Geschichte, gesellschaftliche Bewegung und Erkenntnisprozess: Studien zur Dialektik der Theorieentwicklung in der bürgerlichen Gesellschaft [Reprint 2021 ed.] 9783112531747, 9783112531730


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German Pages 304 [302] Year 1985

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Geschichte, gesellschaftliche Bewegung und Erkenntnisprozess: Studien zur Dialektik der Theorieentwicklung in der bürgerlichen Gesellschaft [Reprint 2021 ed.]
 9783112531747, 9783112531730

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Erschienen im Akademie-Verlag, DDR -1086 Berlin, Leipziger Str. 3-4 © Akademie-Verlag Berlin 1984 Lizenznummer : 202 • 100/239/84 Printed in the German Democratic Republic Gesamtherstellung: IV/2/14 VEB Druckerei »Gottfried Wilhelm Leibniz«, 4450 Gräfenhainichen • 6334 Umschlaggestaltung: Karlfried Kunz LSV: 0165 Bestellnummer: 754 3483(6821) 01800

Inhalt

Vorbemerkung Zur Erkenntnis geschichtlicher Prozesse ERSTER

9 13

TEIL

Geschichtlichkeit und Gesellschaftlichkeit der Erkenntnis

23

1.1.

Erkenntnisprozeß, Geschichte und Geschichtsschreibung

23

1.2.

Zur Dialektik der Theorieentwicklung in der klassischen bürgerlichen Philosophie

33

1.3.

„Kritik" und „wissenschaftliche Revolution". Die konstitutive Rolle der Wissenschaften in Kants Philosophie Grundlagen philosophischer Kritik „Kritik" und „wissenschaftliche Revolution"

40 40 50

1.3.3.

Die geschichtsphilosophische Dimension der Verbindimg von „Kritik" und „Revolution"

56

1.4.

Natur und „zweite Natur" - Schellings Annäherung an eine Theorie des historischen Subjekts Philosophie der Philosophie Wissenschaftliche Revolution - von der kopernikanischen Wende zur dialektischen Ontologie . Von der Natur zur „zweiten Natur" oder Idealismus und Materialismus im Prozeß der Theoriebildung Zu Schellings Philosophie der Natur Eine Hypothese zur Konstruktion der Geschichtsphilosophie Das Programm der Geschichtsphilosophie Geschichtsphilosophie als Theorie des historischen Subjekts Zweifacher Widerspruch gegen die Schellingsche Theorie

70 70 73 75 78 80

Kritik und Verteidigung des Bestehenden - Hegel und die Beziehungen der Philosophie zur Wirklichkeit Philosophie und Wirklichkeit

83 83

1.3.1. 1.3.2.

1.4.1. 1.4.2. 1.4.3. 1.4.3.1. 1.4.3.2. 1.4.3.3. 1.4.3.4. 1.4.4. 1.5. 1.5.1.

59 59 65

5

1.5.2. 1.5.3.

Die Dialektik der bürgerlichen Gesellschaft Anti-Dialektik oder die Legende vom preußischen Apologeten

95 101

1.6.

Bürgerliche Philosophie als theoretische Quelle des Marxismus?

108

ZWEITER

TEIL

Konstituierung des Proletariats und Entstehung des wissenschaftlichen Sozialismus 2.1.

Über theoretische und methodische Probleme der historischen Wissenschaftsforschung, den wissenschaftlichen Sozialismus als Gegenstandsbereich zu entdecken

Arbeiterbewegung und Wissenschaftsentwicklung. Umrisse eines Forschungsprogramms 2.2.1. Strukturelemente im Verhältnis von Proletariat und Wissenschaft 2.2.2. Theoretische Koordinaten des Forschungsprogramms: Dialektik - Vergesellschaftung - Politik 2.2.2.1. Dialektik als Entwicklungsform der Gesellschaft und der Wissenschaft 2.2.2.2. Vergesellschaftung der Wissenschaft 2.2.2.3. Politik als Determinante der Wissenschaftsentwicklung

121

121

2.2.

135 136 140 141 149 152

2.3.

Einige Prämissen zur Geschichte des Marxismus

158

2.4.

Wesentliche Merkmale des Marxschen Theorietypus

164

2.5.

Zum Übergang von Hegel zu Marx

171

2.6. 2.6.1. 2.6.2. 2.6.3. 2.6.4.

Die Konstituierung des Proletariats als Voraussetzung des Marxschen Wissenschaftsprogramms Gesellschafts-Spiegel: Philanthropie und Empirie Das passive Element der Revolution Das aktive Element der Revolution Kommunismus und Wissenschaft

176 176 181 186 191

2.7.

Das Elend der Philosophen

198

2.8.

Die Alternative: Wissenschaft und Politik

211

DRITTER

TEIL

Erkennbarkeit der Geschichte, Grenzen der Erkenntnis und Beherrschbarkeit gesellschaftlicher Entwicklung

225

3.1. 3.1.1. 3.1.2. 3.1.3.

225 228 234 238

6

Erkennbarkeit der Welt oder Grenzen der Erkenntnis Friedrich Engels über die Notwendigkeit der Philosophie Erkenntnistheorie und Klassenbewußtsein Materialismus und Sozialismus

3.1.4. 3.1.5. 3.2.

Die Wissenschaft und die „Empörung der Arbeit wider das Kapital" Der Modellcharakter der Naturwissenschaft und die „Philosophie nach dem Ende der Philosophie"

240 244

3.2.5. 3.2.6. 3.2.7. 3.2.8.

Gesellschaftstheorie und Naturtheorie - oder: Gesellschaftliche Entwicklung als Naturprozefj? Das Problem „Determinismus" - erster Zugang Bewußtlose Praxis und objektive Realität: Bemerkungen zur Theoriegeschichte Gesellschaft als Naturprozefj - theoretische Gründe des Revisionismus-Streits Der Naturbegriff der Politischen Ökonomie: Kritische und analytische Kategorie Analogie als Methodenproblem der Gesellschaftstheorie Zum Natur-Begriff in der Geschichtstheorie Bernsteiils Argumentation gegen den Determinismus Naturwissenschaft vom sozialen Leben?

262 266 268 272 275

3.3.

Für eine Philosophie des Friedens

281

3.2.1. 3.2.2. 3.2.3. 3.2.4.

249 253 255 259

3.3.1.

Die Wirklichkeit kann nur verändert werden, wenn sie interpretiert ist 3.3.2. Die Philosophie verändert sich selbst - zur Erweiterung eines kategorialen Feldes 3.3.2.1. Dialektik im Übergang von der Spekulation zur Wissenschaft 3.3.2.2. Arbeiterklasse, wissenschaftlicher Sozialismus, Frieden

286 289 293

Namenverzeichnis

298

283

Meinen Eltern

Vorbemerkung

Zu den wesentlichen Merkmalen, welche die Philosophie gegenüber den Wissenschaften auszeichnen, gehören Allgemeinheit und systematische Form ihrer Aussagen. Die Fragen, vor die sie sich gestellt sieht, systematisch zu beantworten, ist eine ihrer wichtigsten Aufgaben. Systematische Problemlösungen bergen freilich ein Problem in sich: in der Allgemeinheit theoretischen Wissens sind Spuren der Problementstehung oft weitgehend getilgt. Der Einwand gegen philosophische Theorie, sie beantworte Fragen, die niemand stelle, hat hier eine seiner Quellen. Jede theoretische Erkenntnis hat ihre Basis im Entwicklungsprozeß der Wirklichkeit und in den kognitiven Fähigkeiten der Subjekte dieses Prozesses. Theorie entsteht geschichtlich, sie ist geschichtlich und sie zielt auf Geschichte und Veränderung. In der notwendigen Abstraktheit der Definitionen und Aussagen der Theorie tritt der Prozeß der Erkenntnis hinter das Wissen als sein Resultat zurück. Die logischen Strukturen des Wissens sind der angemessene Ausdruck theoretischer Wahrheit; sie als Widerspiegelungen des geschichtlichen Prozesses formulierbar werden zu lassen, ist das Ergebnis eines der bedeutendsten Fortschritte in der Geschichte der Erkenntnis - der Dialektik. System und Geschichte bilden als Dialektik keinen Gegensatz mehr. Wo immer aber System und Struktur den Prozeß verdecken, ist die Gefahr nicht von der Hand zu weisen, daß theoretisches Wissen im schlechten Sinne abstrakt wird und zur Orientierung in der Welt wie zum Handeln nicht mehr taugt. Der Verlust des Geschichtlichen - und damit des Wirklichen - in der Philosophie bereits vor Marx und heute in jenen bürgerlichen Philosophien, deren Bürgerlichkeit klassenanalytisch definiert werden kann, macht sich nicht allein strukturalistisch und positivistisch bemerkbar. Der Verlust des Geschichtlichen ist auch da festzustellen, wo Geschichte scheinbar Geltung hat: in der Historiographie der Philosophie, gegenüber deren Konjunktur ein Plädoyer für Systematik angebrachter erscheint als eine Warnung. Der Gegenstand der Geschichte der Philosophie wird aber verfehlt, wenn sich die philosophische Analyse nicht bewußt zu Entwicklung und Veränderung verhält, wenn Fortschritt keine Kategorie der Geschichtsschreibung ist, wenn gesellschaftliche Bewegung nicht als historischer Ort der Entstehung des Wissens erfaßt wird und wenn der Philosophiehistoriker in Geschichte die Alternative zum Handeln wähnt. Geschichte

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ist - auch als Geschichte der Philosophie und der Wissenschaften - eine Aufgabe, die außerhalb der materialistischen Dialektik nur wenige Philosophen betroffen macht. Dies bedeutet nichts anderes, als daß sie sich gegen ihre eigene Wirklichkeit sperren. Die Legitimität systematischer philosophischer Theorie will ich nicht bestreiten. Hier wird allerdings bewußt ein anderer Weg gewählt. Das Plädoyer für die Notwendigkeit der Philosophie gewinnt seine Argumente in historischen Analysen zur Entwicklung von Philosophie und Wissenschaft in der bürgerlichen Gesellschaft. Spricht man von der Geschichtlichkeit theoretischer Erkenntnis, so ist der Weg in die Sackgassen des Historismus und in die Holzwege reiner Ideengeschichte noch offen. Die historische Analyse bezieht sich deshalb auf das für die Erkenntnis konstitutive Verhältnis zum gesellschaftlichen Prozeß, zu gesellschaftlichen, in Klassenformationen ausgebildeten Interessen, zur gesellschaftlichen Bewegung in ihrer Totalität und zu sozialen Bewegungen in ihren konkreten historischen Gestalten. Es wird keine geschichtswissenschaftliche Analyse vorgelegt. Gegenstand der Untersuchung sind vielmehr Methodenprobleme der Philosophie- und Wissenschaftsgeschichte und exemplarische Entwicklungen im Theoriebildungsprozeß in der bürgerlichen Gesellschaft. Im Vordergrund des Interesses steht die Frage, welchen Einfluß die Klassen dieser Gesellschaft vermittelt über soziale Träger der Erkenntnis - auf die Theorieentwicklung nehmen. Zu fragen ist, was es bedeute, daß sich der Marxismus und der wissenschaftliche Sozialismus/Kommunismus inmitten bürgerlich-kapitalistischer Verhältnisse und als Weltanschauung einer Klasse herausbilden, die nicht hegemonial ist. Zu fragen ist nach Differenz und Einheit im System philosophischer und wissenschaftlicher Erkenntnis in Epochen dieser Gesellschaft, die sich im Widerspruch zum ancien régime bürgerlich entfaltet und sich ihren immanenten Widerspruch im Proletariat erzeugt. Statt einer Systematik marxistischer Theorie lege ich Beiträge zu einer Wissenschaftsgeschichte des Sozialismus vor, um auf die gesellschaftliche Notwendigkeit zu verweisen, mit der ihre Probleme und ihre Problemlösungen entstanden sind. Die Geltung allgemeiner Aussagen des wissenschaftlichen Sozialismus wird so in Relation gesetzt zur geschichtlichen Realität, aber sie wird nicht relativistisch verneint. Die Erinnerung an den Anfang der Erkenntnis, an den Prozeß und an die dialektische Struktur dieser Entwicklung ist gewiß kein Veto gegen den disziplinären, verwissenschaftlichten Zustand der marxistischen Theorie. Sie ist eher eine selbstkritische Warnung vor dem Preis, den eine Theorie zu zahlen hätte, die sich der Wirklichkeit entfremdet. Die Erinnerung an den eingreifenden Charakter von Theorie, die sich als begreifende Erkenntnis dazu qualifiziert, in der Wirklichkeit verändernd zu wirken, ist ein Element der Hoffnung: Theorie kann sich bewähren. Den Schluß dieses Buchs bildet deshalb die Aufforderung Für eine Philosophie des Friedens. Die einzelnen Kapitel sind in unterschiedlichen wissenschaftlichen und wissenschaftsgeschichtlichen Zusammenhängen erarbeitet worden, deren gemein10

samer Nenner die Anforderung an einen marxistischen Wissenschaftler in einem kapitalistischen Land ist. Sie sind teilweise gesondert erschienen und für diese monographische Studie überarbeitet worden, teilweise sind sie aus Anlaß des Buches geschrieben. Einige Überlegungen wurden aufgenommen, die ich gemeinsam mit andern Autoren verfaßt habe; diese Passagen sind in den Anmerkungen gekennzeichnet. Sie entstanden in einer Zusammenarbeit, für die ich ebenso dankbar bin wie für die Zustimmung zur Wiedergabe in diesem Buch. Bremen, Oktober 1982

Hans Jörg Sandkühler

Zur Erkenntnis geschichtlicher Prozesse

Geschichte und Geschichtstheorie, Geschichte und Geschichtsschreibung, Geschichte und Geschichtsbewußtsein sind nicht identisch. Geschichtsauffassungen und Geschichtsbilder sind Leistungen des Bewußtseins. Der Begriff der Geschichte, in welchem wir historische Prozesse abbilden, ist Teil des ganzen sprachlichen, kategorialen und theoretischen Ensembles der Erkenntnis und des Wissens. Geschichte, von der wir uns einen Begriff machen, ist die Vermittlung des objektiven Prozesses, den wir unter der Wirkung objektiver Bedingungen zu gestalten haben, mit unserer subjektiven Reflexion und dem subjektiven Interesse, uns der Geschichte um der Wirklichkeit willen bewußt zu sein. Der Streit über die Erkennbarkeit der Geschichte und über historische Objektivität ist häufig genug von der Scheinalternative geprägt, in der die Objektivität des geschichtlichen Prozesses und die Subjektivität historischer Aneignung künstlich voneinander abgelöst werden. Immer ist er zurückzuführen auf die andere, entscheidendere Auseinandersetzung über die Machbarkeit der Geschichte, also über die Gestaltbarkeit und Veränderbarkeit der Realität. Was wir Geschichte nennen, hat weder die Qualität des Natur-Seins, noch ist es das Ergebnis subjektiven Für-Geschichte-Haltens. Extrempositionen eines objektivistischen Materialismus, der Geschichte naturalisiert, und eines subjektivistischen Idealismus, der den objektiven Prozeß der Entstehung, Entwicklung und Wirkung materieller gesellschaftlicher Verhältnisse als bloße Setzung subjektiv intendierter Sinnzusammenhänge historisiert, leben von - wie immer ideologisch begründeten - Verwechslungen und Falschheiten. Die Behauptung des objektiven Charaktefs geschichtlicher Prozesse schließt dann die Rolle subjektiver Faktoren aus, und die These von der Geschichte als bloßer Sinnkonstruktion kapituliert vor dem Problem des Zusammenhangs von Objektivität, Subjektivität und Individualität; zugleich bleibt derartigem Idealismus verschlossen, daß außerhalb der Erkenntnistheorie jede ausschließende Entgegensetzung von „objektiv" und „subjektiv" sinnlos ist. Der Begriff der Geschichte ist kein spekulatives Konstrukt. Soll er wahre Aussagen über die Entwicklung treffen, dann hat er die Qualität einer Widerspiegelung des Prozesses selbst. Das Problem, das vor jeder historischen Analyse zu lösen ist, besteht darin, daß in der Widerspiegelung die Geschichte nicht der Spiegel ihrer selbst ist. Es 13

ist die Nicht-Identität von Geschichte und Geschichtsbegriff, welche die Philosophie vor entscheidende methodologische und theoretische Aufgaben stellt. Die Fülle von Geschichtsverfälschungen, deren ideologische Motive erklärt werden können, zeigt, da5 wahre Aussagen über Geschichte die Leistung bewußter Erkenntnis sein müssen und sich nicht automatisch einstellen. Wird Geschichte geklittert und gefälscht — wie etwa in der politisch-ideologisch interessierten Identifizierung von „braun" und „rot", die noch immer eine der Voraussetzungen der Wirksamkeit des Antikommünismus ist - , dann nicht um der Geschichte willen, sondern in unmittelbarem Wirklichkeitsbezug. Selbst wo Geschichte nicht bewußt verfälscht, sondern in verschiedensten Formen des Idealismus geistesgeschichtlich, lebensgeschichtlich, hermeneutisch usw. verfehlt wird, liegt es auf der Hand, nach subjektiven Gründen zu fragen. Und es bedarf keines Hinweises, daß das Bemühen um geschichtliche Wahrheit allein noch kein Garant hinreichender historischer Erkenntnis ist. Die Aneignung der Vergangenheit als Geschichte ist eine Aufgabe für das erkennende Subjekt, dem nichts geschenkt wird. Die Ungleichzeitigkeit, die das Verhältnis zwischen Geschichte und historischer Erkenntnis prägt, verlangt nach dem klaren Bewußtsein der Tatsache, daß das, was wir als Geschichte bezeichnen, das Ergebnis rekonstruktiver Tätigkeit ist. Führen wir uns nicht deutlich genug vor Augen, daß wir als Geschichtsschreiber Geschichte konstituieren, entlassen wir uns aus der Verantwortung f ü r die Überlieferung. Weder die nachträgliche Verklärung der geschichtlichen Entwicklung noch der Traum antizipierter geschichtlicher Zukunft stellen sich der Verantwortung. Erkenntnis, die den Namen der Geschichtlichkeit verdient, ist Widerspiegelung vergangener Wirklichkeit, und als Wirklichkeit ist Geschichte determiniert. Determination und Konstitution vermitteln sich zu einer außerordentlich komplexen Einheit. Diese Einheit ist Merkmal sowohl des historischen Gegenstandes der Erkenntnis wie der aktuellen Aneignung des Gegenstandes. Geschichte, gemachte Geschichte, unter nicht frei gewählten Bedingungen gemachte Geschichte, im Kampf um größere Souveränität bei der Gestaltung der Wirklichkeit gemachte Geschichte, - immer ist sie ein Ensemble objektiver materieller, natürlicher und gesellschaftlicher Voraussetzungen und praktischer und ideeller Eingriffe. Der kulturtheoretische, lebensphilosophische, hermeneutische wie auch der positivistische Idealismus und Empirismus scheitern vor dem Problem, die Strukturen dieser Einheit zu analysieren und zu erklären. Entweder wird Geschichte aufgelöst in die Mannigfaltigkeit von Einzeldaten, zwischen denen keine Entwicklung mehr gesehen werden kann und die sich rationaler Erklärung entziehen, oder die Erkenntnis struktureller Gesetzmäßigkeiten wird geleugnet. Auf der andern Seite haben Erklärungsmodelle den Anspruch auf Materialismus erhoben, die den Zusammenhang zwischen Determination und Konstitution um das schöpferische, bewußte, zielsetzende Element in der geschichtlichen Praxis verkürzt haben. Der mechanische Determinismus hat - um einen wesentlichen Grund zu nennen - mit seinem dichotomischen

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Konzept von „objektiv" und „subjektiv" und mit der falschen Ineinssetzung von „subjektiv" und „individuell" den Zugang zur Erkenntnis der Rolle der wirklichen Subjekte der Geschichte verloren. In welchem Maße determinierende und konstituierende Momente in ihrer Einheit die Aneignung historischer Wirklichkeit bedingen und prägen, zeigt die Entwicklung des wissenschaftlichen Sozialismus. Wann immer die praktische gesellschaftliche Bewegung auf die Revolutionierung der Gesellschaft nicht verzichtet hat, die sie mit allen Mitteln mit dem Ausschluß von der Gestaltung der Geschichte bedroht hat, hat sie die Flucht in Objektivismus und Voluntarismus ausgeschlagen. Im Zusammenwirken gesellschaftstheoretischer und philosophischer Erkenntnisse sind Allgemeinaussagen und spezielle Analysen entstanden, die auch das Problem der Einheit und unterschiedlichen Wirkung von Determination und Konstitution betreffen. Das problematische Und verliert seinen disjunktiven oder nur additiven Charakter, sobald auf den einzelnen Ebenen materieller und ideeller Wirklichkeitsgestaltung die wirkenden Faktoren als Hierarchie von Instanzen analysiert werden. Der Begriff, den das Marxsche Kapital von Geschichte und Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft entwirft, ist objektiv, ohne empirisch-realistisch zu sein. Er ist durch die Spezifik des Erkenntnisgegenstands determiniert und zugleich sozial-historisch durch die Beziehung des Trägers der politisch-ökonomischen Erkenntnis zur bürgerlichen Gesellschaft und deren Klassen, zur intellektuellen Kultur dieser Gesellschaft, zum Korpus wissenschaftlichen Wissens. Er ist Widerspiegelung der wesentlichen Strukturen dieser Gesellschaft, des Kapitalverhältnisses, des Antagonismus der Klassen. Er ist ideelle Leistung, indem er die Fetischisierungen durchbricht, mit denen diese Gesellschaft sich der rationalen Erklärung zu entziehen sucht. Im Begriff der Gesellschaftsformation konstituiert die Theorie für die Erkenntnis das Allgemeine, das Mannigfaltige, Übergreifende, die Totalität in ihrer Struktur und Entwicklung. Von der spekulativen Konstruktion unterscheidet sich die Konstitution der Theorie und der Gegenstände theoretischer Erkenntnis in der doppelten Bedeutung des marxistischen Widerspiegelungsbegriffs: Er enthält das Moment der Abbildung, des Begreifens der Realität, zusammen mit jenem des Schöpfertums, des Eingreifens in die Realität. Im Begriff der Widerspiegelung der Geschichte treffen Wahrheit und Veränderung zusammen. Aus der Forderung nach historischer Wahrheit und nach Objektivität folgt die andere nach der Parteilichkeit gegenüber der Geschichte, die wir zu schreiben haben, weil Vergangenes sonst Vergessenes wäre und aus Gründen einer humanen Zukunft nicht vergessen werden darf. Humanistische Verantwortung und Verpflichtung zur Objektivität sind die Folgen aus einer in materialistischer Perspektive nicht umstandslos akzeptierten Wirkungsweise historischer Erkenntnis: Im Begriff der Geschichte, in der Geschichtsauffassung und im Geschichtsbild wird eine „zweite Geschichte" produziert. Außerhalb der sozialistischen Bewegung hat kaum ein anderer die praktischen Folgen des Umgangs mit der Geschichte so klarsichtig benannt wie Walter Ben-

