Geschichte des bundesdeutschen PEN-Zentrums von 1951 bis 1990 [Reprint 2013 ed.] 9783110910650, 9783484350984

What began in 1921 as an amicable dining club in London is today the only international writers' association in exi

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German Pages 600 Year 2003

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Table of contents :
Siglen
Vorbemerkung
A. Der PEN (Bundesrepublik) in den 50er Jahren: Von der Gründung zur internationalen Profilierung
I. Rekapitulation: Frieden und Freiheit
1. Die »Affäre« Johannes R. Becher
2. Trennungen über Trennungen
3. Die tatsächliche Trennung: Düsseldorf
II. Über die Entstehung politischer Ereignisse
1. Zwei westliche Protagonisten
2. »Blutmäßig viel Sinn für nationale Würde«. Zur moralischen Qualifikation westlicher Aktanten
III. Nach der Sezession: Das Zentrum muß laufen lernen
1. Eine erste Gründungsversammlung: Darmstadt, Dezember 1951
2. Internationale Anerkennung mit Ecken und Kanten: Paris, März 1952
3. Versuch internationaler Selbstdarstellung: Nizza, Juni 1952
4. Noch eine Gründungsversammlung: Darmstadt, Dezember 1952
5. Klärung der Bezeichnungen: Dublin, Juni 1953
6. Die erste ›ordentliche‹ Sitzung: München, April 1954
IV. Beziehungen zu anderen Zentren: Ein mühsamer Aufbau
1. PEN International
2. PEN-Zentrum Ost und West
3. PEN-Zentrum Deutscher Autoren im Ausland
4. Der internationale PEN-Kongreß 1954: Deutsche Empfindlichkeiten?
V. Der Clubcharakter in den 50er Jahren
1. Wohnzimmerverein
2. »Der PEN ist doch ein Freundschaftsclub«
3. Politisches Nicht-Engagement
4. »Schuß aus der Intrigenecke«
VI. Internationale Akzeptanz und Binnen-Einbruch: 1955-1960
1. Ein kurzes Atemholen: »Bulganins Lächeln«
2. Nach Ungarn: »die Bereitschaft Entschliessungen zu formulieren«
3. Der internationale PEN-Kongreß in Frankfurt
B. Die 60er Jahre: Das Ende der Versteinerungen
I. Writers in Prison
II. Der Mauerbau und die »Pflichten« des PEN
1. 1961 – vor der Mauer
2. 1961 – nach der Mauer
III Zwischenpräsidien: 1962-1969
1. Der PEN und die Spiegel-Affäre
2. Schritte zur Koexistenz: »Den guten Willen haben wir«
3. Tod einer Utopie: 1968 und das Ende des Prager Frühlings
IV. Beziehungen zu anderen Institutionen
1. Der ständige Verbindungsausschuß
2. Die PEN-Altvorderen über die Gruppe 47 und ihre »kläglichen Manifeste«
C. Die 70er und 80er Jahre: Konstante Arbeit mit geringfügigen Pannen
I. »Ostpolitik« auch im PEN: Rasante Politisierung
1. Bolls Präsidentschaft: Radikalität, Empfindlichkeit und »Kölner Lakonie«
2. Koch und Kesten: Organisationstalent und ›revolutionäres Kaffeehaus‹
3. Der Fall Amalrik: Öffentliche Konfrontation der ›jungen Linken‹ mit dem PEN-›Establishment‹
4. Krisenmanagement ohne Ende
II. Angekommen: Der Clubcharakter in den 70er und 80er Jahren
1. Zuwahl von Politikern. Die Affäre um Hans Maier
2. Zur Frage öffentlicher politischer Erklärungen
3. Ein Abbruch: Die Mandel-Affäre 1977
III. Versuche zur Re-Literarisierung des PEN
1. Von »Toleranz und Transparenz« zur Langeweile: Walter Jens’ Präsidentschaft
2. Agieren des Clubs im politischen Feld
3. Glatte Routine (1983-1988)
IV. Beziehungen zu anderen Clubs
1. Die Internationalen PEN-Zentren
2. Das PEN-Zentrum DDR
V. »Politische Ereignisse, die einen sprachlos sein lassen«: Der Anfang eines mühsamen Einigungsprozesses (1989-1990)
D. Anhänge
I. Chronik des PEN-Zentrums Bundesrepublik (1946-1998)
II. Literaturverzeichnis
III. Chronologische Liste der zitierten Tagespresse
IV. Tabellen zur Mitgliederstatistik (Raphaela Tautz und Rea Triyandafilidis)
V. Namenregister
VI. Dank
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Geschichte des bundesdeutschen PEN-Zentrums von 1951 bis 1990 [Reprint 2013 ed.]
 9783110910650, 9783484350984

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STUDIEN UND TEXTE ZUR SOZIALGESCHICHTE DER LITERATUR

Herausgegeben von Wolfgang Frühwald, Georg Jäger, Dieter Langewiesche, Alberto Martino, Rainer Wohlfeil

Band 98

Sven Hanuschek

Geschichte des bundesdeutschen PEN-Zentrums von 1951 bis 1990

Max Niemeyer Verlag Tübingen 2004

Gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft

Redaktion

des Bandes: Georg Jäger

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. ISBN 3-484-35098-9

ISSN 0174-4410

© Max Niemeyer Verlag GmbH, Tübingen 2004 http://www.niemeyer.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Satz und Druck: Memminger MedienCentrum, Memmingen Einband: Buchbinderei Geiger, Ammerbuch

Inhaltsverzeichnis

Siglen Vorbemerkung

VIII 1

A. Der PEN (Bundesrepublik) in den 50er Jahren: Von der Gründung zur internationalen Profilierung I. Rekapitulation: Frieden und Freiheit 1. Die »Affäre« Johannes R. Becher 2. Trennungen über Trennungen 3. Die tatsächliche Trennung: Düsseldorf II. Über die Entstehung politischer Ereignisse 1. Zwei westliche Protagonisten 2. »Blutmäßig viel Sinn für nationale Würde«. Zur moralischen Qualifikation westlicher Aktanten a) Karl Friedrich Borée b) Kasimir Edschmid III. Nach der Sezession: Das Zentrum muß laufen lernen 1. Eine erste Gründungsversammlung: Darmstadt, Dezember 1951 . . 2. Internationale Anerkennung mit Ecken und Kanten: Paris, März 1952 3. Versuch internationaler Selbstdarstellung: Nizza, Juni 1952 . . . . 4. Noch eine Gründungsversammlung: Darmstadt, Dezember 1952 . . 5. Klärung der Bezeichnungen: Dublin, Juni 1953 6. Die erste >ordentliche< Sitzung: München, April 1954 IV. Beziehungen zu anderen Zentren: Ein mühsamer Aufbau 1. PEN International 2. PEN-Zentrum Ost und West 3. PEN-Zentrum Deutscher Autoren im Ausland 4. Der internationale PEN-Kongreß 1954: Deutsche Empfindlichkeiten? V. Der Clubcharakter in den 50er Jahren 1. Wohnzimmerverein 2. »Der PEN ist doch ein Freundschaftsclub« 3. Politisches Nicht-Engagement 4. »Schuß aus der Intrigenecke«

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VI. Internationale Akzeptanz und Binnen-Einbruch: 1955-1960 1. Ein kurzes Atemholen: »Bulganins Lächeln« 2. Nach Ungarn: »die Bereitschaft Entschliessungen zu formulieren« 3. Der internationale PEN-Kongreß in Frankfurt

B.

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Die 60er Jahre: Das Ende der Versteinerungen

I. Writers in Prison II. Der Mauerbau und die »Pflichten« des PEN 1. 1961-vor der Mauer 2. 1961 - nach der Mauer III Zwischenpräsidien: 1962-1969 1. Der PEN und die Spiegel-Affäre 2. Schritte zur Koexistenz: »Den guten Willen haben wir« 3. Tod einer Utopie: 1968 und das Ende des Prager Frühlings . . . . IV. Beziehungen zu anderen Institutionen 1. Der ständige Verbindungsausschuß 2. Die PEN-Altvorderen über die Gruppe 47 und ihre »kläglichen Manifeste«

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C. Die 70er und 80er Jahre: Konstante Arbeit mit geringfügigen Pannen I. »Ostpolitik« auch im PEN: Rasante Politisierung 1. Bolls Präsidentschaft: Radikalität, Empfindlichkeit und »Kölner Lakonie« 2. Koch und Kesten: Organisationstalent und »revolutionäres Kaffeehaus< 3. Der Fall Amalrik: Öffentliche Konfrontation der >jungen Linkern mit dem PEN->Establishment< 4. Krisenmanagement ohne Ende II. Angekommen: Der Clubcharakter in den 70er und 80er Jahren . . . . 1. Zuwahl von Politikern. Die Affäre um Hans Maier 2. Zur Frage öffentlicher politischer Erklärungen 3. Ein Abbruch: Die Mandel-Affäre 1977 III. Versuche zur Re-Literarisierung des PEN 1. Von »Toleranz und Transparenz« zur Langeweile: Walter Jens' Präsidentschaft a) Literarische Tagungen b) Die schönste Jahresversammlung c) Die ambitionierteste Jahresversammlung 2. Agieren des Clubs im politischen Feld a) Entspannungspolitik VI

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b) Medienpolitik c) Gegen Terrorismus und Überwachungsstaat. Kriminalpolitische Initiativen Peter-Paul Zahl Datenschutz § 88a d) Atompolitik e) Förderung kultureller Institutionen 3. Glatte Routine (1983-1988) a) Sozialdemokratisches Versöhnlertum gegen die >WendeEinigkeit der Einzelgängen konnte wohl auch durch die spezifische Organisationsform des Clubs erhalten bleiben: Es handelt sich um eine sehr lockere Form des Miteinander, um sparsame Interaktion. Es gibt nationale und internationale Jahresversammlungen, dazwischen rege Korrespondenz und wenige Treffen der Mitglieder eines Präsidiums; der größte Teil der Clubangehörigen sieht sich maximal einmal im Jahr. Die Einigkeit der allfälligen Erklärungen kann dementsprechend nur durch eine integrationsfähige Allgemeinheit der Formulierungen erreicht werden. Die vorliegende Geschichte des PEN-Zentrums der Bundesrepublik ist aus einem größeren Forschungsprojekt Georg Jägers und Ernst Fischers hervorgegangen, dessen Ziel eine umfassende Geschichtsschreibung aller PEN-Zentren Deutschlands (unter Einschluß des Zentrums deutschsprachiger Autoren im Ausland) ist: Eingebettet in eine diskursanalytische Beschreibung von Selbstbeschreibungen Intellektueller (Georg Jäger) sollen die Clubgeschichten des Weimarer PEN (Ernst Fischer), des PEN-Zentrums deutschsprachiger Autoren im Ausland (Helmut Peitsch), des ostdeutschen (Therese Hörnigk) und westdeutschen PEN von 1951 bis 1990 (Sven Hanuschek) aufgearbeitet werden, dazu die Geschichte der Wiedererrichtung und Spaltung des deutschen PEN 1948 bis 1951 (Christine Malende). In voraussichtlich zwei weiteren Bänden wird also das dieser Darstellung vorgeordnete Erkenntnisinteresse deutlich profiliert werden. Der vorliegende Band bietet, wie der Titel erwarten läßt, zu allererst eine Institutionengeschichte: Die Institution PEN-Zentrum (Bundesrepublik) wird historiographisch aufgearbeitet, ihre Entwicklung vom elitären >Wohnzimmerverein< der

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Robert Neumann: Ein leichtes Leben. Bericht über mich selbst und Zeitgenossen. Berlin und Weimar 1975, S. 75.

50er bis zum großen, repräsentativen Club der 80er Jahre, ihre Verwicklungen in die Zeitgeschichte, ihr Selbstbild und ihre Selbsttäuschungen über vierzig Jahre hinweg. Nun dürfte es kaum ein kollektives Selbstbild, eine kollektive Selbsttäuschung geben; es wird also personifiziert werden müssen, die Entwicklungen, Haltungen, Prozesse werden anhand ihrer Protagonisten beschrieben. Hier nehmen die Mitglieder der PEN-Präsidien oft (freilich nicht durchwegs) eine wichtigere Stellung ein, zuvörderst die Präsidenten und ihre Generalsekretäre. Der bundesdeutsche PEN-Präsident war meist eine Instanz mit Richtlinienkompetenz, die Galions- und Repräsentationsfigur nach außen war. Die Generalsekretäre haben zusammen mit den jeweiligen Geschäftsführerinnen die fortlaufende Arbeit de facto bewältigt; gelegentlich waren sie dadurch für das Profil der Institution sogar wichtiger, in den internen Entscheidungsstrukturen mächtiger als die jeweiligen Präsidenten. 5 Die Tempi der Darstellung müssen sehr unterschiedlich sein. Einzelne Entwicklungen, größere Zusammenhänge und Zeiträume können zusammengezogen oder lakonisch angedeutet werden. Nachdem es sich auch um mentalitätsgeschichtliche Prozesse handelt, können aber zumal in den 50er Jahren einzelne Haltungen und Argumentationsfiguren der Protagonisten nur verstanden und (durch die Leser) bewertet werden, indem über den eigentlichen Zeitraum der Darstellung hinaus >Vorgeschichten< miterzählt werden; die harsche, hochmoralische Haltung einiger Protagonisten im Sezessionsprozeß der beiden deutschen PEN-Zentren 1950/1951 ist erst vor den verschiedenen Graden des Arrangements mit dem oder des Widerstands gegen das Regime im >Dritten Reich< zu beurteilen (vgl. Α. II. 2.). Anhand der Geschichte dieser Schriftstellervereinigung läßt sich die (äußere wie innere) Geschichte der Bundesrepublik nachvollziehen. Vom Kalten Krieg über den Mauerbau, die Spiegel-Affäre und 1968 bis zur deutschen Einheit führt der PEN die Debatten der Zeit, mal findet er erstmals die gültigen Begriffe, mal diskutiert er hinterdrein. Es gibt Höhepunkte wie den Ausdruck der >Wir sind wieder werFachmann< mit seiner ganzen Person einsteht; er wird sein Augenmerk auf Zusammenhänge richten, die sich häufig einem fachspezifischen Blick entziehen und wird so zum >Fachmann für das Allgemeine^ eine Rolle, der Schriftsteller idealtypisch nachkommen. 8 Und die Literatur? Wo bleibt die Literatur bei diesem Club der Schriftsteller? Sie führt in diesem Band eine Randexistenz, trotz zahlreicher literarischer Veranstaltungen auf Kongressen und Jahresversammlungen. Bei den wenigsten Autoren wäre hier eine Einheit zu konstatieren: Hervorragende intellektuelle Debatter müssen nicht gerade über ein herausragendes belletristisches Werk verfügen, herausra-

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Jutta Schlich: Geschichte(n) des Begriffs >Intellektuelleunentfremdeten< Schriftstellerberufs:9 Wir hören den Schriftstellern zu, weil sie sich durch ihr Œuvre legitimiert haben, und der PEN zeichnet sich via Zuwahlverfahren ja durch die Behauptung aus, nur Autoren mit einem nennenswerten Werk würden aufgenommen. In summa wirft die vorliegende Darstellung auf die literaturwissenschaftlich wie historiographisch weidlich bearbeiteten Jahre seit Kriegsende Blicke aus ungewohnten Perspektiven; zu allererst aber auf die unbekannte Institution PEN, über die alle Jahre wieder in der Tagespresse die immergleichen Bilder in Umlauf gebracht werden. Angelsbruck, am 2. Todestag Walter Schmieles

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Zu diesem Punkt vgl. Britta Scheidelers Ausführungen zu Georg Jägers Aufsatz: Kommentar und Kritik. In: IASL Diskussionsforum online: Geschichte und Kritik der Intellektuellen. Moderation B.S., unter: http://www.iasl.uni-muenchen.de/discuss/lisforen/scheidel.htm

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So ein Bericht ist eine gefährliche Sache. Kaum daß man ihn geschrieben hat, wird er die Feldforschung und kehrt ein Eigenleben hervor. Man selbst ist nicht mehr imstande, sich das, was man getan hat, noch in einer anderen Form zu vergegenwärtigen. Was man erlebt hat, steht unverrückbar fest. [...] Forschungsgremien gehen normalerweise davon aus, daß die Dinge sich in geradliniger Entsprechung zu dem Programm entwickeln, das der Forschende entwirft. Der Ethnograph ist allwissend und durchgängig kompetent, eine gutgeölte Untersuchungsmaschine. Jeder Ethnologe weiß indes, daß Forschungsprojekte Fiktionen sind. Sie lassen sich alle auf das einfache Ansinnen reduzieren: »Ich denke, das und das könnte interessant sein. Kriege ich das Geld, um hinzufahren und nachzusehen?« Nigel Barley

Α. Der PEN (Bundesrepublik) in den 50er Jahren: Von der Gründung zur internationalen Profilierung

I. Rekapitulation: Frieden und Freiheit

Für alle Problematisierungen des Kalten Krieges und der Stellung der verschiedenen PEN-Zentren in ihren Staaten, besonders für die oft abenteuerlichen Argumentationsvolten der östlich orientierten Mitglieder, ist ein grundsätzlicher politischer Rahmen festzuhalten. Wilfried Loth hat in seiner Darstellung des Kalten Krieges auf entscheidende Punkte hingewiesen: Beide Großmächte waren nie »in einem Maße von der Gegenseite bedroht, die ein weitreichendes Arrangement ausgeschlossen hätte«, 1 das bedeutet, für beide Seiten ist eine hysterische Haltung zu konstatieren - beide Seiten reagierten eher affektiv denn argumentativ. Eingedenk der aggressiveren Töne der Tagespresse ließe sich der Bildbereich noch erweitern; die »Grenzen zur Simulation sind oft fließend«, heißt es in einem verbreiteten psychologischen Lexikon.2 Ein anderer Historiker spricht von einem »fundamentalen gegenseitigen Mißverständnis«.3 Gegenseitige propagandistische Wertungen bezogen sich nicht auf das Kriegsende, sondern auf die ideologischen Fronten von 1930: Dem Westen wurde (Neo-) Faschismus vorgeworfen, das Sowjetsystem galt auch noch unter Chruschtschow und Breschnew als stalinistisches Terror-Regime.4 Der Konflikt eskalierte zum Kalten Krieg, weil die USA der Sowjetunion die nach dem Krieg unausgesprochen zugestandene Sicherheitszone doch noch verweigerten; »strukturell und in ihren Machtmitteln« ständig weit überlegen, bestimmten die USA »den Konfliktverlauf stärker [...] als jede andere Macht.«5 Der Kalte Krieg war kein Konflikt politischer Systeme, verschiedener Lebensarten oder »zwischen zwei im Prinzip gleichrangigen Größen«, sondern 6 zwischen dem prinzipiell eine Vielzahl von Lebensformen und Machtkonfigurationen zulassenden westlichen System und der tendenziell totalitären Verabsolutierung einer dieser Möglichkeiten im Ostblock, und [darum war...] für die >westlichen< Prinzipien [...] von einer >offenenPolitik< die Nichtexistenz einer Ost-West-Spannung im deutschen Schrifttum proklamiert«, bekanntlich vergebens und zu früh. 7 Das Jahr 1950 wird anderwärts erschöpfend behandelt werden. 8 Johannes R. Becher hatte im Aufbau seine Rede Die gleiche Sprache veröffentlichen lassen, in der er der Literatur die »große erzieherische nationale Aufgabe« zusprach, »eine Literatur zu sein für ganz Deutschland«. Zu begrüßen seien auch Schriftsteller, »die über einen echten, lebenswarmen, volkstümlichen Humor verfügen«. 9 Auch vom »Herz auf dem rechten Fleck« und einem »guten Verstand« ist die Rede. 10 Über solche Zuschreibungen regte sich in der Bundesrepublik niemand auf, wohl aber über Bechers Beschimpfungen: wessen Herz unempfindlich sei gegenüber allem, »was das Volk will«, dem sei nicht zu helfen, mit ihm müsse so verfahren werden, »wie es Menschenfeinde verdienen und wie es Maxim Gorki in dem Satz ausgedrückt hat: >Wenn der Feind sich nicht ergibt, muß er vernichtet werden.Unser Wille zum Frieden, das ist unser [2] Wille zur MachtFalles Becher< fand nicht statt. Die Mitglieder erfuhren nicht einmal den vollen Text des inkriminierten Artikels. Friedmann erklärte laut Protokoll, >mangels Material könne eine Diskussion nicht stattfinden^ Es ist mir nicht recht erfindlich, wie diese noch sehr aufklärungsbedürftige Angelegenheit dann für geeignet befunden wurde, von dem internationalen Komitee geklärt zu werden, das diesen Dingen doch sehr viel ferner steht. Man wollte offenbar dieses heisse Eisen recht schnell loswerden und legte es schnell vor die Londoner Tür. Damit sollte, ich verstehe das recht gut, die Wiesbadener Tagung gerettet werden. Das gelang, aber es war ein sehr kurzlebiger Erfolg. Beheim [-Schwarzbach] hatte, wie ich aus dem Protokoll ersehe, als einziger die Ansicht vertreten, dass man damit einer Entscheidung aus dem Wege ginge. Er behielt recht. Denn nun rückten die verschobenen Entscheidungen heran. Einige Mitglieder erklären, sie seien nicht genügend informiert worden und hätten bei besserer Kenntnis eine ganz andere Stellung eingenommen. In der Ostzone, die zunächst in dem Telegramm Arnold Zweigs eine höchst unfreundliche und geradezu feindliche Stellung bezogen hatte, wird plötzlich die Wiesbadener Tagung als höchst erfreuliches Ereignis proklamiert. Es melden sich die Mitglieder, die nicht in Wiesbaden erschienen waren und finden, die Sache sei so wichtig, dass sie unbedingt in einer neuen Tagung dazu Stellung nehmen müssten. Und in dieser Lage soll das internationale Komitee sich äussern. [2] Was für eine Art Schiedsspruch wird aber erwartet? Soll das internationale Komitee erklären, Becher, der soeben einstimmig wiedergewählte Präsident des deutschen PEN sei pen-unwürdig? Das würde doch zugleich eine Desavouierung aller deutschen Mitglieder bedeuten, die an der Tagung

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Friedenthal an Edschmid, 15.2.1951, NLE. Ebd. 15

teilnahmen. Oder soll es sagen, die Sache sei eine Bagatelle? Das dürfte angesichts des vorgelegten Materials nicht ganz leicht fallen. [...] Z u dem Antrag selbst ist zu sagen, dass er a) sogleich über einen Fall Becher, für den gewisses gedrucktes und übersehbares Material vorliegt, hinausgeht und alle Autoren der Ostzone umfasst, was mir unmöglich erscheint und höchstwahrscheinlich auch nicht den Intentionen der Mehrheit der Westzonenmitglieder entspricht; b) nicht, wie es sich gehört hätte, persönlich vor der Tagung vertreten wurde, mit den bekannten Folgen. [...] Z u Bechers Artikel wiederum meine ich, dass sehr wohl >Material für eine Diskussion< vorliegt. Es genügt doch nicht ganz, wenn er erklärt, er habe sich >eisern< an die PEN-Charter gehalten und keinen der Antragsteller gemeint. E r müsste erklären, wen er denn gemeint hat. Und die anderen Ostzonenmitglieder, die soeben noch in der Ostpresse ( A D N vom 6.) feierlich erklärt haben, dass Meinungsverschiedenheiten mit geistigen Mitteln fair diskutiert werden muessenEntgleisungen< wie die Bechers hinwegsehen will. Verschiedene Mitglieder scheinen dieser Ansicht zu sein. Aber dann kann man doch erst recht nicht an das internationale Komitee mit einer Bitte um Entscheidung herantreten. N a c h Friedenthal besuchte auch Sternfeld O u l d und berichtete d e s s e n M e i n u n g an Edschmid; w i e d e r gab er Instruktionen, jetzt für e i n e n Tagungsbericht an d e n Internationalen Generalsekretär. Er solle dabei die Q u e r e l e n getrennt v o n d e n eigentlic h e n Aktivitäten berichten, damit endlich einmal etwas Positives über das n e u e Z e n t r u m zu hören sei: » E r w a e h n e n Sie die Aktivitaet in der A n g e l e g e n h e i t d e s Schund- und Schmutzgesetzes, die D i s k u s s i o n mit den Filmleuten, die R e d e D o e b lins und, ganz kurz, die anderen E m p f a e n g e . « 3 1 Im Februar 1951 artikulierte Sternfeld erneut seine Befürchtung, der deutsche Konflikt k ö n n e sich auswachsen und auch d e n Internationalen P E N befallen. Er hielt es für möglich, daß sich in der nächsten Exekutivsitzung Silone, Koestler und R o m a i n s am Fall B e c h e r beteiligten; als mögliche Spätfolge sah er die G r ü n d u n g einer literarisch-kommunistischen Internationale an - was nicht schlimm sei, solange sie sich nur hinter d e m E i s e r n e n Vorhang abspielen würde. A b e r 3 2 nach meiner Ansicht wuerde dann sofort eine Spaltung auch in allen westlichen P.E.N.Zentren eintreten. Der kommunistische Einfluss in den Zentren Frankreichs, Belgiens, Hollands, Italiens [2] ist zwar bisher in der Praxis ohne Bedeutung geblieben, aber es waere falsch, ihn als quantité négligeable abzutun, und wir alle wissen ja, wie aktiv die Kollegen von der Ultralinken sind. Man wuerde also mit einer Spaltung in fast allen Zentren zu rechnen haben. Ich bin sogar ueberzeugt, dass derartige Plaene in den Koepfen vieler Kommunisten schwirren, sich Russland aber diesen Trumpf als letzte Karte in Reserve haelt. Es kann sein, dass dieser Trumpf ausgespielt wird, wenn der Fall Becher von Koestler, Silone und den Amerikanern vor die Exekutive gebracht wird.

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Sternfeld an Edschmid, 24.1.1951, NLE. Sternfeld an Kästner, n. dat., S. 1; Beilage zu Sternfeld an Edschmid, 11.2.1951, NLE.

Das deutsche Zentrum sollte alles tun, um erstens einen solchen Schritt moeglichst zu vermeiden, zweitens aber um, falls er dennoch erfolgt, selbst unbelastet dazustehen.

Bei der Exekutive in London im April 1951 war Friedenthal anwesend, seine Prognose der Rücküberweisung des Falles Becher an das deutsche Zentrum bestätigte sich, zumal Becher vorher einen Brief nach London geschickt hatte, in dem er für sich und die anderen ostdeutschen Mitglieder den Wunsch nach Einheit bestärkte; sein Brief wurde von Ould in der Sitzung verlesen. »Das deutsche Zentrum hat die volle Autonomie zugebilligt erhalten, was nicht ganz leicht durchzusetzen war. Das internationale Komitee kann doch nun nicht bei erster Gelegenheit in die Angelegenheiten des Zentrums eingreifen«.33 Den Diskussionsverlauf schildert ein Brief Robert Neumanns an Kästner; demnach kam die stärkste Unterstützung für die Rückverweisung vom amerikanischen Repräsentanten, »der sagte, er verstehe nicht, was denn eigentlich das Becher vorgeworfene Verbrechen sei; er habe einfach einen starken Ausdruck gebraucht, wie das im politischen Leben gang und gäbe ist.«34 Kästner wollte seine westlichen PEN-Kollegen beschwichtigen und versuchte, Becher eine goldene Brücke zu bauen, bot ihm die Chance zu humanistischem Engagement gewissermaßen als Ausgleich zu seinen Äußerungen: 35 Am 11. November 1950, morgens gegen 8,30, wurde der Westberliner Volkshochschuldozent Alfred Weiland [...] auf seinem täglichen Gang zum Postamt niedergeschlagen und in einen bereitgestellten Personenwagen geworfen, der Richtung Brandenburger Tor nach dem Berliner Ostsektor weiterfuhr. Weiland hat, als alter Sozialist, im Dritten Reich im Kz gesessen. Wenn es Ihnen gelänge, an Hand dieser Fakten Näheres über die Angelegenheit zu erfahren und mir als Ihrem PEN-Kollegen mitzuteilen, so wäre das bestimmt in mancher Hinsicht sehr nützlich.

Becher versicherte Kästner, er werde dem Fall nachgehen. 36 Während Kästner dieses Gesprächsangebot machte, gingen Edschmids Überlegungen in eine ganz andere Richtung: Könnte man nicht Becher aus dem Präsidium entfernen, ohne ihn darum zu bitten - indem man eine briefliche Abstimmung durchführen ließe, an der sich nun alle PEN-Mitglieder beteiligen könnten? Die Mehrheitsverhältnisse allein würden zu einem eindeutigen Ergebnis führen. Kästner reagierte verhalten positiv:37 Ihr Vorschlag einer schriftlichen Abstimmung scheint das Ei des Kolumbus zu sein. Oder die Büchse der Pandora. Vorher weiß man das, fürchte ich, nicht. Statutenmäßig sollte das Verfahren, wenn die Vorstandsmitglieder in der Majoraität dafür stimmen, durchführbar sein. Aber - welche Fragen an die Mitglieder? Nur Alternativfragen? Oder auch andere,

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Friedenthal an Edschmid, 9.4.1951, NLE. Neumann an Kästner, 11.4.1951, S. 1; Abschrift in NLE. Unterlagen zum Fall Weiland in NLP. - Das folgende Zitat in Kästner an Becher, 14.4.1951, NLE. Kästner an Edschmid, 30.4.1951, S. 1; NLE. Kästner an Edschmid, 17.4.1951, NLE. 17

zur Vermittlung drängende? Oder beides, des Gesamtbildes wegen, das wir ja nicht kennen? Laut geworden sind ja nur die Extremisten. Wie groß ist nun die Zahl der Vernünftigen? Sollte sie, was ich nicht ohne weiteres glaube, sehr gering sein, so wäre das berühmte >Tableau< da, und nichts wäre dann zu reparieren. Deswegen: Was hielten Sie davon, wenn die Umfrage, bei allem Ernst und Nachdruck, nicht als endgültige Abstimmung, sondern als unerläßliche Informationsquelle und Basis für den Kongreß hingestellt würde? Dann könnte man auch Alternativfragen und andere mischen. Dann brauchten wir auch nicht zu klären, ob Ein= oder Zweidrittelmehrheit entscheidet. Dann brauchten wir auch nicht zu befürchten, daß die jeweils überstimmte Minderheit hinterdrein das Verfahren als ungültig angriffe, mit irgendeinem formalistischen oder Präzedenzdreh. Dann hätten wir in Lausanne Karten in der Hand, die man uns mit raffinierten Verhandlungstricks nicht einfach wegeskamotieren könnte, höchstens im Plenum, nicht aber in der vorbereitenden Exekutivsitzung oder in einer [2] von unseren Delegierten erbetenen Sondersitzung der Exekutive.

Am 19. April 1951 traf Kästner sich in München mit Friedmann, dem Schatzmeister Johannes Tralow und dem früheren Generalsekretär Ernst Penzoldt. Er stellte ihnen Edschmids Abstimmungsplan wie seine eigene Modifikation vor, mit dem Ergebnis, daß doch besser Becher selbst gebeten werden sollte, von sich aus zurückzutreten und den Platz für ein politisch weniger exponiertes Ost-Mitglied (wie etwa Bernhard Kellermann oder Anna Seghers) zu räumen. Tralow wußte, daß Becher seinen Geburtstag in München feiern würde, einen Vortrag im Münchner Kulturbund halten und auch mit Georg Schwarz und Willi Weismann konferieren wollte.38 Daraufhin beschloß das Quartett, Friedmann solle Becher - aus München nach München - schreiben, ihm im Interesse des Clubs den Rücktritt nahelegen. »Wollen wir hoffen, daß Becher von sich aus einlenkt, und wäre es auch nur deswegen, weil er damit rechnen muß, daß die Abstimmung seinen Rücktritt sowieso ergäbe.«39 Daraus ergab sich eine festgefahrene Situation wechselseitiger Austrittsdrohungen. Becher wollte der Aufforderung nicht nachkommen, weil er »>seine< PEN= Kollegen nicht in der Hand habe und sie womöglich unerwünschte Konsequenzen ziehen könnten, d.h., vermute ich, in corpore austreten könnten.« 40 Stattdessen schlug Becher ein Ehrengerichtsverfahren gegen sich selbst vor, zur Beruhigung der Westmitglieder, ein Vorschlag, dessen Sinn Kästner nicht einleuchten wollte. Er traf sich am 25.4.1951 mit Becher während dessen München-Aufenthalt bei dem Verleger Kurt Desch, und erklärte Becher, wenn er im Präsidium bliebe, würden sicher mehr Westmitglieder austreten als im anderen Falle Ostmitglieder; das Ehrengerichtsverfahren sei sinnlos, man müsse sich »ein Gesamtbild schaffen, statt einen Ausschuß einzusetzen. Wir hätten einen klaren Überblick über die öffentliche Mei-

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Wohl über die Broschüre Wir heißen euch hoffen, erschienen in Weismanns Verlag und herausgegeben von Georg Schwarz und Carl August Weber. Die Autoren des Heftes beziehen insgesamt einen neutralen Standpunkt zwischen den Blöcken; unter den Beiträgern sind neben Becher auch Hermlin, Seghers und Zweig als Ost-Autoren. Kästner an Edschmid, 20.4.1951, S.2; NLE. Kästner an Edschmid, späterer Brief vom 20.4.1951, S. 1; NLE.

nung< im deutschen Zentrum, schon hinsichtlich des Lausanner Kongresses, bitter nötig.«41 Auch Becher wurde zu dem Versuch, ein neues Präsidium schriftlich wählen zu lassen, befragt, er reagierte zunächst mit Ironie: Das Verfahren sei »merkwürdig«, und »dieses Verfahren damit zu begründen, dass man sich die Kritik derer erspart, die bei einer Tagung nicht anwesend sind, würde konsequenterweise dazu führen, überhaupt auf Tagungen zu verzichten und das Präsidium immer schriftlich wählen zu lassen.«42 Auch sei in Wiesbaden das Präsidium für eine bestimmte Zeit gewählt worden; die vorzeitige Neuwahl sei kaum satzungsgemäß, kurzum: »Sie wissen, was Sie tun.«43 Edschmid setzte diesen Versuch einer schriftlichen Neuwahl tatsächlich in Gang. Auch Borée wurde tätig und setzte eine enigmatische Zeitungsmeldung in die Welt: er schlug aus unerfindlichen Gründen - »Um die Formalitäten abzukürzen« - vor, drei Kandidaten »zur Auswahl an seine Anschrift mitzuteilen. Borée wird anschließend die fünf meistgenannten Kandidaten bekanntgeben.« 44 Edschmid schickte Becher aber keine Wahlaufforderung als Mitglied, und er zeigte seinem Präsidiumskollegen das Schreiben nicht vorher, wie Becher das erwartet hätte. Der wechselte daraufhin vom »lieben« zum »sehr geehrten« Herrn Edschmid: Die einzige Möglichkeit, einen neuen Vorstand zu wählen, sei und bleibe eine Mitgliederversammlung mit geheimen Wahlen. »Wenn diese Dinge jetzt in die Öffentlichkeit gelangen sollten und dem PEN-Club daraus neue Schwierigkeiten entstehen, so haben die Autoren dieses Wahlvorgangs einzig und allein die Schuld daran, denn sie wurden rechtzeitig gewarnt.«45 In der Berliner Zeitung wurde das Wahlverfahren aus OstPerspektive kommentiert. 46 Dort hieß es, Becher habe »energisch gegen ein solches Verfahren Einspruch erhoben [...], als er gerüchtweise davon zu hören bekam«; seine zunächst moderate Reaktion wurde oben mitgeteilt. Als Bedenklichkeiten des Verfahrens wurde außerdem zu Recht vermerkt, daß unsichere Kantonisten im Sinne der westlichen Präsiden - keine Wahlaufforderung bekommen hatten; und das Fehlen jeder Kontrollmöglichkeit: Wer überprüfe, ob unliebsame Wahlvorschläge nicht einfach als nicht angekommen fallengelassen würden? Daß die ausführenden PEN-Mitglieder Edschmid und Kästner nicht Einfluß auf die anderen Mitglieder nähmen, in persönlichen Anschreiben? Dann schlug der Zeitungsbericht über die Stränge und verfiel Wahrnehmungsstörungen aus Ost-Perspektive:47 Die Mitglieder des PEN-Zentrums sollen schriftlich festgelegt werden, ob sie funktionieren wie die amerikahörige Clique es befiehlt, und wer nicht seine schriftliche Stimme befehlsgemäß abgibt, hat mit den entsprechenden Weiterungen zu rechnen. Diese Drohung

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Kästner an Edschmid, 27.4.1951, S. 1; NLE. Becher an Edschmid, 9.5.1951, NLE. Ebd. Meldung unter der Rubrik »Kulturnotizen«. In: Die Welt, 26.5.1951. Becher an Edschmid, 28.5.1951, NLE. »Kr.« in: Berliner Zeitung, 3.6.1951. Ebd. 19

ist selbstverständlich in der schriftlichen Abstimmung enthalten, ausgesprochen oder nicht ausgesprochen, aber jedem gegenwärtig, der seine Stimme auf diese Art abgibt.

Da wird also etwas Unausgesprochenes wahrgenommen, das allen klar sei; welche >Weiterungen fällig seien, kann so wenig benannt werden wie die >Drohungum Schlimmeres zu verhüten.Majorisierung< durch den Osten leuchtet nicht ein. Es müssen auch Westmitglieder Becher wiedergewählt haben, und zwar über Tralow hinaus. Als Gäste waren Friedenthal und der Präsident des österreichischen PEN, Franz Theodor Csokor, gekommen.

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Einladung des Generalsekretärs vom 6.10.1951, DA. Becher an Edschmid, 3.10.1951, NLE. Tralow an Becher, 6.10.1951, NLT. 10 Autoren und die Ehefrauen von Arnold Zweig und Stephan Hermlin. Kästner an Edschmid, 14.8.1951, S. 1; NLE. Borée an Lehmann, 1.10.1951; NLL.

