Geschichte der Volkswirtschaftslehre [Reprint 2011 ed.] 9783111369877, 9783111012865


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Table of contents :
Einleitung
I. Das staatsphilosophische Denken in der Wirtschaftslehre: Die antike Staats- und Wirtschaftswissenschaft
II. Das theologische Denken in der Wirtschaftslehre: Die scholastische Staats- und Wirtschaftswissenschaft
III. Das staatspolitische Denken in der Wirtschaftslehre: Merkantilismus und Kameralismus
IV. Das kausale Denken in der Wirtschaftslehre: Die liberale Ökonomie
1. Die philosophischen und theologischen Grundlagen der liberalen Ökonomie
2. Die Physiokratie
3. Die sog. „Klassische Schule“ der Nationalökonomie
4. Die Ausbreitung des klassischen Denkens
V. Das anschauliche Denken in der Wirtschaftslehre: Die Anfänge der theoretischen Forschung in Deutschland
VI. Die sozialistische Kritik
1. Utopien und Staatsromane
2. Der französische Sozialismus
3. Die Anfänge des sozialistischen Denkens in Deutschland
4. Der Marxismus
VII. Das historische Denken in der Wirtschaftslehre: Die Begründung einer eigentlichen Volkswirtschaftslehre
1. Die romantische Staats- und Wirtschaftswissenschaft
2. Die ältere historische Schule
3. Die jüngere historische Schule
4. Die historisch-soziologische Schule
5. Der amerikanische Institutionalismus
VIII. Das finale Denken in der Wirtschaftslehre: Die Grenznutzentheorie
1. Die Grundlagen: Johann Heinrich Gossen
2. Die Wert- und Preislehre
3. Die Lösung des Kostenproblems
4. Die Zurechnungstheorie
IX. Das funktionale Denken in der Wirtschaftslehre: Die moderne Wirtschaftstheorie
1. Vorbemerkung
2. Der Übergang: Alfred Marshall
3. Der Anfang: Gustav Cassel
4. Die Entfaltung der Preislehre
5. Die makroökonomische Fragestellung: Theorie der Beschäftigung
Anhang: Die Bedeutung der mathematischen Darstellungsweise in der Nationalökonomie
Namenverzeichnis
Sachwortverzeichnis
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Geschichte der Volkswirtschaftslehre [Reprint 2011 ed.]
 9783111369877, 9783111012865

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S A M M L U N G G Ö S C H E N B A N D 1194

GESCHICHTE DER VOLKSWIRTSCHAFTSLEHRE D. DR. S I E G F R I E D W E N D T o. Prof. a. d. Hochschule f. Sozialwissenschaften Wilhelmshaven-Rüstersiel

WALTER DE GRUYTER & CO. vormals G. J. Göschen'eche Verlagshandlung · J. Guttentag, Verlagsbuchhandlung · Georg Reimer · Karl J. Trübner · Veit & Comp.

BERLIN

1961

Copyright 1961 by Walter de Gruyter & Co., Berlin W 30. — Alle Redite, einschl. der Rechte der Herstellung von Photokopien und Mikrofilmen, von der Verlagshandlung vorbehalten. — Archiv-Nr. 11 1194. — Satz und Druck: Saladruck, Berlin N 65. — Printed in Germany.

INHALTSVERZEICHNIS Einleitung

Seite 5

L Das staatsphilosophische Denken in der Wirtschaftslehre: Die antike Staats- und Wirtschaftswissenschaft

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II. Das theologische Denken in der Wirtschaftslehre: Die scholastische Staats- und Wirtschaftswissenschaft

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III. Das staatspolitische Denken in der Wirtschaf tslehre: Merkantilismus und Kameralismus . . . . 16 IV. Das kausale Denken in der Wirtschaftslehre: Die liberale Ökonomie 1. Die philosophischen und theologischen Grundlagen der liberalen Ökonomie 2. Die Physiokratie 3. Die sog. „Klassische Schule" der Nationalökonomie 4. Die Ausbreitung des klassischen Denkens .. V. Das anschauliche Denken in der Wirtschaftslehre: Die Anfänge der theoretischen Forschung in Deutschland VI. Die sozialistische Kritik 1. Utopien und Staatsromane 2. Der französische Sozialismus 3. Die Anfänge des sozialistischen Denkens in Deutschland 4. Der Marxismus VII. Das historische Denken in der Wirtschaftslehre: Die Begründung einer eigentlichen Volkswirtschaftslehre

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Seite

1. Die romantische Staats- und Wirtschaftswissenschaft 2. Die ältere historische Schule 3. Die jüngere historische Schule 4. Die historisch-soziologische Schule 5. Der amerikanische Institutionalismus

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VIII. Das finale Denken in der Wirtschaftslehre: Die Grenznutzentheorie 1. Die Grundlagen: Johann Heinrich Gossen . . 2. Die Wert- und Preislehrc 3. Die Lösung des Kostenproblcms 4. Die Zurechnungstheoric

107 107 110 114 118

IX. Das funktionale Denken in der Wirtschaftslehre: Die moderne Wirtschaftstheorie 1. Vorbemerkung 2. Der Übergang: Alfred Marshall 3. Der Anfang: Gustav Cassel 4. Die Entfaltung der Preislehre 5. Die makroökonomische Fragestellung: Theorie der Beschäftigung

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Anhang: Die Bedeutung der mathematischen Darstellungsweise in der Nationalökonomie 159 Namenverzeichnis

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Sachwortverzeichnis

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Einleitung Das Wort, daß die Geschichte einer "Wissenschaft die Wissenschaft selber sei, trifft für die Volkswirtschaftslehre in einer besonderen Weise zu. Entwickelten sich doch ihre Gedanken jeweils aus den Bedingungen der Zeit, der sie zugehören. Dabei können höchst verschiedenartige, ja verwickelte Beziehungen zwischen dem denkenden Forscher und dem Gegenstande seines Nachdenkens wirksam werden. Zunächst ist festzustellen, daß der Gegenstand der Wirtschaftswissenschaft, die Wirtschaft selber, geschichtlicher Art ist. Der Gegenstand der Wirtschaftswissenschaft besteht also nicht an und für sich, sondern nur als Ausdruck der Entwicklung des menschlichen Zusammenlebens überhaupt. In dieser Entwicklung prägt sich aus, was Menschen denken, wünschen und wollen. In dieser Entwicklung zeigt sich, wie weit Menschen fähig sind, die verschiedenartigen Kräfte der äußeren Natur zu bändigen und zu nutzen. In dieser Entwicklung wird aber auch sichtbar, wie Menschen miteinander umgehen, wie sie zusammenwirken und wie sie ihre Ansprüche gegeneinander abgrenzen. Die Wirtschaft kann also nur als geschichtliche Leistung begriffen und — das bedeutet praktisch — als verwirklichtes menschliches Denken aufgefaßt werden. Beginnen die Menschen aber, über die Wirtschaft nachzudenken, gleichsam in der Absicht, in allen Zusammenhangen zu verstehen, was sie praktisch tun, und die Wirtschaft in ihrem Wesen zu begreifen, werden sie sich also der Wirtschaft als eines Erkenntnisgegenstandes der Wissenschaft bewußt, so ist damit eine neue Kraft geschichtlicher Entwicklung des Wirtschaftslebens gegeben. Zwischen dem Gelehrten, der über die Wirtschaft als Forscher nachdenkt, und dem Gegenstande seiner geistigen Bemühungen hat also stets eine

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Einleitung

für die Wirtschaftswissenschaft wie für die Entwicklung des praktischen Wirtschaftslebens gleich bedeutungsvolle Wechselbeziehung bestanden. Indem der Gelehrte sich bemühte, zu erkennen, was tatsächlich da ist, wirkte er dadurch, daß er das unbewußt Vollzogene ins Bewußtsein erhob und so Tatbestände m das Licht begrifflicher Klarheit stellte, auf ihre weitere Entwicklung ein. So ist das Nachdenken über die Wirtschaft selbst eine geschichtliche Kraft, die sie weiter trägt und weiter entfaltet. Denn die Tatbestände, die der Gelehrte begrifflich zu erfassen sich bemüht, bestehen ja nicht an und für sich, stehen ihm nicht als natürlich gegebenes Sein gegenüber, sondern gehören als Ordnungsvorstellungen dem Bereich menschlichen Denkens und Handelns an. Das ist den Forschern natürlich nicht immer bewußt gewesen. Insbesondere haben die älteren Nationalökonomen den Gegenstand ihrer Forschung positi vis tisch objektiviert. Infolgedessen haben sie in naiver Weise Substanzbegriffe gebildet, denen sie objektive, von der Sache her bestimmte Bedeutung beimaßen, anstatt ihre Begriffe aus Ordnungsvorstellungen zu schöpfen, die einem bestimmten, geschichtlich gegebenen Leistungszusammenhang entsprechen, oder, wie wir heute sagen wü'rden, ihre Forschung auf Funktionsbegriffe zu gründen. Uns beschäftigt aber in diesen einleitenden Überlegungen die erkenntniskritische Frage nach dem Wesen wirtschaftswissenschaftlicher Begriffe als solcher noch nicht. Wir wollen uns nur klar darüber werden, welche Bedeutung lehrgeschichtliche Betrachtungen im Bereich einer Wissenschaft haben, deren Erkenntnisgegenstand als Ausdruck geschichtlicher Entwicklung den Zusammenhängen menschlichen Denkens, Handelns und Gestaltens unmittelbar zugehört. Die geschichtliche Entwicklung des Gegenstandes dieser Wissenschaft und die geschichtliche Entwicklung des Denkens über diesen Gegenstand hängen aufs engste miteinander zusammen. Die geschichtliche Veränderung des Gegenstandes der Forschung zwingt die Forscher, ihre Begriffe und die Strukturen ihres Denkens den veränderten Bedingungen praktischen Wirtschaftens anzupassen. Auf

Einleitung

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der anderen Seite wirkt die wissenschaftliche Klärung der Begriffe und die geistige Durchdringung der Zusammenhänge verändernd und gestaltend auf die Konzeptionen und Ordnungsvorstellungen der praktisch tätigen Wirtschafter ein. Infolgedessen lassen sich die Wirtschaftsgeschichte als Erforschung des praktischen wirtschaftlichen Geschehens und die Geschichte der Volkswirtschaftslehre als Erforschung der Entwicklung des Denkens über die Wirtschaft nicht vollständig voneinander trennen. Gewiß behandeln wir die Wirtschaftsgeschichte und die Geschichte der Volkswirtschaftslehre als selbständige Disziplinen. Aber die eine Disziplin kann nicht ohne Kenntnis der Ergebnisse der anderen mit Erfolg betrieben werden. Das gilt in besonderem Maße für die Lehrgeschichte der Wirtschaftswissenschaft, die nur verstanden werden kann, wenn man die Wirtschaftsgeschichte und ihre geistigen Bezüge kennt. Die innere Verbindung von praktischer Wirtschaftsgestaltung und wissenschaftlicher Auseinandersetzung mit den Problemen der Wirtschaft ist nicht in allen Perioden der Entwicklung so deutlich zu erkennen wie in der Zeit des absoluten Fürstenstaates, in der mit den Verfahrensweisen neuzeitlicher Verwaltung auch die Grundlagen neuzeitlicher Industriewirtschaft entwickelt wurden. Aber sie ist auch in allen übrigen Zeitabschnitten vorhanden gewesen. Gerade in der neuesten Zeit industriewirtschaftlicher Entwicklung kann sie dem aufmerksamen Beobachter nicht entgehen. Das Nachdenken über die Wirtschaft ist stets durch den geschichtlich gegebenen Zustand des wirtschaftlichen Lebens bestimmt worden. Und dieser geschichtliche Zustand der Wirtschaft ist immer wieder durch die Gedanken derjenigen, die um die Erkenntnis der wirtschaftlichen Wirklichkeit rangen, weiter entwickelt worden. Die Gedanken derjenigen, die das Wirtschaftsleben erforschten, verbanden sich in ihrer Wirkung mit den Vorstellungen der Kaufleute und Unternehmer, die die Wirtschaft praktisch gestalteten. Der Satz, daß die Geschichte einer Wissenschaft die Wissenschaft selber sei, gilt für die Wirtschaftswissenschaft auch in dem Sinne, daß der gegenwärtige Stand der wirtschafts-

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Einleitung

wissenschaftlichen Erkenntnis nur verstanden werden kann, wenn man die Entwicklung der Wirtschaftswissenschaft ebensogut kennt, wie die Entwicklung des Wirtschaftslebens selbst. Aus dem großen Bereich der Wirtschaftswissenschaft sollen in diesem Büchlein diejenigen Gedanken herausgelöst werden, die man der allgemeinen Volkswirtschaftslehre zurechnet. Die Entwicklung der Grundauffassungen vom Wirtschaftsleben, die Art und Weise, wie man sich bemühte, die Wirtschaft als Ganzes in ihren Zusammenhängen zu verstehen, ist der besondere Gegenstand dieses Buches. Damit ist bereits zum Ausdruck gebracht worden, daß wir darauf achten wollen, wie Erkenntnis der wirtschaftlichen Zusammenhänge und Deutung der Ordnungen des Wirtschaftslebens sich in der wirtschaftswissenschaftlichen Forschung miteinander verbunden haben. Zwar ist das Streben der neueren wirtschaftswissenschaftlichen Forschung darauf gerichtet, die Wirklichkeit des Wirtschaftslebens in ihren Zusammenhängen zu erkennen. Da aber der Gegenstand der Forschung, das Wirtschaftsleben selbst als geschichtliche Leistung der Menschen Ausdruck menschlichen Geistes, Ergebnis geistbestimmten menschlichen Handelns ist, umschließt jede Erkenntnis des Wirklichen auch Deutung der gegebenen Ordnung. Diese Feststellung gilt nicht nur für die ältere Nationalökonomie, in der in beinahe naiver Weise theoretische Erklärung und wertende Deutung nicht nur miteinander verbunden, sondern geradezu miteinander vermengt werden, sondern auch für die neuere Forschung, die grundsätzlich bemüht ist, wertende Urteile aus wissenschaftlichen Betrachtungen auszuschalten. Man darf aber nicht übersehen, daß der theoretische Denkansatz selbst in jedem Falle Deutung in sich schließt. Manche Forscher, die über die Wirtschaft und ihre Zusammenhänge nachgedacht haben, sind sich dieser Tatsache nicht immer bewußt gewesen. Gewiß gehört es zu den ersten Aufgaben wissenschaftlicher Forschung im Bereiche der Wissenschaften vom menschlichen Zusammenleben, interessebezogene Wertungen zu vermeiden. Im Denkansatz als solchem

Einleitung

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wird jedoch der zu untersuchende Gegenstand notwendigerweise auf die Gesamtkonzeption vom Sinn und von der Ordnung des menschlichen Daseins bezogen. Im Bereich der Wissenschaften vom menschlichen Zusammenleben kann der Forscher den besonderen Gegenstand seiner Betrachtungen nicht so weit aus sich herausstellen, daß er jede Beziehung zum Menschsem als solchem verloren hat. Diese Erkenntnis bewahrt uns davor, die Ergebnisse wissenschaftlicher Bemühungen zu verabsolutieren. Sie gibt uns die Möglichkeit zu verstehen, daß wirtschaftswissenschaftliche Erkenntnisse der geistigen Gesamtsituation ihrer Zeit verbunden sind. Das schließt nicht aus, daß die Erkenntnisse „objektive Wahrheiten" enthalten. Die Art und Weise, wie man sich mit besonderen Problemen des Wirtschaftslebens auseinandersetzte, wird nur insoweit in den Kreis der Betrachtungen einbezogen, als diese Auseinandersetzung für die darzustellende Grundauffassung von der Wirtschaft kennzeichnend gewesen ist. Es ist also — um ein Beispiel zu nennen — nicht beabsichtigt, in extenso dazustellen, wie etwa geldtheoretische Gedanken sich entwickelt haben. Trotzdem wird es notwendig sein, auf die Auffassungen vom Geldwesen Bezug zu nehmen, wenn dadurch die wirtschaftstheoretische Grundkonzeption verdeutlicht werden kann. Das Gleiche gilt für alle anderen Sonderprobleme der Wirtschaftswissenschaft. Dagegen soll stets der Versuch gemacht werden, die Entfaltung der Volkswirtschaftslehre in den Zusammenhang der geistesgeschichtlichen Entwicklung hineinzustellen, die volkswirtschaftlichen Gedanken und Erkenntnisse mit der Geistesgeschichte der Zeit zu verbinden. Lehrgeschichte darf nicht mit der Biographie einzelner Persönlichkeiten gleichgesetzt werden — so wichtig es auch ist, die Bedeutung einzelner großer Forscher für die Entwicklung des Faches kennen zu lernen. Ziel einer Lehrgeschichte kann nur sein, Gedanken und Erkenntnisse, die in bestimmten Zelten maßgebend gewesen sind, in systematischer Ordnung zusammenzufassen und sie in ihrer inneren Geschlossenheit darzustellen.

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I. Das staatsphilosophisdie Denken in der "Wirtsdiaftslehre

I. Das staatsphilosophische Denken in der Wirtschaftslehre: Die antike Staats- und "Wirtschaftswissenschaft Das griechische Denken über die Wirtschaft, das seinen Ausdruck in einer Lehre vom richtigen Wirtschaften fand, kann nur dann in seinen inneren Zusammenhängen verstanden werden, wenn man es mit der Philosophie, der Lehre vom Menschen und seinem Wesen, und der Politik, der Lehre vom Staate und seinen Aufgaben, m Verbindung bringt. Ziel aller gedanklichen Bemühungen ist es, die Wirtschaft als Ordnung der Daseinsfürsorge, in die politische Ordnung des menschlichen Zusammenlebens — dem Wesen des politischen Gemeinwesens entsprechend — einzubeziehen. Die Staatslehre PLATO'S (427—347 v. Chr.), die als großartiger Entwurf für den sinnvollen Aufbau eines Staatswesens verstanden werden muß, ist durch den Gedanken gekennzeichnet, daß öffentliches und privates Leben, politisches und persönliches Dasein, eine Einheit bilden. Die griechische Wirtschaftslehre war also „Staatswissenschaft" im eigentlichen Sinne des Wortes. Die Wirtschaft als einen Bereich autonomen Handelns einzelner Menschen zu betrachten, lag dem griechischen Denken völlig fern. PLATO, der die Bedeutung der Arbeitsteilung für die Qualität der hergestellten Güter klar erkannt hatte, sah es als eine wichtige politische Aufgabe an, das Zusammenwirken der wirtschaftlich produktiv tätigen Menschen innerhalb des Gemeinwesens sinnvoll zu ordnen. Durch Gesetz soll bestimmt werden, daß jeder Gewerbetreibende nur diejenigen Gegenstände herstellen soll, für die er am besten geeignet ist. In diesem Gedanken kann man geradezu die Grundlage spätmittelalterlicher Zunftverfassung erblicken. Die gleiche Grundlage des Denkens finden wir auch bei ARISTOTELES (384—322 v. Chr.). Er hat die Lehre vom Gelderwerb, die Chrematistik, von der eigentlichen Haushaltskunde, der Ökonomik, als der Lehre vom richtigen

Die antike Staats- und Wirtschaf tswissensdiaft

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Wirtschaften geschieden und so einer Trennung von Tauschwirtschaftslehre und Haushaltskunde den Weg bereitet. Dieser Hinweis zeigt, daß ARISTOTELES die wirtschaftliche Wirklichkeit seiner Zeit genau beobachtet hat. Wir verdanken ihm die Kenntnis zahlreicher Besonderheiten und einzelner Züge des griechischen Wirtschaftslebens. Kennzeichnend ist allerdings, daß alle wirtschaftlichen Tatbestände und Vorgänge, die er beschreibt, von dem Gedanken des sinnvollen Zusammenlebens und Zusammenwirkens in der Polis, im Staatswesen, aus gewertet werden. Die eigentlich wichtige wirtschaftliche Leistung vollzieht sich nach ARISTOTELES in den Haushalten. Hier ist der Ort der Güterherstellung, also der im strengen Sinne des Wortes produktiven Tätigkeit. Austausch ist notwendig, um die bei Teilung der Arbeiten notwendigerweise verschiedenen Bedarfe in den einzelnen Haushalten zu decken. Verselbständigter Handel, der allein um des Gewinnes willen betrieben wird, untergräbt nach Ansicht von ARISTOTELES die Grundlagen einer sinnvollen und darum gerechten Ordnung des Zusammenwirkens und Zusammenlebens in der Polis. Mit dieser Auffassung hängt auch die Beurteilung des Zinses zusammen, der erscheinungsmäßig mit dem Gelde in Verbindung gebracht wird. Geld ist durch Übereinkunft geschaffen worden, um den Austausch von Gütern verschiedenen Gebrauchswertes zu ermöglichen. Es würde seiner Aufgabe entfremdet werden, wenn es als Mittel des Erwerbes gebraucht und d. h. mißbraucht würde. ARISTOTELES erkennt allerdings deutlich, daß das Geld als eine Schöpfung der menschlichen Gemeinschaft in den verschiedenartigen Formen des Wirtschaftslebens ganz verschiedene Funktionen erfüllen und demgemäß verschiedenartige Bedeutung gewinnen kann. Nach ihm kommt es aber darauf an, in den Haushalten sinnvoll zu wirtschaften und nicht durch Handel Reichtümer aufzuhäufen. Dabei sieht er es als selbstverständlich an, daß Haushalte sich zu verhältnismäßig großen wirtschaftlichen Gebilden entwickeln, weil sie Sklaven als Arbeitskräfte in ihre Ordnung einbeziehen. Haushaltsmäßiges Wirtschaften schließt demgemäß die

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I. Das staatsphilosophische Denken in der Wirtschaftslehre

Güterherstellung für den Markt nicht aus. Im Gegenteil! Arbeitsteilung wird — wie schon bei PLATO — als Grundlage für die Verbesserung der Güterqualitäten durchaus anerkannt. Denn man hatte beobachtet, daß derjenige, der bestimmte Fertigkeiten durch besondere Übung ausgebildet hatte, besser und vollkommener zu arbeiten verstand. Die Arbeitsteilung als Mittel mengenmäßiger Produktionssteigerung zu betrachten, lag den Griechen allerdings ganz fern. In den durch die imperiale Entfaltung des Römischen Reiches bestimmten Zeiten hat sich die Wirtschaft in den Größenordnungen — auch räumlich betrachtet — bedeutend entwickelt, ohne daß die Grundlagen des Wirtschaftens sich entscheidend verändert hatten. Zwar bildeten sich im Geld- und Kreditwesen höchst differenzierte Ordnungsvorstellungen aus. Aber sie verdichteten sich nicht zu einer entsprechenden Lehre von der Wirtschaft. Die große Leistung der Römer bestand darin, die mit dem Geldgebrauch zusammenhängenden Ordnungsvorstellungen des praktischen Wirtschaftslebens rechtlich zu systematisieren. So wurde das römische Vertragsrecht zur Grundlage einer wirksamen Einbindung aller wirtschaftlichen Vorgänge in den politischen Aufbau des Römischen Reiches. Das wird in besonderer Weise deutlich im Begriff des „justum pretium", hinter dem die naive Erwartung steht, daß im Marktgeschehen Wert und Preis einander regelmäßig decken. Nur auf dem Gebiete der Agrarwirtschaftslehre haben römische Schriftsteller die Ansätze griechischen Wirtschaftsdenkens weitergeführt — in dem Bewußtsein, daß der Landbau nicht nur die materielle Grundlage der menschlichen Existenz bildet, sondern auch sittlich diejenigen Kräfte fördert, die ein sinnvolles Zusammenleben der Menschen ermöglichen. Das ist deutlich bei CATO zu spüren, der den Landbau für den anständigsten und darum für den Menschen würdigsten Erwerb erklärt. LITERATUR Aristoteles: Politik. Dtsdi. v. E. Rolfes, 3. Aufl. 1921. Aristoteles: Nikomadiische Ethik. Dtsdi. v. E. Rolfes, 2. Aufl. 1921. Cato d. Ä.: De Agri Cultura. Dtsdi. 1787.