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jamin in seinen gegen den Faschismus wie gegen den Attentismus der Sozialdemokratie gerichteten Thesen zur Theorie der Geschichte: „Vergangenes historisch artikulieren heißt n i c h t es erkennen, ,wie es denn eigentlich gewesen ist'. Es heißt sich einer Erinnerung bemächtigen, wie sie im Augenblick der Gefahr aufblitzt. Dem historischen Materialismus geht es darum, ein Bild der Vergangenheit festzuhalten, wie es sich im Augenblick der Gefahr dem historischen Subjekt unversehens einstellt. Die Gefahr droht sowohl dem Bestand der Tradition wie ihren Empfängern. Für beide ist sie ein und dieselbe: sich zum Werkzeug der herrschenden Klasse herzugeben. In jeder Epoche muß versucht werden, die Überlieferung von neuem dem Konformismus abzugewinnen, der im Begriff steht, sie zu überwältigen. [. . J Nur dem Geschichtsschreiber wohnt die Gabe bei, im Vergangenen den Funken der Hoffnung anzufachen, der davon durchdrungen ist: auch die Toten werden vor dem Feind, wenn er siegt, nicht sicher sein. Und dieser Feind hat zu siegen nicht aufgehört." Walter Benjamin, der dies in seinen Geschichtsphilosophischen Thesen formuliert hat, hat den „Augenblick der Gefahr" nicht nur auf den zeitgenössischen Faschismus bezogen: „Die Tradition der Unterdrückten belehrt uns darüber, daß der Ausnahmezustand', in dem wir leben, die Regel ist. Wir müssen zu einem Begriff der Geschichte kommen, der dem entspricht." Benjamin hat dies nicht als Skeptiker geschrieben, sondern als Kritiker. Geschichte ist für ihn erkennbar, weil machbar. Benjamin warnt jedoch vor Konformismus und kritikloser Übernahme der Überlieferung. Der historische Materialist „rückt von der Überlieferung ab", weil er die Interessen kennt, welche als Geschichtsziele die Tradition bestimmen. Der historische Materialist „betrachtet es als seine Aufgabe, die Geschichte gegen den Strich zu bürsten". Benjamins Kritik bleibt nicht abstrakt. Sie wendet sich ebenso gegen den Konformismus gegenüber der Geschichte wie gegen den Attentismus gegenüber der Zukunft: „Das Subjekt historischer Erkenntnis ist die kämpfende, unterdrückte Klasse selbst. Bei Marx tritt sie als die letzte geknechtete, als die rächende Klasse auf, die das Werk der Befreiung im Namen von Generationen Geschlagener zu Ende führt. Dieses Bewußtsein, das f ü r kurze Zeit im Spartacus noch einmal zur Geltung gekommen ist, war der Sozialdemokratie von jeher anstößig. Im Lauf von drei Jahrzehnten gelang es ihr, den Namen eines Blanqui fast auszulöschen, dessen Erzklang das vorige Jahrhundert erschüttert hat. Sie gefiel sich darin, der Arbeiterklasse die Rolle einer Erlöserin künftiger Generationen zuzuspielen. Sie durchschnitt ihr damit die Sehne der besten Kraft. Die Klasse verlernte in dieser Schule gleich sehr den H a ß wie den Opferwillen. Denn beide nähren sich an dem Bild der geknechteten Vorfahren, nicht am Ideal der befreiten Enkel." 1 1

W. Benjamin, Geschichtsphilosophische Thesen, in: Walter Benjamin, Zur Kritik der Gewalt und andere Aufsätze, Frankfurt a. M. 1965, S. 81/82; 84; 83; 88 (hier und im folgenden kennzeichnen eckige Klammern (] Einfügungen bzw. Auslassungen des Autors - H. J. S.). - Zur Gesamtproblematik verweise ich auf: H. J. Sandkühler, Praxis und Geschichtsbewufjtsein, Frankfurt a. M. 1973.

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Diese Kritik und Konzeption einer zureichenden, weil auf Befreiung gerichteten historischen Erkenntnis - sie sind den Überlegungen Antonio Gramscis zum Marxismus der II. Internationale vergleichbar - sind von einer einseitigen Sichtweise nicht frei. Mag die geschichtsbildende Klasse noch so beeinflußbar sein durch Ideologien des Reformismus, Ideologien ersetzen die materiellen gesellschaftlichen Determinanten der Revolution nicht. Eines aber ist zweifellos richtig: das Begreifen und das Machen der Geschichte sind unlösbar miteinander verkettet. Die historischen Studien zu einer Philosophie- und Wissenschaftsgeschichte des Sozialismus, d. h. zur Analyse der Beziehung zwischen gesellschaftlicher Bewegung und Erkenntnisprozeß, die den Kern dieses Buchs bilden, sind nicht voraussetzungslos. Vergangenheit und Zukunft des Sozialismus, Erinnerung und Hoffnung sind in ihnen bezogen auf die Wirklichkeit. Der wissenschaftliche Sozialismus ist - dies versuchen sie zu erklären - kein Gegenstand konformistischer Reproduktion kanonisierter Formeln. Der Marxismus ist eine gefährdete Überlieferung, sobald er sich dem „Subjekt historischer Erkenntnis" entfremdet. Der wissenschaftliche Sozialismus — wußte Friedrich Engels - muß wie eine Wissenschaft gelernt werden. Die Schlußfolgerung von Intellektuellen in Institutionen der bürgerlichen Gesellschaft, er könne damit außerhalb der politischen und kulturellen Praxis der Arbeiterbewegung angeeignet werden, entspringt mangelnder historischer Erkenntnis. Ziel der Analysen dieses Buchs ist nicht, das Historische - z. B. den Zustand des Bundes der Kommunisten Mitte des 19. Jahrhunderts - als Modell zu propagieren. Ziel ist vielmehr, einen Prozeß darzustellen, der nicht abgeschlossen ist, der erkennbar ist und der erkannt werden muß, wenn das revolutionäre Potential des Marxismus nicht zur Überlieferung von Ideen verflachen soll. Die Verhältnisse der bürgerlichen Gesellschaft, in denen sich die Konstituierung der Arbeiterklasse, der Arbeiterbewegung und des wissenschaftlichen Sozialismus vollziehen, sind verändert, aber - was die kapitalistischen Gesellschaften betrifft - nicht überwunden. Wird in den vorliegenden Studien das Politische in diesem Konstituierungsprozeß mit besonderer Beachtung herausgearbeitet, dann entspricht diese Priorität dem zweifachen Interesse, den Sozialismus aus dem sozialen, ökonomischen, politischen und kulturellen Prozeß zu erklären und ihn als Erkenntnismittel auszuweisen, welches nicht um seiner selbst willen anzueignen ist, sondern sich auch heute praktisch zu bewähren hat. Leiste ich mit dieser Hervorhebung des Politischen dem Einwand Vorschub, hier werde das Feld historischer Forschung verlassen und die Objektivität wissenschaftlicher Erkenntnisse werde vernachlässigt? Die vorliegenden historischen und theoretischen Studien führen in der Tat zu dem Ergebnis, daß die Normen des bürgerlichen Wissenschaftsverständnisses relativ, d. h. im Verhältnis zu diesen bestimmten gesellschaftlichen Interessen, zu sehen sind. Diese Interessen an der Wissenschaft sind transitorisch wie die gesellschaftlichen Kräfte, die sie geltend machen. Es tritt aber weder ein Vakuum noch die Überführung 2

Sandkühler

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von Wissenschaft in Propaganda ein: Es ist die Arbeiterbewegung selbst, die in ihrer Geschichte neue Interessen an wissenschaftlicher Erkenntnis entwickelt, die neue Formen des Eingriffs in die Vergesellschaftung der Wissenschaft produziert, die den kognitiven Typus der Wissenschaft und deren soziale Funktion verändert, kurz: die neue Normen und Standards der Wissenschaft prägt. Die Trennung von Wissenschaft und Politik wird praktisch in Frage gestellt, indem sich die Arbeiterbewegung neue soziale Träger wissenschaftlicher Tätigkeit schafft. Die gesellschaftliche Arbeitsteilung in der bürgerlichen Gesellschaft hat den Typus der Intellektuellen geschaffen, die Marx entsprechend ihrer Funktion als die „konzeptiven Ideologen" bezeichnet. Mit dieser Arbeitsteilung, die sich politisch-institutionell im System der bürgerlichen Gesellschaft und ihrer Organisationen reproduziert, ist die Arbeiterklasse vom Wissenschaftsprozeß ausgeschlossen. Will sie ihre Politik verwissenschaftlichen, also auf ein Fundament objektiver wissenschaftlicher Analysen des gesellschaftlichen Prozesses stellen, ist die Veränderung, die Erweiterung der Wissenschaft eine notwendige Folge. Wer diese Erweiterung der Wissenschaft leugnet, indem er sich den Wissenschaftsnormen der vorsozialistischen bürgerlichen Gesellschaft verpflichtet, verhält sich entweder bewußtlos zum historischen Prozeß oder aber er weiß, was er tut: die von ihm geforderte Trennung von Wissenschaft und Politik ist nichts anderes als die traditionell enge Verbindung von Wissenschaft und Politik, nur ideologisch verdeckt in Schlagworten wie „Neutralität der Wissenschaft". Die bewußte, theoretisch reflektierte Zuwendung zur Geschichte kann heute hinter das Niveau nicht zurückfallen, welches die Erkenntnis historischer Prozesse mit dem historischen Materialismus und dem wissenschaftlichen Sozialismus erreicht hat. Die materialistische Dialektik erkennt in der „wirklichen Geschichte [. . .] die Basis, die Grundlage, das Sein, dem das Bewußtsein nachfolgt"2. Was aber ist die „wirkliche Geschichte"? Ist die Geschichte die Lehrerin der Menschheit, zieht das Bewußtsein im Prozeß der Widerspiegelung der gegenwärtigen Wirklichkeit Lehren aus der Geschichte? Oder ist es die „Geschichte", die lehrt? Oder „lehren" gar beide - Geschichte und „Geschichte" nichts? Die bürgerliche Geschichtstheorie registriert die Auflösung des Topos historia magistra vitae, und der wissenschaftliche Sozialismus beruft sich „auf die Geschichte" als „die beste Marxistin"3. Aber ist denn die Geschichte ein Subjekt, das Lehren erteilt? Sind es nicht vielmehr die Menschen als Subjekt der Geschichte, die aus Erfolgen und Mißerfolgen, aus Siegen und Leiden lernen, die selbst die Wirklichkeit lehren, sich menschlich zu verändern? Was ist die „wirkliche Geschichte"? Marx notiert zum Problem der Objektivität der Geschichtserkenntnis: „Die sogenannte objektive Geschichtsschreibung bestand eben darin, die geschicht2

3

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W. I. Lenin, Konspekt zu Hegels „Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie", in: Wladimir Ujitsch Lenin, Werke (im folgenden: LW), Bd. 38, Berlin 1971, S. 252. R. Hilferding, Organisierter Kapitalismus. Parteitag der SPD, Kiel 1927, o. O. o. J., S. 170.

liehen Verhältnisse getrennt von der Tätigkeit aufzufassen. Reaktionärer Charakter." 4 Was die Kategorie „wirkliche Geschichte" aussagt, ist nicht identisch mit dem objektiven Veränderungsprozefj namens „Wirklichkeit" — dies ist gemeint. Der in einer bestimmten Wirklichkeit lebende Mensch bemächtigt sich seiner Vergangenheit mittels des Werkzeugs „die Geschichte". Die wirkliche Geschichte zu ergründen und im Begriff „Geschichte" angemessen widerzuspiegeln bedeutet für den historischen Materialismus: „die wirkliche, profane Geschichte der Menschen eines jeden Jahrhunderts erforschen, diese Menschen darstellen, wie sie in einem Verfasser und Schausteller ihres eigenen Dramas waren" 0 . Die Voraussetzungen des historischen Materialismus „sind keine willkürlichen, keine Dogmen, es sind wirkliche Voraussetzungen, von denen man nur in der Einbildung abstrahieren kann. Es sind die wirklichen Individuen, ihre Aktion und ihre materiellen Lebensbedingungen, sowohl die vorgefundenen wie die durch ihre eigne Aktion erzeugten. Diese Voraussetzungen sind also auf rein empirischem Wege konstatierbar." 6 Die materialistische empirische Geschichtsschreibung steht jedoch vor einem Problem: Wie ist „Empirie" möglich gegenüber der Vergangenheit, die nur als Überlieferung, die nur in den Dokumenten der Reflexion auf eine Wirklichkeit präsent ist, die längst nicht nur Geschichte wurde, sondern auch „Geschichte" ist? Die Menschen sind „Verfasser und Schausteller" ihrer Geschichte. Die Menschen machen ihre Geschichte selbst, aber . . .: dies ist - mit Betonung des „Aber" - der Grundsatz der materialistischen Geschichtsauffassung. „Die Menschen machen ihre Geschichte selbst." Mit der idealistischen Autonomie-These der Geschichtsphilosophie der revolutionären Bourgeoisie des 18. und 19. Jahrhunderts unverwechselbar wird dieser Grundsatz jedoch erst durch das „Aber" des Kontextes, bei Lenin so konkretisiert: „. . . aber wodurch die Motive der Menschen und namentlich der Masse der Menschen bestimmt, wodurch die Zusammenstöße der widerstreitenden Ideen und Bestrebungen verursacht werden, was die Gesamtheit aller dieser Zusammenstöße der ganzen Masse der menschlichen Gesellschaft darstellt, was die objektiven Produktionsbedingungen des materiellen Lebens sind, die die Basis für alles geschichtliche Handeln schaffen, welcherart das Entwicklungsgesetz dieser Bedingungen ist" - dies alles also, was zum „Aber" zwingt, ist von der Geschichte die Rede, die „die Menschen machen", schreibt Lenin Marx zu, der „so den Weg zur wissenschaftlichen Erforschung der Geschichte als eines einheitlichen, in all seiner gewaltigen Mannigfaltigkeit und Gegensätzlichkeit gesetzmäßigen Prozesses" gewiesen hat. 7 Die politisch-ökonomische Analyse der Wirklichkeit der kapitalistischen Ge4

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6 7

2*

K. Marx/F. Engels, Die deutsche Ideologie, in: Karl Marx/Friedrich Engels, Werke (im folgenden: MEW), Bd. 3, Berlin 1958, Anm. zu S. 40. K. Marx, Das Elend der Philosophie, in: MEW, Bd. 4, Berlin 1959, S. 135 (Hervorhebung - H. J. S.). K. Marx/F. Engels, Die deutsche Ideologie, in: MEW, Bd. 3, a. a. O., S. 20. W. I. Lenin, Karl Marx, in: LW, Bd. 21, Berlin 1960, S. 45/46.

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sellschaft im historischen Materialismus hat das Verstehen der Geschichte verändert; die Konzeption der „Geschichte" bedarf nicht mehr der Fiktion des vorhistorischen „Anfangs" (des „Goldenen Zeitalters" etc.) ; das Denken vom „historischen Resultat" her, von Hegel initiiert, hat die Spekulation über den „Ausgangspunkt der Geschichte" abgelöst. Gegenüber den „Propheten des 18. Jahrhunderts" 8 und gegenüber den aus einem imaginären, geschichtswissenschaftlich nicht identifizierbaren Ur- oder Naturzustand deduzierten Weissagungen der historischen Teleologie entwickelt Marx in den Grundrissen der Kritik der Politischen Ökonomie jene Alternative, die den Beweis der Falschheit des „hermeneutischen Zirkels" und der „Vorurteilsbefangenheit des historischen Bewußtseins" antritt. Ohne zu bestreiten, dag „das historische Bewußtsein [. . .) nur bei sich selber beginnen" könne, bestreitet dieser Alternative, es mißverstehe das Geschichtsbewußtsein „alte Autoren im Licht unserer zeitgenössischen Vorurteile, indem wir das Buch der Geschichte von der letzten Seite zurück zur ersten lesen" 9 . Die Reinterpretation der Geschichte ist eine Funktion der objektiven Bedürfnisse der Gegenwart, in welcher die Folgen vergangener Bedürfnisrealisierungen wirksam sind. Die Kritik der Politischen Ökonomie weist schlüssig nach, „wie selbst die abstraktesten Kategorien, trotz ihrer Gültigkeit - eben wegen ihrer Abstraktion - für alle Epochen, doch in der Bestimmtheit dieser Abstraktion selbst ebensosehr das Produkt historischer Verhältnisse sind und ihre Vollgültigkeit nur für und innerhalb dieser Verhältnisse besitzen" 10 . Der materialistische Historiker stellt sich bewußt dem Problem des unegalen Verhältnisses „der Entwicklung der materiellen Produktion z. B. zur künstlerischen" 11 . Marx schränkt ein: „Es wäre also untubar und falsch, die ökonomischen [und anderen] Kategorien in der Folge aufeinanderfolgen zu lassen, in der sie historisch die bestimmenden waren. Vielmehr ist ihre Reihenfolge bestimmt durch die Beziehung, die sie in der modernen bürgerlichen Gesellschaft aufeinander haben, und die genau das umgekehrte von dem ist, was als ihre naturgemäße erscheint oder der Reihe der historischen Entwicklung entspricht. Es handelt sich nicht um das Verhältnis, das die ökonomischen Verhältnisse in der Aufeinanderfolge verschiedener Gesellschaftsformen historisch einnehmen. Noch weniger um ihre Reihenfolge ,in der Idee' (Proudhonf, (einer verschwimmelten Vorstellung der historischen Bewegung). Sondern um ihre Gliederung innerhalb der modernen bürgerlichen Gesellschaft." 12 Konsequenz ist: die Rekonstruktion der Geschichte hat auszugehen von einer genauen Analyse der geltenden, die konkrete, jeweils neueste Wirklichkeit determinierenden Strukturelemente, d. h„ von der wesentlichen Gliederung der gesellschaftlichen Realität. Für die kapi8

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K. Marx, Grundrisse der Kritik der Politischen Ökonomie. (Rohentwurf) 1857 bis 1858. Anhang 1850-1859 (im folgenden: K. Marx, Grundrisse), Berlin 1953, S. 5. Repräsentativ für den hermeneutischen Skeptizismus: K. Löwith, Weltgeschichte und Heilsgeschehen. Die theologischen Voraussetzungen der Geschichtsphilosophie, 4. Aufl., Stuttgart 1961, S. 12. 11 12 K. Marx, Grundrisse, a. a. O., S. 25. Ebenda, S. 29. Ebenda, S. 28.

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talistische Wirklichkeit heißt dies: sie hat auszugehen von der Analyse des Kapitals, der Lohnarbeit, der Privateigentumsformen, der Konsumtion und Distribution sowie der herrschenden Klassenstruktur. Die Warnung der Hegeischen Logik vor dem „Mißverstand [ . . . ] , als ob das natürliche Prinzip oder der Anfang, von dem in der natürlichen Entwicklung oder in der Geschichte des sich bildenden Individuums ausgegangen wird, das Wahre und im Begriiie Erste sei"13, wird so als materiell begründet bekräftigt. Die „Geschichte" als Theorie darf die These von der Einheit von Historischem und Logischem nicht verwechseln mit deren fiktiver Identität, sondern muß sich die materiell-praktischen Ursachen der Differenz von Geschichte und „Geschichte" vor Augen führen: „Das Nachdenken über die Formen des menschlichen Lebens, also auch ihre wissenschaftliche Analyse, schlägt überhaupt einen der wirklichen Entwicklung entgegengesetzten Weg ein. Es beginnt post festum und daher mit den fertigen Resultaten des Entwicklungsprozesses. Die Formen (. . .] besitzen bereits die Festigkeit von Naturformen des gesellschaftlichen Lebens, bevor die Menschen sich Rechenschaft zu geben suchen nicht über den historischen Charakter dieser Formen, die ihnen vielmehr bereits als unwandelbar gelten, sondern über deren Gehalt."14 Die Geschichtlichkeit jedes individuellen Bewußtseins und der kollektiven gesellschaftlichen Bewußtseinsformen verbürgt nicht unmittelbar ein Geschichtsbewußtsein auf dem Niveau der objektiven Bedürfnisse der Individuen und Klassen. Geschichtliches Bewußtsein und Geschichtsbewußtsein sind unterscheidbare Qualitäten und Modi der Widerspiegelung. Bloße Historizität des Bewußtseins schlägt um in die Qualität „Geschichtsbewußtsein", wenn die wirklichen Triebkräfte der geschichtlichen Praxis erkannt und Zielvorstellungen für den Fortschritt in die Zukunft entwickelt werden. Das Geschichtsbewußtsein erst ist fähig, sich innerhalb des Fortschrittsprozesses zu identifizieren; daß die Geschichte etwas „lehrt", gilt nur für das Geschichtsbewußtsein, das gelernt hat: die Menschen machen ihre Geschichte selbst. Nicht „der Mensch" hat seine Geschichte gemacht; die Vorgeschichte unserer Zukunft ist eine Geschichte von Klassenkämpfen. Auf dem Niveau dieser Vorgeschichte widerspiegelt das Geschichtsbewußtsein die Formen des „Machens der Geschichte", ist Geschichtsbewußtsein wesentlich Klassenbewußtsein. Elemente geschichtsmächtigen Bewußtseins finden sich auf allen Ebenen gesellschaftlichen Bewußtseins: das Alltagsbewußtsein kennt Vergangenheit und Zukunft, kennt Weltflucht und utopischen Wunsch, Hoffnung auf die Wiedergewinnung „goldener Zeitalter" menschlicher Harmonie und Hoffnung auf zukünftige Solidarität; so gewinnt bereits das Alltagsleben Perspektiven jenseits des Status quo; das Klassenbewußtsein widerspiegelt Formen der Identität der Individuen jenseits der Individualität; und die wissenschaftliche Erkenntnis erforscht genetische Kontinuitätstränge und entwirft Perspektiven, in denen das historisch Mögliche als machbar erscheint. 13

G. W. F. Hegel, Wissenschaft der Logik, hrsg. von G. Lasson, Leipzig 1932, Bd. 2, S. 226. >'• K. Marx, Das Kapital. Erster Band, in: MEW, Bd. 23, Berlin 1962, S. 89/90.

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ERSTER

TEIL

Geschichtlichkeit und Gesellschaftlichkeit der Erkenntnis 1.1.