Die geplanten Themen für Düsseldorf: 124 Satzungsänderungen, Abstimmung über die Lausanner Friedens-Resolution, Abstimmung über evtl. Gruppenbildung, und dann erst die Wahl des Vorstands bezw. der Gruppenvorstände. Wichtig scheint mir die Reihenfolge der Punktebehandlung zu sein; aber das in der richtigen psychologischen Folge zu ordnen, hat ja noch etwas Zeit. Das hieß ja wohl, vom Westvorstand war eine Art Sezession schon von vornherein geplant, vielleicht noch gedacht als zwei Gruppen unter einem gemeinsamen Dach mit Teilpräsidien für Ost und West, die aber im Prinzip weiterhin zusammen einen deutschen PEN bilden sollten. Erich Kästner sagte seine Teilnahme im letzten Moment ab; war seine plötzliche »Erkrankung« strategisch? Friedenthal zumindest sprach später wohl mit Bezug auf diese Absenz von »Kästnerei«. 125 Die wichtigste Quelle zur Düsseldorfer Versammlung ist das Protokoll. Es existiert in mehreren textidentischen Abschriften, 11- und 12seitig. 126 Mit der ersten Satzungsänderung sollte begonnen werden, der »Festsetzung eines Minimums von Anwesenden bei Beschlüssen und Wahlen«. 127 Friedmann trug das Problem vor, 128 Becher als weiterer Anwesender des Präsidiums und als Repräsentant der D D R Mitglieder betonte, es sei ihnen an der PEN-Einheit gelegen, »sie seien bereit, dafür auch Opfer zu bringen. >Hätten wir die Majorität, wir würden nicht entfernt daran denken, diese auszunützen. - Wir wünschen nur eines: dass man anständige Gespräche führen kann .. ,Das doppelte Lottchentriviale< Resolution verabschieden, im

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Sinne einer immer neuen Beteuerung, man sei für das, was man bei der Zuwahl ohnehin unterschrieben habe. Die Debatte hatte nochmals versucht, die unterschiedlichen Begriffe zu klären. Vor dem Hintergrund des nicht allzulang vergangenen Zweiten Weltkriegs und des Kalten Krieges scheint es den DDR-Mitgliedern um eine Heraushebung, eine zusätzliche Betonung des Friedenswillens gegangen zu sein: »auch gegenüber FrancoSpanien«, sagte Becher; 1 3 5 »weil die Kriegsgefahr ungeheuer gross ist«, und »Deutschland das Hauptschlachtfeld« wäre (Rudolf Leonhard); 136 ganz die Sprache des Kaken Kriegs schien dagegen Hermlin zu sprechen, der gegen die Londoner Resolution polemisierte, weil deren Begriffsverbindung - Frieden und Freiheit »dem Krieg von beiden Seiten Tür und Tor öffne«. 137 Gemeint war wohl, daß jedes System dem anderen »Freiheit« im eigenen Sinn absprechen und deshalb zum Krieg aufrufen könne; es handelt sich also nicht einmal um eine antiwestliche Polemik. Allerdings war es stets, bis zum Ende der D D R , ein ideologisches Anliegen, »Frieden« und Menschenrechte zu entkoppeln; Hermlin hat diese Sprachregelung noch in den 80er Jahren befolgt. 138 Die BRD-Mitglieder dagegen waren nicht bereit, die Beteuerung des Friedenswillens ihrer Kollegen so zu glauben und hinzunehmen - sie bestätigen also eigentlich Hermlins Dictum: Borée legte die Konfession ab, er »wolle lieber aus dem Leben scheiden als unter einem Regime leben, das seine Freiheit bedrohe«; 139 Friedmann befragte Becher, ob in seiner »Sphäre Dinge geschähen, die gegen den Freiheitsbegriff der Charta stünden, ob er, Becher, sie unterbinden könne, ja ob er überhaupt in der Lage sei, die Regeln der Charta einzuhalten«; 140 Hanns Braun »warnt vor der Auffassung, man könne im Frieden (einem Kirchhofsfrieden) leben unter Verlust der Freiheit«; 141 Hermann Kasack befürchtete eine propagandistische Ausnutzung der Resolution; Martin Beheim-Schwarzbach schließlich meinte, die Diskussion handle überhaupt von einem anderen Thema, der »Freiheit der Meinungsäusserung« 142 - seine Meinung wurde indirekt durch den Redebeitrag Hans Mayers bestätigt, der an Bertolt Brechts Appell für die Freiheit der Meinungsäußerung erinnerte, »mit der Einschränkung allerdings: keine Freiheit für Kriegshetzer«. 143 Die Mißverständlichkeit dieses Appells lag für die Westmitglieder darin, daß sie ihn als Vorwand betrachten konnten, in der D D R beliebig unbequeme Literatur zu verbieten.

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Dass.: 5. Dass.: 6. Ebd. Vgl. Joachim Waither: Sicherungsbereich Literatur. Schriftsteller und Staatssicherheit in der Deutschen Demokratischen Republik. Berlin 1996 (Analysen und Dokumente), S. 803. Protokoll, S.5. Dass.: 5f. Dass.: 7. Ebd. Dass.: 4.

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Trotz dieser durchaus hart geführten Diskussion blieb der PEN hier noch einig: Die Ost-Gruppe hatte die anwesenden Westmitglieder nicht majorisiert, sie war in der Abstimmung unterlegen. Am 24.10. wurde die Tagung mit dem nächsten Tagesordnungspunkt fortgesetzt, diesmal ohne die Anwesenheit von Gästen. Die Neuwahl des Präsidiums stand an, und damit der heikelste Punkt, die Wahl - oder Abwahl - Bechers. Schon vor den Wahlen kommt die Tagung an den Rand, Anlaß war Borées Pamphlet Über Toleranz und Geistesfreiheit. Becher erklärte: »Wenn ein Satz des Dokumentes stimmt, sind wir bereit, alle anderen anzuerkennen.« 144 Stephan Hermlin versuchte, die Schrift Punkt für Punkt zu widerlegen, gegen die Ermahnungen des Präsidenten Friedmann, sich kurz zu fassen - »die Zwischenrufe von hüben und drüben häufen sich, es entsteht ein ziemlicher Tumult«;145 Friedmann drohte, den Saal zu verlassen. Offenbar wurde die Auseinandersetzung abgebrochen, indem Friedmann die Satzungsparagraphen zur Wahl vorlas und die Wahl per Zettel abhalten ließ. Dabei war jeder einzelne Wahlgang aus verschiedenen Gründen merkwürdig: die Gewählten weigerten sich, waren nicht gekommen oder traten bei unklarer Lage zurück, auf der Tagung oder danach. Als geschäftsführender Präsident wurde Johannes Tralow gewählt, gegen die Mitkandidaten Kästner und Friedmann. Wie der letztere erhielt er 11 Stimmen der 23 Anwesenden, und er wurde nicht durch eine weitere (Kampf-) Abstimmung zum Präsidenten, sondern dadurch, daß Friedmann seinen Rücktritt erklärte - er habe sich der Stimme enthalten, und er wollte sich im Unterschied zu Tralow nicht selbst wählen. Als zweiter Präsident wurde Becher wiedergewählt, sehr knapp; er konnte 9 Stimmen auf sich vereinigen, die restlichen 14 verteilten sich auf Kästner, Walter Bauer, Edschmid, Ehm Welk; auch hier gab es eine Stimmenthaltung. 146 Dritter Präsident wurde, noch etwas knapper und mit 9 Stimmenthaltungen, Günther Weisenborn, Schatzmeister mit großem Vorsprung Axel Eggebrecht, Revisoren Martin Beheim-Schwarzbach und Hans-Erich Nossack. Weder Nossack noch Eggebrecht waren überhaupt anwesend. Kasimir Edschmid wurde per Akklamation und einstimmig wiedergewählt, nahm die Wahl aber nicht an; er empfand die Abwahl von Kästner und Friedmann als Mißtrauensvotum. Die Generalsekretärswahl wurde auf Zetteln wiederholt, diesmal enthielten sich 10 Mitglieder, 7 wählten trotz seiner Absage wiederum Edschmid und 5 Hans-Henny Jahnn. Beide wollten die Wahl nicht annehmen, Jahnn nahm sie dann doch an; Hans Mayer unternahm noch einen Versuch, Edschmid und Friedmann ins Präsidium zu integrieren, indem er beantragte, sie per Akklamation

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Dass.: 8. Ebd. Daß die »gestärkten Sezessionskräfte um Borée, Kasack und Beheim-Schwarzbach Wert auf die Wiederwahl Bechers legten, um einen medienwirksamen Vorwand für die Sprengung der Tagung zu haben«, und deshalb etwa durch die Kandidatur Edschmids eine Zersplitterung der westlichen Stimmen erreichen wollten, ist spekulativ. (Friedrich Dieckmann: Deutsche PEN-Geschichten. Eine Akten-Lese. In: Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament 13-14/1996, 22.3.1996, S.42-54, hier S.45).

zum Ehrenpräsidenten bzw. Generalsekretär zu wählen. Edschmid blieb hart: »ich habe bereits vorhin erklärt: undiskutierbar!« 147 Sobald alle Wahlgänge vorüber waren, verließ Edschmid den Saal. Das Protokoll vermerkte: »Inzwischen war Edschmid hinausgegangen, um sein rotes Brillenfutteral zu suchen; erst gegen Schluß der Sitzung kam er wieder in den Saal zurück.«148 Borée folgte ihm auf dem Fuße, erklärte zuvor noch seinen Austritt und beschrieb seine Sicht des Problems:149 Wir sind in der einzigartigen Lage, dass wir einerseits die Charta bejahen müssen, andererseits aber in unserem deutschen Zentrum Leute haben, die auf Grund ihrer totalisierten Ideologien nicht in der Lage sind, den entscheidenden Passus (die Freiheit betreffend) der Charta befolgen zu können, selbst wenn sie menschlich dies tun wollten.

Eine längere Austrittserklärung Borées, in wohlgesetzten Worten und ohne den zitierten Abschnitt, findet sich in Günther Birkenfelds Artikel Klare Entscheidungen.150 Dort handelt es sich eher um eine Beschreibung sozialistischer Argumentationsfinten mit der abschließenden - ja nicht unzutreffenden - These, die ostdeutschen Mitglieder würden wohl nie zum Austritt zu bewegen sein, »weil der PEN für Sie eine Tribüne ist, die Ihnen die Möglichkeit verschafft, zum Westen zu reden.« Der Austritt Borées atmet eine bullige Rechtschaffenheit, fast Stilisiertheit, wie sie sich bei seinem alter ego »Dr. Stein« in Frühling 45 findet: der sei 1933, »in der Epoche der Gleichschaltungen, [...] als einziger gegen die Menge gestanden, hatte gegen eine aufgezwungene Abstimmung opponiert und war hinausgegangen. Man ließ mich gehen, es geschah mir nichts: als ich meinen Mantel anzog, war ich über einen Kreidestrich gesprungen.«151 Becher beantwortete Borées Austrittserklärung mit Zweifeln an dessen Demokratiefähigkeit: schließlich hätten die Ost-Mitglieder sich der schmerzhaften Wahlniederlage über die Lausanner Friedensresolution gefügt, warum dann nicht die BRD-Mitglieder der Präsidentenwahl? - Das Treffen selbst Schloß einigermaßen harmonisch: Der neue PEN-Vorstand erhielt den Auftrag, eine Kommission zu bilden, die sich im Ost- bzw. Westterritorium umsehen sollte bezüglich der vorgeworfenen Menschenrechtsverletzungen; und eine Dankeskür wurde abgeleistet: Tralow dankte Edschmid und Friedmann für ihre Arbeit, Friedmann Kästner, und Becher wollte nochmals Friedmann per Akklamation zum Ehrenpräsidenten wählen lassen, aber der lehnte wiederum ab: »Ich verlasse Sie ohne Spur von Bitterkeit, ich danke Ihnen und: auf Wiedersehen!«152 - Der Bruch ereignete sich also nicht auf dem Treffen selbst, die Westmitglieder haben ihn gewissermaßen hinter den Kulissen in Szene gesetzt, sie »machten [...] endlich die Sezession.«153 147

Protokoll, S.9. Dass.: 10. 149 Ebd. 150 In: Kontakte, November 1951. 151 Karl Friedrich Borée: Frühling 45. Chronik einer Berliner Familie. Darmstadt 1954, S. 157. 152 Protokoll, S.II. 153 Edschmid an Pinner, 20.10.1951, in Ulrike Edschmid (Hg.): »Wir wollen nicht mehr dar148

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In einem mehrseitigen Memorandum, das Richard Friedenthal in englischer Sprache für den neuen Internationalen Generalsekretär David Carver - vorher Schatzmeister des englischen PEN und mit Ould befreundet - geschrieben hat,154 werden weitere, vor allem atmosphärische Details mitgeteilt. Schon an der Sitzordnung sei die kommende Trennung sichtbar gewesen: Es gab keinen runden Tisch, jede Gruppierung saß streng für sich, mit einem Gang in der Mitte, den niemand habe überqueren müssen. Die östliche Gruppe - 1 5 5 marched into the room in almost military fashion, strictly disciplined, and under strict leadership. They had turned up in strength: of the fourteen members in the Soviet zone, eight members had come to Dusseldorf. The undeniable discipline of this group did not fail to impress the Westerners, although they pointed out in their defence, that the Easterners could not afford to refuse the call, if ordered to go, and furthermore, that the members from the East travelled on Government expenses, while the Westerners did not enjoy any facilities.

Warum die westliche Majorität nicht erschienen ist, darüber konnte auch Friedenthal nur Mutmaßungen äußern. Außer den fehlenden Reisemitteln oder Zuschüssen führte er den Unwillen an, sich östlichen Attacken auszusetzen; Unzufriedenheit mit dem Präsidium wegen seines »Appeasement«-Kurses gegenüber Becher; der Austritt von Pechel, Plivier und Birkenfeld, der Autoren mit gleicher Meinung zwar noch nicht zum Austritt, aber doch zur Beobachtung aus der Distanz bewegt habe. Die offizielle Lesart Edschmids, post festum, entsprach seiner vorherigen, daß »infolge Krankheit und wirtschaftlicher Sorgen nur etwa 12 westdeutsche Mitglieder in Düsseldorf sich einfinden konnten«. 156 Friedenthals Bericht machte deutlich, wie die Vorstandswahlen auf die Sezessionisten gewirkt haben: die Wahlen »resulted in an all-out fight of the Easterners for full control«.157 Ihr Ärger darüber, entgegen Bechers anfänglicher Versicherung, man wolle sie nicht majorisieren, dürfte der endgültige Auslöser für den Vollzug der Spaltung gewesen sein. 158

über reden«. Erna Pinner und Kasimir Edschmid - Eine Geschichte in Briefen. München 1999, S. 114. 154 Friedenthal-Memorandum, datiert 2.3.1952, NLE. 155 Ders.: 1. 156 Edschmid an Wilhelm Hausenstein, 1.11.1951, NLE. 157 Friedenthal an Carver, 2.3.1952, S. 1; NLE. 158 Für ein »tiefe[s] Unbehagen« oder »Mißbehagen« (Dieckmann 1996: 44) gegenüber dem neugegründeten Zentrum aus London gibt es keinen Beleg, und daß dieses Mißbehagen besonders groß gewesen sei, weil die Spaltung als »Dissens zwischen Emigranten und Nicht-Emigranten erscheinen konnte«, ist eine Insinuation Dieckmanns (ders.: 45). Das neue Zentrum erhielt entscheidende Unterstützung durch Friedenthal und Sternfeld, und Bechers Brandrede richtete sich ja vor allem gegen einen Emigranten, während der neue Präsident des Zentrums Deutschland bestenfalls zur Inneren Emigration gehörte. Dieckmann kommentiert zutreffend an späterer Stelle in seinem Aufsatz die »operative Arbeitsvereinbarung« von Staatssicherheit und K G B zur »Ausforschung und Beeinflussung des Internationalen PEN-Clubs« von 1978: die »Vorstellung, man könne »durch das Einbringen entsprechender Resolutionen und Proteste Exilgruppen im Internationalen PEN liquidieren bzw. zu deren Auflösung beitragen^ zeugt [...] von der Wirklichkeitsferne der Verfasser.« (Ders.: 53) Einen ähnlichen Versuch hat Johannes Tralow am 15.2.1952 gegen

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Das neu gewählte Gremium trat in der in Düsseldorf bestimmten Zusammensetzung nie zusammen: Eggebrecht wurde in Abwesenheit zum Schatzmeister gewählt und trat seinen Posten nicht an. Weisenborn wollte die Gültigkeit seiner Wahl zum Vizepräsidenten von einer kommenden ordentlichen, repräsentativen Mitgliederversammlung abhängig machen; diese fand nie statt, deshalb trat er kurze Zeit später zurück. Weisenborn fühlte sich durch Becher desavouiert, der eine Mitgliederversammlung zusammen mit den Westmitgliedern verhinderte; er war auch erstaunt über die überwältigende Mehrheit der Mitglieder, die sich für den neugegründeten Club entschlossen, und fügte sich der demokratischen Mehrheitsentscheidung. Die gewählten Revisoren Beheim-Schwarzbach und Nossack nahmen die Wahl nicht an;159 der gewählte Generalsekretär Hans Henny Jahnn schrieb einen Rundbrief, der an die Mitglieder appellierte, die Spaltung nicht wirksam werden zu lassen, und übertrug dann seine Befugnisse auf Tralow. 160 Es blieben also nur Becher und Tralow, die eine Mitgliederversammlung nach Berlin einberiefen, ohne die Sezessionisten einzuladen. Sternfeld, der auch wegen seiner Verbindungen zum Internationalen PEN Edschmid um genaue Informationen zum Verlauf der Tagung erbat, ärgerte sich über die fehlenden westlichen Teilnehmer und schlug ein formal korrektes TrennungsUnternehmen vor:161 Ich brauche Ihnen wohl nicht zu sagen, wie klaeglich ich das Verhalten jener westlichen Kollegen finde, die dieser Tagung aus opportunistischen Gruenden ferngeblieben sind und damit die Wahl dieses Vorstandes moeglich gemacht haben. Obgleich ich die Erhaltung eines gesamtdeutschen PEN gewuenscht haette, die m. E. durch Rücktritt Bechers moeglich gewesen waere, verstehe ich vollkommen das Vorgehen der westdeutschen Freunde, die sich nicht um eine klare Entscheidung herumgedrueckt haben [...]. Zur Zeit ist es wohl die vordringliche Aufgabe, von allen nicht-erschienenen Mitgliedern Zustimmungserklaerungen zur Separation zu sammeln, um der Exekutive der Internationale zu beweisen, dass es der Wunsch der ueberwiegenden Mehrheit ist, in einem westdeutschen selbstaendigen Zentrum vereinigt zu sein. Da es unmoeglich ist, ein solches Zentrum zu begruenden, so lange ein gesamtdeutsches Zentrum existiert, wird es notwendig sein, das gesamtdeutsche Zentrum aufzuloesen und zwei voneinander un-[2]abhaengige Zentren, ein westliches und ein oestliches, zu gruenden. Die Frage, welchem Zentrum das einzelne Mitglied angehoert, ist nicht nach dem Gesichtspunkt der politischen Ansichten zu entscheiden, die ja bei Aufnahmen keine Rolle spielen duerfen, sondern lediglich nach Staatszugehoerigkeit und Wohnsitz.

das PEN-Zentrum deutscher Autoren im Ausland unternommen - damals noch ausschließlich aus Emigranten des >Dritten Reiches< bestehend - , durch eine Resolution für die Internationale Exekutive. Bei ausreichender Energie ließen sich daraus ebenfalls mehr oder weniger überzeugende Verschwörungstheorien entwickeln. 159 Vgl. die Stellungnahme Nossacks und Eggebrechts, 31.10.1951, NLT. 160 Zu Jahnns Rolle im PEN insgesamt vgl. Helmut Peitsch: Hans Henny Jahnn in den gesamtdeutschen PEN-Zentren >Deutschland< und >Ost und Westgesamtdeutschen< Zentrums«. 169 Er hielt in seinen Artikeln die gesamten Vorgänge für sinn- und geistverwirrend, und er fand für seine Ansicht auch nachvollziehbare Gründe: Die fehlende Klarheit sei bedauerlich. »Denn die Welt hat auch noch andere Sorgen und kann sich nicht ewig mit den internen Angelegenheiten des deutschen PEN-Zentrums befassen.«170 Die Spaltung sei zwar voraussehbar gewesen, ihr akuter Grund liege aber nicht in geistigen oder weltanschaulichen Auseinandersetzungen, sondern sei »die in demokratischem Sinne nicht sehr schmackhafte Frucht einer Wahlniederlage und der Verärgerung darüber«. 171 Als besonders zerwirrend empfand er die sich ständig widersprechenden äußeren Formen: Die ausgetretenen Mitglieder haben an den ge-

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Kasack in: Stuttgarter Nachrichten, 27.10.1951. Düsseldorfer Nachrichten, 25.10.1951. Bläser in: Das freie Wort, 9.11.1951. Beizner an Edschmid, 3.11.1951, NLE. Beizner in der Rhein-Neckar-Zeitung am 30.10.1951 unter dem Pseudonym »Spectator«, ebenso am 6.11.1951; so schon in einem Brief Beizners an Edschmid, 19.7.1951, NLE. Vorangegangen war eine Auseinandersetzung Beizners mit Pechel, der durch dessen Aktion mit Birkenfeld und Plivier die Akademie hineingezogen fühlte; vgl. Korrespondenz im NLE. Eine weitere Äußerung von Beizners Überdruß: »Das Publikum hat den Kanal voll. Die Sache ist irgendwie abgesunken. Vielleicht war die Neugründung des deutschen PEN verfrüht. Daran wirds liegen.« (Beizner an Edschmid, 3.11.1951, NLE). Beizner in: Rhein-Neckar-Zeitung, 30.10.1951.

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heimen Wahlen teilgenommen und das Ergebnis nicht angefochten; Tralow dankte und ehrte Friedmann; die Presseerklärung der dreizehn erfolgte ohne jede Mitteilung an die anderen Mitglieder; es sei eine westdeutsche Mehrheit in Düsseldorf vorhanden gewesen.172 Dem abschließenden Beschluß, eine Kommission zu gründen, die alle Verstöße gegen die Menschlichkeit in Deutschland untersuchen soll, stimmten auch die opponierenden Mitglieder zu, nach allen Wahlen, die mit Sezession beantwortet wurden. Beizners Verwirrungsthese haben übrigens auch entschiedene Trennungsbefürworter wie Martin Beheim-Schwarzbach zugestimmt.173 Die Trennung war nicht nur von westlicher Seite definitiv. Tralow war sich des Dilemmas der Hinterlassenen bewußt und wollte es für die bald angekündigte Tagung in Berlin lösen. In Düsseldorf war ja noch gemeinschaftlich beschlossen worden, das Club-Minimum auf 23 Personen festzusetzen, so daß der verbleibende PEN für weitere Versammlungen in Frage stand; zudem bestünde immer noch die Möglichkeit, daß die Sezessionisten wiederkämen, »in hellen Scharen«, um die kleine Gruppe zu majorisieren und dadurch »wieder in den Besitz der Firma« zu gelangen. Deshalb müsse man sie legal loswerden, aber auch den eigenen Mitgliederstamm erhöhen: 174 [...] wir brauchen laut Statuten 23 Mitglieder. Genau will ich es nicht wissen. Es erscheint mir zweifelhaft, ob wir jenes [Düsseldorfer] Protokoll erhalten werden und schließlich müßte es unterschrieben sein. Wir haben also zwei Wege: entweder zu vergessen, was wir nicht mehr genau wissen - oder umgehend eine Tagung einzuberufen mit dem Hinweis darauf, daß die nächste, deren Datum gleichzeitig genannt wird unter allen Umständen beschlußfähig sei.

Diese Arbeitstagung fand am 10. Dezember 1951 in Berlin statt, als Treffen einer Restgruppe. Auch der letzte Rettungsversuch Robert Neumanns, die Bildung eines gesamtdeutschen PEN-Senats bei getrennten Gruppen, wurde vom Westen abgeschmettert - die Schwierigkeiten würden so nur verlagert. Johannes R. Becher war über den Düsseldorfer Verlauf abschließend nicht sehr glücklich, Anfang 1952 schrieb er Kästner einen persönlichen Brief, in dem er dessen Fehlen dort bedauerte: 175 Unseres Erachtens hat entscheidend zu dem Zerwürfnis die unselige Verhandlungsführung Professor Friedmanns beigetragen, der sich in eine hemmungslose, senile Geschwätzigkeit und geradezu in ein psychotisches Geltungsbedürfnis hineingesteigert hat. Ich weiß auch nicht, ob Ihnen mitgeteilt wurde, daß ich vor der Vorstandswahl den Vorschlag gemacht habe, daß der Vorstand endlich einmal zusammenkommen solle, um für die Mitglieder-Versammlung einen für alle einigermassen akzeptablen Vorschlag auszuarbeiten. Dieser allgemein angenommene Beschluss wurde nicht durchgeführt. Ich bin nach wie vor davon überzeugt, daß Ihre Anwesenheit die Komplikationen wenn nicht vermieden, so doch in einer Art und Weise hätte lösen können, wodurch die Trennung vermeidbar gewesen wäre.

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Beizner in: Rhein-Neckar-Zeitung, 6.11.1951. Beheim-Schwarzbach in: Weser-Kurier, 3.11.1951. Tralow an Becher, 28.10.1951, S.2; NLT. Becher an Kästner, 3.1.1952, NLE.

Auch das Fazit des westlichen >hardliners< Richard Friedenthal war alles andere als positiv: »Düsseldorf war eine Blamage; es ist zwecklos daraus einen Sieg zu konstruieren. Weitere Blamagen dürfen nicht folgen, wenn der PEN nicht alles Ansehen verlieren soll.«176

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Friedenthal an Edschmid, 26.11.1951, NLE.

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II. Über die Entstehung politischer Ereignisse

1.

Zwei westliche Protagonisten

Die beiden Protagonisten dieses Kapitels zogen fleißig Drähte, spönnen Intrigen, wollten aber kaum den deutschen PEN sprengen; nur im Effekt, a posteriori, haben sie systematisch ausgegrenzt, ohne große Not, aus politischen-ideologischen Überzeugungen. Sie handelten mit unterschiedlichen Zielen, aus unterschiedlichen Motiven; daß sie hier als exponiert Handelnde dargestellt werden, ist eine Einschätzung ihrer Aktionen, die sich wohl anders auswirkten als intendiert. Sie handelten nicht einmal einträchtig, sich zwar gegenseitig in politischer Sympathie wissend, aber sich auch kritisierend. Insofern ist ihre Vielstimmigkeit zusammen mit Edschmid, Kästner, Friedmann u. a. auch - vielleicht entgegen dem Augenschein - ein Indiz für funktionierende Demokratie: Das Zusammenwirken Verschiedener aus unterschiedlichen Gründen, das ab einem gewissen Zeitpunkt eine zwingende Folge hat, hier eben die Sezession. Rudolf Pechel war Anfang der 50er Jahre Präsident der Darmstädter Akademie für Sprache und Dichtung; seine Zeitschrift, die Deutsche Rundschau, führte er ebenfalls noch als Herausgeber weiter, sie ging erst 1964 ein, nach Pecheis Tod. 1 Pechel war ein entschlossener Verfechter der Totalitarismusthese: so entschieden wie gegen den Nationalsozialismus müsse man auch gegen das DDR-Regime vorgehen. Pechel berief sich dabei auf seine Rolle im NS-Widerstand und trachtete danach, sich als unantastbare Respektsperson im Nachkriegsdeutschland zu situieren, als starre Instanz, die gegebenenfalls sogar auf Argumentation und Empirie verzichten darf: Wie Plivier und Birkenfeld kam er nicht auf die Wiesbadener Versammlung. Pechel trat nach der Nicht-Behandlung des Briefes beleidigt aus, nicht nur aus sachlich-politischen Gründen, sondern weil man seinem Wort nicht geglaubt hatte: »Wir hätten wohl den Anspruch auf das Vertrauen gehabt, dass die beigefügte Abschrift authentisch sei.« 2 Er ließ sich auf die konkrete Diskussion nicht ein und verlangte von Friedmann, den Vorwurf der Disziplinlosigkeit öffentlich zurückzunehmen,

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Vgl. Rosemarie Schäfer: Rudolf Pechel und die »Deutsche Rundschau« 1946-1961. Zeitgeschehen und Zeitgeschichte im Spiegel einer konservativen politischen Zeitschrift. Eine Studie zur konservativen Publizistik in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg. Diss. Göttingen 1975, S. 10; zu Pechel s. a. Volker Mauersberger: Rudolf Pechel und die »Deutsche Rundschau«. Eine Studie zur konservativ-revolutionären Publizistik in der Weimarer Republik (1918-1933). Bremen 1971. Pechel an Friedmann, 6.6.1951, NLP.

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»besonders weil wir ja bisher noch nicht auf die Hilflosigkeit des Präsidiums gegenüber den entstandenen Problemen hingewiesen haben«. 3 In Pecheis veröffentlichten Beiträgen zur PEN-Debatte 4 fehlen solche subjektiven Ränder selbstverständlich. Hier trat er stets mit einem objektiven Gestus auf, schließlich habe jeder westdeutsche Schriftsteller die Möglichkeit, »sich genauestens durch authentische Zeugnisse über die wahren Zustände in der Ostzone zu unterrichten«.5 Seinen Austritt sah er in der Auseinandersetzung mit Becher als »bitter notwendige Klärung, die eine Trennung bedeutet«. 6 Gespräche mit den Ostmitgliedern seien vertane Zeit, weil sie »Menschen gebundener Marschorder« seien7 und es »keinen, aber auch gar keinen Unterschied« gebe »zwischen den geistigen Helfershelfern des sowjetischen Totalitarismus und denen Hitlers«.8 Es gibt kein Niemandsland zwischen den Fronten der geistigen Freiheit auf der einen und der totalen Unfreiheit und Knechtung auf der anderen Seite. Ja, wenn man sein Gesicht der einen Seite zukehrt, so wird man, ohne es zu wollen und es hindern zu können, zum Verräter an der anderen Front.

Pecheis Korrespondenzen, die sich im Archiv der Darmstädter Akademie erhalten haben, ergeben ein weitgespanntes Netz, vermischte PEN- und Akademie-Briefwechsel, u.a. mit Karl Friedrich Borée, Kasimir Edschmid, Wilhelm Lehmann, Hans Reisiger, Gerhart Pohl, Heinz Winfried Sabais, Hermann Stahl, Wilhelm Sternfeld, Oskar Jancke, Frank Thiess und Leo Weismantel. Laut Helmut Peitschs Interpretation »nahm Jancke die Rolle des Initiators der PEN-Spaltung für die Akademie in Anspruch«, denn er schrieb an Wilhelm Lehmann, Pecheis Austritt sei »nur konsequent unserer Darmstädter Erklärung für die Freiheit« gefolgt.9 Speziell in der Korrespondenz zwischen Jancke und Pechel herrschte eine regelrechte Schützengrabenmentalität: man teilte sich mit, wer als Bündnisgenosse ausfiel, wessen Aktivitäten schärfer zu beobachten waren und an wen man sich wenden könne. Anhand von Beizners Kritik wurde lamentiert: »Es ist wirklich erschütternd, wie wenig die Schriftsteller im Westen begriffen haben, worum es hier geht.«10

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Ebd. Es sind dies: der offene Brief an Johannes R. Becher (31.12.1950) und Zeitungsartikel vom 25.3.1951, Mai 1951 und 28.10.1951; gesammelt in Rudolf Pechel: Deutsche Gegenwart. Aufsätze und Vorträge 1945-1952. Stuttgart 1952, S.213-225. Pechel 1952: 223. Ders.: 217. Ders.: 221. Ders.: 222. - Das folgende Zitat ders.: 224. Helmut Peitsch: Vom Faschismus zum Kalten Krieg - auch eine deutsche Literaturgeschichte. Literaturverhältnisse, Genres, Themen. Berlin 1996, S.219. »Überzeugt, daß die geistige Einheit der abendländischen Völker bereits besteht und in den Grundsätzen der Menschenrechte und des Christentums ihre unverletzbare Prägung gefunden hat, bekennen sie sich zur Idee der politischen Einheit Europas und sind entschlossen, für sie zu wirken, soweit dies in ihrer Macht steht.« (Vgl. Peitsch 1996: 218) Pechel an Jancke, 14.12.1950, PKA.

Edschmid galt als unsicherer Kantonist, er sei »allzu PEN-gebunden«: 11 Edschmid muss wissen, wie er sich entscheidet. Ich fürchte, er ist ein Opfer seiner Gutmütigkeit geworden, als er, nachdem sich Penzoldt vorsichtig vom Generalsekretariat des PEN zurückgezogen hatte, dessen Nachfolge übernahm. In Wirklichkeit ist es ja doch so: am liebsten hätte der PEN die Sache vertuscht, was ihm vielleicht gelungen wäre. Im Grunde sieht E. ein, soweit Friedmann einsieht. Persönlich empfindet er noch Freundschaft zu Becher hin als Generationsgenossen und Expressionisten. Pechel sah einen ungedruckten Aufsatz von Walther von Hollander als »ein typisches Beispiel, wie wenig die Intellektuellen im Westen über die tatsächlichen Dinge im Osten orientiert sind, und zu gleicher Zeit für die Unfähigkeit, einen eindeutigen Standpunkt zu beziehen. Denn über den Inhalt des Begriffes der echten Freiheit sollte sich selbst ein Intelektueller klar sein.« 12 Auch gegen Fritz Usinger richtete sich das absolute moralische Maß: »Dass Usinger sich bisher nicht erklärt hat, ist mir nicht ganz begreiflich. Hoffentlich wird er die Notwendigkeit einsehen, dass er klare Stellung beziehen muss wie alle anderen, die es angeht.« 13 Jancke schließlich zählte auf, wer für ihn war - das mußten alle sein, die seinen Artikel lobten. »Für meinen >Becher< habe ich allerlei Freundliches gehört von Birkenfeld, Brentano, Borée, von Hagelstange und durch ihn von Plivier.« 14 Rudolf Pechel und Karl Friedrich Borée zogen in Sachen PEN am selben Strick, ohne sich gegenseitig abgesprochen zu haben oder auch nur leiden zu können. Borée hielt die Austritte von Pechel, Plivier und Birkenfeld für eine melodramatische, ja feige Aktion: 15 »billigen Applaus« hätten sich »einige« verschafft, »die mit lautem Knall die Tür zugeschlagen haben«. 16 Noch Jahre später grollte Borée, direkt gegenüber einem der Beteiligten, Günther Birkenfeld (»usw.«): 17 Diese Gelegenheit zu einem Briefe an Sie möchte ich aber benutzen, um Ihnen offen zu sagen, daß es mich einigermaßen befremdet hat, in Ihrem PEN-Artikel (Deutsche Fragen/ Sept. 59) wiederum der Darstellung zu begegnen, als wäre der Austritt von Pechel, Plivier usw. aus dem PEN nach der Wiederwahl von Becher in Wiesbaden zum Präsidenten eine besondere Ruhmestat gewesen. Ich habe vielmehr das Verhalten dieser Kollegen als ein >Kneifen< empfunden: Wären sie nach Wiesbaden gekommen, so hätten sie mich nicht allein gelassen und Becher wäre vermutlich nicht wiedergewählt worden. Und wie haben diese über die Tendenzen der Ost-Leute unterrichteten Kollegen uns auch im nächsten

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Jancke an Pechel, 11.1.1951, S. 1; PKA. Die folgenden beiden Zitate Jancke an Pechel, 27.12.1950, S.2 und Jancke an Pechel, 27.1.1951, S. 1; beide PKA. 12 Pechel an Jancke, 30.1.1951, PKA. 13 Pechel an Edschmid, 27.11.1951, PKA. 14 Jancke an Pechel, 1.3.1951, PKA. 15 Die Wichtigkeit militärischer Maßstäbe und des zugehörigen Jargons in breiten PEN-Kreisen nach 1945 wäre ein Kapitel für sich; den Übernahmen, Resten, Parallelen von nationalsozialistischer Propagandasprache und der Nachkriegs-Sprache auch von NS-Gegnern ist Urs Widmer in seiner Dissertation 1945 oder die »neue Sprache« nachgegangen. 16 Borée an Edschmid, 1.3.1951, NLE. 17 Borée an Birkenfeld, 11.11.1959, NLB. 47

Jahre in Düsseldorf bei der großen Abrechnung und Sprengung gefehlt! - Den Dingen ihren Lauf lassen und nachher zu sagen >Ohne mich< ist m. E. keines besonderen Rühmens wert. Nichts für ungut. Es ist alles in Freundschaft gesagt.

Der Romancier, Essayist und Feuilletonist Karl Friedrich Borée 18 war ein bienenfleißiger Briefschreiber und überaus tätiger Intrigant, in beidem Pechel (schon aus Altersgründen) haushoch überlegen. Bereits im Dezember 1950 kündigte Borée Edschmid ein »Memorandum« an, das von »der Opposition gegen J. R. B. und seine Gefolgschaft« stamme 19 und an den Internationalen PEN weitergeleitet werden solle. Daß Borée selbst die Geistesfreiheits-Schrift verfaßt hat, geht u. a. aus einem handschriftlichen Brief Günther Birkenfelds an Edschmid hervor, der seiner Austrittserklärung beiliegt. Er kündigte darin »ein kurzes Memorandum« an, zu dessen Unterschrift auch Edschmid aufgefordert werden sollte und »das Karl Friedrich Borée für den Internationalen PEN verfasst hat«.20 Das Pamphlet wurde zum Mißvergnügen Erich Kästners verschickt, der Edschmid vom »Herzenserguss« des Kollegen schrieb und bemerkte, die »Berliner Luft« sei »eben leider nicht mehr so gesund wie früher«. 21 Auch von einigen Kollegen, die Borée um ihre Unterschrift gebeten hatte, waren mehr oder weniger freundliche, aber entschiedene Absagen gekommen: so von Martin Kessel und von Leo Weismantel. Kessel schienen allgemeine Vorwürfe sinnlos, in seinen Augen sei der Club keine »Parodie auf ein Parlament«, sondern »ein Club von Individualitäten«. »Deshalb vermeide ich nach Möglichkeit, Resolutionen zu unterschreiben, die irgendwie nach fraktioneller Clique aussehen. Das überlasse ich den Schriftstellern aus dem Osten.« Er habe schon einmal als Einzelner gehandelt (der »Dr. Naute«Brief, s. Α. 1.1.), und so solle es doch Borée auch handhaben. 22 Weismantel antwortete in einem mehrseitigen Brief, er könne keine gegen den Osten gerichtete Erklärung unterschreiben, weil er nach 1945 »im Westen solch schandmässige Dinge der Unterdrückung des Geistes erlebt habe«. Er bat Borée sogar um eine Emigrationsempfehlung: 23 Wissen Sie ein wirklich freies Land, in dem man wirklich nach seinem Gewissen leben und arbeiten darf, so teilen Sie es mir mit, - wenn die Emigration dorthin gestattet und möglich ist, will ich gerne auswandern. Die Drangsalierungen der Nacijahre [!] haben diesen Wunsch nicht in mir zu wecken vermocht, dazu [!] hat es der [!] glorreichen freiheitlichen« Systems der westlichen Demokratien bedurft.

