2009) zeigen, dass jungen Frauen Beruf Partnerschaft und Kinder gleichermaßen wichtig sind: „Die jungen Frauen wollen alles“ (ebd., 31). Die Arbeitsmarktdaten zeigen, dass die Zunahme der weiblichen Erwerbstätigkeit in den letzten Jahren vor allem auf die Zunahme der Teilzeitbeschäftigung zurückzuführen ist, während der Anteil von Frauen an den Vollzeitbeschäftigten seit 2000 stagniert (Boes/Bultemeier/Kämpf 2011, 22 f.) Von den erwerbstätigen Frauen arbeiteten 2010 45,6 Prozent in Teilzeit (Statistisches Bundesamt 2012).

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sitionen angestrebt wird. Wie erleben nun Frauen und Männer im systemisch integrierten Unternehmen die Vereinbarkeitsproblematik? Welche Bewältigungsstrategien wählen sie vor dem Hintergrund einer Karrierepraxis, die durch eine Verdichtung der Anforderungen in vielfältigen Bewährungsproben gekennzeichnet ist? Unsere Ergebnisse zeigen fundamentale Unterschiede in den Lösungswegen und Lösungsmöglichkeiten von Frauen und Männern. Sie zeigen aber auch grundlegende Gemeinsamkeiten. Eine Aufstiegskarriere ist nicht oder nur sehr schwer mit aktiver Sorgearbeit in der Familie vereinbar. Mit Bezug auf die Integration zweier unterschiedlicher Lebensbereiche offenbaren sich die Karrieren im systemisch integrierten Unternehmen als Unvereinbarkeitskarrieren.

4.1. Frauenkarrieren: Ausdifferenzierung entlang der Problemkonstellation von Karriere und Familie Die Vereinbarkeitsproblematik hat für die Karriereentscheidungen und Karriereverläufe von Frauen zentrale Bedeutung. Die spezifischen Muster, die Frauenkarrieren zeigen, differenzieren sich im Umgang mit dieser Problematik aus. Dabei stellt die Vereinbarkeit nicht das alleinige Kriterium dar, das Karriereentscheidungen von Frauen beeinflusst. Viele Frauen erleben die Karrierewelt als „fremde Welt“ (Bultemeier 2013, 176), die durch aggressive Umgangsformen und eine männliche Hegemonie geprägt ist, und der sie nicht angehören wollen. Die Vereinbarkeit stellt aber ein gewichtiges Kriterium dar, weil sie strukturierend für die Karriereverläufe von Frauen ist. In der Regel werden Frauen im Unternehmen damit konfrontiert, dass Karriere und Familie nicht zusammen passen und dass eine Kombination auch nicht erwünscht ist. Sie machen die Erfahrung, dass Teilzeitkräfte durch das Wahrnehmungsraster der Führungskräfte fallen und als Karrierekandidatinnen nicht mehr anerkannt werden; sie erleben, dass sie als Frauen ein „Risiko“ darstellen, in das Förderinvestitionen nicht lohnen. Der Gegensatz von Karriere und Familie strukturiert so die Normalitätserfahrung vieler Frauen in den Unternehmen. „Also als ich hier im Haus angefangen hab, war das eigentlich immer völlig klar, dass nur ne Frau, die keine Kinder hatte und sich auch wirklich lautstark geäußert

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hat, dass sie keine Kinder will und sowieso nie und nie und nie, dass nur so eine Frau tatsächlich auch ne Führungsposition bekommen hat.“ (Mitarbeiterin, Banken) 10

Vor diesem Hintergrund lässt sich in unserem Untersuchungssample eine erste Gruppe von Frauen beobachten, die von vornherein auf eine Karriere verzichten oder ihre Karriereambitionen auf die unterste, zumeist nichtleitende Führungsebene beschränken. Diese Frauen nehmen die Unvereinbarkeit antizipatorisch vorweg. Sie sind hoch motiviert und leistungsstark, aber sie möchten auch ein Familienleben realisieren und sind nicht bereit, den „Preis“ einer Karriere, den sie im Verlust des Privatlebens sehen, zu zahlen. Wäre eine Karriere mit einer Einschränkung vor allem der zeitlichen Anforderungen möglich, würden sie sich dafür entscheiden. Die Frauen lösen die Unvereinbarkeit zur Seite der Familie hin auf und generieren damit das Karrieremuster des „Karriereverzichts“ oder der „Karrierebeschränkung“ (ebd., 184). Eine zweite Gruppe von Frauen verzichtet nicht antizipatorisch auf Karriere, sondern wird vielmehr von den Unternehmen ausgebremst. Dabei handelt es sich ausschließlich um Frauen, die vor der Geburt ihres Kindes auf „Karrierekurs“ waren und nach der Elternzeit in Teilzeit mit entsprechend begrenzten Verfügbarkeitsressourcen zurückgekehrt sind (ebd., 186). Diese Frauen waren als Karrierekandidatinnen bereits anerkannt; sie haben in den informellen Bewährungsproben und Karrierevorstufen reüssiert oder an Programmen zur Karriereförderung teilgenommen. Nach ihrer Rückkehr müssen sie jedoch feststellen, dass ihnen im Unternehmen keine Karrieremöglichkeiten mehr eingeräumt werden. So hat eine hochspezialisierte Ingenieurin im Gespräch berichtet, dass sie vor der Geburt ihres Kindes immer mehrere Projekte auf einmal gemanagt hat. Seit ihrer Rückkehr in Teilzeit sei sie nur noch für die „Ablage“ ihres Teams verantwortlich. Sie kann nicht verstehen, wieso ihr früher bis zu sechs Projekte gleichzeitig zugetraut wurden und jetzt nicht mal mehr ein einziges. Vor diesem Hintergrund einer radikalen Neupositionierung „brechen“ einige Frauen mit den Spielregeln von Karriere – sie finden z.B. das Karrieregebaren ihrer Kollegen und deren Versuche, „Sichtbarkeit“ zu erzeugen lächerlich – oder relativieren die Bedeutungen der Arbeitspraxis – „die Welt geht nicht unter, wenn

10 Zitiert nach Bultemeier (2013, 171).

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mal ein Termin nicht eingehalten wird“. Andere Frauen wiederum erleben einen Bruch in ihrer Biographie: „… weil es stand wirklich drauf: Sozialfall, rückkehrende Mutter in Teilzeit, Sozialfall. Da dachte ich: Gut, also vor einem Jahr war ich Superstar, jetzt bin ich Sozialfall, gut, so können sich die Sachen ändern. […] Das war für mich – das war für mich so erschreckend! Ich war noch vor einem Jahr hier die Gefragteste und auf einmal bin ich niemand, ja niemand.“ (Mitarbeiterin, Elektrotechnik) 11

Auch hier wird die Vereinbarkeitsproblematik aller Karrierebemühungen der Frauen zum Trotz einseitig zur Seite der Familie hin aufgelöst. Der Karriereprozess, so wie er von den Unternehmen bislang gestaltet wird, toleriert keine Unterbrechungen. Die Anstrengungen der Frauen, die ihr Potential in den Bewährungsproben und Karrierevorstufen unter Beweis gestellt haben, werden bedeutungslos. So offenbart sich auch im Karrieremuster der „verweigerten Karriere“ (ebd.) die Unvereinbarkeit von Karriere und Familie. Familie und Karriere trotz aller Schwierigkeiten zu vereinbaren, versucht eine dritte Gruppe von Frauen. Diese Frauen sind aktiv in die Sorgearbeit für ein Kind eingebunden – als Hauptverantwortliche oder gemeinsam mit ihrem Mann – und versuchen gleichzeitig eine Karriere zu realisieren oder haben bereits Karrierepositionen inne. Gemeinsam ist den Frauen dieser Gruppe, dass sie nach der Geburt des Kindes zumeist nur sehr kurze Zeit ausgesetzt haben und weiterhin in Vollzeit oder in Teilzeit im oberen Stundenbereich (mindestens 80Prozent) arbeiten. Die formale Reduzierung der Arbeitszeit wird dabei häufig als Flexibilitätspuffer genutzt, um auf Unvorhersehbarkeiten, wie z.B. die plötzliche Erkrankung des Kindes, reagieren zu können; sie wird jedoch nicht genutzt, um tatsächlich weniger zu arbeiten. So können die Frauen den Verfügbarkeitserwartungen und der Verdichtung der Anforderungen im Karriereprozess annähernd gerecht werden. Nur annähernd, weil sie im Vergleich zu Menschen ohne Kinder gewisse Einschränkungen haben: sie sind für ihre Vorgesetzten nicht spontan und unbegrenzt verfügbar und müssen auch mal um fünf Uhr gehen, um das Kind aus der Krippe zu holen.

11 Zitiert nach Bultemeier (2013, 171).

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Für diese Arrangements der Vereinbarkeit zahlen Frauen einen hohen „Preis“, der einerseits in „herkulischen“ Anstrengungen (Boes/Bultemeier/ Kämpf 2011, 27) und anderseits in einer nur „fragilen Integration“ (Bultemeier 2013, 192) in die Karrierewelt besteht. Die Frauen sind aktiv in die Sorgearbeit eingebunden und managen darüber hinaus ein Netzwerk an Unterstützungsleistungen, von denen sie neben den Kinderbetreuungseinrichtungen abhängig sind: Eltern oder Schwiegereltern, Tagesmütter, Freunde, Fahrgemeinschaften etc. Gleichzeitig müssen sie jedoch den Anforderungen der Karrierepraxis in den Unternehmen gerecht werden und geraten so an die Grenze ihre Belastungsfähigkeit. „Also ich hab auch eine junge Frau jetzt betreut als Mentor eine Zeitlang. Die letzte, da schafft der Mann […] in Madrid und sie ist hier, hat eine angeblich 80-ProzentStelle, aber de facto 120 und zwei Kinder im Alter von, lassen sie mich nicht lügen, vier und sieben. Brutal! Was die an Organisationsarbeit leistet, an Management. […] Aber es ist auch wieder ein Beispiel, es ist 150 Prozent Energie notwendig, um das zu kriegen. Und das ist einfach irgendwo nicht fair.“ (Bereichsleiter, Elektrotechnik) 12

Trotz dieser herkulischen Leistungen bleibt die Integration der Frauen in die Karrierewelt fragil. Weil sie den Erwartungen nur annähernd entsprechen, sind sie von der Akzeptanz durch Vorgesetzte, Kollegen und Mitarbeiter abhängig: Vorgesetzte müssen z.B. tolerieren dass sie nicht unbegrenzt für sie „greifbar“ sind; Mitarbeiter müssen in Kauf nehmen, dass ihre Vorgesetzte ggf. weniger Stunden im Unternehmen verbringt als sie selbst. Diese möglichen Abweichungen von der „Normalität“ der Karrierepraxis sind zumeist individuell ausgehandelt und ob sie auch bei einem Wechsel in einen anderen Bereich im Kontext der Rotationskarriere Bestand haben werden, bleibt für viele Frauen ungewiss. Im Karrieremuster der „herkulischen Karriere“ (ebd., 191) kommt so die Vereinbarung von Karriere und Familie zum Ausdruck, nicht jedoch deren Vereinbarkeit. Es sind Arrangements ohne Puffer, die auf dem Rücken einzelner Frauen ausgetragen werden. In diesen Arrangements wirkt die Unvereinbarkeit in der Fragilität des Karriereprozesses fort, mit der Frauen für ihre Abweichungen von der Karrierepraxis – von der Ausschließlichkeit