Erkenntnisprozeß, Geschichte und Geschichtsschreibung Konstruktion von Ansichten, die ein Verhalten ergeben oder aus einem solchen kommen (Bert Brecht)

Der Prozeß des Erkenntnisfortschritts in der Philosophie wird oft als eine geschichtliche Abfolge von Philosophien, Systemen und Theorien geschrieben. Philosophiegeschichte wird zu oft als Abfolge großer Denker und damit unhistorisch geschrieben. Raum und Zeit, die wirklichen Orte des Denkens, zugleich logische Kalküle aller Erkenntnis, scheinen in den traditionellen Geistesgeschichten Von Kant bis Hegel oder Von Hegel zu Nietzsche außer Kraft gesetzt. Haben wir nicht seit Marx historisch nach den Vermittlungen zu fragen? Müssen wir nicht mit Brecht fragen.- Wer baute die Brücken zwischen Kant, Fichte, Schelling und Hegel? Wer ebnete die Wege von Hegel zu Marx und Lenin? Linearität und Kumulativität sind keine wirklichen Formen der Entwicklung der Erkenntnis, auch nicht in der Philosophie, auch nicht in den Wissenschaften. Notwendig ist - heute mehr denn je - ein Plädoyer für eine geschichtsbewußte Analyse des Erkenntnisprozesses. Dieses Plädoyer wird zu einem Veto gegen den Opportunismus, der in der Geschichtsschreibung als Vergeßlichkeit auftritt. Die Philosophie- und Wissenschaftsgeschichte haben zum Thema das Verhältnis der Einheit und der Dialektizität von Erkenntnis und Geschichte, oder sie haben keines. Doch selbst die Formulierung Erkenntnis und Geschichte erweist sich als irreführend, gerade so, als seien Erkenntnis und Geschichte zwei Welten und verlangten nach philosophiehistorischem Dualismus. Geschichte, Geschichtlichkeit - sind sie nicht vielmehr das Integral aller menschlichen, materiellen und geistigen Tätigkeit? Die Zeit der großen Systeme, die keine Philosophiegeschichte ohne Geschichtsphilosophie kannten, ist Vergangenheit. Historisch bewußte Vergangenheit wird sie für uns, sobald wir die Erkenntnisinstrumente nutzen, über die wir heute verfügen. Es sind dies Instrumente der Philosophie und der Wissenschaften. Die Wissenschaft der Geschichte, die Methodologie historischer Forschung und das Wissen der Philosophie selbst bilden Voraussetzungen der Philosophiegeschichtsschreibung. Wer baute die Brücken und die Wege? Kann die Philosophiegeschichte sich darauf beschränken, philosophierende Individuen zu addieren? Erreicht sie so das Leben der Philosophen und Raum und Zeit ihrer Existenz? Wollen wir also methodischen und theoriehistorischen Individualismus vermeiden, haben wir unser Interesse auf die Bezie-

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hung zwischen Philosophieentwicklung und historischer Zeit und historischem Prozeß zu richten. Eine der Konsequenzen einer derart einheitlichen Perspektive auf die Philosophie in ihrer Geschichte wird sein, daß'wir historiographischen Formeln mißtrauen. Denn diese Formeln entsprechen häufig nur der vergänglichen Selbstreflexion dfir Philosophen. Sie sperren sich gegen die Prozessualität unseres Wissens. Wir können die Zeit ihrer Entstehung nicht reproduzieren. Warum also sollten wir ihre Begrenztheit in der Zeit wiederholen? Dichotomien wie Rationalismus versus Empirismus oder Idealismus versus Materialismus führen als heuristische Prinzipien eher in die Irre als zur Sache. Als Dichotomien versperren sie uns die Sicht auf die Verhältnisse und Beziehungen zwischen Theorien und zwischen Theorie und Praxis. Gerade aber die Verhältnisse zwischen den Denkweisen, den Erkenntnisprozessen und der Realität bilden die innere Struktur der Philosophiegeschichte. Zweite Konsequenz eines wirklich historischen Programms der Philosophiegeschichtsschreibung ist, daß wir die Träger und Subjekte des philosophischen Erkenntnisprozesses entdecken, wie sie in Theorieverhältnissen und Praxisverhältnissen Wissen genutzt und geschaffen haben. Mit anderen Worten: Wir schreiben die Geschichte der Erkenntnis nicht mehr ohne Berücksichtigung ihres tatsächlichen geschichtlichen Kontextes. Oder: Wir schreiben die Geschichte der Erkenntnis im Allgemeinen und der Philosophie sowie der Wissenschaften als Geschichte produktiver und reproduktiver Elemente der Geschichte. Die Erkenntnis wird dann zum Ausdruck von Verhältnissen, in die sie selbst reflektorisch und Neues antizipierend eingreift. Was aber heißt die Erkenntnis? Dieser Kollektivsingular unterstellt Einheit. Einheit anstelle von Unterschied, Gegensatz und Widerspruch? Die Philosophie hat die innere Struktur dieser Einheit schon früh in der Kategorie der Einheit der Widersprüche, der Dialektik, begriffen. Die materialistische Dialektik zeichnet sich dadurch gegenüber der Ideengeschichte aus, daß sie sowohl den Begriff der Einheit wie den Begriff des Widerspruchs über die engen Grenzen einer bloßen Logik der Theorieentwicklung hinaus historisch-ontologisch begründet. Sie fragt nach den materiell-gegenständlichen, objektiv natürlichen wie objektiv gesellschaftlichen Determinanten, unter deren Wirkung Widersprüche Einheiten strukturieren. Eine dialektische Geschichtsschreibung nimmt in ihr Forschungsprogramm das Problem dialektischer Verhältnisse zwischen Subjekten und Trägern der Erkenntnisentwicklung auf: Wer sind - fragt sie - die bestimmenden historischen Subjekte einer Formation oder Epoche und wer verhält sich als Träger theoretischer Erkenntnis - indem er sich zu früheren oder zeitgenössischen Philosophien, Wissenschaften und jeweiliger gesellschaftlicher und politischer Praxis verhält - bewußt oder unbewußt zu diesen Subjekten? Als Theorie der geschichtlichen Verhältnisse zwischen diesen Subjekten, nicht aber voneinander isolierter monadenhafter Kräfte, orientiert der historische Materialismus die Theoriegeschichtsschreibung auf das widersprüchliche Ensemble der gesellschaft-

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liehen Verhältnisse, innerhalb derer z. B. die Philosophie den Widerspruch denkt und selbst in Widersprüchen existiert. Wird es so nicht schwer, historisch-materialistisch die Einheit der Erkenntnis, der Philosophie und der Wissenschaften zu behaupten? Geht es um die Einheit des historischen Prozesses? Oder geht es um die Einheit der Verhältnisse zwischen den Trägern der Erkenntnis? Es geht um beides, denn erst die Einheit der Erkenntnis in jeder einzelnen Epoche begründet die Einheit der Erkenntnisgeschichte, der Theorie. Das gesellschaftsgeschichtlich begründete Veto gegen jede bloße Ideengeschichte hat sich freilich selbstkritisch auch der Gefahr zu vergewissern, wie sie in jeder bloßen sozialhistorischen und ökonomisch-reduktionistischen Subsumtionslogik auftritt. Die Subsumtion von Theorien unter je gegebene gesellschaftliche Verhältnisse verabsolutiert sowohl die reaktiven Erkenntnisfunktionen und verhindert die historische Erklärung der antizipativen Erkenntnisfunktionen, wie sie die Einheit der gegenständlichen und der gesellschaftlichen Determination der Erkenntnisentwicklung aus dem Blick verliert. Die Einheit der Philosophie und der Wissenschaft einer Formation oder Epoche gründet aber nicht ausschließlich im Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse. Ontologischer Grund dieser Einheit ist vielmehr, daß sich auch die - ihrer sozialen Genese und Funktion nach - unterschiedlichsten Erkenntnisse, Theorien und Wissenssysteme auf die Realität in ihrer objektiven Existenzweise beziehen. Der Grad und das Ausmaß der gesellschaftlichen Vermittlungen zwischen Theorie und Realität mögen dabei ganz verschieden sein; die materiell-gegenständliche, „stoffliche" Determiniertheit der Experimentalphysik ist mit den Determinanten religiösen Glaubens nicht identisch. Daß sie aber einen ideellen Bezug zu einer raum-zeitlichen Realität in deren bestimmter historischer Existenzweise darstellen, gilt für alle Erkenntnis- und Wissensformen. Die theoriehistorische Annahme einer Dialektizität der Entwicklung umfaßt in diesem Sinne folglich weit mehr als nur den Gedanken der Historizität und Gesellschaftlichkeit des theoretischen Wissens. Dialektik ist nicht nur die historische Form des Inhalts der Philosophie, sondern die ontologische Grundlage der Erkenntnis in den Erkenntnisobjekten selbst. Insofern richtet sich das Programm einer geschichtsbewußten Philosophiegeschichtsschreibung nicht mit einem historischen Interesse allein auf die Entwicklung der Philosophie in ihrer geschichtlichen Aufeinanderfolge, sondern auf die Entwicklung der kognitiven Beziehungen der Philosophie zur objektiven Wirklichkeit. Mit anderen Worten: Die historisch-materialistische Theorie der Philosophieentwicklung ist nur in dem Maße zur Kritik philosophischen Wissens fähig, wie sie die Frage nach der Wahrheit der Philosophie stellt. Im Gegensatz zu einer1 wissenssoziologischen oder sozialhistorischen Reduktion des Wissens auf dessen historischen Ort und auf dessen soziale Funktion konzentriert sich die historisch-materialistische Philosophiegeschichtsschreibung auf den Wahrheitsgehalt der Philosophie. Von hierher erst ergibt sich die Möglichkeit, Philosophien objektiv und ohne denunziatorische Absicht zu kritisieren. 25

Philosophie und gesellschaftliche Bewegungen bilden in der bürgerlichen Gesellschaft eine Einheit. Dies gilt seit der ökonomischen, politischen und kulturellen Konstituierung des Proletariats als Klasse auch für den Zusammenhang zwischen philosophischer Theorie und sozialistischer Bewegung. Die Art und Weise, in welcher sich Philosophie und gesellschaftliche Bewegung vereinigen, veranlagt freilich dazu, mit dem Begriff dieser Einheit sofort die strukturellen Unterschiede hervorzuheben, die das System der Beziehungen zwischen Philosophie und sozialen Trägern der Theoriebildung prägen: Das philosophische Denken verändert sich im Übergang vom feudalen oder bürgerlichen Träger in den Bereich der Arbeiterbewegung. Auch wenn man einräumt, daß die Einheit kognitiver und sozialer Strukturen einer Gesellschaft sich in Brüchen und Widersprüchen vollzieht, begegnet die Hypothese der Einheit eher historiographischer Ablehnung als Zustimmung. Die marxistische Theorie hat zur Schärfung des philosophischen und philosophiegeschichtlichen Problembewußtseins hinsichtlich der Verhältnisse zwischen materieller Produktion, gesellschaftlichen Institutionen und kulturellen Faktoren im Block dieser Elemente der Gesellschaft Wesentliches beigetragen. Theorieprozesse sind nicht zu verstehen, wenn nicht Klarheit darüber herrscht, daß die Entwicklung und Veränderung von Philosophie und Wissenschaften weder auf nur kognitive noch auf nur sozialökonomische Aspekte reduziert werden darf, und daß zweitens die Frage nach den sozial identifizierbaren Trägern dieser Entwicklung weder mit dem Verweis auf große geistige Persönlichkeiten noch mit dem auf Klasseninteressen beantwortet ist. Der Marxismus wirft mit Entschiedenheit das Problem der Vermittlung zwischen gesellschaftlicher Basis und Überbauten auf, und dieses Problem bildet den Kern der Beziehung zwischen Philosophie und gesellschaftlicher Bewegung. Die Gesellschaft besteht nicht aus Basis und Überbau. Die logische Befähigung unserer theoretischen Umgangssprache erschöpft sich in diesem der Struktur gesellschaftlicher Verhältnisse unangemessenen Und zu früh; es kommt darauf an, die systematischen Knotenpunkte in der Vernetzung materieller Produktion und Reproduktion, gesellschaftlicher Organisation und Institutionalisierung und aller kulturellen Tätigkeiten aufzudecken. Die Entwicklung der Beziehungen zwischen Philosophie und sozialistischer Bewegung stößt geradezu jede gesellschafts- und wissenschaftsgeschichtliche Forschung auf einen derartigen Knotenpunkt: die Funktion der Intellektuellen. Neue gesellschaftliche Kräfte und Interessen verfügen nicht spontan über die Erkenntnismittel, ohne deren Einsatz sie sich nicht artikulieren können. Sie bedienen sich weitgehend des akkumulierten Wissens der alten gesellschaftlichen Verhältnisse, in deren sozialem Gefüge die Intellektuellen in der Regel nicht in den Hauptklassen aufgehen, sondern als Kategorie oder Schicht inmitten der grundlegenden Widersprüche auch Freiräume der Parteinahme für das Neue innehaben. Die Intelligenz - genauer: Teile der Intelligenz - wirkt häufig als vermittelndes Glied zwischen der materiellen Basis der bestehenden Gesellschaft 26

und politischen und kulturellen Interessen einer neuen, zur Hegemonie drängenden Klasse, die sich nicht allein ihrer Lage im herrschenden System bewußt werden will, sondern sich als befreite Klasse entwirft. Auf diesen Prozeß der Widersprüchlichkeit in der Entwicklung von Basis und Überbau bezieht sich B. Brechts Satz: „Die Art, auf die Überbau entsteht, ist: Antizipation." 1 Die traditionelle Geistes-, Dogmen- und Begriffsgeschichte erklärt sich für die Zusammenhänge zwischen gesellschaftlicher Bewegung und Wissenschaftsentwicklung unzuständig. Diejenigen, die sie schreiben, finden freilich auch in gesellschaftlicher Arbeitsteilung und Privilegierung gegenüber materiell-gegenständlicher Arbeit eine existentielle Denkvoraussetzung. Darüber hinaus haben Verwissenschaftlichung und disziplinäre Institutionalisierung der Philosophie zur Folge, daß eine wesentliche Quelle philosophischer Erkenntnis, die Weltbilder, Weltauffassungen, Weltanschauungen des Alltagsverstandes und deren organische Verbindung mit gesellschaftlichen Praxen, aus der Philosophiegeschichte ausgeschlossen wurde. Der traditionelle bürgerliche Intellektuelle rechnet spontan die Philosophie hinsichtlich ihres kognitiven Status, also ihres besonderen wissenschaftlichen, gleichwohl von den Wissenschaften unterschiedenen Wissens, wie hinsichtlich ihrer sozialen, politischen und kulturellen Funktion auch dann dem hegemonialen Träger seiner Gesellschaftsordnung, dem Bürgertum, zu, wenn er selbst mit ihm als Klasse nur mittelbar verbunden ist. In seinem Bewußtsein setzt die Philosophie die Standards der wissenschaftlichen Bildung des Bürgertums, die Normalität bürgerlicher Institutionen und die arbeitsteilige Freiheit gegenüber der materiellen Produktion voraus. (Und aus dieser Normalsituation, die keinen Antagonismus kennt, entsteht die Ideologie der Voraussetzungslosigkeit philosophischer Erkenntnis, d. h. der Neutralität gegenüber Interessen.) Die Entwicklung philosophischer Theorie innerhalb der produzierenden Klasse, in deren gänzlich anderen Institutionen und Organisationsformen, integriert in deren Politik, führt zu einer neuen, eine neue Praxis normierenden Weltanschauung und zu einer die Wirklichkeit neu strukturierenden Erkenntnisweise; dies widerspricht dem bürgerlichen Philosophieverständnis derart, daß es diese Entwicklung nur in der abstrakten Unterscheidung zwischen Philosophie und Ideologie begreifen kann. Bezogen auf die reale Tätigkeit der Angehörigen der Arbeiterklasse erscheint jede philosophische Theorie mit dem Anspruch auf einen Erkenntniswert für das Proletariat als Anmaßung. Denn innerhalb der Typologie der sozialen Funktionen der Philosophie und der Wissenschaften, die dem Reproduktionstypus der bürgerlichen kapitalistischen Gesellschaft angemessen ist, gibt es für eine nichtbürgerliche Philosophie keinen Ort. Solange die Stellung der Arbeiterklasse im Reproduktionsprozeß des Kapitals als natürliche Folge bürgerlicher Hegemonie 1

B. Brecht, Thesen zur Theorie des Überbaus, in: Bertolt Brecht, Gesammelte Werke in 20 Bänden, Bd. 20, Frankfurt a. M. 1967, S. 77.

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aufgefaßt wird, ist jede über den Einsatz der physischen Arbeitskraft hinausgehende Tätigkeit ohne Funktion im System. In dieser Selbstverständlichkeit, mit welcher jede bürgerlich interessierte Geschichtsschreibung philosophische Bestrebungen der Arbeiterbewegung entweder gemäß der bürgerlichen Wissenschaftsdefinition leugnet oder als unzeitgemäße Ideologie und Utopie und damit als Gegenstand der Philosophiegeschichte verwirft, setzt sich - gegen den Anspruch auf Neutralität bürgerlicher Wissenschaft - ein mechanisch-funktionalistisches Prinzip durch: der kognitive Status der Philosophie wird identifiziert mit ihrer sozialen Funktion im bestehenden System. Die behauptete Funktionslosigkeit der Philosophie für die Arbeiterklasse führt dazu, daß ein von der besonderen Beziehung zwischen Erkenntnis und Praxis im Reproduktionsprozeß der bürgerlichen Klassenherrschaft abweichender neuer Zusammenhang zwischen kognitiven und sozialen Funktionen der Philosophie nicht wahrgenommen wird. Für eine Vernachlässigung des Verhältnisses zwischen Philosophieentwicklung und gesellschaftlicher Bewegung sind auch in der marxistischen Historiographie Gründe anzutreffen. Zu nennen ist erstens ein auch heute noch nicht durchgängig überwundenes Verständnis der Entwicklung bürgerlicher Gesellschaft. Es drückt sich — in verschiedenen Varianten - in einer unvermittelten Verknüpfung von Klassenlage und Erkenntnis aus. Die inzwischen kaum noch vertretene These von den zwei Wissenschatten, bürgerlicher und proletarischer, stellte das Extrem dieser ökonomischen Identifizierung dar. Doch auch in weit abgeschwächter Form belastet die kurzschlüssige Identifizierung der bürgerlichen Gesellschaft mit deren dominantem Moment Kapital die Geschichtsschreibung. Nicht selten paart sie sich mit einer identitätsphilosophischen erkenntnistheoretischen Voraussetzung: die materialistische Erklärung der Beziehung von Sein und Bewußtsein wird dann reduziert a) um die notwendige Unterscheidung zwischen gesellschaftlichem und individuellem Bewußtsein und b) um eben jenes Kennzeichen der Beziehung des Bewußtseins auf das gesellschaftliche Sein, dessen Erklärung die große Leistung der materialistischen Geschichtsauffassung ist. Das heißt: Es geht um die Verhältnisse der Gesellschaft und um deren ideelle Widerspiegelung in Verhältnissen psychischer und kognitiver Natur, in denen sich Erkenntnisproduzenten ihrer Stellung im Gesamtsystem gesellschaftlicher Beziehungen vergewissern. Das Bewußtsein sozialer Gruppen und Klassen und vermittelt - der Persönlichkeit bezieht sich nicht nur auf die dominanten Faktoren der Gesellschaft, sondern auf deren innere Kräfteverhältnisse insgesamt, auf die widersprüchlichen Teile in ihrer Einheitlichkeit. Wird dies nicht gesehen, dann fallen für die Philosophiegeschichtsschreibung gerade auch des Marxismus entscheidende Forschungsperspektiven weg: in erster Linie das Interesse an der Analyse der Verhältnisse zwischen den Erkenntnis-Verhaltensweisen der Träger philosophischer Entwicklung. Und dies bedeutet für die Entstehung und Entwicklung des wissenschaftlichen Sozialismus: die normierende Bedeutung der gesellschaftlichen Verhältnisse zwischen den 28

Klassen, Schichten und Kategorien - vor allem zwischen Klassen und Intellektuellen - für deren Wahrnehmungs- und Erkenntnisfähigkeit. Als Folge mangelnder Berücksichtigung aller Erkenntnisse des Marxismus in ihrem systematischen Zusammenhang treten Theorien und Wissenschaften als die Repräsentanten von isoliert betrachteten sozialen Trägern auf, deren Interessen im Erkenntnisprozeß nur noch kopiert zu sein scheinen, nicht aber gefiltert, interpretiert oder verändert. Der Verweis auf die Bürgerlichkeit oder den restaurativen Charakter einer Epoche scheint dann die Analyse der sich in relativer (vielfach sozial und kognitiv bedingter) Selbständigkeit gegenüber den politisch-ökonomischen Determinanten in letzter Instanz entwickelnden Denkformen und Erkenntnisinhalte zu erübrigen. Es kommt aber dagegen gerade darauf' an, die Hierarchie im Gefüge der Determination menschlicher Erkenntnis aufzudecken. Für das Thema Philosophie und sozialistische Bewegung bedeutet dies, die Rolle der Erkenntnismittel des hegemonialen bürgerlichen Systems, die Rolle der Intellektuellen, den Stellenwert proletarischer Erkenntnisinteressen und die revolutionäre Zieldetermination zu gewichten. So erst wird erklärbar, daß die Dialektik der Dialektik entspringt. Mit anderen Worten: Es geht um die Erklärung des wissenschaftlichen Sozialismus aus der Dialektik auch im Erkenntnissystem der bürgerlichen Gesellschaft; die widersprüchliche Einheit im Überbau entspricht im wesentlichen den Struktur- und Entwicklungsprinzipien der BasisWidersprüche, d. h. der Einheit der Widersprüche im Kapitalverhältnis. Die gegenwärtige marxistische Wissenschafts- und Philosophiegeschichtsschreibung erörtert dieses Problem in aller Offenheit. Methodologische Fragestellungen werden immer zentraler. Dies betrifft die Geschichtswissenschaft nicht allein. Zu nutzen für die Wissenschaftsgeschichte sind aber gerade deren Diskussionen zur vergleichenden Revolutionsforschung, zur Periodisierung der Gesellschaftsformationen und von Epochen und Phasen innerhalb der Formationen, zu deren Gewichtung von Formationsunabhängigkeit und Formationsspezifik der Produktivkraftentwicklung, zur relativen Unabhängigkeit kultureller Prozesse, zur regionalen und stadialen Differenzierung gesellschaftlicher Entwicklung. Letztlich müssen alle diese Bemühungen um die größere Komplexität der Erklärung oder „Ableitung" ideeller und materieller gesellschaftlicher Erscheinungen in Forschungsprogramme überführt werden, die - bezogen auf das Thema Philosophie und Arbeiterbewegung - eine neue Kombination disziplinarer Kenntnisse erfordern. Die Geschichte der Arbeiterbewegung und die Geschichte der Philosophie in der Arbeiterbewegung können auf Dauer keine getrennten Ressorts sein. Der Umfang unserer heutigen Kenntnisse zur Geschichte der Arbeiterbewegung hat die Fragestellungen, mit denen das Material organisiert wird, erweitert. Klarer als zuvor stellt sich die Frage nach dem Subjekt und dem Träger von Erkenntnisprozessen in der bürgerlichen Gesellschaft insgesamt und in den Klassen im einzelnen. Die Hypothese einer strukturellen Einheitlichkeit der Kultur-, Wissenschafts- und Philosophieentwicklung und der Dialektizität dieser Struktur