Borée antwortete Weismantel verschnupft und in ungewöhnlicher Kürze, er empfehle Berlin.24

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* 1886 Görlitz, 11964 Darmstadt; vgl. Lennartz 1984/1:225-227. Borée an Edschmid, 21.12.1950, NLE. 30.12.1950, NLE; vgl. dort Brief von Birkenfeld an Edschmid, 2.1.1951. Kästner an Edschmid, 14.8.1951, S. 1; NLE. Kessel an Borée, 9.10.1951, NLB. Weismantel an Borée, 10.10.1951, S. 4; NLB. Borée an Weismantel, 15.10.1951, NLB.

Die Kampfschrift Über Toleranz und Geistesfreiheit/an die Mitglieder des Internationalen P. E. N.-Club trug keinen Verfassernamen, wurde aber von einem Schreiben begleitet, dessen Unterzeichner von ihren Erfahrungen auf den Tagungen in Wiesbaden und Lausanne sprachen. Es handelte sich um Martin Beheim-Schwarzbach, Karl Friedrich Borée, Hermann Kasack, Ernst Kreuder, Wilhelm Lehmann, Rudolf Alexander Schröder und Georg von der Vring. Lehmann und Schröder hatten in Wiesbaden nicht teilgenommen, keiner der Unterzeichner in Lausanne. Die (also ζ. T. garnicht, zumindest nicht selbst gemachten) Erfahrungen führten bei den Unterzeichnern zu der Überzeugung, »daß eine Aufklärung der PEN-Mitglieder über die Situation der geistigen Freiheit unter dem sowjetkommunistischen Regime unerlässlich ist« - diese Aufgabe sollte die Kampfschrift erfüllen. Daß Karl Friedrich Borée die Kampfschrift allein geschrieben hat, geht auch aus einer Nachlieferung vom 19.11.1951 hervor, zu der er sich seinen Mitunterzeichnern gegenüber verpflichtet fühlte. 25 An Lehmann ζ. B. schrieb er, als er um dessen Unterschrift bat, er solle sich nicht an »untergeordneten Punkten« stoßen, »die Sache muß heraus und kann nicht allen Wünschen angepaßt werden«.26 Im Sonntag. Wochenzeitung für Kultur, Politik und Unterhaltung wurde - bereits nach vollzogener Sezession - das Pamphlet ausführlich gewürdigt. In Bezug auf Lehmann hieß es, er sei von seinen DDR-Kollegen erstaunt gefragt worden, »was ihn eigentlich zu einem solchen Leichtsinn verführt hätte«, nämlich der Unterschrift unter den Begleitbrief. Lehmanns Antwort sei gewesen: »Ich habe unterschrieben, Herr Dr. Borrée [!] hat es gewünscht.«27 Die Schrift enthielt schwere Angriffe gegen die östlichen PEN-Mitglieder, vor allem aber gab sie sich als Informationsschrift über die Zustände in der sowjetischen Besatzungszone. Es wurde nochmals erklärt, was es gegen die Lausanner Friedenresolution einzuwenden gab: Man vermute eine verdeckte kommunistische Absicht dahinter, und ein Propagandaerfolg sollte dem Osten nicht ermöglich werden, hätten Becher und Konsorten dann doch behaupten können, die »über die gesamte westliche Erdhälfte verbreitete Schriftstellerorganisation des PEN [sei] dem Stockholmer Friedensappell beigetreten«. 28 Gegen den Wortlaut an sich sei nichts einzuwenden, man müsse aber die »besondere Sprechweise und Ausdruckstechnik des staatlichen Kommunismus« kennen. Er arbeite mit einer »konstruierten Doppeldeutigkeit des Wortes«: Zumal moralischem Vokabular werde eine »eigene tendenziöse Bedeutung« beigelegt, die unter Funktionären verständlich sei und vor allen anderen harmlos wirke. Als Beispiele nannte Borée »fortschrittlich« oder »demokratisch« statt »kommunistisch« - dieses Wort werde geflissentlich vermieden. »Antifaschistisch« heiße gegen die bürgerliche Gesellschaft gerichtet, »Humanis-

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Erhalten in NLK und NLL. Borée an Lehmann, 2.10.1951, NLL. »GO« in Sonntag, 4.11.1951, Nr. 44, S.2. [Karl Friedrich Borée:] Über Toleranz und Geistesfreiheit. [A]n die Mitglieder des Internationalen P. E. N.-Club. Berlin 1951, S.3. - Zu der Kampfschrift vgl. auch Peitsch 1996: 239f.

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mus« meine als »kämpferischer Humanismus« »das zu erkämpfende kommunistische Menschheitsideal«.29 Die erwünschte »demokratische Einheit Deutschlands« sei in Wahrheit die »Herrschaft des Kommunismus«, und »Frieden« meine entsprechend die »waffenlose Unterwerfung unter den Kommunismus«.30 Wo hat Borée tatsächlich kommunistisch-sozialistische Sprachregelungen erkannt, und wo hat er sich die Sache allzu einfach gemacht und ist in eigene - jetzt antikommunistische Sprachregelungen verfallen? Er sah einen Widerspruch zwischen zwei Forderungen der Charta eintreten: zwischen dem Einsatz »für das gute Einvernehmen und die gegenseitige Achtung der Nationen« (§ 3) und für den »Grundsatz des ungehinderten Gedankenaustausches innerhalb einer jeden Nation und zwischen allen Nationen« (§4). Der durch den Kalten Krieg eingetretene Widerspruch habe beim Verfassen der Charta noch nicht geahnt werden können; erst durch den sowjetischen Totalitarismus, der eine Bewußtseinsänderung erstrebe, sei der Widerspruch verursacht worden. Borée begründete nicht, was an diesem Widerspruch 1951 neu sein sollte - die Charta stammt schließlich aus den späten 20er Jahren, und der andere >Totalitarismus< Schloß sich unmittelbar an. Es folgen Beispiele, die Borées Argumentationslinie belegen sollen; alle stammen aus »dem besonderen Gebiete der Kulturpflege [...] aus der deutschen Sowjetzone [...], aus der sogenannten >Deutschen Demokratischen Republik«^31 die aber nur beispielhaft für den sowjetischen Totalitarismus stehe; sie sei gewählt worden, weil sie geographisch der westlichen, freien Welt am nächsten war. Das Pamphlet brachte Beispiele zur Freiheit der Meinungsäußerung, Pressefreiheit (S.5), den Lehrplänen/Lehrinhalten an Schulen (S.6) und Universitäten (S.7), sowie zur Kulturpflege, das sollte heißen der monopolistischen Verwaltung aller Künste (S. 8-11). Stets wurde auf die Mechanismen staatlicher Lenkung verwiesen, auf die Überwachung auch einzelner Bürger durch Spitzel, und auf zahlreiche Verhaftungen; 700.000 Deutsche seien in sowjetische Konzentrationslager verschleppt worden, auch einzelne Autoren-Verbote wurden aufgeführt. Dabei unterliefen Borée neben zutreffenden Informationen etliche Mißgeschicke, wie etwa die Formulierung, den Universitäten sei »ihre alte Autonomie völlig genommen«, 32 die sie ja vorher (im Nationalsozialismus) keineswegs hatten. Er wollte den Beweis führen, »daß es im Bereich der kommunistischen Herrschaft geistige Freiheit und Freiheit der Meinungsäußerung weder gibt, noch dem Wesen nach geben kann. Der Geist muß daran zugrunde gehen, es bleibt bestenfalls der praktikable Intellekt.«33 Trotz der eindeutig polemischen Perspektive und einzelner skandalöser Zuspitzungen (»wer zum heutigen Konzentrationslager Buchenwald >Ja< sagt, sagt auch zu Auschwitz

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>JaSinn und FormDeutschen Friedensrates«; Unterzeichner des >Stockholmer FriedensappellsHerrnburger Berichts«, einer eindeutig kommunistischen Propaganda· und Hetzdichtung; vom Zentralkomitee der SED im März 1951 ausdrücklich belobigt.

>Frieden halten« hieß für Borée, gegen den Osten zu kämpfen. In der Nachlieferung Borées an die Unterzeichner vom 19.11.1951 setzte er sich mit den auf der PEN-Jahresversammlung in Düsseldorf vorgebrachten Einwänden auseinander. Es sei ihm nicht entgangen, daß das »Trommelfeuer« während der Tagung »nicht ohne jeden Eindruck geblieben ist«,38 obwohl ein solches doch zu erwarten gewesen sei. Einzelne Details wolle er in einem Neudruck revidieren bzw. präzisieren; dieser Neudruck konnte nicht nachgewiesen werden, deshalb hier Borées Einschränkungen: Die genannten 700.000 Verschleppten seien die überhaupt Verschleppten seit Kriegsende, davon 87.000 aus politischen Gründen. An einer Stelle, die ehemalige ostdeutsche Akademiker betrifft, wolle er »davongegangen« statt »geflüchtet« schreiben, »aber nur, weil sich so schnell nicht feststellen läßt, unter welchen Umständen die einzelnen Gelehrten es vorgezogen haben, den Osten zu verlassen.«39 An seiner Behauptung, es seien einige Werke von Goethe verboten, müsse er fest-

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Ders.: 11. Vgl. Hermann Weber: DDR. Grundriß der Geschichte 1945-1990. Vollständig überarbeitete und ergänzte Neuauflage. Hannover 1991 (Edition Zeitgeschehen), S.31f. Borée 1951:13. Ebd. Borée-Rs., 19.11.1951, S.l; NLK. Ebd.

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halten, weil »sie mindestens bis heute noch nicht zugelassen sind«.40 Eine durch Bechers Fürsprache entlassene Buchhändlerin änderte für ihn nichts an der Rechtslage, ein einmaliger Gnadenakt sei »ein zufälliger Akt der Gnade«. 41 Die offenbar auch von Gesinnungsgenossen angegriffene Passage, die das sowjetische Buchenwald mit dem deutschen Auschwitz gleichsetzte, wollte er ändern in »Aber wer zum neuen Konzentrationslager Buchenwald >Ja< sagte, sagt auch zum alten >JaDritten Reich< getan, waren sie tatsächlich in einer moralisch überlegenen Position, oder waren sie »Halb-Nazi-Schriftsteller[.]«, wie sie Irmgard Keun genannt hat? 48 Gehörten ihre Bücher zu den mehreren tausend der in den >Listen des schädlichen und unerwünschten Schrifttums< verbotenen? 49 Eine Überzeugung auch der politisch gemäßigten westlichen Autoren war es schließlich auch, »dass man jene prinzipiellen Fragen, die ich in Bezug auf die Haltung der deutschen Schriftsteller zur Nazizeit erwähnt habe, heute mit gleichem Recht an die Ostler gestellt werden koennen«. 50 Rudolf Pecheis Rolle im Nationalsozialismus ist, besonders hinsichtlich der Deutschen Rundschau, bereits ausreichend dokumentiert, speziell seine publizistische Karriere in den Jahren vor und nach 1933.51 Seine starre moralische Position stützte sich auf die Jahre im (konservativen) Widerstand gegen den Nationalsozialismus, seine KZ-Haft und seine Verbindungen zu den Militärs des 20. Juli;52 er ist aber unwillig gewesen, den eigenen Anteil an der Ermöglichung des NS-Regimes öffentlich zu bearbeiten. 53 Die These von der Identität von Bolschewismus und Nationalsozialismus, mit der er nach dem Krieg beharrlich gegen die DDR und auch gegen unsichere Kantonisten in den eigenen Reihen agierte, hatte Pechel seit 1941 vertreten; von dort datieren die ersten Angriffe gegen die sowjetische Diktatur in der Deutschen Rundschau54 - die freilich noch Camouflage-Charakter hatten, er konnte seine eigene Regierung angreifen im Anschein, den Bolschwismus zu meinen. Aber er hat ihn wohl tatsächlich gemeint.

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Irmgard Keun: Wenn wir alle gut wären. Hg. von Wilhelm Unger. Mit Quellenverzeichnis und Zeittafel von Gabriele Kreis. München 1993 (dtv 11628), S. 154. Z. B. in der Liste 1938: 4175 Einzeltitel, 565 Verbote »Sämtlicher Schriften«, lt. Jan-Pieter Barbian: Literaturpolitik im »Dritten Reich«. Institutionen, Kompetenzen, Betätigungsfelder. Überarbeitete und aktualisierte Ausgabe. München 1995 (dtv 4668), S.528. Sternfeld an Edschmid, 22.1.1951, NLE. Bes. Schäfer 1975:48-70. Vgl. Klaus Mammach: Widerstand 1939-1945. Geschichte der deutschen antifaschistischen Widerstandsbewegung im Inland und in der Emigration. Köln 1987, S. 106f., 253. Dazu v.a. Mauersberger 1971:271-307. - Zu Pechel als respektgebietende Figur der 50er Jahre vgl. auch Harry Pross: Memoiren eines Inländers. 1923-1993. München 1993, S.233235. Mammach 1987:107.

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Ähnlich umfassend ist inzwischen Erich Kästners Zeit im Nationalsozialismus aufgearbeitet. 55 Er hat nicht nur Unterhaltungsliteratur in der Schweiz publiziert, sondern war als Dramatiker und Drehbuchautor in Deutschland sehr viel präsenter, als man bis vor kurzem wußte. Korrumpiert hat er sich durch seine unpolitischen Arbeiten im >Dritten Reich< nicht; eher durch seine Vertuschungen und Stilisierungen nach 1945.56 a) Karl Friedrich Borée Borée war einer der Hauptintriganten, der aber wohl ganz auf eigene Rechnung arbeitete und ziemlich undurchschaubar bleibt; nach getanen Taten stöhnte er selber: »Wann kommen wir aus den ewigen Spannungen und Intrigen heraus?« 57 Er hat sich 1950 mit Hermann Hesse, dem sonst durchaus Verehrten, über die Wiederbewaffnung gestritten, deren Ablehnung er angesichts Ostdeutschlands für inhuman hielt.58 Anfang der 50er Jahre beklagte er sich in markanter Formulierung bei Friedrich Hirth über den Klerikalismus im Westen, es mache sich dort eine »vollkommen totale[.] geistigef.] Führerlosigkeit« bemerkbar 59 - gleichzeitig registrierte er die Angst von Verlegern, »durch ein Werk über Heine die antisemitische Plebs zu verletzen«.60 Borée sah sich selbst in Briefen an Coudenhove-Kalergi als einen der wenigen »deutschen Menschen der Literatur [...], die ein entschiedenes Interesse für die Politik haben«;61 er bewege sich in intellektuellen Kreisen voller »Labilität und Morbidität auf dem Felde der politischen Ansichten« und lobte »Realismus und Härte«. 62 Er scheint ein schwieriger, sehr empfindlicher Mensch gewesen zu sein, der Streitigkeiten und Probleme förmlich angezogen hat. Als 1953 Dor und der September in Hessen durch das Ministerium für Volksbildung von der Liste der empfohlenen Bücher gestrichen wurde - »wegen seiner unechten Probleme und der künstlerischen Mittelmässigkeit« - stimmte er zu, sein Roman sei kein Jugendbuch. Wegen seiner Stellung als Darmstädter Akademiesekretär müsse aber doch gegen die Begründung protestiert werden: eine ähnliche Kritik habe das Buch nur von nationalsozialistischer Seite erfahren. 63 Nach seinem Auftreten in Düsseldorf war er beleidigt, 55

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Die Studie von Dieter Mank: Erich Kästner im Nationalsozialistischen Deutschland. 1933-1945: Zeit ohne Werk? Frankfurt a.M., Bern 1981 ist inzwischen überholt; vgl. JanPieter Barbian: »... nur passiv geblieben«? Zur Rolle von Erich Kästner im »Dritten Reich«. In: »Die Zeit fährt Auto«. Erich Kästner zum 100. Geburtstag, Hg. von Manfred Wegner. Berlin und München 1999, S. 119-142; und Sven Hanuschek: Keiner blickt dir hinter das Gesicht. Das Leben Erich Kästners. München, Wien 1999, S.212-304. Vgl. Hanuschek 1999: 305-321. Borée an Lehmann, 31.7.1952, NLB. Vgl. zu Hesse auch Peitsch 1996: 228-230. Borée an Hirth, 15.11.1952, NLB. Ebd. Borée an Coudenhove-Kalergi, 7.1.1957, NLB. Borée an Coudenhove-Kalergi, 26.2.1957, NLB. Notiz im NLB, 21.2.1953.

daß Martin Kessel als Repräsentant von Berlin in den neuen PEN-Beirat gewählt wurde, obwohl er sich mit Kessel gut verstand.64 Das Debüt des 44jährigen Borée Dor und der September (1930) blieb sein einziger Bestseller (1963 im 310. Tsd.), er war aber auch mit anderen Titeln zumindest bis 1950 ein durchaus erfolgreicher Romancier und Essayist, entgegen Georg Hensels Einschätzung in der Schlüsselerzählung Die Geschichte vom Tod eines Intellektuellen.65 Und er war das auch im >Dritten ReichDichterschulen< nicht kenne, enthalte ich mich hier der Meinung. Doch Ihre mokante Bemerkung, die Akademie habe zehn Jahre lang Nabelschau betrieben, ist unwahr. Ob Ihnen das, was geleistet worden ist, zureichend erscheint, steht auf einem anderen Blatt. Doch dieses Blatt haben Sie leergelassen. Ich kenne Edschmids Brief an Sie und stimme ihm zu. Auch dem Passus über >Taktik< und >Takteines Schriftstellermenschen< zu hoch gegriffen sei - hat er unterschieden zwischen >nur< publizistischen Arbeiten und der hehren Dichtkunst etwa Erich Kästners? Wenn er selbst die Unterlagen nicht kannte, warum wollte er dann Schmiele zum Einlenken bewegen? E s gab immerhin andere Einschätzungen des Streitpunkts, Peter B a m m etwa fand den Artikel »witzig und amüsant«, er hielt die »Affaire, die man daraus gemacht hat«, für »weit übertrieben«. 1 0 0 Auch dieser Streit verlief aber im Sande; K a s a c k ließ sich besänftigen, Schmiele trat nicht vom Generalsekretariat zurück. 1 0 1 Hinter all diesen kleinen, aber doch für das Clubleben und den >Freundesclub< überaus markanten Affären sah Schmiele E d s c h m i d . 1 0 2 Seit Frankfurt 1959 habe ich das Gefühl, meine ganze Arbeit ist eigentlich sinnlos, sobald ich Edschmid nicht zum Applaus bewege. Und das ist wahrlich nicht leicht. Rio - meine Schuld. Die Satzungsfrage - meine Schuld. Das Protokoll und die Tischord= [2] nung beim Frankfurter Kongreß - meine Schuld. Es geht so weiter, und offenbar habe ich nicht die Fähigkeit, Ihnen und andern klar zu machen, daß ich mich bemühe, das sachlich Richtige zu tun und alle Kollegen gleichmäßig zu behandeln. Edschmid sollte in Begleitung seiner F r a u als Delegierter nach R i o fahren, konnte sich das allerdings nicht m e h r leisten, als das Ministerium von einem Tag auf den an-

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Kästner an Schmiele, 2.4.1960, SK. Bamm, d.i. Curt Emmrich an Schmiele, n. dat., DA. Das hatten 18 PEN- und Akademiemitglieder in einem Brief an das PEN-Präsidium indirekt gefordert; sie verlangten »entsprechende Maßnahmen« vom Präsidium (26.4.1960, NLEK). Schmiele erklärte Kasack seinen Standpunkt ausführlich, freundlich und auch in Details entschuldigend (8.5.1960, Abschrift in NLEK). Schmiele an Kästner, 24.8.1960, SK.

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deren und ohne weitere Angabe von Gründen die Zuschüsse halbierte. Kurze Zeit darauf war Edschmid allerdings durch die Ehrungen zu seinem 70. Geburtstag, durch die Ehrenpräsidentschaft und eine Würdigung Schmieles im Mannheimer Morgen »ohne Zweifel jetzt überzeugt, daß ich kein Schurke sei [...] Vielleicht kann ich ihn auch noch davon überzeugen, daß ich, wenn ich als Satzungsreformator wider Willen >Vizepräsident< sagte, nicht Edschmid meinte.«103 Der Frieden hielt nicht lange, nicht mit Edschmid und nicht mit Kasack. Beide klagten den Bericht zur Jahresversammlung 1960 im Februar 1961 ein, in Form eines Protestbriefes an Kästner, in dem Kasack von der »Schlafkrankheit« schrieb und einer »ernsthafte[n] Sorge für das Bestehen und die Weiterentwicklung unseres PEN-Clubs, solange der gegenwärtige Generalsekretär die Geschäfte wahrnimmt«. Kasack schlug auch gleich einen Termin für die kommende Jahresversammlung vor, koordinierbar mit einer Akademietagung in Erlangen; in einem Postscriptum Schloß Edschmid sich ausdrücklich an und sprach vom »unqualifizierbaren Verhalten des Generalsekretärs«.104 Schmiele antwortete eher launig, die »Ermunterungsschüsse aus dem Hinterhalt« seien überflüssig gewesen.105 [...] der Text war fertig zum Absenden, als sie fielen; ich habe mir überlegt, ob es noch einen Sinn habe, ihn wegzuschicken und wüßte gern, was Sie selber von jenen Ermunterungsmethoden halten. Gewiß bin ich spät dran. Daß das generell in den nächsten Monaten der Fall sein werde, sagte ich Ihnen am 22.9.60 im Foyer der >Traubefestlich< angezogenen Menschen, Heimito von Doderer kennen, Saiko, die Fürstin Rohan, Prof. Buschbeck (Burgtheater) der Intimus von Trakl. Der riesige Park war erleuchtet. Polizisten auf Motorrädern fuhren vor unseren Omnibussen her. Annette Kolb rüstig dabei und ununterbrochen begrüsst und verwöhnt. Vorgestern um die Mittagsstunde Cocktail bei Alexander

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Rs. Mai 1955, S. 2; NLL. Zit. n.: Darmstädter Echo, 4.4.1955. Kästner an Edschmid, 5.5.1955, NLE. Friedenthal an Edschmid, 19.1.1955, NLE. - Edschmid lobte Gründgens und Sellner in seinem Tagebuch: Kasimir Edschmid: Tagebuch 1958-1960. Wien, München, Basel 1960, S. 161,325f. Kreuder an Johanna Schiffers-Ehlers, 16.6.1955, NLK. 153

Lernet-Holenia u. Frau, weissgoldene Rokokomöbel, er wohnt in der Hofburg, charmanter Mann. Nachts mit Ledig und 1 Sexualforscher Prof. L. in Nachtlokalen, Nackttänzerinnen mit zum Teil herrlichen Körpern. Auch die Taxichauffeure überaus nett, bitte höflichst, Empfehlung, meine Hochachtung, beim Aussteigen. Viele Taxifahrten kosten Geld. Gestern abend >Zauberflöte< im Theater an der Wien, ich ging bald wieder raus. Hinterher grosse Tafelei in den >Drei HusarenGrünwalder KreisesDritten Reichkulturelle< war, an die Kulturredaktion weitergeleitet worden sei, die in einem Anbau domiziliert sei, dass sie dort auch bearbeitet, aber auf dem Weg zur Zentralredaktion verlorengegangen sei.

Der Verleger Kurt Desch, PEN-Mitglied, veranstaltete eine Umfrage zu den Einmärschen bzw. Kriegen in Ungarn und Ägypten. Walter Schmiele rief im März 1957 zu einer Hilfsaktion für Schriftsteller im besetzten Ungarn auf. Die Initiative dazu ging vom Generalsekretariat des Internationalen PEN in London und dem Vorsitzenden des PEN-Clubs Schriftsteller im Exil, Paul Tabori, aus.76 Es gab zwei Möglichkeiten, schnell und unbürokratisch Hilfe zu leisten: Über eine Patenschaft, wo ein Autor direkt und persönlich einem Kollegen in Ungarn helfen konnte, indem er Pakete mit Lebensmitteln oder Textilien schickte; oder durch Übermittlung von Bargeld nach London - ein Lebensmittelpaket kostete 2 Pfund 10 Shilling, ein Textilpaket 15 Shilling: »Die Hilfsaktion des Internationalen P. E. N. schafft den Resolutionen und Solidaritätserklärungen der letzten Zeit die konkrete Ergänzung im Sinne der Bruderhilfe von Mensch zu Mensch. Wir wollen sie nach Kräften unterstützen.«77 Die Kräfte waren bescheiden. Nur vier Autoren erklärten sich für die Patenschaft bereit: Heinrich Boll >adoptierte< Julius Germanus in Budapest, 78 Erhart Kästner Geza Ottlik, 79 Klaus Piper Istvan I. Szuts,80 und Schmiele selbst Geza Hegedüs.81 Einige PEN-Mitglieder tätigten einmalige Überweisungen, »bei weitem jedoch nicht genug, und man darf wohl sagen, dass die Bereitschaft Entschliessungen

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Rs. vom 30.11.1956, DA; Edschmid gab die Erklärung an die dpa in Frankfurt weiter (Landesdienst Hessen). Rs. von Edschmid, 30.11.1956, DA. Paul Tabori ist der - sechs Jahre ältere - Bruder von George Tabori. Rs. Schmiele März 1957; NLL. Schmiele an Boll, 12.5.1957, DA. Schmiele an Kästner, 12.5.1957, DA. Schmiele an Piper, 7.7.1957, DA. Tabori an Schmiele, 9.5.1957, DA.

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zu formulieren zu der Bereitschaft Pakete zu versenden sehr im Missverhältnis steht.«82 Im November 1957 protestierten deutsche Schriftsteller und Publizisten gegen die Verurteilung ihrer ungarischen Kollegen bei Kádár: Hans Werner Richter für den Grünwalder Kreis, Jesco von Puttkamer für den Club republikanischer Publizisten und Erich Kästner für den PEN - eines der wenigen Beispiele für die Zusammenarbeit des PEN mit anderen Zusammenschlüssen, und Richter stand ja auch für die Gruppe 47 und damit eher für Distanz. Der Protest war ergebnislos wie der nächste, den der PEN wieder im Alleingang unternahm - »gegen die Hinrichtung von Imre Nagy, Maleter und der übrigen in einem Geheimprozeß verurteilten Ungarn«, und »zum dritten Male gegen die Inhaftierung des angesehenen ungarischen Schriftstellers Tibor Dery«.83 Walter Schmiele hatte zum 1. Januar 1957 mit Elan und den besten Absichten das Amt des Generalsekretärs übernommen. Am 2. Januar berichtete er Kästner von seinen Bemühungen, das Büro zu organisieren, von Eva Zeumer, die Nachfolgerin von Hildegard Finger wurde - eine promovierte Anglistin und Romanistin, die bis Ende 1956 bei Suhrkamp tätig gewesen war. Ein Treffen mit Kästner in München wurde vereinbart und fand am 24. Januar statt; dort wurden die anstehenden aktuellen Tagungen - die Jahresversammlung in Frankfurt, der kommende Kongreß in Tokio - besprochen. Ernst Beutler sollte auf der Jahresversammlung ein wenig Hausherr spielen, war aber noch nicht Mitglied; auf die entsprechende Anfrage reagierte er positiv, wenngleich er sich nicht unbedingt geehrt gefühlt zu haben scheint. Er hatte Anfang der 50er Jahre nicht beitreten wollen, »hatte unter dem Eindruck der Spaltungsvorgänge keine Lust, glaubte noch an Einigung«.84 Mit der von Harry Buckwitz vorgesehenen Theater-Festaufführung hatte das Präsidium Ärger: Bertolt Brechts Mutter Courage85 stieß auf Proteste, von Joseph Witsch, Eugen Gürster 86 und Hermann Kesten. Der schrieb, es sei »eine Verkennung der Prinzipien unseres PEN-Zentrums und seiner Mitglieder, uns den Nachlass eines Autors aus dem Nachlass von Stalin zu unseren Ehren anzubieten«. Brecht »war der rabiateste und devoteste Propagandist einer dehumanisierten Diktatur. Eines seiner beliebtesten Themen war die Unterdrückung des freien moralischen Willens, die Unterdrückung der Freiheit des Geistes und der Literatur.«87 Kästner erwartete weitere Proteste und gab dem Vorstand »zu bedenken, ob wir es auf eine solche Mißstimmung ankommen lassen sollten.« Der Zwist war ihm vor der Tagung lieber als während ihrer.

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Schmiele an Kästner, 13.5.1957, SK. Salzburger Nachrichten, 20.6.1958; vgl. Korrespondenz Kästner-Schmiele, 19.6.195823.6.1958, SK. Schmiele an Kästner, 29.1.1957, SK. Lt. Walter Schmiele im Gespräch mit dem Verf. am 14.5.1996; die Korrespondenzen nennen kein Stück. Gürster an den PEN, eingegangen 12.2.1957, DA. Kesten an Schmiele, 6.2.1957, DA.

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Obwohl er selbst »wesentlich toleranter über den Fall denke, dürfte es sich empfehlen, Buckwitz gelegentlich und mit der Bitte um dezente Behandlung eines solchen Gesprächs zu bitten, er möge doch für unsere Tagung eine der anderen Inszenierungen vorsehen«.88 Brecht könne ja auch an einem anderen Abend während der Tagung gespielt werden, dann hätten die Mitglieder selbst die Wahl. Es wurde dann tatsächlich, in Erwartung weiterer Proteste, Carl Zuckmayers kommunistischer Neigungen unverdächtiger Schinderhannes gespielt; Hermann Kesten durfte zur Versöhnung die Festrede auf der Gedenkveranstaltung für Ricarda Huch halten, die im Rahmen der Jahresversammlung stattfand. Am 2. April 1957 fand eine Sitzung des Internationalen Exekutivkomitees in London statt; Richard Friedenthal nahm für den PEN (Bundesrepublik) teil, der PEN Ost und West war nicht vertreten. Dort wurde über die Vorgänge in Ungarn gesprochen und beschlossen, den Ρ. Ε. N. Fund For Exiled Writers (F. I. F.) ohne die Klammer im Namen weiterzuführen und dafür auch die jährlichen Spenden des Kongresses für Kulturelle Freiheit nicht anzunehmen, die sollte der Pariser Vertreter von FIF allein verwalten. Als Grund nannte David Carver: der Kongreß sei »a body with political affiliations«.89 Den größten Teil der Sitzung wurde über einige Passagen der internationalen Satzung diskutiert. Einige der bis heute weiterwirkenden Entscheidungen: Paul Tabori als Präsident des Zentrums Writers in Exile und gleichzeitiges Mitglied im englischen PEN hatte, wie viele Emigranten, ein Interesse an der Anerkennung von Doppelmitgliedschaften. Er konnte sich nicht durchsetzen: Chamson hielt »One man - one vote« für »the democratic way«; Carver betonte, jedes Mitglied könne an einem zweiten Club teilnehmen und dort sprechen, es dürfe nur an den Wahlen nicht teilnehmen. Für diesen Ist-Zustand stimmte die Exekutive mit 18:3 Stimmen. 90 - Auch über die Position der Internationalen Vizepräsidenten wurde gesprochen, in Anwesenheit der damaligen Inhaber Storm Jameson und Victor van Vriesland. Sie wurden für jeweils drei Jahre gewählt - laut Carver als Schutz für die Autoren selbst, die in diesem Amt »a considerable amount of work« zu leisten hätten - und hatten im Exekutivkomitee kein Stimmrecht, es sei denn, sie repräsentierten gleichzeitig ihr Zentrum. Es wurde versucht, die Amtszeit zu verlängern, ihnen ein Stimmrecht zu verschaffen, und Friedenthal, wohl durch die Becher-Affäre gewitzigt, fragte, wie man Internationale Vizepräsidenten wieder loswerden könne. Die Versammlung stimmte mit 16 Stimmen für den status quo, das englische und das deutsche Zentrum enthielten sich der Stimme, nur New York, Belfast und Dublin stimmten dagegen.91 - Ein Versuch, die Zahl der deutschsprachigen Zentren zu reduzieren, fand statt, durchaus im Rahmen der allgemeinen Debatte über mehrere Zentren in einem Land. Storm Jameson, nicht als Internationale Vizepräsidentin, sondern als Sprecherin des englischen Clubs, fand es »>against the heart< to see the 88 89 90 91

Kästner an Schmiele, 12.2.1957, SK. Protokoll zur Exekutivversammlung in London, 2.4.1957, S. 11; PAL. Dass.: 5. Dass.: 6.

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Ausland or Bundesrepublik Centre deprived of a vote while the Ost und West, which often moved contrary to the spirit of the Charter, retained its voice.« Tabori schlug streng logisches Vorgehen vor, nämlich die gemeinsame Wahl des westlichen und des östlichen deutschen PEN; Carver wies darauf hin, daß dann nur noch der PEN deutscher Autoren im Ausland eine funktionierende Stimme behielte. Die Exekutive beschloß deshalb als gültige Maxime »Each Centre is entitled to one vote only«, mit den ausdrücklichen Ausnahmen: 92 Australia Belgium Germany Ireland South Africa Switzerland

2 votes 2" 3 " 2" 2" 2"

U.S.A.

2"

(Melbourne and Sydney) (French- & Flemish-speaking) (Bundesrepublik; Autoren im Ausland; Ost und West) (Belfast and Dublin) (Africaans- & English-speaking) (French-speaking (Geneva); and German-speaking (Basel and Zurich) (New York and Los Angeles)

Karl Friedrich Borée vermeldete »Stagnation und Sterilität«, obwohl ihm die Frankfurter Jahresversammlung nicht recht gegeben hatte - sie erfreute sich ungewöhnlich großer Beteiligung.93 Kästner war wichtig gewesen, Edschmid »in eine Position ein[zu]arbeiten [...], die es ihm auch weiterhin erlaubt, mit Sitz und Stimme die Entschlüsse des Vorstands und Beirats künftig zu beeinflussen.«94 Fritz Usinger hatte vorgeschlagen, Edschmid zum Vizepräsidenten zu machen. 95 In Frankfurt wurden tatsächlich Friedenthal und Edschmid zu Vizepräsidenten gewählt, unter Anerkennung ihrer besonderen Verdienste. Der Posten wurde erst in Frankfurt geschaffen, nach dem Vorbild des internationalen Zentrums; die Kompetenz ehemaliger Präsiden sollte auf diese Weise dem Vorstand erhalten bleiben, gleichzeitig war die Stellung eine Ehrung der Berufenen. Erich Franzen initiierte in Frankfurt eine mehrere Monate währende SatzungsDebatte, deren eigentliche Anliegen scheiterten. Er regte an, Zuwahlvorschläge im Plenum zu diskutieren; es wurde eingewendet, daß dabei persönlich subtile Fragen besprochen würden und die Zusammensetzung des Plenums stets sehr zufällig sei; darauf zog Franzen seinen Antrag zurück. Ferner schlug er vor, bei politischen Kundgebungen des Präsidiums die Zustimmung der Mitglieder vorher einzuholen dieser Antrag wurde mit nur einer Gegenstimme abgelehnt, weil er nicht praktikabel sei: Bis die Antworten der Mitglieder eingetroffen sind, ist die Aktualität des Anlasses verstrichen, und der Vorstand sei schließlich durch die PEN-Charta politisch festgelegt. Mit seinem dritten Antrag, dem Wunsch nach einer »sowohl inhaltliche[n] wie stilistische[n] Neubearbeitung« der Satzung vom 4.12.1951 hatte Franzen Erfolg: Eine inhaltliche Revision wurde zwar abgelehnt, aber eine stilistische

92

Dass.: 8. Borée an Scholtis, 31.5.1957, NLB. Die Jahresversammlung fand vom 23.-26.5.1957 statt, es kamen 42 Mitglieder und 8 Gäste. 94 Kästner an Schmiele, 27.2.1957, S.2; SK. 95 Schmiele an Kästner, 17.3.1957, SK.

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befürwortet; der Präsident Erich Kästner selbst sollte die Revision übernehmen. 96 Der erklärte sich für überarbeitet, ein erster Revisionsversuch erfolgte durch Eva Zeumer und Schmiele. Ihr Entwurf zeigte deutlich die Schwachstellen der alten Satzung und das Bestreben des Generalsekretärs, die Verwaltung des Clubs zu professionalisieren: Ein Modus zur Einberufung von Versammlungen fehlte; die Stellung der Vizepräsidenten - auf Lebenszeit - sei »das juristische Afrika«; der Vorstand sollte erst nach der Prüfung der Revisoren entlastet werden, anstatt wie bisher zuvor (!); das Zentrum sollte nicht mehr mit einfacher Mehrheit auf einer Versammlung aufgelöst werden können; zwischen Gesamtvorstand und engerem Vorstand (Präsident und Generalsekretär) wurde unterschieden.97 Edschmid fühlte sich als Vizepräsident durch diesen Entwurf persönlich angegriffen und wollte sich »als einer der Gründer« dafür einsetzen, »dass der PEN in seiner Struktur nicht verändert wird«. Durch Schmieles Entwurf sei der PEN auf dem besten Wege, »aus einem Club ein Verein zu werden und ein besonders streng und einseitig geleiteter Verein«. 98 Der Generalsekretär bedauerte gegenüber Kästner den Eindruck, der Entwurf sei sein 99 persönlicher Einfall. Es scheint völlig vergessen, daß die Hamburger Versammlung eine juristische Überarbeitung der Satzung beschloß, damit Sie beauftragte, während ich nur derjenige war, der dann in Ihrem Auftrag ausführte und sich mit einem Vereinsrechtler zusammensetzte. Allerdings - was nun drinsteht, habe ich aufgenommen, weil ich es für rechtlich notwendig und vernünftig halte. Ich bin nicht der Ansicht, daß eine gute Satzung die innere Struktur eines Clublebens stört. Sie tut das so wenig wie die Benutzungsanweisung für eine Feuerleiter das Leben im Innern eines Hauses stört. Nur im Ernstfalle wirft man einen Blick darauf. Dann natürlich muß alles klar und verständlich sein.