Die scholastische Staats- und Wirtschaftswissenschaft

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Mohl, R. v.: Geschichte und Literatur der Staatswissensdiaften, in Monographien dargestellt. Bd. l, 1855. Trever, A. A.: A History of Greek Economy Thought. Chicago 1915. Gelesnoff, W.: Die ökonomische Gedankenwelt des Aristoteles. In: Arch. f. Soz. wiss. u. Soz. pol., Bd. 50, 1922. Andreae, "W.: Staats- und Wirtschaftslerire im Altertum. H. d. Stw., 4. A u f l . Bd. 7, Jena 1926. Brentano, L.: Das Wirtschaftsleben der antiken Welt. 1929. Willers, D.: Die Ökonomie des Aristoteles. 1931. Salomon, M.: Der Begriff der Gerechtigkeit bei Aristoteles. Nebst einem Anhang über den Begriff des Tauschgeschäftes, Leiden 1937. Heichelheim, F. M.: Wirtschaftsgeschichte des Altertums. London 1938. Krb, D.: Wirtschaft und Gesellschaft im Denken der hellenischen Antike. 1939.

II. Das theologische Denken in der Wirtschaftslehre: Die scholastische Staats- und Wirtschaftswissenschaft Im frühen Mittelalter können wir eine gewisse Rückentwicklung der wirtschaftlichen Verhältnisse zu vorwiegend natural-wirtschaftlich bestimmten Ordnungsformen beobachten. Die reinen Geldgeschäfte, die in dem gewaltigen Raum des Römischen Imperiums ein beachtliches Maß der Differenzierung erreicht hatten, verloren an Bedeutung. Die ursprüngliche Funktion des Geldes, als Mittel des Güteraustausches zu dienen, trat klarer ins Bewußtsein. Denn der Güteraustausch gewann auf der Grundlage einer veränderten Sozialstruktur eine neue Bedeutung. Festigten sich doch die Formen des gesellschaftlichen Zusammenlebens und damit auch des wirtschaftlichen Zusammenwirkens auf der Grundlage des Gedankens persönlicher Freiheit der in der Stadt lebenden Handwerker. Als Siedlungsplatz freier Handwerker stellte die mittelalterliche Stadt ein Sozialgebilde eigener Prägung dar. Handwerker und Bauern fanden jedoch in sehr ähnlicher Weise ihren sozialen Standort in einem genossenschaftlich begründeten Aufbau der Gesellschaft. Diese Tatsachen bestimmten auch das Nachdenken über die Wirtschaft, das — unter dem Einfluß der Scholastik — mit dem theologischen Denken eng verbunden war. Die Scholastiker dachten über die Wirtschaft nach,

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. Das theologische Denken in der Wirtsdiaftslehre

nicht, weil ihnen die Funktionszusammenhänge dieses Bereiches menschlicher Wirksamkeit als solche zum Problem geworden waren, sondern, um Grundsätze für das wirtschaftliche Verhalten zu entwickeln, das den Forderungen der christlichen Ethik entsprach. Antrieb für die geistige Auseinandersetzung mit Fragen des Wirtschaftslebens war nicht die Absicht, die Seinsweise der Wirtschaft als solche zu verstehen und den Ablauf wirtschaftlicher Vorgänge zu erklären, sondern der Wille, die Gerechtigkeit — wie in allen anderen Bereichen des menschlichen Lebens — auch im Bereiche der Wirtschaft zu sichern. Die Wirtschaft erschien also nicht als autonomer, für sich bestehender Erkenntnisgegenstand, sondern als Ordnungsaufg^be menschlichen Zusammenlebens. Die geistigen Bemühungen richteten sich deshalb in Sonderheit auf den Begriff des „gerechten Preises", der dann als verwirklicht angesehen wurde, wenn beim Güteraustausch gleiche Werte hingegeben wurden. Da die Gegenleistung beim Güteraustausch als in Geld ausgedrückter Preis erfaßt wurde, erschien es notwendig, die Bildung der Preise zu untersuchen. So kamen die Scholastiker, die von theologischen Fragestellungen ausgingen, dazu, sich mit Tatbeständen des Wirtschaftslebens forschend auseinanderzusetzen. In diesem Zusammenhang erschlossen sich — in den Ansätzen — wesentliche Erkenntnisse wirtschaftlicher Vorgänge. ALBERTUS MAGNUS (1193—1280) berücksichtigte im Anschluß an ARISTOTELES die Bedeutung der menschlichen Bedürfnisse für den Wert der Güter und damit auch für die Preisbildung, während THOMAS v. AQUIN (1225—1274) bei der Untersuchung der Preisbildung auf die Herstellungskosten Bezug nahm, die sich in Arbeitslöhnen rechnerisch objektivierten. So verband THOMAS v. AQUIN die Frage nach dem gerechten Preis der Ware mit der Frage nach dem gerechten, der Leistung entsprechenden Arbeitslohn. Die Bemessung der richtigen Werte erschien jedoch nicht als eine Angelegenheit individueller Entscheidung, sondern als ein Problem der gesellschaftlichen Ordnung, die durch den Gedanken standesgemäßen Daseins bestimmt

Die scholastische Staats- und Wirtschaftswissenschaft

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war. Dieser Gedanke darf jedoch nicht dahin verstanden werden, als ob die Scholastiker geneigt gewesen wären, behördliche Preisfestlegungen zu empfehlen oder gar Monopolstellungen öffentlich zu sichern. Der Gedanke, daß Leistungen sich im Wettbewerbe messen sollen, und damit auch der Gedanke, daß Angebot und Nachfrage sich auf dem Markte ausgleichen sollen, lag den Scholastikern nicht fern. LUDWIG MOLINA (1535—1600) spricht sogar vom „natürlichen Preis", der sich aus den Marktverhältnissen selbst ergibt, ohne daß Gesetz und Dekret ihn bestimmen. Mit diesem Hinweis will MOLINA nicht individueller Willkür Raum geben. Individuelle Willkür wird abgelehnt. Das hat eine doppelte Bedeutung. Negativ: Es darf keine privaten Monopole geben, die einem Einzelnen die Möglichkeit bieten, den Markt zu beherrschen und so die Bildung der Preise willkürlich zu bestimmen. Positiv: Jeder Kaufmann soll seine wirtschaftliche Aufgabe als einen Dienst für die Gemeinschaft verstehen, in der jeder seinen Platz finden muß. Für die weitere Entwicklung der Volkswirtschaftslehre waren die ersten Bemühungen, Wesen und Wirksamkeit des Geldes zu erklären, die wir bei JOHANNES BURIDANUS (gest. nach 1358) und bei NICOLAUS ORESMIUS (zwischen 1320 und 1325—1382) finden, wichtig. Im „Tractatus de Origine, Natura, Jure et Mutationibus Monetarium" behandelt ORESMIUS im Anschluß an Aristotelische Gedanken mit großem Freimut die rechtlichen Probleme und die volkswirtschaftlichen Folgen von Münzverschlechterungen. Nicht mit Unrecht hat man diesen Traktat als die erste volkswirtschaftliche Fachschrift bezeichnet, in der volkswirtschaftliche Fragen als solche — losgelöst von Theologie und Philosophie — behandelt worden sind. LITERATUR Aquin, Thomas v.: Summa theologica. Vollst, ungekürzte Ausg. (dtsdi.-lat.) Bd. 1—12, 1933—1944. Oresmius, Nicolaus: Tractatus de origine, natura, jure et mutationibus monctarium. Editio secunda, 1692, Kritische Ausgabe, besorgt von L. Wolowski, unt. d. Tit. Traictide la premiere invention des monnais, texte francais et latin d'aprcs les manuscrits de la Bibliotheque imperiale, Paris, 1864

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III. Das staatspolitische Denken in der Wirtschaftslehre

(Diese Ausgabe ging auf eine Anregung Wilhelm Roscher's zurück), Deutsche Ausgabe unt. a. Tit.: Traktat über Geldabwertungen, hrsg. und eingeleitet von Edgar Sdiorer, 1937. Röscher, W.: Ein großer Nationalökonom des 14. Jahrhunderts. In: Zeitsdir. f. d. ges. Staatswiss., Bd. 19, 1863. Pesch, H,: Lehrbudi der Nationalökonomie, 1923—1926. Kaulla, R.: Der Lehre* des Oresmius (J. Buridanus). In: Zeits Einsatz: 3000 Mill. Fr. vom Reinertrag an sterile Kl: Gegenleistung: 4Verbrauch ifinn ?r Ausg. an sterile Kl: Gegenleistung: 4- 1000 Mill. Fr. < neuer Reinertrag: + 2000 Mill. Fr. Gesamtprodukt:

Sterile Aufwendungen

2000 Mill. Fr. 1000 Mill. Fr. >·+ 1000 Mill. Fr. 1000 Mill. Fr. < - 1000 Mill. Fr. 2000 Mill. Fr. + 1000 Mill. Fr. * 1000 M i l l Fr

5000 Mill. Fr.

Neue Produktionsphase.

Bei diesem vereinfachten Bild fehlt ein Hinweis darauf, welchen Lohn die Gewerbetreibenden der sterilen Klasse für sich verbrauchen können. SIQ werden gleichsam als eine Schleuse angesehen, durch die die Fertigung hindurchläuft. Sie verbrauchen einen Teil der ihnen zugeführten Lebensmittel, formen Rohstoffe um und geben sie zu einem Wert, der dem Gesamtwert der zugeführten Lebensrnittel und Rohstoffe entspricht, an Bodeneigentümer und Pächter ab. Die Rechnung zeigt aber, daß hier — bei der Umformung von Rohstoffen — keine Überschüsse erzielt werden. Aus dem Bild können weiterhin zwei Feststellungen entnommen werden, die miteinander zusammenhängen. Die an die Bodeneigentümer abgeführten Reinerträge der Urproduk-

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IV. Das kausale Denken in der "Wirtschaftslehre

tion werden nicht investiert, sondern verbraucht. Das entspricht dem Zustande einer feudalen Gesellschaftsordnung, die eine eigentliche Dynamik nicht kennt. Infolgedessen geschieht in dieser Wirtschaft immer wieder dasselbe. Jeder Kreislauf, jede Produktionsphase schließt mit demselben Ergebnis. Das Problem des Wachstums der Wirtschaft wird noch nicht gesehen. Durch die Lokalisierung der eigentlichen Hervorbringungskräfte in der Landwirtschaft und im Bergbau werden alle wirtschaftlichen Begriffe der Physiokraten bestimmt und ihre wirtschaftspolitischen Anschauungen festgelegt. So erscheint der Zins als Ausdruck der Reinertragsfähigkeit der Urproduktion. In der „Fruktifikationstheorie" des Zinses, die insbesondere von ROBERT TURGOT (1727—1781) entwickelt worden ist, wird der Zins auf die sachlichen Mehrleistungsfähigkeit der Urproduktion zurückgeführt. Weil der Boden nicht nur die aufgewendeten Kosten zurückgibt, sondern darüberhinaus einen Reinertrag abwirft, muß auch dem Kapital, für das man Boden kaufen kann, Zins zugerechnet werden. Die Frage nach dem Zins wird also noch nicht von der Frage nach der Grundrente getrennt. Die Steuer, die der Staat als Entschädigung für seine Leistungen und für seine Aufgaben in Anspruch nehmen kann, darf als direkte Abgabe nur den Reinertrag der Urproduktion, das „produit net" belasten. Da dieser Reinertrag den Bodeneigentümern als Pacht zufließt, erscheint es zweckmäßig, diese einzige wirtschaftlich zu rechtfertigende Steuer bei den Bodeneigentümern, die über die Verwendung des Reinertrages entscheiden, zu erheben. Alle anderen Steuern, insbesondere die indirekten Steuern, die den Verbrauch bestimmter Erzeugnisse belasten, verzerren nach Ansicht der Physiokraten den natürlichen Zusammenhang der wirtschaftlichen Leistungen und stören damit den natürlichen Ablauf der wirtschaftlichen Vorgänge. So kommen die Physiokraten auf Grund ihrer theoretischen Konzeption zu der Forderung, an Stelle eines Systems von Steuern nur eine einzige Steuer zu erheben, die den Reinertrag als solchen belastet.

2. Die Physiokratie

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Den natürlichen Ablauf der wirtschaftlichen Vorgänge zu sichern, ist auch der Leitgedanke der allgemeinen Wirtschaftspolitik. Die Aufgabe der Staatsordnung, des Ordre positif ist es, dafür zu sorgen, daß die natürlichen Gesetze, der Ordre naturel, sich frei auswirken können. Staatliche Gesetze sollen nicht reglementieren, sondern Freiheit schaffen. Darum gipfelten die wirtschaftspolitischen Forderungen der Physiokraten in dem Satz: „Laissez faire, laissez aller, le monde va de lui-meme!" Wer diesen Satz zum erstenmal gebraucht hat, konnte bis heute nicht einwandfrei geklärt werden. Verbreitet worden ist er in der Mitte des 18. Jahrhunderts von dem MARQUIS D'ARGENSON. Die hier geforderte wirtschaftliche Freiheit gilt nicht nur für den Binnenhandel, sondern auch für zwischenstaatliche Geschäftsbeziehungen. Man erwartete wirtschaftlich richtige Getreidepreise, wenn alle Ausfuhrbeschränkungen für dieses Erzeugnis aufgehoben sein würden. Als Physiokraten wurden die Anhänger FRANCOIS QUESNAY'S, die sich selber zunächst als „Economistes" bezeichnet hatten, von DUPONT DE NEMOURS, einem Schüler FRANCOIS QUESNAY'S genannt. Bedeutende Physiokraten waren ferner VICTOR DE MIRABEAU (der ältere Mirabeau) (1715—1789), und PAUL PIERRE LE MERCIER DE LA RiVIERE (1720—1793 oder 1794). Als deutsche Physiokraten sind JOHANN AUGUST SCHLETTWEIN (1731—1802) und Markgraf CARL FRIEDRICH VON BADEN (1738—1803) zu nennen. Der Markgraf von Baden hat unter dem Einfluß SCHLETTWEINS sogar versucht, bestimmte physiokratische Forderungen, z. B. die Forderung, allein den Reinertrag der Urproduktion zu besteuern, zu verwirklichen. Er ist damit gescheitert. LITERATUR Cantillon, R.: Essay «ur la Nature du Commerce en general. Paris 1755, dtsch. 1931. Quesnay, Fr.: Tableau economique. Paris 1758, Oeuvres economiques et philosopiques, Frankfurt/M und Paris 1888. Turgot, R.: Reflections sur Formations et la Distribution de la Richesse Paris 1766, dtsch. 1924.

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IV. Das kausale Denken in der Wirtschaftslehre

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3. Die sogenannte „klassische" Schule der Nationalökonomie

ADAM SMITH (1723—1790), dessen wirtschaftswissenschaftliches Hauptwerk „An Inquiry into the Nature and the Causes of the Wealth of Nations" 1776 erschienen ist, wird nicht nur als Begründer der sog. „klassischen Schule" der Volkswirtschaftslehre angesehen, sondern als Wegbereiter der modernen Nationalökonomie überhaupt gefeiert. Diese Feststellung gilt in absolutem Sinne nur für den, der die Fragestellung der klassischen Nationalökonomie, die Methode ihres wissenschaftlichen Vorgehens und die besondere Art ihres Denkens über die Wirtschaft für die wissenschaftlich einzig möglichen hält. Die Größe und die Bedeutung seiner wissenschaftlichen Leistungen sollen durch diese einschränkende Bemerkung nicht verkleinert werden. Hat er doch den Zugang zu Gedanken erschlossen, die die wirtschaftswissenschaftliche Forschung bis in die neueste Zeit hinein beeinflußt haben. Auf zwei Gedanken läßt sich wohl die Tatsache zurückführen, daß ADAM SMITH'S ökonomisches Hauptwerk schon in das Bewußtsein seiner Zeitgenossen als eine geistige Leistung eingegangen ist, die eine neue Periode des wirtschaftswissenschaftlichen Denkens eröffnet: 1. Als Quelle des Wohlstandes sieht ADAM SMITH nicht mehr allein die landwirtschaftliche und bergbauliche Urproduktion an, sondern die menschliche Arbeit schlechthin.

3. Die sogenannte „klassische Schule"

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Damit rückt die menschliche Arbeit, das Leistungsvermögen des Menschen in den Mittelpunkt aller wirtschaftswissenschaftlichen Betrachtungen. Der Blick des Forschers wird nicht mehr allein durch die Gegebenheiten der äußeren Natur festgehalten. ADAM SMITH übersieht keineswegs die Bedeutung dieser Dinge. Aber der am Anfang seines Hauptwerkes stehende Satz: „Die Arbeit, welche jede Nation jährlich verrichtet, ist der Fond, der sie ursprünglich mit allen von ihr jährlich verbrauchten Notwendigkeiten und Bequemlichkeiten des Lebens versorgt", hat der wirtschaftswissenschaftlichen Forschung ein neues Blickfeld freifelegt. Entscheidend ist nun, daß ADAM SMITH die Möglichen erkennt, die Arbeitsleistung durch zweckmäßige gesellschaftliche Organisation der Arbeit, durch Arbeitsteilung, ergiebiger zu machen. In dem berühmt gewordenen Beispiel der Stecknadelfabrikation schildert er die Überlegenheit arbeitsteilig gegliederter Herstellungsverfahren gegenüber handwerklicher Einzelfertigung. Er untersucht auch die Gründe, auf die es zurückzuführen ist, daß Arbeitsteilung die Ergiebigkeit der Arbeitsleistung erhöht. Daß er diese Möglichkeit in seinem wirtschaftswissenschaftlichen System als Ausgangsdatum einsetzt, kommt einer epochemachenden Entdeckung gleich, die auch der politischen Sehnsucht seiner Zeit entsprach. Erkennt er doch die Arbeit als die ordnende Kraft der wirtschaftenden Gesellschaft, die den Menschen frei macht. Alle Privilegien, alle ständischen Bindungen verlieren ihre Berechtigung in dem Augenblick, in dem die Arbeit als die Quelle des Wohlstandes menschlicher Gesellschaften begriffen wird. Zwar ist es lehrgeschichtlich nicht ganz richtig, ADAM SMITH als den ersten Nationalökonomen zu bezeichnen, der von der Arbeitsteilung gesprochen hat. Man findet schon bei ADAM FERGUSON (1723—1816) entsprechende Hinweise. Aber erst ADAM SMITH hat die Arbeitsteilung als allgemeines Prinzip der Leistungssteigerung, das von der technischen Zerlegung eines Herstellungsganges innerhalb eines Betriebes, über die Teilung von Arbeitsaufgaben zwischen 3 Geschichte der Volkswirtschaftslehre

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IV. Das kausale Denken in der Wirtschaftslehre

Berufen und damit auch zwischen Betrieben zur allgemeinen Arbeitsteilung zwischen Volkswirtschaften, also zur weltwirtschaftlichen Arbeitsteilung reicht, in den Mittelpunkt aller wirtschaftswissenschaftlichen Überlegungen gestellt. Damit ist die Maschinenauffassung der Wirtschaft, wie sie bei den Merkantilisten zu finden war, und die daraus abgeleitete Handelsbilanzlehre ebenso überwunden worden wie die enge Substanzgebundenheit der physiokratischen Produktivitätsvorstellung. Zwar wirkte — deutlich spürbar in der kausaltheoretischen Analyse — die Substanzgebundenheit des Denkens weiter. Als produktiv sah ADAM SMITH nur diejenigen Tätigkeiten an, die marktfähige Erzeugnisse hervorbrachten. Die Tätigkeit der Lehrer, der Erzieher, der Rechtswahrer, der Hausgehilfen erschien wohl als nützlich, aber nicht als produktiv. Ihr Einkommen wurde deshalb von ADAM SMITH auch nur als abgeleitetes Einkommen betrachtet. Ähnlich wurde auch die Tätigkeit der Staatsbediensteten gewertet. Auch sie konnten nach Ansicht von ADAM SMITH nur aus dem Einkommen der produktiv Tätigen erhalten werden. Entscheidend für die weitere Entwicklung des wirtschaftswissenschaftlichen Denkens war, daß ADAM SMITH durch den Hinweis auf die Arbeitsteilung die Möglichkeit einer Dynamisierung der Wirtschaft, einer Intensivierung der wirtschaftlichen Leistungskräfte erschlossen hat. Seine besondere wirtschaftswissenschaftliche Aufgabe sah ADAM SMITH darin, die ökonomischen Bedingungen für die Entfaltung der wirtschaftlichen Kräfte zu durchdenkcn. Sein Blickfeld war zwar begrenzt, weil sein Denken an substanzielle Vorstellungen, an Substanzbegriffe gebunden war. Es gelang ihm aber, Größe und Funktion des Marktes in der richtigen Weise zu würdigen. 2. ADAM SMITH erkannte, daß sich das Geschehen auf den Märkten in Preisen ausdrückt. Er sah auch, daß die Preise Gütererzeugung und Güterabsatz regeln. Er versuchte daher, den Zusammenhang der wirtschaftlichen Leistungen von der Preisbildung her zu erklären. Die Beobachtung, daß die Preise auf den Märkten je nach dem Verhältnis der

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angebotenen "Warenmenge zu der nachgefragten schwanken, kann auch von einem wissenschaftlich nicht geschultem Blick leicht gemacht werden. ADAM SMITH beschrieb die Auswirkung von Veränderungen des Angebotes und der Nachfrage recht eingehend. Aber er begnügte sich nicht mit diesen Feststellungen. Er fragte, welche Kräfte den Stand der Preise auf die Dauer bestimmen. So kam er dazu, neben den Begriff des Marktpreises, der sich den Veränderungen von Angebot und Nachfrage anpaßt, den Begriff des natürlichen Preises zu stellen, der durch die dauernd in der Wirtschaft wirkenden Kräfte bestimmt wird. Diesen natürlichen Preis versuchte ADAM SMITH ursächlich zu erklären, indem er auf eine wertbildende Substanz zurückgriff. Diese wertbildende Substanz ist — dem Ausgangspunkte seiner Gedanken entsprechend — die menschliche Arbeit. Dieser Gedanke lag nahe. Als Quelle des wirtschaftlichen Wohlstandes schien die Arbeit auch der letzte Maßstab des wirtschaftlichen Wertes zu sein. Denn die Arbeit geht nach Meinung von ADAM SMITH als wertbildende Substanz in das Erzeugnis ein. Aber nur im Urzustände der menschlichen Wirtschaft, indem es weder dem Werte nach verselbständigte Produktionsmittel noch Privateigentum am Grund und Boden gab, konnte die Arbeit als wertbildende Substanz unmittelbar Ausdruck des natürlichen Wertes der durch sie hergestellten Waren sein. In der geschichtlich gegebenen Wirtschaft, die Privateigentum am Grund und Boden kennt und in der von Menschen hergestellte Produktionsmittel verwendet werden, muß nach Meinung ADAM SMITH'S in den „natürlichen Preis" der Ware auch eine Entschädigung für die Mitwirkung dieser beiden Produktionsfaktoren eingerechnet werden. Der natürliche Preis wird unter diesen Umständen durch die gesamten Produktionskosten bestimmt, die sich aus Arbeitslohn, Kapitalzins und Grundrente zusammensetzen. An die Stelle der einen wertbildenden Substanz, der menschlichen Arbeitskraft, sind drei Produktionsfaktoren getreten, die den Preis ursächlich bestimmen. Der entscheidenden Frage, vor der jede ursächlich gedachte Preislehre, die den Preis

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IV. Das kausale Denken in der Wirtschaftslehre

auf mehrere preisbestimmende Faktoren zurückführt, steht, nämlich zu klären, wie sich die einzelnen preisbestimmenden Faktoren zueinander verhalten, anders ausgedrückt, in welchem Ausmaße die einzelnen Faktoren den Preis bestimmen, ist ADAM SMITH nicht nachgegangen. Er begnügte sich damit festzustellen, daß der Wert aller dieser verschiedenen Bestandteile des Warenpreises nach der Menge Arbeit zu bestimmen sei, die man mit ihnen kaufen und damit gleichsam in seine wirtschaftliche Verfügungsmacht bringen könne. ADAM SMITH kehrte also den Gedanken, daß die Arbeitskraft den Preis ursächlich bestimme, um, als es darum geht, den Anteil von Kapital und Boden an der Wertschöpfung der Waren festzustellen. Jetzt gilt nicht mehr die Mühe und Arbeit, die man aufwenden muß, um eine Ware herzustellen, als Bestimmungsgrund des Preises, sondern diejenige Arbeitsmenge, die man für ein bestimmtes Gut erwerben kann. Durch diese Umkehrung der Gedanken ist das Problem als solches keineswegs gelöst. ADAM SMITH, der die wirtschaftlichen Bedingungen seiner Zeit sehr anschaulich beschreibt, war im Grunde kein systematischer Denker. Widersprüche zeigen sich auch in der Lehre von den Einkommensgrößen, insbesondere in der Lohntheorie. Dem Ansatzpunkte der Wertlehre entsprechend, ging ADAM SMITH von der Feststellung aus, daß im ursprünglichen Zustande der Gesellschaft dem Arbeiter das Ergebnis seiner Bemühungen vollständig gehöre. Der Lohn sei also dem Werte des Erzeugnisses gleich. Diese Feststellung nimmt die später von Sozialisten entfaltete Lehre vom Rechte auf den vollen Arbeitsertrag vorweg. Im geschichtlich gegebenen Zustand der Wirtschaft erhöben auch die Eigentümer von Boden und Kapital Ansprüche auf bestimmte Anteile am Werte des Erzeugnisses. Nach welchen Bedingungen diese Ansprüche aufgeteilt werden, bleibt im Grunde völlig offen. Hier steht der Gedanke der Existenzsichcrung — der Lohn müsse mindestens ausreichen, dem Arbeiter die Existenz zu sichern — neben einer Andeutung der Lohnfondstheorie: „Die Nachfrage nach Leuten, die vom Arbeits-

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lohne leben, kann nicht wachsen, wenn nicht die Fonds gewachsen sind, woraus der Arbeitslohn bezahlt wird." Schließlich findet sich noch der Gedanke, daß zwischen der Produktivität der Arbeit und dem Lohnstande eine Beziehung bestünde, ein Gedanke, der später die Grundlage einer Produktivitätstheorie des Lohnes geworden ist. ADAM SMITH hat nicht einmal die zuständliche Betrachtung des Problems von der auf die Entwicklung gerichteten methodisch klar geschieden. Man kann aber sagen, daß er die Möglichkeiten, den Lohn zu erhöhen, — dem Ausgangspunkt aller seiner Untersuchungen entsprechend — durchaus optimistisch beurteilte. „Nicht die Größe, zu welcher der Nationalreichtum schon gelangt ist, sondern sein fortwährendes Wachsen ist es, welches das Steigen des Arbeitslohnes veranlaßt." Vielleicht hat gerade die Tatsache, daß jeder aus den unsystematischen lohntheoretischen Ausführungen von ADAM SMITH das herauslesen konnte, was seinen Gedanken, vielleicht sogar seinen Absichten entsprach, dazu beigetragen, seinem Werke einen so großen Widerhall zu verschaffen. Die Fähigkeit, systematisch zu denken, war bei DAVID RICARDO (1772—1823) ohne Zweifel stärker ausgebildet. Er hat die ursächlich gedachte Preistheorie in zweifacher Weise bereinigt. 1. Zunächst versuchte er die Mehrzahl der preisbestimmenden Faktoren gedanklich zu überwinden und den Wert der Güter, ihren „natürlichen" Preis auf eine causa zurückzuführen. Bei diesen Bemühungen wandte er seine Aufmerksamkeit in erster Linie der Grundrente zu, die ADAM SMITH als einen den Preis bestimmenden Kostenfaktor angesehen hatte, ohne sich allerdings Gedanken darüber zu machen, in welcher Weise der Anspruch der Grundbesitzer auf den Preis der Erzeugnisse einwirken konnte. DAVID RICARDO erklärte demgegenüber die Grundrente als eine Auswirkung, ein Ergebnis des Preisbildungsvorganges bei unterschiedlichem Kostenstande der einzelnen landwirtschaftlichen Betriebe, die Boden verschiedener Güte, d. h. Boden verschiedener natürlicher Ertragsfähigkeit bebauen.