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bestätigt sich immer mehr. Die Geschichte der Arbeiterbewegung kann nicht geschrieben werden ohne eine Geschichtsschreibung zur Bourgeoisie auf gleichem differenziertem Niveau. Das Prinzip der Subsumtion von Philosophie und Wissenschaften unter Reproduktionsinteressen der Klassen ist von größter heuristischer Bedeutung dann, wenn die Unterschiedlichkeit der Subsumtionsformen herausgearbeitet wird, ohne aus ihr unvermittelt qualitativ gegensätzliche Erkenntnisformen abzuleiten. Der Subsumtionsprozeß stellt sich unter Berücksichtigung der immer intensiveren Verzahnung von Erkenntnis, Organisation gesellschaftlicher Bewegung und staatlicher und nicht-staatlicher Institutionalisierung als Prozeß der Vergesellschaftung der Erkenntnisfähigkeit und des Wissens dar. Verändert sich - ist zu fragen - bei unterschiedlichen Subsumtions- und Vergesellschaftungstendenzen nur die soziale bzw. politische Funktion des Wissens oder verändert sich zugleich das Beziehungsgefüge zwischen Erkenntnis und Praxis und damit der kognitive Status von Theorien? Und ein wesentliches Problem stellt sich, sobald zwischen normativen und analytischen Funktionen der Erkenntnis in Philosophie und Wissenschaften unterschieden wird : Wie verändern sich Weltanschauungen, wenn sie im wissenschaftlichen Erkenntnisprozeß in Theorien transformiert werden; wie Theorien, wenn sie aus der intellektuellen Produktionssphäre in die alltägliche Weltanschauung von Massen überführt werden? Wenn der Satz — und alles spricht dafür - gilt: „Die unvollständige Übereinstimmung zwischen gesellschaftlichem Bewußtsein und Sein ist allgemeine, unaufhebbare Regel"2, dann richtet sich die Frage nach der Übersetzung der Wirklichkeit in unsere Erkenntnis weniger - nach dem Adäquationskriterium der Wahrheit - auf die Übereinstimmung, als vielmehr - nach dem historischen Praxiskriterium - auf die Unvollkommenheit dieser Übereinstimmung. Was kann eine Klasse wissen? Was wissen die Klassen einer Gesellschaft? Über welches Wissen verfügt eine Gesellschaftsformation? Wie weit begreift ein Individuum seine Wirklichkeit? Philosophie und sozialistische Bewegung - bezogen auf dieses Thema lassen sich die genannten Fragen auf den Nenner bringen: Was ist der Marxismus? Etienne Balibar hat unter dem Titel „Geschichte der Theorie der Arbeiterbewegung: die nicht mögliche Objektivität" eine der Schwierigkeiten der Geschichtsschreibung angesprochen: „Der Marxismus ist auch und vor allem eine praktische Geschichte, die mehr und mehr, niemals aber vollständig, mit der Geschichte der Arbeiterbewegung und des modernen Sozialismus verschmilzt."3 Niemals vollständig — dies ist das Problem. Zumindest zwei Aspekte zu seiner Lösung können - entgegen Balibars eher aporetischer Position - benannt werden. Der erste besteht in dem wissenschaftlichen, nicht zuletzt philosophischen Erkennt2

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E. Lange/H. Barth, Methodologische Fragen zur Geschichte der Philosophie, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie (im folgenden : DZfPh), 9/27 (1970), S. 1054. E. Balibar, Cinq études du matérialisme historique, Paris 1974, S. 253.

nisstatus des Marxismus. Bezogen auf die Philosophie stellen V. Wrona und F. Richter fest: „Der methodische Grundsatz, nach dem jede Philosophie aus ihren sozialökonomischen Wurzeln im Zusammenhang mit ihrem objektiven Erkenntnisinhalt zu verstehen ist, zielt auf das Wesentliche. Er schließt die Auffassung ein, daß eine neue Philosophie ohne Rezeption und Umgestaltung anderer philosophischer Auffassungen nicht vor sich gehen kann. Denn der Zusammenhang der philosophischen Entwicklung, der sich gesetzmäßig aus der materiellen Praxis ergibt, vermittelt sich stets unter den besonderen Bedingungen des philosophischen Denkens, der ihm eigenen Formen und Traditionen. Jede Philosophie hat das Gedankenmaterial ihrer Vorgänger zur Voraussetzung, an das sie kritisch anknüpft und von dem sie ausgeht. Sie ist auch, um einen Gedanken von Marx zu verwenden, in bestimmter Weise notwendig in den Voraussetzungen der Philosophie, die sie bekämpft, befangen.'"'' Schöpfer und Träger des Marxismus und der materialistischen Dialetik ist die Arbeiterbewegung. Ist sie, faßt man den Marxismus als die auf die Praxis der Arbeiterklasse gerichtete und im Klassenkampf gegen bürgerliche Hegemonie entstehende wissenschaftliche Weltanschauung, auch das Subjekt dieser der bürgerlichen Gesellschaft immanenten ideologischen politischen Entwicklung? Es wäre ein unzulässiger Gebrauch der wissenschaftshistorisch sinnvollen, verständigen Abstraktion „die Arbeiterbewegung", wollte man in ihr den Urheber dieser oder jener Kategorie und Methode sehen. Der zweite Aspekt zur Lösung des genannten Problems betrifft deshalb die Rolle spontaner sozialistischer Weltanschauung in der frühen Arbeiterbewegung, die Rolle des Kleinbürgertums und die der Intellektuellen aus nicht-proletarischen sozialen Schichten. Über Jahrzehnte - bevor der erste sozialistische Staat die institutionellen Mittel der Rekrutierung der Intelligenz aus der Arbeiterklasse selbst einsetzen konnte - sind es vor allem Intellektuelle im Bündnis mit der Arbeiterklasse, welche die neue Philosophie, die neue wissenschaftliche Weltanschauung, mit dem Fundus bürgerlich-gesellschaftlichen Wissens vermittelt haben. Die seit Jahren heftige Debatte über Kontinuität und Bruch zwischen vormarxistischer und marxistischer Theorie im Werk der Theoretiker des Sozialismus bleibt vor einer Scheinalternative stehen. Es sind vielmehr zwei Elemente, welche in der Entstehung des Marxismus mit Notwendigkeit beide Formen historischer Entwicklung - Kontinuität und Diskontinuität - zur Geltung bringen: die kognitive (von der Erkenntnisform und vom Erkenntnisgegenstand der Philosophie ausgehende) und die sozialhistorische (im Bündnis zwischen Proletariat und Intellektuellen gründende) Determination dieser Revolutionierung im Evolutionsprozeß der Erkenntnis. Nicht zufällig, sondern im Bewußtsein dieser Problemlage hat Lenin den Rechenschaftsbericht des Marxismus über seine theoretischen Ursprünge mit dem Titel überschrieben Drei Quellen und drei Bestand4

V. Wrona/F. Richter, Theoretische Grundfragen der Geschichte der marxistischleninistischen Philosophie, in: DZfPh, 3/19 (1971), S. 344.

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teile des Marxismus. Der Marxismus hat als entwickelte theoretische Widerspiegelung des Interesses der sozialistischen Bewegung, die Hegemonie in der bürgerlichen Gesellschaft zu brechen, die Form philosophischer Erkenntnis nicht zerstört. Aus der Notwendigkeit des Rückgriffs auf bürgerliche Quellen entsteht das Problem der Quellen als Bestandteile. Als Problem ist es nur erfaßbar, wenn der richtige Verweis auf die Aufhebung dieser Bestandteile durch die sozialistische Kritik nicht verdeckt, daß der soziale Träger zunächst und über lange Zeit im wesentlichen die Intelligenz ist, die für das Proletariat Partei nimmt, ohne selbst Subjekt proletarischen Klassenbewußtseins zu sein.

1.2.

Zur Dialektik der Theorieentwicklung in der klassischen bürgerlichen Philosophie

Die klassische bürgerliche Philosophie befindet sich in der Epoche des Übergangs der bürgerlichen Revolution zu einer Restauration feudaler politischer Herrschaftsstrukturen, zur weiteren Durchsetzung der ökonomischen Herrschaft der Bourgeoisie und zur Konstituierung des Proletariats als Klasse in einer komplizierten Situation. Die traditionelle metaphysische Philosophie, die sogenannte Schulphilosophie, stagniert seit langem. Um so' auffälliger ist der Fortschritt erklärender, experimentell-induktiver und theoretisch-deduktiver Wissenschaften. Die Philosophie nimmt ihre Aufgabe, den Wissenschaftsfortschritt zu fundieren, zu verallgemeinern und totalisierende Erkenntnismethoden zur Verfügung zu stellen, kaum mehr wahr. Der offensichtliche Mangel der Philosophie, sektorale Entwicklungsprozesse in Kategorien hohen Allgemeinheitsgrades und in Gesetzesaussagen von Theorien großer Reichweite zu einer Totalität des Wissens zusammenzuführen, steht in einem ebenso offensichtlichen Kontrast zur Allgemeinheit und supranationalen Ausweitung der bürgerlich-kapitalistischen Produktionsweise. Die Verkopplung ökonomischer, politischer und wissenschaftlicher Entwicklung stellt die Philosophie vor die Aufgabe, über die Reflexion des Prozesses hinaus nach den Bedingungen zu fragen, unter denen auch die soziale Dimension des Fortschritts eröffnet werden könnte. Das Freiheitsproblem hat für die bürgerliche Intelligenz in dem Maße, wie sie sich organisch mit dem Fortschritt ihrer Klasse verbindet, über die vorrangig erkenntnistheoretische Frage nach den Notwendigkeitsbedingungen produktiver Wissenschaft hinaus eine zweite Seite: die der Übersetzung der Revolution im Denken in gesellschaftlichen Fortschritt. Wesentlich ist, dag die bürgerliche Philosophie in Deutschland - und revolutionäre Gesellschaftstheorien in Frankreich, die bürgerliche Interessen bereits sprengen - Kategorien zur systematischen Erfassung dieser Beziehung zwischen Ideologie und gesellschaftlicher Bewegung erarbeiten. Natur, Gesellschaft und Erkenntnis werden - in sehr unterschiedlichen Systemansätzen - als einheitlicher Prozeß erfaßt: zunächst in der Idee der Identität des Nicht-Identischen, d. h. im Begriff der dialektischen Totalität. (Dies alles gilt notabene nur für die „klassische" bürgerliche, d. h. rationale Aufklärungsund Transzendentalphilosophie, die hier allein interessiert, während irrationalistische Strömungen um 1800 noch vernachlässigt werden können.) 3

Sandkühler

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Die bürgerliche Philosophie stellt als zentrale Fragen: - Wie ist sichere Erkenntnis möglich? Wie ist die kontrollierte Reflexion auf den Erkenntnisprozeß möglich? Wie ist die Autonomie des Erkenntnisprozesses bei gleichzeitiger Anerkennung der Objektivität der Erkenntnisgegenstände möglich? - Wie kann Freiheit (Konstitution) mit Notwendigkeit (Determination) zusammengedacht werden in einem Systementwurf, der, vom Erkenntnisprozeß ausgehend, durch Analogien den Praxisprozeß konstruiert? - Wie ist der Jakobinismus der Ideen ohne politische Terreur zu verwirklichen, d. h. wie kann bei freier Konkurrenz der Subjektivität und bei Individualisierung der gesellschaftlichen Produktion die Reproduktion mit Tendenz zum Fortschritt staatlich organisiert werden? Die Philosophie gibt als Antwort: - Transzendentale, überhistorische, gesetzmäßige Bedingungen der Erkenntnis garantieren ein objektives Wissen, durch das der Bürger erst zum historischen, d. h. planenden Subjekt werden kann. - Der Individualismus verwirft bewußt die erkenntnis-egoistische Leugnung der objektiven Realität, verneint jedoch die Erkennbarkeit der eigentlichen Strukturen der Dinge. Dies jedoch nicht so prinzipiell, daß nicht Postulate der praktischen Vernunft und Imperative des Handelns möglich wären. - Entsprechend der neuen gesellschaftlichen Rolle der Wissenschaft als Modell rationaler Produktivität (ihre Integration in die Produktion erfolgt erst später) wird das Subjekt der Geschichte als Produzent von Ideen begriffen, die zu Maximen der Aufklärung und der rechtlichen Reformen werden. - Philosophie als Wissenschaft besteht in erster Linie in der Systembildung, mit der der gesellschaftlichen Arbeitsteilung totalisierend begegnet wird, und in der Theoriebildung auf der Ebene größter Allgemeinheit. In dieser Allgemeinheit wird der einzelne empirische Forschungsstand gemeinsam mit spekulativen Entwürfen wieder zum einheitlichen Wissen vermittelt. Diese Form des Wissens erlaubt Verbreitung durch Bildung und Erziehung. Ohne Philosophie als Wissenschaft ist Aufklärung undenkbar. - Die Dialektik wird zur bestimmenden Form des Inhalts der Wissenschaft: sie strukturiert das System und die Allgemeinheit bürgerlichen Bewußtseins. In logisch widerspruchsfreier Form erfaßt die Dialektik als Schema der Theorie und der Methode reale Entwicklungen in Natur und Geschichte. Die jeden einzelnen Widerspruch bzw. Gegensatz allgemein umfassende Kategorie Dialektik kennzeichnet den Stellenwert der besonderen Erscheinungen der Wirklichkeit genetisch, d. h. als Element einer evolutionären Kontinuität. Die Aufmerksamkeit der Philosophiegeschichtsschreibung ist - wissenschaftslogisch - auf einige Fragen zu richten, deren Untersuchung zu einer vertieften Kenntnis der die Philosophie und die Wissenschaften zur Zeit bürgerlicher Revolution integrierenden Faktoren führen kann:

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- Gibt es nicht-explizite theoretische Voraussetzungen, der Philosophie in der Wissenschaftsentwicklung an der Wende zum 19. Jahrhundert? - Welche Form nimmt eine Philosophie an, deren geschichtlicher Ort - theoretisch gesehen - das zeitgenössische System der Wissenschaften und das Ganze philosophischer Tradition ist? - Wie löst eine Philosophie das Problem der Sicherheit ihrer Erkenntnisse und der Wahrheit ihrer Aussagen angesichts der zeitgenössischen Standards von Wissenschaftlichkeit - eine Philosophie, die sich bewußt zum Erkenntnisfortschritt vei'hält und sich doch nur kritisch gegenüber dem erreichten Stand wissenschaftlichen Wissens definieren kann? - Welchen Theorie-Status nimmt die Philosophie ein, die Empirie und Experiment trotz Anerkennung apriorischer Erkenntnis für unverzichtbar hält? - Welchen Theorie-Status nimmt eine Philosophie ein, die als nichtempirische systematische Wissenschaft Analyse der Wirklichkeit sein will, diese Wirklichkeit aber als Gegenstand der Kritik wahrnimmt und aufgrund der angenommenen Nicht-Wirklichkeit des Vernünftigen Analytik und Normativität vermittelt muß? Diese Fragen können ein Forschungsprogramm begründen, zu dessen Prinzipien der Verzicht auf eine gegenüber dem historischen Gegenstand verselbständigte Logik und Methodologie der Wissenschaftsgeschichte ebenso gehört wie die kritische Distanzierung von einem methodentheoretisch unbewußten, geradezu empiristischen Zugriff auf den Untersuchungsgegenstand. Der Artikel Philosophie der französischen Enzyklopädie setzt einen wichtigen Akzent: Philosophie ist „Wissenschaft"; genauer: Philosophie: „Dieses Wort bedeutet, Verknüpfung der Wissenschaften." Diese Definition ist geprägt vom Interesse an der Unterscheidung zwischen der bewußtlosen Praxis der Menschen und dem Philosophen. Im Gegensatz zur Masse erkennt er „die Ursachen, soweit dies in seiner Macht steht, kommt ihnen auch oft zuvor und stellt sich bewußt in ihren Dienst"1. Der Wissenschaftsanspruch der Philosophie ist nie Selbstzweck, sondern praktisch begründet. 1783 gliedert I. Kant die Hauptfrage seiner Prolegomena, „Wie ist Erkenntnis aus reiner Vernunft möglich'?", in folgende Teilfragen: „1) Wie ist reine Mathematik möglich? 2) Wie ist reine Naturwissenschaft möglich'? 3) Wie ist Metaphysik überhaupt möglich1? 4) Wie ist Metaphysik als Wissenschaft möglich"?"2 Diese Gliederung ist nicht zufällig, sondern sie ist Ausdruck der Erwartung, aus dieser Hierarchie praktische Vernunft exakt und ohne die Aporien des Empirismus und Sensualismus begründen 1

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3'

Artikel „Philosophie", in: Artikel aus der von Diderot und D'Alembert herausgegebenen Enzyklopädie, hrsg. von M. Naumann, Leipzig 1972, S. 4 9 ; 3 9 6 ; 842. I. Kant, Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können (im folgenden: Prolegomena), in: Kant's gesammelte Schriften, hrsg. von der Königl. Preuß. Akademie der Wissenschaften (im folgenden: KGS), Abt. 1, Bd. 4, Berlin 1911, S. 275; 280.

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zu können. Ohne diese Hervorhebung von Mathematik und Naturwissenschaft wäre Kant die Kennzeichnung der Philosophie als „Gesetzgebung (Nomothetik) der menschlichen Vernunft" bzw. als „Wissenschaft von der Beziehung aller Erkenntnis auf die wesentlichen Zwecke der menschlichen Vernunft" nicht möglich gewesen. Ziel dieser Funktionsbestimmung ist, die Mannigfaltigkeit der Erscheinungen und der Erfahrungen nach apriorischen Gesetzen zu organisieren. Die Kritik der reinen Vernunft stellt fest, die Vernunft bereite dem Verstand sein Feld durch die „Prinzipien der Homogenität, der Spezifikation und der Kontinuität" vor. Auffallend ist dabei, daß Kant diese logischen Gesetze außerphilosophisch absichert: das logische Gesetz der Kontinuität der Formen setze ein „transzendentales voraus (lex continui in natura)".3 Die Philosophie selbst strukturiert sich entsprechend der „Architektonik der Vernunft", welche „alle Erkenntnisse als gehörig zu einem möglichen System" betrachtet.4 Schellings Schrift Über die Möglichkeit einer Form der Philosophie überhaupt von 1794 ist ein weiterer Beleg unter vielen: „Die Philosophie ist eine Wissenschaft, d. h. sie hat einen bestimmten Inhalt unter einer bestimmten Form."5 Ihrer Absicht nach „nicht bloß auf eine Reform der Wissenschaft, sondern auf gänzliche Umkehrung der Prinzipien, d. h. auf eine Revolution derselben" gerichtet,6 schlägt auch Schellings Philosophie vor 1800 den Weg Kants ein: die Philosophie wird Wissenschaft nach dem Muster der Naturwissenschaft. Die Abhandlungen zur Erläuterung des Idealismus der Wissenschaftslehre von 1796/97 berufen sich auf die mit der Philosophie „verwandten Wissenschaften [. . .], besonders aber Naturwissenschaft und Medizin, insofern sie Teil der Naturwissenschaft ist". Während sich die Epigonen Kants noch mit dem Ding-an-sich herumschlügen, ereigneten sich in der Naturwissenschaft „Entdeckungen, an die sich bald die gesunde Philosophie unmittelbar anschließen" werde.7 Es kommt freilich bei Schelling bereits zu einer symptomatischen Wendung des Problems: „Was für die theoretische Philosophie die Physik ist, ist für die praktische die Geschichte, und so entwickeln sich aus diesen beiden Hauptteilen der Philosophie die beiden Hauptzweige unseres empirischen Wissens."8 Nach dem Modell von Mathematik und Physik konzipiert, wird die Philosophie zum Lehrer eines neuen nichtempi3

4 5

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7

8

I. Kant, Kritik der reinen Vernunft, Riga 1781 (im folgenden: I. Kant, KrV A), S. 658, 660. I. Kant, KrV A 474. F. W. J. Schelling, Über die Möglichkeit einer Form der Philosophie überhaupt, in: Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, Sämtliche Werke, hrsg. von K. F. A. Schelling (im folgenden: Schelling, SW), Bd. 1, Stuttgart 1856, S. 89. F. W. J. Schelling, Vom Ich als Prinzip der Philosophie oder über das Unbedingte im menschlichen Wissen, in: Schelling, SW, Bd. 1, a. a. O., S. 156. F. W. J. Schelling, Abhandlungen zur Erläuterung des Idealismus der Wissenschaftslehre, in: Schelling, SW, Bd. 1, a. a. O., S. 348. F. W. J. Schelling, Ideen zu einer Philosophie der Natur als Einleitung in das Studium dieser Wissenschaft, in: Schelling, SW, Bd. 2, Stuttgart 1857, S. 4.