Auch die Satzungskommission - Heinrich Behl, Karl Friedrich Borée, Herbert Nette - bedeckte sich nicht mit Ruhm, weil sie sich nicht auf einen Vorschlag einigen konnte. Hier ist einiges über die Vorbereitung demokratischer Entscheidungen in Mitgliedsversammlungen zu erfahren, in diesem Fall über das Scheitern:100 Nette entdeckte dieser Tage, daß er schon seit Jahrzehnten kein Jurist mehr ist und sich der Materie nicht mehr recht gewachsen fühlt. Es wäre besser gewesen, er hätte sich das Ende Mai schon klargemacht. Borée hat etwas Schriftliches angefertigt, das wieder ganz vorne anfängt und alles umkrempelt. Behl schrieb mir am 10.8. Lustloses [...] Besorgniserregend ist [...] der Passus: >... und dann mag das Plenum entscheiden, welchen Entwurf es annehmen will.. .< Genau das sollte nicht sein. Dem Plenum sollte, so war unsere letzte Darmstädter Präsidialsitzung verblieben, ein fertiger Entwurf der Dreierkommission vorgelegt werden, und zwar von den drei Herren zur Annahme empfohlen. Dann hätte man Aussicht gehabt, vielleicht in drei Stunden mit der Diskussion über ein paar Details fertig zu werden und die Sache dann zu verabschieden. Wenn da wieder zwei, drei Entwürfe auf dem Tisch liegen, wird man Tage, Wochen reden und nicht einig sein.

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Rs. Schmiele, August 1957, S.2f.; NLL. Schmiele an Kästner, 9.6.1958, SK. Edschmid an Schmiele, 3.9.1958, DA. Schmiele an Kästner, 21.1.1959, SK. Schmiele an Kästner, 16.8.1959, S. 1; SK.

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Die Frankfurter Mitgliederversammlung diskutierte schließlich einen Brief Arnold Zweigs, des Präsidenten des PEN Ost und West. Zweig hatte als Geste der Annäherung eine gemeinsame Erklärung der beiden Zentren angeregt, »in der zur Göttinger Professoren-Resolution und zum Appell Albert Schweitzers gegen die Anwendung von Kernwaffen Stellung genommen werden soll«.101 Zweigs Geste wurde abgewunken: der PEN (Bundesrepublik) habe sich bereits im Februar 1957 zu der Londoner Erklärung gegen den Krieg mit Atomwaffen ausdrücklich bekannt und überdies bereits von sich aus mit seiner Erklärung vom 24.4.1957 den AlbertSchweitzer-Appell unterstützt. Inhaltlich ist diese Entscheidung natürlich nachvollziehbar - warum sollte der Club eine bereits gegebene Erklärung verdoppeln, nur um sie zusammen mit einem anderen Zentrum abgeben zu können? Wie oft in solchen Fällen fragt sich aber wieder, wie der PEN (Bundesrepublik) auf eine entsprechende Aufforderung etwa des schwedischen oder österreichischen Zentrums reagiert hätte. Der weitere ausführliche Kongreßbericht erging sich in den gesellschaftlichen Ereignissen des Kongresses;102 der ausführlichste Bericht über diese Jahresversammlung findet sich aber in den Mitteilungen der Stadtverwaltung Frankfurt a. M.," a wo es primär um die Zelebrierung der Stadt und ihrer derzeitigen Regierenden ging. Zu einer Ansprache des Frankfurter Bürgermeisters Leiske erschien auch eine Glosse, die berichtete, er habe seine brave Ansprache mit einem »Märchen« beschlossen, »was, der edlen und kulturgetränkten Worte entkleidet, schlichtweg eine dürre Aufforderung an die Amerikaner war, mit ihrem Gelde das zerstörte Opernhaus der Stadt Frankfurt wieder aufzubauen.« 104 Die Glosse schilderte drastisch die kaum singulare Verkennung des Einflusses, den der PEN in den Augen Leiskes besaß; er bat die PEN-Mitglieder, doch ihre Beziehungen, die ja bekanntlich bis nach Amerika reichten, spielen zu lassen. Der Kommentator malte sich die erhofften Folgen, in den Gedanken des Bürgermeisters, aus:105 Woraufhin die anwesenden PEN-Fürsten wie ein Mann in die Telefonzellen stürzten, dringende R-Gespräche nach New York, Los Angeles, Houston und San Francisco anmeldeten, ihre dort ansässigen PEN-Kollegen aus dem Schlaf rissen und die Lage schilderten. Die wiederum nicht faul, setzten sich in ihre Privatflugzeuge oder in den nächst erreichbaren Pullman-Wagen, stürmten, in Washington angekommen, an den verdutzten Wachen vorbei, ins Innere des Weißen Hauses, weckten erst, aus diplomatischen Gründen, Mammie, dann Pappi Eisenhower und beschrieben beiden in zu Herzen gehenden Worten die

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Rs. Schmiele, August 1957, S.3; NLL. Diese waren: Empfang der Stadt Frankfurt im Kaisersaal des Römers; Bürgermeister Dr. Leiske überreichte die Goethe-Plakette der Stadt Frankfurt an Benno Reifenberg und Kasimir Edschmid; Führung durch das Goethehaus durch Ernst Beutler; Cocktailparty im Hause S. Fischer; Gedenkveranstaltung für Ricarda Huch (mit Kranzniederlegung und einer Rede Hermann Kestens); Weinausflug ins Kloster Eberbach; Festvorstellung des Zuckmayerschen Schinderhannes und eine Rede vom Harry Buckwitz dazu. Mitteilungen der Stadtverwaltung Frankfurt a.M., Nr.22,1.6.1957. »S.-F.« (Hans Schwab-Felisch) in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 27.5.1957. Ebd.

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herbe Not der armen Stadt Frankfurt und den desolaten Zustand ihres Opernhauses. >Daß ich gerade das vergessen konntenetten< und >reizenden< Zusammenhang stand wie etwa im Feuilleton Hermann Kestens zur Tagung, in dem er beteuerte, wie sehr er den deutschen PEN und die deutschen Dichter liebe. Seine Hymne auf den PEN wirkte wie eine (unbeabsichtigte) Antwort auf die Glosse im Tagesspiegel, seine Erinnerungen an die politischen Anliegen von PEN klingen nicht so, als seien sie zentral: Der PEN habe »so reizende Ideale, die Freiheit und den Frieden und die Freundschaft unter den Schriftstellern aus allen Ländern.« 108 Auf seine DDR-Schelte - auch heute gebe es deutsche Schriftsteller, die im Gefängnis säßen, weil ihre Ansichten der Regierung nicht genehm seien - erhielt Kesten unerwartet Antwort: Johannes R. Becher, inzwischen Kulturminister der DDR, bat um Präzisierung. Kestens Antwort fiel temperamentvoll, aber wenig konkret aus: die109 Korruption und die Versklavung und die Vernichtung der Menschenwürde scheinen mir in Ihren kommunistischen Diktaturländern unvergleichlich schlimmer zu sein als in freien

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-eim in: Der Tagesspiegel, 30.5.1957. Ebd. Kesten in: Süddeutsche Zeitung, 31.5.1957. Kesten in: Süddeutsche Zeitung, 20.7.1957. 171

Ländern. Und Sie haben noch, vor Nationalsozialisten und Faschisten, die Schmach voraus, daß Sie im Namen der Freiheit unterdrücken, und im Namen der Gerechtigkeit ungerecht sind [...]

In Die Kultur berichtete Adolph Meuer von der Frankfurter Tagung und behauptete, die Mitglieder des PEN »beteiligten sich außerdem sehr rege an der UngarnHilfe des Internationalen Ρ. Ε. N., die von London zentral geleitet wird, sei es, daß London Adressen zur Übernahme von Patenschaften vermittelt oder mit Hilfe der Bargeld-Spenden Pakete an ungarische Schrifsteller verschickt.« 110 Das war eine Übertreibung; die tatsächliche Hilfe für die Kollegen war eher bescheiden. 111 Durch die Ereignisse in Ungarn war der internationale PEN-Kongreß in Tokio 1957 wieder politisch gefährdet, anders als sein Vorgänger und entgegen den meist harmlosen Berichten der Teilnehmer. Der Präsident André Chamson hatte den »chronisch drohenden Eklat zu vermeiden«: 112 Diesmal drohte er bei der Diskussion über das ungarische P. E. N.-Zentrum auszubrechen. Die heikle Frage in zwei, äußerst lebhaften, Sitzungen des Exekutivkomitees war, ob man dem Antrag auf Suspendierung des ungarischen Zentrums zustimmen solle oder nicht. Der Suspensionsantrag wurde schließlich gegen die Stimmen vor allem der westlichen Zentren abgelehnt. Auch unsere Delegation hatte für die Suspendierung gestimmt. Es kam zu einer Kompromissformel.

Das bedeutete, der ungarische PEN wurde zu einem Rechenschaftsbericht aufgefordert, von dem das weitere Vorgehen abhängig gemacht werden sollte - eine der üblichen PEN-Debatten, die laut klangen und ohne Ergebnis schlossen. Immerhin unterzeichneten alle Delegierten - bis auf die bulgarischen, tschechoslowakischen und den ostdeutschen Repräsentanten Bodo Uhse - einen Appell zur Freilassung der ungarischen Schriftsteller. 113 Richard Friedenthal war einer der Delegierten auf dem Kongreß in Tokio, der seinen Abschluß in Kioto fand. Etwa 200 Schriftsteller aus aller Welt nahmen teil, die weiteren deutschen Delegierten waren Helmuth von Glasenapp, anstelle von Gründgens Walther von Hollander, und der Generalsekretär Walter Schmiele. Friedenthal hat ein Reisebuch über seinen Japan-Aufenthalt und die anschließende Reise zum koreanischen PEN geschrieben: Die Party bei Herrn Tokaido (1958). Edschmid, seinerseits Verfasser zahlreicher Reisebücher, meinte, das sei eine geistreiche Schilderung geworden, nach nur drei Wochen Aufenthalt: »Man muß ein Land ganz rasch sehen oder lange darin leben.« 114 Der Teil von Friedenthals Buch, der über den Kongreß berichtete, fiel knapp und feuilletonistisch aus, er nannte keine Namen: Die Eröffnungssitzung beschrieb er als Schlacht der japanischen Pressefo-

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113 1,4

Meuer in: Die Kultur, 15.6.1957. S.o. A. VI. 2. Rs. Schmiele Silvester 1957, S.2; NLL. Vgl. ähnlich Schmieles Bericht in: Stuttgarter Zeitung, 30.9.1957. Vgl. Werner Crome in: Schwäbische Landeszeitung (Augsburg), 17.9.1957. Edschmid 1960: 56.

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tografen, der Kongreß sei gekennzeichnet gewesen von den »üblichen Phrasen«, »Originalitätshascher« hätten ihre »unoriginellen flammenden Resolutionen« eingebracht.115 An konkreten Fakten nannte er außerdem ein »>Symposion< genanntes Rednerprogramm zum Thema >Ost und West in ihren gegenseitigen kulturellen Beziehungen^, 116 gesellige Veranstaltungen zuhauf, darunter ein Empfang beim deutschen Botschafter, Theater, Kabuki, Nô-Spiele, Feuerwerk. Er beschloß, sich lieber in Tokio umzusehen: »Genug der vorbereiteten Reden zum Thema Ost und West, der Sitzungen, die wir getreulich abgesessen haben.« 117 Seine Reisegefährten sind nicht erwähnt, aber ein Rundfunkgespräch zum Thema Ost-West; in diesem Falle war der ferne Osten gemeint ist, die asiatischen Kulturen, hier besonders die japanische. Der Bericht der Debatte 118 ist so trivial wie die Debatte gewesen zu sein scheint, der Verfasser resümierte selbst: »Nur Konferenzen von Staatsmännern ergeben Resultate, die meist vergänglicher Natur sind. Nur autoritär geführte Dialoge, bei denen ein Sokrates präsidiert, führen an ein Ziel, ein genau abgestecktes.«119 Die Ofoerver-Berichterstatterin Kathleen Nott freute sich mehr über die fehlenden Ziele. Ein nächtliches Gespräch zwischen japanischen Teilnehmern und einem (nicht genannten) deutschen Japanologen zum Thema inwieweit kann Japan weltweiten Einfluß erlangen< schrieb sie: »The conversation indeed smacked of the windy old Teutonic nights of one's student days.«120 Die gesellschaftlichen Ereignisse erzählte Walter Schmiele den Mitgliedern in seinem Rundschreiben am Ende des Jahres. Daß die Schriftsteller »wie Filmgrößen« 121 empfangen worden seien, ging bei Schmiele nur aus der puren Anzahl der Empfänge hervor; sie fanden noch vor und nach dem Kongreß statt, es gab auch einen Zwischenstop der deutschen Delegation (ohne Friedenthal) auf der Rückreise in Bangkok. Der Kongreß verging aber nicht ganz ohne konkrete Resultate; sie betrafen vor allem den ostwestlichen Kulturaustausch, der damals im Argen lag. In Tokio war das handfest an den Übersetzungsschwierigkeiten zu bemerken, die immens waren - es gab nur sehr wenige Übersetzer; die Versuche, simultan zu übersetzen, scheiterten an den völlig verschiedenen syntaktischen Strukturen; einige Redner hielten sich nicht an abgesprochene Manuskripte, manchmal nicht einmal an die zu erwartende Sprache, so daß die Übersetzer ständig in Verlegenheiten kamen.122 Die Delegierten erlebten also die Notwendigkeit zur Abhilfe am eigenen Leib, und sie beschlossen:123

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Richard Friedenthal: Die Party bei Herrn Tokaido. Begegnungen im heutigen Japan. München 1958, S. 36. 116 Ders.: 38. 117 Ders.: 40. 118 Ders.: 133-147. 119 Ders.: 146. 120 Nott in: The Observer, 15.9.1957. 121 Philip Hope-Wallace in: Die Kultur, 2.10.1957. 122 Vgl. Kiyoaki Murata in: Japan Times, 7.9.1957. 123 Rs. Schmiele Silvester 1957, S.2; NLL. - Stephen Spenders Kongreßbericht in: Sunday Times, 15.9.1957. 173

Erstens: Zusammenarbeit von UNESCO und P.E.N. mit dem Ziel, europäische Übersetzer asiatischer Literaturwerke durch Beihilfen zu fördern. Zweitens: Verzicht der dem Ρ. Ε. N. angehörenden westlichen Autoren auf alle Einkünfte aus Übersetzungen ihrer Bücher in Sprachen unterentwickelter asiatischer Länder. Drittens: Stiftung von Geldpreisen für die Übersetzung bedeutender, noch unübersetzter asiatischer Bücher in europäische Sprachen. Hier gab es Sonderbeifall für Stephen Spender. Als Herausgeber der Zeitschrift >Encounter< hatte Stephen Spender einen 100-PfundPreis gestiftet, der alljährlich für die beste englische Übertragung aus dem Japanischen vergeben werden soll, und zwar sowohl an den Übersetzer wie an den Autor des Originals.

Besonders herzliche Verbindungen ergaben sich zu der >deutschen Kolonie< in Japan, Empfänge bei der japanisch-deutschen Gesellschaft und beim Botschafter Hans A. Kroll; wie »verlorene[.] Söhne[.], die heimgekehrt sind«, seien die deutschen Reisender behandelt worden. 124 Es gab auch eine deutsche Buchausstellung in Tokio, auf der der japanische Staatsminister Tkujiro Kanamori, Kroll und Schmiele sprachen; letzterer hat dort »die deutsch-japanischen Literaturbeziehungen allgemein gestreift und eine kritische Malice über die Auswahl der Bücher angefügt, in der ich Autoren wie Gottfried Benn, Franz Kafka, Wilhelm Lehmann, Hermann Kasack und Kasimir Edschmid vermißte.«125 Zur Nachbereitung des Kongresses gehörte ein Bericht des Generalsekretärs im Auswärtigen Amt; der betreffende Legationsrat sei »sehr interessiert« gewesen und empfahl Schmiele, wegen der zusätzlichen hohen Kosten »eine detaillierte Nachforderung« einzureichen.126 Noch 1995 hat sich Schmiele an die Knausrigkeit des Ministeriums erinnert: Sie seien nur zu dritt geflogen und ohne ihre Frauen, während die große französische Delegation alles bezahlt bekam - er erinnert sich, deren Frauen hätten sich auf dem Flug nach Tokio ständig umgezogen.127 Im gleichen Gespräch auf dem Auswärtigen Amt hat Schmiele auch die Möglichkeiten einer »Etatisierung« des PEN erkundet, auf eigene Faust und aufgrund seiner Erfahrungen aus neun Monaten Amtszeit. Er hielt regelmäßige Zuschüsse durch das Auswärtige Amt und das Innenministerium für erstrebenswert; der bisherige Weg »der ehrenamtlichen Zugabe von 2 Arbeitstagen in der Woche« durch den Generalsekretär könne keine dauerhafte Lösung sein.128 Die Frage der Unabhängigkeit stellt sich mir in neuem Licht dar, nachdem ich von Hollander und bestätigend vom A . A . höre, dass der preussische Staat und das Reich dem deutschen PEN-Club in den zwanziger Jahren jährlich etwa 20-30.000 RM zuschössen. Hollander war damals Generalsekretär und erzählte mir als erster darüber. Theodor Däubler war Präsident. Weder er noch Heinrich Mann, noch Döblin, noch andere grosse Figuren dieser Zeit sind dadurch in ihrer geistigen Unabhängigkeit irritiert worden.

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Dass.: X; zu Kroll auch Schmiele in: Stuttgarter Zeitung, 30.9.1957. Rs. Schmiele Silvester 1957, S.3; vgl. Börsenblatt, 5.11.1957, S. 1372. Schmiele an Kästner, 11.10.1957, SK. Schmiele im Gespräch mit dem Verf., 3.7.1995. Schmiele an Kästner, 11.10.1957, SK.

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Eine schriftliche Antwort Kästners gibt es nicht, weil sie wohl mündlich auf der nächsten Jahresversammlung in Darmstadt erfolgt ist; jedenfalls wurde der PEN nie regelmäßig von den Ministerien unterstützt, sondern stets nur mit einmaligen Zuwendungen zu bestimmten Anlässen (wie der Teilnahme an oder der Organisation von internationalen Kongressen). Im März 1958 fand in Darmstadt ein Autorentreffen osteuropäischer Exilanten statt. Das Treffen war angeblich »auf private Initiative« zustandegekommen, die Teilnehmer waren deutsche Heimatvertriebene wie exilierte Schriftsteller »aus den baltischen Ländern, Polen, der Tschechoslowakei, Ungarn, Rumänien, Jugoslawien, der Ukraine und Rußland«. 129 Die Tagung bestand offenbar aus biographischen Berichten einiger Teilnehmer, Diskussionen über Freiheitsbegriffe und einer Stellungnahme gegenüber der Presse, man wolle wenigstens hier die geistige Einheit Europas demonstrieren. Mit dem PEN hatte das Treffen insofern zu tun, als Kasimir Edschmid eine Begrüßung sprach, das PEN-Mitglied Walter Meckauer als gebürtiger Schlesier mittat, Paul Tabori ein Referat hielt und Peteris Aigars, der Präsident des Londoner Zentrums Writers in Exile, auf dieser Versammlung die Gründung eines deutschen Exil-PEN-Zweiges ankündigte. Auf der Exekutivsitzung in London 130 finden sich die politischen Themen, die den PEN zu dieser Zeit bewegten. Außerdem deutete aber Friedenthal als Repräsentant des bundesrepublikanischen Zentrums an, man habe große Hoffnungen, eine deutsche Einladung für den 1959er Kongreß aussprechen zu können, das Zentrum sei allerdings noch ängstlich, ob es die finanziellen Mittel aufbringen werde. Er nannte auch bereits Frankfurt als möglichen Tagungsort, auch noch München, »although it was the most federal of all the Länder and would almost certainly refuse help from the Federal Government«. 131 Erneut wurde breit die Frage einer Aussetzung des ungarischen Zentrums debattiert, über das sich der Erkenntnisstand nicht erweitert hatte - weiterhin wurden ungarische Schriftsteller inhaftiert, und weiterhin gab sich der (selbsternannte) ungarische PEN-Präsident Bölönyi kooperativ, ohne daß je ein ungarischer Repräsentant auf internationale PEN-Veranstaltungen geschickt wurde. Die Versammlung beauftragte ein Fünferkomitee, darunter Chamson und Carver, mit dem ungarischen Zentrum Kontakt aufzunehmen und sich innerhalb von eineinhalb Monaten ein Bild zu machen - widrigenfalls hatte das Komitee »the power to withdraw recognition from the Hungarian Centre«.132 Tatsächlich wurde das ungarische Zentrum auf der folgenden internationalen Exekutivsitzung133 suspendiert, die eingesetzte Fünferkommission 134 erhielt die umgekehrte Funktion: sie sollte die Suspendierung bei entscheidenden Verbesserungen

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Darmstädter Echo, 11.3.1958. Am 18.3.1957. Protokoll der Exekutive, 18.3.1957, S.9; PAL. Dass.: 14. Am 28.9.1958 in Paris. Bestehend aus Rochi Hingorani (Indien), Vriesland, Chamson, Carver, Friedenthal.

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wieder aufheben dürfen. - Das PEN-Zentrum Ost und West war nicht vertreten, Bodo Uhse ließ aber Chamson brieflich anfragen, ob nicht gewisse PEN-Delegierte (»certain other delegates«) Reisekosten von politischen Organisationen angenommen hätten. Carver und Chamson erklärten sich für unzuständig, die Beweislast liege bei demjenigen, der die Vorwürfe mache; Friedenthal meinte, es könne interessant sein, über Uhses Reisekosten etwas zu erfahren, aber die seien nun einmal seine Sache; und Robert Neumann erklärte, »the complaint had no foundation, and could be of no interest to the executive«. Uhses nebuloser Verdacht fand keine Befürworter, und in diesem Sinne sollte Carver ihm antworten. 135 Großer Aufmerksamkeit durch die Presse erfreute sich die Jahresversammlung in Hamburg, 136 vor allem der öffentliche Teil: der PEN gedachte der Bücherverbrennung von 1933 aus Anlaß ihres 25jährigen Jubläums. Paul Tabori überbrachte Carvers Anregung, den 30. internationalen PEN-Kongreß doch in der Bundesrepublik zu veranstalten. Die Stadt Frankfurt erklärte sich zur Übernahme des Kongresses bereit. Carver war in Hamburg selbst anwesend und nannte seine Gründe, dem westdeutschen Zentrum die Veranstaltung vorzuschlagen: seit 1926 hat es keinen Kongreß in Deutschland gegeben; für André Chamson wäre es ein schöner Abschluß seiner Präsidialzeit; das Exekutivkomitee wünsche schon länger eine Vereinfachung der internationalen Kongresse, weniger Pracht - der verflossene japanische könne nicht übertroffen werden, und gerade »Deutschland als reiches Land sollte freiwillig mit einfacherem Kongress beginnen«.137 Mit einem >ärmeren< Kongreß war gemeint, daß es nur einen offiziellen Empfang geben sollte und einen ExtraEmpfang für die Ehrengäste; eine Geschäftssitzung; das literarische Thema soll in vier Sitzungen behandelt werden können; und es sollte mehr veranstaltungsfreie Zeit geben, um dem eigentlichen - geselligen, kommunikativen, sexuellen - Sinn des Kongresses Genüge tun zu können. Carvers Gründe überzeugten die Versammlung, und Kästner hoffte, »dass es uns gelingt, den Wettbewerbskurs zu reduzieren«.138 Die Diskussion um den Ort der nächsten bundesrepublikanischen Jahresversammlung erwies sich als problematischer: Bergsträßer schlug im Auftrag Hagelstanges Konstanz vor, Hennecke plädierte für Berlin.139 Goldschmit-Jentner: Es wurde wiederholt davon gesprochen u. als heisses Eisen wegen peinlicher politischer Debatten zurückgestellt. Schnabel: D i e Gründe gegen Berlin sprechen fiir Berlin. Wenn der Internationale Kongress in Frankfurt ist, könnte man den deutschen Kongress in Berlin machen.

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Dass.: 16. 7. bis 10. Mai 1958. Verlaufsprotokoll der Geschäftssitzung am 8.5.1958 in der Handelskammer der Hamburger Börse, S. 2; D A . Ebd. Ebd.

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Die Diskussion wurde noch etwas weiter geführt unter Verweis auf Reiseschwierigkeiten, befürchtete Konkurrenzveranstaltungen des Becher-PENs und möglicher Vergeltungsmaßnahmen wegen der Verhaftung eines ostdeutschen Journalisten. Schmiele gelang es, eine Vertagung der Entscheidung zu erreichen - unter Verweis auf die nötige Abstimmung mit dem internationalen Kongreß in Frankfurt. Dessen Vorbereitung war die restliche Debatte gewidmet, insbesondere der Frage nach dem literarischen Thema und wie am besten zu organisieren sei, daß ein komplexes Thema rundherum behandelt werden könne, ohne daß sich nationale Eitelkeiten in den Vordergrund drängen. Die Themendiskussion verlief mit dem entschiedenen Interesse, politische Mißverständlichkeiten, ja möglichst Politik überhaupt auszuschließen. Robert Schnorr etwa schlug »Entartung der Sprache und Entwertung des Wortes« vor,140 Edschmid sah darin eine »Abschweifung ins Politische möglich u. bedenklich«.141 Sternberger hielt das Thema bei strenger Referentenauswahl und Diskussionsführung für möglich, und schlug selbst ein Thema vor: »Was geschieht von Seiten der Schriftsteller, um die Entwicklung der Dinge kritisch zu beobachten und den Sprachzustand zu bessern?« Er wollte es allerdings auf vier Sprachen beschränkt wissen. Schmiele erinnerte daran, wo man sich befinde - es sei unmöglich, eine Nation auszuschließen, und daß es ein »Kommunikationsproblem mit dem Osten« gebe.142 Die Diskussion endete in einem Ausschuß, auf Anregung Gerhard F. Herings und in der von Kästner vorgeschlagenen Zusammensetzung. 143 Der Ausschuß hielt sich zur Verfügung des Generalsekretärs, der die Vorschläge nach London weiterreichen mußte. Auch die Hamburger Jahresversammlung, eine der wichtigeren, war gut besucht.144 In ihrem Rahmen fand am 9. Mai eine Diskussionssitzung des Kongresses für die Freiheit der Kultur statt, dessen Thema einmal nicht nach Ostdeutschland schielte, sondern das eigene Land in den Blick nahm: »Wo ist bei uns die Freiheit bedroht?« 145 Die Debatte scheint sich vor allem um die Frage der Atomrüstung bewegt zu haben, Schmieles Bericht ist hier aber sehr knapp. Die Tagespresse referierte weitere Streitpunkte - Ernst Schnabel erklärte zur größten Gefahr, daß die vorhandene Freiheit nicht ausgeübt werde und die Schriftsteller zu lange schwiegen; Kaien ter zählte in seinem Bericht als weitere Bedrohungen auf:146

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Dass.: 4. Ebd. Ebd. Hering, Sternberger, Witsch, Hennecke, Schnorr, Piper; Hennecke schlug zusätzlich Erich Franzen vor. 46 Mitglieder und 6 Gäste, darunter Carver, Tabori und Mitglieder des schweizerdeutschen, italienischen, japanischen P E N und des Zentrums deutschsprachiger Autoren im Ausland. Es gab die üblichen Empfänge der Stadt; die Teilnehmer konnten in das Deutsche Schauspielhaus zur Premiere von Faust II gehen, unter Regie von Gründgens, der auch den Mephisto spielte. Rs. Schmiele, n. dat. (etwa Ende Juli 1958), S.4; NLL. Kalenter in: Mannheimer Morgen, 16.5.1958.

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Durch die reaktionären Konservierungen der Universitäten; durch Professoren (und Schriftsteller?), die bei jeder Aktion ihren Namen unter fachfremde Dinge setzen; durch die politischen Parteien; durch buchstabentreue Einhaltung der Verfassung; durch Uebergehen der Verfassung, indem man eine Volksbefragung anstrebt [...] Und so fort - bis zum Frühstück mit Sherry, Lachs und Krabben in Mayonnaise.

Hauptgegner in der Aufrüstungsdebatte waren offenbar Erich Lüth, der Leiter der Hamburger Senatspressestelle, und Dolf Sternberger. Der Hamburger Senat plante (wie andere Länderregierungen) eine Volksbefragung zur Atomrüstung der Bundeswehr, die Bundesregierung ließ sie auf gerichtlichem Wege untersagen; zum Zeitpunkt der Diskussion war der Gerichtsentscheid noch nicht gefallen. Lüth erklärte den Schritt der Bundesregierung zu einer Beeinträchtigung der Freiheit, und Sternberger widersprach ihm: Lüth solle ihm »die von der SPD verfochtene These [..] erklären, es ginge bei der Atombewaffnung der Bundeswehr um Tod und Leben des deutschen Volkes«.147 Auch Kesten, der sich als Pazifist verstand, regte sich über öffentliche Stellungnahmen seiner Kollegen auf: es sei unzulässig, die Atomrüstung mit der Wiedervereinigung zu verquicken, die eine rein nationale Angelegenheit sei;148 Edschmid sah gar die Freiheit der Bundesrepublik nicht etwa durch Aufrüstung bedroht, sondern durch den »demagogischefn] Druck zur Unterschrift unter die Aufrufe«. 149 Nach außen hin stand der PEN-Kongreß ganz im Zeichen der 25. Wiederkehr des Tages der Bücherverbrennung am 10. Mai 1933. Dieser Teil der Versammlung war auf einen Vorschlag Hans Lamms zurückgegangen, des Publizisten und Kulturdezernenten des Zentralrats der Juden in Deutschland. Lamm hatte Kästner auf den Jahrestag aufmerksam gemacht und schlug als konkrete Form eine Wanderausstellung vor;150 Schmiele beriet sich dahingehend mit dem Direktor des hessischen Bibliothekswesens, Hans Eppelsheimer, und dem Vorsitzenden des Börsenvereins Lambert Schneider.151 Entstanden sind daraus eine stationäre Ausstellung und die Großveranstaltung in der hamburger Staats- und Universitätsbibliothek mit folgenden Teilen: Die Charta des PEN wurde vom Generalsekretär verlesen und vom Publikum stehend angehört. 152 Hamburgs Kultursenator hielt die erste Ansprache, Kasimir Edschmid verlas eine Botschaft des Bundespräsidenten Theodor Heuss; ein Auszug ist in dem Rundschreiben des Generalsekretärs abgedruckt. Heuss gehörte mit zwei Büchern ebenfalls zu den »Verbrannten«, 153 konnte aber durchaus weiter publizieren. Seine Biographie über Friedrich Naumann (1937) kam sogar in der gleichgeschalteten DVA heraus, allerdings zum Ärger des Vizepräsidenten der Reichsschrifttumskammer; Heuss' weitere Bücher bis 1945 erschienen dann bei

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Zit. n.: Lübecker Freie Presse, 12.5.1958. Kesten in: Vorwärts, 16.5.1958. Edschmid in: Die Tat (Zürich), 4.6.1958. Lamm an Kästner, 7.6.1957, DA. Schmiele an Lamm, 26.8.1957, DA. Rs. Schmiele, n. dat., S.5; NLL. Hitlers Weg, 1932; Führer aus deutscher Not. Fünf politische Porträts, 1928.

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Wasmuth.154 Heuss verwies in seiner Botschaft auf das Vorbild der Nazis, das Autodafé bei dem Wartburgfest, erläuterte die historischen Unterschiede und streifte die Folgen, die die Bücherverbrennung für ihn als Schriftsteller hatte:155 Der freie Schriftsteller, auch im nichtpolitischen Raum, war vogelfrei geworden. Das liegt in der Artung aller totalitären Systeme, ob sie nun der braunen oder roten oder schwarzen Hemden als Ersatz-Symbolik sich bedienen. Daß der Typus, der in solcher Atmosphäre gedieh und oft genug Talentlosigkeit durch verkrampftes Machtgefühl überkompensierte, nicht ausgestorben ist, wissen wir; er ist an manchen Stellen schon wieder ganz munter.

Nach dieser Botschaft wurden Tonbänder aus dem Archiv des NDR angespielt: Auszüge aus der damaligen Goebbels-Rede und den Feuersprüchen Berliner Studenten. Schmiele berichtete, die Wirkung auf das Auditorium sei zwiespältig gewesen: Einige seien zum Lachen gestimmt gewesen, andere »fast empört«, daß ihnen »die unerträglichen Stimmen noch einmal ins Gedächtnis gerufen wurden«. 156 Unter diesem Eindruck hielt Erich Kästner die berühmte Rede Über das Verbrennen von Büchern; sie wurde damals in der Süddeutschen Zeitung vollständig abgedruckt, in vielen anderen Blättern mindestens in Auszügen zitiert, sie ist in jeder größeren Kästner-Ausgabe enthalten und soll hier nicht weiter referiert werden. Der Kongreßbericht vermerkte allerdings, an welcher Stelle Kästner mit Beifall unterbrochen wurde: bei seiner Reminiszenz an Martin Heideggers Freiburger Rektoratsrede von 1933. Kästner zitierte157 Heideggers Satz vom Führer als der heutigen und künftigen Wirklichkeit wörtlich [...] und [schloß] mit den Worten [...]: >Möge er der größte Philosoph unseres glorreichen Jahrhunderts sein oder seyn und bleiben! Ich glaube und ich hoffe, daß ihm, eines Tages im Pantheon, Sokrates und Seneca, Spinoza und Kant nicht die Hand geben werden.
Naturgesetze< in Diktaturen noch immer nicht zu kennen oder sie zu ignorieren, verdient gleichfalls schwere Vorwürfe.