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IV. Das kausale Denken in der Wirtschaftslehre

Bei geringer Bevölkerungszahl nehmen die Menschen — so meinte RICARDO — nur den besten Boden unter den Pflug. Wenn unter diesen Bedingungen von jeder Flächeneinheit des beackerten Bodens der gleiche Ertrag erzielt wird, könne keine Grundrente abgeworfen werden. Erst wenn die wachsende Volkszahl die Menschen zwänge, Boden geringerer Güte, also Boden schlechterer Ergiebigkeit zu bebauen, könne eine Grundrente entstehen. Denn bei gleichem Arbeitsaufwand könnten dem schlechteren Boden je Flächeneinheit nur geringere Erträge abgewonnen werden. Die Gewichtseinheit der Erträgnisse verursache also höhere Kosten. Der Preis müsse allerdings für alle Gewichtseinheiten desselben Erzeugnisses gleich sein. Erfordere der Bodenbau infolge verschiedenartiger natürlicher Bedingungen unterschiedliche Aufwendungen, so würde der Preis landwirtschaftlicher Erzeugnisse durch diejenigen Produktionskosten bestimmt, die auf dem schlechtesten, zur Deckung des Bedarfes an Nahrungsmitteln noch heranzuziehenden Bodenstückes anfallen. Die Landwirte, die bessere Böden bewirtschaften, je Gewichtseinheit der Erzeugnisse also geringere Kosten aufzuwenden haben, beziehen unter diesen Umständen eine Rente in Höhe des Unterschiedes zwischen den Produktionskosten und dem Preis des jeweiligen Erzeugnisses. Nur der „Grenzboden", d. h. der jeweils schlechteste Boden, der noch bewirtschaftet werden muß, um den Bedarf an Nahrungsmitteln zu decken, wirft keine Rente ab. Hier bestimmen die Produktionskosten den Preis, der dann auch für die Erzeugnisse aller besseren Böden maßgebend wird. So wird für die Rente der Begriff des Differentialeinkommens gebildet, das als Ergebnis der Preisbildung bei unterschiedlichen Herstellungskosten je Produkteinheit auftritt. Der gedankliche Ansatz der Ricardianischen Differentialrententheorie ist für die Entfaltung der Grenzkostenanalyse in der weiteren Entwicklung der ökonomischen Theorie bestimmend geworden. Die theoretische Auseinandersetzung RICARDO'S mit Wesen und Bedeutung des Kapitals ist weniger elegant.

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Alles Kapital wird — da sämtliche Anlagegüter durch menschliche Arbeit hergestellt worden sind — als vorgetane Arbeit betrachtet. Es gilt somit als ein Teil der Arbeitsaufwendungen. RICARDO gibt aber keine Erklärung dafür, warum dieser vorgetane Arbeitsaufwand nicht nur mit seinem Wert, sondern mit einem besonderen Aufschlag, der Profit genannt wird, in die Kostenrechnung der Güterherstellung eingeht. Er nimmt den Profit einfach als gegebenen Tatbestand hin, behauptet allerdings, daß — im „natürlichen Verlauf der Dinge" — Lohn und Kapitalprofit so aneinander gebunden seien, daß ihr Gesamtbetrag — im großen und ganzen gesehen — gleich bliebe. Steigender Lohn bedeutet demnach sinkenden Kapitalprofit und umgekehrt bedeutet sinkender Lohn steigenden Kapitalprofit. Diese Beziehung zwischen Lohn und Kapitalprofit bilde sich auf dem sogenannten Grenzboden, der keine Rente abwirft, in „natürlicher", gleichsam objektiv bestimmbarer Weise und wirke von daher in alle anderen Bereiche des Wirtschaftslebens hinein. Einer wirklichen Erklärung, wie der Kapitalprofit, der Kapitalzins zustande kommt, aus welcher Quelle er fließt, ist DAVID RICARDO ausgewichen. 2. Der Begriff des Arbeitswertes, der als wertbildende Substanz, als eigentliche „Ursache" der Preisbildung gilt, wird als solcher von RICARDO systematisch gefaßt. Nicht die in Geld ausgedrückten Kosten der Arbeitsleistung, die Löhne gelten als preisbestimmend. Als wertbestimmende Substanz werden die — zeitlich zu messenden — Aufwendungen an Arbeitskraft selbst angesehen. RICARDO vermeidet auch die umgekehrte Beziehung, die bei SMITH hin und wieder zu finden ist, daß als Maßstab des Wertes die Arbeitsleistung gilt, die man für ein bestimmtes Gut erwerben kann. Bei dieser bewußt kausalen Erklärung des Wertes, des „natürlichen" Preises der Waren nimmt es wunder, daß RICARDO die Frage, in welchem Verhältnis die verschiedenen Qualitäten der Arbeitskraft als wertbildende Substanzen.zueinander stehen, nur sehr oberflächlich berührt. Er meint, daß die Wertschätzung solcher verschiedenen Arbeitsqualitäten sich auf dem Markte bald mit

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genügender Genauigkeit für alle praktischen Zwecke herausbilde. Sei diese Skala einmal bestimmt, so unterliege sie nur geringen Veränderungen. Das ist wiederum eine einfache Feststellung, aber keine Erklärung. Als Hauptproblern der theoretischen Volkswirtschaftslehre hat RICARDO es angesehen, „die Gesetze aufzufinden, welche die Verteilung bestimmen". Schon ADAM SMITH hatte versucht, das Problem der Verteilung in den allgemeinen Preisbildungszusammenhang einzubeziehen. DAVID RICARDO tat das in systematischer Weise. Ausgangspunkt der Ricardianischen Verteilungslehre ist die Rententheorie. Die Preise für landwirtschaftliche Erzeugnisse müssen so hoch steigen, daß auch der schlechteste — in Ansehung der Bevölkerungszahl zur Deckung des Bedarfes nötige — Boden noch mit voller Einbringung der tatsächlich aufzuwendenden Kosten bearbeitet werden kann. Die Besitzer aller besseren Böden beziehen dann eine Rente, die — wie bereits angedeutet wurde — als Differentialgewinn gedacht werden muß. Der Produktionsfaktor Arbeitskraft wird nach den Regeln der ursächlich gedachten Preistheorie entschädigt. Der natürliche Preis der Arbeitskraft „ist derjenige Preis, welcher nötig ist, die Arbeiter in den Stand zu setzen, einen wie den anderen sich zu erhalten und ihr Geschlecht fortzupflanzen ohne Vermehrung oder Verminderung". Wird der Lohn über dieses so bestimmte Existenzminimum erhöht, so steigt die Heiratsziffer und damit auch die Ziffer der Geburten. Die dadurch veranlaßte Zunahme des Angebotes an Arbeitskraft drückt den Lohn wieder herunter, bis das Existenzminimum wieder erreicht ist. Umgekehrt würde eine Senkung des Marktlohnes unter den natürlichen Preis der Arbeitskraft die Vermehrung der Menschen hemmen, bis der Lohn wieder auf die Höhe des Existenzminimums gestiegen ist. Dieser Lehre hat FERDINAND LASSALLE (1825—1864) später den Namen „ehernes Lohngesetz" gegeben. Die Lösung des Verteilungsproblems, die in diesen Überlegungen zum Ausdruck kommt, zeigt deutlich die Denkweise DAVID RICARDO'S. Er setzt abgezogene Größenvor-

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Stellungen so zueinander in Beziehung, als ob es sich um zeitlose Umdispositionen handelt. In der wirtschaftlichen Wirklichkeit vollziehen sich aber die von RICARDO angegebenen Vorgänge in der Zeit. Und der Zeitablauf erscheint jedem unvoreingenommenen Beobachter als ein wesentliches Glied in der Kette der Zusammenhänge. Zwischen der Zunahme der Geburtenziffer, die dadurch veranlaßt werden soll, daß der Arbeitslohn über das Existenzminimum steigt, und der Erhöhung des Angebotes an Arbeitskraft, die den Lohn wieder auf das Existenzminimum herabdrücken soll, liegen mindestens 15—20 Jahre. In dieser Zeit kann vieles geschehen. Insbesondere können sich die technischen Bedingungen der Produktion verbessern. Diese Möglichkeiten beachtet DAVID RICARDO nicht. Infolgedessen beurteilt er — gestützt auf die abgezogenen Gedanken der Verteilungslehre — die Möglichkeiten einer nachhaltigen Steigerung der Arbeitslöhne sehr pessimistisch. In diesem Pessimismus ist einer der wichtigsten Unterschiede zwischen der Lehre DAVID RICARDO'S und den Auffassungen ADAM SMITH'S zu erblicken. Es muß allerdings darauf hingewiesen werden, daß in der Denkweise David Ricardo's ein notwendiger Zusammenhang der Verteilung des Arbeitsergebnisses auf Lohn, Rente und Zins besteht. Der Grundrente kommt dabei die größte Bedeutung zu. Wenn bei Zunahme der Menschenzahl schlechterer Boden unter den Pflug genommen werden muß, steigt der Preis aller landwirtschaftlichen Erzeugnisse und mit ihm die Grundrente, die von den Eigentümern besserer, ertragreicherer Böden bezogen werden kann. Zwar wird auch der Lohn in Geld gerechnet steigen. Die wirkliche Lage der Arbeiter wird sich jedoch — nach Meinung Ricardo's — verschlechtern, wenn die Grundrente bei zunehmender Inanspruchnahme schlechteren Bodens steigt. Ricardo beurteilt also die Entwicklung der Arbeitslöhne pessimistisch, weil auf den Lohn nur ein verhältnismäßig kleinerer Teil des Arbeitsergebnisses entfällt, wenn die Grundrente steigt.

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Sehr nachhaltig hat DAVID RICARDO die Lehre vom Geld beeinflußt. Daß er sidh so eingehend mit Fragen der Geldlehre beschäftigt hat, hängt mit den Ordnungsaufgaben zusammen, die die wirtschaftliche Entwicklung der Zeit stellte. Während der napoleonischen Kriege war das englische Geldwesen in Unordnung geraten. Die Bank von England wurde durch die wachsenden Schwierigkeiten im zwischenstaatlichen Wirtschaftsverkehr im Jahre 1797 gezwungen, ihre Barzahlungen, d. h. die Umwandlung ihrer Noten in Goldgeld einzustellen. Die Wechsel auf London wurden in den folgenden Jahren ohne Bezug auf Gold bewertet. Die Kurse sanken beträchtlich. Diese Erscheinung wurde verschiedenartig erklärt. Eine Gruppe, deren geldtheoretische Ansichten später von THOMAS TOOKE (1774 bis 1858) und WILLIAM NEWMARCH (1820—1882) wissenschaftlich gestützt wurden, führte die Wertminderung der englischen Valuta und die im Lande selbst zu beobachtende Steigerung der Warenpreise auf Schwierigkeiten im zwischenstaatlichen Güteraustausch zurück, erklärte also die internationale Entwertung des englischen Pfundes als eine Auswirkung der kriegsbedingten Steigerung der Warenpreise. RICARDO behauptete demgegenüber, daß die Schwierigkeiten im Geldwesen selbst ihre Ursache hätten. Im Anschluß an Gedanken von DAVID HUME (1711—1776) entwickelte DAVID RICARDO die Quantitätstheorie des Geldes weiter, durch die die allgemeine Steigerung der Warenpreise auf eine inflationistische Vergrößerung des Geldumlaufes zurückgeführt wird. Aus dieser Erklärung der im auswärtigen Handel und in der inländischen Preisentwicklung zu beobachtenden Schwierigkeiten ergab sich, daß sie nur durch eine verhältnismäßige Knapphaltung der wirksamen Geldmenge überwunden werden konnten. Mit diesen Gedanken hat RICARDO nicht nur zu seinen Lebzeiten einen besonderen Beitrag zur Gesundung des englischen Geldwesens geleistet. Sie haben nach Jahrzehnten noch ihren Niederschlag in der PEELschen Bankakte (1844) gefunden. Hatte doch RICARDO behauptet, daß bei freiem Gebrauch des Goldes als Zahlmittel niemals ein dauerndes

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Ungleichgewicht der Handelsbilanzen eintreten könne, weil jede internationale Abweichung der Preisspiegel, die ein Ungleichgewicht der Handelsbilanzen zur Folge haben könnte, durch einen internationalen Ausgleich der monetär verwendbaren Goldvorräte überwunden würde. RICARDO hat damit einem Gedanken, der schon bei DAVID HUME (1711—1776) anklingt, einen systematisch bestimmten Ort in seiner Gcldlehre gegeben, einem Gedanken, der später geradezu als der Gedanke des „Goldautomatismus" bezeichnet worden ist. DAVID RICARDO hat sich nicht nur bemüht, den Ausgleich der Handelsbilanzen bei freiem zwischenstaatlichen Goldverkehr zu erklären — durch eine Lehre, die später von GUSTAV CASSEL (1866—1945) zur Kaufkraftparitätentheorie erweitert worden ist — er hat auch versucht, die inneren Vorgänge dieses Bilanzausgleiches im Einzelnen zu beschreiben. Während noch ADAM SMITH angenommen hatte, daß ein Gut nur dann Gegenstand des internationalen Handels werden könnte, wenn es mit absolut niedrigeren Kosten als im jeweiligen Partnerlande hergestellt werden könnte, machte RICARDO darauf aufmerksam, daß es weniger auf den absoluten Kostenvorsprung ankommt, als auf die verhältnismäßige Höhe der Herstellungskosten, mit denen zwei oder mehrere Güter im eigenen Lande und in einem Partnerlande auf den Markt gebracht werden könnten. Der Vorteil, den der Außenhandel einem Lande bringen kann, reicht also über die absoluten Kostenvorsprünge oder Kostenbenachteiligungen, die bei der Herstellung einzelner Güter auftreten können, hinaus. Auch ein Erzeugnis, das im Partnerlande vielleicht mit absolut höheren Kosten als im eigenen Lande hergestellt wird, kann mit Vorteil eingeführt werden, wenn die als Gegenlieferung ausgeführten Güter im Partnerlande einen verhältnismäßig höheren Wert haben. Die „Theorie der komparativen Kosten" versucht also nachzuweisen, daß es im zwischenstaatlichen Güteraustausch weder eine absolute Überlegenheit eines Landes noch eine absolute Unterlegenheit eines anderen Landes gebe. Bestimmend für den Zwischenstaat-

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liehen Handel und damit auch für das Gleichgewicht zwischen Einfuhr und Ausfuhr sind — bei gleichem allgemeinen Preisstand — die Verhältnisse, die zwischen den Herstellungskosten verschiedener Güter in den einzelnen, am Welthandel beteiligten Ländern bestehen. Der pessimistische Unterton der Ricardianischen Lohntheorie ist sehr verstärkt worden durch die Bevölkerungslehre von ROBERT MALTHUS (1766—1834), die Aussagen über die Veränderungen der Bevölkerungszahl, also gleichsam über die „Produktion" der in der klassischen Nationalökonomie — insbesondere von DAVID RICARDO — als Ware angesehenen Arbeitskraft macht. Die Bevölkerungszahl — so meinte ROBERT MALTHUS, der sich als anglikanischer Geistlicher grundsätzlich gegen den leichtfertigen Optimismus der Aufklärungsphilosophie wandte — habe immer die Tendenz gegen den Nahrungsspielraum anzudrücken. Ihre natürliche Vermehrungsfähigkeit verlaufe in geometrischer Progression, während die Gewinnung landwirtschaftlicher Erzeugnisse nur in arithmetischer Progression gesteigert werden könne. Die landwirtschaftliche Gütergewinnung stünde allgemein unter der Herrschaft des Gesetzes vom abnehmenden Ertragszuwachs, welches besagt, daß zusätzliche Aufwendungen an Arbeit und Kapital je Einheit der Bodenfläche von einem bestimmten Punkte, den man als das Ertragsoptimum bezeichnen kann, an zu verhältnismäßig geringeren Steigerungen der Erträgnisse, also zu abnehmenden Zuwachsquoten führen würden. Wegen dieses Widerspruches zwischen der Vermehrungsfähigkeit der Bevölkerung und der Möglichkeit, die Erträgnisse der Landwirtschaft zu steigern, würde — so hatte schon RICARDO angenommen, — der Arbeitslohn auf die Dauer nie über das Existenzminimum steigen können. Jede Steigerung des Lohnes über das Existenzminimum würde die Bevölkerungszahl vergrößern. Sänke der Lohn unter das Existenzminimum, so sorgten Not und Elend dafür, daß die Menschenzahl dem Nahrungsspielraum wieder angepaßt würde.

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Wenn man den eigentlichen Sinn der Malthusischen Überlegungen verstehen will, so muß man bedenken, in welcher geistigen Lage sie angestellt worden sind. Der Optimismus der Aufklärungsphilosophie, der sowohl bei liberalen wie bei sozialistischen Denkern die Hoffnung begründet hatte, daß die Ausbreitung des Wissens und die Entwicklung vernünftiger Formen des menschlichen Zusammenlebens zu glückhaften Umständen menschlichen Daseins führen müsse, rief Widerspruch bei ROBERT MALTHUS wach. Unmittelbarer Anlaß des ersten Entwurfes der Bevölkerungslchrc war die Absicht, sich mit der optimistischen Konstruktion einer anarchistischen Lebensordnung durch WILLIAM GODWIN (1756—1836) auseinanderzusetzen. MALTHUS stellte dem Menschenbild des aufklärerischen Rationalismus ein Menschenbild entgegen, das auf geschichtlichen Erfahrungen beruhte. Vielleicht kann man auch sagen, das ihn das Menschenbild der Bibel dazu veranlaßt hat, dem aufklärerischen Optimismus eines GODWIN entgegenzutreten. Mit diesem Hinweis soll das von MALTHUS entwickelte „Bevölkerungsgesetz" keineswegs anerkannt werden. Geschichtliche Erfahrungen der letzten 150 Jahre haben bestätigt, daß der von MALTHUS angenommene gesetzmäßige Zusammenhang zwischen Nahrungsspielraum und Volksvermehrung nicht besteht. Es besteht auch nicht — wie KARL MARX (1818—1883) behauptete — für die Marktwirtschaft, in der untcrnehmungsweise gcwirtschaftct und an abhängig tätige Menschen Lohn gezahlt wird. Einmal hat sich nämlich gezeigt, daß veränderte technische Bedingungen es ermöglichen, die Erträgnisse des Landbaues erheblich zu steigern, und zwar nicht nur absolut, sondern auch im Verhältnis zu den Aufwendungen. Das Gesetz vom abnehmenden Ertragszuwachs gilt also nur unter der Bedingung „rebus sic stantibus". Auf der anderen Seite hat sich herausgestellt, daß auch unter der Bedingung der Lohnarbeit die Volksvermehrung nicht jeder Ausweitung des Nahrungsspielraumes folgt. Die Lebenshaltung der Lohnempfänger ist in den hochentwickelten Industriestaaten Europas und Amerikas bedeu-

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IV. Das kausale Denken in der Wirtschaftslehre

tend verbessert worden. Warum sollten auch für abhängig Tätige, die Lohn und Gehalt beziehen, grundsätzlich andere Bedingungen gelten als für diejenigen, die selbständig wirtschaften? Die Frage der Übervölkerung, besser wäre es zu sagen: die Frage nach dem Bevölkerungsoptimum wird unter den Bedingungen der neuzeitlichen Industriewirtschaft ganz anders beantwortet, als es zu Lebzeiten von ROBERT MALTHUS geschehen konnte. ROBERT MALTHUS hat sich auch mit den grundsätzlichen Problemen der "Wirtschaftstheorie auseinandergesetzt. Er tat das von einer anderen Erkenntnishaltung aus, als sie bei DAVID RICARDO zu finden ist. RICARDO'S Theorie ist eine abgezogene Lehre von der Verteilung der Güter. Er beschreibt diese Verteilung in abgezogenen Rechenvorgängen. MALTHUS untersucht — auch in seiner allgemeinen Theorie — das Verhältnis von Mensch und Wohlstand. So kommt er dazu, eine Theorie der wirtschaftlichen Entfaltung zu entwerfen, die sehr viel wirklichkeitsnäher ist, als alles, was RICARDO über den Zusammenhang der Rechengrößen in der Marktwirtschaft gesagt hat. MALTHUS fragt hier nicht nur nach den Kräften, die die Bildung des Reichtums — heute würden wir sagen: des Wachstums der Wirtschaft fördern, sondern er untersucht auch die Bedingungen, unter denen es zu Störungen im Gesamtzusammcnhang der Wirtschaft, in den Entsprechungsverhältnissen des wirtschaftlichen Ordnungsgefüges kommen kann. Für die Entwicklung der Wirtschaftstheorie ist es von entscheidender Bedeutung gewesen, daß RICARDO'S Lehren in das Bewußtsein der Öffentlichkeit eingedrungen sind und nicht die Gedanken von ROBERT MALTHUS. Erst die neueste Theorie hat die Fragestellungen wieder aufgenommen, die bei MALTHUS in Ansätzen zu finden sind. Die bei DAVID RICARDO fehlende Zinscrklärung hat NASSAU WILLIAM SENIOR (1790—1864) durch die Abstinenztheorie zu geben versucht. Darnach ist der Zins als eine Entschädigung dafür anzusehen, daß der sparende Kapitaleigner den unmittelbaren Verbrauch seiner Geldmittel aufschiebt. Der Zins gilt also als eine Prämie für