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ristischen Typs empirischer Wissenschaft. Zu dieser Rolle geeignet ist sie als „System des gesammten Wissens"9. Gerade wenn man die Realitätshaltigkeit bürgerlicher Ideologie zur Zeit der bürgerlichen Revolutionen herausarbeitet und die Auffassung vom nur illusionären Charakter bürgerlichen Denkens bestreitet, fällt die Diagnose der Grenzen dieses Erkenntnistypus um so klarer aus. Die Zielprojektionen der mit der Bourgeoisie verbundenen Intelligenz sind nicht praktisch umsetzbar. Das in der Theorie unterstellte Subjekt der Praxis ist fiktiv, nicht-objektiv, nicht existent. Fichtes Voraussage, durch die „allgemeine Verbreitung der Wissenschaftslehre" werde „dasi ganze Menschengeschlecht von dem blinden Zufall erlöst",' 0 muß sich an die Abstraktion der Gattung richten, obwohl die Stoßrichtung antifeudal, bürgerlich und damit partikulär ist. Fragt man aber nach dem Subjekt dieser Wissenschaft (im Sinne von „Motor der Wissenschaftsentwicklung"), dann drängt sich die Unterscheidung zwischen Subjekten und Trägern auf: Subjekt, d. h. zugrundeliegende Ursache der Entwicklung, ist - dies sieht der Idealismus in seiner Generalisierung „Gattung" nur der Tendenz nach - das Ganze der menschlichen Beziehungen. Der Kreis der Träger aber ist sozial eng beschränkt; „intellektuelle Anschauung" ist die Erkenntnisfähigkeit aufgeklärter Intelligenz. Entsprechend ambivalent ist die Allgemeinheit des Wissens. Zum einen wird sie zum erkenntnisleitenden Paradigma jeder kritischen Wissenschaft; zum andern verleitet sie zur Konstruktion historischer Gesetze aus Analogien zur Natur. Dies bedeutet: Es fehlt noch weitgehend, was in dieser Allgemeinheit strukturbildend wirkt, — die Einheit von Besonderheit und Allgemeinem (z. B. in der Kategorie der Arbeit). Die für die idealistische Philosophie symptomatische Kompromißbereitschaft mit materialistischen Kategorien der Objektivität und Notwendigkeit führt einmal dazu, Beziehungen zwischen Subjekt und Objekt zu erfassen; auf der andern Seite aber droht sie jederzeit umzuschlagen in eine Fetischisierung überhistorischer Gesetze (List der Vernunft, etc.). Wenn für Hegel „das wahre Verhältnis des Individuums zu seiner allgemeinen Substanz" darin besteht, Organ des „substantiellen Geistes" zu sein, wenn in seiner Geschichtsauffassung die „welthistorischen Individuen" von dem Glück geprägt sind, „die Geschäftsführer eines Zwecks zu sein, der eine Stufe in dem Fortschreitungsgange des allgemeinen Geistes bildet",11 so spricht hieraus das Veto gegen den Subjektivismus. Zugleich jedoch handelt es sich um das Dementi bürgerlicher Subjekt-Ansprüche. Schellings Satz, der Mensch habe nur deshalb Geschichte, weil er sie „nicht mit-, son9

10

11

F. W. J. Schelling, System des transzendentalen Idealismus. Vorrede, in: Schelling, SW, Bd. 3, Stuttgart 1858, S. 330. Zit. nach: M. Buhr/G. Irrlitz, Der Anspruch der Vernunft. Die klassische bürgerliche deutsche Philosophie als theoretische Quelle des Marxismus, Köln 1976, S. 86. G. W. F. Hegel, Die Vernunft in der Geschichte. Einleitung in die Philosophie der Weltgeschichte, hrsg. von J. Hoffmeister, Hamburg 1955, S. 98 ff. 37

d e m selbst erst hervorbringt" 12 , hat in der Mißachtung objektiver generierender Voraussetzungen beim «Machen der Geschichte" Hegels Reaktion provoziert. Die im Idealismus ständig vorhandene Idee einer Geschichte ohne Subjekt oder einer Substanz sui generis verdeutlicht, daß dem Subjekt der Erkenntnistheorie, dem schöpferischen Produzenten der Objekte der Erkenntnis, auf der Ebene der Allgemeinheit geschichtlicher Verhältnisse keine subjektuale Qualität korrespondiert. Individuation und Vergesellschaftung werden als Gegensatz, nicht aber als f ü r Geschichte konstitutive Dialektik begriffen. Die wahlweise Ersetzung eines konkret allgemeinen Subjekts, wie es der Marxismus im Begriff der „Verhältnisse zwischen Verhaltensweisen" beschreibt, durch „Volk", „Gattung", „Menschheit", etc. beweist, daß die Annäherung von Subjekt und Substanz letztlich folgenlos bleibt. Der Idealismus sucht auf der Ebene der Allgemeinheit das Gegenstück zum Individuum; die reale Abstraktheit gesellschaftlicher Verhältnisse in einer Abstraktion abzubilden, gelingt ihm nicht. Erst Hegels Herr-Knecht-Dialektik führt in der Enzyklopädie zur Formulierung: „Dies allgemeine Widerscheinen des Selbstbewußtseins, der Begriff, der sich in seiner Objektivität als mit sich identische Subjektivität und darum allgemein weiß, ist die Substanz jeder wesentlichen Geistigkeit, der Familie, des Vaterlandes, des Staats [. . .]." 13 Gerade angesichts der Außenbeziehung der klassischen deutschen Philosophie zur bürgerlichen Revolution kommt in dem hier skizzierten Forschungsprogramm der Wissenschaftsgeschichte eine besondere Bedeutung zu. Denn diese Philosophie stellt in ihrer relativen Unabhängigkeit von sozialen Bewegungen ihrer Zeit eine Potenz des Fortschritts dar und kann keineswegs allein als theoretischer Ausdruck historischer Zurückgebliebenheit in Deutschland erklärt werden. Die innerhalb des dominanten Idealismus auftretenden realistischen Tendenzen und materialistischen Einschlüsse verweisen auf die Notwendigkeit einer Interpretation in dialektischen Kategorien. Der Idealismus ist Widerspiegelung sowohl der Chancen wie der Grenzen bürgerlich-gesellschaftlichen Fortschritts. Die Annäherungen an die Wissenschaften wie aber auch die Qualifizierung der Wissenschaften durch die Philosophie geben der Wissenschaftsgeschichte ihr Thema und ihre Legitimation als unverzichtbares Element der gesellschaftsgeschichtlichen Analyse. In dieser Analyse wird der Preis sichtbar, den die in Analogie zur Naturphilosophie konstruierte Geschichtsphilosophie zahlt: Die Annahme objektiver Entwicklungsgesetze in der Geschichte gelingt nur, indem der Idealismus des Sollens und der Subjektivität zwar überwunden wird, die wissenschaftliche Philosophie aber ein normatives System bleibt. Jenes historische Subjekt, welches nicht nur als Moment der Substanz existiert, sondern als gesellschaftlich identifizierbare Macht in der Geschichte wirkt und deshalb als empirisches Sub12

13

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F. W. J. Schelling, Aus der Allgemeinen Übersicht der neuesten philosophischen Literatur, in: Schelling, SW, Bd. 1, a. a. O., S. 471/472. G. W. F. Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse, in: Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Sämtliche Werke, hrsg. von H. Glockner, Bd. 6, Stuttgart 1927, S. 256.

jekt auch zum Gegenstand einer historischen Analytik werden kann, tritt in der klassischen bürgerlichen Philosophie noch nicht offen an den Tag. Gleichwohl hat diese Philosophie trotz ihrer Begrenztheit Erkenntnisse formuliert, die eine allgemeine humane Bedeutung haben und mit humanistischem Ziel aktualisiert werden können. Die Arbeiterbewegung wird in ihrer Entwicklung bewußt die überlieferten Erkenntnisse der Philosophie benutzen. Allgemein kann man sagen: Die klassische bürgerliche Philosophie wird im Kontext der klassischen englischen und schottischen bürgerlichen Ökonomie und der theoretischen und praktischen Erfahrungen des vormarxistischen Sozialismus in Frankreich und England zu einem Medium der Bewufjtwerdung der Arbeiterklasse werden. Die hier angedeutete Kontinuität der Erkenntnisgeschichte hat freilich wieder die Merkmale jener Struktur an sich, in der Einheit und Widerspruch, Kontinuität und Bruch in der Form der Identität des Nichtidentischen wirksam werden. Mit andern Worten: Das Kontinuum vermittelt sich über die Dialektik der Kritik, der Aufhebung, der Umwälzung.14 14

Zur Programmatik einer dynamischen, dialektischen Theorie der Erkenntnis- und Wissenschaftsentwicklung verweise ich auf: L. Geymonat, Probleme der Wissenschaftsgeschichte - Dialektik der Wissenschaftsgeschichte, in: Gesellschaftliche Bewegung und Naturprozefj. Studien zur Wissenschaftsgeschichte des Sozialismus, hrsg. von M. Hahn/H. J. Sandkühler, Bd. 3, Köln 1981, S. 171-176; vgl. auch: Ders., Scienza e realismo, Milano 1977 (dt. Ausg.: Grundlagen einer realistischen Theorie der Wissenschaft, Köln 1980).

39

1.3.

„Kritik" und „wissenschaftliche Revolution". Die konstitutive Rolle der Wissenschaften in Kants Philosophie

1.3.1.

Grundlagen philosophischer Kritik

Der Begriff „Kritik" hat in der Geschichte des philosophischen Denkens eine lange Tradition. Der Begriff „wissenschaftliche Revolution" entsteht erst im 18. Jahrhundert als Reflexion auf einen Prozeß der gleichzeitigen gesellschaftsgeschichtlichen und wissenschaftsgeschichtlichen Umwälzung. „Kritik" und „Revolution" finden im philosophischen Werk Immanuel Kants erstmals als systematisch verbundene Kategorien einen signifikanten Ort im Koordinatensystem von Gesellschafts- und Wissenschaftsgeschichte. Im folgenden soll die innere Logik der Verbindung der beiden Kategorien in der klassischen bürgerlichen deutschen Philosophie untersucht werden. Die Entwicklung von „Kritik" und „Revolution" stellt ein herausragendes Element der Dialektik des Konstitutionsprozesses der bürgerlich-revolutionären Weltanschauung dar. Eine historisch-materialistische Rekonstruktion der Entwicklung in der Beziehung von „Kritik" und „Revolution" kann nur vom strukturellen Zusammenhang von Philosophiegeschichte, Wissenschaftsgeschichte und Gesellschaftsgeschichte ausgehen. Sie unterscheidet sich hierin qualitativ von deskriptiven, narrativen Methoden, indem sie die Beziehung zwischen gesellschaftlichem Erkenntnisprozeß in Philosophie und Wissenschaften einerseits, und dem Prozeß der bürgerlichen Gesellschaft, der politischen und sozialen Revolution, andererseits, erklärt. Kant hat seiner Kritik der reinen Vernunft eine Erinnerung an Bacon vorangestellt und eine an den Königl. Staatsminister von Zedlitz gerichtete Widmung. Beide Texte erschließen die Intention Kants. Mit Bacon bestimmt Kant als das Ziel seines kritischen Werks „die Grundlegung der menschlichen Wohlfahrt und Würde überhaupt". Mit Bacons Instauratio magna versichert sich Kant einer philosophischen Errungenschaft, die „das Ende und die gehörige Grenze endlosen Irrtums" bedeutet1. Dieses der zweiten Auflage 1787 vorangestellte Motto nimmt das Motiv der Widmung von 1781 auf: „Den Wachstum der Wissenschaften an seinem Teile [zu] befördern [. . ,]." 2 Die Vorreden der ersten und zweiten Auflage haben dieses Motiv expliziert und die Thematik vertieft. I. Kant, Kritik der reinen Vernunft, 2. Aufl., Riga 1787 (im folgenden: I. Kant,

1

KrV B), S. II.

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2

I. Kant, KrV A IV.

Gewiß - Kants Philosophie steht in der Kontinuität jener „Kritik", die traditionell als Logik oder als Teil der Logik gedacht worden war ; also in der Tradition der humanistischen Kritik an der spätmittelalterlichen Dialektik und am Aristotelismus seit Petrus Ramus. „Kritik" wird zum Synonym für Judicium (Urteil). Wesentlich aber ist, daß „Kritik" sich zunehmend als das Urteil einer urteilsfähigen Vernunft gegen den Mythos der Offenbarungsreligion richtet und ihr Modell im Erkenntnistypus der rationalen Wissenschaften findet. Descartes' Discours de la Méthode, Pierre Bayles Dictionnaire historique et critique und Vicos Scienza nuova können stellvertretend für eine Tendenz genannt werden, in welcher sich ein Verständnis und eine Funktion von „Kritik" durchsetzen, wie sie in Vicos Bezeichnimg der Analysis der Geometer als nova critica zum Ausdruck kommt: als Bewußtsein der Mündigkeit der menschlichen Erkenntnis, die zwischen Wahrem und Falschem zu unterscheiden fähig ist, wenn sie im Wissen der Wissenschaft gründet. Die Philosophie wird zur „neuen Wissenschaft", die sich ein neues Territorium erobert: bereits Bayle und Vico wenden das zuvor logische Methodenprogramm der Kritik auf die Geschichte an. Es wird zu zeigen séin, daß Kant nur scheinbar „Kritik" wieder auf Logik und Erkenntnistheorie reduziert, und daß er vielmehr in den Kritiken eine umfassende Grundlegung der Geschichtsphilosophie leistet. Voraussetzung dieser Leistimg Kants ist, daß sein Konzept von Kritik sowohl die Tradition der logischen Beschränkung dieses Methodenbegriffs überwindet, wie auch den Kritik-Begriff der französischen Aufklärung, der das Moment der Rationalität der Vernunft mit dem Moment des Vertrauens auf den gesunden Menschenverstand verbunden hatte. So heißt es bei Voltaire im Dictionnaire philosophique im Zusatz zum Artikel „Critique": „Ce mot vient de krites, juge, estimateur, arbitre. Critique signifie bon juge." Wie aber ist ein gutes, d. h. rational begründetes Urteil möglich? Kant wird in einer vor allem anti-empiristischen Wendung diese Frage als das Problem der Möglichkeit apriorischer Erkenntnis formulieren. Aber das Ziel Kants besteht nicht allein - ja nicht einmal in erster Linie - in einer Kritik des menschlichen Erkenntnisvermögens, d. h. in der philosophischen Begründung der Urteilssicherheit der Vernunft. Es besteht weit über das erkenntnistheoretische Programm der Kritik der reinen Vernunft hinaus - wie die Entwicklung über die beiden anderen Kritiken, über den Streit der Fakultäten und die Schrift Zum ewigen Frieden dokumentiert - in einem Versuch, die Idee des Fortschritts in der Geschichte mit der Idee vernünftigen menschlichen Handelns zu vermitteln. Es wird sich zeigen, in welchem Maße Kant dabei den Fortschritt der Wissenschaften, die wissenschaftlichen Revolutionen, auf dem Wege der Analogie als Modell sowohl philosophischen wie gesellschaftsgeschichtlichen Fortschritts zugrundelegt. Kants Philosophie ist Widerspiegelung der Einheit von Philosophiegeschichte und Wissenschafts- und Gesellschaftsgeschichte und kann deshalb auch nur in der Perspektive dieser Einheit verstanden werden. Mit anderen Worten: Die Kritik der reinen Vernunft, die Revolutionierung der Naturwissenschaften und die bürgerlichen Revolutionen sind Strukturelemente 41

eines einheitlichen geschichtlichen Prozesses. Umgekehrt: Der historische Prozeß ist ungleichzeitig, widersprüchlich, er ist Dialektik. Die klassische bürgerliche Philosophie, auch in Deutschland, ist ohne englischen Empirismus, Sensualismus und idealistischen Skeptizismus sowenig denkbar, wie ohne den kontinentalen Rationalismus. Daß die Wahrheitsfrage aus dem Kontext theologischer Lösungsversuche - menschliches Wissen hat die Garantie der Teilhabe an göttlicher Allwissenheit - herausgelöst wurde, dafj die Unterscheidung von Wahrheit und Irrtum ihr Kriterium aus sinnlicher Erfahrung und aus dem rationalen Begründungsprozeß der Theorie gewann - dies steht am Anfang einer Geschichte, die in ihren Stadien hier nur skizziert werden kann: 1610 kritisierte Galilei gegenüber Kepler die Ungeheuerlichkeit einer Philosophie, welche sich auch nur durch das Fernrohr zu blicken weigere und statt dessen Wahrheit aus autoritätsgebundener Hermeneutik - aus biblischer Exegese und Textvergleichung - zu gewinnen suchte. In der Abkehr von spekulativer Metaphysik und vom Offenbarungs^lauben etabliert sich Erfahrungswissenschaft, und zwar als Alternative zur Tradition. Der codex scriptus als Glaubensgrund verliert seine Verbindlichkeit; gleichrangig zunächst, dann ihn ablösend tritt seit Campanella der codex vivus einer Natur auf, die als verifizierbares Erkenntnisobjekt begriffen wird. Daß nichts Gegenstand der rationalen Tätigkeit des Verstandes sein könne, was nicht vorher Objekt der Sinneswahrnehmung gewesen sei, dies rückt als Topos bürgerlich-gesellschaftlicher Wissenschaft in den Vordergrund. Francis Bacons Magna instauratio imperii humani in naturam vertraut der Naturwissenschaft die Wiederherstellung (besser: die Herstellung) der Herrschaft des Menschen übei die Natur an. Weil nur objektiv verbürgtes Wissen diese Macht garantiert, wird das Problem der Erkenntnissicherheit vorherrschend; und damit die Frage nach Bedingung und Möglichkeit von Irrtum und Täuschung wie nach der Form der Kritik des Scheins. Das antiaristotelische Novum Organon widmet sich nicht zuletzt der Kritik der „Idole". Kritik bedeutet: Begründung aus Ursachen. Kausalitäts-Denken setzt sich gegen Teleologie durch. Erfahrung und Experiment gelten als methodisch zuverlässige Verfahrensweise der Wissensgewinnung. Induktion setzt sich durch gegenüber der Deduktion aus Allgemeinsätzen der Schulphilosophie der Autoritäten. In der Auseinandersetzung mit dem kontinentalen Rationalismus, vor allem Descartes', der das traditionelle Theorem „angeborener Ideen" weiterdenkt und bewahrt, erhält die klassische physikalische Mechanik immer größere Bedeutung. Mechanik ist Gesetzeswissenschaft mit der Möglichkeit, Allgemeinaussagen trotz der induktiven Beschränkung der Methode des Erkenntnisprozesses zu formulieren. Mechanik erlaubt die Idee des Determinismus in den Kategorien der Kausalität und erweist sich als wichtiger „Ersatz" des historischen Finalismus: Mechanik kann in ihren Aussagen induktiv verifiziert werden und beweist mit der Erkenntnis der Gesetzmäßigkeit und Notwendigkeit aller Bewegung der Wirklichkeit zugleich die Objektivität der Erkenntnis selbst. Die Analogie zwischen materieller und ideeller Entwicklung ist ohne die Lehre 42

der Mechanik nicht zu begründen. Die Bedeutung dieser Analogie nicht erkannt oder dementiert zu haben, ist einer der folgenreichsten Fehler idealistischer, bewußt oder unbewußt neukantianischer Philosophiehistorie. Die Analogie von Materie und Bewußtsein steht am Anfang der Begründung der modernen Gesellschaftstheorie durch die Naturwissenschaft. Regelhaftigkeit, Gesetzmäßigkeit und Notwendigkeit werden - hier liegt die Beschränktheit der mechanischen Gesellschafts- und Geschichtslehren - von der Natur auf Praxis und Denken als Naturprozesse übertragen. Die klassische Mechanik steht an der Wiege bürgerlichgesellschaftlicher Theorien: Th. Hobbes konstruiert mit Hilfe einer mechanischen Anthropologie seine Souveränitätslehre; B. Spinoza konzipiert seine Ethik nach dem Modell der Geometrie; die Metapher von der „Staats-Maschine" und selbst noch die liberalistische Konzeption vom Ausgleich der konkurrierenden Kräfte - ohne das Modell der Mechanik gäbe es sie nicht. Theorie und Methode der naturwissenschaftlichen Mechanik bieten ein Modell für Theorie und Methode der entstehenden Gesellschaftstheorien; die frühe kapitalistische Produktionsweise wird als Regelsystem erkannt (und anerkannt) wie das Regelsystem der naturwissenschaftlich-technologischen Produktivkraftentfaltung. Das Vertrauen auf die Erfahrimg trotz der empiristischen Verabsolutierung der Erfahrung - so in Lockes Bild vom „Geist als weißem Papier" - und trotz der antirationalistischen Leugnung der Abstraktions- und Theorie-Gebundenheit der Erfahrung ist alles andere als eine „idealistische" Illusion. Bacons Entdekkung einiger Ursachen von „Idolen" ist - wie die Entdeckung des Experimentators im Experiment - ein durch und durch objektiver und notwendiger Ausdruck materieller Bedingungen: der Entwicklung qualitativ neuer Produktionsverhältnisse und neuer Antagonismen, der Entfaltung der Produktivkräfte seit der ursprünglichen Akkumulation in Richtung einer effektiven, gesellschaftliche Nutzung optimierenden Ausbeutung der Natur (einschließlich der Menschen, deren Rechte als solche der „Natur" zu begründen, durchaus ambivalente Wirkungen hinterließ). Wenn in diesem kurzen Abriß die Natur Wissenschaft als Quelle der Entwicklung der Gesellschaftswissenschaft erscheint, Theorie Geschichte zu machen scheint, dann, weil es sich tatsächlich um eine wesentliche Erscheinung der bürgerlichen Gesellschaft handelt: Naturwissenschaft und Technik sind Produktivkräfte, deren Entwicklung jener der Geschichts- und Gesellschaftswissenschaft vorausläuft und die als Produktivkräfte in ihren vergegenständlichten ökonomischen, zunehmend industriellen Formen eben die Realität mit prägen, deren Wesen gesellschaftswissenschaftlich zu durchdringen noch nicht gelingt. Die Lektüre etwa von J . D. Bernais Science in History belegt diesen Sachverhalt zur Genüge. Die klassische bürgerliche Philosophie in Deutschland hat das Grundproblem der Philosophie - Problem der Objektivität der Erkenntnis - in der Theorie der Dialektik von Subjekt und Objekt radikaler formuliert. Sie fragt nicht nur nach den Bedingungen der Übereinstimmung von Objekt und Erkenntnis, sondern verlagert zunehmend die Ursache der kognitiven Abbildrelation au's dem Bereich

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der Objektivität, der materiell-gegenständlichen Determinanten der Erkenntnis, in den der menschlichen Macht, zu erkennen, was der Mensch geschichtlich selbst schafft. Kant gebührt dabei das Verdienst, ungeachtet der für sein Denken kennzeichnenden Zurückweisung des Materialismus als Atheismus, die objektive Verbindung von Philosophie und Naturwissenschaft zum Ausgangspunkt seiner Empirismus- wie Rationalismus-Kritik gemacht zu haben. Naturwissenschaft provoziert die systematische Lösung des Problems einer nicht-spekulativen Metaphysik, die als Wissenschaft Anerkennung fordert. Kant hat den Zusammenhang von Philosophie und aus Gründen technologischer Naturbeherrschung notwendiger naturwissenschaftlicher Methodologie und Gnoseologie nicht dementiert. Für ihn wie für den frühen Schelling ist vorrangig das Auseinanderklaffen von tatsächlicher subjektiver intellektueller Macht und Anerkennung der bewußtseinsunabhängigen Realität zu bewältigen. Beide entwickeln Lösungsversuche in Richtung der Dialektik; bei beiden werden unumgängliche materialistische Elemente mit eingeschlossen: die Prinzipien der Unendlichkeit der materiellen Natur, der Irreversibilität der Entwicklung, der Einheit von Natur und erkenntnisgeleiteter Naturbeherrschung. Weder ein reiner Idealismus auf dem Niveau der Autonomie der Subjektivität, noch ein reiner Idealismus auf dem Status quo ante der Mechanik und der historischen Zyklenlehre konnten die Entwicklung der Technik und der Wissenschaften philosophisch verallgemeinern, konnten den mit den' Naturwissenschaften gegebenen theoretischen Vorlauf der Produktivkraftentwicklung in der bürgerlichen Gesellschaft angemessen begreifen. Zum besseren Verständnis der philologischen Analyse zum Problem „Kritik" und „Revolution" in Kants Werk sollen einige allgemeine Aussagen vorangestellt werden, welche freilich nur als Resultat von Detailuntersuchungen Geltung beanspruchen können. Beabsichtigt ist, zu zeigen, daß die Philosophie in der revolutionären Phase der Durchsetzung der bürgerlichen Gesellschaft wesentliche Fragen aufstellt, diese Fragen nicht - oder nur in Ansätzen - beantwortet, und gleichwohl ein notwendiges Stadium des Fortschritts zum wissenschaftlichen Sozialismus bildet. Am Ende des hier interessierenden Prozesses steht die Erkenntnis der Deutschen Ideologie, „daß nicht die Kritik, sondern die Revolution die! treibende Kraft der Geschichte auch der [. . .] Philosophie und sonstigen Theorie ist"3. Am Anfang dieses Prozesses steht Kant. Aber zwischen Anfang und Ende gibt es keine einfache Linearität, keine ungebrochene Kumulativität und Kontinuität. Der Weg von Kant bis Marx und Engels führt durch die Fronten eines erbitterten Krieges, in dem sich das feudale System - auch in der Theorie und Wissenschaft - zunächst gegen die Ansprüche der Bourgeoisie und schon bald zugleich gegen die Ansprüche des sich konstituierenden Proletariats zur Wehr setzt. Es darf nicht vergessen werden, daß zwischen der Kritik der reinen Vernunft und der Kritik der Politischen Ökonomie der Versuch einer Gegenrevolution altständisch-feudaler Theoretiker steht. Carl Ludwig von Hallers Restauration der 3

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K. Marx/F. Engels, Die deutsche Ideologie, in: MEW, Bd. 3, a. a. O., S. 38.