3. Der internationale PEN-Kongreß in Frankfurt 1955 war der Prozeß der Blockbildung in Ost und West an sein Ende gekommen, die neue internationale Ordnung nach dem Zweiten Weltkrieg, die so bis 1990 erhalten blieb, hatte sich stabilisiert, ebenso wie die Zweiteilung Deutschlands und die Westintegration der Bundesrepublik. 161 Ein Bild dieser Verhältnisse im Kleinen bot der PEN (Bundesrepublik), der vom Londoner Sekretariat, besonders von Carver selbst, geradezu freundschaftlich gefördert wurde. Schon 1956 hatte er versucht, einen Internationalen Kongreß in Deutschland zu lancieren. München stand zur Debatte, aber Kästner, Friedenthal und Edschmid sperrten sich. Ihre Gründe waren pragmatischer Art - sie sahen niemanden, der die Zeit zur Organisation hätte, und sie glaubten nicht, daß die nötigen riesigen Zuschüsse aufzubringen wären. Viel Raum in ihrer Ablehnung nahmen aber auch politische Überlegungen ein. Kästner faßte sie in einem Brief an Edschmid zusammen:162 [...] wir befürchten vor allem, daß ein solcher westdeutscher Kongress die Ost-Westspannungen innerhalb des PEN verstärken und bei den westdeutschen Bundes-, Länder- und Magistratsstellen äusserste Zurückhaltung hervorrufen würde. Friedenthal gibt zusätzlich zu bedenken, dass, sollten wir den Vorschlag München tatsächlich machen, der Ost-PEN sofort mit dem Vorschlage Berlin käme, und daß dann der Internationale Kongress, schon aus Interesse an der Besichtigung des Eisernen Vorhangs, Berlin akzeptieren dürfte. Ein Berliner Kongress zöge automatisch eine Abwicklung in West- und Ost-Berlin nach sich. Die ostdeutschen Instanzen würden sich enorm ins Zeug legen. Und es würde, wie Friedenthal wörtlich schreibt, >ein Wettessen gebenStetoclip HZS 12 mit magnetischem Kleinhörer HM 21< zum Preise von je DM 22,30« entwendet; Siemens stellte dafür DM 242,90 in Rechnung. »Auch ein Beitrag zum Thema >Schöne Literatur im Zeitalter der Wissenschaft^« (Schmiele an Kästner, 29.8.1959, SK) 171 Schmiele an Kästner, 17.12.1958, SK. 165

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Schmiele beschwerte sich darüber, daß etwa die Vereinigten Glaswerke Mannheim DM 1000- spendeten, dagegen der »literaturnahe Societätsverlag«, zu dem u. a. die Frankfurter Allgemeine gehörte, sich »zu seinem Bedauern nicht in der Lage« sah.172 Über das Thema des Kongresses sollte sich eine Kommission Gedanken machen; ihre ersten Vorschläge gingen im September 1958 ein: Die literarische Kritik; Literatur und öffentliche Meinung (Witsch); Für und wider den Realismus; Hat die Literatur noch eine soziale Funktion?·, Schöne Literatur im Zeitalter der Wissenschaft/Imaginative Literature in the era of science (Franzen173); Angebot und Nachfrage in der Literatur (Robert Schnorr). 174 Nachgeliefert wurden noch Desillusionierung, Provokation und Wahrheitsstreben in der gegenwärtigen Literatur; Der Schriftsteller als Reflektor und Gestalter des allgemeinen Bewusstseins (Klaus Piper) und Der Maßstab der Schönheit in der Literatur (Sternberger). 175 Schmiele reichte das ihm am plausibelsten erscheinende Thema an Carver weiter, »Schöne Literatur im Zeitalter der Wissenschaft«.176 Kästner war skeptisch; es klinge zwar »hübsch«, habe aber einen großen Nachteil: »Alle Redner werden, mehr oder weniger, dasselbe sagen. Es fehlt der Zug ins Regionale, also >Bei uns in Japanbei uns in Kanada< usw. Man wird drei Sitzungen lang nichts >erfahrenund< ein wesentlicher Bestandteil der Formel ist«.187 Der Sinn der PEN-Freundschaft dokumentiere sich nicht zuletzt darin, »daß die Bundesrepublik heute zum Gastgeber des Internationalen PEN hat werden können, nachdem noch 1947 nur drei deutsche Schriftsteller - Kästner, Wiechert und J. R. Becher - beim Züricher Kongreß nicht mehr waren als Zaungäste.« 188 Kasimir Edschmid bedauerte in seiner Begrüßungsansprache, daß keine Delegation aus Israel und vom Jiddish Centre gekommen war.189 Er hielt die Rede auf Französisch, um von einem größeren Teil der Kongreßteilnehmer verstanden zu werden, erreichte damit aber in der deutschen Presse-Berichterstattung das Gegenteil: »Lediglich Walter Karsch im >Tagesspiegel< und Karl Korn in der >FAZ< erwähnten es, daß ich von den Juden gesprochen habe. Die übrige Presse, die wahrscheinlich nicht Französisch verstand, erklärte lediglich, ich hätte die Anwesenden begrüßt. Kein Wort der Notiz von dem, was ich wirklich sagte. Vielleicht, vermute

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Der Religionsphilosoph Radhakrishnan war damals - von 1952 bis 1962 - zudem noch indischer Vizepräsident; 1961 erhielt er den Friedenspreis des deutschen Buchhandels. Deister-Leine-Ztg., 21.7.1959. Erlanger Tagblatt, 21.7.1959. Karl Korn in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 21.7.1959. Schmiele im Gespräch mit dem Verf., 24.10.1995. Zit. n.: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 21.7.1959. Ebd. Edschmid 1960: 344. 183

ich, verstanden sie d o c h Französisch.« 1 9 0 A u c h Ossip Kalenter referierte diesen Teil v o n E d s c h m i d s Ansprache. 1 9 1 D i e Eröffnungsveranstaltung wurde wichtig g e n u g g e n o m m e n , u m sie auf einer Langspielplatte zu d o k u m e n t i e r e n - sie erschien 1960 bei Teldec. E d s c h m i d war der K o n g r e ß in s e i n e n Tagebüchern e i n e n Lexikonartikel über die G e s c h i c h t e d e s P E N wert - über die Wiedererrichtung nach 1945, 1 9 2 über Charles Morgans R e d e 1955. Seine B e s c h r e i b u n g der Veranstaltung klärt e i n e Grund-Kondition der internationalen Kongresse, daß nämlich das literarische T h e m a zweitrangig ist und v o n vornherein nicht viel zu erwarten steht: 1 9 3 Tropischer Himmel stand dauernd darüber, als sei man schon, wie für 1960 geplant, in Rio. Die Ausländer (über 400) bekamen einen starken Eindruck unserer sie erheblich strapazierenden Gastfreundschaft, obwohl es an Kontakten oft mangelte. Es gab viele Inseln: indische, italienische, japanische, französische usw. Die Busse rollten unermüdlich zwischen Rhein, Main und Neckar hin und her. Die Insassen, farbig gruppiert, waren wahrscheinlich überzeugt von der universalen Geltung der Schriftstellergemeinschaft, obwohl es sofort scharfe Divergenzen gab, als über eine so harmlose Sache wie das Thema >Schöne Literatur im Zeitalter der Wissenschaft diskutiert wurde. Die Reporter erlagen dabei großenteils dem Irrtum, zu glauben, das literarische Thema des Internationalen Kongresses sei für den PEN etwas Zentrales. Es ist eine Etikette. Es ist auch kein geistiges Picknick, wie jemand schrieb, eher ein Bridge. Dreimal drei Stunden innerhalb einer Woche und dazu noch schwach b e s u c h t . . . das beweist schon, daß die Res humanae und das Private für wichtiger gehalten wurden als das rein Literäre. Zudem sprach jeder Redner in eine andere Ecke: man müsse sich mit der Wissenschaft verheiraten, man müsse sich vor ihr schützen, man müsse sie, vom Standpunkt der Literatur aus, selbst im Schlaf ins Bewußtsein aufnehmen usw. Dabei verstand jede Sprache etwas anderes unter Wissenschaft: die eine nur Technik, die andere nur philosophische Übung, die andere nur Physik, die andere nur Forschung. Es ist, exemplum docet, nicht leicht, selbst beim besten Willen, allgemeine Begriffe unter das Bügeleisen der nationalen Wortinterpretation zu legen. Dies nicht und anderes nicht. Dann gab es die >Porta Hungarian Hier passierte den Berichterstattern wieder ein Irrtum, wenn sie von Durchlöcherung der PEN-Charta sprachen. Die tschechischen, bulgarischen, polnischen und ungarischen PENs waren schon immer im Internationalen PEN-Club. Es gab keine Möglichkeit, sie auszuschließen, als ihre Regierungen wechselten. Sie bestanden auf einer etwas abstrusen Ausdeutung der Charta, aber sie bekannten sich zu ihr. Bis es zum Bombardement von Budapest kam. Das ungarische Zentrum, das wie die anderen totalitären Zentren überhaupt kaum je in Erscheinung getreten war, wurde daraufhin suspendiert. In Frankfurt jetzt wurde diese Suspendierung aufgehoben. Unter gewissen Voraussetzungen, wie ja auch der deutsche P E N nach dem Krieg nur unter bestimmten Garantien und Voraussetzungen wieder gegründet werden durfte. Die Suspendierung Ungarns kann jederzeit wieder erfolgen, wenn die Ungarn ihren im Gefängnis sitzenden Schriftstellern nicht die Freiheit geben. Immerhin, der Internationale PEN ist hier nicht ganz klar, er geht taktisch statt radikal vor. Er will vermeiden, daß die Ostblock-PENs unter Zuziehung von Rußland und Rotchina einen

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Ders.: 345. Kalenter in: Aufbau, NY, 7.8.1959. Edschmid 1960:189f. Ders.: 200-202.

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Gegen-PEN machen ... obwohl man das überhaupt nicht vermeiden kann, falls die Russen und Chinesen plötzlich Lust verspüren, derart vorzugehen. Denn es gibt vor allem im italienischen und französischen PEN viele Schriftsteller mit radikalem Linksblick. Und man will keine Spaltung. Ich halte persönlich diese Einstellung für klug, geschickt und vielleicht sogar nützlich, politisch aber für falsch.

Edschmid sah das Problem des PEN in Zerreißproben wie in Frankfurt, wo die Suspendierung Ungarns aufgehoben wurde und gleichzeitig der PEN versprach, für den katalanischen (Exil-) PEN bei der UNESCO gegen die Unterdrückung der katalanischen Sprache und Kultur unter dem Franco-Regime zu protestieren. 194 Edschmid hatte auch unterhaltsamere Episoden zu berichten. Professor Takahashi, japanischer Germanist und Fa«ji-Übersetzer, nahm für den erkrankten Dichter und späteren Nobelpreisträger Yasunari Kawabata die Goethe-Plakette der Stadt Frankfurt entgegen und hängte dem Kulturreferenten eine Kette aus gefalteten Papier-Kranichen um den Hals.195 Edschmid fand erheiternd, wie asiatische, afrikanische Gäste in ihren nationalen Trachten im Park des Schlosses Wolfsgarten lustwandelten, »gelöst, natürlich, anmutig, voll vivacità und ohne viel an den PEN, seine Gesetze, seine Fehler und Tugenden und an die gelehrten Vorträge zu denken, denen die wenigsten zugehört hatten.« 196 Das Thema des Kongresses hatte dem PEN-Zentrum Ost und West offenbar zugesagt; im September 1960 verschickte es, zusammen mit einem Begleitbrief der Herausgeberin Ingeburg Kretzschmar, eine Broschüre zum Thema »Literatur im Zeitalter der Wissenschaft«; sie sei aus Anlaß dieses Themas auf der letzten (ostdeutschen) PEN-Generalversammlung entstanden. 197 Es handelte sich dabei um eine Diskussion in der Deutschen Akademie der Künste, die an eine Festaufführung von Brechts Leben des Galilei anschloß, ohne Bezug zur oder nur Erwähnung der internationalen Veranstaltung.198 Das wichtigste politische Thema in Frankfurt war in der Tat die Aufhebung der vorjährigen Suspendierung des ungarischen Zentrums. Sie war in einer internationalen Exekutivsitzung vorbereitet worden, in der die Fünferkommission die Bemühungen des ungarischen PEN um Wiedererrichtung gewürdigt hatte und die Aussetzung der Suspendierung empfahl. Die Empfehlung war trotz harter Angriffe insbesondere Paul Taboris mit 15 gegen 8 Stimmen bei 5 Enthaltungen angenommen worden, beide deutschen Clubs hatten hier noch für die Aufhebung der Sus-

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Ders.: 207f. - Auch die Fehleinschätzung des PEN in diesem Fall dokumentierte Edschmid (datiert 7.10.1959): »Zwischen 15. Juli und 1. September 1959 wurden in Ungarn wegen staatsgefährdender Verschwörung, im Jahre 1956 begangen, 31 Menschen hingerichtet. In Budapest allein 7, alle Studenten oder Ingenieure zwischen 20 und 30 Jahren. Gnadengesuche wurden abgelehnt. Die Todesurteile wurden 24 Stunden nach der Urteilsverkündigung vollstreckt. Kein Kommentar.« (Ders.: 273) Kawabatas wohl populärstes Werk Tausend Kraniche war 1951 erschienen. Edschmid 1960: 208. Kretzschmar an Schmiele, 29.9.1960, DA. Die Diskutanten bzw. Vortragende waren Ernst Schumacher, Arnold Zweig, Stefan Heym, Alfred Kurella, Robert Havemann, Peter Hacks und Heinz Kamnitzer. 185

pendierung gestimmt.199 Die Exekutivsitzung auf dem Frankfurter Kongreß wählte ihren Gastgeber Erich Kästner zum internationalen Vizepräsidenten 200 und entschied sich in der Ungarnfrage ebenso, nach einer langen Debatte über eine gegenteilige Resolution des österreichischen Zentrums. Diesmal waren als Beobachter auch drei ungarische Repräsentanten gekommen, darunter auch Bölönyi, der in einer langen Ansprache versuchte, die Vorwürfe insbesondere der Österreicher und des Zentrums Writers in Exile zu entkräften. 201 Diesmal enthielt sich das bundesrepublikanische Zentrum der Stimme (die Teilnehmer waren Friedenthal und Hagelstange). Die Empfehlung der Fünferkommission wurde angenommen, diesmal mit 19 gegen 9 Stimmen (bei 9 Enthaltungen); der Entschluß wurde mit einem erneuten Telegramm verbunden, das die Befreiung von Déry und Hay forderte. Diese Entscheidung stieß in der Presse überwiegend auf Kritik. Walther Karsch fand, sie sei »menschlich für Déry und seine Kollegen gedacht«, widerspreche aber im Kern dem Geist der Charta »und wird den PEN vor einige Fragen stellen, denen er auf die Dauer nicht ausweichen kann«. 202 Von einem »Schattenspiel« ohne »Wert und Wirkung« war die Rede, 203 dem »größte[n] Literatenstammtisch der Erde«; 204 besonders das österreichische Zentrum protestierte, bereits während der Tagung, durch seinen Generalsekretär Carry Hauser. 205 Am krassesten war die Kritik eines Exilungarn: Der neue Präsident des ungarischen Zentrums, György Bölönyi, sei Chefredakteur der »offiziellen kommunistischen Literaturzeitschrift in Budapest«, stehe auf dem Boden des intoleranten Regimes und habe die Maßnahmen gegen seine Kollegen ausdrücklich gebilligt. Bölönyi habe in Frankfurt die Reaktivierung des Zentrums beantragt: 206 Und tatsächlich geschah das Unbegreifliche: diesem Antrag wurde stattgegeben. Bedingungslos kapitulierte der Internationale PEN-Klub vor dem kommunistischen Regime der Gewalt und der Intoleranz. Es ist angesichts der hier geschilderten Vorgänge gewiß nicht zuviel gesagt, wenn man feststellt, daß sich mit diesem Entschluß der Internationale PENKlub selbst verraten hat, daß er sich selbst ins Gesicht geschlagen hat, als er um der Verständigung mit dem Kommunismus in Ungarn willen den Gedanken einer Verständigung mit einer freien Welt verriet.

Der ungarische Exilautor Lajos Zilahy war in einem Interview anderer Meinung. Man müsse den Gegebenheiten Rechnung tragen: Für die Inhaftierung sei schließlich nicht der PEN verantwortlich, noch nicht einmal die ungarische Regierung, sondern der Kreml. Er habe sich in Frankfurt mit Bölönyi getroffen und sei überzeugt, daß dieser »alles tue, was in seiner Macht stehe, um den inhaftierten Kollegen zu

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Protokoll, 9.4.1959, n. pag., PAL. Protokoll, 19.7.1959, S.6; PAL. Dass.: l l f . Karsch in: Tagesspiegel, 24.7.1959. Neue Ruhr-Zeitung, 27.7.1959. Deutsche Zeitung, Stuttgart, 27.7.1959. Neues Österreich, 26.7.1959. A. Pavel in: Göttinger Tageblatt, 31.7.1959.

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helfen; das sei zum gegenwärtigen Zeitpunkt sicherlich nicht viel. Aber wie die Revolution von 1956 gezeigt habe, könne sich die Situation innerhalb von zwei Wochen, zwei Monaten oder zwei Jahren ändern.« 207 Ein ähnlich nüchternes Statement überlieferte Ossip Kalenter vom Kongreß; demnach habe ein englisches PEN-Mitglied in Frankfurt die Reanimierung so begründet: 208 Wenn ich in einem Lande wie Ungarn im Gefängnis sitze, bin ich froh zu wissen, es gibt einen Verein, der noch mit dem Westen in Verbindung steht und der mich vielleicht infolgedessen aus dem Gefängnis holen kann. Wenn ich aber höre, der Westen spricht nicht mehr mit diesem Verein, und einsehen muss, dass wir uns selbst überlassen sind, erhänge ich mich vielleicht in meiner Zelle.

Die PEN-Zentren der Bundesrepublik und Österreichs hatten gegen die Aufhebung der Suspendierung gestimmt; eine Woche nach Ende des Kongresses protestierte der Präsident des österreichischen, Franz Theodor Csokor, noch einmal öffentlich gegen die Entscheidung, und eine Gruppe konservativer, überwiegend politikferner Münchner PEN-Mitglieder 209 ließ eine Erklärung veröffentlichen, in der es hieß, es gebe »kein PEN-Zentrum Ungarn, das diesen Namen zu Recht trägt«. »Den schreibenden Funktionären der Gewaltherrschaft Kadar [...] stellt der Frankfurter Beschluß das Zeugnis aus, daß sie Schriftsteller sind und als solche sogar für Freiheit und Duldsamkeit eintreten.« 210 Am 12. August meldete dpa die Antwort des ungarischen Justizministeriums an den PEN: »Die in Ihrem Telegramm erwähnten ungarischen Bürger wurden von einem ungarischen Gericht wegen der Verbrechen verurteilt, die sie gegen das ungarische Volk begangen haben. Ihrem Ersuchen kann zur Zeit nicht nachgegeben werden. Ein Gnadenakt ist nur möglich, wenn die entsprechenden Bedingungen existieren.«211 Natürlich war jetzt die Häme groß: »Der PEN-Beschluß war eine Naivität«,212 es sei wohl »zu leise getreten« worden, 213 der ungarische PEN sei ein »Poetemkin-Pen«.214 Dennoch sollte Zilahy Recht behalten: Anfang 1960 wurden Déry und Hay im Rahmen einer Amnestie aus dem Gefängnis entlassen, allerdings mit aufrechterhaltenen Arbeitsbeschränkungen. Carry Hauser konnte darin keinen Verdienst des ungarischen PEN sehen und forderte erneut dessen Suspendierung;215 erstaunt bis verärgert nahm er zur Kenntnis, daß der internationale Generalsekretär David Carver im Oktober 1960 gar die Einladung des ungarischen PEN annahm - von diesem Besuch sei »der österreichische PEN-Klub vorher nicht un-

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Zilahy zit. n.: Neues Österreich, 26.7.1959. Kalenter in: Aufbau, New York, 7.8.1959. Bergengruen, Britting, Le Fort, Erhart Kästner, Kolb, Hagelstange, Hohoff, Holthusen, Podewils, Schröder, Sieburg, v. Taube, v.d. Vring. Münchner Merkur, 1.8.1959. Schwäbische Landeszeitung, 12.8.1959. Ebd. Hannoversche Presse, 13.8.1959. Badische Neueste Nachrichten, 12.8.1959. Lübecker Morgen, 4.4.1960.

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terrichtet worden«. 216 Nun befindet sich die Exekutive des Internationalen Clubs ja durchaus in einem hierarchischen Verhältnis zu den regionalen Clubs. Dennoch reiste Carver gewissermaßen entschuldigend im Anschluß für einige Tage nach Wien und erklärte dort die Resultate seines Aufenthalts in Budapest: Er habe mit Regierungsbeamten und mit Mitgliedern des ungarischen PEN-Exekutivkomitees gesprochen. Er hatte keinen der noch inhaftierten Schriftsteller besuchen können, aber über jeden einzelnen mit den Regierungsbeamten gesprochen. Déry, Hay und andere Amnestierte lebten materiell »verhältnismäßig gut«, allerdings nur von Übersetzungsarbeiten. 217 Die Gespräche seien >sehr offen< geführt worden und würden vermutlich zur Verbesserung der Beziehungen zwischen den ungarischen und den westlichen Schriftstellern beitragen. Gegenseitige Besuche von Schriftsteller-Delegationen seien vorgesehen. So würden schon im November fünf ungarische Schriftsteller auf Einladung des British Council nach England reisen. Carver sagte, das nach der Revolution neugegründete ungarische PEN-Zentrum übe nach seiner Meinung eine stärkere Anziehungskraft auf die ungarischen Schriftsteller aus als der nationale Schriftstellerverband, weil sich die Autoren vom PEN-Club internationale Kontakte erhofften. Carver tritt nachdrücklich dafür ein, daß die westlichen PEN-Zentren diese Hoffnungen nicht enttäuschen sollten.

Der Umgang des Internationalen PEN mit der Situation in Ungarn dürfte ein Beispiel für gelungene PEN-Diplomatie abgeben; Ungarn hat geschwind innerhalb der Staaten des Warschauer Pakts eine verhältnismäßig liberale Sonderrolle erlangt. Ab 1960 verschwand es aus dem Horizont der politischen PEN-Interessen, an dem wieder die querelles allemandes sichtbar wurden. Kästner trug sich nach dem Kongreß mit dem Gedanken, seine Präsidentschaft niederzulegen; er bat Schmiele im Vertrauen, über einen geeigneten Nachfolger nachzudenken, 218 der sich allerdings die Zusammenarbeit mit einem anderen Präsidenten nicht vorstellen konnte. 219 Kästner begründete daraufhin seinen Plan etwas ausführlicher - er wolle vermeiden, daß es dem Zentrum gehe wie der CDU, »wo sich Adenauer für unabsetzbar hält«.220 Eine der Bedingungen des Nachfolgers sei freilich, daß er mit Schmiele zusammenarbeiten können müsse. Auch Schmiele dachte an Rücktritt, »so bald wie nur irgend möglich«; er habe den Eindruck, »die freundschaftlich=kollegialen Voraussetzungen« seien nicht mehr gegeben, unter denen er das Amt übernahm - »Sie unlustig, weiter Präsident zu sein; Edschmid aus wechselnden Gründen chronisch gegen mich verstimmt«.221 Kästner bekam augenscheinlich einen Schreck und beruhigte Schmiele, wie sehr er seine »erfolgreiche Arbeit dankbar« anerkenne. Daß einige Mitglieder ihm »dies oder das verübeln,

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Stuttgarter Zeitung, 20.10.1960. Rhein-Neckar-Zeitung, 27.10.1960. Kästner an Schmiele, 14.8.1959, SK. Schmiele an Kästner, 16.8.1959, SK. Kästner an Schmiele, 20.8.1959, SK. Schmiele an Kästner, 1.10.1959, SK.

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ohne es mit der Gesamtleistung zu vergleichen, verrät Mangel an Perspektive und Reizbarkeit«; das Gemeinsame an den Vorwürfen sei, daß man Schmiele eine »gewisse >Selbstherrlichkeit< im Umgang und Alleingang« ankreide.222 Darüber müsse geredet werden, im Interesse des Clubs, in dem Kästner als Präsident ausgleichend wirken müsse.223 Der PEN (Bundesrepublik) hatte immer schon Probleme mit der Darstellung an der Öffentlichkeit; der kleine »Freundesclub« blieb unter sich, spektakuläre Veranstaltungen waren kaum zu verzeichnen. Richard Friedenthal regte deshalb Anfang der 50er Jahre an, ein Mitteilungsblatt herauszugeben, um Gerüchte klein zu halten und Falschinformationen der Presse zu verhindern. »Es kann nicht allzu viel kosten und erinnert doch immerhin die Leute daran, dass wir da sind.«224 Zuallererst mußten die eigenen Mitglieder an die Existenz ihres Clubs erinnert werden. Die Jahresversammlung in Konstanz225 dokumentierte nach der großen allgemeinen Aufmerksamkeit gegenüber dem PEN einen internen Einbruch, vielleicht sogar Überdruß nach dem großen Rummel. Sie hätte vor dem Kongreß stattfinden sollen, war aber wegen der organisatorischen Überlastung vor allem des Generalsekretärs und seiner zeitweilig zwei Mitarbeiterinnen (Eva Zeumer und deren Nachfolgerin Marianne Waechter arbeiteten gleichzeitig) hinausgeschoben worden. Es hatten sich nur 25 Mitglieder angemeldet, gekommen waren zehn und der österreichische PEN-Präsident Franz Theodor Csokor. Zum ersten Mal seit seiner Gründung war damit der PEN der Bundesrepublik beschlußunfähig, dazu hätte es laut Satzung 15 Mitglieder bedurft. Erich Kästner schrieb Ende Oktober einen vertraulichen Rundbrief an alle Mitglieder, um seinen Leuten flammend ins Gewissen zu reden; einzig Wolfgang Weyrauch mochte er seine Entschuldigung zubilligen, wegen deren Glaubwürdigkeit und Originalität: Ihm war »völlig entfallen, daß er am 15. Oktober Geburtstag hatte. Die Familie dürfte ihn zurückgehalten haben.«226 Die übliche PEN-Arbeit war nicht möglich; ein ausführliches Zitat aus Kästners rührender Tirade:227 Wir konnten allenfalls Resolutionen usw. vorbereiten, als seien wir eine Kommission, und spätere schriftliche Abstimmungen präparieren. Der Vorstand konnte nicht zurücktreten, und ein neuer Vorstand durfte nicht gewählt werden. Wir verzichteten, da keiner der Beiräte erschienen war, auf jegliche Zuwahl von Mitgliedern. Und die Presse-Interviews glichen, damit die >Beschlußunfähigkeit< nicht publik werde, unsrer-, insbesondere meinerseits einer Kreuzung aus Eier- und Schleiertanz. Um schließlich unsere Dampferfahrt nach Überlingen und den dortigen Empfang nicht zu einem Schlag in den Bodensee geraten zu lassen, mußten wir die Einladung, unter Angabe andrer Gründe, absagen. [...] Übrigens zeugte nicht nur unser Konstanzer Konzil gegen unsre Aktivität, sondern bereits der Frankfurter Kongreß. Wir wundern uns heute noch, daß nur die ausländischen Gäste

222 223 224 225 226 227

Kästner an Schmiele, 4.10.1959, SK. Vgl. Α. V., bes. V.2., V.4. Friedenthal an Edschmid, 5.7.1954, S.2; NLE. Vom 15.-17.10.1959. Rs. Kästner, Ende Oktober 1959, S. 1; NLL. Dass.: lf.

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und wir selber, nicht aber die Leute von Funk und Presse bemerkten, wie unzulänglich unser eigenes Zentrum, also das der Gastgeber, vertreten war. Hier wäre Stoff, ja Zündstoff genug für treffende Kommentare und Glossen zu finden gewesen. Es war fast so, als hätten die Gastgeber den Schlüssel beim Hausmeister abgegeben, den Gästen ausrichten lassen, sie sollten es sich, bitte, recht gemütlich machen, und das Bier stünde im Eisschrank! [...] Daß die Misere nicht offenkundig wurde, lag am Takt der Gäste, an Theodor Heuß [!], an der uns so beschämenden Aktivität der Mäzene, also der Minister, Botschafter, Oberbürgermeister, Verleger und Buchhändler, und an den Bemühungen, ja Strapazen von uns, den Vielzuwenigen. [2] [...] In jedem Falle ist der PEN, glauben wir, eine zu wichtige und liebenswerte Institution, als daß wir, die Hände in den Taschen, zusehen dürften, wie unser in der internationalen Schriftstellerwelt angesehenes Zentrum zum Dornröschen wird! Dieses erfreuliche Ansehen zu erwerben, war schwierig und hat zwölf Jahre Zeit gekostet. Es wieder einzubüßen, dürfte wesentlich leichter sein und viel weniger Zeit beanspruchen!

In der Jahresversammlung des englischen PEN 228 wurde in der Tat zum Frankfurter Kongreß bemerkt, daß man sich dort mehr Kontakt mit deutschen Autoren gewünscht hätte. Richard Friedenthal schrieb in einem Bericht über die Versammlung, an der er als Mitglied des internationalen PEN-Ungarn-Komitees teilgenommen hatte, es sei den Mitgliedern offenbar nicht klar gewesen, »dass sie in Frankfurt als Gastgeber auftreten sollten, nicht so sehr als Zubewirtende und Zuunterhaltende, und dass Jeder, nicht nur die paar Vorstandsmitglieder, dabei etwas hätte mitwirken müssen.« Auch ein Empfangskomitee sei vermißt worden. 229 Um eine Änderung des fatalen Clubzustandes anzuregen und auch schmackhaft zu machen, schlug Erich Kästner vor, Monatstreffen nach Münchner Vorbild auch noch in anderen Städten einzurichten, Walter Karsch habe sich für Berlin erboten, ein solches zu organisieren. Es handle sich dabei um einen »Dämmerschoppen, der vielen von uns längst zu einer lieben Gewohnheit geworden ist. Die Unterhaltung ist zwanglos, gutlaunig, aktuellen Themen zugewandt und, da ja auch Verleger, Kunstkritiker und Schweikart, der Intendant der Kammerspiele, zu unserem Kreis gehören, vielseitig interessant.«230 Das Echo in der Presse zu dieser Jahresversammlung war entsprechend mäßig; die Heidenheimer Zeitung brachte einen kurzen Bericht,231 und Schmiele bekam eine - mit Lebensläufen und Fotos des Teilnehmer illustrierte - Seite im Südkurier. Er berichtete vor allem von der Frühgeschichte des PEN und erklärte, worin seiner Meinung nach die Wichtigkeit Clubs bestand. Schmiele war eines der wenigen Mitglieder des PEN-Vorstands, der sich gelegentlich Rechenschaft über Sinn und Zweck der Vereinigung gegeben hat; seine Zusammenfassung ist deshalb und als Dokument der Selbstverständigung über die eigene Rolle in so einem Vorstand zitierenswert. Der PEN sei die232

228 229 230 231 232

Am 3.12.1959. Friedenthal, n. dat., DA. Rs. Kästner, Ende Oktober 1959, S.2; NLL. Heidenheimer Ztg., 22.10.1958. Schmiele in: Südkurier, Konstanz, 15.10.1959.

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einzige internationale Vereinigung schreibender Menschen in der Welt. Er ist kein Schutzverband. Er ist keine Fachorganisation. Er vertritt keine literarische Sonderrichtung. Wohl tritt er aktiv dafür ein, daß die Rechte von Autoren und Übersetzern in allen Staaten der Welt respektiert werden - denn noch ist das nicht der Fall - , aber da liegt das Geheimnis seiner Vitalität nicht. Der PEN ist eine moderne Gründung. Er beruft sich auf keine Tradition und keinen Mythos, die ihm sein Wesen diktieren. Das unterscheidet ihn wesentlich von den literarischen Zusammenschlüssen mit Akademiecharakter. Der PEN will keine Macht für sich und keine Macht für andere. Darum hat er keine Führer nötig, nur jeweils ein paar Männer, die ihm die Geschäfte führen, und von keinem Ministerium wird er etatisiert.

Dem Präsidium war wiederum die fortgeführte Ungarndebatte am wichtigsten; so wichtig, daß ein Rundschreiben von Kästner und Schmiele an die Mitglieder verschickt wurde, die über die in Konstanz gefaßte Entschließung abstimmen sollten. In den drei Monaten seit der Aufhebung der Suspendierung waren keine Gefangenen entlassen worden, und das Präsidium des PEN (Bundesrepublik) wollte beim Internationalen PEN deshalb darauf hinwirken, die Suspendierung wieder in Kraft zu setzen. Schriftlich sollte über den folgenden Text abgestimmt werden: 233 Das Deutsche P.E.N.-Zentrum der Bundesrepublik (Sitz Darmstadt) richtet an Präsidium und Exekutive des Internationalen Ρ. Ε. N. die Bitte um Überprüfung der Frankfurter Beschlüsse, die das suspendierte ungarische Zentrum in seine Rechte und Pflichten als Mitglied des Internationalen P.E.N. wiedereingesetzt haben. Zu prüfen wäre besonders, ob nach Ablehnung einer Begnadigung der eingekerkerten ungarischen Schriftsteller [...] die Voraussetzungen der Frankfurter Beschlüsse tatsächlich noch bestehen.

Um die Mitteilung einer eventuellen Stimmenthaltung wurde gebeten, Nichtmeldung galt als Billigung dieser Konstanzer Erklärung. Zwei Monate später waren 66 Meldungen für, 7 Meldungen gegen die Resolution eingegangen, ein eindeutiges Votum. Auf Kästners Rundschreiben zur Aktivierung der Mitglieder kamen einige Briefe, die vorwiegend aus nachträglichen Entschuldigungen und geschmäcklerischer Kritik bestanden. Viele hatten keine Zeit, weil der Termin zu nah an der Frankfurter Buchmesse lag; für viele war die Anfahrt nach Konstanz zu teuer. Leo Weismantel pries in einem weithin unlesbaren Brief »die östliche Freiheit«,234 Borée schrieb, sein Interesse am Zentrum leide daran, daß zunehmend »Außenseiter der Literatur« aufgenommen würden - gemeint waren Verleger.235 Weitere Folgen hatte Kästners Brief nicht. Von den Vorstands- bzw. Präsidialsitzungen haben sich kaum Protokolle, Mitschriften o. ä. erhalten, erst ab 1960 und auch dann nur mit großen Lücken. Das erste erhaltene Protokoll gibt eine Sitzung wieder, die am 11. Juni 1960 in Darmstadt stattgefunden hat; es berieten sich Kasimir Edschmid als Ehrenpräsident, Walter Schmiele und Fritz Usinger, das Protokoll schrieb Marianne Waechter. Solche klei-

233 234 235

Rs. Kästner/Schmiele, 19.10.1959; NLL. Kästner an Schmiele, 25.11.1959, SK. Borée an Kästner, 20.11.1959, SK. 191

nen Treffen scheinen sehr geschäftsmäßig abgelaufen zu sein: Delegierte für den Kongreß in Rio de Janeiro und eine Düsseldorfer Tagung der Exilschriftsteller wurden bestimmt; den PEN betreffende Neuerscheinungen wurden bewertet. Von der Broschüre zum internationalen Kongreß gingen - zusätzlich zu den Exemplaren an Mitglieder und Teilnehmer - 500 Stück »nach Verteilerschlüssel des Auswärtigen Amts an Deutsche Kulturinstitute im Ausland und an die diplomatischen Vertretungen der Bundesrepublik [...]. 300 Exemplare übernahm der Propyläen Verlag [...] zum Vertrieb über das Sortiment.«236 Ein aktuelles Mitgliederverzeichnis (mit dem Stand vom April 1960) und die Teldec-Langspielplatte waren erschienen. Der Vorstand stimmte über Zuwahlen ab: Hans Scholz, Arnold Gehlen und Fritz Arnold wurden vorgeschlagen, zehn Namen einstimmig verworfen; drei neue Vorschläge wurden in der Sitzung selbst befürwortet: Gabriele Wohmann, Janheinz Jahn und Helmut Heissenbüttel - auch sie sollten auf der nächsten Jahresversammlung entschieden werden, 237 die so unspektakulär verlief wie der 31. internationale Kongreß in Rio de Janeiro und Säo Paolo. Die Neufassung der Satzung wurde besprochen und endlich durchgesetzt 238 - alle geänderten Paragraphen einstimmig oder mit 1 - 2 Enthaltungen; erreicht wurde eine neutrale, vereinsrechtliche Satzung, die sich in der Tat von den sprichwörtlichen Taubenzüchtern kaum mehr unterschied; die überkommenen Gängelungen à la wer zweimal nicht kommt oder zwei Jahre nicht zahlt, wird ausgeschlossen -, fielen weg. Ehren- und bis zu vier Vizepräsidenten sollten auf Lebenszeit und mit Stimmrecht im Vorstand gewählt werden. Edschmid wurde - auf Antrag Schmieles! - einstimmig als Ehrenpräsident bestätigt. Ein politischer Punkt machte das Verhalten des Zentrums in der Mauerfrage zumindest erwartbar: Birkenfeld berichtete 239 über den Prozeß gegen namhafte französische Schriftsteller in Paris im Zusammenhang mit dem Aufstand in Algerien. Birkenfeld stellt die Frage: wie will sich das Deutsche P. E. N.-Zentrum der Bundesrepublik gegenüber diesem und gleichartigen Prozessen verhalten? Nach eingehender Diskussion wird man sich darüber klar, daß es nicht Sache des Deutschen P. E. N.-Zentrums der Bundesrepublik sein kann, auf politische Prozesse durch offizielles Votum Einfluß zu nehmen.

Die Teilnehmer sahen offenbar keinen Klärungsbedarf - warum ist es nicht Sache des Zentrums? Was heißt Einfluß nehmen? Was bedeutet das für die Interpretation der Charta? Gerhard F. Hering stellte sich mit einem Vortrag als neuer Intendant Darmstadts (und Nachfolger Seilners) vor, mit einem traditionellen Programm, gegen »überschätzte Zeiterscheinungen« und »Modernisten«, mit denen er Ionesco, Beckett und Eich meinte - die ζ. T. sein Vorgänger in Deutschland durchgesetzt hatte. Sein

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Rs. Februar 1961, S.2; DA. In Darmstadt, 22.-24.9.1960; 36 Teilnehmer, als Gäste Benno Bardi aus London und Toshiro Ueda aus Tokio. Rs. Februar 1961, S.5f.; DA. Dass.: 6.

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Vortrag fand in der Regionalpresse die größte Aufmerksamkeit, er sei »unpopulär« und beweise »den moralischen Mut eines Wissenden, der sich nicht von den Parolen des Konformismus leiten läßt«, und das, weil Hering Hofmannsthal, Arnim und Brentano über die zeitgenössische Moderne gestellt und Christus zitiert hatte. 240 Anders als auf früheren Jahresversammlungen und wohl geschult an den Absagen Arno Schmidts und anderer, gab der PEN die neu Zugewählten erst der Presse bekannt, nachdem ihre Zusagen zur Annahme der Wahlen eingetroffen waren; die entsprechenden Notizen erschienen hier zwischen dem 6. und 25. Oktober. Besonders originell klang die Nachricht im Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel·?*1 Dort hieß es, Gabriele Wohmann, Fritz Arnold, Helmut Heissenbüttel, Walter Höllerer, Janheinz Jahn, Wolfgang Schede, Max Stefl und Siegfried Unseld seien in das »Deutsche P.E.N.-Zentrum der Bundesregierung [!] (Sitz Darmstadt)« gewählt worden. Adolf Frisé berichtete vom 31. Kongreß des Internationalen PEN in Rio, die OstWest-Gegensätze seien nicht weiter aufgebrochen, auch sei die Tagung nicht nur geographisch wenig europanah verlaufen. 242 Die Ostblockgruppe mit je einem Repräsentanten aus Bulgarien, Ungarn, Polen, mit je zwei aus der Zone (Stefan Hermlin, Bodo Uhse) und aus der Tschechoslowakei war relativ klein, sie formierte sich hier nicht ein einziges Mal. Zum Teil mied man hier, ostentativ, jede >Abschweifung< in die Politik, zum Teil unterstrich man geradezu die Verbundenheit mit der außerkommunistischen Kultur [...].

Die ganze Veranstaltung wirkt nach Frisés Bericht eher wie eine Werbeveranstaltung für ein junges, aufstrebendes Land, zumal Säo Paolo habe die Dynamik seiner Wirtschaft und Industrie vorgeführt, und das sei nicht als Pflichtprogramm absolviert, sondern in intensiver Auseinandersetzung erlebt worden. Frisés Fazit: »Darüber vergaß man, daß es auf dem Kongreß selbst zu keiner rechten Verbindlichkeit, geschweige zu einem nachweisbar nützlichen Fazit kam.«243 Es gab noch ein paar andere Berichte. Im Neuen Deutschland wurde der Hauptredner, »ein Professor namens Praz«, geziehen, er liefere als »literaturtheoretische Variante« zu »Adenauers europäische[r] Integrationspolitik« die These, »man müsse nun um des Austausches und der Weltliteratur wegen die nationalen Elemente in der Literatur zurückdämmen«. Dagegen habe Hermlin stolz gefragt, wieso denn der nationale Gehalt gerade jetzt zurückgedämmt werden solle, »da der Nationalismus der Imperialisten zugrunde geht und neue Nationen geboren werden?« 244 Nun war es sicherlich viel verlangt, Mario Praz zu kennen, nachdem dessen Hauptwerk erst kurz vor diesem Kongreß erschienen war, nämlich 1930.245 Dieser neue, nun eben sozialistisch sein

240 241 242 243 244 245

Vgl. Hessische Allgemeine Ztg., 28.9.1960; Wetzlaer Neue Ztg., 1.10.1960. Frankfurter Ausgabe, 21.10.1960. Frisé in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 24.8.1960. Ebd. Erwin Kohn in: Neues Deutschland, 13.8.1960. La carne, la morte e il diavolo nella letteratura romantica, zuerst in Florenz 1930 erschienen, Überarb. 1942.