12 Zitiert nach Bultemeier (2013, 192).

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der Karriere – bezahlen. Obwohl einzelnen Frauen unter diesen Bedingungen eine Vereinbarung gelingt, taugt die herkulische Karriere nicht als weibliches „Standardmodell“ für die Vereinbarkeit von Karriere und Familie. Eine vierte Gruppe von Frauen hat eine „fokussierte Karriere“ (ebd., 189) realisiert. Diese Frauen können den Anforderungen des Karriereprozesses voll entsprechen, weil sie nicht aktiv in die Sorgearbeit für Kinder einbezogen sind. So haben die meisten Frauen dieser Gruppe keine Kinder. Wenn sie Kinder haben, haben sie diese entweder sehr früh zu Beginn des Studiums bekommen oder sie leben in Partnerschaftsarrangements, bei denen der Mann als „Hausmann“ die Sorgearbeit komplett übernimmt. Eine weibliche Führungskraft hat eine Art „Generationenmodell“ praktiziert, bei der ihre Eltern die Haushaltsführung und die Versorgung der Kinder übernommen haben. Sie konnte sich so ohne Restriktionen auf ihre Karriere konzentrieren und sie möchte dieses Modell später auch ihren eigenen Kindern anbieten. Statt der Kinder werden dann die Enkelkinder betreut. Die Frauen dieser Gruppe machen Karrieren, die jenen der Männer vergleichbar sind, aber sie realisieren keine „Vereinbarkeitskarrieren“. Das Spannungsverhältnis von Karriere und Familie wird einseitig zur Seite der Karriere hin aufgelöst und auch darin kommt die Unvereinbarkeit der beiden unterschiedlichen Bereiche zum Ausdruck. Die Karrieremuster der vier Gruppen von Frauen zeigen auf ganz unterschiedliche Weise, dass eine Karrierepraxis, wie sie sich aktuell in den Unternehmen abzeichnet, mit der Sorgearbeit für die Familie eigentlich unvereinbar ist. Die Ausschließlichkeit des Karriereprozesses lässt keinen Raum mehr für ein aktives Engagement in der Familie und die Organisation des Haushalts. In den Karrieremustern offenbart sich die Zentralität der Vereinbarkeit für die Karrieren von Frauen und zugleich die Unmöglichkeit, diese tatsächlich zu realisieren.

4.2. Männerkarrieren: Der neue Anspruch nach Vereinbarkeit Die Vereinbarkeitsproblematik stellt sich für Männer auf ganz andere Weise als für Frauen; sie wirkt dort nicht als Triebkraft der Strukturierung und Ausdifferenzierung von Karriereverläufen. Im Gegenteil, die meisten Män-

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ner unseres Samples mit Karriereambitionen oder in Führungspositionen haben Familie oder gehen selbstverständlich davon aus, dass sie in der Zukunft eine Familie gründen werden. Dabei leben sie überwiegend in Paarkonstellationen, bei denen ihre Frauen nicht oder Teilzeit erwerbstätig sind und die Hauptverantwortung für die Sorgearbeit übernehmen. 13 Sie können dadurch den Anforderungen der Karrierepraxis voll und ganz entsprechen. Für diese Männer bilden Karriere und Familie kein Gegensatzpaar, sondern eine Einheit 14, ermöglicht durch Partnerschaftsarrangements, die durch die „doppelte Vergesellschaftung“ von Frauen nach wie vor legitimiert werden. Die Auslagerung der Vereinbarkeitsproblematik auf die Frauen wird so zur Grundlage der Karriere der Männer. Tradierte Vorstellungen im Management, dass Karriere und Familienverpflichtungen nicht vereinbar sind, können so zugleich stabilisiert werden. Auch in den Karrieren der Männer kommt damit eine Unvereinbarkeitsproblematik zum Ausdruck. Karriere und Familie gleichermaßen zu realisieren ist nur möglich, wenn ungleiche Geschlechterrollen eine Befreiung von der Sorgearbeit ermöglichen. Viele junge Männer sind mit einer solchen Konstellation jedoch nicht mehr zufrieden (ebd., 175). Sie wollen sich an der Sorgearbeit für ihre Kinder beteiligen und aktiv Verantwortung für sie übernehmen. Sie haben den Anspruch, ihre Kinder morgens in die Krippe zu bringen, sie zum Sport zu begleiten oder am Abend noch zu sehen, bevor sie ins Bett gehen. In diesem Sinn versuchen sie, auch die Karrierepraxis zu beeinflussen, indem sie die Spielregeln von Karriere dehnen, aber nicht brechen (ebd., 176). So verringern sie z.B. die Präsenzzeiten im Unternehmen, wenn sie gerade Vater geworden sind, wohl wissend, dass sie sich dies nur solange erlauben können, wie es die Auftragslage des Unternehmens zulässt. Oder sie lehnen mit Blick auf die Familie einen Auslandsaufenthalt ab und verzögern dadurch ihre Karriere, während ihnen zugleich bewusst ist, dass sie ein solches Angebot nur einmal ablehnen dürfen, weil sonst der Karriereprozess beendet ist. Der Ausschließlichkeit des Karriereprozesses entkommen sie durch ihre Bemühungen nicht, die Priori-

13 Dieser Befund zeigt sich auch in repräsentativen quantitativen Untersuchungen (vgl. z.B. Kleinert u.a. 2007). 14 Krüger (1995) spricht in diesem Kontext davon, dass die Karriere der Männer „familiengetragen oder –gestützt“, die der Frauen „familiengebrochen“ ist (ebd., 206).

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tätensetzung im Verhältnis von Karriere und Familie bleibt klar erkennbar und sie können sich dieser allenfalls temporär entziehen (ebd.). Ellguth/Liebold/Trinczek (1998) sprechen in diesem Kontext vom „Double Squeeze“ vor allem jüngerer Führungskräfte. Diese seien auf der einen Seite mit den Ansprüchen der Unternehmen nach „uneingeschränkter Verfügbarkeit“ (ebd., 517) und auf der anderen Seite mit Ansprüchen ihrer Partnerinnen und ihren eigenen Ansprüchen nach Beteiligung an der Sorgearbeit konfrontiert. Eine produktive Auflösung dieses „Double Squeeze“ steht noch aus und kann nicht im Rahmen einer Karrierepraxis gelingen, die Karriereaspiranten und Führungskräfte ausschließlich bindet und ihnen allenfalls eine Rolle als „Zuversorger“ gestattet (Bultemeier 2013, 176). Aktuell zementiert die Karrierepraxis in den Unternehmen traditionelle Geschlechterrollen, weil sie den Karriereprozess gegenüber dem Alltagsleben abschottet. Die neuen Ansprüche der jüngeren Männer können den verdichteten Anforderungen der Unternehmen nur schwer standhalten. Sie schaffen aber einen Resonanzboden, die „Unvereinbarkeitskarrieren“ von Frauen und Männern auf neue Weise zu thematisieren und die Veränderung der Karrierepraxis zum Ausgangspunkt einer Modernisierung der Geschlechterverhältnisse zu machen.

5. D IE

NOTWENDIGE FÜR DAS L EBEN

Ö FFNUNG DER K ARRIEREPRAXIS

Die Unternehmen stehen aktuell unter hohem politischem und gesellschaftlichem Druck, die Karrierechancen von Frauen zu verbessern. Dabei bietet das systemisch integrierte Unternehmen neue Anknüpfungspunkte: Die Kalibrierungsmeetings ermöglichen es z.B., homosoziale Rekrutierungsmuster zu durchbrechen und die Nominierung der Karrierekandidaten/-innen unter Gendergesichtspunkten zu regulieren. Durch den Einsatz von IuKTechnologien und die damit verbundene Entkopplung von Arbeitsort und Arbeitszeit können neue Flexibilitätsspielräume erschlossen und z.B. als „Homeoffice“ im Interesse von Frauen genutzt werden. In vielen Unternehmen gibt es Zielvereinbarungen zur Integration von Frauen in Führungspositionen, und diese Instrumente stellen einen entscheidenden Hebel zu ihrer Realisierung dar.

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Neben diesen neuen Möglichkeiten entstehen im Kontext radikaler Veränderungen in den Unternehmen jedoch auch neue Risiken. Diese Risiken liegen in einer Karrierepraxis, die auf ganz vielfältige Weise – über die Rotationen, die Bewährungsproben, den Aufbau systemischen Wissens, den Potentialnachweis – eine Verdichtung der Anforderungen und damit eine Ausschließlichkeit erzeugt, die Karriere gegenüber Ansprüchen aus anderen Lebensbereichen abschottet. 15 Diese Karrierepraxis erzeugt „Unvereinbarkeitskarrieren“ und schränkt aufgrund der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung die Karrieremöglichkeiten von Frauen ebenso drastisch ein wie sie traditionelle Rollenvorstellungen stabilisiert. Sie konterkariert damit die neuen Anknüpfungspunkte des systemisch integrierten Unternehmens. Die Verbesserung der Karrieremöglichkeiten von Frauen ist deshalb unmittelbar an eine Veränderung der Karrierepraxis in den Unternehmen gebunden. Die Karrierepraxis wird zum „Nadelöhr“ für die Karriereintegration von Frauen. Nur wenn es gelingt, die Ausschließlichkeit aufzubrechen und im Karriereprozess Raum für Sorgearbeit und Verantwortlichkeiten in der Familie zu schaffen, wird dieser Weg nicht nur einer Minderheit von Frauen offen stehen. Eine Öffnung der Karrierepraxis für das Leben muss dabei an der Verdichtung der Zeit ansetzen und neue Puffer schaffen sowohl synchron im Verhältnis von Arbeit und Leben als auch diachron im Karriereverlauf. 16 Warum sollte eine Karriere mit begrenzten Zeitaufwendungen und Unterbrechungen nicht möglich sein? Im systemisch integrierten Unternehmen werden bewusst alte Schranken eingerissen. An die Stelle der Abschottung der großen funktionalen Silos tritt eine prozessbezogene Perspektive, die auf die Interdependenzen zwischen diesen Bereichen fokussiert. Erfahrungen, die in einem Bereich gemacht werden, bereichern die Arbeit in einem anderen Bereich und diese

15 Nickel/Hüning (2008) sprechen von einer „Ausblendung des Sozialen“ (ebd., 226) in der Konstruktion von Unternehmensführung, die dazu führen werde, dass Männer in Spitzenpositionen weitgehend unter sich blieben. 16 Allmendinger (2014) macht den interessanten Vorschlag einer Umverteilung der Arbeitszeit zwischen Frauen und Männern durch die Einführung einer „neuen tariflichen Normalarbeitszeit von 32 bis 34 Stunden pro Woche“ (ebd., 15). Frauen könnten dann mehr arbeiten und eine Karriere anstreben, während Männern die Möglichkeit gegeben würde, sich stärker an der Sorgearbeit zu beteiligen.

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systemische Durchdringung ist Triebkraft der Rotation. Es ist nirgendwo festgeschrieben, dass diese wechselseitige Bereicherung an der Grenze zum Unternehmen haltmachen muss und nicht auch jene Schranke öffnen kann, die Karriere und Familie trennt. In den Unternehmen sind erste Experimente mit einer solchen Durchdringung zu beobachten, indem z.B. Elternzeit als Karrierebaustein anerkannt wird, der andere Karrierevoraussetzungen wie einen Auslandsaufenthalt oder einen Bereichswechsel ersetzt. Das systemisch integrierte Unternehmen bietet somit durchaus neue Anknüpfungspunkte für die Vereinbarkeit von Karriere und Familie, aber die Unternehmen schrecken vor einer umfassenden Veränderung ihrer Karrierepraxis noch zurück. Zu groß sind die Ängste, dass die Aufhebung der Ausschließlichkeit von Karrieren ihren Interessen zuwiderläuft und das reibungslose Funktionieren der Unternehmensabläufe in begrenzten Zeitkontingenten ihrer Führungskräfte nicht zu bewältigen ist. Dabei ist es nicht nur die Karriereintegration von Frauen, die in Richtung einer Öffnung der Unternehmen für das Leben der Beschäftigten drängt. Vielmehr ist im Gesamtkomplex von verlängerten Lebensarbeitszeiten und der Zunahme arbeitsbedingter Erkrankungen (vgl. Kämpf/Boes/Gül 2011) eine solche Öffnung notwendig und sinnvoll und steht im Kontext der Suche nach adäquaten Regulierungsformen für das systemisch integrierte Unternehmen.