Staatswissenschaft begreift sich - so im Untertitel - als „Theorie des natürlichgeselligen Zustands, der Chimäre des künstlich-bürgerlichen entgegengesetzt". Wenn v. Haller diese „Restauration" sehr nachdrücklich als die „wahre GegenRevolution der Wissenschaft" preist4, dann handelt es sich um ein Symptom der Diskontinuität, der Dialektik des Entwicklungsprozesses, den sowohl der Begriff der wissenschaftlichen Revolution wie der Begriff der sozialen Revolution widerspiegelt. Die klassische bürgerliche deutsche Philosophie übernimmt die historische Aufgabe, den Standort des Bürgers als eines in seiner Individualität und Freiheit gefährdeten Subjekts der bürgerlich-gesellschaftlichen Formation zu bestimmen. Ihre ideologische und politisch wie sozial-ökonomisch bedeutsame Funktion ist es, das Potential an Erkenntnismitteln als Voraussetzung bürgerlicher Herrschaft zu analysieren und - nach der Kritik am defizitären Status dieser Mittel (Kritik an Dogmatismus, Empirismus, Idealismus) - einen sicheren, auf objektives, gesetzmäßiges und notwendiges Wissen gegründeten Erkenntnisfortschritt zu garantieren. Die Fragen der Philosophie richten sich deshalb zunehmend auf transzendentale Bedingungen der Erkenntnis, weil Subjektivität und empirische Induktion letztlich zum Agnostizismus/Skeptizismus führen. „Kritik" wird zum Mittel der kontrollierten Reflexion auf den Erkenntnisprozeß. „Kritik" soll die Autonomie der Erkenntnis gegenüber den Autoritäten des feudalen Systems bei gleichzeitiger Notwendigkeit und Objektivität der Erkenntnis und des Wissens fördern. „Kritik" will den Zusammenhang von Konstitution und Determination geistiger Tätigkeit ergründen - unter der Voraussetzung, daß geistige Tätigkeit das Modell und Regulativ menschlicher Praxis ist. Deshalb ist „Kritik" bei Kant revolutionär gegenüber der alten Metaphysik, jedoch nicht in dem Maße prinzipiell, daß die These von der Unerkennbarkeit der „Dinge an sich" die rationale Begründung der Postulate der praktischen Vernunft und der Imperative moralischen Handelns verhindern würde. Das Programm der kritischen Transzendentalphilosophie hat darüber hinaus eine weitere, historisch zu berücksichtigende Dimension: Es sind geschichtlich in Deutschland noch nicht reite bürgerlich-gesellschaftliche Verhältnisse, die die Philosophie dazu veranlassen, die Kriterien objektiver Erkenntnis nicht in gesellschaftlicher Praxis, sondern more geometrico - d. h. in Analogie zur Praxis der Wissenschaften - zu entdecken. Der Erkenntnistypus der Mathematik als konstruktiver und der Naturwissenschaften als experimenteller, gleichwohl zu Gesetzesaussagen fähiger Wissenschaften beeinflußt die Philosophie, die sich seit der französischen Enzyklopädie als „System der Wissenschaften" definiert. Die historisch-materialistische Analyse der klassischen bürgerlichen Philosophie muß sich der Tatsache bewußt sein, daß die Widerspiegelungsbeziehung zwischen Philosophie und bürgerlicher Gesellschaft vermittelt ist, d. h. keine 4

C. L. v. Haller, Restauration der Staatswissenschaft, Bd. 1, 2. Aufl., Winterthur 1820, S. XLIX.

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unmittelbare Relation zwischen Theorie und Wirklichkeit darstellt. In vorzüglicher Weise dokumentiert die Philosophie Kants, daß ein wesentliches, zwischen Philosophie und gesellschaftlicher Realität vermittelndes Zwischenglied die Wissenschaften sind. Vermittels ihrer Analogien zur Naturwissenschaft erst gelingt es der Philosophie, Aphorismus und Objektivität des Wissens zusammenzudenken. In dieser Perspektive wird erklärbar, warum Kants Philosophie nur unzureichend als „Idealismus" zu charakterisieren ist. Zu erinnern ist an Kants anti-empiristische Frage nach der Möglichkeit apriorischer, erfahrungsgebundener Erkenntnis.5 Kein Irrationalismus begründet die Kritik Kants am Satz, „alle Erkenntnis müsse sich nach den Gegenständen richten" 6 . Die Kritik der reinen Vernunft beugt solchem Mißverstehen vor: „Sich einen Gegenstand denken und einen Gegenstand erkennen, ist also nicht einerlei. Zum Erkenntnisse gehören nämlich zwei Stücke: erstlich der Begriff, dadurch überhaupt ein Gegenstand gedacht wird (die Kategorie), und zweitens die Anschauung, dadurch er gegeben wird; denn, könnte dem Begriffe eine korrespondierende Anschauung gar nicht gegeben werden, so wäre er ein Gedanke der Form nach, aber ohne allen Gegenstand, und durch ihn gar keine Erkenntnis von irgendeinem Dinge möglich; weil es, soviel ich wüßte, nichts gäbe, noch geben könnte, worauf mein Gedanke angewandt werden könne."7 Ließe man selbst materialistische Aussagen des Opus postumum8 außer Betracht und berücksichtigte man nur die engen Grenzen des Kantschen Erkenntnisbegriffs, so müßte man doch sagen: 1. geht Kant von dem wichtigen Problem aus, daß auch Naturerkenntnis Subjekterkennen, d. h. subjektive intellektuelle Tätigkeit voraussetzt; 2. schließt Kant für „reine Begriffe a priori" außer der „Funktion des Verstandes in der Kategorie" zusätzlich ein: „noch formale Bedingungen der Sinnlichkeit (namentlich des inneren Sinnes) a priori [. . .], welche die allgemeine Bedingung enthalten, unter der die Kategorie allein auf irgendeinen Gegenstand angewandt werden kann" 9 ; 3. setzt Kant in der „Transzendentalen Ästhetik" ausdrücklich ein EntsprechungsVerhältnis von Sinnlichkeit und Gegenstand und einen „von der Sinnlichkeit unabhängigen Gegenstand"10 voraus; damit hat selbst das unerkennbare „Ding an sich" (Wesen) nicht allein die Aufgabe, „die objektive Gültigkeit der sinnlichen Erkenntnis einzuschränken"11, sondern es erklärt 5

c 7 8

Vgl. M. Thom, Zur Erkenntnistheorie I. Kants, in: DZfPh, Sonderband 1968, S. 217 bis 239. I. Kant, KrV B XVI. I. Kant, KrV B 146; vgl. B 179. W. Förster gab diesen Hinweis auf Kants Opus postumum, hrsg. von A. Buchenau, 2. Hälfte (Convolut VII bis XIII), Berlin - Leipzig 1938, S. 4 2 9 : „Zuerst muß eine allen Raum (der Welt) einnehmende (ob erfüllende oder nicht) Materie sein, um den Raum, der sonst nur die subjektive Form der Anschauung sein würde, zum Sinnengegenstande (also auch möglicher Wahrnehmung) zu machen."

9 10

46

I. Kant, KrV A 139/140. I. Kant, KrV A 252.

11

I. Kant, KrV A 254.

Kants Nähe zum Materialismus und dessen Erkenntnis der spezifischen Differenz zwischen Abbild und Objektivität. „Hat unser Agnostiker" — spitzt Engels diese Ambivalenz zu - „diese formellen Vorbehalte einmal gemacht, so spricht und handelt er ganz als der hartgesottne Materialist, der er im Grunde ist." 12 Kant hat, wie später Schelling, seine Erkenntnistheorie von jenem vulgären Idealismus abgehoben, der die Existenz einer bewußtseinsunabhängigen Wirklichkeit schlicht leugnet. 1783 legte er in den Prolegometia Wert auf die Feststellung: „Der Idealismus besteht in der Behauptimg, daß es keine andere als denkende Wesen gebe, die übrigen Dinge, die wir in der Anschauung wahrzunehmen glauben, wären nur Vorstellungen in den denkenden Wesen, denen in der Tat kein außerhalb dieser befindlicher Gegenstand korrespondierte. Ich dagegen sage: es sind uns Dinge als außer uns befindliche Gegenstände unserer Sinne gegeben, allein von dem was sie an sich selbst sein mögen, wissen wir nichts, sondern kennen nur ihre Erscheinungen, d. i. die Vorstellungen, die sie in uns wirken, indem sie unsere Sinne affizieren. [. . .] Kann man dieses wohl Idealismus nennen? Es ist ja gerade das Gegenteil davon."13 Nicht die Frage nach den (transzendentalen) Bedingungen der Möglichkeit und Notwendigkeit von Erkenntnissen, nicht die Unterscheidung von Wesen und Erscheinung und nicht die Hervorhebung der logischen Kalküle und Abstraktionen, die jeder empirischen Wahrnehmung vorausgehen und die Synthese des Konkret-Allgemeinen im Begriff erst ermöglichen - nicht diese Kantschen Auffassungen bedingen seinen Idealismus. Ganz im Gegenteil ist es erstaunlich, wie Kant unter den gesellschaftlichen („transzendentalen") Voraussetzungen der Trennung von geistiger und körperlicher Arbeit und der Fetischismen der kapitalistischen Warenproduktion diese objektiven Probleme entfaltet. Kants Philosophie der Erkenntnisbegründung ist an Objektivität interessiert und gehört zur Geschichte der Ausbildung des modernen Ideologieverständnisses. Sie widerspiegelt die reale und die gesellschaftlich notwendig falsch unterstellte Rolle der Vernunft gegenüber einer Wirklichkeit, die nur durch die bürgerlich-revolutionäre Veränderung des Feudalsystems beherrschbar ist; und dies bedeutet auch: durch Analyse der feudalistisch erzeugten ideologischen Vorurteile. Die Theorie der Grenzen der Erkenntnis ist kein realitätsfremder prinzipieller Relativismus und Skeptizismus; sie schränkt gegenüber dem absoluten Idealismus und dem utopischen Rationalismus wie gegenüber dem platten Empirismus den Bereich bürgerlich-ideologischen falschen Bewußtseins ein - und scheitert doch mangels historisch-materialistischer Begründung. Die Kritik der spekulativen Metaphysik und Theologie sind ungemein fortschrittlich - und doch kann aus demselben Grund die Verselbständigung und Dogmatisierung der Skepsis noch nicht verhindert werden. 12

13

F. Engels, Einleitung (zur englischen Ausgabe der „Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft"), in: MEW, Bd. 22, Berlin 1963, S. 297/298. I. Kant, Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können, Riga 1783, S. 63/64.

47

Diese Doppeldeutigkeit drückt die ganze Widersprüchlichkeit der bürgerlichrevolutionären Weltvernunft aus, die sich objektiv begründen muß und sich zugleich objektiv dementiert. Aber wie auch immer: Kant wird zum adäquaten Ausdruck dieser Verhältnisse. Kants Postulat: „Das: Ich denke, muß alle meine Vorstellungen begleiten können."l\ und Marx' Forderung: „Auch bei der theoretischen Methode daher muß das Subjekt, die Gesellschaft, als Voraussetzung stets der Vorstellung vorschweben"15, sind aufeinander bezogen: formal als Kritik des transzendentalen Scheins in der Theorie (Philosophie bzw. Politische Ökonomie); materiell, d. h. historisch, und logisch durch die geschichtliche Differenz, die sich ergibt aus der Marxschen Entdeckung des allgemeinen Subjekts der Erkenntniskategorien, der Gesellschaft im besonderen Antagonismus ihrer ökonomischen Formation. Kants Antwort auf seine richtige, unüberholte Frage nach der Objektivität der Erkenntnis kann nicht anders ausfallen, als sie von der gesellschaftlich notwendigen, abstrakten Widerspiegelung kapitalistischer Realabstraktionen geboten ist; aber sie ist als Widerspiegelung richtig und ohne bewußte oder unbewußte Betrugsabsicht. Der allgemeine Begründungsanspruch „des" bürgerlichen Bewußtseins scheitert an der Barriere, auf welcher die Bourgeoisie als Klasse für partikuläre Interessen kämpft. Dieser Schein konnte erst durch die „Anatomie" der bürgerlichen Gesellschaft ökonomischkritisch nach der Ausbildung von deren innerer Negation „Proletariat" aufgedeckt werden. Das theoretische und methodologische Werkzeug ist bei Kant weitgehend entwickelt. Sieht man diese historische Kluft, kann ein weiteres hervorragendes Ergebnis der Kantschen Überlegungen hervorgehoben werden. In einem Fazit, das er 1790 anläßlich einer Kritik seiner Kritik der reinen Vernunft zieht, nimmt er Stellung zum Problem des Anfangs unserer Erkenntnis. Bei seiner „Nachforschung der Elemente unserer Erkenntnis a priori und des Grundes der Gültigkeit in Ansehung der Objekte vor aller Erfahrung, mithin der Deduktion ihrer objektiven Realität"16, kommt er zu einem Ergebnis, an dem auch der dialektische Materialismus festhält: Engels und Lenin haben bewußt auf den theoretischen Abstraktionscharakter von Kategorien wie „Materie" hingewiesen; sie haben die Notwendigkeit betont, daß jede Erkenntnis von der sinnlichen Erfahrung bestimmter konkreter Erscheinungsweisen der Materie ausgeht; daß die Erkenntnis erst im Aufsteigen vom Abstrakt-Allgemeinen (Empirischen) zum Konkret-Allgemeinen (Theorie) zur philosophischen Kategorie „Materie" gelangen kann. Bei Kant heißt es: „Die Gegenstände als Dinge an sich gehen den Stoff zu empirischen Anschauungen (sie enthalten den Grund, das Vorstellungsvermögen seiner Sinnlichkeit gemäß zu bestimmen), aber sie sind nicht der Stoff derselben."17 Und vergleichbar mit Marx unterscheidet Kant 14 15 16

48

I. Kant, KrV B 131. K. Marx, Grundrisse, a. a. O., S. 22 (Hervorhebung - H. J. S.). I. Kant, Über eine Entdeckung, nach der alle neue Kritik der reinen Vernunft durch eine ältere entbehrlich gemacht werden soll, in: KGS, Abt. 1, Bd. 8, Berlin 1912, 17 Ebenda, S. 215. S. 188.

in ebendiesem Kontext den logischen Charakter dieses „Hinaufsteigens" vom realen Konstitutionsprozeß der Wirklichkeit: „ . . . wenn nämlich" - argumentiert er weiter - „das ein Hinaufsteigen heißen kann, was nur ein Abstrahieren von dem Empirischen in dem Erfahrungsgebrauche des Verstandes ist, da dann das Intellektuelle, was wir selbst nach der Naturbeschaffenheit unseres Verstandes vorher a priori hineingelegt haben, nämlich die Kategorie, übrig bleibt."18 Mit diesem Satz schiebt Kant jeder Mißdeutung des „Aufsteigens" einen Riegel vor, wie sie noch heute manchmal in marxistischen Erkenntnistheorien vorkommt; was Kant sagt, bedeutet: Es gibt kein unmittelbares Aufsteigen von einer empirischen Wahrnehmung zum verallgemeinernden theoretischen Begreifen des Zusammenhangs der Wahrnehmungsgegenstände, es gibt keine lineare Stufenfolge von der Empirie zur Theorie; in jeder Erfahrung wirkt ein historisch-logisch akkumuliertes, gattungsgeschichtlich erworbenes Abstraktionsvermögen; 19 dieses Abstraktionsvermögen organisiert unsere Alltagserfahrungen und funktioniert im Gebrauch jener logischen Kalküle, die - so Lenin - aus milliardenfacher Praxis, aus dem Zwang stammen, mit der Welt tätig und bewußt umzugehen, um zu leben und zu überleben. Das individuelle Wahrnehmungspotential ist weder allein eine Erwerbung des Individuums, noch ist es „angeboren"; es ist eine Funktion des Prozesses, in welchem das Individuum zwischen gesellschaftlichen Verhältnissen gesellschaftlich sein Wesen erarbeitet. Kant hat diese Struktur formal und in den Schranken seines unhistorischen Erkenntnisbegriffs beschrieben. Ihm war nicht bewußt, daß der Einsatz „a priorischer" Erkenntnismittel a) von der gesellschaftlichen Praxis des Individuums inmitten des wirklichen Erkenntnissubjekts abhängt, und b) diese der Erfahrung vorausgehenden „a priorischen" Mittel nicht in einer Tafel „ewiger" Verstandeskategorien ein -für allemal aufgezählt werden können; Kant konnte c) nicht wissen, daß die Qualität dieser Denkwerkzeuge selbst in der universalen Dialektik zwischen Natur, Gesellschaft und Bewußtsein und nach Maßgabe der Dialektik von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen fortschreitend verändert wird. Die logischen Figuren erhalten die Rolle von „Axiomen" als Schlußfolgerungen aus „milliardenmal" wiederholten logischen Tätigkeiten, zu denen das Bewußtsein durch „die praktische Tätigkeit des Menschen" gezwungen war.20 Kant hat die Idee „angeborener" Vorstellungen nachdrücklich verworfen. Interessant ist, daß er im Gegenzug nicht etwa die Annahme einer jeweils neuen Erwerbung von einem fiktiven Nullpunkt der Erkenntnis aus (etwa beim Kind) propagiert. Was er hier begreift, ist wertvoll genug, materialistisch „auf die Füße gestellt" zu werden. „Die Kritik [der reinen Vernunft] erlaubt schlechter18 19

20

4

Ebenda, S. 216. Vgl. H. J. Sandkühler, Praxis und Geschichtsbewußtsein. Studie zur materialistischen Dialektik, Erkenntnistheorie und Hermeneutik, Frankfurt a. M. 1973, S. 215-225. W. I. Lenin, Konspekt zu Hegels „Wissenschaft der Logik", in: LW 38, a. a. O., S. 181. Sandkühler

49

dings keine anerschaffene oder angeborne Vorstellungen; alle insgesamt, sie mögen zur Anschauung oder zu Verstandesbegriffen gehören, nimmt sie als erworben an. Es gibt aber auch eine ursprüngliche Erwerbung [. . .]. Dergleichen ist, wie die Kritik behauptet, erstlich die Form der Dinge im Raum und der Zeit, zweitens die synthetische Einheit des Mannigfaltigen in Begriffen (. . .]."21 Hier tritt der „Kompromiß" zwischen Idealismus und Materialismus zutage; die Idee der „synthetischen Einheit des Mannigfaltigen" gehört zum Erbe der Dialektik wie Hegels Definition des Begriffs im ersten Hauptteil der Phänomenologie des Geistes, die ohne Kant undenkbar ist. Noch einmal: die Notwendigkeit der Kritik der reinen Vernunit ergibt sich weniger aus dem Zwang, die idealistische Konzeption der „Vernunft" abzusichern, als aus dem objektiven Widerspruchsverhältnis, welches den Idealismus zu Annäherungen an den Materialismus treibt: aus dem Verhältnis von wissenschaftlich-rationaler Erkenntnis und ökonomisch-technologischer Naturbeherrschung. Die „Natur" dieser Beziehung ist im Kapitalverhältnis aber eher verhüllt als daß sie offen zutage träte und rationaler wissenschaftlicher Kritik der Philosophie zugänglich wäre. Der Fetischismus der Warenwelt, den erst eine neue Wissenschaft von der Gesellschaft durchdringen wird, zeigt sich ideologisch in der Charaktermaske bürgerlicher Theorie: Erkenntnistheorie dominiert über Geschichtsmaterialismus.

1.3.2.

„Kritik" und „wissenschaftliche Revolution"

Die Vorrede zur ersten Auflage der Kritik der reinen Vernunit beginnt mit einer Bestandsaufnahme Kants zur mangelhaften Verfassung der Metaphysik. Zunächst „unter der Verwaltung der Dogmatiker", zerfiel sie in „Anarchie" und Skeptizismus, wurde abgelöst durch eine „gewisse Physiologie des menschlichen Verstandes" (Kant verweist auf Locke). „Jetzt, nachdem alle Wege (wie man sich überredet) vergeblich versucht sind, herrscht Überdruß und gänzlicher Indiiierentism, die Mutter des Chaos und der Nacht, in Wissenschaften [.. .]."22 Kant bedauert diesen Zustand der Metaphysik nicht. Im Gegenteil: Die Metaphysik-Kritik ist ein Ausdruck der „gereiften Urteilskraft des Zeitalters, welches sich nicht länger durch Scheinwissen hinhalten läßt"23. Und: „Unser Zeitalter ist das eigentliche Zeitalter der Kritik, der sich alles unterwerfen muß."2'* Kants Frage, wie „das Vermögen zu denken selbst möglich" sei20, ist alles andere als abstrakt. Sie hat ihren Anlaß im widersprüchlichen Zusammenhang der Existenz von „Mathematik, Naturlehre etc."26 als gründlicher Wissenschaften, welche das Vermögen zu denken unter Beweis stellen, und der Tatsache, daß sich „Religion durch ihre Heiligkeit und Gesetzgebung durch ihre Majestät" der Kritik entziehen wollen und damit Beweise des Unvermögens zu denken bilden.27 21 22 24 26

50

I. I. I. I.

Kant, Über eine Entdeckung . . ., in: KGS, Abt. 1, Bd. 8, a. a. O., S. 221. 23 Kant, KrV A X. I. Kant, KrV A XI. 25 Kant, KrV Anm. zu A XI. I. Kant, KrV A XVII. 27 Kant, KrV Anm. zu A XI. Ebenda.