3. Die sogenannte „klassische Schule"

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Konsumverzicht. Diese Erklärung des Zinses sagt nichts darüber, woher eigentlich die Mittel stammen, die dem Darlehnsnehmer die Möglichkeit geben, Zins zu zahlen. Der Hinweis auf den Genußaufschub als Grund für die vom Sparer erhobene Zinsforderung, ist der ursächlich gedachten Theorie der klassischen Schule systemfremd. Der letzte große Vertreter der englischen klassischen Schule, JOHN STUART MILL (1806—1873), faßte die ökonomischen Gedanken seiner Zeit in einem ebenso eindrucksvollen wie differenzierten System zusammen. Kennzeichnend für das selbstkritisch strenge geistige Ringen dieses auch als Philosophen bedeutenden Mannes ist die Tatsache, daß er die zunächst ebenso von ihm wie von seinem Vater JAMES MILL (1773—1836) anerkannte Lohnfondstheorie, wonach die Höhe des Arbeitslohnes durch das für den Unterhalt der Arbeiter verfügbare Kapital, den „Lohnfonds", und die Zahl der Beschäftigung suchenden Arbeiter bestimmt sei, später widerrufen hat. Die Beobachtung gesellschaftlicher Entwicklungen veranlaßte ihn, die Möglichkeit, echte Gesetze der Verteilung aufzustellen, skeptisch zu beurteilen. Er kam zu dem Ergebnis, daß die Verteilung der Güter wesentlich durch gesellschaftliche Tatbestände, gesellschaftliche Gewohnheiten und gesellschaftliche Machtverteilung bestimmt sei. Bei grundsätzlicher Bejahung des Liberalismus wird so das Tor zu sozialen Reformen geöffnet. JOHN STUART MILL selbst empfiehlt — offenbar unter dem Einfluß der beginnenden sozialistischen Gesellschaftskritik, insbesondere unter dem Einfluß der Gedanken SAINT-SIMON'S — korrigierende Maßnahmen sozialpolitischer Art, wahrend dem substanzgebundcncn Denken der klassischen Ökonomie an sich die Forderung völliger Wirtschaftsfreiheit im inneren wie im zwischenstaatlichen Wirtschaftsverkehr entspricht. Die bei JOHN STUART MILL sich anbahnende Berücksichtigung geschichtlich gegebener Bedingungen des gesellschaftlichen Lebens, der Menschen erschüttert die Absolutheit des substanzgcbundencn Denkens. JOHN STUART MILL warnt davor, Koalitionen von Arbeitern gesetzlich zu verbieten. Wenn auch die Arbeiter

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IV. Das kausale Denken in der "Wirtschaftslehre

nur unter bestimmten Umständen durch Zusammenschlüsse ihre Lage zu verbessern imstande seien, sei es doch „ein großer Irrtum, die Gewerkschaften oder die umfassenden Arbeitseinstellungen an sich und schlechthin zu verurteilen". In einigen Fällen hält MILL positive Eingriffe des Staates für notwendig, so zum Schütze von Kindern und Jugendlichen und zur Regelung der allgemein gültigen Arbeitszeiten. LITERATUR Smith, A.: Theory of moral sentiments. London 1759 dtsdi. 1949. Smith, A.: An Inquiry into the nature and causes of the wealth of nations. London 1776, dtsdi. zuletzt 1933 (Kröners Taschenausgabe). Smith, .: Collected works, vol. 1—5,_ Edinburgh, 1811—1812. Ricardo, D.: On the principles of political economy and taxation. London 1817, erw. Aufl. 1821, dtsdi. zuletzt 1923. Ricardo, D.: The high price of bullion, a proof of the depreciation of bank notes. London 1810, 4. 1819, dtsch. bei Fr. Machlup, Die Goldkernwährung 1925. Malthus, R.: An essay on the principles of population. London 1798, dtsch. zuletzt 1925. Malthus, R.: Principles of political economy. London 1820, dtsch. zuletzt 1910. Mill, James: Elements of political economy, London 1821. Senior, N. W.: An outline of the science of political economy. London 1836. Mill, John Stuart: Principles of political economy, with some applications to social philosophy. London 1848, 7. 1871, dtsch. zuletzt 1924. Hasbach, W.: Untersuchungen über Adam Smith und die Entwicklung det politisdien Ökonomie. 1891. Schüller, R.: Die klassische Nationalökonomie und ihre Gegner, Zur Gesdiidite der Nationalökonomie und Sozialpolitik seit A. Smith, 1895. Cassel, Gustav: Die Produktionskostentheorie Ricardos und die ersten Aufgaben der theoretischen Volkswirtschaftslehre. In: Zeitschr. f. d. ges. Staatsw. Bd. 57. 1901. Budge, S.: Das Malthusisdic Bevölkerungsgesetz und die theoretische Nationalökonomie der letzten Jahrzehnte. 1912. Briefs, G.: Untersuchungen zur klassischen Nationalökonomie. Mit besonderer Berüdcsichtigung des Problems der Durdisdinittsprofitratc, 1915. Diehl, K.: Sozialwissenschaftlichc Erläuterungen zu David Ricardos Grundsätzen der Volkswirtschaft und Besteuerung. 2 Bde., 3. 1921—22. Ammon, A.: Ricardo als Begründer der theoretischen Nationalökonomie. 1924. Machlup, Fr.: Die Goldkernwährang. Eine währungsgeschidulidic und währungstheorcmche Untersuchung. Mit Anhang, 1925. Borchers, H.: Das Abstraktionsproblem bei David Ricardo. 1929. Mitchell, W. C.: Postulates and preconceptions of Ricardian economics. In: Essays in philosophy, ed. by T. V. Smith and W. K. Wright, Chicago 1932. Sieveking, H.: Paradoxien bei Ricardo. In: Studi di storia et diritto in onore di Enrico Basta per il XL anno del suo insegnamento, ßd, III, Mailand, 1939. \X'"ürgler, H.: M a l t h u s als Kritiker der Klassik. Diss. Zürich, Winterthur 1957. I.ipsdiitz, E.: Die theoretischen Grundlagen David Ricardos im Lidite des Briefwechsels, 1957.

4. Die Ausbreitung des klassischen Denkens

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Ausgebreitet worden sind theoretische Haltung und wirtschaftspolitische Forderung der „Klassischen Schule" in Frankreich vornehmlich durch JEAN BAPTISTE SAY (1767 bis 1832) und FREDERIK BASTIAT (1801—1850). SAY hat in seiner Theorie der Absatzwege nachzuweisen versucht, daß eine totale Störung des Wirtschaftsablaufes durch eine allgemeine Überproduktion bei völlig freiem wirtschaftlichen Verkehr undenkbar sei. Denn jedes Warenangebot schließe in sich die Bereitschaft zu einer entsprechenden Warennachfrage. Ja, das Warenangebot sei nichts anderes als der Ausdruck der Warennachfrage. Eine allgemeine Überproduktion sei logisch undenkbar. Auftretende Störungen seien daher immer nur als Teilstörungen aufzufassen. Solche Teilstörungen im Marktgeschehen seien möglich, wenn diejenige Ware, die begehrt wird, nicht geliefert werden könne. In einem solchen Falle müßten andere Warengruppen unabsetzbar bleiben. Bei derartigen Störungen stimmen Angebot und Nachfrage, die der Gesamtgröße nach immer gleich sein müßten, der Qualität nach nicht überein. Die neuere Forschung hat bewiesen, daß SAY'S Gedanken nur für eine haushaltsmäßig betriebene Tauschwirtschaft, in der es Geld als allgemeines Tauschmittcl geben kann, zutreffen. In einer Einkommcnswirtschaft, die unternehmungsweisc betrieben wird, sind jedoch andere Bedingungen maßgebend. Hier kann es Totalstörungen geben, die zweckmäßigerweise nicht als Ergebnis einer allgemeinen Überproduktion, sondern als Ausdruck einer allgemeinen Übcrkapitalisation aufgefaßt werden sollten. Am unbeschwertesten ist die optimistische Erwartung voller sozialer Harmonie bei freier Auswirkung des wirtschaftlichen Selbstinteresses durch FREDERIK BASTIAT ausgedrückt worden. In naiver Weise wurde der Gedanke der Harmonie, des vollständigen Gleichgewichtes aus den Gesetzen der äußeren Natur, insbesondere der Mechanik, auf die „Gesetze" des Wirtschaftslebens übertragen. Kein Wun4

Geschichte der Volkswirtschaftslehre

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IV. Das kausale Denken in der Wirtschaftslehre

der, daß nicht nur FERDINAND LASSALLE diese Harmonielehre als „Fortschritt der Verlogenheit" verspottete. Auch die englischen Ökonomen übten an BASTIAT'S geistiger Unselbständigkeit Kritik. Anlaß bot dazu vor allem seine Rentenlehre. Leugnete doch BASTIAT einfach, daß es eine Monopolrente oder auch eine Differentialrente zugunsten der Bodenbesitzer geben könne. Bei freiem Wettbewerb würden die Preise aller Erzeugnisse nie die Herstellungskosten übersteigen. Dieser Satz gelte auch für Bodencrzeugnisse. Sehr viel ernsthafter war die Kritik, die HENRY CHARLES CAREY (1793—1879) in den Vereinigten Staaten an der Ricardianischen Grundrentenlehre übte. CAREY, der an sich im Geiste der Klassischen Theorie dachte, ging von der in neuerschlossenen Siedlungsgebieten zu machenden Beobachtung aus, daß die Kolonisten zuerst den leichter zu bearbeitenden, aber minderwertigeren Boden unter den Pflug genommen und sich erst später, als sie besser mit Produktionsmitteln ausgerüstet waren, den ergiebigeren, schwereren Böden zugewandt hätten. Er zog daraus die Folgerung, daß es eine mit der zunehmenden Bevölkerungsdichte steigende Differentialrente für Grundeigentümer nicht geben könne. Das Einkommen der Grundbesitzer sei vielmehr als Kapitalgewinn anzusehen. Im Gegensatz zu RICARDO beurteilte CAREY die Aussichten der wirtschaftlichen Entwicklung durchaus optimistisch. Die im Laufe der Entwicklung stets besser werdende Kapitalausstattung würde auch die Urproduktion verhältnismäßig ergiebiger werden lassen. In Deutschland ist die SMiTH'sche Lehre übernommen und weiter entwickelt worden von CHRISTIAN JACOÜ KRAUS (1758—1807), GEORG SARTORIUS ·— später SARTORIUS, FREIHERR v. WALTERSHAUSEN — (1766—1828) und AUGUST FERDINAND LUEDER (1760—1819). Diese deutschen Schriftsteller bemühten sich, die SMiTH'sche Lehre durch Beobachtungen, die sie in verschiedenen Ländern, insbesondere aber im eigenen Wirtschaftsraum gemacht hatten, zu beleben und zu ergänzen. Durch das klassische Denken

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ist auch KARL HEINRICH RAU (1792—1870) maßgebend bestimmt worden. Bei ihm sind allerdings auch Einflüsse des Kameralismus zu spüren. Das kommt schon in der Unterscheidung der allgemeinen Volkswirtschaftslehre von der Volkswirtschaftspolitik zum Ausdruck, die den besonderen Verhältnissen der Länder und Völker, geschichtlich gegebenen Tatbeständen angepaßt werden müsse. Die von RAU vorgenommene Gliederung der Volkswirtschaftslehre in Allgemeine Volkswirtschaftslehre, Volkswirtschaftspolitik und Finanzwissenschaft hat die lehrmäßige Behandlung des Stoffes bis in die Gegenwart hinein beeinflußt. Als wirtschaftspolitischer Propagandist klassischer Lehren ist in Deutschland JOHN PRINCE-SMITH (1809—1874) aufgetreten. Er kann als der führende Kopf des wirtschaftspolitischen Liberalismus in Deutschland angesehen werden. LITERATUR Say, J. B.: Traite d'economic politiquc. Paris 1803, dtsch. 1845—1846. Rau, Karl Heinrich: Lehrbuch der politischen Ökonomie. Bd. l—3, 1825 ff. Bastiat, F.: L es harmonies economiques. Paris 1850, dtsch. 1850. Carey, H. Ch.: Principles of social science. 3 Bde., Philadelphia 1858—1839, dtsch. 1863—1864. Prince-Smith, John: Weltpolitische Bedeutung der Handelsfreiheit. 1860. Cairnes, J. L·.: Some leading principles of political economy newly expounded. London 1885.

V. Das anschauliche Denken in der Wirtschaftslehre: Die Anfänge der theoretischen Forschung in Deutschland Oft werden auch die deutschen Forscher JOHANN HEINRICH VON THÜNEN (1783—1850) und FRIEDRICH WILHELM BENEDIKT v. HERMANN (1795—1868) als Vertreter der Klassischen Schule in Deutschland bezeichnet. Das ist nicht richtig. Beide sind durchaus eigenständige Denker gewesen, die sich in ihrer Auffassung der Wirtschaft und damit auch in den philosophischen Grundlagen der Erkenntnis grundsätzlich von den Anhängern der Klassischen Schule, insbesondere von DAVID RICARDO unterscheiden. Beide gehen in ihrem Denken auch von einem anderen Menschenbild aus. Während DAVID RICARDO die Wirtschaft als einen natürlichen, sich gleichsam mechanisch vollziehenden Pro-

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V. Das anschauliche Denken in der Wirtschaftslehre

zeß betrachtet, in dem eine einfache Kausalgesetzlichkeit herrscht, sehen JOHANN HEINRICH VON THÜNEN und FRIEDRICH WILHELM BENEDIKT v. HERMANN die Wirtschaft als eine Gestaltungsaufgabe an, deren Lösung durch Entsprechungsnotwendigkeiten im Zusammenhang der wirtschaftlichen Rechengrößen bestimmt wird. Und während RICARDO die Menschen — sofern sie wirtschaften — als geschichtslos handelnde Wesen denkt, die sich in ihrem wirtschaftlichen Verhalten alle in der gleichen Weise an den Sachen orientieren, sehen die beiden deutschen Forscher sie als zweckmäßig handelnde und darum auch verantwortungsbewußte Wesen. Damit hängt auch zusammen, daß die Abstraktion als Methode der Erkenntnis von ihnen anders gehandhabt wird als von RICARDO. RICARDO ist — höchst naiv — der Meinung, daß seine Abziehungen Beschreibungen der konkreten Wirklichkeit seien. JOHANN HEINRICH VON THÜNEN wendet demgegenüber die Methode der isolierenden Abstraktion an, um die Möglichkeit zu gewinnen, bei einer Vielzahl von wirkenden Faktoren die Bedeutung eines Faktors durch gedankliche Herauslösung der anderen zu erkennen. So fassen die beiden deutschen Forscher die wissenschaftliche Seinsanalyse als eine ganz anders geartete Aufgabe auf, als sie RICARDO bei seiner naturalistischen Wirtschaftsauffassung erscheinen mußte. In die Geschichte des Faches ist JOHANN HEINRICH VON THÜNEN eingegangen als der Entdecker des Gesetzes von der relativen Vorzüglichkeit jedes landwirtschaftlichen Betriebssystems, wie KARL RODBERTUS es sehr präzise formuliert hat. Er gilt als der geniale Begründer der Lehre vom wirtschaftlich richtigen Standort der verschiedenen landwirtschaftlichen Betriebssysteme. Begründet wird diese Lehre durch Überlegungen über die Bedeutung der jeweilig anfallenden Transportkosten. Wird ein einziger Marktort innerhalb eines isoliert gedachten Staates mit völlig ebenem Gelände, das durch keine schiffbaren Wasserläufe unterbrochen wird, angenommen, so müssen sich die einzelnen landwirtschaftlichen Betriebssysteme so um den Marktort konzentrieren, daß abnehmender Intensität der Wirtschaf ts-

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weise jeweils eine größere Entfernung vom Marktort entspricht. Erfordert doch intensivere Wirtschaftsweise verhältnismäßig höhere Kosten je Einheit der Ertragsmenge. Die absoluten Erntemengen steigen natürlich mit zunehmender Intensität der Wirtschaftsweise. Infolgedessen fallen in einem intensiveren Betrieb verhältnismäßig mehr Transportkosten an. Eine Ausnahme von der Regel, daß die Intensität der Wirtschaftsweise mit zunehmender Entfernung vom Marktorte abnimmt, bildet die Forstwirtschaft, die wegen des Gewichtes ihrer Erzeugnisse nahe an den Absatzort herangezogen werden muß. So ergibt sich folgendes Bild:

Im ersten Kreis — nahe beim Marktort — wird freie Wirtschaft betrieben. Der Anbau ist auf die Zufuhr von Dung aus dem Marktort angewiesen. Die Erzeugnisse — Gemüse und feines Obst — vertragen, sofern ihre Qualität nicht gefährdet werden soll, keinen langen Transport. Im zweiten Kreis befindet sich die Forstwirtschaft, deren Erzeugnisse wegen ihres geringen spezifischen Wertes

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V. Das anschauliche Denken in der Wirtschaftslehre

nur über kurze Entfernungen transportiert werden können. Größere Entfernungen würden die Transportkosten zu einer nicht mehr tragbaren Höhe ansteigen lassen. Im dritten Kreis wird Getreide- und Hackfruchtbau in Fruchtwechselwirtschaft betrieben. Sie stellt die intensivste Form des Ackerbaus dar. Ist doch in ihr die reine Brache abgeschafft. Im vierten Kreis wird Getreidebau im Rahmen der sog. Koppelwirtschaft betrieben. Bei diesem Wirtschaftssystem werden drei Schläge mit verschiedenem Getreide bebaut. Drei Schläge dienen im Wechsel mit den Getreideschlägen als Weide und nur ein Schlag liegt jeweils brach. Die Wirtschaftsweise ist darauf abgestellt, den hofeigenen Dünger so gut wie möglich auszunutzen. Im fünften Kreis wird das Land nach dem Muster der sog. Dreifelderwirtschaft genutzt. Hier liegt jeweils ein Drittel der Ackerfläche brach. Sommergetreide folgt auf Wintergctreide. Die im Wechsel mit dem Ackerbau betriebene Weidenutzung fehlt. Der sechste Kreis gehört der Viehwirtschaft, deren Ziel es ist, Fleisch oder Wolle zu gewinnen. Die Arbeitsintensität ist bei dieser Nutzung des Bodens am geringsten.

Konzentrisch legen sich diese Kreise um die Stadt, die den einzigen Absatzort darstellt, sofern die Landschaft eben ist und der Boden überall die gleiche Güte hat. Diese THÜNEN'schen Kreise sind schon früh als „epochemachende Fortschritte der exakten Wissenschaft" den Isothermen ALEXANDER v. HUMBOLDT'S (1769—1859) an die Seite gestellt worden. Mit der THÜNEN'schen Lehre vom Standort der verschiedenen landwirtschaftlichen Betriebssysteme ist eine besondere Lehre von der Grundrente aufs engste verbunden. In dieser Lehre wird die Grundrente als Differentialeinkommen mit der Entfernung des landwirtschaftlichen Betriebes vom Marktort in Beziehung gebracht. Je größer die Entfernung vom Marktorte wird, um so kleiner wird die er-

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zielbare Grundrente, bis sie beim „Grcnzbetrieb", dessen Erntemengen gerade noch gebraucht werden, um den Bedarf der Bewohner des Marktortes zu decken, völlig verschwindet. Sie wird durch die anfallenden Transportkosten aufgesogen. Der Preis des Getreides muß aber so hoch sein, daß die Produktionskosten des „Grcnzbetricbes" noch gedeckt werden können. Auf keinen Fall darf die Landrente desjenigen Gutes, „welchem die Produktion und Lieferung des Getreides nach dem Markt am kostspieligsten wird, dessen Anbau aber zur Befriedigung des Getreidcbedarfes noch notwendig ist, unter Null" herabsinken. Die in der neueren Theorie sehr verfeinerte Grenzkostenanalyse ist durch diese Gedankengänge JOHANN HEINRICH VON THÜNEN'S wesentlich gefördert worden. Für seine größte wissenschaftliche Leistung hat VON THÜNEN selbst seine Lohntheorie gehalten, seine Lehre vom „naturgemäßen" Arbeitslohn, der durch die Formel | a - p ausgedrückt wird. Gemeint ist damit ein Lohn, der die mittlere Proportionalzahl zwischen den notwendigen Bedürfnissen des Arbeiters und dem "Werte seines Arbeitierzeugnisses darstellt. Der Lohn soll den lebensnotwendigen Unterhalt in demselben Maße übersteigen wie der Wert des Erzeugnisses den Lohn übersteigt. Man verkennt die erkenntnismäßige Bedeutung dieses Ausdruckes, wenn man ihn nur als eine sozialpolitische Forderung, als eine sozialethische Zielvorstellung verstünde. Wir haben es hier mit einem theoretisch bedeutungsvollen Ordnungsgedanken zu tun, d. h. mit einem Gedanken, der die Möglichkeit bietet, verwickelte Entsprechungsverhältnisse im Rechenzusammenhange der Wirtschaft aufzudecken. Die Entsprechungsverhältnisse im Rechcnzusammenhang der Wirtschaft zu verstehen, ist ohne Zweifel eine Angelegenheit theoretischen Denkens. Allerdings wird dann Wesen und Aufgabe der ökonomischen Theorie anders verstanden, als es etwa bei DAVID RICARDO geschehen ist. Der Ausdruck ]'a-p ist das Ergebnis makroökonomischon Denkens. Infolgedessen kann er nicht als ein Instrument angesehen werden, das geeignet

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ist, die Relationen zwischen den einzelnen Lohnsätzen festzulegen. Er ist auf gesamtwirtschaftliche Zusammenhänge bezogen und kann als ein Maß für die sinnvolle und d. h. für die den wirtschaftlichen Entsprechungsverhältnissen angepaßte Entwicklung des Arbeitslohnes bei steigender Ergiebigkeit der Arbeit gelten. Insofern stellen die lohntheoretischen Bemühungen JOHANN HEINRICH VON THÜNEN'S eine Leistung dar, die methodisch dem theoretischen Denken der neuesten Wachstumstheorie entspricht. FRIEDRICH WILHELM BENEDIKT v. HERMANN nennt neben dem Eigennutz als Triebfeder des wirtschaftlichen Handelns auch den Gemeinsinn. Die Prcislehre entwickelt er als einen funktionalen Zusammenhang von Bestimmungsgründen auf der Seite der Nachfrage — er weist vor allem auf die Schichtung der Bedürfnisse und auf die Verteilung der Kaufkraft hin — und des Angebotes, für das der Zusammenhang der Kosten wesentlich maßgebend sei. Besondere Wirkung hat seine Kritik der Lohnfondstheorie gehabt, die sich auf dynamische Vorstellungen gründet. Er macht darauf aufmerksam, daß die Löhne nicht aus einem begrenzten Kapitalvorrat gezahlt werden, sondern letztlich aus dem Einkommen der Verbraucher, das selbst wieder auf ihre wirtschaftlichen Leistungen zurückzuführen ist. In der sozialen Frage vertritt er zwar den Gedanken, daß das Kapital ein selbständiger Faktor in der Produktion sei. Mit der gleichen Deutlichkeit vertritt er aber auch das Recht des Arbeiters auf freie Selbstbestimmung. FR. W. B. v. HERMANN und J. H. v. THÜNEN stehen den Fragestellungen der neueren Theorie sehr viel näher als etwa RICARDO. Das gleiche gilt von zwei anderen deutschen Nationalökonomen, die in diesem Zusammenhange genannt werden können: KARL FRIEDRICH NEBENIUS (1785 bis 1857) und FELIX THEODOR v. BERNHARDI (1802 bis 1885)1). K. FR. NEBENIUS, der als badischer Verwaltungs!) Geburts- und Sterbejahr werden verschieden angegeben. Carl Brinkmann gibt in der Neuen deutschen Biographie, Bd. II, Berlin 1955 als Geburtsj a h r 1803 und als Sterbejahr 1887. Der Sohn Friedrich v. Bernhard! nennt die oben angegebenen Jahre.