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Die zwei Seiten der Vereinbarkeit A NNETTE VON A LEMANN UND M ECHTILD O ECHSLE

1. V EREINBARKEIT – VERÄNDERTE R AHMENBEDINGUNGEN UND NEUE D ISKURSE Lange Zeit galt Vereinbarkeit als Problem privater Lebensführung und primär als Problem von Frauen. Ausgehend von der Lebenssituation von Frauen wurden dabei die Anforderungen einer ‚doppelten‘ Lebensführung „bei ansonsten unveränderten Strukturen von Erwerbsarbeit, fehlender Kinderbetreuung und einer geschlechtshierarchischen Arbeitsteilung“ (Oechsle 2010, 235) untersucht. In den letzten Jahren scheint der Begriff der Work-Life-Balance (WLB) den Vereinbarkeitsbegriff vielfach abzulösen bzw. in den Hintergrund zu drängen (Hoff u.a. 2005; Wiese 2007; Lewis/Gambles/Rapoport 2007; Crompton/Lyonette 2006). Dies hat verschiedene Ursachen. Auf den ersten Blick scheint die Balance von „Arbeit“ und „Leben“ weiter zu gehen als die Vereinbarkeit von „Beruf“ und „Familie“: WLB schließt Differenzierungen in den Lebensformen sowie Lebensbereiche wie Körper und Gesundheit, Freizeit, Hobbys und soziale Beziehungen im persönlichen Umfeld mit ein (Oechsle 2010, 235; vgl. auch Dettling 2004). Im öffentlichen Diskurs ist WLB zudem weniger geschlechtlich konnotiert und impliziert – stärker als Vereinbarkeit – auch eine Organisationsperspektive, die organisationsinterne Programme und Praktiken mit einschließt. Der aus dem USamerikanischen Human Resource Management stammende Begriff definiert Familie und Privatleben sowie die Gestaltung der Beziehung zwischen Organisation und privater Lebensführung nicht mehr nur als individuelle

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Handlungsprobleme, sondern auch als Probleme von Organisationen. Ähnlich wie Vereinbarkeit hat WLB jedoch auch eine normative Komponente und trägt die „Vorstellung eines ganzen, gelungenen Lebens mit einer Balance der verschiedenen Lebensbereiche“ (Oechsle 2010, 234) in sich. Beide Begriffe implizieren, dass eine „Balance“ bzw. „Vereinbarung“ verschiedener Lebensbereiche möglich ist und es einerseits von den Kompetenzen der Individuen und andererseits von den Bedingungen ihres sozialstrukturellen, wohlfahrtsstaatlichen und organisationalen Umfelds abhängt, ob sie sie erreichen können. Der Begriff der Work-Life-Balance erweckt jedoch den Eindruck, dass „Arbeit“ und „Leben“ zwei Gegenpole sind, die ins Gleichgewicht gebracht werden sollen. Angesichts zunehmender räumlicher und zeitlicher Entgrenzungen von Arbeit und Privatleben und einer immer stärkeren Ausdehnung der beruflichen Tätigkeit bis ins hohe Lebensalter scheint diese Vorstellung jedoch nicht mehr zeitgemäß zu sein. Und auch in normativer Hinsicht sollte „Arbeit“ als Teil des „Lebens“ und nicht als sein Gegenpol wahrgenommen werden: Die Vorstellung von „Arbeit“ als Ort fremdbestimmter unpersönlicher Prozesse gegenüber der Selbstentfaltung in den persönlichen Beziehungen des privaten Lebens ist spätestens seit der „Time-Bind“-Studie von Arlie Hochschild (2006 [1997]) überholt. Aus diesem Grund verwenden wir einen erweiterten Vereinbarkeitsbegriff, der nicht nur Frauen, sondern auch Männer erfasst und sich dabei auf pluralisierte Formen des Zusammenlebens bezieht (vgl. Kortendiek 2010). Er umfasst nicht nur die Sorge für Kinder, sondern auch für andere pflegebedürftige Angehörige und könnte in einem weiteren Sinne auch auf alle anderen Lebensbereiche ausgeweitet werden, die mit der Berufstätigkeit vereinbart werden sollen oder müssen. Wie Jürgens (2012) plädieren auch wir für die Verwendung des Begriffs in einem kritischen Sinne, der sich auf das ganze Reproduktionshandeln bezieht und traditionelle Geschlechterzuordnungen in Frage stellt. Der Vereinbarkeitsbegriff, wie wir ihn verwenden, fokussiert nicht allein auf die private Lebensführung (das Vereinbarkeitshandeln der Individuen), sondern auch auf organisationale Maßnahmen und Praxen (und Barrieren, die der Vereinbarkeit entgegenstehen). Damit nimmt er Bezug auf individuelle Handlungsprobleme, die sich zum einen durch veränderte Formen der Arbeitsorganisation ergeben: Entgrenzung und Subjektivierung von Arbeit fordern eine eigenverantwortliche Strukturierung von Zeit und können zu Überforderung und gesundheitli-

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DER

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chen Risiken führen (Sauer 2012; Urban/Pickshaus 2012). Zum anderen führen tiefgreifende Wandlungsprozesse im Geschlechterverhältnis (vgl. Lenz/Ullrich/Fersch 2007; Oppen/Simon 2004; Heintz 2001) dazu, dass Vereinbarkeitsprobleme nicht nur bei Frauen, sondern auch bei Männern zunehmen (Döge/Behnke 2005): Auf der einen Seite wünschen sich immer mehr Männer eine aktivere Vaterschaft (Fthenakis/Minsel 2002; Mühling/Rost 2007; Tölke/Hank 2005; Hobson 2002; Oechsle u.a. 2012), auf der anderen Seite stehen Frauen seltener als früher als Ressource für das Privatleben ihrer Männer zur Verfügung. Gleichzeitig nimmt der Begriff Bezug auf Handlungsprobleme von (Arbeits-)Organisationen: Die immer umfassendere und ganzheitlichere Nutzung des Arbeitsvermögens (vgl. Voß 2000; Moldaschl/Voß 2002) sowie der erweiterte Zugriff auf die Flexibilitäts- und Selbststeuerungspotenziale der Beschäftigten (vgl. Kratzer/Sauer 2007) führen dazu, dass die Ressourcen der privaten Lebenswelt zu einem wichtigen Element des Arbeitsvermögens werden. Mögliche Folgen sind unter anderem Kosten durch gesundheitsbedingte Fehlzeiten (vgl. Sauer 2012; Urban/Pickshaus 2012; Zok/Dammasch 2012; Paridon 2012; Dettmers u.a. 2012) als Kehrseite privater Vereinbarkeits- und organisationaler Verfügbarkeitsanforderungen. Für die Vereinbarkeitsdebatte spielen auch Prognosen in Richtung auf einen zu erwartenden Fachkräftemangel in Folge des demografischen Wandels (Fuchs/Wanger/Weber 2013; Maier u.a. 2014) eine Rolle. Zum einen wird ein verstärkter Wettbewerb um qualifizierte Arbeitskräfte thematisiert, zum anderen der Verlust von Humankapital durch das Ausscheiden qualifizierter Frauen während und nach der Elternzeit (IGS 2009; Vereinigung hessischer Unternehmerverbände 2010; BMI 2011). Unternehmen nutzen verstärkt Vereinbarkeitsmaßnahmen als Instrument der Mitarbeiterbindung und -gewinnung (IGS 2009; Vereinigung hessischer Unternehmerverbände 2010). Durch die zunehmende externe Auditierung und Zertifizierung der organisationalen Vereinbarkeitsmaßnahmen und die eigene Selbstpositionierung als familienfreundlich wird Vereinbarkeit zum Thema des Employer branding (Beile/Jahnz 2007). Auf politischer Ebene haben vor allem der demographische Wandel und seine Folgen für die sozialen Sicherungssysteme zu einem Umdenken in der Familienpolitik geführt (vgl. Berger/Kahlert 2006; MacInnes 2006; BMFSFJ 2005, 2006; Alemann 2007). Dabei wird Vereinbarkeit als gemeinsames Problem von Politik und Wirtschaft erkannt, das immer stärker

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ökonomisch gerahmt und mit demografischen Szenarien verknüpft wird (BMFSFJ 2006; IGS 2009; Vereinigung hessischer Unternehmerverbände 2010; Schmidt/Mohn 2004; Dettling 2004). 1 Dieser Perspektivenwechsel hat sich auch auf die öffentlichen Diskurse ausgewirkt, die stärker als früher Müttererwerbstätigkeit und väterliche Teilhabe an Familie diskutieren. Auch in der fachwissenschaftlichen Diskussion, z.B. auf dem 36. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Soziologie im Jahr 2012, spielt Vereinbarkeit eine zunehmende Rolle. Das Thema wird allerdings nicht mehr auf Fragen von (individueller) Fertilität bzw. Generativität reduziert, sondern umfassender auch im Kontext von Wirtschaft und Sozialstaat diskutiert. Vereinbarkeit wird zunehmend als dynamisches Konzept begriffen, dessen Entwicklungsdynamik mit einbezogen werden muss (Jürgens 2012). Zudem ist die Forschung stärker multidisziplinär angelegt. So wird Vereinbarkeit auch zu einem Thema der sozialen Ungleichheitsforschung, die danach fragt, unter welchen Bedingungen Vereinbarkeit als Lebensziel überhaupt realisiert werden kann und welche Rolle soziale und organisationale Kontexte spielen (Oechsle u.a. 2012; Böhm u.a. 2012; Hobson 2013). Der Titel unseres Beitrags nimmt die unterschiedlichen Dimensionen und damit die Vielschichtigkeit von Vereinbarkeit am Beispiel der Vereinbarkeit von Familie und Beruf von Eltern in den Blick. Indem wir unseren Fokus auf Vereinbarkeit für Mütter und Väter einerseits, Individuen und Organisationen andererseits richten, gehen wir davon aus, dass mindestens von einer doppelten Zweiseitigkeit (nach Geschlecht und nach Vereinbarkeitskontext) gesprochen werden kann. Unser Blick richtet sich zunächst auf alte und neue Vereinbarkeitskonstellationen von Müttern und Vätern (Abschnitt 2) und dann anhand eigener Forschungsergebnisse auf Verein-

1

Ein wichtiger „Treiber“ in diesem Diskurs ist die Unternehmensberatung Prognos, die bereits im Jahr 2003 errechnete, dass Unternehmen durch die Investition in familienfreundliche Maßnahmen zwischen 55 und 78 Prozent ihrer Personalkosten senken könnten – z.B. Kosten der Wiederbesetzung von Stellen, wenn Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter nicht aus der Elternzeit zurückkehren (Prognos 2003, 32-35).

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barkeitsdiskurse und -praxen in Organisationen (Abschnitt 3). 2 Im Fazit (Abschnitt 4) werden beide Perspektiven zusammengeführt und Schlussfolgerungen für das Konzept und die Zukunft der Vereinbarkeit gezogen.

2. M ÜTTER UND V ÄTER – ALTE UND NEUE V EREINBARKEITSKONSTELLATIONEN Unter den dargestellten veränderten Rahmenbedingungen bedeutet Vereinbarkeit für Mütter und Väter etwas anderes als in den Anfängen der Vereinbarkeitsdiskussion. Bedingt durch die im Zeitverlauf gestiegene Erwerbsbeteiligung von Frauen (Beck-Gernsheim 2006; Achatz 2008) und die unsicherer gewordenen Erwerbskarrieren auch von Männern im Kontext entgrenzter Arbeit (Schier/Szymenderski 2009) haben sich männliche und weibliche Berufswege und Karriereverläufe angeglichen. Gleichzeitig kommt es zu einer Angleichung von Vereinbarkeitswünschen: Beide Geschlechter wünschen sich zunehmend eine gleichberechtigte Teilhabe an Beruf und Familie (Gründler u.a. 2013; Schröder u.a. 2012). Allerdings erreichen dieses Ideal nur etwa 14 Prozent der Partnerschaften, die sich dies wünschen (Schröder u.a. 2012). Im Folgenden gehen wir auf die unterschiedlichen Vereinbarkeitsarrangements von Frauen und Männern ein.