Die Vorrede zur Auflage von 1787 - im Jahr also des Erscheinens der Kritik der praktischen Vernunft, deren Argumentation die neue Vorrede prägt — erweist sich als wesentlich weniger aporetisch und programmatisch als jene des Jahres 1781. Sie bezeugt vielmehr eine theoretische Gewißheit, die Krise der Metaphysik (Philosophie) überwinden zu können, wie Kant sie bereits vorkritisch vertreten hatte. Kants Nachricht von der Einrichtung seiner Vorlesungen in dem Winterhalbjahre von 1765-1766 bezeichnet sowohl eine Kontinuität in seinem Denken wie eine Vorstufe, die er überwindet. Was Kant hier über den „natürliche [n] Fortschritt der menschlichen Erkenntnis" durch Kumulation von Erfahrung und Vereinigung der Erfahrung „in einem wohlgeordneten Ganzen vermittelst der Wissenschaft" aussagt, 2 8 wird in der zweiten Vorrede zur Kritik der reinen Vernunft einerseits in der Idee eines evolutionären, kumulativen Erkenntnisfortschritts aufgenommen; zum andern aber denkt Kant diese Evolution 1787 in einer wesentlich veränderten Struktur als eine Folge von in immer kürzeren Abständen sich ereignenden wissenschaftlichen Revolutionen. Kontinuität und Diskontinuität können wir zwischen 1765 und 1787 auch hinsichtlich des Status und der Funktion von „Kritik" feststellen. 1765 bestimmt Kant die „Kritik und Vorschrift des gesunden Verstandes" und die „Kritik und Vorschrift der eigentlichen Gelehrsamkeit" als „zwei Gattungen" der Logik, welche in einer „Kritik und Vorschrift der gesammten Weltweisheit" als der „vollständigen Logik" zusammenfließen. Es ist hier wichtig, zu bemerken, daß Kant vor den drei Kritiken die Logik - ohne jeden Zweifel an der Kumulativität der „Geschichte der menschlichen Meinungen" und am geschichtlichen Wissen als Richter über Wahrheit und Irrtum - nicht der Konkurrenz der Wissenschaften und deren revolutionärer Entwicklungsform aussetzt. In diesem Bewußtsein entspricht Kant dem Stand der Selbstreflexion philosophischer Theorie, wie sie in der seit 1751 erscheinenden Enzyklopädie Diderots und D'Alemberts zum Ausdruck kommt. Der Enzyklopädie-Artikel „Kritik in den Wissenschaften" fordert den Kritiker auf, „Stufe f ü r Stufe die Wissenschaft in ihren Fortschritten [zu] verfolgen und [zul zeigen, welche Hindernisse sie aufgehalten haben, wie diese Hindernisse beseitigt wurden, durch welche Verknüpfung von Schwierigkeiten und Lösungen die Wissenschaft vom Zweifel zur Wahrscheinlichkeit und von der Wahrscheinlichkeit zur Evidenz gelangt ist" 29 . Zugleich aber wird erkennbar, daß erst die zweite Vorrede zur Kritik der reinen Vernunft im Begriff der Revolution einholt, was den Enzyklopädisten bereits früher bewußt! gewesen w a r : „Es gibt" - heißt es im erwähnten „Kritik"-Artikel der Enzyklopädie - „für die Entdeckungen eine Zeit der Reife, vor der die Forschungen fruchtlos zu sein scheinen. Eine Wahrheit wartet, bis sie die Vereinigung ihrer Elemente vor 23

29



Vgl. I. Kants Nachricht von der Einrichtung seiner Vorlesungen in dem Winterhalbjahr von 1765-1766, in: KGS, Abt. 1, Bd. 2, Berlin 1912, S. 305. Artikel „Kritik in den Wissenschaften", in: Artikel aus der von Diderot und D'Alembert herausgegebenen Enzyklopädie, hrsg. von M. Naumann, Leipzig 1972, S. 278.

51

Augen führen kann. Solche Keime treffen und vereinigen sich nur auf Grund einer langen Reihe von Kombinationen [ . . . ] , so wurde das Problem der drei Körper, das Newton gestellt hatte, erst in unserer Zeit gelöst, und zwar von drei Männern zugleich." Die Enzyklopädie zieht aus dieser Beobachtung einer nichtlinearen Wissenschaftsentwicklung eine theoretische und eine für die Kritik normative Konsequenz: „Diese Art der Gärung des menschlichen Geistes, diese Verarbeitung unserer Kenntnisse, muß der Kritiker sorgfältig beobachten [. . .] Z30 Es ist das Phänomen der „Gärung", also eines qualitativ verändernden Prozesses, welches Kant zu seiner Verknüpfung der Begriffe der Kritik und der wissenschaftlichen Revolution veranlagte. In einer Typologie wissenschaftlicher Revolutionen, auf deren unterschiedliche historische Reifungsdauer Kant bewußt aufmerksam macht, setzt die zweite Vorrede zur Kritik der reinen Vernunft zur Beantwortung der Frage an, „ob die Bearbeitung der Erkenntnisse, die zum Vernunftgeschäfte gehören, den sicheren Gang einer Wissenschaft gehe oder nicht [. . .] "31. Die Logik hat seit Aristoteles „keinen Schritt rückwärts" tun dürfen; Kant bemerkt freilich, „daß sie auch bis jetzt keinen Schritt vorwärts hat tun können, und also allem Ansehen nach geschlossen und vollendet zu sein scheint"32. Konstitutiv für die Kritik der reinen Vernunft ist, da5 diese Vollendetheit der Logik keineswegs ein Wissenschaftsideal darstellt, sondern als bloße „Eingeschränktheit" kritisiert wird. Die Logik hat es nur mit den Formen des Verstandes zu tun und abstrahiert von ihrer Beziehung auf Objekte. „Weit schwerer mußte es natürlicherweise für die Vernunft sein, den sicheren Weg der Wissenschaft einzuschlagen, wenn sie nicht bloß mit sich selbst, sondern auch mit Objekten zu schaffen hat [. . .]."33 Bereits hier muß gegenüber dem Mißverständnis, Kants kritische Philosophie reduziere ihren Gegenstand idealistisch auf eine Methodenlehre der Vernunfterkenntnis a priori, festgehalten werden: das Programm der Kritik vollendet sich erst in der Erklärung der Konstitution der Erkenntnisgegenstände als wirklicher Objekte, d. h. in der Kritik der Urteilskraft. Es sind Mathematik und Physik, von deren Verlauf her Kant seine „kopernikanische Wende" der Vernunftkritik legitimiert und konstruiert. Die Mathematik sei „von den frühesten Zeiten her [. . .] den sichern Weg einer Wissenschaft gegangen"34. Dies allerdings nicht ohne Schwierigkeiten: „vielmehr glaube ich, daß es lange mit ihr [. . .] beim Herumtappen geblieben ist, und diese Umänderung (zu einer sicheren Wissenschaft] einer Revolution zuzuschreiben sei, die der glückliche Einfall eines einzigen Mannes in einem Versuche zustande brachte, von welchem an die Bahn, die man nehmen mußte, nicht mehr zu verfehlen war, und der sichere Gang einer Wissenschaft für alle Zeiten und in tinendliche Wei30 31 32 33 34

Ebenda, S. 277. I. Kant, KrV B VII. I. Kant, KrV B VIII. I. Kant, KrV B IX. I. Kant, KrV B X.

52

ten eingeschlagen und vorgezeichnet war"35. Es ist die „Geschichte dieser Revolution der Denkart" 36 , welche - obwohl nicht überliefert - zum Leitfaden von Kants Weg wird. Grundlegend ist hierbei, daß Kant aus der Geschichte der Mathematik kein allgemeines Modell der Wissenschaftsentwicklung ableitet, ja daß ein derartiges Modell jegliches Revolutionieren der Philosophie als willkürlichen Eingriff in die notwendig vorgegebene Erkenntnisentwicklung in Mißkredit bringen müßte. Für die Begründung der Möglichkeit und Legitimität einer philosophischen Revolution ist es vielmehr entscheidend, daß Kant eine nichtidentische Relation von zeitlicher Entwicklung und Typus einer Wissenschalt entdeckt: „Mit der Naturwissenschaft ging es weit langsamer zu, bis sie den Heeresweg der Wissenschaft traf; denn es sind nur etwa anderthalb Jahrhunderte, daß der Vorschlag des sinnreichen Baco von Verulam diese Entdeckung teils veranlaßte, teils, da man bereits auf der Spur derselben war, mehr belebte, welche ebensowohl nur durch eine schnell vorgegangene Revolution der Denkart erklärt werden kann."37 Indem Kant diese Revolution auf die Denkari, nicht aber auf das Wachstum an Gegenstandserkenntnis bezieht, bereitet er vor, was als das Wesentliche seiner Kritik erscheinen und weshalb die Kritik als Revolution gelten soll. Nicht als seine eigene Leistung, sondern als die der philosophischen Fundierung der Naturforschung weist Kant aus: „Sie begriffen, daß die Vernunft nur das einsieht, was sie selbst nach ihrem Entwürfe hervorbringt, daß sie mit Prinzipien ihrer Urteile nach beständigen Gesetzen vorangehen und die Natur nötigen müsse auf ihre Fragen zu antworten, nicht aber sich von ihr allein gleichsam am Leitbande gängeln lassen müsse [.. 0." 38 Gerade der Metaphysik aber ist bisher nicht gelungen, was sich als Revolution der Denkart in der Physik hat durchsetzen können, obwohl doch die Metaphysik, „wo also Vernunft selbst ihr eigener Schüler sein soll", von ihrem Gegenstande her für Erkenntnissicherheit prädestiniert sein könnte. Ganz im Gegenteil - „in ihr gerät die Vernunft kontinuierlich in Stecken [...]. In ihr muß man unzähligemal den Weg zurück tun, weil man findet, daß er dahin nicht führt, wo man hin will [...). Es ist also kein Zweifel, daß ihr Verfahren bisher ein bloßes Herumtappen, und was das Schlimmste ist, unter bloßen Begriffen gewesen sei."39 Man kann feststellen, daß Kant in dieser Typologie der Wissenschaftsentwicklung eine umgekehrte Proportionalität im Verhältnis von Gegenstandsbezug und Erkenntnisfortschritt entdeckt: Nicht die als durch Erfahrungswissen borniert geltenden Naturwissenschaften, sondern die philosophische Spekulation ohne Erkenntnisobjekt hat den Fortschritt behindert. So ist es nur folgerichtig, daß Kant sein Ziel einer Revolution der Denkart der Philosophie nicht auf dem Wege einer Kritik der Metaphysik verfolgt. Er bedient sich statt dessen des Mittels einer Rekonstruktion der Revolutionen in Mathematik und Naturwissenschaft, 35 37 38 39

I. I. I. I.

Kant, Kant, Kant, Kant,

KrV KrV KrV KrV

B B B B

XI. XII. XIII. XIV/XV.

30

Vgl. ebenda.

53

deren Fortschritt per analogiam „wenigstens zum Versuch nachzuahmen" er vorschlägt: Mathematik und Naturwissenschaft sind „Beispiele [ . . . ] , die durch eine auf einmal zustande gebrachte Revolution das geworden sind, was sie jetzt sind"; und diese Beispiele sind denkwürdig genug, „um dem wesentlichen Stücke der Umänderung der Denkart, die ihnen so vorteilhaft geworden ist, nachzusinnen, und ihnen, soviel ihre Analogie, als Vernunfterkenntnisse [...) nachzuahmen".40 Die Akzente, die Kant hier setzt, liegen zum einen darauf, da5 es sich um „auf einmal zustande gebrachte" Veränderungen handele, also um revolutionäre Sprünge in der Evolution der Wissenschaft. So wird erklärbar, warum Kant das Programm seiner Kritik mit dem Begriff der Revolution verbinden muß: das in der Widmung der Kritik der reinen Vernunft erwähnte „Wachstum der Wissenschaften" besteht in einem evolutiven Zuwachs an Gegenstandserkenntnis, aber dieser Erkenntnisforschritt generiert nicht per se eine Veränderung der „Denkart", d. h. des kognitiven Typus der Wissenschaft. Zum andern setzt Kant einen wichtigen Akzent mit dem Verweis auf die Analogie als Verfahren der Fundierung der Kritik. Der Begriff der „Nachahmung" im Kontext des Analogie-Begriffs könnte zu dem Mißverständnis Anlaß geben, Kant wolle Modelle wissenschaftlicher Revolutionen ohne Berücksichtigung der Gegenstandsspezifik wissenschaftlicher Erkenntnis kopieren. Kants beständige Reflexion auf den Charakter und auf die Funktion - ja auf die Grenzen — von Analogiekonstruktionen belegt das Gegenteil. Analogien stellen Beziehungen zwischen Nicht-Identischem her, für das es eine „Einerleiheit des Grundes", also wesentliche Übereinstimmungen gibt. So schreibt Kant in der Kritik der Urteilskraft: „Analogie (in qualitativer Bedeutung) ist die Identität des Verhältnisses zwischen Gründen und Folgen (Ursachen und Wirkungen), sofern sie ungeachtet der spezifischen Verschiedenheit der Dinge oder derjenigen Eigenschaften an sich, welche den Grund von ähnlichen Folgen enthalten (d. i. außer diesem Verhältnisse betrachtet), stattfindet."41 Bezieht sich Kant also auf Mathematik und Naturwissenschaft, dann in der Perspektive einer Vergleichbarkeit der Verhältnisse zwischen „Gründen und Folgen". Die Analogie verhindert deshalb nicht, daß die Revolution in der Denkart der Philosophie ihre eigentümliche Logik gewinnt, sondern sie macht die „kopernikanische Wende" der Philosophie erst möglich. Die philosophische Revolution, die Kant anstrebt, hat folgendes Programm: „Bisher nahm man an, alle unsere Erkenntnis müsse sich nach den Gegenständen richten; aber alle Versuche über sie a priori etwas durch Begriffe auszumachen, wodurch unsere Erkenntnis erweitert würde, gingen unter dieser Voraussetzung zunichte. Man versuche es daher einmal, ob wir nicht in den Aufgaben der Metaphysik damit besser fortkommen, daß wir annehmen, die Gegenstände müssen sich nach unserem Erkenntnis richten [ . . . ] ." 42 Hat Kant nicht 40 41

54

I. Kant, KrV B XV/XVI. I. Kant, Kritik der Urteilskraft, hrsg. von K. Vorländer, Hamburg 1959 (im folgenden: I. Kant, KdU, Seitenangabe nach 2. und 3. Aufl., Berlin 1793, 1799), Anm. 4 3 I. Kant, KrV B XVI. zu S. 448.

die möglichen agnostizistischen Folgen dieser Revolution erahnt, wenn er nachdrücklich reflektiert, es handele sich um eine „veränderte Methode der Denkungsart"43, und auch dies nur unter der Bedingung der Begrenzung dieser Methode auf die Begründung von Erkenntnissen a priori? Es wird sich im Verlauf der weiteren Untersuchung zeigen, daß Kants Revolution der Denkart der Philosophie gerade das Gegenteil von Agnostizismus ist: die „Kritik" zielt auf eine objektive Begründung der Möglichkeit der Erkenntnis von Natur, Geschichte und Denkprozef}; das Ziel der Kritik der reinen Vernunft wird erst in Verbindung mit der Kritik der praktischen Vernunft und der Kritik der Urteilskraft erreicht. Es ist auffallend, in welchem Maße Kant das Programm seiner Kritik zugunsten einer Theorie der Möglichkeitsbedingungen objektiver Erkenntnis gegen idealistische Fehldeutungen abzusichern bestrebt ist. Er führt die Analogie zu den Naturwissenschafts-Revolutionen bis zu jenem Punkt fort, in dem sich philosophische Revolution der Verifikation durch das Experiment stellt: „Diese dem Naturforscher nachgahmte Methode besteht also darin: die Elemente der reinen Vernunft in dem zu suchen, was sich durch ein Experiment bestätigen oder widerlegen läßt."'*'1 Der Tatsache bewußt, da6 die Philosophie „kein Experiment mit ihren Objekten machen" kann, gewinnt Kant die für ein experimentelles Verfahren der Überprüfung notwendige Realität wieder, indem er es „so einrichtet, daß dieselben Gegenstände einerseits als Gegenstände der Sinne und des Verstandes für die Erfahrung, andererseits aber doch als Gegenstände, die man bloß denkt, allenfalls für die isolierte und über Erfahrungsgrenzen hinausstrebende Vernunft, mithin von zwei verschiedenen Seiten betrachtet werden können"43. Das „Experiment der reinen Vernunft [. . .) mit dem der Chemiker" vergleichend und im Bewußtsein, „daß wir nach dem Beispiele der Geometer und Naturforscher eine gänzliche Revolution mit derselben [Metaphysik] vornehmen", zugleich die Grenzen der „Kritik" bedenkend - „Sie ist ein Traktat von der Methode, nicht ein System der Wissenschaft selbst."47 schafft Kant die Voraussetzungen für eine Anwendung der aus der Revolution folgenden Kritik: Gegenstand dieser Anwendung ist weniger die Vernunft selbst, als das Problem der Antinomie von Freiheit und Notwendigkeit. So ist es kein Zufall, daß bereits die Vorrede zur Kritik der reinen Vernunft die Grenzen bloßer Erkenntnistheorie überschreitet. Kant betont, daß mit der „wichtigen Veränderung im Felde der Wissenschaften, und dem Verluste, den spekulative Vernunft an ihrem bisher eingebildeten Besitze erleiden muß, [ . . . ] dennoch alles mit der allgemeinen menschlichen Angelegenheit" vermittelt bleibe, „und der Verlust trifft nur das Monopol der Schulen, keineswegs aber das Interesse der Menschen",48 43 44 45 40 47

Vgl. I. Kant, I. Kant, KrV Ebenda. Vgl. I. Kant, I. Kant, KrV

KrV B XVIII (Hervorhebung - H. J. S.). Anm. zu B XVIII. KrV Anm. zu B XXI. 4 8 I. Kant, KrV B XXXI/XXXII. B XXII.

55

1.3.3.

Die geschichtsphilosophische Dimension der Verbindung von „Kritik" und „Revolution"

Kants Vorrede zur Kritik der reinen Veinuntt hat eine über ein erkermtniskritisches Programm hinausgehende geschichtsphilosophische Dimension. Freilich tritt diese Dimension nicht in Kategorien einer Philosophie der Geschichte zutage, sondern in Form einer Rekonstruktion der Wissenschaftsgeschichte. Zieht man eine Bilanz, so kann man einen eigentümlichen Sachverhalt feststellen: Zum einen bedarf Kant zur Begründung der Leistungsfähigkeit seiner Kritik der Analogie zu Revolutionen im kogniviten Typus der Wissenschaften; auf der andern Seite aber löst Kant den evolutionären Prozeß der Wissenschaftsgeschichte nicht in eine Folge von Diskontinuitäten, Brüchen, auf, sondern er vergewissert sich der Revolutionen - als der Phasen qualitativ verändernder Entwicklung - als Momente in der evolutionären Einheit der Geschichte der menschlichen Erkenntnis. Dieses für die klassische deutsche Philosophie symptomatische Modell des. historischen Fortschritts, das von Fichte, Schelling und Hegel in Philosophien der Geschichte des Geistes aufgenommen und vertieft wird, hat idealistische Grenzen, die es zugleich zu sprengen sucht. Die Revolution, die Kant bewirken will, ist eine Revolution im Rahmen einer Geschichte von Revolutionen. Dies bestimmt nachhaltig den historischen Charakter von Kants Kritik. Die Schlußfolgerungen, die Kant am Ende seiner Vorrede zur Kritik der reinen Vernunft skizziert, erweisen sich als Anfangspunkte der Vermittlung von Erkenntnistheorie und Geschichtstheorie. Kant gewinnt im Begriff der Kritik Argumente für einen Kampf an zwei Fronten. Die eine verläuft innerhalb der Wissenschaft, und sie scheidet Dogmatismus von der Freiheit des Denkens. Kritik wird zum Veto gegen „das dogmatische Verfahren der reinen Vernunft, ohne vorangehende Kritik ihres eigenen Vermögens"49 Behauptungen aufzustellen. Die andere Front verläuft - 1787! - in der bürgerlichen Gesellschaft selbst, und sie scheidet feudalen Absolutismus von bürgerlicher Freiheit: „Wenn Regierungen sich ja mit Angelegenheiten der Gelehrten zu befassen gut finden, so würde es ihrer weisen Vorsorge für Wissenschaften sowohl als Menschen weit gemäßer sein, die Freiheit einer solchen Kritik zu begünstigen, wodurch die Vernunftbearbeitungen allein auf einen festen Fuß gebracht werden können, als den lächerlichen Despotism der Schulen zu unterstützen, welche über öffentliche Gefahr ein lautes Geschrei erheben, wenn man ihre Spinneweben zerreißt [...) ."50 In dieser Perspektive erhält die Feststellung Kants in der Einleitung zur Kritik der praktischen Vernunft besonderes Gewicht, nach welcher „ein durch die Kritik der reinen Vernunft gerechtfertigter, obzwar keiner empirischen Darstellung fähiger Begriff der Kausalität, nämlich der der Freiheit" eingeführt wird.51 49 50 51

X. I. I. S.

56

Kant, KrV B XXXV. Kant, KrV B XXXIV/XXXV. Kant, Kritik der praktischen Vernunft, Riga 1788 (im folgenden: I. Kant, KpV), 30.

Die Kritik der praktischen Vernunit entwickelt eine Methodenlehre in praktischer Absicht. Sie beantwortet die Frage, „wie mein den Gesetzen der reinen praktischen Vernunft Eingang in das menschliche Gemüt, Einfluß auf die Maximen desselben verschaffen, d. i. die objektiv-praktische Vernunft auch subjektiv praktisch machen könne"52. Kant wählt zur Beantwortung dieser Frage keinen einfachen Weg. Sein Ideal einer „Wissenschaft (kritisch gesucht und methodisch eingeleitet)" stellt sich als „die enge Pforte, die zur Weisheitslehre führt" 53 , dar. Marksteine des Weges sind die „Dialektik, als Darstellung und Auflösung des Scheins in Urteilen der praktischen Vernunft"54, und die Analyse der Antinomien der reinen und der praktischen Vernuft. In der Antinomienlehre widerspiegelt sich - wie in kaum einem anderen zeitgenössischen Denken - Realität; eine Realität, die von der Philosophie nicht als Status quo deskriptiv verdoppelt werden darf, wenn,die Ansprüche auf historischen Fortschritt nicht preisgeben werden sollen. Gegenüber dem Dogmatismus seiner Zeit besteht Kant auf der progressiven Funktion der Antinomie. Er stellt fest, daß „die Antinomie der reinen Vernunft, die in ihrer Dialektik offenbar wird, in der Tat die wohltätigste Verirrung ist, in die die menschliche Vernunft je hat geraten können, indem sie uns zuletzt antreibt, den Schlüssel zu suchen, aus diesem Labyrinthe herauszukommen, der, wenn er gefunden worden, noch das entdeckt, was man nicht suchte und doch bedarf, nämlich eine Aussicht in eine höhere, unveränderliche Ordnung der Dinge, in der wir schon jetzt sind, und in der unser Dasein der höchsten Vernunftbestimmung gemäß fortzusetzen, wir durch bestimmte Vorschriften nunmehr angewiesen werden können"55. Die Reflexion auf die Antinomien der Vernunft leistet einen wesentlichen Beitrag zur Befreiung aus „selbstverschuldeter Unmündigkeit", die das Ziel der Aufklärimg ist. Bewußt setzt Kant seine Forderung nach der „Moralität der Gesinnungen" in Kontrast zu jener „Legalität der Handlungen", die durch „Anlokkungen", „Vorspiegelungen von Vergnügen" und durch „Androhungen von Schmerz und Übeln" erwirkt werden kann. Gewiß hat Kant in seinem Konzept der Dialektik und der Antinomie keinen Schlüssel zur Realität gefunden, seine Lösungen bleiben aporetisch; seine Theorie ist normativ, obwohl sie mit analytischem Anspruch auftritt. Verdienst seiner „Kritik" jedoch ist es, Probleme aufgedeckt zu haben, die bürgerlich-gesellschaftlich erst später - so in der Transformation des Begriffs der Antinomie in den des Antagonismus - materialistisch analysiert werden können. Die Kritik der Urteilskrait, mit der Kant sein „ganzes kritisches Geschäft" als beendet ansieht,56 bekräftigt die Einsicht, daß „die Kritik der Erkenntnisvermögen in Ansehung dessen, was sie a priori leisten können, [...] eigentlich kein Ge52 53 54 55 56

I. I. I. I. I.

Kant, Kant, Kant, Kant, Kant,

KpV KpV KpV KpV KdU

269. 292. 31. 193. X.