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sollende Nationalismus, der sich mit großer Geste dem alten Nationalismus und vor allem Praz' Appell an einen zivilisierten Kosmopolitismus haushoch überlegen fühlte, macht den Artikel schwer erträglich. - Die anderen (westlichen) Berichte aus Säo Paolo und Rio de Janeiro bemerkten eher die angerückte Prominenz, vor allem Graham Greene, 246 auch Moravia, Elsa Morante, George Mikes und Alan Pryce-Jones247 - und deren Ahnungslosigkeit von brasilianischer, überhaupt lateinamerikanischer Literatur. Nachdem das Thema des Kongresses der kulturelle Austausch zwischen Orient und Okzident war, wurde so dessen Notwendigkeit gegenüber neuen und alten Nationalismen drastisch vorgeführt.

246 247

Susanne Doris Pähl in: Frankfurter Rundschau, 22.8.1960. StZ in: Stuttgarter Zeitung, 1.9.1960.

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Β. Die 60er Jahre: Das Ende der Versteinerungen

I. Writers in Prison

Das Komitee, das bis heute dem PEN einigen Ruf verleiht und in seiner Arbeitsweise Vorbild für amnesty international war, ist eine Gründung der 60er Jahre. Paul Tabori hatte die Idee, ein Komitee zu schaffen, »das sich ausschließlich mit dem Problem inhaftierter Schriftsteller beschäftigt und die Mitglieder oder das Internationale Generalsekretariat darauf aufmerksam macht, so daß organisierte Proteste und Maßnahmen unternommen werden können«. 1 David Carver reagierte enthusiastisch auf diesen Vorschlag. Zum ersten Mal erscheint das Komitee als »Writers in Prison« in dem Protokoll einer Exekutivsitzung vom 4. April 1960 in London. Die Gründung wurde beschlossen, auch, daß es aus drei Personen bestehen sollte.2 David Carver stellte vier einzelne Fälle vor, aus Griechenland, dem Irak, Spanien und Portugal; Paul Tabori und Adolf Hoffmeister diskutierten über inhaftierte Autoren in der Tschechoslowakei. Das Dreierkomitee erhielt den Auftrag, weiter zu ermitteln und zu handeln, sobald die Informationen ein festes Bild zulassen; nur im Falle von Manolis Glézos war bereits vom Frankfurter Kongreß aus ein Telegramm an den griechischen Präsidenten Karamanlis gesandt worden. 3 Auf dem Internationalen Kongreß in Säo Paolo und Rio de Janeiro, 1960, berichtete Carver erneut in der Exekutivsitzung,4 jetzt trug die Institution schon ihren heutigen Namen, Ρ. Ε. N. Writers in Prison Committee. Das Dreierkomitee war besetzt und arbeitete, unterstützt von Carver, Storm Jameson und Victor van Vriesland; die Liste der Gefangenen war realistischer geworden: 7 Albaner, 25 Tschechoslowaken, 2 Franzosen, 13 Ungarn (darunter Istvan Eörsi) und 9 Rumänen. Es ging in dieser Phase noch sehr um die Ermittlung von gefangenen Schriftstellern, Erfolge konnten nicht berichtet werden - Déry und Hay waren ja begnadigt worden, bevor das WiP-Committee die Arbeit aufnahm. Nachdem sich in Rio erstmals der Umfang des Problems andeutete, wurde vom österreichischen Zentrum ein Manifest vorbereitet und mit großer Mehrheit verabschiedet:5

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2 3 4 5

Michael Scartimeli: Fünfundzwanzig Jahre des Internationalen P. E.N.-Komitees »Writers in Prison«. In: P.E.N. International. Hg. von Gerd E. Hoffmann. München 1986, S.32-37; hier S.33. Ders.: 33f. Protokoll, n. pag., PAL. In Rio de Janeiro, 24.7.1960. Protokoll, Appendix, S.7; PAL.

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Reaffirming the vital importance of the work of the permanent Committee For Writers In Prison, and deeply shocked by the lists of 53 colleagues submitted to the Congress, the Austrian P. Ε. N. Centre asks the Congress to make the following Declaration: >The XXXI International P. Ε. N. Congress protests against the persecution of writers still suffering for their writings and opinions throughout the world; and expresses its deep concern that some of them, notably Tibor Déry and Gyula Hay, though freed from prison, are still not allowed to earn their living by their pens. The Congress therefore calls upon all P.E.N. Centres to do their utmost in the spirit of the Charter to support the work of the Permanent P. E. N. Committee for Writers In Prison to re-establish the freedom of writing whereever it is suppressed.
The silent are always guiltybetreuenadoptieren< die PEN-Zentren einzelne Gefangene und koordinieren die Bemühungen um Haftverbesserungen oder ihre Befreiung. 18 Gerhard Schoenberner, der Writers in PrisonBeauftragte von 1991 bis 1995, gab die Zahl der ermordeten Schriftsteller seit Bestehen des Komitees mit 200 an, die aktuellen Fälle mit 900 - es sei ein »Kinderglaube, mit dem Ende des Kommunismus habe ein neues, besseres Zeitalter begonnen.«19 Willkürliche Verhaftungen seien in vielen Ländern an der Tagesordnung, ebenso die Anwendung von Folter zur Erpressung von Geständnissen; oft erhalte der Angeklagte keinen Anwalt und werde von Militärtribunalen nach Ausnahmegesetzen abgeurteilt. 20 Weiterhin behaupten die Regierungen, ihre Opfer seien keine Schriftsteller oder schlechte, oder sie seien wegen krimineller Delikte im Gefängnis - etwa wegen Rauschgifthandels oder sexueller Delikte. Schoenberner erinnerte an den 4. Absatz der PEN-Charta, wo »der notwendige Fortschritt der Welt [...] freie Kritik gegenüber den Regierungen, Verwaltungen und Einrichtungen gebieterisch verlangt«, und er artikulierte deutlich die große Veränderung des Clubs seit den 50er Jahren: 21 Mit dieser bemerkenswerten Erklärung definiert sich der P.E.N. selbst politisch und widerspricht allen Gerüchten, die ihm noch aus seiner Gründerzeit anhängen, als handele es sich

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Der Nigerianer wurde 1969 aus der Haft entlassen. Über einen britischen Geschäftsmann ließ Miller den Führer der nigerianischen Armee, General Gowon, um Soyinkas Freilassung bitten. »Als Gowon meinen Namen las, fragte er [...] ungläubig, ob ich der Schriftsteller sei, der mit Marilyn Monroe verheiratet gewesen war, und als man das bestätigte, befahl er die Freilassung Soyinkas.« (Arthur Miller: Zeitkurven. Ein Leben. Deutsch von Manfred Ohl und Hans Sartorius. Frankfurt a.M. 1989, S.788) Hans Schwab-Felisch und Kathleen von Simson wählten die ersten vier Schriftsteller im August 1976 auf der Exekutivsitzung in London: Said Zaharí (Singapur), Gabriel Salazar (Chile), Vladimir Bukowski, Gavriel Superfin (beide UdSSR); vgl. Kathleen von Simson in: Rs. Gregor-Dellin, 20.7.1977, S.20; DA. Gerhard Schoenberner: Solidarität mit den Verfolgten. Das Writers in Prison-Committee. In: P.E.N.-Zentrum Bundesrepublik Deutschland. Autorenlexikon. Redaktion Bernard Fischer. Göttingen 2 1996 (stb 65), S. 42-56, hier S.43,51. Ders.: 43f.; etwa wegen »Beleidigung des Staatsoberhaupts oder der Streitkräfte«, (konter-) revolutionärer Propaganda, »Gefährdung der staatlichen Ordnung und des inneren Friedens, Anstiftung zum Umsturz, Tätigkeit im Auftrag ausländischer Mächte, Herabsetzung der religiösen Werte undsoweiter undsofort.« (Ders.: 44) Ders.: 46.

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hier um einen internationalen Club, für den der Begriff der gesellschaftlichen Aktivitäten mit Empfängen und Cocktailparties identisch ist.

SAID, der Nachfolger Gerhard Schoenberners, gab für das Jahr 1996 den folgenden Bericht, der auf der halbjährlichen Case List des Londoner Writers in Prison Committee im Internationalen PEN beruhte: 22 zwischen januar und juli 1996 wurden 29 journalisten und autoren ermordet, 61 personen sind verschollen, 469 personen wurden verhaftet, 6 personen des landes verwiesen, 159 personen verurteilt (das urteil ist noch nicht vollstreckt oder auf bewährung), 83 personen überfallen, 77 personen vom tod bedroht, 4 personen halten sich versteckt, seit januar 1996 wurden 29 personen freigelassen.

Das Netz der Kooperationspartner hat sich seit den frühen 60er Jahren weiter vergrößert: An die Stelle der unauffälligen Diplomatie in der Ära Carvers traten vermehrt publizistische Aktionen. Besonders gefährdete Autoren wurden von einzelnen Zentren als Ehrenmitglieder adoptiert, 1996 beteiligten sich 43 Zentren am Komitee.23 Es gibt gemeinsame Erklärungen mit dem VS-Bundesvorstand. 1995 wurde ein Solidaritätsfonds der deutschen Verleger und Buchhändler für verfolgte Autoren gegründet, dem auch der Börsenverein des deutschen Buchhandels und Großverlage wie C. H. Beck und Kiepenheuer & Witsch angehören. Innerhalb von etwas mehr als einem Jahr 24 fanden 53 rapid actions statt, Blitzaktionen, zu denen der Internationale PEN aufruft, »wenn ein autor verfolgt, verhaftet oder verschwunden ist, und die akute gefahr besteht, daß er gefoltert oder getötet wird.«25 Dazu werden Protestschreiben an die Regierungschefs oder zuständigen Minister der entsprechenden Länder geschickt; Kopien gehen an deren Botschaften in Bonn, das Auswärtige Amt, die diplomatischen Vertretungen der Bundesrepublik im Ausland und die Goethe-Institute. SAID nahm in seinem Bericht die Gelegenheit wahr, seinen »dank an das auswärtige amt auszusprechen, das in mehreren fällen still und effektiv zu gunsten unserer verfolgten kollegen interveniert hat.«26 Allein die rapid actions betrafen 19 Länder, allen voran China, die Türkei und Nigeria;27 Gefangene wurden in etwa 40 Ländern betreut. 22

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SAID: bericht des writers in prison-beauftragten zum 4.10.1996. In: Wider das Vergessen. Texte von Hilde Domin, Shi Ming, SAID, Nguyen Chi Thien. Texte zur Writers in PrisonVeranstaltung am 19. Mai 1996 in Heidelberg. P. E. N.-Zentrum Bundesrepublik Deutschland. Writers in Prison-Committee. Im Auftrag des Präsidiums hg. von Ursula Setzer. Darmstadt 1996, S. 63-75, hier S.63. Schoenberner 1996: 49. Zwischen dem 25.5.1995 und dem 9.9.1996. SAID 1996: 72. Ebd. Im einzelnen: China (13 Aktionen), Türkei (8), Nigeria (8), Vietnam (4), Iran (3), Muyanmar/Burma (3), Algerien (2), Cuba (2), Kenia (2), Ägypten (1), Azerbeidjan (1), Barein (1), Guatemala (1), Honduras (1), Hongkong (1), Malediven (1), Pakistan (1), Rußland (1), U S A (1); vgl. Wider das Vergessen. Texte von Hilde Domin, Shi Ming, SAID, Nguyen Chi Thien. Texte zur Writers in Prison-Veranstaltung am 19. Mai 1996 in Heidelberg. P. E. N.-Zentrum Bundesrepublik Deutschland. Writers in Prison-Committee. Im Auftrag des Präsidiums hg. von Ursula Setzer. Darmstadt 1996, S. 77-83.

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1995/96 war die Aufmerksamkeit der M e d i e n für das Komitee besonders groß, was auf die Prominenz der ζ. T. schon seit Jahren betreuten Autoren zurückzuführen ist, allen voran Salman Rushdie und Mumia Abu-Jamal. 2 8 Allerdings zeigte dieses Jahr d e m Komitee auch seine Grenzen auf besonders krasse Weise: D e r nigerianische Romancier Ken Saro-Wiwa wurde von der Militärjunta hingerichtet, zusammen mit einigen Gefährten, w e g e n seines Protestes g e g e n die Zerstörung und Ausbeutung des Landes durch Shell. 2 9 S A I D mußte sich fragen, o b nicht Zweifel angebracht seien 3 0 an der tauglichkeit unserer mittel? der beauftragte des >writers in prison-committee< ist beinahe zum verzweifeln verurteilt, er bekommt täglich erschreckende nachrichten, vom biiro des internationalen p.e.n. in london [...] mit der bitte: etwas für die verfolgten zu tun. aber was? der beauftragte des >writers in prison-committees< kann nicht täglich erklärungen abgeben; irgendwann stumpft diese waffe ab, und er auch, er weiß, daß das p.e.n.-zentrum keinen anderen verbündeten hat als die öffentlichkeit. D a s Wort bleibe die einzige Waffe des PEN, und das sei ein Auftrag, der gebiete, sich enger zusammenzuschließen - »die verfolgten kollegen brauchen dringend unsere ungeteilte Solidarität.« 31

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Vgl. Mumia Abu-Jamal:... aus der Todeszelle. Bremen 1995; Leonard Weinglass: Race for justice: Mumia Abu-Jamal's fight against the death penalty. Monroe, Me. 1995. - Die Literatur zum Salman Rushdie und seinem Fall umfaßt mittlerweile über 30 Titel, darunter Pamphlete, Angriffe wie Verteidigungen der Satanischen Verse durch arabische und islamische Autoren, auch einige Analysen unter übergeordneten Gesichtspunkten wie Zensur und interkulturellen Konflikten. Im deutschen Sprachraum wurde die Sammlung von Thierry Chervel am bekanntesten: »Redefreiheit ist das Leben«. Briefe an Salman Rushdie. Die taz-Kampagne. München 1992; ferner Richard Webster: Erben des Hasses. Die Rushdie-Affäre und ihre Folgen. München 1992. Zuletzt erschien Joel Unortti: The Salman Rushdie bibliography. A bibliography of Salman Rushdie's work and Rushdie criticism. Frankfurt a.M.u.a. 1997. 29 Vgl. Ken Saro-Wiwa: Flammen der Hölle. Nigeria und Shell: der schmutzige Krieg gegen die Ogoni. Reinbek bei Hamburg 1996. 30 SAID 1996: 69. 31 Ders.: 75. - Das WiP-Komitee spielt in den laufenden Tagungsberichten stets eine große Rolle, die im folgenden nicht im einzelnen berücksichtigt werden kann; die Geschichte von Writers in Prison erfordert eine eigene Darstellung. 202

II. Der Mauerbau und die »Pflichten« des PEN

Paul Schallück sah »[spätestens nach der zweiten Bundestagswahl« einen Prozeß der Versteinerung des Regierungssystems einsetzen; 1961 schien ihm »die Versteinerung nicht mehr zu übersehen«: 1 Sie ist zu einem Schreckbild geworden, zu einem Alpdrücken, das meine Nächte stört, zu einer Maske aus verknöcherten Vorstellungen, zu einer Elefantenhaut aus Unempfindlichkeit, zum Erz der Unumstößlichkeit, zum trockenen Leder, zu einem Stein, den man aus dem Weg räumen muß, wenn man den Weg will. Ich meine damit nicht so sehr das sicherlich imponierende Altersgesicht Dr. Konrad Adenauers, sondern die Innensicht seiner Regierungsmethode. Die Versteinerung greift tiefer hinab, als die Kritik an einzelnen Taten der Unterlassungen, Verfehlungen oder Dummheiten ahnen läßt.

Keine Regierung könne über drei Wahlperioden hinweg frisch und jugendlich bleiben, es sei ihr gutes Recht, zu verknöchern. Die Schriftsteller - insbesondere die Generation der in den 20er Jahren geborenen - begannen um 1960, auch die Versteinerungen ihres eigenen Berufsstandes zu überwinden, die Gruppe 47 fand erst jetzt allmählich ein breites Publikum.2 Martin Walser konstatierte die Veränderung im Vorwort seiner Sammlung Die Alternative oder Brauchen wir eine neue Regierung? - plötzlich gebe es »diese Einmischung«, diesen »unverhohlenen Umgang mit Tagesfragen. Plötzlich beginnen diese Autoren, die Zeitgeschichte in Wenn-DannSätze aufzulösen, als wären sie Leitartikler«. 3 Der westdeutsche PEN stand am Anfang der 60er Jahre noch quer zu diesen Entwicklungen, seine Politisierung fand sehr allmählich und zum Ende des Jahrzehnts statt. Eine Ausnahme war das sensible Thema Antisemitismus in der Bundesrepublik, der Ende der 50er Jahre wieder öffentlich wurde. Kasimir Edschmid hat - als Schriftsteller, als Privatperson, weniger in seinen PEN-Funktionen - den Antisemitismus stets beobachtet und kommentiert. Unter dem 14. Januar 1959 zählte er in seinem publizierten Tagebuch die antisemitischen Ereignisse einer ZeitungsTageslektüre auf: In Alsheim sei ein alter jüdischer Friedhof geschändet worden; in Herford gebe es bald einen Prozeß gegen »einen Kaufmann, der die Vergasung der

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Paul Schallück: Versteinerungen. In: Die Alternative oder Brauchen wir eine neue Regierung? Hg. von Martin Walser. Reinbek bei Hamburg 1961 (rororo aktuell 481), S.55-60, zit. S. 56f. Vgl. Hermann Kinder: Der Mythos von der Gruppe 47. Eggingen 1991 (Parerga 4), insbes. S. 28 -48. Martin Walser: Vorwort. In: Die Alternative oder Brauchen wir eine neue Regierung? Hg. von M.W. Reinbek bei Hamburg 1961 (rororo aktuell 481), S.5f., zit. S.5.

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Juden gutgeheißen hatte«; in Wiesbaden sollen zwei junge Assessoren ähnliche Bemerkungen gemacht haben: 4 Was heißt das alles? Bei 30000 Juden, die von 600000 Übriggeblieben sind? Es heißt, abgesehen von der Schamlosigkeit und dem Skandalösen, noch etwas anderes: unsere Schuld. Schuld des Staates und der Privatperson. Was ist denn getan worden, nichtgeachtet einiger Empörungswellen und gelinder Strafen, um den Deutschen ein positives Bild des Judentums zu geben? Fast nichts. Was haben die Schulen getan? Nichts.

Sein Vorschlag gegen den hartnäckig andauernden Antisemitismus war Erziehung: Es müsse auf Schulen und Universitäten das »Unrecht, das an den Juden begangen wurde, eindeutig verurteilt« werden. 5 Antisemitische Grabschändungen hatte es auch nach 1945 immer wieder gegeben, 6 das Jahr 1959 brachte eine neuerliche Zunahme. Rudolf Pechel regte an, eine Resolution gegen Antisemitismus zu verbreiten, »die meiner Ansicht nach gar nicht scharf genug sein kann«,7 und schlug als Diskussionsgrundlage zwei differierende Texte für den Internationalen und den bundesrepublikanischen PEN vor.8 Nach erneuter Mahnung antwortete ihm Schmiele, bereits nach der Tagung des Internationalen PEN, daß Pecheis Resolutionsvorschlag in der Präsidialsitzung ausführlich beraten worden sei, man sich aber entschlossen habe, »daß Kasimir Edschmid in der Eröffnungssitzung in der Paulskirche auf seinen Kern eingehen solle«. Das hat Edschmid getan, und Heuss »ging auf den Anteil der Frankfurter Juden an der deutschen Literatur ein«.9 Robert Neumann setzte sich für eine direktere Form der Aufklärung ein,10 er hielt Rundfunkvorträge und veröffentlichte u. a. die Broschüre Ausflüchte unseres Gewissens. Dokumente zu Hitlers »Endlösung der Judenfrage« mit Kommentar und Bilanz der politischen Situation (1960). Er beschrieb wie Edschmid den fortgesetzten Antisemitismus, die zahlreichen übernommenen NS-Juristen; deshalb wäre Eichmann, wäre er »samt dem kompletten Beweismaterial per Fallschirm über Deutschland abgeworfen worden«, womöglich »als Nichtvorbestrafter, mit ausgezeichneter Führung beim Militär, unter mildernder Anrechnung des sogenannten Befehlsnotstands und des Wegfallens einer Wiederholungsgefahr, wegen Beihilfe zum Totschlag verurteilt worden - zu zehn Jahren? zu fünf? mit Bewährungsfrist?« 11 Neumann bemerkte auch eine neue, »weiße« Form des Antisemitismus, eine andere Art von Sonderbehandlung: Ein Redakteur, der das Buch eines Juden miserabel findet, gibt den Rezensionsauftrag »lieber dem R., der verreißt es natür-

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Kasimir Edschmid: Tagebuch 1958-1960. Wien, München, Basel 1960, S.68. Ders.: 69; weitere Kommentare zu Antisemitismus s. ders.: 152f., 341-345. Vgl. Harry Pross: Memoiren eines Inländers. 1923-1993. München 1993, S.224. Pechel an Schmiele, 14.2.1959, NLP. Loses Blatt, dat. 21.4.1959, DA. Schmiele an Pechel, 31.7.1959, NLP. Vgl. Robert Neumann: Ein leichtes Leben. Bericht über mich selbst und Zeitgenossen. München, Wien, Basel 1963, S.528-536,542f. Ders.: 533.

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lieh auch, aber er ist selbst ein Jude, also ist das in Ordnung«;12 ein Rundfunkredakteur bezahlt ihm ein nicht übernommenes Manuskript dennoch voll, mit den Worten »glauben Sie denn, Herr N., daß ich eine Sache, die ein Jude und Naziopfer wie Sie mir schickt, nicht unter allen Umständen annehme und honoriere?« 13 Ein Ende des Antisemitismus sei erst gekommen, wenn auch die Juden ein Recht auf ihre Sünden hätten: 14 falsch zu parken wie jene anderen; nachher den müde gefahrenen Wagen samt seinen heimlichen Mängeln einem unglückseligen Käufer anzudrehen wie jene anderen; nachts auf der Straße betrunken zu randalieren, sogar Raub und Totschlag zu begehen wie jene anderen - und trotzdem von jenen anderen bloß zu hören: der Meier hat es getan, nicht der Jude Meier hat es getan, alle Juden habens getan, alle Juden sind Raubmörder, randalieren auf der Straße und parken die Autos falsch.

Auch Wolfdietrich Schnurre wollte gegen die Friedhofsschmierereien etwas unternommen wissen. Er schrieb deshalb an Kästner, auch einen Brief an die Zeit. Kästner war zwar seiner Meinung, wollte aber eine möglichst einstimmige Resolution erreichen. Das ging nur im Rundbriefverfahren und kostete Zeit; nichtsdestoweniger initiierte Kästner ein solches Verfahren. Er selbst war der Ansicht, eine bloße Verurteilung der Schmierereien sei zu wenig und zu selbstverständlich: »Ich bin nur für eine Resolution, wenn wir übers Redensartliche hinausgehen wollen. Wenn nicht, wäre es das Beste, die nächste Entwicklung präzise zu beobachten und im womöglich notwendigeren Zeitpunkt einzugreifen.«15 Ausführliche Antworten auf Kästners Rundschreiben an den Vorstand, Schnurre und Kühner-Wolfskehl mit der schlichten Frage »Was sollen wir tun?« 16 schickten Carver, Edschmid, Friedenthal, Hagelstange, Kasack, Kessel, Schmiele, Schnurre, Vring und Usinger. Die Rede war von >ignorieren< (Vring); >keine Resolution an die Öffentlichkeit, sondern an die Kultusministerkonferenz< (Hagelstange, Kasack); >Geschichtsbücher revidieren< (Kessel); >Selbstbesinnung< (Friedenthal); >keine Resolution, etwas wirklich Konkretes - etwa ein Vortrag Jaspers' oder Bubers in der Paulskirche< (Schmiele); und von einer »einstimmige[n] präzis formulierte[n] Resolution [...], in der die antijüdischen Ausschreitungen in der Bundesrepublik [...] von allen Mitgliedern aufs schärfste gebrandmarkt und einhellig mißbilligt werden«.17 Kasimir Edschmid stellte sich auf einen rein pragmatischen Standpunkt, der - ohne explizit zu werden - Kästners Zaudern verurteilte, denn auf ihn war ja die Verzögerung zurückzuführen. Die Erklärung habe zum jetzigen Zeitpunkt keinen Zweck mehr: 18

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Ebd. Ders.: 533f. Ders.: 534. Kästner an Schmiele, 7.1.1960, S. If.; SK. Rs. Kästner, 27.1.1960; SK. Schnurre an Kästner, 5.1.1960, SK. Edschmid an Kästner, 30.1.1960, SK.

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Wenn Sie gleich zu Weihnachten eine Erklärung losgelassen hätten, so hätte ich sehen wollen, wer dagegen gemeutert hätte. U n d wenn, dann hätte es den Betreffenden ja frei gestanden, den P E N zu verlassen. Sie hätten jedenfalls mich bestimmt hinter sich gehabt. Es handelt sich ja um einen der Hauptpunkte des PEN. A b e r wenn Sie was machen wollen, bin ich natürlich einverstanden.

Passiert ist dann tatsächlich - nichts, für Schnurre ein erster Grund, den PEN jämmerlich zu finden (sein Wort: »beschämend«); beim nächsten Ärger, der flauen Reaktion auf den Mauerbau, wird er austreten. 19 In der Frage eines Antisemitismus-Engagements des PEN gab es auch noch kleinere Scharmützel mit dem Bundespresseamt und der Londoner PEN-Gruppe deutschsprachiger Autoren im Exil. Schmiele verfolgte seinen Vorschlag einer Großveranstaltung mit Jaspers oder Buber in der Paulskirche weiter und klopfte als möglichem Finanzier beim Bundespresseamt an; dort erfuhr er, daß Peteris Aigars' PEN DM 12.000,- für eine Tagung zum Thema Antisemitismus in Düsseldorf bewilligt bekommen hatte. Die Hamburger Jahresversammlung hatte keine DM 4000,- gekostet, und so ärgerte sich Schmiele doppelt über die Aussicht, im April eine PEN-Veranstaltung gegen Antisemitismus zu haben - »jedoch ohne uns!« - und das, obwohl er die Zusicherung erhielt, er bekomme für die Jaspersoder Buber-Veranstaltung »jeden vertretbaren Zuschußbetrag«. 20 Die Clubpräsidenten Aigars und Kästner haben zwar freundliche Briefe getauscht, zu einer Zusammenarbeit kam es aber nicht. Das Präsidium des bundesrepublikanischen PEN wollte verhindern, daß in der Presse erneut Verwirrung über verschiedene PENGruppen gestiftet werde, und bat sich aus, den PEN im Titel der Veranstaltung nicht zu nennen; so geschah es auch. Von den Westmitgliedern besuchte nur Stefan Andres die Veranstaltung.21

1.1961 - vor der M a u e r Das Vereinsjahr ließ sich recht friedlich, geradezu friedhofsruhig an. Der Internationale PEN sah sich außerstande, 1961 einen Kongreß zu veranstalten. Nach dem Hinscheiden des Fund for Intellectual Freedom war auf dem Internationalen Kongreß in Rio de Janeiro 1960 beschlossen worden, einen Internationalen Schriftsteller-Fond zu gründen; über die Zwecke teilte Schmiele im ersten Rundschreiben des Jahres nichts mit, aber es seien »bereits namhafte Spenden eingegangen«.22 Direktor des Fonds war David Carver, als Vizepräsidenten waren eingeladen worden und hatten akzeptiert - Kasimir Edschmid, André Maurois, Alan Pryce-Jones,

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Vgl. seinen Aufsatz gegen die antisemitischen Ausschreitungen: Wolfdietrich Schnurre: Im Niemandsland. In: W. S.: Schreibtisch unter freiem Himmel. Polemik und Bekenntnis. Ölten, Freiburg i.Br. 1964, S . 2 1 - 2 5 (Erstdruck im Israel-Forum (Haifa), Februar 1960). Schmiele an Kästner, 25.2.1960, SK. Kästner an Schmiele, 2.7.1960, SK. Rs. Schmiele, 2.1.1961, D A .

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Michael Rusinek und Sharid Suhrawady. Die offenbar erste Aktivität der neuen Stiftung sollte ein International Short Story-Wettberwerb sein, dessen Teilnahmebedingungen im Rundschreiben ausführlich wiedergegeben wurden; es Schloß nach dem Totengedenken mit einem herzhaften Geburtstagsgruß: 23 Das junge Jahr 1961 wird, wie uns ein Blick in die Bibliographie lehrt, ein Rekordjahr der Altersjubiläen sein. Fünfunddreissig von uns, von denen es niemand gedacht hätte, werden in diesem Jahr 80,75,70,65,60 und 50. Für den Fall, dass dem Generalsekretär bei diesem Andrang erfreulicher Daten dann und wann die Mittel fehlen, die Kräfte schwinden sollten, bittet er schon heute vorbeugend um Absolution [...]!

Die Jahresversammlung in Nürnberg 24 scheint weitgehend ereignislos verlaufen zu sein, bemerkenswert ist sie nur, weil die formelle Vereinsgründung hier endlich stattfand, im Beisein von 21 Mitgliedern: Die »Umgründung«, »einschließlich der Auflösung des bisherigen PEN-Zentrums und der Neugründung eben desselben«, habe drei Minuten gedauert und sei widerspruchslos geschehen.25 Schmiele erklärte in Nürnberg auch, weshalb die Hamburger Zeit-Veranstaltung überhaupt nicht in den Fokus des Zentrums der Bundesrepublik gerückt war: Die Aufforderungen zur Teilnahme seien »verspätet« erfolgt,26 was nicht ganz richtig ist. Der PEN-Vorstand der Jahre 1960-1962 gab kein sehr handlungsfähiges Bild ab, Kästner und Schmiele verabschiedeten sich über den kleinen internen Zwisten immer mehr. Der Bericht über die Jahresversammlung in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung referierte das größte Problem, das der PEN (Bundesrepublik) mit der Hamburger Veranstaltung hatte: Die Unkenntnis, Unklarheit und Verwirrung, die in der Öffentlichkeit immer noch über das zweite PEN-Zentrum bestehe. Sie - 2 7 werde noch dadurch erhöht, daß das eindeutig unter ostzonalem Einfluß stehende Zentrum die Bezeichnung >Ost und West< führt und es stets abgelehnt hat, die Namen seiner Mitglieder, insbesondere der in der Bundesrepublik wohnenden, bekanntzugeben - ein Faktum, das keines Kommentars bedarf.

Auf Antrag Rudolf Goldschmit-Jentners wurde zudem beschlossen, bei Zuwahlen künftig stets bekanntzugeben, welche beiden Mitglieder den Kandidaten vorgeschlagen haben. Über den städtischen Empfang durch den Bürgermeister Haas informierte nicht nur die Tagespresse, sondern in diesem Fall auch das Amtsblatt der Stadt Nürnberg - ein bißchen Gratiswerbung für den Bürgermeister, dessen Rede zur Stadtsanierung nach dem Krieg und zu den kulturellen Ambitionen Nürnbergs ausführlich referiert wurde, Kästners Antwort dagegen vielleicht in einem Drittel des Umfangs. 28

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Dass.: 2. 26.-28. April 1961; Walter Schmieles Bericht (Rs.) darüber stammt vom 15. Juli 1961. Ossip Kalenter in: Der Tagesspiegel, 3.5.1961. Rs. Schmiele, 15.7.1961, S.3; NLK. Nt. [Herbert Nette] in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 2.5.1961. Abgedruckt in: Rs. Schmiele, 15.7.1961, S.5; NLK.

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Die größte Aufmerksamkeit erhielt die Rede, die Hermann Kesten, gebürtiger Nürnberger, im Auditorium Maximum der Universität Erlangen-Nürnberg hielt: »Wir Nürnberger«. Hans Schwab-Felisch resümierte allerdings, die ganze Tagung sei jedenfalls kein Ereignis für die Nürnberger gewesen: Beim Vortrag blieben sie aus.29 Von einer Neugier der Öffentlichkeit, eine respektable Anzahl von Schriftstellern versammelt zu sehen, war nichts zu spüren. Man war unter sich. Natürlich, der Bürgermeister war erschienen, die Stadt kümmerte sich, der funktionierende Apparat der Verwaltung befaßte sich mit seine Gästen. Die Lokalpresse war da. Aber sonst? Ging irgendein Funke aus von dieser Tagung der Schriftsteller? Hatte die Gesellschaft, in die sie wirken wollen, als Satiriker oder Tragiker, Humoristen oder Realisten, irgend etwas mit ihnen zu tun? Wo liegt das Versäumnis, bei den Autoren, bei der Gesellschaft?

Auch Schwab-Felisch sah aber Kestens Vortrag als Rechtfertigung an - solange solche Reden gehalten würden, brauche der PEN nach seiner Existenzberechtigung nicht zu fragen. Allerdings sei am Schluß in den Reihen des PEN »ein Schuß Lethargie nicht zu übersehen« gewesen.30 Kestens Rede scheint sich eher mit der Rolle der Schriftsteller allgemein befaßt zu haben; ein Zeitungsartikel referierte Bruchstücke: »>In der Spezialistenzeit sind die Schriftsteller die einzigen Müßiggängen ... >Wir erscheinen als die letzten Dilettanten ... >Wir schreiben über nichts und über allesWir führen das unendliche Selbstgespräch der Menschheit ... >Wir schaffen die Sprache neu, mit jedem Wort prüfen wir die ganze WeltImmer auf der Jagd nach dem Unsagbaren; was wir nicht aufschreiben, hat umsonst gelebt.. .freudige Zustimmung< [...] definieren.« 46 Hermlin war noch 1980 durchaus bereit, gegenüber Ulla Hahn seinen damaligen Standpunkt zu verteidigen, und zwar wegen der extremen Feindseligkeit dieser alten Bundesrepublik gegenüber den östlichen Nachbarn: »Sie müssen bedenken, daß ich von dem Staat Adenauers rede, nicht von der Bundesrepublik, wie sie sich unter Willy Brandt und Helmut Schmidt entwickelte.«47 Schnurre hatte 1961 nicht nur an Kästner geschrieben, sondern seinen Brief in Abschrift an den ganzen Vorstand geschickt, also auch an Edschmid, Schmiele, Hagelstange und Kasack. Sein Brief war eine emphatisch aufgeregte Erinnerung an die

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Zit. n. Günter Grass: Werkausgabe in zehn Bänden. Hg. von Volker Neuhaus. Darmstadt und Neuwied 1987. Bd. IX, S.35f. Briefe vom 26.10.1961,7.11.1961, DA. Hermlin, Stephan: Traum der Gemeinsamkeit. Ein Lesebuch. Hg. von Klaus Wagenbach. Berlin 1985 (WAT 128), S. 112. Ebd. Ders.: 113. Ebd. Ders.: 114.

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Charta des PEN, und Ausdruck seiner Beunruhigung über das Stillschweigen des PEN, der hier in fast voller Länge zitiert sei: 48 Sie erinnern sich gewiß noch meines Briefes vom 5.1.60, in dem ich Sie dringend darum bat, das Deutsche Zentrum möchte sich gegen die antisemitischen Ausschreitungen aussprechen und eine entsprechende Resolution verfassen oder auf andere Art Stellung nehmen. Es ist damals ein verwirrender Brief an die Mitglieder gegangen, oder an die Mitglieder des Vorstandes, des Beirates genauer, und das ist alles gewesen. Ich fand das schon damals außerordentlich beschämend. Fast noch beschämender aber empfinde ich, daß sich das Deutsche Zentrum bis zur Stunde noch nicht zu der plötzlichen militärischen Gewaltaktion vom 13. August und zu den seither vom Zonenregime verübten Untaten geäußert hat. Zwei westberliner Autoren, Günter Grass und der Unterzeichnete, haben die ostdeutschen Autoren aufgefordert, öffentlich zu protestieren oder die Gewaltaktionen gutzuheißen. Man hat sie gutgeheißen. Das heißt, die ostdeutschen Schriftsteller heißen Konzentrationslager gut, von denen es inzwischen insgesamt 23 uns bekannte in der Zone gibt. Das heißt, die ostdeutschen Schriftsteller heißen die Selbstmorde gut, deren Durchschnittsquote (nicht nur alte Menschen, auch junge) in der Zone zwischen 25 und 30 Leben am Tag beträgt seit Ulbrichts Terror neu angelaufen ist. Das heißt, die ostdeutschen Schriftsteller heißen die Deportationsgesetze und die Terrorurteile gut, durch welche schuldlose Menschen verschickt und in Zuchthäuser geworfen werden. Das heißt, die ostdeutschen Schriftsteller heißen die Unmenschlichkeit und die Unterdrückung der Freien Meinung in der Zone gut. - 2 -

Wie darf der w e s t d e u t s c h e P.E.N. dazu s c h w e i g e n ? Wie darf der westdeutsche P.E.N. sich durch die Exilgruppe, die Einspruch erhob und protestierte, derart beschämen lassen? Wie darf der westdeutsche P.E.N. es zwei Einzelnen überlassen, hier Protest zu erheben und die ostdeutschen Schriftsteller aufzufordern, Stellung zu nehmen? Wie darf der westdeutsche P.E.N. sich erst durch die Presse an seine selbstverständlichste Pflicht erinnern lassen? Ich beantrage, soweit ich das in meiner Eigenschaft als einfaches Mitglied darf, dringend, zumindest eine Entschließung zu fassen, die sich gegen das menschenunwürdige Verhalten der ostdeutschen Schriftsteller wendet. Es braucht ja keine im Leitartikelton verfaßte Beschimpfung zu sein. Aber man muß doch wohl einmal darauf hinweisen, was Aufgabe eines Schriftstellers ist. Und wie steht es mit dem 4. Grundsatz der Charta? >-... und seine Mitglieder verpflichten sich, jeder Art der Unterdrückung der Äußerungsfreiheit in ihrem Lande oder in der Gemeinschaft, in der sie leben, entgegenzutreten.* So heißt es doch wohl. Wo sind die Mitglieder, die dem Terror Ulbrichts entgegentreten? Ich sehe sie nicht. Der westdeutsche P.E.N. hat sich unendlich geschadet mit seinem Schweigen. Ich bitte daher dringend darum, daß er sein unverständliches und unverantwortliches Schweigen jetzt bricht, und daß seine Mitglieder sich der Lage bewußt werden und erkennen möchten, was am 13. August in Berlin und in der Zone geschehen ist und seither in immer furchtbarerer Weise täglich weiterhin geschieht. Keiner darf schweigen. >Wer schweigt, wird schuldig* schrieben Grass und der Unterzeichnete. Das gilt nicht nur für die ostdeutschen Schriftsteller, es gilt auch für uns.