Die Anfänge der theoretischen Forschung

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beamter auf die Schaffung einer badischen Gemeindeordnung, auf die Ablösung der bäuerlichen Lasten und auf den frühzeitigen Beginn des Eisenbahnbaues einen großen Einfluß gehabt hat, zeigt in seinem bedeutenden Buch „Über die Natur und die Ursachen des öffentlichen Kredits" (1829) in scharfsinniger Weise, welche Zusammenhänge zwischen Geldmarkt, Kapitalmarkt und dem Staatskredit bestehen. Dabei wird von ihm der Versuch gemacht, die Verschuldung des Staates in die allgemeinen Zusammenhänge des Wirtschaftslebens, ja der wirtschaftlichen Entwicklung hineinzustellen. F. TH. v. BERNHARDT setzte sich in seinem einzigen ökonomischen Buch „Versuch einer Kritik der Gründe, die für großes und kleines Grundeigentum angeführt werden", kritisch mit den entscheidenden Gedanken DAVID RICARDO'S auseinander. Ausgehend von dem Gedanken, daß die Wirtschaft stets als Ausdruck des gesellschaftlichen Ordnungswillens im Ganzen angesehen werden müsse, entwickelt er in der Reinertragslehre, in der Preislehrc, in der Lehre vom Kapitalprofit, der Lehre vom Arbeitslohn und der Lehre vom Vorgang der Verteilung überhaupt Auffassungen, die noch heute Beachtung verdienen. Genannt werden könnte hier schließlich auch KARL EUGEN DÜHRING (1833—1921), der seine wirtschaftstheoretischen Konzeptionen auf ein anderes Menschenbild gründete, als es den klassischen Gedanken und den gegen sie gerichteten sozialistischen Einwendungen entsprach. EUGEN DÜHRING meinte, daß der Mensch mit der ganzen Fülle seines Wesens in Betracht gezogen werden müsse, wenn man etwas zureichendes über die Wirtschaft aussagen wolle. LITERATUR Thiinen, J. H. von: Der isolierte Staat in Bezug auf Landwirtschaft und Nationalökonomie. Teil 1—3, 1826—1863. Nebenius, K. Fr.: Der öffentliche Kredit, dargestellt in der Geschichte und in den Folgen der Finanzoperationen der großen europäischen Staaten . . . 1820, 2. Aufl., 1. allg. (einziger) Teil u. d. T.: Über die Natur und die Ursachen des öffentlichen Kredits, Staatsanleihen, die Tilgung der öffentlichen Schulden, den Handel mit Staatspapieren und Wechselwirkung zwischen den Kreditoperationen der Staaten und dem ökonomischen und politischen Zustande der Länder, 1829.

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Die sozialistische Kritik

Hermann, Fr. W. B. v.: Staatswirtsdiaftliche Untersuchungen über Vermögen, Wirtschaft, Produktivität der Arbeiten, Kapital, Preis, Gewinn, Einkommen und Verbrauch. 1832, 2. 1870, 3. 1924. Bernhard!, Th. v.: Versuch einer Kritik der Gründe, die für großes und kleines Grundeigentum angeführt werden. Petersburg 1849, 2. 1924. Schumacher, Hermann, Johann Heinrich von Thünen: Ein Forscherleben. 1868, 2. 1883. Dühring, E.: Cursus der National- und Sozialökonomie nebst einer Anleitung zum Studium und zur Beurteilung von Volkswirtschaftslehre und Socialismus. 1873, 3. 1892. Weinberger, O.: Friedrich Benedikt Wilhelm Hermann. Zeitschr. f. d. ges. Staatsw., Bd. 79, 1925. Harras, H.: Theodor v. Bernhard! und die politische Ökonomie. Schm. Jb., Bd. 60, 1936. Carell, E.: Johann Heinrich von Thünen und die moderne Wirtschaftstheorie, Zeitschr. f. d. ges. Staatsw. Bd. 106, 1950. Wendt, S.: Die erkenntnistheoretische Bedeutung der Thünenschen Lohnformel. In: Johann Heinrich von Thünen, hrsg. von Günther Franz, Sonderheft d. Zeitschr. f. Agrargeschichte und Agrarsoziologie, 1958. Schneider, E.: Johann Heinrich von Thünen und die Wirtschaftstheorie der Gegenwart. In: Probleme des räumlichen Gleichgewichtes der Wirtschaft, Sehr. d. Vereins f. Soz. Pol. N. F. 14, 1959.

VI. Die sozialistische Kritik 1. Utopien und Staatsromane Der wissenschaftlichen Kritik an bestehenden oder sich entwickelnden Zuständen des wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Zusammenlebens der Menschen gingen zeitlich romanhafte Entwürfe einer idealen Ordnung von Staat und Wirtschaft voraus. Sie werden hier erwähnt, weil von ihnen zeitweilig eine bedeutende geistige Wirkung ausgegangen ist — und zwar nicht nur auf das Bewußtsein der Öffentlichkeit, sondern auch auf die Denkansätze wissenschaftlicher Erforscher des Gemeinschaftslebens. Vorbild aller dieser Staatsromane war die „Utopia" des THOMAS MORUS (1478—1535): „De optima statu rei publicae deque nova insula Utopia." Man kann die Staatsromane des 16., 17. und 18. Jahrhunderts in zwei Gruppen einteilen: in solche, die eine bestimmte Staatsform — Monarchie, Republik usw. — idealisieren und in solche, die eine bestimmte

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Gesellschaftsordnung verherrlichen, etwa ein Bild eines auf Gemeineigentum beruhenden sozialistisch-kommunistischen Staates entwerfen. Die Staatsromanc dieser zweiten Gruppe lehnen sich in Inhalt und Aufbau häufig an PLATO'S „Staat" und an seine „Gesetze" an. Die „Civitas soli" von THOMAS CAMPANELLA (1568—1639) hat Gründung und Aufbau des Jesuitenstaates in Paraguay beeinflußt. In der „Nova Atlantis" geht FRANCIS BACON (1561 bis 1626) weniger auf Fragen einer sozialen Neuordnung ein, als darauf, wie das Leben durch technische Neuerungen erleichtert werden kann. Sein Roman hat zur Gründung zahlreicher wissenschaftlicher Akademien, insbesondere zur Gründung der „Royal Society" in England angeregt. Abgeschlossen worden ist diese Periode optimistischer Staatsromane durch ETIENNE CABET'S (1788—1856) „Voyage en Icarie" und EDWARD BELLAMY'S. (1850—1898) „Rückblick aus dem Jahre 2000". Die grundsätzlich veränderte geistige und gesellschaftliche Situation des 20. Jahrhunderts ist dadurch gekennzeichnet, daß romanhafte Darstellungen der künftigen gesellschaftlichen und politischen Entwicklung durch einen tiefen Pessimismus bestimmt sind. Man hofft nicht mehr auf glückhafte Zustände, sondern man fürchtet Terror und vollständige Unterdrückung der persönlichen Freiheit durch eine allmächtig gewordene Staatsgewalt. Ein Beispiel dafür bietet GEORGE ORWELL, 1984. LITERATUR Morus, Th.: De optima statu rci publicae deque nova insula Utopia. Löwen und Antwerpen 1516, dtsch. 1947. Campanella, T.: Civitas solis. F r a n k f u r t 1623, dtsch. 1789. Bacon, Francis: Nova Atlantis, Fragmcntorum alterum. In: Operum moralium et civilium Tom., cura. et fide Guilielmi Rawley, London 1638. Alle drei genannten Werke dtsch. unter d. Titel: Der utopische Staat, Morus, Utopia, Campanella, Sonnenstaat, Bacon, Neu-Atlantis, hrsg. von Klaus J. Heinrich, Rowohlts Klassiker der Literatur und der Wissenschaft, 1960. Cabet, E.: Voyage en Icarie. Paris 1S42, dtsch. 1847. Mohl, R. v.: Die Staatsromane. Ein Beitrag ?.ur Literatur der Staatswissenschaften. In: Zeitsdir. f. d. ges. Staatsw., 1845, wiedcrabgedr. in: Die Geschichte und Literatur der Staatswissenschaften, Bd. l, I I , 1855. Gothein, E.: Der chrisdich-sociale Staat der Jesuiten in Paraguay. 1883. Bellamy, E.: Looking backward 2000. London, London 1884, dtsch. u. d. Titel: Rückblick ms dem Jahre 2000 auf 1887, 1890.

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Die sozialistische Kritik

Kirchheim, A. v.: Sdilaraffia policica. Geschichte der Dichtungen vom besten Staat, 1892. Kautsky, K.: Die Vorläufer des neueren Sozialismus II: Von Thomas Morus bis zum Vorabend der französischen Revolution. 1895, neue Aufl. 1947. Dietzel, H.: Beiträge zur Geschichte des Sozialismus und Kommunimus, 3. Art. Morus Utopien und Campanellas Sonnenstaat. In: Viertel).sehr. f. Staatsu. Volkswirtschaft, für Lit. u. Gesch. d. Staatsw. aller Länder, Bd. 5, 1897. Voigt, A.: Die sozialen Utopien. 1906. Hertzler, J. D.: History of Utopian thougt. 1923. Quabbe, G.: Das letzte Reich. Wandel und Wesen der Utopie 1933. Harpsfield, N.: The life and death of Sir Thomas Moore. 2. ed., London 1935. Minkowski, H.: Der Sonnenstaat des Th. Campanella. 1934. Orwell, George: Nineteenhundred and eightyfour. London 1949, dtsch. 1950, 6. 1956. Tillich, P.: Die politische Bedeutung der Utopie im Leben der Völker. 1951. Mannheim, K.: Ideologie und Utopie. 3. 1952. Bloch, E.: Das Prinzip Hoffnung. 2 Bde., 1954—55.

2. Der französische Sozialismus

Die kritische Betrachtung der modernen industriewirtschaftlichen Entwicklung, in der unternehmungsweise gewirtschaftet wird, und der ihr entsprechenden individualistisch-liberal bestimmten Wirtschaftstheorie regte sich zuerst in dem damals volkreichsten Lande Europas, in Frankreich. Es mag offenbleiben, wie diese Entwicklung zu erklären ist. Sicher spielte es eine Rolle, daß Frankreich sich als eines der ersten Länder zu einem einheitlich und zentralistisch regierten Staate moderner Prägung entwickelt hat, in dem auch die „Gesellschaft" von der Hauptstadt aus ihre entscheidenden Impulse empfing. Unter dem Einflüsse der Marxisten hat man sich daran gewöhnt, diese in Frankreich sich zuerst entfaltende Richtung der sozialistischen Kritik als utopischen oder voluntaristischen Sozialismus zu bezeichnen, weil die Verwirklichung des durch rationale Überlegungen gewonnenen Ideals sozialistischer Gesellschaftsordnung als eine Angelegenheit politischer Entscheidung als eine Aufgabe des menschlichen Willens oder als eine Sache der Erziehung des sittlichen Bewußtseins der Menschen angesehen wurde. Einer solchen, in die Freiheit der menschlichen Entscheidung gestellten Entwicklung mißtraute KARL MARX.

2. Der französische Sozialismus

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Bei einigen dieser sozialistischen Kritiker, so z. B. bei CLAUDE HENRY DE RENVOY GRAF v. SAINT-SIMON (1760 bis 1825) klingt jedoch schon der Gedanke einer notwendigen Entwicklung der gesellschaftlichen Wirtschaftsweise an, das nach MARX das Kennzeichen wissenschaftlichen Sozialismus ist. Getragen würde die moderne wirtschaftliche Entwicklung von der „Industrie", deren inneres „Prinzip" erst dann verwirklicht sei, wenn jeder seine Fähigkeiten an einem für ihn geeigneten Platz einsetzen könne und eine seinen Leistungen entsprechende Entlohnung finde. Diese Formulierung deutet darauf hin, daß SAINT-SIMON unter „Industrie" nicht nur die technisch hochentwickelte gewerbliche Güterherstellung versteht, sondern jede mit dem Geist der technischen Ratio durchdrungene wirtschaftliche Tätigkeit, aber auch die wissenschaftliche Forschung und die Kunst. Die Entwicklung der „Industrie" in diesem Sinne des Wortes beruhe allein darauf, daß sich als Methode der Erkenntnis das „positive" Denken durchsetze, das nach dem religiösen und dem metaphysischen Zeitalter das dritte Stadium der Entfaltung menschlichen Lebens eröffne. In diesem Stadium komme es darauf an, alle Privilegien und Vorrechte überlieferter Gesellschaftsordnung zu brechen, um den durch das „positive" Denken angeregten schöpferischen Kräften auf allen Gebieten des menschlichen Daseins den Weg zu bahnen. Durch diese Befreiung der schöpferischen Leistungen werde der soziale Friede begründet. Eine solche Ordnung erfordere aber — auf den ersten Blick scheint das dem „positiven" Ansatz des Denkens zu widersprechen — eine neue dem Wohle des Ganzen verpflichtete Moral, ein „neues Christentum". Trotz seiner entwicklungsgeschichtlichen Betrachtung erwartet SAINT-SIMON von dieser geistigen Erneuerung den entscheidenden Anstoß zur Neugestaltung der menschlichen Gesellschaft. SAINT-SIMON kann also nicht als der erste Vertreter einer ökonomischen Geschichtsauffassung angesehen werden. Er hat auch das eigentliche soziale Problem der industriewirtschaftlichen Entwicklung, das durch die Lage der Lohnarbeiterschaft aufgegeben war, noch nicht in den Blick bekommen.

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Die sozialistische Kritik

Um SAINT-SIMON hat sich in seinen letzten Lebensjahren ein Kreis einfallsreicher Männer gesammelt, von denen AUGUSTE COMTE (1798—1857) der bedeutendste war. SAINT AMAND BAZARD (1791—1832) und BARTHELIME PROSPER ENFANTIN (1798—1864), die eigentlichen Schüler SAINT-SIMON'S, radikalisierten die Lehren des Meisters durch scharfe Kritik am Privateigentum und aller gesellschaftlichen Vorrechte, insbesondere des Erbrechtes. Sie gaben der Gruppe den Charakter einer Sekte, die jedoch zerfiel, als die beiden oben genannten Männer, die sie als „peres supremes" leiteten, sich entzweiten, weil ENFANTIN — vielleicht unter dem Einfluß von CHARLES FOURIER — den Gedanken freier Liebe in die Gruppe hineinnehmen wollte. JEAN CHARLES LEONARDSIMONDE DE SISMONDI (1773 bis 1842) hat sich von dem Versuch, die Lehren ADAM SMITH'S weiterzuentwickeln, zu neuen eigenen Fragestellungen durchgerungen. Der freie Wettbewerb fördere wohl die Entfaltung der produktiven Kräfte, führe also zu einer Steigerung der wirtschaftlichen Leistungen, verhindere jedoch die dieser Entfaltung der produktiven Kräfte entsprechende Verteilung der Güter. Die dadurch hervorgerufene Ungleichheit der Einkommensverteilung störe die weitere Entwicklung der Wirtschaft. Wiederkehrende Krisen und Bcschäftigungslosigkeiten seien die Folgen. Es komme nicht nur darauf an, den Reichtum als solchen, gleichsam als eine von den Menschen abgezogene Gütermenge zu betrachten, wenn man seine Bedeutung für die weitere Entwicklung der Wirtschaft erkennen wolle. Man müsse ihn zu dem Wohlbefinden derjenigen Menschen in Beziehung setzen, die ihn hervorgebracht haben. So setzte er der abstrakten und statischen Lehre der Klassiker, die es für möglich hielten, Tatbestände der Wirtschaft als solche, losgelöst von ihren sozialen Bezügen zu begreifen, eine dynamische Betrachtung entgegen, die auf dem Gedanken aufgebaut war, die sozialen Bedingungen des wirtschaftlichen Geschehens, ja der wirtschaftlichen Entwicklung zu verstehen. In dieser dynamischen Betrachtung

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spielt der Gedanke der „Wirtschaftsbilanz", einer Bilanz aller Einnahmen und Ausgaben der Gesellschaft im Ganzen eine besondere Rolle. SIMONDE DE SISMONDI deutet damit einen Gedanken an, der in der neueren makroökonomischen Theorie eine besondere Bedeutung gewonnen hat. Eigentlich sozialistische Maßnahmen, die geeignet gewesen wären, die Probleme zu lösen, mit denen er sich wissenschaftlich auseinandergesetzt hat, hat SIMONDE DE SISMONDI nicht gefordert. Er begnügte sich damit, Eingriffe des Staates zu empfehlen, die das Ziel haben sollten, den wachsenden Reichtum so in die Gesellschaft einzugliedern, daß eine größere Wohlfahrt aller ihrer Glieder gesichert würde. So leiten seine Gedanken von der Konzeption der sog. Klassischen Schule zu Auffassungen der historisch - ethischen Richtung über. Zu den eigenartigsten Persönlichkeiten dieser Gruppe von Sozialisten gehört ohne Zweifel CHARLES FOURIER (1772—1837), dessen geistige Entwicklung dem Psychologen einen dankbaren Gegenstand der Forschung bieten würde. Bestimmte Jugenderlcbnisse im kaufmännischen Geschäftsverkehr, in den er gegen seinen Willen vom Vater als Lehrling hineingestellt worden war, ließen ihn an den sittlichen Grundlagen einer auf freier Konkurrenz beruhenden Wirtschaftsführung zweifeln. Aus diesen Zweifeln erwuchs der Gedanke, die Menschen zu freien Genossenschaften, zu „Phalangen", in denen sich ihr ganzes Leben abspielen sollte, zusammenzuschließen. Diese Genossenschaften sollten als gleichsam wirtschaftlich autarke, sich selbst genügende Gebilde alle Produktionsleistungen umfassen und den Verbrauch, die vernünftige Lebenshaltung aller Genossen ermöglichen. Infolgedessen könnte in ihnen das „Recht auf Arbeit", eine später immer wieder erhobene sozialistische Forderung in vollem Umfange verwirklicht werden, und zwar — wie CHARLES FOURIER meint — ohne jeden Zwang und ohne jede Einengung persönlicher Lcbensgestaltung. Denn jedes Mitglied einer „Phalange" sollte in jedem Augenblick die ihm zusagende Tätigkeit frei wählen können. Bei genügender Größe der Genossenschaften wür-

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Die sozialistische Kritik

den die Wünsche der einzelnen Menschen sich so ergänzen, daß für jede Aufgabe in jedem Augenblick die nötige Anzahl von Kräften bereitstehen würde. Die gleiche Freiheit, jederzeit neu zu wählen, sollte auch die persönlichsten Beziehungen der Menschen untereinander bestimmen. Jeder staatliche Zwang, ja jede rechtliche Bindung, die die persönliche Lebensgestaltung der Menschen auf die Dauer einengen könnte, sollte in dieser genossenschaftlichen Ordnung menschlichen Zusammenlebens vermieden werden. Wie sich unter diesen Bedingungen in Wirtschaft und Gesellschaft Ordnung verwirklichen soll, bleibt das Geheimnis CHARLES FOURIER'S. Genossenschaftssozialistische Gedanken vertrat — allerdings in durchaus nüchterner Form — auch der englische Textilindustrielle ROBERT OWEN (1771—1858). Seine Gedanken, die ganze Volkswirtschaft allmählich mit umfassenden Genossenschaften zu durchdringen, erwiesen sich zwar als utopisch. Trotzdem verdankt ihm das englische Genossenschaftswesen, das sich in Teilgenossenschaften, insbesondere in Konsumgenossenschaften verwirklichte, entscheidende Anregungen. Auch der Versuch, die in abhängiger Stellung arbeitenden Menschen von den schädlichen Auswirkungen einer Krise, die durch eine auf Gold beruhende Währung veranlaßt werden kann, durch die Einführung der National Equality Labour Exchange, einer Art „Arbeitswährung", zu befreien, scheiterte. ROBERT OWEN führte die wiederholt auftretenden Handelskrisen aber nicht nur auf Fehler in der Ordnung des Währungssystems zurück; er sah ihre Ursachen vornehmlich in der Tatsache, daß in der industrialisierten Wirtschaft versäumt worden sei, durch eine den Herstellungsmöglichkeiten entsprechende Verteilung der Erträgnisse alle Glieder der Gesellschaft an dem zunehmenden Reichtum teilnehmen zu lassen. Eine Änderung dieser Verhältnisse erwartete er zeitweilig nur von einer Abschaffung des Privateigentums an den Produktionsmitteln, Praktische Versuche, auf sozialistischkommunistischer Grundlage zu wirtschaften, die unter seiner Leitung in einigen Siedlungen Nord- Amerikas, aber

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auch in Großbritannien vorgenommen worden sind, scheiterten ebenfalls. Die eigentliche Bedeutung ROBERT OWEN'S liegt darin, daß er — gestützt auf seine eigenen Erfahrungen in der erfolgreich geführten Spinnerei in New Lanark — politische Forderungen zur praktischen Soziaircform erhob. Er forderte das Verbot der Kinderarbeit, die gesetzliche Verkürzung der Arbeitszeit, Einführung eines Jahresurlaubs, staatliche Fabrikinspektion, öffentliche Arbeitslosenfürsorge — auch durch geeignete öffentliche Arbeiten — und die Durchführung der allgemeinen Schulpflicht für Kinder bis zu 12 Jahren. Durch diese Forderungen, die er selbst in seinem Betrieb verwirklicht hatte, hat er die moderne Sozialreform in England maßgebend beeinflußt. Ihm gegenüber konnte ja nicht der Einwand erhoben werden, daß er Forderungen stellte, die die Wirtschaftlichkeit der Industrieunternehmungen gefährdeten. Zur wissenschaftlichen Kritik der industriewirtschaftlichen Entwicklung hat JEAN JOSEPH CHARLES Louis BLANC (1811 oder 13—1882) wenig beigetragen. Er entwarf jedoch einen Plan zur gesellschaftlichen Organisation der Arbeit auf staatssozialistischer Grundlage, weil er die freie Konkurrenz für das Grundübel der industriellen Wirtschaft hielt. Unter einem „Ministerium des Fortschrittes" sollten die Eisenbahn, die Bergwerke, die Bank von Frankreich und die Versicherungen verstaatlicht werden. Die Überschüsse dieser bedeutenden Wirtschaftszweige und Unternehmungen sollten über ein „Budget der Arbeiter" großen Produktivgenosscnschaften, die in jedem wichtigen Wirtschaftszweig aus den Arbeitern gebildet werden sollten, zufließen. Diese Produktivgenossenschaften sollten — gestützt auf ihre bessere technische Ausstattung und die Überlegenheit ihrer sozialen Ordnung — die privaten Betriebe in einem vom Staate überwachten Konkurrenzkampf langsam verdrängen oder in sich aufnehmen. In der Landwirtschaft sollten in ähnlicher Weise Großbetriebe auf genossenschaftlicher Basis ins Leben gerufen werden, bis es möglich würde, die gesamte Volkswirtschaft — gegliedert in zu Zentral Werkstätten 7usammengefaßten Produktiv5 Gesdiidite der Volkswimdiaftskhre

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genossenschaften — einem obersten Wirtschaftsrat zu unterstellen. Politisch gefördert werden sollte diese Entwicklung durch eine Demokratisierung des Staates auf der Grundlage eines allgemeinen, geheimen und gleichen Wahlrechtes. Diese Gedanken sind später in Deutschland von FERDINAND LASSALLE in ähnlicher Weise aufgenommen worden. Man kann wohl sagen, daß von allen französischen Sozialisten Louis BLANC am nüchternsten gedacht hat. PIERRE JOSEPH PROUDHON (1809—1865) kritisierte sowohl die individualistische wie die kommunistische Auffassung des Eigentums. Aus seiner Schrift „Qu'est ce que la propriete? Recherches sur le princip du droit et du gouvernement" stammt der berühmt gewordene Satz: „La propriete, c'est le vol legalise!" Die sozialen Spannungen wollte PROUDHON gleichzeitig mit den krisenhaften Störungen des Wirtschaftsablaufes durch ein System der Gegenseitigkeit aller wirtschaftlichen Leistungen, das er selbst „Mutualismus" nannte, überwinden. Bei Ausschaltung des Metallgeldes, das sich ökonomisch verselbständigen kann und dann seine gesellschaftliche Funktion, als Tauschmittel zu dienen, nicht mehr erfüllt, sollte eine Tauschbank, die auch Kredithilfe zu geben hätte, den gegenseitigen Austausch aller Güter fördern. Das sollte praktisch mit Hilfe von Gutschriften zugunsten derjenigen geschehen, die bestimmte Erzeugnisse für die Bedarfsdeckung in der Gesellschaft zur Verfügung gestellt hatten. Die Gutschriften sollten dem Berechtigten die Möglichkeit geben, andere Güter in gleichem Werte zu entnehmen. Ein praktischer Versuch, diese Ordnung gegenseitiger Hilfe durch Gründung einer „Tauschbank" zu verwirklichen, scheiterte im Jahre 1819. Er mußte scheitern, weil dem gegenseitigen Austausch die ohne Berücksichtigung des Marktes festgelegten Arbeitswerte und nicht die realisierbaren Preise zugrunde gelegt wurden, anders ausgedrückt, weil bei der Ablieferung der Güter ihre Absatzfähigkeit nicht geprüft wurde. In der Staatstheorie rechnet man PROUDHON neben WILLIAM GODWIN (1756—1836) und MAX STIRNER —