57

biet in Ansehung der Objekte" 57 hat. Im Interesse seiner Kritik am Idealismus als subjektiver Konstitutionstheorie gewinnt Kant im Begriff der Urteilskraft „ein Mittelglied zwischen dem Verstände und der* Vernunft" 38 . Die Thematik der Kritik der reinen Vernunft und der Kritik der praktischen Vernunft - das Verhältnis von Konstitution und Determination, Freiheit und Kausalität - aufnehmend, integriert Kant den „Begriff einer Zweckmäßigkeit der Natur" in die „transzendentalen Prinzipien". 59 In diesem Zusammenhang muß es die Aufmerksamkeit der Interpretation auf sich lenken, daß zwar der Abschnitt „Von dem Endzwecke der Schöpfung" nur eine Art von Wesen in der Welt kennt, „deren Kausalität ( . . . ] teleologisch, d. i. auf Zwecke gerichtet" ist, der „Mensch aber als Noumenon betrachtet" wird. 60 Gleichwohl kann diese Aussage nicht als Indiz für einen subjektiven Idealismus gelesen werden. Denn von der Funktion der Kritik als Methodenprogramm - nicht als Wissenschaft von realen Objekten her gesehen, kann Kants Theorie nur zu diesem Ergebnis gelangen. Aber: Bereits in der Erläuterung der Naturzwecke wird festgehalten, man sage „von der Natur und ihrem Vermögen in organisierten Produkten bei weitem zu wenig, wenn man dieses ein Analogon der Kunst nennt; denn da denkt man sich den Künstler (ein vernünftiges Wesen) außer ihr" ßl . Kant bezeichnet sie deshalb als ein „Analogon des Lebens"C2, und er überträgt die Idee der inneren Notwendigkeit und Gesetzmäßigkeit der Natur auf die Bestimmung des Menschen als Noumenon. Die Kausalität in der Art der Wesen „Mensch" ist auf Zwecke gerichtet „und doch zugleich so beschaffen [ . . . ) , daß das Gesetz, nach welchem sie sich Zwecke zu bestimmen haben, von ihnen selbst als unbedingt und von den Naturbedingungen unabhängig, an sich aber als notwendig vorgestellt wird" 63 . In Kants geschichtsphilosophischem Denken vollendet sich ein philosophisches Programm, für welches die Revolution in der Denkart ebenso Voraussetzung ist wie die Tatsache, daß die Begriffe von Revolution und Kritik nicht der Spekulation der Metaphysik, sondern der objektiven Erkenntnis von Mathematik und Naturwissenschaft abgewonnen wurden. 57 58 59 00 61 62 63

58

I. Kant, KdU I. Kant, KdU I. Kant, KdU I. Kant, KdU I. Kant, KdU Ebenda. I. Kant, KdU

XX. XXI. XXX. 398. 293. 398 (Hervorhebung - H. J. S.).

1.4.

Natur und „zweite Natur" — Schellings Annäherung an eine Theorie des historischen Subjekts

Das philosophische Interesse F. W. J. Schellings gilt in erster Linie der Begründung der Philosophie selbst. Ihre gegenständlichen Bezüge findet seine Theorie — teils gleichzeitig, teils in der Folge der Phasen ihrer Entwicklung - in so unterschiedlichen Reflexionsinhalten wie Natur, Recht und Staat, Geschichte und Fortschritt, Stellung des Menschen zum Absoluten. Spekulative Philosophie ist diese Theorie auch dort, wo sie die Wissenschaften, die Kunst oder die Religion als Organon der Erkenntnis begreift. Aber es sind nicht die Erkenntnisobjekte, die diese Philosophie konstituieren, und es wäre ein Mißverständnis ihres kognitiven Status, die Kontinuität oder Diskontinuität, die Entwicklung, des Ganzen der Philosophie oder die Übergänge und Brüche zwischen Phasen ihrer Entstehung in der Perspektive eines Objektwechsels philosophischer Untersuchungen zu rekonstruieren. Zweifellos ändern sich die Gegenstände der Schellingschen Philosophie. Wesentlich aber ist: die philosophischen Untersuchungsgegenstände sind Felder der Bewährung einer Theorie der Möglichkeiten und Grenzen philosophischer Erkenntnis; als solche sind sie in der Hierarchie philosophischer Begründung dem nachgeordnet, was als Philosophie der Philosophie Priorität beansprucht. Ist eine solche Theorie möglichen Wissens transzendental zu nennen, dann bleibt Schellings Philosophie im Wandel materialer Aussagen - bis in die spätere Selbstkritik ihrer Anfänge - Transzendentalphilosophie. Ihr Thema sind „Selbstverhältnisse" 1 des Subjekts der Erkenntnis, mögen ihre Antworten auf die Leitfrage nach den Chancen einer Konstruktion der Welt auch unterschiedlich ausfallen.

1.4.1.

Philosophie der Philosophie

In ihren Anfängen systematische Konstruktion der Möglichkeits- und Notwendigkeitsbedingungen von Erkenntnis, Wissen und Wahrheit, entwickelt sich Schellings Philosophie immer mehr zur genetischen Konstruktion „aller innerhalb 1

Vgl. zu diesem Problem: D. Henrich, Selbstverhältnisse. Gedanken und Auslegungen zu den Grundlagen der klassischen deutschen Philosophie, Stuttgart 1982. Henrich unterscheidet „das Selbstverhältnis des sittlichen Bewußtseins, [. . .] das

59

der Philosophie liegenden Möglichkeiten"2. Es sei, stellt Schelling in seiner Hinführung zu einer „Definition der Philosophie" fest, „die wahre Grundlage der Philosophie nicht eine wissenschaftliche, wohl aber eine historische". Durch seine Entwicklung der Geschichte der Philosophie wie des eigenen Systems seien die „Schwierigkeiten, die man im Anfang der Philosophie findet, eine Definition der Philosophie zu geben", nicht „bloß gehoben, sondern auch erklärt". Schellings Definition besteht in Abgrenzungen und in einer programmatischen Erklärung: „Die Philosophie hat nichts vor sich wie die anderen Wissenschaften; die Philosophie ist es aber, welche den Inhalt aller anderen Wissenschaften genau abgrenzt und dadurch ihre Definition gibt. Die Philosophie aber hat keine Wissenschaft vor sich, ebensowenig hat sie ein Prius, das schon ein unmittelbar Gewisses wäre; ihr Princip als ein erkanntes ist ferst) in ihrem Ende. Sie hat daher keinen gegebenen teiminus a quo. Sie hat in ihrem Anfang eigentlich nur einen terminus ad quem. Aber dieser ist als solcher ein bloß gewollter. Die erste Definition der Philosophie kann daher nur die Erklärung oder der Ausdruck eines Wollens sein. Damit wird allein jener Cirkel abgeschnitten."3 Dieser Versuch einer Realdefinition mittels einer genetischen Definition führt zu einer Existenzbehauptung, die sich letztlich als Postulat erweist. Immer wieder stößt Schellings Reflexion über die Geltung philosophischen Wissens an die Grenzen der Voraussetzungslosigkeit. Je weiter er sich von den Begründungen transzendentaler Erkenntniskritik im Sinne Kants und der eigenen früheren Verweisung der Philosophie auf jene Realität, die Gegenstand der Aussagen der Wissenschaften ist, entfernt, um so größer das Dilemma, welches aus der erwähnten Definition der Philosophie folgt : „ [ . . . ] in formeller Hinsicht ist die positive Philosophie eine vom Anfang bis zum Ende freie, zwischen Wissen und Nichtwissen schwebende Wissenschaft."'1 Es sind Aporien des Idealismus, d. h. der Konstruktion der Gegenstände der Erkenntnis allein im Bewußtsein, die sich hier einstellen. Die Ansprüche an die Philosophie übersteigen ihre Leistungsfähigkeit. Der Anspruch lautet: „Philosophie ist also = Streben nach Erkenntnis des allgemeinen Zusammenhangs, und sie strebt notwendig und ihrer Natur gemäß nach dem System, sodaß sie das Ziel nur im System und zwar nur im allgemeinen System erreicht."5 Welchen allgemeinen Zusammenhang hat ein System im Blick, welches 1800 als System des transzendentalen Idealismus eine GeSelbstbewußtsein, das Wahrnehmungen und Gedanken begleiten kann und das jede Weltorientierung implizit durchherrscht, das Selbstverhältnis im letzten Ge-

danken von dem, was überhaupt ist" (S. 3). 2

3 4 5

F. W. J. Schelling, Grundlegung der positiven Philosophie. Münchner Vorlesung WS 1832/33 und SS 1833, hrsg. und kommentiert von H. Fuhrmans, Torino 1972 (im folgenden: F. W. J . Schelling, GPPh), S. 407. F. W. J. Schelling, GPPh, S. 406/407. F. W. J. Schelling, GPPh, S. 403. F. W. J. Schelling. GPPh S. 70.

60

schichte des Selbstbewußtseins enthält durch alle Epochen und Momente" 6 , welches als Naturphilosophie „weder Materialismus, noch Spiritualismus, weder Idealismus heissen" sollte und statt dessen „Real-Idealismus" als Namen führte 7 ; welches in der Philosophie der Kunst und der Religion als höchstes Subjekt Gott entdeckt, „in welchem die Philosophie ruht von ihrer Arbeit und gleichsam ihren Sabbat feiert" 8 ; ein System, welches als „geschichtserklärendes"9 kein menschliches Subjekt der Geschichte begreift, sondern „Gott [...] als die unmittelbare Substanz der Welt", und die „Idee eines völlig freien Schöpfers" als seinen „terminus ad quem"10 versteht? Die Philosophie der Philosophie, die sich in diesem Prozeß unterschiedlich zu begründen sucht, spricht analytische Sätze. Damit spricht sie nicht aus, worin das Wesentliche ihrer Selbstbegründung besteht: sie leistet einen normativen Begriff dessen, was Philosophie sein soll und in den Grenzen des Idealismus nicht sein kann. Die Grenzen des Idealismus bestehen in den Schranken, die zu setzen einer Erkenntnis des „ganzen Zusammenhangs" oder des Zusammenhangs des Ganzen nicht erlaubt ist: die Geschichte des Selbstbewußtseins kommt ohne die Geschichte des bestimmten Seins nicht aus, in dem Menschen ihrer selbst und der objektiv-realen Bedingungen ihrer Existenz bewußt werden; die Philosophie kann nicht ruhen von ihrer Arbeit, ohne Arbeit als Bedingung der Erkenntnis zum Thema gehabt zu haben. Der „ganze Zusammenhang" der Schellingschen Philosophie kennt nicht das Übergreifende zwischen Realität und Bewußtsein und verfehlt den Gesamtzusammenhang. 11 Es ist die Naturphilosophie, die - nicht unabhängig von ihrem Gegenstand und vom wissenschaftlichen Wissen über den Gegenstand — dem Gesamtzusammenhang am nächsten kommt und vergleichsweise erfolgreich zugleich Philosophie der Philosophie ist. Hatte die Schrift Über die Möglichkeit einer Form der Philosophie überhaupt 1794 den Wissenschaftsstatus der Philosophie damit erläutert, daß sie „einen bestimmten Inhalt unter einer bestimmten Form" habe 21 , und war Wissenschaft dadurch definiert, sie sei „ein Ganzes, das unter der Form der Einheit steht", und galt schließlich als Prinzip dieser Einheit die von „formaler" und „materialer Form" - also von Form und Inhalt - , so trug die Naturphilosophie diesen Anforderungen am ehesten Rechnung. Bereits in seiner ersten naturphilosophischen Schrift stellte Schelling fest, „daß 6 7 8 9 10 11

12

F. W. J. Schelling, GPPh, S. 183. F. W. J. Schelling, GPPh, S. 193. F. W. J. Schelling, GPPh, S. 202. F. W. J. Schelling, GPPh, S. 211. F. W. J. Schelling, GPPh, S. 212/213. Zum Problem des Gesamtzusammenhanges vgl.: H. H. Holz, Spekulative und materialistische Philosophie, in: Annalen der Internationalen Gesellschaft für dialektische Philosophie, Bd. 1, Köln 1983. - Zur Kritik an Schelling in diesem Zusammenhang vgl.: Ders., Natur und Gehalt spekulativer Sätze, Köln 1980, S. 17ff. F. W. J. Schelling, Über die Möglichkeit einer Form der Philosophie überhaupt, in: Schelling, SW, Bd. 1, a. a. O., S. 89.

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mein Zweck nicht ist, Philosophie auf Naturlehre anzuwenden. Ich kann mir kein betrübteres Taglöhnergeschäft denken als eine solche Anwendung abstrakter Prinzipien auf eine bereits vorhandene empirische Wissenschaft. Mein Zweck ist vielmehr, die Naturwissenschaft selbst erst philosophisch entstehen zu lassen, und meine Philosophie ist selbst nichts anderes als Naturwissenschaft." 13 Das philosophische Programm Schellings drängte seit der Schrift von 1795 Vom Ich als Princip der Philosophie oder über das Unbedingte im menschlichen Wissen auf das scheinbare Paradox, im „Ich" die blofje Selbstbezüglichkeit zu überwinden und das „Unbedingte" zu begründen. Die Auflösung dieses Widerspruchs erschien Schelling als revolutionär. Er wußte, daß die „Absicht" seiner Philosophie „nicht bloß auf eine Reform der Wissenschaft, sondern auf die gänzliche Umkehrung der Principien, d. h. auf eine Revolutionierung derselben, gehe, die man als die zweite mögliche im Gebiete der Philosophie betrachten kann. Die erste erfolgte, da man als Princip alles Wissens Erkentnifj der Objekte aufstellte; bis zu der zweiten Revolution war alle Veränderung nicht Veränderung der Principien selbst, sondern Fortgang von einem Objekt zum andern." Schellings Programm einer Begründung der Philosophie durch eine Philosophie der Philosophie war bereits vor der Naturphilosophie insofern nicht unbedingt, als es eine Voraussetzung und ein Ziel außerhalb der Revolution in der Wissenschaft im Blick hatte. Der „Fortgang von einem Objekt zum andern", also der Fortschritt wissenschaftlicher Erkenntnis, galt ihm als Voraussetzung, die nicht zu dementieren war. Das Ziel war - in deutlicher Nähe zu den revolutionären Prozessen in Frankreich - , „daß, so wie alle Wissenschaften, selbst die empirischen nicht ausgenommenen, immermehr dem Punkt vollendeter Einheit entgegeneilen, auch die Menschheit selbst das Princip der Einheit, das der Geschichte derselben von Anfang an als Regulativ zu Grunde liegt, am Ende als constitutives Gesetz realisieren werde". Mit andern Worten: „. . . alle Ideen müssen sich zuvor im Gebiete des Wissens realisiert haben, ehe sie sich in der Geschichte realisieren; und die Menschheit wird nie eines werden, ehe ihr Wissen zur Einheit gediehen ist"14. Die Ideen zu einer Philosophie der Natur als Einleitung in das Studium dieser Wissenschalt aus dem Jahre 1797 heben nicht zufällig mit der Frage an, „was Philosophie überhaupt sey". Schellings Antwort fällt in den Auflagen von 1797 und 1803 auffällig unterschiedlich aus. 1797: es sei „die Idee von Philosophie nur als Resultat der Philosophie selbst, eine allgemeingültige Philosophie aber ein ruhmloses Hirngespinst". 1803: es sei „die Idee von Philosophie nur das Resultat der Philosophie selbst, welche als eine unendliche Wissenschaft zugleich die Wissenschaft von sich selbst ist". Der normative Charakter und die programmatische Funktion der Bestimmung von Philosophie drücken sich in einer Äußerung der Einleitung aus, die die Aporie einer voraussetzungslosen Begrün13

14

62

F. W. J. Schelling, Ideen zu einer Philosophie der Natur als Einleitung in das Studium dieser Wissenschaft, in: Schelling, SW, Bd. 2, a. a. O., S. 6. F. W. J. Schelling, Vom Ich als Princip der Philosophie oder über das Unbedingte im menschlichen Wissen, in: Schelling, SW, Bd. 1, a. a. O., S. 156-159.

düng noch nicht verdeckt: „Indeß, da man doch von irgend etwas ausgehen muß, setze ich indeß voraus, eine Philosophie der Natur solle die Möglichkeit der Natur, d. h. der gesammten Erfahrungswelt aus Principien ableiten." 15 Das Programm, „welches eine Philosophie der Natur zu lösen hat", ist realistisch. „Die bloße Reflexion also ist eine Geisteskrankheit des Menschen", denn: „Der Mensch ist nicht geboren, um im Kampf gegen das Hirngespinst einer eingebildeten Welt seine Geisteskraft zu verschwenden, sondern einer Welt gegenüber, die auf ihn Einfluß hat, ihre Macht ihn empfinden lägt, und auf die er zurückwirken kann [.. .]."16 Realistisch ist auch die Aufgabe der Philosophie der Philosophie nicht in der Frage gestellt, „ob und wie jener Zusammenhang der Erscheinungen und die Reihe von Ursachen und Wirkungen, die wir Naturlauf nennen, außer uns, sondern wie sie für uns wirklich geworden, wie jenes System und jener Zusammenhang der Erscheinungen den Weg zu unserm Geiste gefunden, und wie sie in unserer Vorstellung die Notwendigkeit erlangt haben, mit welcher sie zu denken wir schlechthin genöthigt sind" 17 . Die Aufgabe stellt Schelling seiner Philosophie so: „Die Natur soll der sichtbare Geist, der Geist die unsichtbare Natur seyn. Hier also, in der absoluten Identität des Geistes in uns und der Natur außer uns, muß sich das Problem, wie eine Natur außer uns möglich sey, auflösen." 18 Der mit der Schrift Erster Entwurf eines Systems der Naturphilosophie. Für Vorlesungen 1799 eingeschlagene Weg in Richtung einer „speculativen Physik"19 führt zunächst nicht in eine Abstraktion von aller Realität der Natur. Gerade die von Schelling seit 1800 herausgegebenen Zeitschriit tür spekulative Physik orientiert das philosophische Programm unerwartet deutlich an jener Realität, die f ü r idealistisches Denken kennzeichnend - als Stellvertreter der objektiven Wirklichkeit fungiert: am Wissen der Wissenschaften. Die „Stuffen des allmählichen Fortschritts zur Theorie, welche die Naturwissenschaft [.. .] durchlaufen hat" 20 , sind notwendige Voraussetzungen der Naturphilosophie. Die Allgemeine Deduction des dynamischen Processes schließt folgerichtig in § 63 mit „allgemeinen Bemerkungen über die Natur des Dynamischen und über das Verhältniß der Naturphilosophie zum Idealismus" 21 . Die Naturphilosophie gebe eine „physikalische Erklärung des Idealismus"; sie beweise, „daß er an den Gränzen der Natur gerade so ausbrechen muß, wie wir ihn in der Person des Menschen ausbrechen 13

F. W. J. Schelling, Ideen zu einer Philosophie der Natur als Einleitung in das Studium dieser Wissenschaft, in: Schelling, SW, Bd. 2, a. a. O., S. 11. 16 Ebenda, S. 12/13. " Ebenda, S. 29/30. 18 Ebenda, S. 56. 19 F. W. J. Schelling, Erster Entwurf eines Systems der Naturphilosophie. Für Vorlesungen, in: Schelling, SW, Bd. 3, a. a. O., S. 3. 29 Zeitschrift für spekulative Physik, Bd. 1, Heft 1, Jena - Leipzig 1800, S. 139 (Reprint: Hildesheim 1969). 21 Zeitschrift für spekulative Physik, Bd. 1, Heft 2, a. a. O., S. 83.

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sehen". Zweiflern an der Philosophie sei deshalb zuzurufen„Kommet her zur Physik, und erkennet das Wahre!" 22 Die spätidealistische Rezeption des sogenannten Deutschen Idealismus hat in die philosophiehistorische Überlieferung einen Idealismus-Begriff eingeführt, der wesentliche Elemente klassisch-idealistischen Selbstverständnisses überlagertund verfremdet hat. Ihre Sicht, Idealismus sei allein Konstitutionstheorie, war Kant und war Schelling keineswegs geläufig. Die Allgemeine Deduction argumentiert nachdrücklich zurückhaltend; sie bindet das Problem der Konstitution zurück an das der Determination durch gegenständliche Wirklichkeit: „Der Idealist hat Recht, wenn er die Vernunft zum Selbstschöpfer von allem macht, denn dieß ist in der Natur selbst gegründet - er hat die eigne Intention der Natur mit dem Menschen für sich, aber eben weil es die Intention der Natur ist - (wenn man nur sagen dürfte, weil die Natur darum weiß, daß der Mensch auf solcher Art sich von ihr losreißt!) - wird jener Idealismus selbst wieder zum Schein; er wird selbst etwas Erklärbares — und damit fällt die theoretische Realität des Idealismus zusammen."23 Die Naturforschung, die die Zeitschriit für spekulative Physik zu Wort kommen läßt, hat in Schellings Naturphilosophie einen Alliierten wahrgenommen. Steffens' Rezension von drei Naturphilosophie-Schriften Schellings aus den Jahren 1798/99 eröffnet den ersten Band der Zeitschrift mit Reflexionen über die Rolle der Philosophie in einer theoriegeleiteten wissenschaftlichen Empirie. Naturforschung geht auf Entdeckungen, „aber was ich entdecke, darauf muß mich schon vorher ein Schluß geführt haben, ich will in der Natur das mir nicht Unbekannte, aber Versteckte aufdecken". Im Gegenzug zu empiristischen und induktivistischen Mißverständnissen empirischer Naturwissenschaft fordert Steffens dazu auf, die Naturforschung auf allgemeine Gesetze der Entwicklung der Natur zu orientieren, auf den notwendigen Zusammenhang der Naturgesetze, der „den Naturforschern eine Norm für alle ihre Untersuchungen darböte". Die von der Philosophie der Philosophie anvisierte Revolution der Prinzipien philosophischer Erkenntnis führt auch für Steffens konsequent dazu, „daß ein solches Unternehmen eine totale Reform des jetzigen Naturstudiums herbeyführen müßte. In einer solchen Wissenschaft würden alle jene Eintheilungen des Naturstudiums in Physik, Chemie, Physiologie etc. wegfallen, denn ihr Zweck würde eben Vereinigung aller dieser Zweige unter höhern Principien seyn."24 Daß dieses Programm innerhalb der Naturwissenschaften wenig Aussicht auf Durchsetzung hatte, soll später erwähnt werden. Innerhalb der Naturphilosophie ist es in dem Maße erfolgreich, wie es der Realitätserfahrung der Naturwissenschaften verbunden bleibt. Selbst noch nach der identitätsphilosophischen Wende der Schellingschen Theorie bleibt die Vermittlung von Konstruktion und Er22 23 2