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Schnurre an Edschmid, 13.9.1961, NLE.

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Ich lege hier den Text des Offenen Briefes mit ein, sowie mein Resümee, das am 16.IX. in der >Welt< und in einigen anderen Blättern erscheint, und das ich morgen abend auch von Berlin aus im Funk verlesen werde. -3Ich bitte diese beiden Texte und die Wirkung, die der erste bisher gehabt hat, als Beispiel dafür zu nehmen, daß schon ein Einzelner etwas tun kann. Ob es Sinn hat, ist eine zweite Frage. Aber Fragen können jetzt nicht mehr gestellt werden. Der P.E.N. hört auf zu bestehen, wenn er weiterschweigt, und ich würde mich weigern, ihm weiter anzugehören, wenn er jetzt nicht laut und vernehmlich seine Stimme erhebt. Ich schreibe aus Berlin. Ich bin vor zwei Tagen wieder an der gemauerten Grenze gewesen. Ich bitte mir zu glauben, daß ich mir des Ernstes meiner Worte bewußt bin, wenn ich sage, solange Ulbricht der D D R vorsteht, hat Hitler einen Nachfahren erhalten, der ihm von Tag zu Tag und von Methode zu Methode ähnlicher zu sehen beginnt. Und die ostdeutschen Schriftsteller billigen es.

Offenbar hat niemand aus dem Präsidium Schnurre geantwortet, auch wenn intern mögliche Schritte eines Protestes gegen den Mauerbau überlegt worden sind. Schnurre erklärte daraufhin im Oktober 1961 öffentlich, mit einer Presseerklärung, seinen Austritt: Er berief sich auf den §4 der Charta (Grundsatz des ungehinderten Gedankenaustausche, Pressefreiheit); beide, das west- wie das ostdeutsche Zentrum, hätten »eklatant gegen die Charta verstoßen«:49 Das ostdeutsche Zentrum, indem seine Mitglieder Massendeportationen, Konzentrationslager, politische Morde und die Unterdrückung der Meinungsfreiheit gutheißen; und das westdeutsche Zentrum, weil dessen hierfür verantwortliche Vertreter nicht unmittelbar nach Bekanntwerden der Ergebenheitserklärungen der Zonenschriftsteller beim Exekutivkomitee in London den Dringlichkeitsantrag stellten, das Zentrum der D D R aus dem Internationalen P.E.N. auszuschließen.

Mit Schriftstellern, die sechzehn Jahre nach Hitler wieder einem blutbefleckten Diktator dienten, könne er nicht mehr zusammen in einem Club sein, die Satzung des PEN sei entwertet. Erich Kästner hat Schnurre ebenfalls mit einer Presseerklärung geantwortet; weil sie nicht immer vollständig abgedruckt wurde, ist sie ebenfalls in dem Rundschreiben Schmieles vom Oktober 1961 zu finden, Schnurres Erklärung vorgeordnet. Kästner bedauerte den Austritt und mehr noch seine demonstrative Art. Er sei überzeugt, daß die 170 verbliebenen Kollegen wie Schnurre »die Vorgänge seit dem 13.8. ablehnen und die Entwicklung mit äußerster Sorge beobachten«.50 Aber diese »vermutlich mehr oder weniger einhellige Meinung« und ein öffentlicher Protest seien nicht dasselbe: Ost- wie Westzentrum gehörten einem Internationalen Verband von mehr als sechzig Zentren aus beiden Hemisphären an, »und der Internationalen PEN-Club sieht es nach wie vor als eine wichtige Aufgabe an, diesen Kontakt trotz aller Spannungen nicht zu unterbrechen.« 51 Zerreißproben gebe es immer wieder, zuletzt zur Ungarnfrage auf dem Internationalen Kongreß in Frankfurt 1959. Der Vorstand habe sich wiederholt gefragt, »ob ein öffentlicher

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Schnurres Erklärung, abgedruckt im Rs. Schmieles, Oktober 1961, S.2; NLK. Käster im Rs. Schmieles, Oktober 1961, S. 1; NLK. Ebd.

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Protest, vom Grad seiner Wirksamkeit ganz abgesehen, angebracht sei«; nach dem Protest durch das Zentrum Writers in Exile sei man sich einig gewesen, »daß der nächste Schritt nicht weiterhin von einzelnen Zentren, sondern vom Internationalen PEN zu erfolgen habe.«52 Auf der nächsten Exekutivsitzung in Rom werde die Angelegenheit besprochen und ein internationaler Mehrheitsbeschluß gefaßt, der dann freilich nicht die Meinung des westdeutschen Zentrums wiedergeben müsse, aber so sei das nun mit den »Spielregeln der Demokratie«. 53 Seine Erklärung wollte Kästner nicht als präsidiale Antwort verstanden wissen, sondern »lediglich als die Auffassung eines in Angelegenheiten des PEN-Clubs und mit dessen Spielregeln einigermaßen erfahrenen Mitglieds«54 - er mußte die Erklärung schnell abgeben und konnte sich nicht mit allen Vorstandsmitgliedern beraten. Gerhart Pohl formulierte für die kommende Exekutivsitzung des Internationalen PEN in Rom eine - von Rudolf Pechel unterstützte - Entschließung, in der der Ausschluß des PEN Ost und West gefordert wurde, nachdem die »Ergebenheitserklärungen für Ulbrichts Mordregime die Charta des internationalen PEN gröblich verletzt haben«. 55 Auch Walter Schmiele nahm zu Schnurres Akt Stellung; seine Erklärung ist anscheinend nur von den Nürnberger Nachrichten referiert worden. Schmiele hielt die offenen Briefe Schnurres und Grass' an die DDR-Schriftsteller für unkollegial: Man »könne nicht erwarten, daß die Schriftsteller der Sowjetzone von selbst über die Klinge springen würden. Unter den augenblicklichen Umständen sei keine andere Antwort möglich gewesen« - als die apologetische von Hermlin, Seghers, Strittmatter und Wiens nämlich.56 Als notorischer Resolutionsgegner reagierte er auch noch 1996 gereizt auf eine entsprechende Nachfrage: »Der Verein deutscher Kanarienzüchter kann sich dieselben Vorwürfe machen. Die haben auch ganz schwach reagiert damals! Was soll's!?«57 Die Presse spiegelte das durch den Mauerbau wiedererweckte Grabendenken. In aktuell findet sich ein anonymer Artikel, der Schnurre beglückwünschte und die anderen PEN-Mitglieder inklusive ihres Präsidenten beschimpfte: 58 Dann können uns unsere kommunistischen Freunde nicht böse sein. Die Schriftsteller, sonst wahrlich nicht heikel mit flammenden Protesten, wenn in der Bundesrepublik etwas das Mißfallen Moskaus erregt, haben, davon ist Kästner >überzeugtabgelehnt< und die Entwicklung >mit äußerster Sorge beobachtete Aber alles still und heimlich, auf daß Moskau sie nicht ablehne. Dennoch, ein Fortschritt ist gemacht: im vierundvierzigsten Jahr des moskowitischen Terrors, im sechzehnten Jahr der Unterdrückung Mitteldeutschlands hat ein so drastisches Er-

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Ebd. Ders.: 2. Ebd. Rs. Pohl, 18.10.1961, NLP. Schmiele in: Nürnberger Nachrichten, 13.10.1961; vgl. als Antwort Wolfdietrich Schnurre: Der Schriftsteller und die Mauer. Vortrag vom Februar 1962, abgedruckt in Schnurre 1964: 62-95, zu Schmiele dort S.82f. Gespräch Schmieles mit dem Verf. in Darmstadt, 25.6.1996. aktuell (München), 28.10.1961. 213

eignis wie die Chinesische Mauer Ulbrichts doch wenigstens einem PEN-Mitglied vor Augen geführt, was der Kommunismus ist.

Der anonyme Verfasser erhoffte sich eines Tages eine Demonstration gegen Unterdrückung und Terror und ein »Bekenntnis zur Bundesrepublik«; dann werde er bereit sein, das Kürzel PEN neu zu definieren: Statt »Politisch Ewige Nullen« solle es dann »Politisch Erwachte Nachzügler« heißen. Am 1. November 1961 fand in Rom die von Kästner erwähnte Sitzung des Internationalen Exekutivkomitees statt, die erste seit Errichtung der Berliner Mauer. Präsident des Internationalen PEN war Alberto Moravia, die beiden Geschäftssitzungen leitete Robert Neumann. Walter Schmiele und Richard Friedenthal vertraten das Zentrum der Bundesrepublik und überreichten ein Memorandum, in dem gefragt wurde, »inwieweit die Grundsätze der P.E.N.-Charta die Zentren des Internationalen P.E.N. wie auch ihre einzelnen Mitglieder heute tatsächlich verpflichten, und mit welchen Folgerungen Zentren und Mitglieder zu rechnen haben, die gegen die Charta verstoßen.« Es sei unübersehbar, daß die Errichtung der Mauer ein Akt der Unterdrückung der Äußerungsfreiheit sei und damit gegen den § 4 der PENCharta verstoße, und die Weltöffentlichkeit habe auch entsprechend reagiert. 59 Gleichwohl haben Mitglieder und selbst Präsidialmitglieder des Deutschen P.E.N.-Zentrums Ost und West die Maßnahmen ihrer Regierung mit ihren harten Konsequenzen für die Freiheit des Einzelnen ausdrücklich gebilligt und dem Geist der Unterdrückung ihre Unterstützung zugesagt.

Das Memorandum brachte anschließend eine Blütenlese aus den Zeitungsartikeln von Hermlin, Uhse, Apitz und Strittmatter. Die Konfliktscheu bzw. »abwartende Haltung« des bundesrepublikanischen PEN wurde so erklärt: 60 Das Deutsche P. E. N.-Zentrum der Bundesrepublik hat im Interesse der ungestörten Solidarität innerhalb des Internationalen P.E.N. und insbesondere im Interesse einer kollegialen Zusammenarbeit mit dem Deutschen P.E.N.-Zentrum Ost und West nach mehrfachen Beratungen im Präsidium zu den Ereignissen des 13. August eine abwartende Haltung eingenommen. Auch als Mitglieder des Deutschen P.E.N.-Zentrums Ost und West die Maßnahmen ihrer Regierung öffentlich billigten, sah das Deutsche P.E.N.-Zentrum der Bundesrepublik aus den dargelegten Gründen von einem Protestschritt noch immer ab, obwohl ihm klar war, daß das Verhalten der ostdeutschen Schriftsteller einen Verstoß gegen die P.E.N.-Charta darstellte.

Diese Haltung sei weder von der deutschen Öffentlichkeit noch von allen PEN-Mitgliedern gebilligt worden. Nach Schnurres Austritt habe Kästner den Standpunkt des Präsidiums erklärt und darauf hingewiesen, daß »die letzte Verantwortlichkeit für die Wahrung der in der P. E. N.-Charta niedergelegten Prinzipien beim Internationalen P.E.N. liege«,61 der auch den nächsten Schritt unternehmen müsse. Der bundesdeutsche PEN versuchte also, wie schon zehn Jahre zuvor, deutsche Beson-

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Rs. Kästner und Schmiele, 15.11.1961, S.l; DA. Dass.: 2. Ebd.

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derheiten zu delegieren: Der Internationale PEN solle seine Haltung klar und deutlich definieren, weil sonst auch der westdeutsche Klub bedroht sei, zwischen den vorgeschlagenen Möglichkeiten zu zerreißen - eine westdeutsche Entschließung gegen das Verhalten der Ostschriftsteller, den Ausschluß des Ostklubs aus dem PEN oder die Mißbilligung des Ostklubs durch die Exekutive. Bei der Sitzung in Rom war kein Vertreter des ostdeutschen Klubs gekommen, die angekündigte Delegation - Hermlin, Kamnitzer und Kretzschmar - fehlte. Jean de Beer (Frankreich) bezeichnete das Verhalten von Schnurre und anderen mit Austritt drohenden Mitgliedern als eine Art Erpressung, 62 und überhaupt handle es sich um eine deutsche Angelegenheit, das Zentrum Bundesrepublik »should make its own decisions in the matter«. 63 Kathleen Nott (England) und Douglas Young (Schottland) unterstützten Friedenthal, auch der tschechoslowakische Vertreter Lumir Civrny versuchte, ausgleichend zu wirken. Dennoch beschloß die Versammlung (gegen die westdeutschen und österreichischen Stimmen sowie einigen Enthaltungen) lediglich, »den Grundsatz >audiatur et alter pars< anzuwenden und den deutschen Komplex nicht zu verhandeln. In der Diskussion über das Verfahrenstechnische spiegelte sich die internationale Unlust, gegenwärtig deutsche Sonderprobleme zu erörtern, mit bestürzender Deutlichkeit.«64 Damit wollte sich die deutsche Delegation nicht zufriedengeben und erreichte mit ausdrücklicher Ermutigung durch Neumann und Carver wenige Schritte und außerordentlich lahme: Das westdeutsche Memorandum sollte zusammen mit den belastenden Artikeln der Ostschriftsteller in englisch und deutsch zu einem Dossier zusammengestellt werden, dieses Dossier wurde dann an Moravia, Neumann und Carver verschickt und von letzterem an den Ostpräsidenten Arnold Zweig weitergegeben - der sollte die gegen die PEN-Charta verstoßenden Äußerungen seiner Kollegen erklären. Falls er nicht reagieren würde, sollte eine Kommission eingesetzt werden, um die Verhältnisse in der DDR vor Ort zu prüfen. Schließlich wollte das Westzentrum im April 1962 in Brüssel, bei der nächsten Exekutivsitzung, eine Resolution einreichen, die die Änderung des Namens Deutsches PEN-Zentrum Ost und West forderte - eine nun definitiv nicht mehr zutreffende Bezeichnung. Der PEN-Schatzmeister Fritz Usinger konzedierte Schmiele, an dem ganzen Vorgang lasse sich ablesen, »wie schwierig vor diesem Gremium ein Antrag und seine Behandlungsprozedur ist. Sie haben getan, was Sie konnten, und jedermann kann nun aus dem Bericht unsere Möglichkeiten und Unmöglichkeiten ablesen.«65 Friedenthal hatte in seinem Bericht über die römische Exekutivsitzung vor übertriebenen Erwartungen gewarnt und den Stellenwert der Charta neu und sehr skeptisch eingeschätzt:66

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»a form of blackmail«, Protokoll zum 1.11.1961, S.25, PAL. Ebd. Rs. Kästner und Schmiele, 15.11.1961, S.2; DA. Usinger an Schmiele, 13.11.1961, DA. Friedenthal in Rs. Kästner und Schmiele, 15.11.1961, S.2; DA.

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Berufung auf den Wortlaut der Charta hilft da nicht viel mehr als bei größeren Weltorganisationen (UN), die auch alle ihre Charta haben. D e r P.E.N. ist in mancher Beziehung zu groß geworden. Die Charta stammt aus einfacheren Verhältnissen. Sie war eine Vereinbarung eines ziemlich homogenen Mitgliederkreises (und sie wurde in einer erheblich hoffnungsvolleren Zeit verfaßt). Die Zusammensetzung des internationalen Gremiums wird immer bunter: es geht nicht nur um West und Ost. Die >Neutralen< kommen hinzu [...], und innerhalb der alten Zentren [...] spiegeln sich obendrein diese Gruppierungen nochmals wider. Es wird also immer wieder zu Kompromissen kommen, auch zum >LeisetretenMauerEs wird von den Mitgliedern erwartet, daß sie die Frage des Abendanzugs nach eigenem Ermessen entscheiden. Es werden keine formellen Reden gehalten werden, und die Mitglieder des Clubs sollen sich in jeder Weise so bequem fühlen, als ob sie bei sich zuhause wären.< D a s ließ sich nicht aufrechterhalten, 1927 in Brüssel entwarf Galsworthy, der erste Präsident, die Ur-Charta. U n d mit der Charta s e i e n die Mißverständnisse g e k o m m e n , die a b w e c h s e l n d e n Vorwürfe, der Club sei zu politisch - o d e r zu unpolitisch. Erste Zerreißprobe sei die Bücherverbrennung 1933 g e w e s e n , in deren Folge der deutsche - gleichgeschaltete - P E N aus der internationalen Organisation ausgeschlossen wurde. 7 4 D e r Ausschluß blieb singulär: 7 5 [...] weder die faschistischen Schriftsteller Italiens, noch die Ungarn nach dem Blutbad von Budapest, noch Frankreich nach den Vorgängen in Algerien - noch das PEN-Zentrum der sogenannten D D R nach dem 13. August sind aus dem Internationalen PEN ausgeschlossen worden. Warum nicht? Nicht weil die Charta aufgeweicht worden wäre - wie behauptet wird - , sondern weil sich im weltweiten PEN mit seinen 7000 Schriftstellern aller Hautfarben, aller Sprachfamilien, aller Religionen der Welt die Meinung durchgesetzt hat, man müsse im Sinne der Charta tolerant auch gegen die Intoleranten sein. Gerade dies ist heute vielen von uns nicht begreiflich zu machen. Der PEN ist ein Club inclusive totalitärer Zentren: Ungarn, Bulgarien, die >DDRder PEN< seiner Meinung nach nicht aktiv genug war oder wenn ihm eine bestimmte Aktion nicht gefällt.« Politische, moralische Ziele müßten aber mit Energie und vorsichtig angesteuert werden; und obendrein sei der PEN - ursprünglich nur, jetzt immer noch - »auch ein Club, der geistig tätige Persönlichkeiten verschiedener Temperamente und Richtungen im geselligen Gespräch vereint«.8 In Speyer herrschte offenbar die Meinung vor, ein »passiver Haufe von fünfhundert« sei schlechter als fünfzig »geistige Figuren, die bei allem Unterschied im Temperament, politischer Einstellung und künstlerischer Richtung wirkliche Verbindung miteinander halten«,9 und einen solchen Club wollte man fortan anstreben. Um die Karteileichen zu entfernen, sollte zunächst die »Saumseligkeit in der Beitragszahlung«10 abgeschafft werden - hinfort werde es zwei Mahnungen geben, und wer auf die zweite nicht reagierte, von dem wurde angenommen, er sei stillschweigend ausgetreten. Für die nächste Jahresversammlung sollte ein vergleichbarer Entschluß zur Teilnahme an Versammlungen diskutiert werden. Erneut wurde, wie alle Jahre wieder, über die Requirierung neuer finanzieller Mittel nachgedacht; regionale Treffen nach dem Vorbild Münchens sollten in anderen Städten initiiert werden, Werner Stichnote erklärte sich bereit, für Darmstadt einen vergleichbaren Treffpunkt zu schaffen - das ist ihm im folgenden gelungen, der Treffpunkt funktionierte weit über die PEN-Mitgliedschaft hinaus als Literatenstammtisch. Nach Schilderung des gesellschaftlichen Rahmenprogramms verabschiedete sich Krämer-Badoni in seinem Rundschreiben mit der Hoffnung, 11 dass wir alle näher zusammenrücken, dem Geist der Charta dienen und ihn womöglich weiter ausbreiten, dem Club mit Vergnügen einige Kraft widmen und uns das nächstemal unter einem nicht allzu verdüsterten politischen Himmel treffen werden.

Seine Hoffnungen waren vergebens; beharrlich ließen sich die allermeisten Mitglieder nicht blicken. In einem späteren Versuch zur Aktivierung bediente sich KrämerBadoni einer anderen, doch sehr viel höflicheren, aber nicht unbedingt urbaneren Argumentation: »es gibt eine ganze Anzahl Mitglieder, die niemals an einer Tagung teilgenommen haben. Soweit es sich um jüngere Damen und Herren handelt, hat sich vielleicht im Laufe der Jahre das Gefühl entwickelt, eine Teilnahme sei nun psychologisch schwierig geworden. Man kennt nicht genug Leute, fürchtet eine alteingelebte Atmosphäre und was der seelischen Hemmnisse mehr sind. Auch das >Hemmnis< des literarischen Hochmutes rechne ich ohne Bedenken dazu.«12 Den Erfolg seines Aufrufs konnte er nicht mehr abwarten - Krämer-Badoni trat wenig später zurück.

8 9 10 11 12

Ebd. Dass.: 5. Ebd. Dass.: 7. Rs. Krämer-Badoni, 25.3.1963, DA.

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1. D e r P E N u n d die

Spiegel-Affäre

Die schiere Verrücktheit der Angelegenheit ließ einer der Protagonisten nach 15 Jahren Revue passieren; Rudolf Augstein hätte einen Menschen für »einseitig begabt« 13 gehalten, der ihm 1961 gesagt hätte 1 4 binnen eines Jahres wirst nicht nur du im Gefängnis sitzen, der ja immerhin mit journalistischen Veröffentlichungen zu tun hatte, sondern auch der Rechtsanwalt, der Dich berät und verteidigt, der Verlagsdirektor, der für den Inhalt einer Veröffentlichung gar nicht zuständig ist, weiter ein Industriekaufmann, der mit dem Spiegel nicht mehr zu tun hatte als daß er ihn abonnierte; weiter ein BND-Mitarbeiter, der von Berufs wegen zu uns Kontakt hielt; weiter der B N D - C h e f Gehlen selbst - hier übertreibe ich, der hatte nur eine Stunde Stubenarrest, damit er dem Haftbefehl, den Konrad Adenauer vergeblich gegen ihn forderte, nicht entschlüpfen könne.

Kanzler und Verteidigungsminister hatten gehandelt, ohne den allein zuständigen Justizminister einzuschalten. Conrad Ahlers, der Verfasser des inkriminierten bundeswehrkritischen Artikels, hatte vor der Veröffentlichung den Text gegenlesen lassen: von dem sozialdemokratischen Wehrexperten und damaligen Hamburger Innensenator Helmut Schmidt, und vom Bundesnachrichtendienst; dieser sah die Geheimhaltung an einer Stelle verletzt, die Ahlers daraufhin entfernte. Die Veröffentlichung enthielt keine Informationen, die nicht andernorts schon zu lesen gewesen waren. Ahlers wurde auf Veranlassung des Verteidigungsministers und »unter Bruch der Auslieferungsbedingungen aus dem diktatorischen Spanien herausgeholt«. 15 Augstein bescheinigte der Justiz und den Politikern, sie hätten sich der Angelegenheit in achtbarer Weise entledigt, und zog das - in seinen Augen durch die Ereignisse 1977 nur bedingt gültige - Fazit: »Seitdem, spätestens, ist die Bundesrepublik ein Rechtsstaat.« 16 Die »Gruppe 47« protestierte einen Tag nach der Aktion mit einer politischen Erklärung, in der sie sich mit Augstein »solidarisch« erklärte: »In einer Zeit, die den Krieg als Mittel der Politik unbrauchbar gemacht hat, halten sie [die Unterzeichneten, S. H.] die Unterrichtung der Öffentlichkeit über sogenannte militärische Geheimnisse für eine sittliche Pflicht, die sie jederzeit erfüllen würden.« 17 Als proble-

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14 15 16

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Rudolf Augstein: Muß soviel gehobelt werden? In: Nach dreißig Jahren. D i e Bundesrepublik Deutschland - Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft. Hg. von Walter Scheel. Stuttgart 1979, S . 2 4 3 - 2 4 5 , zit. S.245. Ders.: 243. Ders.: 245. Ebd. - D i e Spiegel-Affäre ist umfassend dokumentiert und kommentiert, vgl. Jürgen Seifert (Hg.): D i e Spiegel-Affäre. Band I: Alfred Grosser, Jürgen Seifert: D i e Staatsmacht und ihre Kontrolle. Band II: Thomas Ellwein, Manfred Liebel, Inge Negt: D i e Reaktion der Öffentlichkeit. Ölten und Freiburg i.Br. 1966; David Schoenbaum: Ein Abgrund von Landesverrat. D i e Affäre um den »Spiegel«. Wien, München, Zürich 1968; in jüngerer Zeit erschien Hans Joachim Schöps: »Ein Abgrund von Landesverrat«. D i e SPIEGEL-Affäre und ihre Folgen für die Bundesrepublik. In: D E R SPIEGEL. Sonderausgabe 1947-1997. Hamburg 1997, S . 5 6 - 8 1 . Seifert 1966, Bd. II: 383.

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matisch an dieser Erklärung wurde empfunden, daß der >Geheimnisverrat< zur sittlichen Pflicht erklärt wurde; der Skandal bestand ja in der Abstrusität des Vorwurfs und der abwegigen Handlungen, die auf die eben abstruse Annahme des >Landesverrats< folgten. 18 Der PEN reagierte zunächst nicht öffentlich in Form einer Presseerklärung, sondern lediglich mit einem Telegramm Krämer-Badonis an den Bundesinnenminister (29.10.1962). Der Text ist in einem Rundbrief an die Mitglieder abgedruckt:19 Das Deutsche PEN-Zentrum der Bundesrepublik ist besorgt über die möglichen Folgen der Polizeiaktion gegen die Wochenzeitschrift Der Spiegel. Die Pressefreiheit ist ein so eminent wichtiges Grundrecht, dass der Artikel 5 Absatz 2 des Grundgesetzes (Beschränkung durch die Vorschriften der allgemeinen Gesetze usw.) nicht ohne dringende Not angewandt werden sollte. Liegt aber eine solche Not vor, so sollten die notwendigen Schritte mit einem Höchstmass an Öffentlichkeitsbewusstsein unternommen werden. Sollte es sich nämlich herausstellen, dass der Fall verhältnismässig harmlos war, so muss dieser spektakuläre Schritt dem Ansehen der Bundesrepublik als eines freiheitlichen Staates einen lang nachwirkenden Schaden zufügen.

Der gesamte PEN-Vorstand (Werner, Krämer-Badoni, Edschmid, Stichnote) ließ im Namen aller PEN-Mitglieder dem ersten ein dringlicheres Telegramm an Adenauer selbst folgen, das auch in mehreren Zeitungen veröffentlicht wurde.20 Die entscheidenden Passagen, hier zitiert nach der ausführlichsten - auch journalistisch kommentierten - Quelle:21 Fehlende, zu spät erfolgte und zumindest unzureichende Informierung der Öffentlichkeit über Maßnahmen, die nicht der Geheimhaltung bedürfen, unklare Äußerungen der Verantwortlichen und nicht zuletzt, Herr Bundeskanzler, Ihre eigenen Worte im Bundestag haben die Beunruhigung nach fast drei Wochen nicht vermindert, sondern wachsen lassen. Die im PEN-Zentrum Bundesrepublik vereinigten Schriftsteller des internationalen PEN halten es für ihre Pflicht, Sie, sehr geehrter Herr Bundeskanzler, zu bitten, eine Erklärung abzugeben, die die vielen noch im Zwielicht liegenden Hintergründe völlig klarstellt, die ankündigt, daß Personen, die ihre Kompetenzen überschritten haben, zur Rechenschaft gezogen werden, und die gleichzeitig ein Bekenntnis zu der im Grundgesetz verankerten Äußerungsfreiheit und Pressefreiheit ablegt.

Krämer-Badoni mochte sich auch mit diesem Telegramm nicht begnügen, er fügte eine grimmige Erklärung »als Bürger der Bundesrepublik« hinzu. Sie wurde zumeist nicht abgedruckt, allein in der Süddeutschen Zeitung; sie schien dem kommentierenden Journalisten bemerkenswert, weil Krämer-Badoni als »Rechter« gelte. Gerade sein Aufruf beweise deshalb, daß es noch Schriftsteller gebe, die sich »nicht von den Interessen einmal gewählter Gruppen lenken lassen«, womöglich stehe jetzt eine »heimatlose Rechte« am Horizont. Deshalb sei Respekt vor Krämer-Ba-

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19 20 21

Vgl. Helmut L. Müller: Die literarische Republik. Westdeutsche Schriftsteller und die Politik. Weinheim und Basel 1982, S.84f. Rs. Krämer-Badoni, 1.11.1962, NLK; das Telegramm wurde am 29.10.1962 aufgegeben. S. Seifert 1966, Bd.II:384f. Süddeutsche Zeitung, 16.11.1962.

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donis Courage angebracht, auch wenn man seinen Zorn nicht teile. Krämer-Badoni schrieb: 22 Die Zirkuslaune im Bundestag - anders kann ich die dreitägige Sitzung nicht nennen - hat gezeigt: kein beteiligter Minister wußte, was der andere unternommen hatte, keiner wußte, wo die Grenze zwischen Recht und Unrecht verlief, keiner war bereit, seine Handlungen mitzuteilen, außer er wurde in die Enge getrieben, und der Bundeskanzler selbst glaubte, die Dinge mit ein paar Witzen und der vorausgreifenden Anschuldigung des vollzogenen Landesverrates abtun zu können. Die Regierung bot nicht den Anblick einer Verschwörergruppe gegen den Spiegel. Wäre es so! Dann säßen in Bonn wenigstens Dämonen. Nein, es war so banal und armselig wie nur möglich. Es trat eine Gruppe planlos wurstelnder, des Ernstes der Sache völlig unbewußter Dilettanten auf, die nicht einmal ahnten, daß sie in einem Porzellanladen umhertaumelten. Und zwar im vornehmsten Porzellanladen der Demokratie, wo die besten Freiheitsrechte figurieren. Diese Herren haben angesichts der ernsten verfassungsrechtlichen Schwierigkeit erster Ordnung, die die Bundesrepublik erlebt hat, insgesamt versagt, weil sie diese Schwierigkeit erster Ordnung nicht einmal sahen. Sie haben nicht begriffen, daß sie vom ersten Augenblick an alles an Tatsachen und Wahrheiten zusammenraffen und der Öffentlichkeit mitteilen mußten, sie haben bis zur letzten Stunde Behauptungen aufgestellt und widerrufen, dummes Zeug geredet, selbst da, wo sie sich mit gescheiteren Gedanken hätten salvieren können. Nein, dieses Bild ist eine Katastrophe. Der Bundeskanzler, der Innenminister und der Verteidigungsminister sollen die Konsequenzen aus diesem erbarmungswürdigen Spektakel ziehen und ins Privatleben zurückkehren. Nur so geben sie dem deutschen Volk das Bewußtsein, daß die Dinge von höchstem Ernst mit höchstem Ernst behandelt werden. Von allem nehme ich kein Wort zurück. Ich füge nur mit tiefer Trauer hinzu, daß diese Worte von einem Mann ausgesprochen werden, der jahrelang auf die Politik der Bundesregierung größte Stücke hielt und nach wie vor dieselbe Politik fortgesetzt zu sehen wünscht, aber ohne die Männer, die sich in dieser gefährlichen Weise als unfähig erwiesen haben. In Kurt Sontheimers Darstellung der »Adenauer-Ära« fällt die Spiegel-Affäre

unter

das Kapitel »Bundeskanzler auf Abruf«; A d e n a u e r hatte auch in den eigenen Reihen entschieden an Faszination verloren. 2 3 Einigen PEN-Mitgliedern war auch der krasse Auftritt des Generalsekretärs noch nicht genug gewesen; Krämer-Badoni schrieb in seinem Nachruf auf Bruno E. Werner, dieser habe voll »himmlischer Geduld« mit zwei Kollegen »wochenlang Briefe gewechselt und ihnen freundwillig zugeredet; ohne sie indes halten zu können.« 2 4 Einer dieser Kollegen war Ernst Schnabel; Hans Werner Richter und er hatten die Reaktion des P E N für viel zu schwach gehalten, das erste Telegramm gar für »medioker und unannehmbar«. 2 5

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24 25

Krämer-Badoni zit. n. ebd. Kurt Sontheimer: Die Adenauer-Ära. Grundlegung der Bundesrepublik. München 2 1996 (Deutsche Geschichte der neuesten Zeit; dtv 4525), S.62ff. Rs. Krämer-Badoni, Februar 1964, S. 1; NLK. Schnabel an Werner, 8.12.1962, S.2; DA. - Vgl. Richter 1997: 434-436.

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2. Schritte zur Koexistenz: »Den guten Willen haben wir« Die Jahresversammlung in Braunschweig26 mußte ohne den alten Vorstand auskommen, Kästner, Edschmid und Schmiele fehlten; Friedenthal als Vizepräsident nahm teil, Schmiele wurde in Absenz in den Beirat gewählt, zusammen mit seinen vorigen Kontrahenten Hagelstange und Kasack. Der PEN (Bundesrepublik) hatte durch einen Londoner Exekutivbeschluß einen Auftrag bekommen: er mußte klären, wie mit dem PEN Ost und West nach dem Mauerbau und den anschließenden Querelen Kontakt aufgenommen werden sollte, und beide Zentren sollten »ihre Differenzen bereinigen«.27 An der Diskussion nahmen u. a. W. W. Schütz, Sabais und Β. E. Werner teil, Csokor machte den Mediatisierungsvorschlag, jedes Zentrum solle 2 - 3 Personen nennen, die sich zu Besprechungen treffen könnten. Der von der Versammlung akzeptierte Brief an Carver schlug dann in der Tat Edschmid, Friedenthal und Pross als Beauftragte vor, resp. Ludwig Bäte wegen seiner guten Beziehungen zur Schillerstiftung, die in West und Ost anerkannt war; außerdem Csokor oder Victor van Vriesland als neutrale Gesprächsleiter. Der entscheidende Briefabsatz sollte folgenden Wortlaut haben: 28 Das deutsche PEN-Zentrum Bundesrepublik ist zu Gesprächen mit dem PEN-Zentrum Ost und West bereit. Wir halten sogar eine Fusion für erstrebenswert. Natürlich ist es erforderlich, daß wir uns auf der Grundlage der PEN-Charta einigen. Insbesondere müßte eine Verständigung zwischen den beiden Zentren die Freizügigkeit der Autoren und der literarischen Publikationen zwischen den beiden getrennten Teilen Deutschlands zur Folge haben.

Fusion klingt nach Selbstaufgabe, und besonders über diesem Begriff erregte sich Heinz-Winfried Sabais, der eine kleine Debatte in der Welt eröffnete. Es handle sich um einen »arglosen Beschluß«, das Kaninchen mache sich Illusionen über die Schlange. Koexistenz »mag möglich sein«, Fusion aber erst, wenn Koestler »für sein literarisches Werk den Ostberliner Nationalpreis oder gar den Lenin-Preis bekäme«.29 Sabais hatte hier die Weltfremdheit des PEN arg überschätzt. Aus Bruno E. Werners Kommentar auf der Tagung geht hervor, daß man sich über die Unannehmbarkeit der Forderungen für den Ost-Club im Klaren war, die Bedingungen Freizügigkeit und Veröffentlichungsfreiheit für alle Autoren in Ost und West waren abwegig: die Angelegenheit komme »vor das internationale Forum und werde durch unseren Brief und die Reaktion des Ost-PEN Klarheit auch für Naive [!] Gemüter erbringen.« 30 In diesem Sinne antwortete auch Rudolf Krämer-Badoni in der Welt. Der PEN sei eine Brücke zwischen den Blöcken, »ganz institutionell«, man

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10.-12.5.1963. - An der Generalversammlung nahmen 30 Mitglieder teil, dazu als Gäste Franz Theodor Csokor (Präsident des österreichischen PEN), Ossip Kalenter (Präsident des PEN deutscher Autoren im Ausland) und dessen Generalsekretärin Gabriele Tergit. Rs. Krämer-Badoni, Juli 1963, S.4; DA. Dass.: 5. Sabais in: Die Welt, 18.5.1963. Rs. Krämer-Badoni, Juli 1963, S.5f.; DA.

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treffe sich, sei »zu einer verständlichen Sprache gezwungen, und bis zu einem gewissen Grad wird der ideologische Jargon als untauglich beiseite gelassen.« Indem man sich zu Gesprächen und zur Rückkehr zu e i n e m deutschen P E N bereit erkläre, gehe man noch lange in keine Falle: 31 So viel Dialektik wie die Jungens von drüben beherrschen wir auch noch. Übers Ohr hauen ist so leicht nicht. Ich unterschreibe zum Beispiel jede Deklaration gegen den Krieg, wenn sie nur umfassend genug ist, wenn sie also lautet: Wir sind gegen ungerechte und gegen gerechte Kriege. Den guten Willen haben wir. Und gute Argumente haben wir auch. [...] Unser Beschluß ist die Antwort auf die Anregung des Internationalen PEN. Jetzt muß es sich zeigen, ob das angebotene Gespräch von den anderen jenseits der Mauer akzeptiert wird. Wir sind bereit. Ossip Kalenter bewertete dennoch den Entschluß als »noblesse oblige«, die westdeutschen Schriftsteller hätten sich bereit gefunden, »sich mit d e m ostdeutschen P E N zusammenzusetzen, dessen Mitgliedernamen sie nicht einmal erfahren können«. 3 2 Für die Öffentlichkeit veranstaltete der P E N eine Staffellesung mehrerer P E N Autoren, 3 3 v.a. aber eine Ansprache Harry Pross', eine Selbstverständigung über die R o l l e der Schriftsteller in der Gesellschaft: Politiker, Literaten,

Bürger hat er sie

genannt. Er erinnerte an Heinrich Manns R e d e auf d e m PEN-Kongreß 1931, der das Schreiben »eine hervorragend friedliche Tätigkeit« genannt hatte, an Manns Flucht und die Bücherverbrennung 1933. Pross rechnete die Literaten unter das »nicht organisierbare Sozialgelände«, sie seien weder bürokratisch noch staatlich zu integrieren. 3 4 D a b e i verleihe literarische Tätigkeit keinen besonderen sozialen Rang, sondern unterliege wie jede andere Arbeit auch »dem Urteil ihrer gesellschaftlichen Wirkungen. Nichts trennt in dieser Hinsicht den Autor v o m Staatsmann, v o m Arbeiter, v o m Physiker und v o n anderen Berufen«. D a g e g e n ließen sich die Wirkungen dieser nicht integrierbaren Tätigkeit besonders schwer voraussehen. 3 5 Die Menschheit hat längst gelernt, die Proben der Humanität, die der Literat liefert, wie Amtsgewalt zu mißbrauchen. Darüber tröstet nicht hinweg, daß Autoren in 99 von hundert Fällen überhaupt keinen Effekt erzielen. Denn auch Texte, die unwirksam bleiben, verlangen die größte Sorgfalt und daher Kenntnis dessen, was vorgeht in der Welt.