2

Das Forschungsprojekt „Arbeitsorganisationen und väterliche Lebensführung“ (Universität Bielefeld) untersucht im Rahmen des durch die DFG geförderten SFB 882 „Von Heterogenitäten zu Ungleichheiten“ soziale Mechanismen in Arbeitsorganisationen und privater Lebensführung, die die Teilhabe von Vätern an Familie beeinflussen. Ziel ist die Analyse der wechselseitigen Einflussnahme von Arbeitsorganisationen und Beschäftigten bei der Verwirklichung privater und beruflicher Lebensziele. Das Projekt ist als qualitative Untersuchung mit parallel durchgeführten Fallstudien in ausgewählten Wirtschaftsunternehmen (verschiedene Branchen, privater und öffentlicher Sektor) angelegt. Die Analyse des Organisationskontexts erfolgt mit Hilfe von Dokumentenanalysen und Expertengesprächen. Zur Analyse individueller Lebensführung und paarbezogener Aushandlungsprozesse werden problemzentrierte Interviews mit Vätern und Partnerinnen sowie mit Müttern im Unternehmen durchgeführt und in einem mehrstufigen Verfahren ausgewertet.

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Diese unterscheiden sich nicht nur nach Geschlecht, sondern auch nach Art und Umfang der Berufstätigkeit, Karriereposition und Paarkonstellation.

2.1 Berufstätige Mütter – Vereinbarkeit durch Teilzeit Teilzeitarbeit stellt insbesondere für westdeutsche Mütter – in Ostdeutschland ist der Anteil der Teilzeit oder geringfügig beschäftigten Frauen geringer (BMFSFJ 2013, 55, 57) – die bevorzugte Form der Beschäftigung in der Phase der aktiven Mutterschaft dar, wenn sie nach der Elternzeit wieder eine Erwerbstätigkeit aufnehmen. 3 Gerade im Lebensalter zwischen 34 und 55, in dem bei den meisten Paaren Familiengründung und Kindererziehung anstehen, üben Frauen besonders häufig Teilzeitbeschäftigungen oder Minijobs aus. Im Gegensatz sind über 90 Prozent der Männer aller Altersgruppen Vollzeit beschäftigt – besonders viele im Alter zwischen 30 und 49 Jahren (WSI 2013a – Daten von 2008; BMFSFJ 2013; Daten von 2010). 4 Die „modernisierte Versorgerehe“ mit dem Mann in Vollzeiterwerbsarbeit und der Frau in Teilzeitarbeit ist sowohl normativ (Gründler u.a. 2013) als auch faktisch das dominante Erwerbsmuster von Paaren in Deutschland. Eine Umfrage des Instituts für Demoskopie Allensbach (Institut für Demoskopie 2013, 7) zeigt, dass zwei Drittel der Bevölkerung den Eindruck haben, dass Familie und Beruf in Deutschland nicht gut zusammenpassen.

3

So arbeitet nach Informationen des Statistischen Bundesamts fast jede zweite erwerbstätige Frau (oder 46 Prozent) weniger als 32 Stunden pro Woche (Destatis 2012a; Daten von 2011). Als Grund für die Teilzeittätigkeit werden von Frauen mit minderjährigen Kindern vor allem die Betreuung von Kindern, die Pflege von Angehörigen oder andere familiäre Gründe genannt. Unter den Männern beträgt der Anteil der Teilzeitbeschäftigten etwa 10 Prozent. Kinderbetreuung spielt bei ihnen nur eine marginale Rolle, sondern – ähnlich wie bei Frauen ohne Kinder – vielmehr die eigene Aus- oder Weiterbildung oder die Schwierigkeit, einen Vollzeitarbeitsplatz zu finden (Destatis 2012a, b; WSI 2013c).

4

Der 2. Gleichstellungsatlas der Bundesregierung kommt zu folgenden Ergebnissen: 48 Prozent der Frauen und 55 Prozent der Männer übten im Jahr 2010 eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung aus. Davon waren 35 Prozent der Frauen und 6 Prozent der Männer Teilzeit beschäftigt, 20 Prozent der Frauen und 5 Prozent der Männer übten einen Minijob aus (BMFSFJ 2013, 52, 54, 56).

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Besonders kritisch wird die Vereinbarkeit von den Müttern minderjähriger Kinder gesehen: Von ihnen bewerten 75 Prozent die Vereinbarkeit als „nicht so gut“. Nach einer längeren Erwerbsunterbrechung wird der Wiedereinstieg umso schwieriger; das Erwerbsmuster Mann Vollzeit/Frau nicht erwerbstätig (etwa 30 Prozent aller Paare mit Kindern unter 18 Jahren in Deutschland; vgl. WSI 2013b; Daten von 2010) ist für einen Teil der Frauen Resultat struktureller Barrieren und Hindernisse. 5 Auch im Hinblick auf die familiale Arbeitsteilung führt dieses Modell nicht zu einer gleichberechtigten Beteiligung der Männer an Kinderbetreuung und Hausarbeit, sondern verstärkt die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung in Partnerschaft und Familie. In der Panelstudie zur Beziehungsund Familienentwicklung in Deutschland sagten 67 Prozent der befragten Frauen und 58 Prozent der Männer aus, dass die Partnerin den überwiegenden Teil oder die gesamte Hausarbeit übernehme. Dies trifft auch für Paare mit Hochschulabschluss zu (BMFSFJ 2012: 23-24; Daten von 2009). 6

2.2 Hochqualifizierte Fach- und Führungskräfte – Vereinbarkeit im Schatten von Verfügbarkeitsansprüchen Die Unterrepräsentanz von Frauen in Führungspositionen, insbesondere in der Wirtschaft, ist in den letzten Jahren verstärkt thematisiert worden. 7 In

5

Im Jahr 2011 war fast ein Viertel (24 Prozent) der Mütter von Kindern über sechs Jahren nicht erwerbstätig – genauso viele wie mit Kindern zwischen drei und sechs Jahren (BMFSFJ 2012, 87).

6

Selbst in Partnerschaften, in denen die Frau in Vollzeit berufstätig ist und eine Führungstätigkeit ausübt, übernimmt sie den größeren Teil der Hausarbeit und verbringt mehr Zeit mit den Kindern (Holst u.a. 2012, 54, 55, 57, 59).

7

2013 hatten die Vorstände der 30 größten deutschen börsennotierten Unternehmen nur einen Frauenanteil von 6,3%, in den Vorständen der Unternehmen mit Beteiligung des Bundes waren es immerhin 12,6 % (Holst/Kirsch 2014, 23, 25). Nach Daten des IAB-Betriebspanels 2012 waren Frauen mit 26% auf der ersten Führungsebene aller Unternehmen der Privatwirtschaft und in 38% der Unternehmen des öffentlichen Dienstes vertreten (auf der zweiten Führungsebene 38

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den Führungsetagen von Unternehmen und Verwaltungen sind immer noch Männer in der Überzahl; sie bringen ihre spezifischen Lebensentwürfe und Lebenswirklichkeiten ein, denen eine generelle Gültigkeit unterstellt wird, und Frauen müssen sich vielfach diesen von Männern bestimmten Normen im Wirtschaftsleben anpassen. Dies gilt vor allem, wenn sie Spitzenpositionen erreichen wollen (Holst 2005). Für weibliche Führungskräfte stellen sich daher besondere Probleme bei der Vereinbarkeit von Karriere und Familie. Die meisten von ihnen unterbrechen ihre Berufstätigkeit nur sehr kurz; alle zeichnen sich durch hohe Motivation und klare berufliche Ziele sowie ein gutes Zeitmanagement und eine hohe persönliche Organisationskompetenz aus; viele erhalten Unterstützung durch den Partner (Lukoschat/Walther 2006). Teilzeitarbeit in Führungspositionen ist eine Ausnahme – Hipp und Stuth (2013, 109) gehen von 5 Prozent aller deutschen Managerinnen und Manager aus – und gilt als Karrierehindernis. Teilzeitkräften wird generell eine geringere Leistungsfähigkeit unterstellt; sie laufen Gefahr, nicht befördert – und nach einer längeren Verweildauer auf ihrer Position auch schlechter beurteilt zu werden (Krell 2011, 413-414). Gerade männliche Führungskräfte schätzen oft die Karrieremotivation und -eignung von Frauen geringer ein: Gerade „diejenigen männlichen Führungskräfte, denen ihre Frau ‚den Rücken freihält’, [können es] sich nicht vorstellen, dass eine Frau mit Kind(ern), die diese Rückendeckung nicht hat, für eine Führungsposition geeignet ist“ (ebd., 415). In einer eigenen Befragung von 54 Spitzenführungskräften der deutschen Wirtschaft im Rahmen des Forschungsprojekts „Zwischen gesellschaftlicher Verantwortung und ökonomischer Handlungslogik“ (Alemann 2014) führte die große Mehrheit der befragten männlichen und weiblichen Führungskräfte die Unterrepräsentanz von Frauen in Führungspositionen vor allem auf die „Tatsache“ zurück, dass Frauen Kinder bekämen und Spitzenkarrieren nicht mit einer Familie vereinbar seien. Dabei werden insbesondere lange Arbeitszeiten und organisationale Verfügbarkeitsanforderungen, aber auch kontinuierliche Karrieren von Führungskräften als Hindernis für den Aufstieg von Frauen beschrieben (Alemann 2014; vgl. auch Krell 2011, 415). Es wird angenommen, dass auch Männer in Führungspo-

bzw. 40%) – obwohl ihr Anteil an der Gesamtbeschäftigung bei 43% liegt. Die Daten haben sich im Zeitverlauf kaum verändert (Kohaut/Möller 2013).

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sitionen einen Preis in Form des Verzichts auf Familienzeit zahlen – und dass sie eher dazu bereit sind als Frauen. Führungspositionen werden mit einem hohen persönlichen Einsatz und einer Leistungsbereitschaft assoziiert, die sich vor allem in ihrem zeitlichen Engagement für das Unternehmen zeigt (Stone/Hernandez 2013; Alemann/Beaufaÿs 2013; Botsch u.a. 2007). Dabei wird die umfassende zeitliche und räumliche Verfügbarkeit für das Unternehmen auch als „Waffe“ im Konkurrenzkampf um Führungspositionen unter Kollegen/innen verwendet (Hofbauer 2010, 33). Indem jüngere Nachwuchskräfte das Verhalten älterer, zumeist männlicher Führungskräfte kopieren, entstehen „Quasi-Normen“ (Ohlendiek 2003) der zeitlichen Verfügbarkeit. Das heißt nicht, dass Frauen nicht bereit wären, diese Anforderungen zu erfüllen. Zum einen sind Frauen in höheren Positionen deutlich seltener verheiratet und haben seltener Kinder im Haushalt als ihre männlichen Kollegen (Holst u.a. 2012, 50). Zum anderen zeigen Untersuchungen, dass die durchschnittlich geleistete Zeit für Hausarbeit bei männlichen und weiblichen Führungskräften an Wochentagen gar nicht so verschieden ist – sie beträgt gerade mal eine Stunde (Holst u.a. 2012, 57). Etwa 31 Prozent der weiblichen Führungskräfte mit Kindern verfügen über eine Haushaltshilfe (ebd., 52). Allerdings verbringen sie mit 4,6 (gegenüber 1,5) Stunden wochentags dreimal so viel Zeit mit ihren Kindern wie männliche Führungskräfte (ebd., 57) und leisten etwas mehr als die Hälfte der anfallenden Hausarbeit in ihren Partnerschaften (männliche Führungskräfte: 14 Prozent; vgl. Holst u.a. 2012, 59-60).