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Pseudonym für KASPAR SCHMIDT — (1805—1881) zu den Begründern des Anarchismus. PROUDHON glaubte, daß die mutualistische Ordnung jede staatliche Gewalt überflüssig machen würde. Schließlich wären in der Reihe der französischen Sozialisten noch die beiden Brüder BLANQUI zu nennen. JEROMI: ADOLPHE BLANQUI (1798—1881) machte als Nationalökonom eine Wandlung vom Schüler JEAN BAPTISTE SAY'S zum Anhänger SAINT-SIMON'S durch. Louis AUGUSTE BLANQUI (1805—1881) hat als aktiver Kommunist an allen Aufständen und Revolutionen von 1830 bis zur Pariser Commune von 1871 teilgenommen. LITERATUR Stammhammer, ],: Bibliographie des Sozialismus und Kommunismus. 3 Bde., 1893—1909. ' Saint-Simon, C. H. de: De la reorganisation de la Societc Europeenne (gemeinsam mit seinem Schüler A. Thierry), Paris 1814. Saint-Simon, C. H. de: L'industrie. Bd. 1—4, Paris 1817. Saint-Simon, C. H. de: I.e nouveau Christianisme. Paris 1825, disch. 1911. Saint-Simon, C. H. de et B. P. d'Enfantin: Oeuvres. Bd. 1—47, Paris 1865 his 1878. Fournell: Bibliographie saint-simonienne. Paris 1832. d'Enfantin, B. P.: Die Nationalökonomie des Saint-Simonismus. 1905. Simonde de Sismondi, J. Ch. L.: Nouveaus principes de l'cconomie politique ou de la richcsse dans scs rapports avec la population. Paris 1819, 2. 1827, dtsch. 1901. Fourier, Charles: Le nouveau mondc industriel et societair. Paris 1829. Blanc, L.: L'organisation du travail. Paris 1839, dtsch. 1899. Proudhon, P. J.: Qu'est ce que la propiete? Recherch.es sur le princip du droit et du gouvcniement. 1841, dtsch. 1896. Proudhon, P. J.: Systeme des contradictions economiques. 2 Bde., 1846, dtsch. 1847. Owen, R.: The new vicuw of society. Paris 1812, dtsch. 1900. Thompson, W.: An inqiry into the principles of wealth most conductive to human happiness. London 1824, dtsch. 1903—1904. Stein. L. v.: Geschichte der sozialen Bewegung in Frankreich von 1789 bis auf unsere Tage. 1849—1850, neu -hrsg. von G. Salomon, 1921. Thomas, K.: Hisroire des atilicrs nationaux. Paris 1848. Scligman, E. R. A.: Owen and the Christian socialists. Boston 1886. Dichl, K.: Proudhon, seine Lehre und sein Leben. 3 Abt., 1886—1896. Muckle, F.: Die Geschichte der sozialistischen Ideen im 19. Jahrhundert. 2. 1917.

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Die sozialistische Kritik 3. Die Anfänge sozialistischen Denkens in Deutschland

Wenn man davon absieht, daß JOHANN GOTTLIEB FICHTE (1762—1814) in seiner Schrift „Der geschlossene Handelsstaat, ein philosophischer Entwurf zur Rechtslehre und Probe einer künftig zu liefernden Politik" den Entwurf einer sozialistischen Planwirtschaft aus den, größtenteils noch handwerklich bestimmten Bedingungen seiner Zeit heraus — mit planmäßiger Regelung des Zugangs zu den einzelnen Berufen, Einführung einer autonomen Währung und Abschließung vom Ausland durch ein Außenhandelsmonopol des Staates — gegeben hat, muß als erster sozialistischer Schriftsteller deutscher Sprache ein wirklicher Handarbeiter, WILHELM WEITLING (1808—1871) genannt werden. Zunächst unter dem Einfluß der französischen Sozialisten stehend — er hatte schon als junger Mann mehrere Jahre in Paris gelebt — hat er doch — aus einer mit zunehmendem Alter ihn immer stärker bestimmenden religiösen Bindung — eigene Gedanken über den Aufbau von Wirtschaft und Gesellschaft entwickelt. Er war allerdings mehr sozialistischer Programmatiker als -wissenschaftlicher Kritiker. Ihm schwebte vor, in einer neuen Gesellschaft die Harmonie der menschlichen Begierden, der edlen und der niederen, mit echter persönlicher Freiheit zu verbinden. Dabei sollte aber der Einzelne aus freiem Entschluß bereit sein, Pflichten gegenüber der Gesellschaft zu übernehmen. Seine Herkunft erklärt es, daß er mit großer innerer Anteilnahme eine bessere Bildung der arbeitenden Massen forderte. In dieser Pflege der geistigen Kräfte aller Menschen sah er eine wesentliche Voraussetzung einer gerechten Gesellschaftsordnung. Ein sehr eigenwilliger Denker war KARL GEORG WINKELBLECH (1810—1865), der seine sozialkritischen Arbeiten unter dem Namen KARL MARLO veröffentlicht hat. Seine praktischen Vorschläge zur Organisation der Arbeit stehen allerdings in einem merkwürdigen Gegensatz zu seinen sehr radikalen sozialkritischen Feststellungen. Ausgangspunkt seiner Gedanken ist das damals sehr

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viel berufene Recht auf Arbeit, das er mit dem Anspruch, die äußere Natur im Verhältnis zur eigenen Arbeitskraft mitbenutzen zu können, verband. „Jeder Mensch hat ein angeborenes und unveräußerliches Recht auf die seiner Arbeitskraft entsprechende Quote der Naturkraft und kann über die mit deren Hilfe erzeugten Produkte nach Belieben verfügen." Aus diesem Satz kann die Folgerung gezogen werden, daß dem Recht auf Arbeit auch das Recht auf den vollen Arbeitsertrag entsprechen soll. Dem „Monopolismus", der Alleinberechtigung einzelner Menschen stellt WINKELBLECH den „Panpolismus", die Allberechtigung gegenüber. Verwirklicht werden sollen diese Prinzipien in einer „föderalistischen" Wirtschaftsordnung, in der das Privateigentum an den Verbrauchs- und Gebrauchsgütern des Haushaltes mit verschiedenen Formen der Produktion verbunden werden soll. Im Gewerbe soll sich private Produktion neben „societärer" entfalten können, während die Landwirtschaft vollständig vergesellschaftet und der Handel allein vom Staate betrieben werden soll. Bemerkenswert ist, daß WINKELBLECH als radikaler Sozialkritiker streng malthusianisch dachte. Keine Sozialordnung würde den Menschen ihr Grundrecht auf Arbeit und auf Existenz gewähren können, in der nicht dafür gesorgt würde, die Bevölkerungszahl dem vorhandenen Nahrungsspielraum anzupassen. Er empfiehlt deshalb, Heiraten nur zu gestatten, wenn das nötige „Kindergut" nachgewiesen werden kann. Als eigentlicher Begründer des wissenschaftlichen Sozialismus kann KARL RODBERTUS (1805—1875), der als pommerscher Gutsbesitzer gelebt hat, angesehen werden. Er war der erste, dem das kapitalistische Wirtschaftssystem in seinem ganzen Vollzuge zum Problem wurde. Durch RODBERTUS erhielt, wie sein Biograph HEINRICH DIETZEL gesagt hat, die bis dahin abhängige deutsche Sozialtheorie „ein originales Gepräge in Inhalt und Methode". Zwei Beobachtungen haben KARL RODBERTUS dazu veranlaßt, das völlig sich selbst überlassene kapitalistische Wirtschaftssystem als eine Gefahr für die menschliche Gesittung zu

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bezeichnen, die gerade in der frühkapitalistischen Zeit erschreckend sich ausbreitende Armut und die regelmäßig wiederkehrenden Wirtschaftskrisen. Beide Erscheinungen führte RODBERTUS auf denselben Tatbestand zurück, den er als einen Grundfehler kapitalistischer Wirtschaftsordnung ansah: den freien wirtschaftlichen Verkehr bei tatsächlicher Bindung der wirtschaftlichen Kräfte durch das private Eigentum am Boden und am Kapital. Unter diesen Bedingungen käme — so meinte er — die steigende Ergiebigkeit der Arbeit nicht denjenigen zugute, die sie leisten, sondern denjenigen, die als Eigentümer von Boden und Kapital die sachlichen Voraussetzungen der Gütergewinnung in der Hand haben. In der dadurch veranlaßten Verringerung des Anteils der in abhängiger Stellung arbeitenden Menschen am größer werdenden Sozialprodukt sieht RODBERTUS die eigentliche Krankheit der kapitalistischen Wirtschaft. Die Wissenschaft ist daher berechtigt, diese Ansichten als „Gesetz der fallenden Lohnquote" zu bezeichnen. Führt RODBERTUS doch die periodisch wiederkehrenden Krisen, die das ganze Gefüge der kapitalistischen Wirtschaft erschüttern, auf den sinkenden Anteil der Arbeitslöhne am zunehmenden Sozialprodukt zurück. So erkennt er die Krisen als Ausdruck der Verhältnislosigkeit des Wachstums der kapitalistischen Wirtschaft. Das ist eine gedankliche Leistung, deren Bedeutung erst in den letzten Jahrzehnten richtig gewürdigt werden konnte. RODBERUTS gilt als einer der ersten Vertreter einer systematisch begründeten Unterkonsumtionstheorie. RODBERTUS ist der Meinung, daß das verhältnismäßige Absinken der Löhne nur durch positive Maßnahmen des Staates verhindert werden kann. Letzte Forderung ist in diesem Zusammenhange die Aufhebung des Privateigentums am Boden und am Kapital. RODBERTUS glaubt jedoch, daß dieser Zustand erst in einigen Jahrhunderten erreicht werden könne, weil die Arbeiterschaft noch nicht fähig sei, die kulturellen Aufgaben innerhalb der Gesellschaft in vollem Umfange zu übernehmen. Diese Funktion müsse zunächst weiter von den Besitzenden geübt werden. Un-

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mittelbar notwendig schien ihm aber zu sein, die Entwicklung der Arbeitsentgelte nicht nur staatlich zu beaufsichtigen, sondern durch öffentlich bestellte Organe positiv zu beeinflussen. Dazu müßte der Anteil einer jeden Arbeitsleistung am Werte des Erzeugnisses exakt erfaßt werden. Diese den Zeitgenossen utopisch klingende Forderung — die zugrunde liegende Arbeitswerttheorie forderte im Übrigen zu zahlreichen kritischen Einwendungen heraus — erscheint heute nicht mehr so abwegig. Haben wir doch in der Stückzeitberechnung nach den Refasystem und in der „analytischen Arbeitsplatzbewertung" schon die Grundlinien einer Bewertung der Arbeitsleistung, wie sie RODBERTUS vorschwebte, ohne daß diese Berechnungen mit einer Arbeitswerttheorie verbunden wären. RODBERTUS möchte allerdings die von ihm vorgeschlagene Arbeitsbewertung auch zur Grundlage eines „Arbeitsgeldes" machen, das als Zettelgeld die vollwertigen Metallmünzen verdrängen soll. Richtig erkannt ist dabei der funktionale Charakter des Geldes in der neuzeitlichen Industriewirtschaft. Geld ist heute nicht mehr eine als allgemeines Tauschmittel dienende Substanz, sondern als Zahlmittel eine gesellschaftliche Funktion. Die bankmäßige Geldschöpfung ist dabei nicht auf die abgezogene Vorstellung der Arbeitsstunde bezogen, sondern auf das die volkswirtschaftliche Gesamtleistung ausdrückende Sozialprodukt. Daß in einer so gedachten Ordnung des menschlichen Zusammenwirkens alle wirtschaftlichen Leistungen, auch die Führung der Unternehmungen und der landwirtschaftlichen Betriebe die Eigenschaft eines öffentlichen Auftrags gewinnen, hat RODBERTUS immer wieder betont. Die agrarwissenschaftlichen Untersuchungen von RODBERTUS wurden durch den Gedanken bestimmt, daß der Boden nicht als Kapitalwert angesehen werden darf. Die Vorstellung des Kapitals könne nur mit denjenigen Produktionsmitteln verbunden werden, die die Menschen selbst hergestellt haben — in der Absicht, sie weiterer Gütergewinnung nutzbar zu machen. Landwirtschaftlich genutzter Boden liefert — als von der Natur gegebener

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Tatbestand — jährlich einen bestimmten Ertrag, aus dem der Besitzer auf Grund seines Eigentumsanspruches eine Rente ziehen kann. Man habe sich zwar daran gewohnt, diese Rente mit dem landesüblichen Zinsfuß zu kapitalisieren, um einen Anhaltspunkt für die Bewertung des Bodens im geschäftlichen Verkehr zu gewinnen. Das Ergebnis dieser Rechenoperationen habe aber nur formelle Bedeutung. In seiner Substanz werde der Boden dadurch nicht zum Kapital, sondern bliebe Rentenfonds. Diese Rente begreift RODBERTUS nicht wie RICARDO als Differentialeinkommen, sondern als einen absoluten Betrag, der abfallen muß, wenn der Wert der landwirtschaftlichen Erzeugnisse in der gleichen Weise aufgeteilt wird wie der Wert eines gewerblich hergestellten Gutes. Denn derjenige, der gewerbliche Arbeiten vornehmen läßt, muß das Material, das er bearbeiten will, kaufen. Infolgedessen hat er eine besondere Kapitalauslage zu machen, die Gewinn beansprucht. In der landwirtschaftlichen Gütergewinnung fehlt jedoch ein solcher Geld kostender Materialaufwand. Infolgedessen kann dem Boden vom Gesamtgewinn des landwirtschaftlichen Betriebes ein Teil als Rente zugerechnet werden. Praktisch bedeutungsvoll wird die Auffassung, daß der Boden ein Rentenfonds sei und kein Kapital, für die Kreditpolitik. Kapitalschulden, d. h. Schulden, die zu einer Rückzahlung des Kapitals verpflichten, kann nach RODBERTUS vernünftigerweise nur der aufnehmen, der in der Lage ist, durch die Verwertung des Kapitals neues Kapital zu bilden. Der Landwirt, dessen Einkommen Rente ist, muß dagegen in die größten Schwierigkeiten geraten, wenn er seinen Boden mit Kapitalschulden belastet und ihn so als Kapitalwert rechnerisch objektiviert. Jede Veränderung des landesüblichen Zinsfußes wird den Verkaufswert des Bodens beeinflussen. Die Schuldsumme aber bleibt bestehen. Es kann daher bei einer Steigerung des landesüblichen Zinsfußes geschehen, daß der Verkaufswert des Bodens unter die Schuldsumme sinkt. Eine Subhastation ist dann unvermeidlich.

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Nach RODBERTUS gehen schuldnerische Verpflichtungen der Landwirte vornehmlich aus dem Eigentumswechsel hervor. Sie sind in der Regel nicht dadurch entstanden, daß tatsächlich Kapital zur Verbesserung des Betriebes aufgenommen worden ist, sondern dadurch, daß bei Erbgang oder Verkauf Kapitalwerte an Nichtlandwirte abgegeben worden sind. Das hält RODBERTUS für sinnwidrig. Wenn der Boden nur als Rentenfonds angesehen werden kann, darf er auch nur mit der Verpflichtung, Rente zu leisten, belastet werden. An die Stelle hypothekarischer Belastung mit einer Kapitalschuld soll daher nach RODBERTUS der Rentenkauf treten. Dieser Vorschlag ist um 1870 in den landwirtschaftlichen Berufsorganisationen lebhaft besprochen worden. Praktisch verwirklicht wurde er in der Einrichtung von Rentengütern, die nicht durch die Zahlung einer Kapitalsumme erworben werden, sondern gegen die Verpflichtung, jährlich eine feste Rente zu zahlen. Die staatlich geförderte Ansiedlung von Bauern in den östlichen Provinzen Preußens gründete sich auf diese Rechtsform des Eigentumscrwerbes. Umfangreiche wirtschaftsgeschichtliche Forschungen, die Probleme der antiken Wirtschaft zum Gegenstand haben, dienten RODBERTUS vornehmlich dazu, seine Auffassungen über die geschichtliche Bedingtheit der Wirtschaftsformen und der ihnen zugehörigen theoretischen Begriffe zu stützen. Bei der begrifflichen Erfassung wirtschaftlicher Tatbestände müsse man einen Unterschied zwischen „natürlich-technischen" Kategorien und „historisch-rechtlichen" Kategorien machen. Einer der Hauptirrtümer der klassischen Wirtschaftstheorie sei es gewesen, zeitbedingte Zustände und die auf sie bezüglichen Begriffe zu verabsolutieren. RODBERTUS, dessen Denken durch die Sorge um die kulturelle Entwicklung des Ganzen bestimmt wird, denkt in bezug auf die staatliche Ordnung des menschlichen Zusammenlebens nicht idealistisch-konstruktiv, sondern geschichtlich. Zwar schwebt ihm als Endziel „eine organisierte menschliche Gesellschaft" vor. Damit ist aber nicht die Konstruktion eines absolut besten Zustandes gemeint, der

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gleichsam außerhalb der geschichtlichen Entwicklung steht. RODBERTUS glaubt auch nicht an die Entwicklung des Menschen zu einer vollkommenen Idealgestalt, sondern er hält eine Verbesserung der Formen menschlichen Zusammenlebens für möglich. Diese Entwicklung vollzieht sich nach seiner Auffassung nicht gesetzmäßig, gleichsam als ein natürlicher Prozeß, sie ist das Ergebnis verantwortungsbewußten politischen Gestaltens, das auf die geschichtlichen Gegebenheiten Rücksicht nehmen muß. „Das, was die Gesellschaft zusammenhält, ist sittlicher Natur und wird durch sittliche Institutionen erhalten und vermehrt." Durch einen zeitweise sehr lebhaft geführten Brief Wechsel waren RODBERTUS und FERDINAND LASSALLE (1825—1864) miteinander verbunden. Philosophisch von FICHTE und HEGEL bestimmt, die Wirtschaft grundsätzlich als geschichtlich gegebene Gestaltungsaufgabe begreifend, hat sich LASSALLE wirtschaftswissenschaftlich in der Hauptsache mit der Lohntheorie RICARDO'S beschäftigt, der er den Namen eines „Ehernen Lohngesetzes" gegeben hat. Nach diesem Gesetz bliebe der Arbeitslohn immer auf den notwendigen Lebensunterhalt, der in einem Volke gewohnheitsmäßig erforderlich ist, um die Existenz zu fristen und die Fortpflanzung zu ermöglichen, begrenzt. Dieses Gesetz könne nur aufgehoben werden, wenn das Lohnarbeiterverhältnis als solches überwunden würde. Die Arbeiter müßten daher ihr wirtschaftliches Schicksal in die eigene Hand nehmen. Dazu reichten die von FRANZ HERMANN SCHULZE-DELITZSCH (1808—1883) vorgeschlagenen Genossenschaften nicht aus. Auch die Konsumgenossenschaften, die den Arbeitern ermöglichen, die Güter ihres Lebensbedarfes zu günstigen Bedingungen einzukaufen, würden an ihrer sozialen Stellung grundsätzlich nichts ändern. Die Arbeiter müßten mit Staatshilfe Produktivassoziationen ins Leben rufen, in denen sie selbst die wirtschaftlichen Träger der Gütergewinnung sind. Um diese Entwicklung zu ermöglichen, müßten die Arbeiter — gestützt auf das allgemeine, gleiche und geheime Wahlrecht — die Macht im Staate erobern. Die Übereinstimmung der Forderungen FERDINAND

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LASSALLE'S mit den Gedanken Louis BLANC'S ist offenkundig. FERDINAND LASSALLE hat auch einmal die Fühlung mit BISMARCK gesucht. LITERATUR Welding, W.: Die Menschheit, wie sie ist und wie sie sein sollte. Paris 1838, 2. Bern 1845. Weitling, W.: Garantien der Harmonie und Freiheit. Vivis 1842, 2. 1845. Winkelblech, Karl Georg (Karl Mario): Untersuchungen über die Organisation der Arbeit oder System der Weltökonomie. 3 Bde., 1850—59, 2. 4 Bde., 1884—86. Rodbertus, K.: Zur Erkenntnis unserer staatswirtschaftlichen Zustände. 1845. Rodbertus, K.: Soziale Briefe an v. Kirdimann. Bd. 1—3, 1850—1852. Rodbertus, K.: Zur Erklärung und Abhülfe der heutigen Krcditnot des Grundbesitzes. 2 Bde., 1868—69, 2. 1876, 3. 1893. Rcdbertus, K.: Das Kapital. 4. Sozialer Brief an v. Kirchmann, 1884, 2. 1899, 3. 1913. Aus Rodbertus Nachlaß, Briefe von Ferdinand Lassallc an Rodbertus mit einer Einleitung von A. Wagner, 1878. Lassalle, F.: Herr Bastiac-Sdiulze von Delitzsch, der ökonomische Julian oder: Kapital und Arbeit. 1864. Lassalle, F.: Gesammelte Reden und Schriften. Hrsg. v. E. Bernstein, 1919 bis 1920. Cohn, G.: Lassalle und das eherne Lohngesetz. Nationalökonomische Studien, 1886. Kaier, E.: Weitling, Seine Agitation und Lehre im geschichtlichen Zusammenhang dargestellt. Züridi 1887. Dietzelj H.: K. Rodbertus. Darstellung seines Lebens und seiner Lehre. 2 Bde., 1886 u. 1888. Bernstein, E.: Ferdinand Lassalle und seine Bedeutung für die Arbeiterklasse. 1904, 2. 1919. Onckcn, H.: Lassalle. Eine politische Biographie, 1904, 4. 1923. Bicrmann, W. E.: Karl Georg Winkelblech (Karl Mario). 1909. ßicrmann, W. E.: Aus Winkelblcchs literarischem Nachlaß. 1911. Thier, E.: Rodbertus, Lassalle, Adolph Wagner. Ein Beitrag zur Theorie und Geschichte des Staatsozialismus, 193C. Ramm, Th.: Ferdinand Lassalle als Rechts- und Sozialphilosoph. Sehr, zur Gesch. u. Theorie d. Sozialismus, Bd. I, 1953, 2. 1956. Ramm, Th.: Ferdinand Lassalle. H. d. So/,, wiss., Bd. 6, 1959. Wcndt, S.: Karl Rodbertus. H. d. Soz. wiss., Bd. 9, 1956.