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34 35

Krämer-Badoni in: Die Welt, 18.5.1963. Auch Robert Neumann antwortete Sabais, allerdings aus der Sicht des Internationalen PEN. Dieser wolle die Erkenntnis fördern, daß »den kalten Kriegern zum Trotz unter Menschen derselben Zunge und desselben kulturellen Hintergrundes das Gemeinsame schwerer wiegt als das Trennende. Es ist ein Versuch, auf eine zivilistische Weise im Kulturellen jene Einigung zu erzielen, die hüben wie drüben in der Politik vermasselt wurde.« (Neumann in: Die Welt, 18.5.1963) Kalenter in: Rheinische Post, 15.5.1963. Am 12.5.1963; es lasen Bernus, Csokor, Friedenthal, Kalenter, Kreuder, Sander und Wohmann. Pross in Rs. Krämer-Badoni, Juli 1963, Beilage, S. 1; DA. Ders.: 2.

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Pross sah die Tätigkeit von Politikern und von Schriftstellern sich »im Bürgersein« begegnen und appellierte an die citoyens beider Bereiche, weiterhin für die Erfüllung einer Forderung der französischen Revolution einzustehen: die égalité, die »[bürgerliche Gleichheit« - die Verfassung des neuen Staates habe sie zum ordnenden Prinzip erhoben, ein Literat sei zum ersten Präsidenten gewählt worden. Pross' Rede Schloß: »Seitdem ist viel Wasser den Rhein hinunter geflossen. Aber der Anfang war gut, ihn zu vollenden, ist Sache aller Bürger dieser Republik.« 36 In der folgenden Vorstandssitzung, 37 nun ohne den verstorbenen Bruno E. Werner, wurde eine Regelung zur Übernahme von Mitgliedern anderer Zentren beschlossen, sie war notwendig geworden durch den Umzug von Ost nach West von Ernst Bloch, Hans Mayer und Marcel Reich-Ranicki. Demnach sollte hier und in künftigen Fällen die »mehrheitliche Zustimmung des Vorstandes« erforderlich sein, mit der Bloch und Mayer übernommen wurden; Reich-Ranicki mußte neu zugewählt werden, weil er nie Mitglied des polnischen Zentrums gewesen war. 38 Dem waren längere Sondierungen vorausgegangen, auch einige Querelen, sogar Austrittsdrohungen einzelner Mitglieder wegen der kommunistischem Vergangenheit der neuen Emigranten; Edschmid hatte Robert Neumann als internationalen Vizepräsidenten befragt, der ihm zuriet: 39 Wenn Sie tatsächlich Bloch und Mayer [...] bekommen können, so griffe ich an Ihrer Stelle so rasch wie möglich zu - das müßte doch durch einen Beschluß Ihrer Exekutive auch schon vor einer Generalversammlung möglich sein, oder?

Edschmid stand den Übernahmen reserviert gegenüber, wie auch seine Vorstandskollegen; aber auch Carver und Vriesland schrieben ihm nichts anderes, und als er sich bei Neumann darüber beschwerte, rückte der die Entscheidung in ein entschieden legislatives Licht: 40 was Carver und van Vriesland Ihnen da gesagt haben, sind nicht >Ansichten< sondern internationales Statut (allerdings mit der Einschränkung, daß diese Mitgliedschaften temporär, für die Dauer des Aufenthalts im Lande gelten, und daß diese temporären Mitglieder auf eigenes Verlangen zwar an allen Aktivitäten des PEN im Gastlande teilnehmen können und zu ihnen einzuladen sind - doch können sie bei Generalversammlungsbeschlüssen nicht mitbestimmen). Für diese Gesamtmitgliedschaft bedarf es tatsächlich keiner Neuaufnahme und keiner Abstimmungen, und da sie >Gesetz< ist, gibt Ihnen das die Handhabe, interne Konflikte und Diskussionen zu vermeiden und Austritte sinnlos zu machen.

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Ebd. Am 8.5.1964 in Darmstadt. Rs. Krämer-Badoni, Juli 1964, S. 1; DA. Neumann an Edschmid, 19.11.1963, NLE. Neumann an Edschmid, 11.4.1964, NLE. - Auch Neumanns Gegner Richard Friedenthal vertrat diese Position; es sei hier »absolut unannehmbar, die Qualitätsfrage zu erheben. Und weiter: welchen Beweis für PEN-Würdigkeit wir eigentlich noch wünschten, nachdem Bloch und Mayer jahrelang ihren Kopf riskiert hätten.« (Friedenthal zit. n. Krämer-Badoni, Rs. an den Vorstand, 13.3.1964, DA)

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[...] Ganz anders liegt der Fall von [2] Reich-Ranicki, der in Polen nicht Mitglied des PEN gewesen ist und ja auch eben erst sein erstes Buch publiziert hat.

Aufgrund der internen Ermittlungen und Diskussionen wurden die Übernahmen als »Absicht« mitgeteilt; Bloch und Mayer sollten im Rahmen der Jahresversammlung in Berlin an einer öffentlichen Podiumsdiskussion über die Koexistenz verschiedener Freiheitsbegriffe teilnehmen. Als »Kenner der kommunistischen Freiheitstheorie sind sie außerordentlich wertvolle Teilnehmer der Diskussion.«41 Bloch nahm zwar an der Versammlung teil, nicht aber an der Podiumsdiskussion; Mayer blieb der Versammlung überhaupt fern. Er hatte die »Unverschämtheit und juristische Torheit«, als die er die »Komödie der Neuwahl« empfand, nicht verziehen und sich auch später »mit einer kleinen Ausnahme, bei Gelegenheit eines Besuchs österreichischer Kollegen in Berlin - niemals mehr an einer Veranstaltung des Deutschen und auch des Internationalen PEN-Clubs beteiligt.«42 Die Generalversammlung in Berlin43 hatte für Bruno E. Werner, dessen Grab in Dahlem während der Tagung besucht wurde, einen neuen Präsidenten zu wählen. Dolf Sternberger hatte sich zur Übernahme des Amtes bereit erklärt; andere Vorschläge waren von den Angesprochenen nicht beantwortet oder abgelehnt worden (so von Kasimir Edschmid). Der jüngeren, nachrückenden Generation war immerhin ein etwas modifizierter Ablauf der Wahl zu verdanken: Siegfried Unseld bestand auf einer Alternative während der Abstimmung und schlug Heinrich Boll vor, der ebensowenig wie Sternberger an der Versammlung teilnahm. In einer Probeabstimmung zeigte sich, daß Boll verlieren würde, und so wählte die Versammlung dann doch nur mit einem einzigen Kandidaten: »Sternberger wurde mit 32 gegen 5 Stimmen und einer Stimmenthaltung zum Präsidenten gewählt.«44 Werner Stichnote wurde als Schatzmeister einstimmig wiedergewählt, Krämer-Badoni mit zwei Enthaltungen; er hatte nicht mehr antreten wollen, wurde aber von Carver gebeten, dem Club nicht schon wieder einen Wechsel beider Ämter zuzumuten. Carver war auch gekommen, um das in Braunschweig einseitig vorgeschlagene Gespräch zwischen den beiden deutschen PEN-Zentren anzuschieben. Einige Mitglieder fanden befremdlich, daß sie sich mit einem Club treffen sollten, dessen Zusammensetzung sie nicht kannten: die Mitgliederliste war offiziell weiterhin unter Verschluß, nur Carver besaß ein Exemplar, das er aber geheimhalten mußte. Die Begründung war auch noch 1964, daß die westlichen Mitglieder mit Repressalien in der Bundesrepublik zu rechnen hätten, ohne daß diese spezifiziert worden wären.

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Rs. Krämer-Badoni, Februar 1964, S.4; NLK. Mayer an Jens, 11.7.1990, faks. in Rs. Schwarze, 22.8.1990, S.4f.; DA. 8.-10.5.1964. 39 Mitglieder waren gekommen, als Gäste dazu David Carver, Robert Neumann, Csokor, Tergit und Wilhelm Unger. Rs. Krämer-Badoni, Juli 1964, S.2; DA. - Jürgen Petersen teilt in seinem Tagungsbericht mit, Heinrich Boll habe »erkennen lassen, daß er eine Wahl nicht annehmen werde« (Christ und Welt, 21./22.5.1964), eine Information, die im Ablauf der Wahl keinen Platz findet.

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Carver wollte vom Plenum Meinungen über die Stichhaltigkeit dieses Grundes hören:45 Die Diskussion ergab, dass der PEN Ost-West nicht unter die kommunistischen Tarnorganisationen gerechnet wird, und dass das Bekenntnis zum Ost-West-PEN beim jetzigen Stand der Dinge das normale Berufsrisiko des Schriftstellers (ζ. B. Bekenntnis zum Atheismus, zu einer politischen Partei usw.) nicht überschreite.

Obendrein wurde die Geheimhaltung so entschieden gar nicht betrieben: die Mitgliedschaften waren aus den Buchreihen des PEN Ost und West zu entnehmen, und der Kürschner verzeichnete die Mitgliedschaft ebenfalls. Die Diskussion ist auch in einem etwas ausführlicheren Protokoll überliefert: Es wurde mit Tralow argumentiert, der zwar im Westen lebe, dessen Bücher sich aber schon vor seiner Exponierung im PEN Ost und West nicht mehr verkauften. Dagegen habe er im Osten dadurch Vorteile gehabt - sie wurden dort in hohen Auflagen gedruckt. 46 Die Versammlung akzeptierte die Gründe für eine Geheimhaltung der PEN-Liste nicht, stimmte sogar darüber ab, um dieses Ergebnis zu fixieren - es gab 2 Gegenstimmen und 1 Enthaltung. Als große öffentliche Veranstaltung fand am 9. Mai 1964 in der Akademie der Künste zu Westberlin eine Sitzung über die »Koexistenz verschiedener Freiheitsbegriffe« statt; hier stießen zu den Ehrengästen auch noch der Präsident des norwegischen PEN und Melvin Lasky. Krämer-Badoni als Diskussionsleiter hatte des Publikums und der Teilnehmer auf dem Podium Herr zu werden. 47 Er beklagte in seinem Rundschreiben über die Tagung - wie auch die meisten Presseberichte 48 -, die Diskussion habe darunter gelitten, daß niemand den kommunistischen Freiheitsbegriff vertreten habe. Das Dutzend Geladener aus dem Osten hatte abgesagt:49 Die Diskussion wird nicht zwischen Ost und West stattfinden, sondern sie wird das Verhältnis von West und Ost behandeln. Ursprünglich hatte ich etwa 12 PEN-Mitglieder aus Ost-Berlin, Polen, Ungarn, Tschechoslowakei, Jugoslawien eingeladen, doch wurde ich inzwischen von einem der Geladenen darauf hingewiesen, daß er (und offenbar [3] auch die anderen) zu seinem größten Bedauern nicht kommen könne, da seine Regierung das als Demonstration gegen ihre Berlin-Politik auffassen könnte. Ich muß gestehen, daß ich an dieses Handicap nicht gedacht hatte. So werden wir also auf die geladenen Teilnehmer aus dem Osten weitgehend oder ganz verzichten müssen.

Obwohl Krämer-Badoni solcherart in einem öffentlichen Rundbrief seine Arglosigkeit kundtat - abschließend schrieb er von seiner »ahnungslosen Selbstverständlich-

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Rs. Krämer-Badoni, Juli 1964, S.3; DA. Protokoll der Generalversammlung am 9.5.1964, S. 1; DA. Csokor, Friedenthal, Karsch, Ludwig Marcuse, Günther Nenning {Forum, Wien), Robert Neumann, Werner Wolfgang Schütz (Forum Unteilbares Deutschland) und John Willett (Times Literary Supplement). so Adolf Frisé in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 11.5.1964, Nr. 108, S. 20; Friedrich Roemer in: Die Welt, 11.5.1964; Hans Kudzus in: Der Tagesspiegel, 12.5.1964. Rs. Krämer-Badoni, Februar 1964, S.2t; NLK.

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keit« 5 0 - , war sie wohl echt, er scheint sich der Hinderungsgründe für eine Veranstaltung in Berlin tatsächlich nicht bewußt g e w e s e n zu sein. Z w e i Jahre nach der Mauer hielten er und seine Vorstandskollegen Berlin bereits wieder für alltags- und damit tagungsfähig; das war ein Irrtum. Berlin hatte für Westdeutsche als Ausland zu gelten, als Hauptstadt der D D R ; 5 1 die Schriftsteller aus den meisten Ostblockstaaten hatten tatsächlich ihre Teilnahme abgelehnt, »weil Berlin Tagungsort ist und sie politische Komplikationen für sich befürchten«. 5 2 Speziell die ostdeutschen Geladenen kamen noch aus anderen, nur mäßig lächerlichen Gründen nicht. Robert Neumann war einen Tag vorher zum A b e n d e s s e n im Restaurant Moskwa in Ostberlin, w o ihm Zweig, Kretzschmar, Kamnitzer und Herzfelde erklären, daß sie nicht hing e h e n würden, 5 3 weil das Ganze offensichtlich als Provokation gemeint ist - ersichtlich daraus, daß die Einladung verletztenderweise adressiert worden sei an >Herrn Dr. Arnold ZweigNun - und?< Ingeburg [Kretzschmar]: >Nachtigall, ich höre dir trapsen. Das ist kein Zufall!< Ich aber, offenbar geistig minderbemittelt, verstehe noch immer nicht. Darauf Kamnitzer: >Arnold ist für die drüben kein >Dr.Der P E N erklärt sich für die Freiheit der Presse und verwirft die Zensurwillkür überhaupt und erst recht in Friedenszeiten.< Das Deutsche P.E.N.-Zentrum der Bundesrepublik appelliert deshalb an die Parteien des

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Der Kleist-Preis wurde erst 1985 wieder aufgenommen, der erste Preisträger war Alexander Kluge. Sabais im Rs. Jahn, 13.6.1966, S.3; DA. Der P E N verleiht seit 1985 die Hermann-Kesten-Medaille für beispielhaftes Wirken in der Writers in Prison-Arbeit; erster Preisträger war Bischof Helmut Frentz. Es kamen 52 Mitglieder und 5 Gäste: Csokor; Kasimir G. Werner, Széchenyi, Wilhelm Linger (alle drei aus dem Zentrum deutschsprachiger Exilschriftsteller); die Lyrikerin Erica Maria Dürrenberger (PEN Zentrum Basel). Über die Darmstädter Regionalpresse hinaus seien folgende Berichte genannt: Rudolf Lange in: Hannoversche Allgemeine Zeitung, 2.5.1966; Jürgen Peters in: Rheinische Post, 3.5.1966; Uwe Schultz in: Süddeutsche Zeitung, 6.5.1966; G e n o Hartlaub in: Deutsches Allgemeines Sonntagsblatt, 8.5.1966. Sternberger in Rs. Jahn, 13.6.1966, S . l t ; DA. Ders.: 2. - Zum Verbindungsausschuß vgl. Kap. Β. IV. 1. Rs. Jahn, 13.6.1966, S.5; DA.

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Bundestages und die deutsche Öffentlichkeit, keinerlei Beschränkung der Meinungsfreiheit zuzulassen. Das Deutsche P.E.N.-Zentrum der Bundesrepublik wird sich mit Regierung und Parteien in Verbindung setzen, um zur erforderlichen Klärung beizutragen.

Die Resolution wandte sich damit nur gegen einen Aspekt der ja sehr umfassend gedachten Notstandsgesetze. Unter den geselligen Veranstaltungen der Tagung sei eine öffentliche Disputation zwischen Rudolf Hagelstange und Peter Härtling erwähnt, die über die Unabhängigkeit des Schriftstellers sprachen; und als Kuriosum ein Besuch der »Damen« im Museum von Wella,119 an dessen historischen Spiegeln, Kämmen, Rasierbecken, Stichen zu erkennen war, daß der Mensch aller Epochen, vor allem der weibliche, seit der Venus von Willendorf seine Haare zum modischen Kunstwerk zu gestalten bestrebt ist. Paradestück das Originalreisenecessaire der Kaiserin Joséphine, dessen Parfumflacon noch immer betörender Duft entsteigt.

Am 31. August 1966 starb Kasimir Edschmid in seinem Sommerdomizil in Vulpera (Engadin) und mit ihm die Dominanz der Darmstädter Gruppe, auch der persönliche, fast private Stil des Umgangs miteinander im PEN. Janheinz Jahn hoffte in einem eigenen Rundschreiben auf zahlreiche PEN-Mitglieder für die Trauerfeier ihres Ehrenpräsidenten in Darmstadt am 8. September, und auch die Stadt beging den Tod ihres Ehrenbürgers aufwendig - Edschmid war außerdem Dr. h.c., Büchnerpreisträger, Ehrenpräsident der Darmstädter Akademie, der Neuen Darmstädter Sezession, Mitglied der deutschen UNESCO-Kommission, der Mainzer und der Berliner Akademien, Träger des großen Verdienstkreuzes mit Stern des Verdienstordens der Bundesrepublik, des Komturkreuzes des Verdienstordens der Republik Italien, der Silbernen Verdienstplakette der Stadt Darmstadt, des Preises der Stadt Palermo, der Goetheplaketten des hessischen Kultusministers und der Stadt Frankfurt. Daß er wirtschaftlich ein armer Mann war und auch deshalb bis zuletzt schreiben mußte, wurde erst nach seinem Tod bekannt. 120 Auf der Trauerfeier sprach der hessische Kultusminister, der Darmstädter Oberbürgermeister, Gerhard Storz als Darmstädter Akademiepräsident und einige PEN-Kollegen: Hans Josef Mündt als Cheflektor des Desch-Verlages, Kasimir Werner als Präsident des Exil-PEN und Erich Kästner, als Ehrenpräsident des bundesdeutschen PEN und als Vertreter des Internationalen PEN. Angesichts all der nun auch postumen Ehrungen würdigte Kästner »das Glockengeläut und das Wehen der Fahnen an den öffentlichen Gebäuden auf halbmast. In deutschen Landen sei es nicht immer so gewesen, daß man einem toten Schriftsteller diese Ehre erweise.«121

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Dass.: 7. Wilhelm Unger in: Kölner Stadtanzeiger, 3./4.9.1966. Zit. n. WDH: Abschied von Kasimir Edschmid. Trauerfeier für Darmstadts verstorbenen Ehrenbürger. In: Darmstädter Stadtnachrichten, 9.9.1966, S.6. - Vgl. auch Georg Hensel: Dank an einen Freund. Nachruf auf den Darmstädter Schriftsteller und Ehrenbürger Kasimir Edschmid. In: Darmstädter Echo, 1.9.1966, S.5.

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Auf der Exekutivsitzung des Internationalen PEN in London 122 wurde Arthur Miller wiedergewählt, der PEN Ost und West gab seinen neuen Namen bekannt und seinen alten Anspruch, ganz Deutschland zu vertreten, auf: »PEN-Zentrum Deutsche Demokratische Republik« hieß der Club nun. Die folgende Exekutivversammlung in Arnheim war die erste, an der zwei Vertreter des sowjetischen Autorenverbandes teilnahmen, wie überhaupt die Entspannungspolitik unter den Schriftstellern der realpolitischen vorausging.123 Dies hatte bereits der große New Yorker Kongreß mit dem Thema »The Writer as an Independent Spirit« gezeigt, ein Thema, das im Kalten Krieg die Gegenüberstellung >reiner< und >engagierter< Literatur bedeuten konnte, oder Mallarmés und Dickens'. 124 Bei 600 Teilnehmern aus 72 Zentren wollte auch das PEN-Zentrum der Bundesrepublik mit einer größeren Delegation erscheinen und stellte deshalb einen Zuschußantrag beim Auswärtigen Amt. 125 Es konnten dann tatsächlich 17 Personen den Flugpreis von über DM 2000,- erschwingen.126 Außerdem nahm C. W. Ceram (mit Frau) teil, der zwar Mitglied des Zentrums der Bundesrepublik war, aber in Woodstock (NY) lebte und seine westdeutschen Kollegen dorthin übers Wochenende einlud.127 Es war Micheline Schöfflers letzte PEN-Reise, sie verlangte in New York eine Gehaltserhöhung, die ihr das Präsidium nicht zubilligen mochte; daraufhin kündigte sie fristlos und machte in den USA einige Wochen Urlaub, 128 ihre Nachfolgerin ab August 1966 war Renate Steinmann. Dolf Sternberger und Hermann Kesten berichteten als Delegierte im Exekutivrat über die Fortschritte im deutsch-deutschen Verbindungsausschuß, auch sie wirkten damit am Kongreßeindruck des internationalen Präsidenten mit:129 Zum ersten Mal, solange ich denken konnte, ging es nicht einfach um die Frage von links oder rechts. Der Kalte Krieg war noch lange nicht zu Ende, aber mit erstaunlicher Einigkeit weigerten sich Schriftsteller von höchst unterschiedlichen politischen Ansichten, die wirklich informativen Diskussionen über die Lage der Schriftsteller und das Verlegen ihrer Bücher in jeder Art Gesellschaft auf die Ebene der Polemik herabziehen zu lassen.

Daß keine sterilen ideologischen Kämpfe mehr stattfanden, machte Arthur Miller an der Reaktion des Kongresses auf den emigrierten Russen Valeri Tarsis fest. Der war in der Sowjetunion psychisch gefoltert worden und erklärte den Kalten Krieg

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13.4.1967. Die Tagung fand vom 29.9. bis 2.10.1966 statt. Jahn und Hans J. Weitz waren bundesdeutsche Delegierte; Weitz verfaßte einen ausführlichen Bericht über die Round-Table-Konferenz »Die Rolle des Theaters in der heutigen Welt« (Weitz in Rs. Jahn, 4.12.1966, S.5-7; DA). So Carlos Fuentes, nach Miller 1989: 786. Rs. Sabais, Februar 1966, S.3; DA. »Domin, Drewitz, Frisé (mit Frau), Hartlaub, Jahn, Johann, Kesten, Krämer-Badoni (mit Frau), Kreuder, Krüger, Sahl (mit Frau), Sternberger, Stichnote, als Sekretärin Frau Schöffler.« (Rs. Jahn, 4.12.1966, S. 1; DA) Johann in Rs. Jahn, 4.12.1966, S. 1; DA. Diese Anekdote verdankt der Verf. einem Gespräch mit Christa Scharf in Darmstadt, 22.8.1995. Miller 1989: 784f.

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für nicht wirksam genug - »man müsse eine A t o m b o m b e auf die Sowjetunion werfen.« 130 D a ß Millers Protest gegen Tarsis Anklang fand - seine R e d e sei empörend und eine schwere Verletzung der Anliegen von P E N - und das sogar beim antikommunistischen Z e n t r u m Writers in Exile, wertete Miller als positives Zeichen für die Entwicklung des PEN. 1 3 1 Es war der erste Kongreß seit langem, auf dem Miller einen Grundgedanken von P E N gewahrt sah: durch die Tolerierung des anderen Lebens in anderen Ländern, wegen der solche Treffen überhaupt stattfinden konnten, müsse man von Schriftstellern »tiefergehende und umfassendere Frage erwarten, als politische Formeln je liefern konnten.« 1 3 2 Miller sah das Ziel seiner Präsidentschaft erreicht: 1 3 3 [...] inzwischen zweifelte ich nicht mehr daran, daß PEN das Gewissen der Gemeinschaft der Schriftsteller auf der ganzen Welt sein mußte. In der Tat, ich mußte den Stolz darauf unterdrücken, daß es jetzt die amerikanischen Schriftsteller waren, die diesen Gedanken aufgegriffen hatten, und wir mit unserer größeren Finanzkraft und unserem unheilbaren Idealismus konnten ihn vielleicht verwirklichen. Wenn PEN je ein unbedeutender Literaturclub gewesen sein sollte, jetzt war er es nicht mehr.

Gegenüber dieser Einschätzung, die tatsächlich wandelnde Tendenzen im P E N artikuliert, wirkt die Haltung des deutschen P E N fast rückständig - das Präsidium bestand aus wackeren Kalten Kriegern, der Club trat in New York kaum hervor, behandelte zwar die R e d e n und Ansichten des internationalen PEN-Präsidenten in Rundschreiben usw. durchaus mit Respekt, agierte aber noch sehr schwerfällig in seiner Richtung, akademisch und strategisch, erst mit Heinrich Bolls Präsidentschaft änderte sich das. Jahns Rundschreiben über den New Yorker Kongreß listete lediglich die behandelten Sektionen des H a u p t t h e m a s auf 1 3 4 und brachte Kongreß»Impressionen« von Ernst Johann, die unterhaltsam, aber ganz überwiegend kulinarischer Natur sind. Immerhin beschrieb sogar Rudolf Krämer-Badoni Gespräche mit Heinz Kamnitzer und Wilhelm Girnus in New York ironisch-freundschaftlich, 135 und auch Johann schilderte die fortschreitende Entspannung zwischen den deutschen Zentren: 1 3 6 MAN frühstückt mit dem Osten. Da wir im gleichen Hotel wohnen, frühstücken wir auch gemeinsam mit den Delegierten und Mitgliedern des P.E.N.-Center East and West [...]. Unbeschwerte Gespräche mit dem weltgewandten Wieland Herzfelde, höfliche mit Heinz Kamnitzer und ärgerliche mit Wilhelm Girnus. Wo immer man ihn trifft, was immer man

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Ders.: 785. Bestätigend dazu Sabina Lietzmann in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 21.6.1966. 132 Miller 1989: 786. 133 Ders.: 787. 134 The Writer in the Electronic Age; Literature and the Social Sciences on the Nature of Contemporary Man; The Writer as Collaborator in Other Men's Purposes; The Writer as Public Figure, vgl. Rs. Jahn, 4.12.1966, S. 2; DA. 135 Krämer-Badoni in: Die Welt, 28.6.1966. 136 Johann in Rs. Jahn, 4.12.1966, S.3; DA. - Kontinuierliche Berichte über den Kongreß schrieb auch Wilhelm Unger im Kölner Stadt-Anzeiger, 16./17.6.1966, 24.6.1966, 25./ 26.6.1966. 131

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auch sagt: er wirft vor. Er wirft von berufswegen vor. Zum Frühstück gibt es süßes und salziges Gebäck; als einmal eine Sorte nicht zu haben ist, wirft er (der freien Welt) auch dies vor: >ich will beides haben, um die demokratische Wahl treffen zu können.< Der Scherz eines Funktionärs.

Vor der Jahresversammlung in Darmstadt konnte das Generalsekretariat unter den Zugewählten, die ihre Wahl angenommen hatten, nun auch Alfred Andersch aufführen. 137 Die Tagung138 geriet wegen keiner politischen Resolutionen in die Presse, die einzige vorgeschlagene wurde nach langer Diskussion nicht verabschiedet. Statt Heinrich Schirmbecks Vietnam-Entschließung zu veröffentlichen, wollte man zusammen mit dem Internationalen PEN vorgehen und dort einen Antrag stellen:139 Der Krieg in Vietnam ist eine Herausforderung. Auch das Deutsche P. E. N.-Zentrum der Bundesrepublik verurteilt die Anwendung von Gewalt. Da seine Sorge größer ist als sein Einfluß, wendet es sich an den Internationalen Kongreß der 72 PEN-Zentren der Welt, der im Sommer 1967 in Abidjan stattfindet. Der §3 der Charta des Internationalen PEN verpflichtet uns alle. Wir beantragen, der Kongreß möge beschließen, die Mitglieder des PEN sollen in ihren Ländern nach Kräften über diesen Krieg aufklären, um der Anwendung von Gewalt ein Ende zu bereiten.

Dieser Antrag sollte zwar vor dem Kongreß nicht veröffentlicht werden, aber zugleich ein Appell an die Mitglieder des eigenen Zentrums sein, im Sinne des Antrags zu wirken. Harry Pross verwies für praktische Hilfe auf das Bankkonto der Hilfsaktion Vietnam. Die größte Öffentlichkeit erhielt für diese Jahresversammlung eine Disputation, die nach der schlechten Presse und dem äußerst geringen Publikumsinteresse der vergangenen beiden Disputationen ausdrücklich als nichtöffentlich angekündigt worden war. Die Journalisten wurden dann doch zugelassen, und sie referierten spürbar angeregt die Kurzreferate von Theodor W. Adorno und Harald Weinrich mit anschließender Diskussion über das Thema: »Ist die Kunst heiter?« 140 Richard Alewyn bekannte nach drei Stunden Diskussion, er habe »noch nicht begriffen, was hier mit Heiterkeit gemeint sei«, Georg Hensel als Referent des Darmstädter Echos Schloß sich dem »seufzend« an141 - beide waren aber in der Minderheit. Es dürfte die einzige PEN-Disputation gewesen sein, der es widerfahren ist, daß beide Bei-

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Darmstädter Echo, 21.4.1967. Sie fand vom 29. bis 30.4.1967 statt, es kamen 54 Mitglieder und als Gäste Csokor und Kasimir G. Werner. 139 Rs. Jahn, Juni 1967, S.4; NLL. 140 So Joachim Kaiser in: Süddeutsche Zeitung, 2.5.1967; Helmut M. Braem in: Stuttgarter Zeitung, 3.5.1967, Nr. 101, S.29; Klaus Colberg in: Westdeutsche Allgemeine Zeitung, 4.5.1967, Nr. 103; Rudolf Krämer-Badoni in: Die Welt, 6.5.1967. 141 Rs. Jahn, Juni 1967, S.6; NLL; Georg Hensel in: Darmstädter Echo, 2.5.1961. 138

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träge veröffentlicht wurden. 142 Dagegen gab die Lesung aus dem just erschienenen Band Federlese Joachim Kaiser »Grund zur Depression«. 143 Im Juni 1967 fand ein kurzer Briefwechsel mit dem israelischen PEN statt, der allen Zentren die aktuelle politische Situation Israels geschildert hatte, nach dem Holocaust nun bedroht vom Genozid durch die umliegenden arabischen Staaten. Die Schutztruppen der U N waren von der Sinai-Halbinsel durch ägyptische Truppen vertrieben worden, Nasser sammelte schwere Waffen an der israelischen Grenze. Die Schriftsteller in aller Welt sollten Partei für Israel ergreifen: 144 We call on you to let yourselves be heard! [...] Throw your weight into the scales and rouse clear-sighted men and women everywhere! Sound the alarm and awaken the conscience of the world at this impeding danger! Als Sternberger seinen Antwortbrief schrieb, stand der Sechstagekrieg bereits kurz vor seinem Ende; vom 5. bis zum 10. Juni 1967 besetzten israelische Streitkräfte gegen den Widerstand ägyptischer, jordanischer, syrischer und saudi-arabischer Truppen den Gasastreifen, die Sinai-Halbinsel, Westjordanien und die Golanhöhen. Sternberger bat um konkrete Vorschläge, wie die PEN-Mitglieder Israel unterstützen könnten, und schrieb: 145 We followed the events of the past three weeks with feelings of the deepest sympathy with the just cause of Israel. We admire the successes of the armed forces of Israel while at the same time mourn, with you, over all those, on both sides, who lost their lives during these four days of battles. We hope for a stable an definite peace settlement which will ensure both Israels integrity as a state recognized by all countries and the welfare of her people for all future time. Eine Antwort auf seinen Brief hat sich im PEN-Archiv nicht erhalten - die Israelis hatten sich selbst geholfen. Der erste afrikanische PEN-Kongreß in Abidjan (Elfenbeinküste) 146 fällt aus dem Rahmen, nicht nur durch die schlechte Quellenlage. Arthur Miller wurde einstim-

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Wenn auch vermutlich in überarbeiteter Form: Theodor W. Adorno: Ist die Kunst heiter? In: Th.W.A.: Noten zur Literatur. Frankfurt a.M. 1991 (stw 355), S.599-606. - Harald Weinrich: Drei Thesen von der Heiterkeit der Kunst. In: Arcadia, 1968, H. 3, S. 121-132. 143 Kaiser in: Süddeutsche Zeitung, 2.5.1967. - Eine ausführliche - vernichtende - Rezension über Federlese veröffentlichte Friedhelm Baukloh in: Echo der Zeit, 24.9.1967, Nr. 39, S. 12. Selbst »bei wohlwollendster Durchsicht« zeige der Band, »wie sehr er ein Geschöpf des Zufalls ist«, der »alles andere als einen Querschnitt unserer Gegenwartsliteratur« darstelle. Baukloh fragte, wieso eine solche Publikation möglich gewesen sei, und Schloß: »Welche aktuelle literarische Existenzberechtigung legt der PEN-Club Bundesrepublik eigentlich selbst seinem Weiterbestehen zugrunde?« 144 Brief der Hebrew Writers Association in Israel und des PEN Centre in Israel vom 30.5.1967, zit. n. Rs. Jahn, Juni 1967, S. 11; NLL. 145 Sternberger, 9.6.1967, zit. n. dass.: 12. 146 30.7.-5.8.1967; bundesdeutsche Delegierte waren Jahn, Erica de Bary, Adolf Frisé, Ernst Kreuder, Marianne Langewiesche. Für den PEN (DDR) kamen Stephan Hermlin und Maximilian Scheer. (PAL) 247

mig wiedergewählt, eine Resolution des westdeutschen PEN über den Vietnamkrieg wurde »ruled out of order«, »als ungehörig vom Tisch gelegt und nicht diskutiert, da sie Gelegenheit zu politischen Auseinandersetzungen geboten hätte, was nicht Aufgabe des PEN ist.«147 Aufgabe des PEN waren dagegen Proteste bei einigen Regierungen für inhaftierte Autoren; der Kongreß appellierte an die Regierungen Griechenlands, Spaniens, Haitis, Portugals, Boliviens, Südvietnams, der Tschechoslowakei und der Sowjetunion. Die Europäer scheinen sich nicht ganz zurechtgefunden zu haben, aus der fünfköpfigen bundesdeutschen Delegation hat immerhin Ernst Kreuder ein Kongreß-Bild entworfen, bestehend aus Pannen, stekkengebliebenen PEN-Bussen und verpaßten Empfängen und Sitzungen.148 In einem zweiten Artikel schob er einen Reisebericht der Teilnehmer nach, die sich außerhalb des Kongresses noch ein wenig das Land ansahen - Beobachtungen vor allem der unübersehbaren kulturellen, auch alltagsgeschichtlichen Unterschiede. »Mit den Stunden wird hier maßlos gleichgültig umgegangen, milde gesagt verschwenderisch, und Entfernungen, die niemand bewohnt, schienen nicht zu zählen in der Zeit.« Der Reisende gab sich als Voyeur, der sich den Landessitten anpaßt, gern die landesüblichen Gerichte zum Bier verzehrt, sich mit Wurzelgeflecht wäscht, die drei Frauen eines Gastgebers in ihren leuchtend bunten Gewändern betrachtet, auch aus dem Auto auf einer Urwaldstraße »schlanke hochgewachsene junge Frauen« sieht, »ihr Gang war stolz und anmutig, sie lächelten uns zu aus großen dunklen liebeskundigen Augen«, woher immer er das wissen mochte.149

3. Tod einer Utopie: 1968 und das E n d e des Prager Frühlings Die Vorstandswahlen auf der Jahresversammlung in Kassel150 zeigten an, daß Sternbergers Ansehen unter seinem Streit mit Jahn doch etwas gelitten hatte: Präsident und Generalsekretär hatten einige böse - zumindest für die Mitglieder des Präsidiums offene - Briefe gewechselt, die die Nachfolge Edschmids als UNESCO-Delegierter des PEN betrafen. Das Präsidium hatte Erich Kästner, Jahn und Hans Bender - in dieser Reihenfolge - als mögliche Nachfolger bestimmt. Kästner und Bender hatten abgelehnt, Jahn war auf die erste Stelle nachgerückt und als langjäh-

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Rs. Jahn, Dezember 1967, S.3; DA. Ernst Kreuder in: Frankfurter Neue Presse, 30.10.1967. Adolf Frisé erwähnt in seinem Bericht keine derartigen Probleme, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 8.8.1967. 149 Alle Zitate aus Ernst Kreuder: Fahrt durch den Regenwald. In: Die Welt, 8.11.1967, Nr. 261, S. II. - Über die sechs Tage »afrikanischen« Lebens außerhalb des Kongresses berichtete auch Erica de Bary: Abstecher von Abidjan aufs Land. In: Rs. Jahn, Dezember 1967, S.8f.; DA. 150 Vom 18.-21.4.1968; es erschienen 41 Mitglieder, dazu als Gäste Kasimir G. Werner, inzwischen Präsident der gesamten Exile-Branch des PEN, Anton Krättli (PEN Basel) und Gabriele Tergit (PEN deutschsprachiger Autoren im Ausland). Der Präsident des österreichischen PEN, Franz Theodor Csokor, konnte zum ersten Mal seit Jahren nicht kommen, er war erkrankt und starb Anfang 1969. 148

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riger Afrika-Experte ja durchaus der richtige Mann für diese Aufgabe. Paul Schalliick ließ sich auf die zweite Position setzen, Werner Stichnote auf die dritte; Sternberger wurde nicht informiert, weil er krank war.151 Der Präsident fühlte sich übergangen und zog, nun seinerseits Jahn und das übrige Präsidium übergehend, den Wahlvorschlag »ohne großes Aufsehen« zurück;152 dadurch verstrich der UNESCO-Wahltermin, der PEN hatte dort weitere Monate keinen Repräsentanten. Jahn antwortete auf Sternbergers Vorwürfe zu seiner fehlenden »Amtsgesinnung«,153 die habe er in der Tat nicht und gedenke auch nicht, sie sich zuzulegen:154 Der PEN ist ein Club von Schriftstellern und keine Behörde. Sie aber verlangen kein vernünftiges, sondern ein bürokratisches Verhalten. Dazu eigne ich mich nicht. Wie die Vorschlagsliste für die U N E S C O zustandekam, habe ich Ihnen erklärt. [...] Man kann sich darüber streiten, und ich bin auch bereit, darüber Kritik entgegenzunehmen. Aber Sie haben Dritten gegenüber gehandelt, ohne mich zu verständigen, ja sich von Dritten sogar Fotokopien von Briefen geben lassen, deren Durchschläge Sie jederzeit im Büro einsehen oder erhalten können. Wo bleibt da das >Minimum an Solidarität im Umgang mit Dritten