2.3 Dual-Career Couples – Vereinbarkeitsmanagement in egalitären Partnerschaften Untersuchungen zur Lebensführung männlicher und weiblicher Führungskräfte zeigen, dass sich weibliche Führungskräfte in ihren partnerschaftlichen Arbeitsteilungsarrangements von ihren männlichen Kollegen unterscheiden. Während hochqualifizierte Männer in der Regel mit einer Partnerin zusammen leben, die nicht berufstätig oder nur teilzeitbeschäftigt ist, haben hoch qualifizierte Frauen „in der Regel häufiger hierarchisch gleichgestellte Partner“ (Holst u.a. 2012, 8). Ein großer Teil lebt in so genannten „Dual-Career Couples“ (DCC). Dieser international verwendete Begriff

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bezeichnet Partnerschaften, in denen beide Partner eine berufliche Karriere verfolgen und ein hohes berufliches Commitment zeigen (Behnke/Meuser 2003, 62). Exakte Zahlen über die Verbreitung von DCC liegen für Deutschland nicht vor. Schulte, der einen relativ weiten Begriff von Karriere zugrunde legt, schätzt, dass ca. 15 bis 20 Prozent aller berufstätigen Paare als Doppelkarrierepaare bezeichnet werden können (Schulte 2002, 256); Meuser (2009) geht von 6 bis 8 Prozent aller Ehen aus. Von den Paaren, bei denen beide Partner über einen akademischen Abschluss verfügen, gehen 30 Prozent in Vollzeit einer beruflichen Tätigkeit nach (Rusconi/Solga 2011, 12). Auch wenn sich diese Partnerschaften als gleichberechtigt verstehen, da sich beide Partner eine lebenslange Karriereorientierung zugestehen und genug Geld haben, um Haus- und Familienarbeit weitgehend zu delegieren, übernehmen in der Regel die Frauen das „Vereinbarkeitsmanagement“ (Bathmann/Cornelißen/Müller 2013, 288) und räumen im Zweifelsfall der Karriere des männlichen Partners den Vorrang ein. Allerdings zeigen andere Untersuchungen, dass sich knapp die Hälfte der vollzeitbeschäftigten Frauen in Führungspositionen mit ihrem Partner die Hausarbeit teilen. Bei gut jeder siebten vollzeitbeschäftigten Frau in einer Führungsposition verrichtet der Partner sogar mehr Hausarbeit als die Frau (Holst u.a. 2012, 8). Der relativ kleine Anteil von Doppelkarrierepaaren an allen Paaren macht deutlich, dass in den meisten Partnerschaften die Vereinbarkeit von Beruf und Familie einen hohen organisatorischen Aufwand erfordert bzw. die Karriere beider Partner erschwert. So sind nach einer Online-Befragung von über 1000 Doppelkarrierepaaren (Walther/Lukoschat 2008) 56 Prozent der Mütter und 47 Prozent der befragten Väter unzufrieden mit ihrer eignen Work Life Balance.

2.4 Väter – zwischen Ernährerrolle und Vereinbarkeitswünschen Vereinbarkeit von Beruf und Familie wurde lange Zeit ausschließlich als Problem von Frauen thematisiert. Aktuelle Diskurse über Väter und Väterlichkeit lassen hier einen Wandel erkennen. Väter formulieren Wünsche nach aktiverer Vaterschaft (Hofäcker 2007; Meuser 2007; Behnke/Meuser 2012). Auf der Ebene der Leitbilder zeigt sich ein deutlicher Wandel vom

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„Ernährer zum Erzieher“ (Fthenakis/Minsel 2001), und auch in der Selbstwahrnehmung der Väter zeigt sich eine Veränderung hin zur egalitären Beteiligung an der Kindererziehung (IGS 2011). Insgesamt scheinen Vereinbarkeitskonflikte und Wünsche nach mehr Zeit für Familie verstärkt thematisiert zu werden (IGS 2007, Döge 2006). Allerdings schlägt sich dies nicht nennenswert in veränderten Praktiken nieder (Kapella/Rille-Pfeiffer 2011; Cyprian 2007; Mühling/Rost 2007; Oechsle u.a. 2012). Nach wie vor sind männliche Lebensläufe stark erwerbszentriert, und auch die familiale Arbeitsteilung zeichnet sich durch weitgehende Persistenz traditioneller Muster der Arbeitsteilung aus (Meuser 2007). Nach einer Studie des Statistischen Bundesamts (Destatis 2012b) nahmen nur 25 Prozent der Väter Elternzeit für ihre im Jahr 2010 geborenen Kinder in Anspruch. Davon bezogen 76 Prozent die Leistung für maximal zwei Monate (häufig parallel zur Partnerin); nur 6 Prozent der Väter beantragten die Leistung für ein Jahr. 8 Im Vergleich zu 2008 sind allerdings deutlich mehr Väter in Elternzeit (Destatis 2014). Auch die Teilzeitquote von Vätern ist gering; meist geht Vaterschaft für viele berufstätige Männer sogar mit einer Ausweitung der Arbeitszeiten einher (vgl. Abschnitt 2.1). Bis heute ist die Wahl alternativer Lebensformen als Mann oft nicht nur mit einer „Neujustierung der männlichen Identität“ (Meuser 2007, 64), sondern auch mit einer bewussten Entscheidung gegen eine berufliche Karriere verbunden (vgl. Oberndorfer/Rost 2002). Auch unsere eigenen Forschungsergebnisse zeigen, dass Väter, denen die aktive Teilhabe an Familie wichtig ist, häufig auf weitere Karriereschritte verzichten bzw. angebotene Führungspositionen ablehnen. Sie wollen keine abwesenden Väter sein, wie sie das bei ihren Vätern und anderen Männern erlebt haben, und antizipieren, dass ihnen bei einem weiteren beruflichen Aufstieg genau das passieren würde. Umgekehrt verzichten viele Väter mit einer Karriereorientie-

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41 Prozent der Väter, die zusätzlich zu ihrer Frau einen Antrag auf Elterngeld stellten, wählten ihren ersten Bezugsmonat in den ersten drei Lebensmonaten des Kindes; 20 Prozent nahmen die Leistung erst in Anspruch, wenn das Kind sein erstes Lebensjahr vollendet hatte. Die Nutzung der Elternzeit durch Väter hängt vor allem davon ab, ob die Mutter vor der Geburt des Kindes berufstätig war: Bei den vor der Geburt des Kindes erwerbstätigen Müttern lag der Anteil der Partneranträge bei 32 Prozent, bei den zuvor nicht erwerbstätigen Müttern nur bei 12 Prozent (Destatis 2012b).

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rung, auch wenn sie gern mehr Zeit mit ihren Kindern verbringen würden, auf eine aktive(re) Teilhabe an Familie – vor allem dann, wenn ihre Partnerin die Hauptverantwortung für Haushalts- und Familienarbeit übernimmt. Dies gilt nicht nur in den wettbewerbsorientiert und projektförmig strukturierten Unternehmen der Privatwirtschaft, sondern auch im öffentlichen Dienst (Alemann/Beaufaÿs 2013). Dabei ist das Paradox zu beobachten, dass Unternehmen in ihrer Werbung mit Familienfreundlichkeit gerade jüngere hochqualifizierte Fachund Führungskräfte ansprechen möchten, die auf Grund des demografischen Wandels immer knapper zu werden scheinen (vgl. Abschnitt 1). Bei ihrer Tätigkeit im Unternehmen wird diesen „High Potentials“ dann aber ein hoher Verfügbarkeitsanspruch signalisiert, und sie erfahren, dass Karriere und Vereinbarkeit sich tendenziell ausschließen. So kommt es, dass Frauen wie Männer mit Karriereambitionen Vereinbarkeitsmaßnahmen ihrer Unternehmen, die diese zum Teil mit großem Aufwand entwickeln und in kostspieligen Verfahren auditieren und zertifizieren lassen, nicht nutzen. Sie fürchten, durch die Nutzung als weniger karriereorientiert wahrgenommen zu werden und Karrierenachteile zu erleiden (Liff/Ward 2001; Alemann/Beaufaÿs 2013). Allerdings gibt es dabei deutliche Unterschiede zwischen den Geschlechtern: Während bei einer Mutter die berufliche Auszeit und der Wechsel auf die Teilzeitstelle geradezu erwartet wird, erfahren Väter, die versuchen, Familie und Beruf bzw. Karriere zu vereinbaren, soziale Ablehnung in ihrem beruflichen und privaten Umfeld (vgl. Prognos 2005; Possinger 2013). Die Antizipation solcher Reaktionen führt dazu, dass Väter sich weitaus defensiver verhalten. Bertram spricht von einem „unsichtbaren Dilemma“ (Bertram 2007): Anders als bei Frauen werden die Vereinbarkeitsprobleme von Männern weniger wahrgenommen; sie werden von den Vätern selbst weniger thematisiert und Vereinbarkeitsforderungen häufig gar nicht erst gestellt. Damit bleibt Vereinbarkeit weiblich konnotiert, zum Nachteil von Frauen und Männern. Da sich die Mehrzahl von ihnen immer noch als Familienernährer sieht und tatsächlich im Durchschnitt vier Fünftel des Familieneinkommens erwirtschaftet (Henry-Hutmacher/Schmitz 2010, 10), liegt auf den Vätern ein hoher wirtschaftlicher Druck. In der Umfrage der Unternehmensberatung IGS (Henry-Hutmacher/Schmitz 2010) gaben daher auch 71 Prozent der Männer an, dass sie in einem Konflikt zwischen Karriere und Familie ste-

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hen. Sie stehen von mehreren Seiten unter Druck: Sie sind mit Forderungen der Partnerin nach mehr familiärem Engagement konfrontiert, auch die Kinder wollen mehr Zeit mit ihrem Vater verbringen, und über 80 Prozent der befragten Väter möchten dies auch selbst. Der Konflikt geht allerdings überwiegend zu Lasten der Familie und der eignen Interessen, so die Auskunft der befragten Männer. Allerdings zeigen unsere Forschungsergebnisse, dass die Chancen der Väter, ihren Wunsch nach mehr Familienzeit zu verwirklichen, von unterschiedlichen Faktoren abhängen. Zentral ist dabei der Begriff des sense of entitlement (Sen 1984) – das Bewusstsein, legitime Ansprüche zu besitzen, die man anmelden und durchsetzen darf. Dieser sense of entitlement hängt unter anderem von der Position der Väter auf dem Arbeitsmarkt ab: Väter, die ihre Position im Unternehmen bzw. auf dem Arbeitsmarkt als gut einschätzen, setzen ihre Vereinbarkeitsinteressen im Unternehmen eher durch bzw. nutzen vorhandene Angebote öfter. Eine Ursache hierfür kann das selbstbewusste Wissen um den eigenen Wert als Arbeitskraft bzw. des eigenen Nutzens für das Unternehmen sein. Unsere Interviewauswertungen zeigen, dass Vätern in prekären Arbeitsverhältnissen die Durchsetzung von (mehr) Familienzeit schwerer fällt. Untersuchungen zeigen die Differenzierung der Vaterrolle, die vom „guten Ernährer“ bis hin zum „fürsorglichen Vater“ oder „Hausmann“ reichen kann (Höying 2008). Sie ist abhängig von vielen Faktoren, beispielsweise dem sozialen Milieu der Partner, ihren Orientierungen, beruflichen Positionen, Paarkonstellationen und den Möglichkeiten, die ihre Arbeitsorganisationen ihnen bieten. Aktuelle Studien stellen eine große Bandbreite an alltäglichen Vereinbarkeitsarrangements, Strategien und subjektiven Vaterschaftskonzepten von Vätern fest (Halrynjo 2009; Possinger 2013; Smith 2008; Pfahl/Reuyss 2009; Volz 2012; Jurczyk/Lange 2009). Auch unsere Forschungsergebnisse zeigen, dass aktive Vaterschaft Unterschiedliches bedeuten kann: Während einige Väter Familienzeit als Freizeit und Gegengewicht zur beruflichen Arbeit ansehen, nehmen andere sie als Verpflichtung wahr, den Familienalltag am Laufen zu halten (Beaufaÿs/Alemann 2014). Die aktive Teilhabe an Familie wird also zunehmend auch für Männer ein Lebensziel, allerdings können sie ihre Wünsche nach aktiver Vaterschaft häufig nicht in die konkrete Lebensgestaltung umsetzen. Vereinbarkeit liegt damit immer noch in der primären Zuständigkeit von Frauen (bis

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hin zum „Vereinbarkeitsmanagement“). Gleichzeitig werden Öffnungen in Richtung auf egalitäre(re) Partnerschaftskonzepte durch Dual-Career Couples und „neue Väter“ deutlich, und Erfahrungen von Männern mit Vereinbarkeitskonflikten geraten in den Fokus der wissenschaftlichen Untersuchung. Dabei spielen auch Vereinbarkeitshindernisse in Unternehmen eine Rolle. Neuere Studien betonen die beruflichen Barrieren für eine stärkere Beteiligung von Vätern an Familie (Oechsle u.a. 2012). Vermehrt geraten deshalb seit einigen Jahren Arbeitsorganisationen in den Blick, die daraufhin untersucht werden, inwieweit sie Teilhabe an Familie fördern oder behindern. Der folgende Abschnitt widmet sich daher der Rolle von (Arbeits-)Organisationen bei der Umsetzung von Vereinbarkeit.