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Der einflußreichste sozialistische Denker ist KARL MARX (1818—1883) gewesen. Sein Lebenswerk hat Weltgeschichte gemacht. In den „Thesen über Feuerbach" findet sich ein die eigene geistige Position kennzeichnendes Wort von MARX: „Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert; es kommt darauf an, sie zu verändern." Wer KARL MARX wissenschaftlich würdigen will, muß seine

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Wirtschaftstheorie und seine Geschichtsauffassung betrachten. Wirtschaftstheoretisch baut KARL MARX auf den Grundlagen RiCARDianischen Denkens weiter. Ja, er kann als der logische Vollender einer ursächlich gedachten Wert- und Preislehre bezeichnet werden. Und zwar aus zwei Gründen: Einmal macht er wirklich ernst mit dem Gedanken, in der nach der Zeit bemessenen Arbeitsleistung als bloßer Energieverausgabung die wertbildende Substanz zu sehen. Der Tauschwert der Güter wird nach ihm durch die in ihnen vergegenständlichte gesellschaftlich notwendige Durchschnittsarbeitszeit bestimmt. Dabei wird im I.Bande des „Kapitals" als „gesellschaftlich notwendig" diejenige Arbeitszeit angesehen, die erforderlich ist, „um irgendeinen Gebrauchswert mit den vorhandenen gesellschaftlich normalen Produktionsbedingungen und dem gesellschaftlichen Durchschnittsgrad von Geschick und Intensität der Arbeit darzustellen". Zum ändern macht KARL MARX den Versuch, die Erklärung des Gewinnes, des Mehrwertes in die ursächlich gedachte Arbeitswerttheorie einzubeziehen. Ausgangspunkt seiner Überlegungen ist die radikale Unterscheidung von Tauschwert und Gebrauchswert. Die beiden Begriffe müssen aus grundsätzlich verschiedenartigen Zusammenhängen verstanden werden. Der Gebrauchswert verwirklicht sich im Verbrauch, in der Benutzung eines Gegenstandes. Er ist auf die „Verwertung" im persönlichen Bereich bezogen. Der Tauschwert drückt dagegen ein gesellschaftliches Verhältnis aus, das durch die „gesellschaftlich notwendige Durchschnittsarbeitszeit" bestimmt ist. „Als Gebrauchswerte sind die Waren vor allem verschiedener Qualität, als Tauschwerte können sie nur verschiedener Quantität sein, enthalten also kein Atom Gebrauchswert." Die quantifizierbare Substanz, die den Waren in ihrem gesellschaftlichen Verhältnis gemeinsam ist, ist die in ihnen verkörperte menschliche Arbeitsleistung als abgezogen gedachte Energieverausgabung. Wenn nun die Arbeitskraft in einer unternehmungsweise betriebenen Wirtschaft wie eine Ware gehandelt wird, so

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bestimmt sich ihr „Wert" in genau der gleichen Weise wie der Tauschwert jeder anderen Ware durch die Aufwendungen, die notwendig sind, sie bereitzustellen. Wie kommt nun in dieses, durch den Gedanken strenger Kausalität und den Gedanken der Äquivalenz bestimmte System das Neue, der Überschuß, der Mehrwert hinein? Der Käufer der als Ware gehandelten Arbeitskraft, der kapitalistische Unternehmer, zahlt im Lohn den vollen Tauschwert dieser Ware, der durch die gesellschaftlich notwendige Durchschnittsarbeitszeit bestimmt wird, die erforderlich ist, um die Arbeitskraft individuell und generativ zu erhalten. Die Ausbeutung besteht also nicht darin, daß dem Arbeiter im Lohn der volle Tauschwert seiner Arbeitskraft vorenthalten würde. Der Unternehmer, der die Arbeitskraft zu ihrem Tauschwerte kauft, tut dann dasselbe, was jeder Käufer einer Ware tut: er nutzt ihren Gebrauchswert, der darin besteht, Arbeit zu leisten, d. h. neuen Tauschwert zu produzieren. Die Arbeitskraft ist aber in der Lage, mehr zu leisten, als sie tatsächlich kostet. Mit anderen Worten: die Arbeitskraft kann mehr Tauschwert produzieren, als sie selbst Tauschwert besitzt. Wenn z. B. 6 Stunden ausreichen, um diejenigen Güter zu gewinnen, mit deren Hilfe die Arbeitskraft — individuell und generativ — erhalten werden kann, so läßt der Kapitalist, der über die Produktionsmittel verfügt, die Arbeiter länger arbeiten — etwa 12 Stunden und realisiert das Ergebnis dieser Verlängerung des Arbeitstages, den Überschuß über den Tauschwert der Arbeit als Mehrwert. Die Ausbeutung des Arbeiters besteht also nach MARX nicht darin, daß der Kapitalist die Arbeit unter ihrem Tauschwert bezahlt, sondern darin, daß der Kapitalist den Gebrauchswert der Arbeitskraft länger nutzt, als es notwendig wäre, das Äquivalent ihres Tauschwertes zu produzieren. Dieser Wechsel der Begriffe Tauschwert und Gebrauchswert kann nicht darüber hinwegtäuschen, daß hier der Gedanke strenger Kausalität, das Äquivalenzprinzip zugunsten eines Energieprinzips durchbrochen wird.

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Außerdem mußte MARX, um der Wirklichkeit gerecht zu werden, die Arbeitswertlehre und den mit ihr zusammenhängenden Gedanken des Mehrwertes zur Lehre von den Produktionspreisen, der der Begriff der Durchschnittsprofitrate entspricht, weiter entwickeln. MARX unterscheidet nämlich — vom Standpunkt der Mehrwertlehre durchaus folgerichtig — zwischen variablem, Mehrwert erzeugendem Kapital, das für Lohnzahlungen verwendet wird, und konstantem Kapital in Form von Produktionsanlagen und Rohstoffen, das nur mit seinem eigenen Wert oder seinen Wertanteilen in das neue Erzeugnis eingeht, also in seinem Werte „konstant" bleibt. In den einzelnen Wirtschaftszweigen werden nun ganz verschiedenartige Herstellungsverfahren angewendet. Infolgedessen ist das Verhältnis, in dem variables und konstantes Kapital eingesetzt werden, höchst verschiedenartig. Daraus müßte sich die der wirtschaftlichen Wirklichkeit widersprechende Folgerung ergeben, daß die mögliche Mehrwertrate — bezogen auf das jeweils eingesetzte Kapital insgesamt — verschieden hoch sei, je nach dem Verhältnis von variablem und konstantem Kapital. Dabei müßte die Mehrwertrate um so höher sein, je mehr variables Kapital, das allein als „mehrwertheckendes" Kapital gilt, eingesetzt ist. In der wirtschaftlichen Wirklichkeit erzielen alle Kapitalien — ohne Rücksicht auf das Verhältnis von variablem und konstantem Kapital — eine durchschnittliche Profitrate. Daraus folgt mit Notwendigkeit, daß die Güter sich nicht nach ihren Werten austauschen, sondern nach ihren Produktionspreisen, die entweder über oder unter ihren Tauschwerten liegen. Die Lehre von den Tauschwerten und die Lehre von den Produktionspreisen in einem theoretischen System logisch miteinander zu vereinigen, macht unüberwindliche Schwierigkeiten. Darauf hat schon EUGEN v. BÖHM-BAWERK aufmerksam gemacht, während JOSEPH SCHUMPETER es für möglich hält, die Produktionspreise gedanklich aus den Arbeitswerten abzuleiten. Eine weitere Folgerung aus der Mehrwertlehre muß bedacht werden. Bei gleichbleibender Produktionstechnik

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müßte die Neigung bestehen, den Einsatz des variablen, für Lohnzahlungen verwendeten Kapitals zu Lasten des in Anlagen und Maschinen bestehenden konstanten Kapitals auszudehnen, denn nur das variable Kapital bringt neuen Mehrwert hervor. Die wirtschaftliche Wirklichkeit zeigt genau die entgegengesetzte Entwicklung. Jeder Unternehmer bemüht sich, Handarbeit durch maschinelle Vorgänge zu ersetzen, d. h. an Stelle von variablem Kapital konstantes zu verwenden. Auch KARL MARX weicht dieser Erscheinung nicht aus. Er bringt sie mit dem technischen Fortschritt in Verbindung. Gelingt es, durch technische Fortschritte die Ergiebigkeit der menschlichen Arbeitsleistung zu steigern, so bedeutet das — nach MARX —, daß ihr Tauschwert — gemessen an Arbeitsstunden, die aufgewendet werden müssen, um so viel Güter zu gewinnen, daß die Arbeitskraft erhalten werden kann — sinkt. Neben dem absoluten Mehrwert, der dadurch erzielt wird, daß der Unternehmer den Arbeiter über die Zeit hinaus arbeiten läßt, die notwendig ist, ihn zu erhalten, gibt es den relativen Mehrwert, der demjenigen zufällt, dem es gelingt, die gesellschaftlich notwendige, den Tauschwert der Arbeit bestimmende Arbeitszeit zu verkürzen. KARL MARX sieht aber den relativen Mehrwert nicht als das Ergebnis schöpferischer Leistung produktiv tätiger Unternehmer an, sondern als das Ergebnis einer notwendigen gesellschaftlichen Entwicklung. Denn die Profitsumme, die den Unternehmern unter den Bedingungen kapitalistischer Produktionsweise zufließt, kann von ihnen nur zum Ankauf neuer Produktionsmittel verwendet werden. Wenn so der Einsatz des konstanten Kapitals im Verhältnis zum variablen Kapital im Zuge der wirtschaftlichen Entfaltung zunimmt, muß bei gleichbleibender Mehrwertrate die allgemeine Profitrate die Tendenz haben zu fallen. Auf der Grundlage aller dieser Lehren versucht MARX die innere Entwicklung der kapitalistischen Wirtschaft zu erfassen. Da die „organische" Zusammensetzung des Kapitals sich immer mehr zuungunsten des variablen Kapitals, das für die Mehrwert schaffende Arbeitskraft aufgewendet

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wird, verschiebt, muß die Durchschnittsprofitrate — bezogen auf das gesamte eingesetzte Kapital — tendenziell sinken. Zeitweise wird diese Tendenz dadurch ausgeglichen, daß es gelingt, als Ausdruck gestiegener gesellschaftlicher Produktivität der Arbeit relativen Mehrwert zu erzielen. Aber die Grundtendenz bleibt. Der Wille, den relativen Mehrwert zu steigern, veranlaßt die Kapitalisten, einen stets wachsenden Teil der von ihnen erzielten Profitsumme — diese Summe kann steigen, auch wenn die Profitrate tendenziell fällt — nicht zu verbrauchen, sondern zu akkumulieren. Diese Tendenz wird als Akkumulationsgesetz bezeichnet. Die fortgesetzte Akkumulation des Kapitals verändert technisch, wirtschaftlich und soziologisch den Aufbau der kapitalistischen Wirtschaft. Zwei Gesetze bestimmen diese Veränderungen. Das Konzentrationsgesetz besagt, daß sich die Produktion in immer größeren Betrieben vollzieht, die die kleineren Betriebe in sich aufnehmen. Das Eigentum am Kapital ballt sich im Zuge dieser Entwicklung in immer weniger Händen zusammen. Auf der anderen Seite führt die ständig zunehmende Akkumulation des Kapitals dazu, immer wieder Arbeitskräfte freizusetzen. So wird die Entstehung einer industriellen Reservearmee zum Ausdruck einer Verelendung der arbeitenden Massen. Die Verelendung der breiten Massen ist für MARX nicht das Ergebnis einer allgemeinen Übervölkerung im malthusischen Sinne, — MARX ist radikaler Gegner der Bevölkerungslehre von ROBERT MALTHUS — sondern Ausdruck der Verhältnislosigkeiten kapitalistischer Wirtschaftsweise. Akkumulation des Kapitals, Konzentration der Betriebe und Verelendung der arbeitenden Massen kennzeichnen die Veränderungen, die nach MARX zu immer größeren Widersprüchen in der Funktionsweise der kapitalistischen Wirtschaft führen müssen. Die kapitalistische Wirtschaft sei — so meint KARL MARX — nicht in der Lage, die von ihr entfesselten Produktionskräfte organisatorisch zu bändigen und sinnvoll zu nutzen. Die Situation erfordert eine grundsätzliche Veränderung der Gesellschaftsordnung. Sie durch einen revolutionären Akt vorzunehmen, erweist sich

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nicht nur als notwendig, sondern auch als möglich, wenn die Konzentration der Betriebe und des Eigentums einen solchen Grad erreicht hat, daß nur wenige „Expropriateure" expropriiert zu werden brauchen. Dann trete an die Stelle des privaten Eigentums an den Produktionsmitteln das gesellschaftliche. Und die „Gesellschaft" könne dann die Produktion planmäßig weiter entwickeln. Die Entwicklung der kapitalistischen Wirtschaft wird also von MARX als ein dynamischer Prozeß gedeutet, dessen geschichtliche Auswirkungen nur verstanden werden können, wenn man Klarheit über die Geschichtsauffassung von KARL MARX und über seine philosophische Lehre gewonnen hat. Diese Lehre wird als historischer und dialektischer Materialismus bezeichnet. Man darf diesen dialektischen Materialismus, der zur Grundlage einer ökonomischen Geschichtsauffassung wird, nicht mit dem naturwissenschaftlichen Materialismus als solchem verwechseln, obwohl natürlich bei allen Anhängern von KARL MARX die Neigung besteht, auch die Zusammenhänge im Geschehen der äußeren Natur materialistisch zu deuten. Als Schüler HEGELS (1770—1831) hat KARL MARX die Methode der Geschichtsbetrachtung, das Prinzip, mit dessen Hilfe die Geschichte als sinnvoller Zusammenhang des Geschehens begriffen werden kann, — die Dialektik — von seinem Lehrer übernommen. Gemeint ist damit, daß sich die Geschichte in Bewegung und Gegenbewegung vollzieht und schließlich einem Endzustand der Vollendung zustrebt. Ein Anfangszustand, der als „Thesis" aufgefaßt wird, entfaltet in sich die Bedingungen seines Gegensatzes, der „Antithesis", die schließlich in einen spannungslosen Zustand, in die „Synthesis" aufgehoben wird. Während aber HEGEL es als Inhalt und Sinn der Geschichte ansieht, daß der absolute Geist wieder zu sich selbst kommt, und so die Geschichte letztlich religiös deutet, versteht KARL MARX sie als ein irdisches Geschehen, das durch den Wandel in den Formen der gesellschaftlichen Bedarfsdeckung, anders ausgedrückt, in den Formen der gesellschaftlichen Produktionsverhältnisse bestimmt wird. „Die Menschen gehen zur 6 Geschichte der Volkswirtschaftslehre

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Erhaltung ihrer Existenz von ihrem Willen unabhängige Produktionsverhältnisse ein", die sich im Zuge der technischen Entwicklung der Produktionsmöglichkeiten verändern. Diese Veränderung vollzieht sich dialektisch insofern, als die sich entfaltenden Produktivkräfte mit den überkommenen gesellschaftlichen Produktionsverhältnissen in Widerspruch geraten. So schreitet die Entwicklung von der feudalistisch bestimmten Ordnung des Zusammenlebens und Zusammenwirtschaftens über die bürgerliche Gesellschaft der kapitalistischen Epoche zur klassenlosen Gesellschaft des Sozialismus-Kommunismus — dem Endzustand der Geschichte — fort. Die Geschichte der Menschheit wird also als eine Abfolge von Klassenkämpfen gedeutet, die zur Ruhe kommen, wenn der Endzustand der klassenlosen Gesellschaft erreicht ist. Die Entfaltung des geistigen, kulturellen und politischen Lebens wird — vom Ausgangspunkt dieses Denkens aus gesehen, durchaus folgerichtig — als Ausdruck der jeweiligen gesellschaftlichen Produktionsverhältnisse verstanden. „Es ist nicht das Bewußtsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt, ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewußtsein bestimmt", sagte MARX und deutete damit den Menschen als das Produkt einer gesetzmäßigen Entwicklung der wirtschaftlichen Materie. So verbindet KARL MARX die theoretische Erklärung des Wirtschaftsprozesses mit einer Deutung des Geschichtsablaufes überhaupt, hier aufs engste mit FRIEDRICH ENGELS (1820—1895) zusammenarbeitend. Die Anhänger von KARL MARX, die „Marxisten", wie schon die Zeitgenossen sie nannten, schieden sich bald in eine orthodoxe und eine revisionistische Richtung. Die orthodoxe Richtung wurde von KARL KAUTSKY (1854 bis 1938) geführt. Er galt nach dem Tode von FRIEDRICH ENGELS lange Zeit als der berufene Interpret der MARXschen Gedanken. Die wirtschaftswissenschaftliche Analyse trat bei ihm hinter die Entfaltung der materialistischen Geschichtsauffassung, die er für die eigentliche Grundlage des wissenschaftlichen Sozialismus hielt, zurück. In dem

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Bemühen, die gesellschaftliche und wirtschaftliche Bedingtheit aller geschichtlichen Vorgänge aufzuzeigen, hat er ungewollt dazu beigetragen, daß die weltanschauliche und geschichtliche Bedingtheit aller von MARX und dem Marxismus geprägten politischen und ökonomischen Begriffe erkannt worden ist. Bedeutungsvoll sind seine Untersuchungen über Probleme der Sozialisicrung. 1891 hat KAUTSKY den theoretischen Teil des sog. Erfurter Programms verfaßt. ROSA LUXEMBURG (1870—1919) hat die MARXsche Akkumulationstheorie zu einer umfassenden Theorie der imperialistisch bestimmten Wirtschaftsexpansion weiter entwickelt. In einer Gesellschaft, die nur aus Arbeitern und Kapitalisten bestehe, könne der Mehrwert überhaupt nicht als neues Kapital realisiert werden. Die kapitalistische Produktionsweise sei daher darauf angewiesen, Abnehmer außerhalb der eigentlichen kapitalistischen Gesellschaft zu finden. Fehlen solche Abnehmer im eigenen politischen Raum, so zwängen die wachsenden Widersprüche in der Funktion der kapitalistischen Wirtschaftsweise die kapitalistisch bestimmten Volkswirtschaften dazu, die nicht kapitalistischen Räume wirtschaftlich und das hieße auch politisch zu durchdringen, um sie für die Aufnahme des immer wieder auftretenden Übcrschußproduktes zu erschließen. Die imperialistische Entfaltung gehöre zum Wesen der durch kapitalistische Interessen bestimmten Staaten. RUDOLF HILFERDING (1877—1943) hat sich mit zunehmendem Alter von der Bindung an die Orthodoxie gelöst; er hat dann reformistische Gedanken eigener Prägung entwickelt. In seinem ökonomischen Hauptwerk, das 'den Titel „Das Finanzkapital" trägt, bemühte er sich, dieMARXsche Theorie auf die besonderen Erscheinungen und Probleme des Hochkapitalismus, der durch Trustbildungen, internationalen Kapitalverkehr und Funktionalisierung des Geldwesens gekennzeichnet ist, anzuwenden. In diesem Zusammenhange mußte er sich auch mit der Geldlehre von KARL MARX auseinandersetzen.

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Die sozialistische Kritik

KARL MARX hatte das Geld als Ware aufgefaßt und hatte daher versucht, auch den Wert des Geldes arbeitswerttheoretisch, zu erklären. HILFERDING erkannte demgegenüber, daß in der voll entfalteten kapitalistischen Wirtschaft auch stoffwertloses Geld als gesellschaftliche Funktion eine eigene Wertbestimmung zeige, die mit den Methoden der Arbeitswerttheorie nicht erklärt werden könne. Auch bei der wissenschaftlichen Untersuchung der krisenhaften Störungen im Bereich kapitalistischer Wirtschaftsweise entfernte sich HILFERDING von der marxistischen Unterkonsumtionslehre. Er maß den Verhältnislosigkeiten in der Zirkplationssphäre eine größere Bedeutung zu als den Widersprüchen, die im Zusammenhang mit der Verteilung auftreten. Diese Einsicht machte ihn bereit, ein gewisses Maß der Organisationsfähigkeit kapitalistischer Wirtschaftsweise anzuerkennen. Durch solche Organisation könnten auflösende und zerstörerische Kräfte bis zu einem gewissen Grade gebändigt werden. Auf dem sozialdemokratischen Parteitag, der 1927 in Kiel abgehalten wurde, vertrat HILFERDING mit allem Nachdruck eine Theorie des organisierten Kapitalismus, in dem das kapitalistische Prinzip der freien Konkurrenz immer mehr von dem „sozialistischen Prinzip planmäßiger Produktion" verdrängt werde. Unter den Revisionisten, die sich der Erkenntnis nicht verschließen konnten, daß sich die wirtschaftliche Entwicklung anders vollzog, als es den von KARL MARX herausgestellten Entwicklungsgesetzen entsprach, ragt EDUARD BERNSTEIN (1850—1932) hervor. Er gab den dialektischen Materialismus als absolut gültiges Prinzip geschichtlicher Erkenntnis auf und begründete die Notwendigkeit, die Wirtschaft sozialistisch umzugestalten, als eine ethische Forderung. Von diesem Standpunkte aus forderte er eine gründliche „Revision" der ökonomischen Theorie und der Geschichtsauffassung von KARL MARX und leitete so die große Auseinandersetzung in der deutschen Arbeiterbewegung ein, die als „Revisionismusstreit" in die Geschichte eingegangen ist. In diesem Streit standen insbesondere die

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sozialistischen Gewerkschaftsführer, die unter den gegebenen Umständen die wirtschaftlichen und sozialen Interessen der in den Gewerkschaften vereinigten Arbeiter und Angestellten wahrzunehmen hatten, gegen die Führer der politischen Arbeiterbewegung, die die große revolutionäre Aktion durch die Verteidigung des in sich geschlossenen Denksystems von KARL MARX vorzubereiten hofften. EDUARD DAVID (1863—1930) untersuchte unter Anwendung induktiver Forschungsmethoden die wirkliche Lage der Landwirtschaft, wie sie sich im Zuge der industriewirtschaftlich-kapitalistischen Entwicklung ergeben hatte. Er erkannte, daß das Konzentrationsgesetz in der Landwirtschaft keine Geltung habe. Die ökonomischen Probleme des Bauerntums, die in hochentwickelten Industriestaaten aufträten, müßten als solche neu durchdacht werden. KARL RENNER (1870—1951) erwartete eine allmähliche Umgestaltung der Wirtschaft im Sinne einer Bändigung des Kapitalismus durch ordnende Eingriffe des Staates. So wurde er vom Sozialrevolutionär zum nüchtern denkenden Sozialreformer, der die Wirklichkeit konkret zu erfassen sich bemühte. Spätere Theoretiker des Marxismus, wie EMIL LEDERER (1882—1939) und EDUARD HEIMANN (geb. 1889) haben vor allem Fragen einer sozialistischen Wirtschaftsführung durchdacht. Die Auseinandersetzung spitzte sich schließlich auf die — auch von JOSEPH SCHUMPETER aufgenommene — Frage zu, wie in einem sozialistischen Wirtschaftssystem die Daten für eine exakte Wirtschaftsrechnung gewonnen werden könnten. Der Zweifel an der absoluten Richtigkeit marktmäßig gegebener Rechengrößen hat EMIL LEDERER dazu geführt, die inneren Zusammenhänge der Konjunkturschwankungen zu untersuchen. Das Ergebnis dieser Bemühungen war eine modifizierte Unterkonsumtionstheorie. EMIL LEDERER hielt es für möglich, durch eine planmäßige Beeinflussung der Einkommensgestaltung zugunsten der in abhängiger Stellung arbeitenden Menschen das für die wirtschaftliche Entwicklung entscheidende Verhältnis von In-

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Die sozialistische Kritik

vestition und Verbrauch auszugleichen. Ergänzt werden müßte diese Politik allerdings durch eine den „richtigen" Zinssatz ansteuernde Kreditpolitik. Die Entwicklung des revisionistischen Denkens spiegelt die Tatsache wider, daß die von MARX herausgestellten Entwicklungsgesetze der kapitalistischen Wirtschaft durch die Geschichte nicht bestätigt worden sind. Obwohl sich für bestimmte Produktionsaufgaben große und größte Unternehmungen und Betriebe entwickelt haben, haben Mittelund Kleinindustrie und das Handwerk ihre Existenzmöglichkeit nicht verloren. Die elektrische Energie hat es möglich gemacht, auch kleinen Betrieben ein hohes Maß technischer Vollkommenheit zu geben, so daß die Behauptung, der große Betrieb sei Ausdruck hoher technischer Entwicklung, der Kleinbetrieb jedoch ein Überbleibsel technischer Rückständigkeit, nicht mehr stimmt. Ebensowenig trifft es zu, daß sich das Kapitaleigentum in immer weniger Händen zusammenballt. In den hochentwickelten Industrieländern ist im Gegenteil zu beobachten, daß sich das Kapitaleigentum — auch an großen und größten Unternehmungen — immer breiter streut. Schließlich ist die wirtschaftliche Lage der in abhängiger Stellung tätigen Menschen in den hochentwickelten Industrieländern in den letzten Jahrzehnten immer günstiger geworden, so daß gerade diese Menschengruppen zu den bedeutendsten Abnehmern industrieller und landwirtschaftlicher Erzeugnisse geworden sind. Die industrielle Wirtschaft hat also die Möglichkeit gewonnen, die gesellschaftliche Ertragszurechnung den Bedingungen wachsender Produktivität der wirtschaftlichen Leistungen anzupassen. Daß die Interessenorganisationen der in abhängiger Stellung arbeitenden Menschen bei der Lösung dieses wichtigen Problems positiv mitgearbeitet haben, sei wenigstens angedeutet. Wir beobachten, daß die industriell hochentwickelten Volkswirtschaften heute die Fähigkeit besitzen, von innen heraus zu wachsen, sich von innen her zu entfalten. Damit hat auch die Imperialismustheorie von ROSA LUXEMBURG ihre Grundlage verloren.