3. ARBEITSORGANISATIONEN – C HANCEN UND B ARRIEREN BEI DER U MSETZUNG VON V EREINBARKEIT Organisationale Strukturen, Entscheidungen und Prozesse tragen in ihren Verschränkungen mit normativen Auffassungen von Geschlecht, Karriere, Arbeit und Leistung zur Divergenz von formalen Gleichheitsansprüchen und gelebter Praxis bei (Aulenbacher/Riegraf 2010; Funder 2011). Arbeitsorganisationen gelten heute als konstitutiv für die Produktion von Ungleichzeitigkeiten zwischen neueren kulturellen Repräsentationen und Leitbildern von Väterlichkeit und beobachtbaren traditionellen Vaterschaftspraxen im Sinne eines „institutional lag“ (vgl. Oechsle u.a. 2012, 16). So treffen hier nicht selten veränderte normative Vorstellungen von Vaterschaft auf hegemoniale Männlichkeitsvorstellungen und damit verknüpfte Erwerbsrollen (Tölke 2007; Zerle/Krok 2008; Höyng 2008). Verschiedene Studien zeigen, dass die geschlechtliche Konnotation von Familienfreundlichkeit in Unternehmen häufig sehr einseitig (im Sinne einer Fokussierung auf die weiblichen Beschäftigten) ausfällt; Vereinbarkeitsmaßnahmen werden bislang selten von Männern in Anspruch genommen (Prognos 2005; IGS 2007; Trappe 2013, Ostendorp/Nentwich 2005; Beile/Jahnz 2007; Lewis 2010). Eine wichtige Rolle spielen hier organisationale Kulturen bzw. Rationalitäten, welche die Nutzung von Angeboten und die möglichen Vereinbarkeitspraktiken für Mütter wie für Väter in Organisationen prägen

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(Hochschild 2006; Brandt/Kvande 2009; Liebig 2013). Organisations- wie Arbeitszeitkulturen mit (häufig unausgesprochenen) Verfügbarkeitserwartungen und Arbeitszeitnormen, normativen Vorstellungen über Leistung, Karriere und Vereinbarkeit steuern subtil, aber äußerst wirksam die Nutzung bzw. Einforderung von Vereinbarkeit und Familienfreundlichkeit durch Väter (Gärtner 2012; Possinger 2013; Sallee 2012; Poggio/Murgia 2013). Überstunden- und Präsenzkulturen (Haas/Hwang 2007; Liebig 2003, 2013; Hofbauer 2008) sowie umfassende zeitliche und räumliche Verfügbarkeitserwartungen insbesondere an qualifizierte Fach- und Führungs(nachwuchs)kräfte erschweren gerade dieser Gruppe die Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Dazu kommt in vielen Arbeitsorganisationen eine hegemoniale Männlichkeit, die Elemente einer „transnational business masculinity“ (vgl. Connell 2005) mit Elementen traditionaler Männlichkeitsvorstellungen verbindet. Sie unterscheidet sich nach den Eigentumsverhältnissen (Privatwirtschaft oder öffentlicher Dienst) und der Position des Unternehmens im globalen Wettbewerb, und sie wird von den Führungskräften vorgelebt. Diese hegemoniale Männlichkeit enthält eine stark ausgeprägte Leistungsorientierung (vgl. Alemann 2014); in Organisationen der Privatwirtschaft ist sie mit einer starken Wettbewerbsorientierung verknüpft. Stärker als früher, so zeigen unsere Untersuchungsergebnisse, enthält diese Männlichkeit jedoch auch die diskursive Präsentation von Familie (durch Fotos und Berichte über gemeinsame Unternehmungen), insbesondere im höheren Management (vgl. auch Hartmann 2013). Auf der Handlungsebene zeigt sich jedoch, dass gerade karriereorientierte Männer immer noch das traditionelle Ernährermodell leben, inklusive konventionell männlicher Vorlieben in der Freizeit, während derjenige, der sich dafür entscheidet „ein guter Vater zu sein“, sich „selbst eliminiert“ (Connell 2010, 21). Dies zeigt sich beispielsweise durch ein mangelndes Verständnis für außerberufliche Verpflichtungen insbesondere durch Vorgesetze sowie Kolleginnen und Kollegen (Allard u.a. 2011) – selbst wenn die Geschäftsführung längst den Nutzen familienfreundlicher Arbeitskulturen erkannt hat. Aktive Väter stoßen in den meisten Unternehmen immer noch auf wenig Unterstützung; sie gelten als wenig arbeits-, karriere- und leistungsorientiert (Puchert u.a. 2005, Auer 2006, Döge 2006). König (2012) macht deutlich, dass die traditionell weibliche Sphäre mit einer sozialen Deklassierung verbunden ist, die auch Männer betrifft, wenn

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sie darin den Platz einnehmen, der von jeher Frauen zugedacht war: „Ihnen droht der Verlust hegemonialer Männlichkeit“ (2012, 154). Während Mütter seit langem damit konfrontiert sind, dass mit ihrer Mutterschaft gleichzeitig Aufstiegschancen, Verdienst und Anerkennung schwinden (Budig/England 2001), wurden für Väter bislang keine ähnlichen Effekte nachgewiesen. Doch die Vermischung der Sphären durch aktiv sorgende Väter bleibt auch für sie nicht „ungestraft“, da sie mit ihrer Praxis das in Frage stellen, was in Organisationen als hegemoniales Modell gelebt wird. (vgl. auch Höyng 2008; Behnke/Meuser 2012). Insbesondere ältere Führungskräfte verkörpern den Anspruch, dass beruflicher Aufstieg hohe Kosten für die persönliche Lebensführung erfordert. Sie sind nicht bereit, ihren Mitarbeitern bzw. ihrem Führungsnachwuchs die „Opfer“ zu erlassen, die ihr eigener Aufstieg mit sich gebracht hat (vgl. auch Alemann u.a. 2012; Liebold 2005). Auf der anderen Seite gibt es jedoch Anzeichen für organisationale Wandlungsprozesse. So finden wir in einigen untersuchten Arbeitsorganisationen agents of change vor, die auf Grund von eigener Überzeugung oder persönlicher Betroffenheit Familienfreundlichkeit in ihrem Unternehmen verwirklichen wollen. Es handelt sich um (meist jüngere) Führungskräfte, aber auch um Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von Personal- und Diversity-Abteilungen. Nicht immer sind diese agents of change jedoch mit ausreichenden Machtressourcen ausgestattet, um Veränderungen im gesamten Unternehmen bewirken zu können, so dass nur einzelne (mit einem entsprechenden sense of entitlement ausgestattete) Väter davon profitieren. Vielfach widersprechen sich auch Familienfreundlichkeitsaussagen und -maßnahmen der Geschäftsführung, die Vereinbarkeit als produktive Ressource begreift, und umfassende Verfügbarkeitserwartungen der unmittelbaren Vorgesetzten, die die Vereinbarkeit der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter erschweren. Auf diese Weise kommt es zu einem Nebeneinander von Persistenz und Wandel in Arbeitsorganisationen. Teilweise führt dies dazu, dass ein Unternehmen von den betroffenen Vätern für familienfreundlich gehalten wird, obwohl sie ihre individuelle Vereinbarkeit nicht realisieren können. Diese Gleichzeitigkeit von Persistenz und Wandel kann am Beispiel eines international agierenden Unternehmens der Konsumgüterindustrie mit stark wettbewerbsorientierten und projektförmigen Arbeitsstrukturen ge -

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zeigt werden. 9 Die befragten Väter äußern sich, trotz durchaus thematisierter Probleme, flexible Arbeitszeiten auch für familiale Belange zu nutzen oder Elternzeit zu nehmen, überwiegend positiv: Sie sind der Meinung, dass ihr Unternehmen ein familienfreundlicher Arbeitgeber ist und einiges für seine Beschäftigten in diesem Zusammenhang bietet. Neben konkreten Angeboten sind aus Sicht der Väter die flexiblen Arbeitszeiten auf allen Ebenen des Unternehmens ein Beleg für seine Familienfreundlichkeit. Flexible Arbeitszeiten erleichtern die Vereinbarkeit und schaffen morgens und abends Freiräume für die Erledigung von Familienaufgaben. Bei aller konstatierten Familienfreundlichkeit ist den Vätern jedoch bewusst, dass im Unternehmen in erster Linie Gewinne erwirtschaftet werden müssen. Unter dem „Gesichtspunkt eines irgendwie profitorientierten Unternehmens“ werde, so die Einschätzung eines Vaters, „schon sehr viel getan für Kinder“, deshalb müsse man „für vieles dankbar sein, was hier passiert.“ Andererseits „darf man auch nicht denken, dass das hier ein Streichelzoo ist, wo einem jetzt wirklich was geschenkt wird. Also letztendlich muss man hier auch seine Leistung abliefern, und hier passieren auch Dinge, die sind nicht immer schön. [...] Also ich finde es normal, wie es hier bei [Unternehmen] ist. Und in dem Sinne ist es ein familienfreundliches Unternehmen.“ (Phasenkoordinator)

Die Positionierung des Unternehmens als familienfreundlich wird von den befragten Vätern auch als ökonomisches Kalkül wahrgenommen. Sie stellen fest, dass in der oberen Führungsebene ein Umdenken stattgefunden hat, dass mehr als früher Wert darauf gelegt wird, „dass man als soziales Unternehmen wahrgenommen wird“ (Senior Controller), was sich auch auf die Außenwirkung als familienfreundlich bezieht. Nicht zuletzt der demographische Wandel stellt aus Sicht der Väter einen starken ökonomischen Anreiz für mehr Familienfreundlichkeit dar:

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Dieses Unternehmen wurde in Form einer Fallstudie im bereits erwähnten Forschungsprojekt „Arbeitsorganisationen und väterliche Lebensführung“ untersucht. Neben einer Homepageanalyse wurden Interviews mit zwei Expertinnen aus dem Personalbereich, sechzehn Vätern, drei Partnerinnen und drei Müttern geführt.

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„mit der demografischen Entwicklung muss man mehr tun für potenzielle Mitarbeiter, also die, die sich ja schon vorher informieren, was bietet mir denn das Unternehmen [...]. Also natürlich auch für die Leute, die heutzutage hier sind, damit sie hier bleiben. Und damit sie auch optimal arbeiten können.“ (Phasenkoordinator)

Allerdings wird Familienfreundlichkeit von den Vätern überwiegend als Angebot für Frauen verstanden und nur wenig mit ihrer eigenen Situation in Verbindung gebracht. Die Mehrzahl der Angebote zur besseren Vereinbarkeit von Beruf und Familie, insbesondere Teilzeit und längere Elternzeiten, sind keine Möglichkeiten, die die Väter für sich selbst als relevant einschätzen. Die Frage nach einer speziellen Väterfreundlichkeit erzeugt bei einigen Vätern Ratlosigkeit: „Also bis auf die – die Elternzeit für Väter, was gäbe es da eigentlich, was jetzt allgemein von Unternehmen für Väter getan wird?“ Diese Ratlosigkeit wird damit in Verbindung gebracht, dass ein Großteil der männlichen Mitarbeiter mit Partnerinnen zusammen lebt, die zum überwiegenden Teil die Reproduktionsarbeit übernehmen. Auf diese Weise entsprechen die Väter dem Modell der disembodied workers (Acker 1990), auf deren Reproduktionserfordernisse keine Rücksicht genommen werden muss: „Aber das liegt natürlich auch daran, dass oftmals noch im Privaten das Modell gefahren wird, der Vater verdient, und die Frau ist vielleicht sogar ganztags zu Hause. Und [...] dann ist ein Vater in dem Sinne einfach ja auch nur noch ein normaler männlicher Mitarbeiter, der vielleicht seine Überstunden macht wie jeder andere auch, eben weil die Frau zu Hause ihm den Rücken frei hält.“ (Phasenkoordinator)

Obgleich die Personalabteilung das Thema Väter in Elternzeit aktiv unterstützt, überwiegt bei den befragten Vätern eine grundlegende Unsicherheit, wie das unmittelbare berufliche Umfeld, die Kollegen und direkten Vorgesetzten, darauf reagieren und ob die Nutzung von Elternzeit mit Karrierenachteilen verbunden sein könnte. Selbst Väter, die nur ein oder zwei Vätermonate in Anspruch genommen haben, berichten von langem Zögern und genauem Beobachten ihres beruflichen Umfeldes, ehe sie es gewagt haben, Elternzeit zu beantragen. „Man macht sich da, glaube ich, eher als Mann die Gedanken, wenn ich jetzt in Elternzeit geh, wie sieht mich dann die Firma. Bin ich dann derjenige, der sagt, dem

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sind Frau und Kind wichtiger als der Job, was denken die Vorgesetzten über einen, wenn man das so macht.“ (Bezirksleiter)

Die Sorge, bei der Inanspruchnahme von Elternzeit oder auch der Nutzung flexibler Arbeitszeitregelungen für familiale Belange als Vater und damit als Mitarbeiter mit limitiertem Engagement identifiziert und ‚abgestempelt’ zu werden, ist groß: „Es gibt Menschen, die die Entscheidung eines Mannes, Elternzeit zu nehmen [..] dahingehend interpretieren, dass derjenige weniger Wille hat, sich beruflich zu engagieren [..]. Dass es einfach so auf eine Waage gelegt wird, man kann sein Engagement nur zu hundert Prozent verteilen.“ (Verkaufsleiter)

Die Unsicherheiten, Sorgen und Ängste, die in diesem Zusammenhang von vielen befragten Vätern geäußert werden, sind beträchtlich und nehmen einen breiten Raum in den Interviews ein. Unterzieht man diese Interviewpassagen einer genaueren Analyse, so verweisen sie auf implizite Erwartungen und ungeschriebene Regeln, auf komplexe Praktiken und ihre Einbettung in (durchaus nicht homogene, aber vielfach geteilte) Grundannahmen der Organisationsmitglieder über Leistung, Verfügbarkeit und Arbeitszeit. Im Unterschied zu den Vätern schätzen die befragten Mütter – alle in hoch qualifizierten Fach- oder Führungspositionen, alle in Teilzeit zwischen 20 und 30 Stunden – die Familienfreundlichkeit des Unternehmens durchweg kritischer ein. Zwar sehen sie durchaus positive Entwicklungen in den letzten Jahren, sie thematisieren aber auch sehr genau die Grenzen der Vereinbarkeit für Mütter und noch mehr für Väter. Aus ihrer Sicht beschränkt sich die Familienfreundlichkeit des Unternehmens vor allem auf die Initiativen der Personalabteilung, die das Thema aktiv vorantreibt: „Also alles, [...] was von der Personalabteilung gesteuert werden kann, ist familienfreundlich. Aber am Ende des Tages hängt es doch vom Vorgesetzten ab. Und [...] da ist bei [Unternehmen] einfach, glaube ich, häufig eine knappe Personaldecke, [...] man hat auch viele Kollegen, die keine Kinder haben, die auch kein Verständnis dafür haben, wenn man Teilzeit arbeitet oder mal zu Hause bleibt, weil das Kind krank ist.“ (Leiterin Treasury Service)

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Dennoch sehen die Mütter eine gewisse positive Entwicklung in Richtung auf mehr Familienfreundlichkeit und haben selbst teilweise von dieser Entwicklung profitiert: „als ich mein erstes Kind bekam, war das extrem außergewöhnlich, dass man wiederkommen möchte überhaupt nach einem Kind, und ich war die erste, die gesagt hat, nee, ich will aber, in einem Jahr stehe ich hier wieder, und dann wurden erst mal die Arbeitsgesetze rausgekramt, und wie das denn eigentlich alles so ist. Na ja, und dann kamen natürlich andere hinterher, die dann auch Kinder bekamen, und dann mit der Zeit etablierte sich das so.“ (Expatriate Managerin)

Allerdings ist für die befragten Mütter Vereinbarkeit keine Selbstverständlichkeit, sondern hängt sehr stark von der individuellen Eigeninitiative ab: Es gibt keine verbindlichen Regeln, sondern nur individuelle Absprachen. So berichten die Mütter ausführlich, wie sie teilweise „sehr extrem“ von sich aus aktiv geworden seien, um für sich individuelle Vereinbarkeitsarrangements auszuhandeln. Diese Arrangements beruhen auf speziellen Konstellationen des beruflichen Umfeldes: einer verständnisvollen Vorgesetzten, einer günstigen Teamkonstellation, einer bereits etablierten Praxis von Teilzeitarbeit und vielem anderen. Im Vordergrund steht die „Eigenverantwortung, sich die Freiräume eben auch zu suchen und zu schaffen“ (Expatriate Managerin). Sehr kritisch werden die Vereinbarkeitsmöglichkeiten auf Karrierepositionen gesehen. Hier sehen die Mütter deutliche Grenzen und haben sie auch selbst erfahren. Sie nehmen wahr, dass es kaum Teilzeit beschäftigte Mütter mit Personalverantwortung gibt, und wenn, dann nur auf der Grundlage individueller Arrangements. Kritisch wird auch die Vereinbarkeit für Väter, insbesondere die Nutzung von Elternzeit, gesehen. Zwar seien Väter, so die Wahrnehmung der Mütter, seit einigen wenigen Jahren durchaus als Thema des Human Resource Managements präsent, „aber die Umsetzung erfolgt natürlich immer in den Fachbereichen Und da, glaube ich, hakt es vielleicht bei dem einen oder anderen Fachbereich noch, beziehungsweise bei dem einen oder anderen Vorgesetzten, weil, das sind ja eigentlich die Entscheider. [...] Die entscheiden natürlich nicht über Ja oder Nein, aber die entscheiden darüber, ob der Vater dann sehr unproblematisch wieder in seinen alten Job zurückkommen kann.“ (Senior Project Managerin)

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Entscheidend in der Wahrnehmung der Mütter sind die „Signale“, die von den Vorgesetzten ausgesendet werden. Wird signalisiert, „‚das ist okay, du kannst es machen‘ oder sagt man, ‚ja, ich weiß nicht, und Projekte sind dringend, und da müssten wir vielleicht jemanden anderen drauf setzen‘. Und so, weil dieses Signal ausgesendet wird, nimmt natürlich hier kein Vater im Moment Elternzeit. [...] Weil keiner möchte wegen zwei Monate Elternzeit seinen Job verlieren.“ (Senior Project Managerin)

Die befragten Mütter betonen vor allem die Barrieren: negative Reaktionen der unmittelbaren Vorgesetzten, eine dünne Personaldecke, hohe Leistungsanforderungen und eine Unternehmenskultur, die eine höhere Beteiligung von Väter an Familie eher als Abweichung denn als Normalität betrachtet. Insgesamt überwiegt die Einschätzung, dass es für Väter unter den gegenwärtigen Bedingungen sehr schwierig sei, Beruf und Familie zu vereinbaren: „Väter [haben] einfach eine super schlechte Lobby, was jetzt Balance zwischen Familie und Beruf ist. Das, was für die Mütter jetzt hier eigentlich in den letzten Jahren hart erkämpft, erarbeitet wurde oder jetzt auch ein Stück weit in vielen Unternehmen auch gelebt wird, [..] gilt halt für die Väter weniger.“ (Senior Project Managerin)

Unsere Forschungsergebnisse stimmen mit den Befunden anderer Untersuchungen überein. So gaben in einer Umfrage unter Führungskräften 90 Prozent der Befragten an, dass Instrumente für Familienfreundlichkeit zwar existierten, ihre Nutzung aber hauptsächlich durch Frauen erfolge: Die Unternehmenskultur lasse für Männer nur eine eingeschränkte Nutzung zu und sei überwiegend mit negativen Reaktionen verbunden. Viele Männer verzichteten deshalb von vornherein auf entsprechende Forderungen oder nahmen nur informell oder in Notsituationen Möglichkeiten in Anspruch (IGS 2007). In einer Befragung von Müttern in Dual-Career Couples kritisierte die Mehrheit der Befragten, dass eine authentische und gelebte Vereinbarkeitskultur in ihren Unternehmen oft nur teilweise existiere. Oftmals klafften, besonders in großen Konzernen, die in den Leitbildern formulierten Ansprüche und die Wirklichkeit weit auseinander (Lukoschat/Walther 2006). Die tatsächliche Vereinbarkeit von Familie und Karriere hängt insbesondere von den Führungskräften ab (McKinsey 2012; Bessing/Mahler

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Walther 2011), ganz besonders von der Unternehmensspitze, die das Thema im Unternehmen voran bringen und beispielhaft vorleben kann – oder eben nicht.

4. F AZIT Wie wir gezeigt haben, bedeutet Vereinbarkeit Unterschiedliches für Individuen und Organisationen, für Mütter und Väter, und sogar innerhalb der Gruppen der Mütter und Väter sind nochmals Differenzierungen nötig je nach beruflicher Position (Mitarbeiter versus Führungskräfte) und Paarkonstellation (modernisierte Versorgerehe versus Dual-Career Couple). Es wären noch viele weitere Differenzierungen denkbar. Gemeinsam ist allen diesen Konstellationen, dass Vereinbarkeit zunehmend nicht mehr allein als Belastung, sondern auch als Bereicherung wahrgenommen wird – selbst von den Organisationen (vgl. Vereinigung hessischer Arbeitgeberverbände 2010; IGS 2009), die eine gelingende Vereinbarkeit als Produktivitätsressource wahrnehmen und die Erfahrungen und Qualifikationen, die Beschäftigte außerhalb der Arbeitswelt erwerben, als Gewinn sehen. Der Hauptunterschied zwischen der individuellen und der organisationalen Beschäftigung mit Vereinbarkeit liegt darin, dass die Hauptverantwortung für eine gelingende Vereinbarkeit (und die Hauptbelastung) immer noch bei den Individuen liegt, auch wenn Organisationen zunehmend Familienfreundlichkeit nach außen hin signalisieren und entsprechende Maßnahmen anbieten. Gleichzeitig wird sowohl bei der Untersuchung der Individuen als auch der Organisationen deutlich, dass die bestehenden Geschlechterverhältnisse mit einer nach wie vor stärkeren Zurechnung von Care-Verpflichtungen an Frauen zu Ungleichheiten zwischen Männern und Frauen führen – auch wenn immer mehr Väter sich die Familienarbeit mit ihren Partnerinnen teilen (möchten) und dafür teilweise sogar auf eine berufliche Karriere verzichten, sie aufschieben oder Karriereeinschränkungen in Kauf nehmen. Durch die in unserem Beitrag skizzierten Entwicklungen wird Vereinbarkeit nicht mehr (allein) als Privatsache und Frage von individueller Lebensführung definiert, sondern wird auch den Unternehmen als Aufgabe zugeschrieben. Allerdings zeigen die präsentierten Forschungsergebnisse, dass die zunehmende Selbstpositionierung von Unternehmen als familienfreundlich und die Implementierung entsprechender Programme und Zerti-

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fizierungen in den meisten Betrieben nicht bis in die Tiefen der Organisationskultur vorgedrungen sind. Der Kulturwandel in Organisationen vollzieht sich nur langsam, da er organisationale Routinen und Selbstverständlichkeiten in Frage stellt: uneingeschränkte Verfügbarkeitsnormen und Geschlechterkulturen, die weiblichen Beschäftigten (immer noch) die Hauptverantwortung für Reproduktionsarbeit zuordnen. Der Wandel auf der Ebene der kulturellen Repräsentationen, der medialen Darstellungen und Leitbilder von Mütterlichkeit und Väterlichkeit, ist schon viel weiter vorgedrungen als die Veränderung der Praxen – sowohl in der individuellen Lebensführung als auch in den Organisationen. Vermittelnd wirken hier jedoch kulturelle Leitbilder und wohlfahrtsstaatliche Regulierungen anderer Länder: So nehmen viele der von uns befragten Väter und Experten Bezug auf skandinavische Länder und wünschen sich für Deutschland mehr Geschlechtergerechtigkeit nach skandinavischem Vorbild. Diese Normalitätsmuster führen zu einem veränderten sense of entitlement, der zur Formulierung von Vereinbarkeitsansprüchen führt und zum aktiven Erkämpfen von Arbeits- und Lebensbedingungen, die man für sich selbst für gerechtfertigt hält. Dies wirkt nicht nur beispielhaft auf Nachahmer, sondern verändert tatsächlich die Rahmenbedingungen für alle Mütter und Väter. Dabei stellt sich auch die Frage nach der Verantwortlichkeit neu: Wer ist verantwortlich für die Herstellung einer gelingenden Vereinbarkeit – die individuellen Beschäftigten und ihre Familien, die Unternehmen, die Gesellschaft – oder alle zusammen? Der Titel unseres Beitrags – Die zwei Seiten der Vereinbarkeit – macht deutlich, dass Vereinbarkeit Ergebnis eines wechselseitigen Prozesses ist, der sich in den Gesellschaftsbereichen Arbeit und Familie (aber auch der Beschäftigungs- und Familienpolitik) abspielt und sowohl Frauen als auch Männer in teils ähnlicher, teils unterschiedlicher Weise betrifft. Jede dieser Seiten hat sich im Zeitverlauf verändert und ist auch gegenwärtig im Wandel begriffen.

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Autorinnen und Autoren

Alemann von, Annette, Dr. phil., wissenschaftliche Mitarbeiterin im Forschungsprojekt „Arbeitsorganisationen und väterliche Lebensführung“ im SFB 882 „Von Heterogenitäten zu Ungleichheiten“, Universität Bielefeld. Sie studierte Soziologie, Ethnologie, Romanistik und Rechtswissenschaft in Köln, Halle/Saale und Mendoza/Argentinien. Neben ihrer wissenschaftlichen Arbeit langjährige Vortrags- und Beratungstätigkeit für Unternehmen, Politik und Non-Profit-Organisationen. Ihre aktuellen Arbeitsschwerpunkte: Vereinbarkeit von Familie und Beruf; Männer und Frauen in Führungspositionen. Bultemeier, Anja, Dipl. Pol., wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Soziologie I im Department Sozialwissenschaften und Philosophie der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Sie beschäftigt sich mit der Veränderung von Arbeit und Unternehmen, betrieblichen Karrieresystemen und geschlechtsspezifischen Ungleichheiten. Dick van, Rolf, Professor für Sozialpsychologie und Direktor des Center for Leadership and Behavior in Organizations (CLBO) an der Goethe Universität Frankfurt am Main. Er veröffentlichte über 150 Bücher und Aufsätze und forscht u.a. zu Identifikation im Kontext von Führung, Diversität, Stress und Unternehmensfusionen. Fey, Stefan, Dipl. Pol., arbeitet zu verschiedenen Aspekten von Öffentlichkeit und Privatheit, insb. im Kontext moderner Informations- und Kommunikationstechnologien.Sein politikwissenschaftliches Studium an der Goethe Universität Frankfurt am Main schloss er 2013 mit einer Diplomarbeit

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zu (feministischen) Gegenöffentlichkeiten im „Web 2.0“ ab. Von 20072014 war er Mitarbeiter am Cornelia Goethe Centrum für Frauenstudien und die Erforschung der Geschlechterverhältnisse (CGC). Flake, Uli, Dipl.-Pädagoge und Informatiker. Seit 1999 Berater bei der Technologieberatungsstelle beim DGB Hessen e.V. (TBS) in Kassel. Arbeitsbereiche: Informations- und Kommunikationssysteme, Neue Technologien - SAP, Oracle, Business Warehouse, RFID, VoIP, Web / Enterprise 2.0 - Videoüberwachung, Datenschutz und Datensicherheit. Seminare zur Betriebsratsarbeit. Großegger, Beate, Dr. phil., wissenschaftliche Leiterin und stv. Vorsitzende des Instituts für Jugendkulturforschung in Wien sowie Lektorin an mehreren österreichischen Universitäten. Die Kommunikationswissenschaftlerin ist seit 1996 in der Jugendforschung als Expertin für junge Lebenswelten tätig. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind: Soziale Exklusion, Jugend und Arbeitswelt, Jugend und Politik, Medien und Technologien, Jugendkulturen und Lifestyles, Methoden qualitativer Zielgruppenforschung, Medien/Zielgruppenkommunikation. Hernadez Bark, Alina S., Dr. phil. nat., Diplom-Psychologin, wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Abteilung Sozialpsychologie der Goethe Universität Frankfurt a.M. Sie forscht und lehrt u.a. zum Thema Geschlecht und Führung. Ferner war sie stellvertr. Leiterin des durch BMBF und ESF geförderten Projektes „Leadfem“, in dem Gleichstellungsmaßnahmen entwickelt und untersucht wurden. Hofmeister, Heather, Professorin für Soziologie mit dem Schwerpunkt Arbeitssoziologie an der Goethe-Universität, Frankfurt a. M. und Co-Direktorin des Center for Leadership and Behavior in Organizations. Sie arbeitete an den Universitäten Bielefeld, Bamberg, und war Professorin für Soziologie mit dem Schwerpunkt Gender und Lebenslaufforschung an der RWTH Aachen. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Arbeit und Familie, Geschlechterungleichheiten, Mobilität, Lebenslaufforschung, und Frauen in Führung.

A UTORINNEN UND A UTOREN | 329

Kirschenbauer, Annette, Dr. phil., Soziologin und Wirtschaftswissenschaftlerin. Sie promovierte zum Thema „Hochqualifiziert, jung, flexibel und männlich? Eine genderorientierte Analyse des Berufsfeldes IT-Consulting“. Ihre Forschungsschwerpunkte sind: Arbeits- und Genderforschung, Informations- und Kommunikationstechnologien. 2011-13 Projektmitarbeiterin im BMBF Projekt „Bewegliche Geschlechterarrangements – Neuformierung von Arbeit und Leben durch Informatisierung?“ Oechsle, Mechthild, Professorin für Sozialwissenschaften mit den Schwerpunkten Berufsorientierung und Arbeitswelt/Geschlechterforschung an der Universität Bielefeld. Forschungsschwerpunkte: Vereinbarkeit und Work Life Balance; Profession, Organisationen und Geschlecht; Übergang Schule/Universität/Arbeitswelt; Berufsorientierung und Lebensplanung. Leitung des Forschungsprojekts „Arbeitsorganisationen und väterliche Lebensführung“ im SFB 882. Roth-Ebner, Caroline, Mag. Dr., Assoziierte Professorin am Institut für Medien- und Kommunikationswissenschaft, Alpen-Adria-Universität Klagenfurt. Arbeitsschwerpunkte: Digitale Medien, Medienpädagogik, Medienaneignungsforschung. Habilitationsschrift: Mediatisierung von Arbeit. Zur Dynamik von Medien(kommunikation), Raum und Zeit in der Arbeitswelt (2013). Wischermann, Ulla, Professorin am Institut für Soziologie der GoetheUniversität Frankfurt a.M. Ihre Forschungsschwerpunkte sind: Gender- und Medienforschung, insbesondere Öffentlichkeitstheorien und Soziale Bewegungsforschung. Ulla Wischermann ist geschäftsführende Direktorin des Cornelia Goethe Centrums für Frauenstudien und die Erforschung der Geschlechterverhältnisse. Sie leitete das BMBF Projekt „Bewegliche Geschlechterarrangements – Neuformierung von Arbeit und Leben durch Informatisierung?“

Gender Studies Feminismus Seminar (Hg.) Feminismus in historischer Perspektive Eine Reaktualisierung 2014, 418 Seiten, kart., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2604-9

Yvonne Franke, Kati Mozygemba, Kathleen Pöge, Bettina Ritter, Dagmar Venohr (Hg.) Feminismen heute Positionen in Theorie und Praxis 2014, 408 Seiten, kart., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2673-5

Mariacarla Gadebusch Bondio, Elpiniki Katsari (Hg.) ›Gender-Medizin‹ Krankheit und Geschlecht in Zeiten der individualisierten Medizin (unter Mitarbeit von Tobias Fischer) 2014, 212 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2131-0

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Gender Studies Sabine Hark, Paula-Irene Villa (Hg.) (Anti-)Genderismus Sexualität und Geschlecht als Schauplätze aktueller politischer Auseinandersetzungen Oktober 2015, ca. 300 Seiten, kart., ca. 26,99 €, ISBN 978-3-8376-3144-9

Mike Laufenberg Sexualität und Biomacht Vom Sicherheitsdispositiv zur Politik der Sorge 2014, 368 Seiten, kart., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2841-8

Erik Schneider, Christel Baltes-Löhr (Hg.) Normierte Kinder Effekte der Geschlechternormativität auf Kindheit und Adoleszenz 2014, 402 Seiten, kart., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2417-5

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X-Texte bei transcript Gabriele Winker

Care Revolution Schritte in eine solidarische Gesellschaft

2015, 208 Seiten, kart., 11,99 E, ISBN 978-3-8376-3040-4 E-Book: 10,99 €, ISBN 978-3-8394-3040-8 Viele Menschen geraten beim Versuch, gut für sich und andere zu sorgen, an die Grenzen ihrer Kräfte. Was als individuelles Versagen gegenüber den alltäglichen Anforderungen erscheint, ist jedoch Folge einer neoliberalen Krisenbearbeitung. Notwendig ist daher ein grundlegender Perspektivenwechsel – nicht weniger als eine Care Revolution. Gabriele Winker entwickelt Schritte in eine solidarische Gesellschaft, die nicht mehr Profitmaximierung, sondern menschliche Bedürfnisse und insbesondere die Sorge umeinander ins Zentrum stellt. Ziel ist eine Welt, in der sich Menschen nicht mehr als Konkurrent_innen gegenüberstehen, sondern ihr je individuelles Leben gemeinschaftlich gestalten.

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