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KARL MARX' wissenschaftliches Verdienst ist es, das Problem einer wachsenden, sich entfaltenden Industriewirtschaft in voller Klarheit gesehen zu haben. Was er inhaltlich dazu sagte, hat sich als falsch erwiesen. Das schmälert die Bedeutung des schöpferischen Einfalls nicht. Bemerkenswert ist, daß in keinem der hochentwickelten Industrieländer sich von innen heraus der Umbruch von der kapitalistischen Wirtschaftsweise in die sozialistische Wirtschaftsordnung vollzogen hat, wie es KARL MARX erwartet hatte. Aber überall hat die industriewirtschaftliche Gütererzeugung ihr angemessene Formen des wirtschaftlichen Zusammenwirkens gefunden. Die marxistische Lehre ist dagegen in großen industriell unterentwickelten Ländern als ideologische Grundlage für eine vom Staat planmäßig betriebene Industrialisierung benutzt worden. LITERATUR Marx, K. u. Fr. Engels: Manifest der kommunistischen Partei. London 1848, 2. u. d. Titel: Das kommunistische Manifest, Leipzigl872, neueste Ausg. u. d. Titel: Manifest der kommunistischen Partei, Berlin-Ost, 1946, 16. 1958. Marx, K.: Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie, Bd. l, 1867, Bd. 2, 1885, Bd. 3, 1894. Marx, K.: Theorien üher den Mehrwert. Hrsg. von K. Kautsky, Bd. l—3, 1905—1910. Marx, K. u. Fr. Engels: Werke, Schriften, Briefe. Historisch-kritische Gesamtausgabe. Im Auftrage des Marx-Engcls-Institutes Moskau, hrsg. 1927 bis 1935. Engels, Er.: Die Lage der arbeitenden Klassen in England. 1845, 2. 184-!. 2. durchgesh. 1892, Neudruck 1947. Engels, Fr.: Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft. 1878, 11. 1928, neueste Ausg. Berlin-Ost 1948, 12. 1959. Engels, Fr.: Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staates. Im Anschluß an Lewis H. Morgans Forschungen, Zürich 1884, 2. Stuttgart 1886, 24. Berlin 1931, neueste Ausg. Berlin-Ost, 1946, 6. 1955. Bernstein, E.: Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie. 1899. Bernstein, E.: Theorie und Geschichte des Sozialismus. 1901. David, E.: Sozialismus und Landwirtschaft. 1903, neue Ausg. 1922. Tugan-Baranowski, M. v.: Der moderne Sozialismus in seiner geschichtlichen Entwicklung. 1908. _ Hilfcrding, R.: Das Finanzkapital. Eine Studie über die jüngste Entwicklung des Kapitalismus, Wien 1910, 3. Berlin 1947. Luxemburg, R.: Die A k k u m u l a t i o n des Kapitals. Ein Beitrag zur ökonomischen Erklärung des Imperialismus, 1910, 3. 1923. Plechanow, G.: F u n d a m e n t a l problems of Marxisme, 2. ed., London 1923. Kautsky, K.: Die proletarische R e v o l u t i o n und ihr Programm. 1922. Großmann, H.: Das A k k u m u l a t i o n s - und Xusammenbruchsgeser/. des kapitalistischen Systems. Zugleich eine Kristenthcoric, 1929.

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VII. Das historische Denken

Ledcrer, E.: Probleme der Sozialisierung. Sehr. d. Ver. f. Sor. pol. Bd. 159, 1920. Lederer, E., Grundzüge der ökonomischen Theorie. 1922, 3. u. d. Titel: Aufriß der ökonomischen Theorie, 1931. Lederer, E.: Konjunktur und Krisen, GdS, IV, l, 1925. Sombart, W.: Der proletarische Sozialismus (Marxismus): Bd. l· u. 2, 1924. Brauer, Th.: Der moderne deutsche Sozialismus. 1929. "Wendt, S.: Grundsätzliches zur Marxschen Kritik an der Quantitätstheorie. Schm. Jb., Bd. 54, 1.930. Swcezy, P. M.: The theory of capitalistic development. Principles of Marxian political economy, London 1947. Marek, F.: Friedrich Engels. Denker und Kämpfer. "Wien 1950. Mctzke, E.: Marxismusstudien. Hrsg. v. (Sehr. d. Studiengemeinschaft der Evanß. Akademien), Bd. l, 1954, Bd. 2, 1957.

VII. Das historische Denken in der Wirtschaftslehre: Die Begründung einer eigentlichen Volkswirtschaftslehre 1. Die romantische Staats- und Wirtschaftswissenschaft

Die Wurzeln des geschichtlichen Denkens in der Volkswirtschaftslehre, dessen Wesen in der Zusammenschau der einzelnen Gebiete menschlichen Gemeinschaftslebens zu erblicken ist, liegen in der Romantik. Dem Rationalismus der Aufklärungszeit, der zu gedanklichen Abziehungen und logischen Konstruktionen neigte, antwortete der deutsche Geist mit geschichtlichen Besinnungen in allen Bereichen der Geisteswissenschaften. Hauptvertreter der romantischen Staats- und Wirtschaftswissenschaft war ADAM MÜLLER (1779—1829). Wirtschaft erschöpft sich für ihn nicht in dem vom Erwerbsinteresse bestimmten Tun des einzelnen Menschen. Sie ist Ausdruck des Willens, das Leben gemeinschaftlich zu ordnen. Das wird am deutlichsten in der Erscheinung des Geldes sichtbar, das die einzelnen wirtschaftlichen Gebilde zu einer überpersönlichen Ganzheit verbindet. Geld kann also in seinem eigentlichen Wesen nicht von der Substanz her — als Ware unter Waren — begriffen werden, sondern nur als Ausdrucksform des Willens zur Gemeinschaft, zum Zusammenwirken. So wird ADAM MÜLLER zum Begründer einer Geldlehre, die später von GEORG FRIEDRICH KNAPP als nominalistische Geldtheorie

1. Die romantische Staats- und Wirtschaftswissenschaft

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bezeichnet worden ist. Das Geld ist für ADAM MÜLLER der sichtbare Ausdruck dafür, daß die ganze Wirtschaft als dienendes Glied der Gemeinschaft nur verstanden werden kann, wenn man sie aus den geistig-schöpferischen Kräften des menschlichen Zusammenlebens überhaupt ableitet. Mit diesen Auffassungen tritt ADAM MÜLLER der in individualistischen Vorstellungen wurzelnden klassischen Lehre als grundsätzlicher Kritiker entgegen. ADAM MÜLLER spricht einmal von dem „Geheimnis der Gegenseitigkeit aller Verhältnisse des Lebens". Mit diesem Gedanken weist er auf einen Tatbestand hin, der im wirtschaftlichen Zusammenwirken der Menschen eine besondere Bedeutung hat. Allerdings fehlte ihm die Kraft, diesen Gedanken theoretisch exakt auszuwerten. Was er bei der Kritik des Wettbewerbes als einer bedeutenden Antriebskraft im Wirtschaftsleben über die schöpferische Leistung persönlichen Zusammenwirkens in der Wirtschaft sagt, geht über unbestimmte Andeutungen, die überlieferte Ordnungsformen des Zunftwesens und der Landwirtschaft betreffen, nicht hinaus. Wichtig ist allerdings, daß er die produktive Kraft staatlicher Wirtschaftspolitik erkennt. Damit weist er dem Staat im Zusammenhang des Wirtschaftslebens eine grundsätzlich andere Stellung zu, als es im System der sog. klassischen Ökonomie geschehen ist. Vom Gedanken des Organismus ausgehend, begründete FRANZ XAVER v. BAADER (1765—1841), der vom Studium der Medizin herkam, den Gedanken der Arbeitsteilung als Ausgliederung der Leistungen innerhalb einer zusammenfassenden Ordnung, damit ebenfalls auf die Bedeutung übergeordneter Ganzheiten hinweisend. Sehr viel konkreter als ADAM MÜLLER und FRANZ XAVER v. BAADER dachte FRIEDRICH LIST (1789—1846). Aus der gegebenen geschichtlichen Situation eines Volkes betrachtete er die Probleme der sich entwickelnden industriellen Wirtschaft. Er stellte nicht nur der kosmopolitisch denkenden Weltökonomie eine politisch bestimmte Nationalökonomie entgegen; er setzte an die Stelle der statisch gedachten Lehre von den Tauschwerten als Ausgangspunkt

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VII. Das historische Denken

wirtschaftswissenschaftlichen Denkens eine dynamisch begriffene Lehre von den produktiven Kräften. Er hielt es für widersinnig, bei Überlegungen über den Wohlstand einer Nation von dem jeweils gegenwärtigen Vorrat verkaufsfähiger Erzeugnisse auszugehen. Denn dieser Vorrat bestimme ja nur die Situation in einem gegebenen Zeitpunkt. Viel wichtiger erschien ihm die jeweils vorhandene Fähigkeit, neue Güter hervorzubringen. Wer seinen Blick auf diese Fragen richte, löse ihn von der Bindung an einen Zeitpunkt und gewinne so die Möglichkeit, Entwicklungen in ihren großen Zusammenhängen zu überschauen. FRIEDRICH LIST stützte seine dynamisch gedachte Theorie der produktiven Kräfte auf eine neue Vorstellung der Produktivität, die — ähnlich wie bei ADAM MÜLLER und FRANZ XAVER v. BAADER — aus den engen Begrenzungen substanzgebundenen Denkens herausgelöst worden war. Für ADAM SMITH galt nur diejenige Tätigkeit als wirtschaftlich produktiv, die verkaufsfähige Güter hervorbrachte. Der Begriff der Produktivität wurde von ihm auf die jeweils bestehende Marktlage bezogen. FRIEDRICH LIST erfaßte demgegenüber auch alle diejenigen Leistungen als produktiv, die die Leistungsfähigkeit der Volkswirtschaft insgesamt steigern, ohne in den Rechengrößen des Marktes unmittelbar ihren Niederschlag zu finden. Damit legte er den Blick auf wirtschaftliches Geschehen frei, das über die Preisrechnung des Marktes hinausreicht. Man denke etwa an die. Entwicklung der für die unternehmungsweise zu vollziehende Produktion wichtigen nationalen Einrichtungen und Ordnungen, an das Rechtssystem, das Schulwesen und die sonstigen Bildungsanstalten, an die öffentliche Verwaltung und die verschiedenartigen Verkehrseinrichtungen. Mit diesen Feststellungen gewann er gleichzeitig die Möglichkeit nachzuweisen, daß die wirtschaftliche Bedeutung des Güter- und Leistungsaustausches zwischen Ländern, in denen die produktiven Kräfte einen verschiedenen Stand der Entwicklung erreicht haben, nicht mit Hilfe von statisch gedachten Kostenvergleichen — auch nicht mit Hilfe

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von relativen Kostenvergleichen nach Art der Theorie der komparativen Kosten — erschlossen werden kann, sondern allein aus der Untersuchung der Entwicklungsmöglichkeiten heraus. Die Lehre von der wirtschaftlichen Entwicklung fand ihren Niederschlag in einer besonderen Theorie der Wirtschaftsstufen, die danach unterschieden werden, wie weit die produktiven Kräfte sich entwickelt haben. Methodisch stellt die Lisrsche Wirtschaftsstufenlehre gegenüber ähnlichen Versuchen bei KARL BÜCHER oder GUSTAV v. SCHMOLLER insofern eine Besonderheit dar, als die Wirtschaftsstufen nicht als idealtypische Begriffe erfaßt, sondern als notwendige geschichtliche Entwicklungsabschnitte angesehen werden. Mit dieser Wirtschaftsstufenlehre verbindet sich bei FRIEDRICH LIST der Gedanke, daß die wirtschaftliche Entwicklung politisch gefördert werden könne und bewußt gefördert werden müsse. Wichtig erscheint dabei die Pflege des Verkehrssystems — in seiner Zeit insbesondere die planmäßige Förderung des Eisenbahnbaues — und der zeitweilige Schutz der eigenen Industrie gegenüber dem Wettbewerb vollentfalteter fremder Industrien. Dieser handelspolitische Schutz wird als eine Maßnahme gedacht, die der Erziehung, der Entfaltung der produktiven Kräfte dienen soll. Zwischen Ländern der gleichen wirtschaftlichen Entwicklungsstufe könnte und müßte es freien Handel geben. Schutzzölle zur Erhaltung bestimmter Wirtschaftszweige zu fordern, lag dem entwicklungstheoretischen Denken von FRIEDRICH LIST fern. Die Konzeptionen der modernen dynamischen Theorie haben die Möglichkeit erschlossen, die wissenschaftliche Leistung FRIEDRICH LIST'S richtig zu würdigen. Er sieht auch die Bedeutung der Macht, die in einem konkreten Entwicklungsstand der produktiven Kräfte begründet ist. So hat er dazu beigetragen, die Notwendigkeiten politischer Gestaltung innerhalb der wirtschaftlichen Entwicklung klar zu erkennen. LITERATUR Müller, A.: Elemente der Staatskunst. T. l—3. 1809. Müller, A.: Versuche einer neuen Theorie des Geldes mit besonderer Rücksicht auf Großbritannien. 1816, neue Ausg. 1922.

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VII. Das historische Denken

Müller, A.: Von der Notwendigkeit einer theologischen Grundlage der gesamten Staatswissenschaften und der Staatswirtschaft insbesondere. 1819. Müller, A.: Gesammelte Schriften, 1839. Baader, Fr. v.: Über den Evolutionismus und Revolutionismus oder über die positive und negative Evolution des Lebens überhaupt und des sozialen Lebens insbesondere. 1834. Baader, Fr. v.: Ober das dermalige Mißverhältnis der Vermögenslosen oder Proletairs zu den Vermögen besitzenden Klassen der Societät. 1835. List, Fr.: Das nationale System der politischen Ökonomie. 1841, 4. 1922. List, Fr.: Schriften, Reden, Briefe, Historisch-kritische Gesamtausgabe, hrsg. von E. v. Beckerath u. a., 10 Bde., 1927—1936. Lenz, Fr.: Agrarlehre und Agrarpolitik der deutschen Romantik. 1912. Schmidt, C.: Politische Romantik. 1919, 2. 1924. Sommer, A.: Friedrich Lists System der politischen Ökonomie. 1927. Baxa, J.: Adam Müller. 1930. Lenz, Fr.: Friedrich List, die Vulgärökonomie-und Karl Marx. 1930. Brinkmann, C.: Friedrich List. 1949. Weippert, G.: Der späte List. Ein Beitrag zur Grundlegung der Wissenschaft von der Politik und zur politischen Ökonomie als Gestaltungslehre der Wirtschaft. 1956.

2. Die ältere historische Schule

In der älteren historischen Schule, als deren Vertreter WILHELM RÖSCHER (1817—1894), BRUNO HILDEBRAND (1812—1878) und KARL KNIES (1821—1891) genannt werden können, kreisten die Gedanken vornehmlich um die Frage, was man unter „volkswirtschaftlichen Gesetzen" zu verstehen habe und wie weit „volkswirtschaftliche Gesetze" gültig seien. Allen drei genannten Nationalökonomcn ist gemeinsam, daß sie das Wirtschaftsleben der Menschen nicht als einen Naturprozeß ansahen, sondern bewußt als geschichtliche Leistung begriffen, die sich einer einfachen kausalgesetzlichen Analyse entzieht. Zu einem eigentlichen theoretischen Neuansatz ist WILHELM RÖSCHER, der die wissenschaftliche Neubesinnung durch seinen Grundriß zu Vorlesungen über die Staatswirtschaft nach geschichtlicher Methode eingeleitet hatte, nicht durchgestoßen. Er legte zwar den Blick auf zahlreiche neue Problembereiche frei, bändigte jedoch diese Stoffmassen im wesentlichen mit den begrifflichen Kategorien des klassischen Denkens. Zwar hat auch er sich gegen die durch nichts bewiesene und auch nicht zu beweisende Behauptung gewandt, daß eine allein durch den Egoismus gesteuerte Wirtschaft von selbst zu einem Ausgleich der Interessen und damit zu vollendeter Har-

2. Die ältere historische Schule

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monie in der Zusammenordnung der Leistungen führe. Er betonte immer wieder die Bedeutung der sittlichen Kräfte im menschlichen Zusammenleben. In dieser Auffassung trifft er sich mit BRUNO HILDEBRAND, der die Nationalökonomie zu den ethischen Wissenschaften rechnete, da sie es mit menschlichem Verhalten und menschlichen Entscheidungen zu tun habe. Methodisch wichtige Erkenntnisse grundsätzlicher Art verdankt die Wirtschaftswissenschaft KARL KNIES. Er unterschied klar zwischen Gesetzen der äußeren Natur und Gesetzmäßigkeiten bei wirtschaftlichen Erscheinungen, die dadurch zustande kommen, daß sich die Menschen mit Dingen der äußeren Natur auseinandersetzen. Mit aller Entschiedenheit lehnte KNIES den Gedanken ab, daß das Verhalten der Menschen den Sachgütern gegenüber durch diese Güter bestimmt werde und daher einheitlich und unwandelbar sei. So gewann er die Möglichkeit, den klassischen Denkansatz grundsätzlich zu kritisieren. Er erfaßte das Verhältnis von Mensch und Sachgüterwelt im Bilde einer mathematischen Funktion, die mit veränderbaren Größen rechnet. Unterliegen doch die zur „Feststellung nationalökonomischer Gesetze dienlichen Erscheinungen" dauernder Veränderung, so daß verschiedene wirtschaftliche Einrichtungen und verschiedene Maßnahmen der Volkswirtschaftspolitik unter verschiedenartigen Umständen berechtigt sein können. Das in diesen Feststellungen zum Ausdruck kommende „Prinzip der Relativierung" gilt nicht nur für qualitativ verschiedenartige Merkmale wirtschaftlicher Erscheinungen, sondern auch für größenmäßig erfaßbare Erscheinungen. Es liegt daher in der Logik der wissenschaftlichen Grundkonzeption von KARL KNIES, daß er die Statistik aus den Bindungen einer beschreibenden Staatskunde befreite und sie als selbständige Wissenschaft von den größenmäßig erfaßbaren Tatbeständen des menschlichen Wirtschafts- und Gesellschaftslebens begründete, so die für die neuere wissenschaftliche Entwicklung bedeutungsvolle Unterscheidung von kausaler Gesetzmäßigkeit und statistischer Regelmäßigkeit vorbereitend.

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VII. Das historische Denken

Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhange auch die Jenenser Rektoratsrede von BRUNO HILDEBRAND über „die wissenschaftliche Aufgabe der Statistik". Die grundsätzliche Bedeutung statistischer Forschungen liegt für HILDEBRAND darin, daß sie allein die Möglichkeit erschließen, die Wirtschaftswissenschaft von der Herrschaft abstrakter Spekulationen zu befreien. Die Feststellung zahlenmäßig erfaßbarer Tatsachen ist aber nur der erste Schritt, den der Statistiker zu tun hat. Zur Wissenschaft wird die Statistik erst, wenn es ihr gelingt, durch zeitliche und räumliche Vergleiche Verschiedenheiten und "Gleichheiten aufzudecken und so allgemeine Zusammenhänge zu erkennen. So ist HILDEBRAND einer der ersten gewesen, die statistische Erhebungen systematisch in den Dienst wirtschaftswissenschaftlicher Erkenntnis gestellt haben. Wie fruchtbar vom Boden der geschichtlichen Auffassung des Wirtschaftslebens theoretische Forschungen betrieben werden können, zeigt KARL KNIES in seinem großen Werk über „Geld und Kredit". Weil er die Kraft hatte, ökonomische Seinsanalyse systematisch mit geschichtlich-politischem Denken zu durchdringen, gelang es ihm, die wesenhaft neue Bedeutung des Kredites für das Geldwesen zu erkennen. Die moderne Kredittheorie und die Auffassung des Geldes als einer Funktion des wirtschaftlichen Zusammenwirkens — die in aller Deutlichkeit auch bei BRUNO HILDEBRAND zu finden ist — haben hier ihre geistige Wurzel. Diese Feststellung gilt, obwohl KARL KNIES selbst eine metallistische Erklärung des Geldwertes zu geben versucht hat. Seine Ausführungen in der Schrift „Weltgeld und Wcltmünze" können als ^rste Andeutungen moderner Weltwährungspläne angesehen werden. LITERATUR Röscher, W.: Grundriß zu Vorlesungen über die Staatswirtschaft nach geschichtlicher Methode. 1843. Röscher, W.: System der Volkswirtschaft. Bd. l—6, 1854ff. Röscher, W.: Ansichten der Volkswirtschaft aus dem geschichtlichen Standpunkte. 2 Bde., 1878. Hildebrand, Bruno: Die Nationalökonomie der Gegenwart und Zukunft. 1848, neue Ausg. u. d. Titel: Die Nationalökonomie der Gegenwart und Z u k u n f t und andere gesammelte Schriften, 1922.

3. Die jüngere historische Schule

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Hildebrand, Bruno: Die gegenwärtige Aufgabe der Wissenschaft der Nationalökonomie. In: Jb. f. Nat. oek. u, Stat., Bd. l, 1863. Hildebrand, Bruno: Die wissenschaftliche Aufgabe der Statistik. In: Jb. f. Nat. oek. u. Stat., Bd. 6, 1865. Knies, Karl: Die politische Ökonomie vom Standpunkte der geschichtlichen Methode. 1853, 2. u. d. Titel: Politische Ökonomie vom geschichtlichen Standpunkte, 1883, Neudruck 1930. Knies, Karl: Die Statistik als selbständige Wissenschaft. Zur Lösung des Wirrsals in der Theorie und Praxis dieser Wissenschaft. Zugleich ein Beitrag •/.u einer kritischen Geschichte der Statistik seit Achenwall, 1850. Knies, Karl: Geld und Kredit. Bd. l, das Geld, 1873, Bd. 2, der Kredit, 1879, Neudruck 1931. Knies, Karl: Weltgeld und Weltmü'nzc. 1874. Weber, M.: Röscher und Knies und die logischen Probleme der historischen Nationalökonomie. In: Schm. Jb., Bd. 27, 1903, Bd. 29, 1905 u. Bd. 30, 1906, wieder abgedr. in: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, 1922, 2. 1951. Pütz, Th.: Karl Knies als Vorbereiter einer politischen Volkswirtschaftslehre. Schm. Jb., Bd. 60, 1936. Oldenburg, U.: List — Knies — von Gottl-Ottlilienfeld. Eine Entwicklungslinie der Abkehr vom Liberalismus in der deutschen Volkswirtschaftslehre, 1936. Stein, O.: Die „Deutsche historische Schule" der Nationalökonomie. In: Der Weg der deutschen Volkswirtschaftslehre, hrsg. von E. Wiskemann und H. Lütke, 1937. F.iscrmann, G.: Die Grundlagen des Historismus in der deutschen Nationalökonomie. 1956.

3. Die jüngere historische Schule

Die Unterscheidung einer jüngeren historischen Schule von der älteren historischen Schule geht im wesentlichen auf ADOLPH WAGNER (1835—1917) zurück, der sich unter dem Einfluß des in der Hauptsache zwischen GUSTAV v. SCHMOLLER (1838—1917) und KARL MENGER (1840 bis 1921) geführten Methodenstreites veranlaßt sah, sich von GUSTAV v. SCHMOLLER abzugrenzen, seine geistige Verbundenheit mit der älteren historischen Schule aber klar zum Ausdruck bringen wollte. Das oft angeführte Merkmal zur Unterscheidung der beiden Gruppen historisch denkender Nationalökonomen: die ältere Gruppe sei in stärkerem Maße theoretisch-systematischem Denken zugewandt gewesen, während die Vertreter der jüngeren Gruppe sich in beziehungsloser Beschreibung geschichtlicher Einzelheiten erschöpft habe, kann nur bedingt anerkannt werden. Während in der älteren Gruppe WILHELM RÖSCHER weit ausgreifender Beschreibung zugeneigt war,

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VII. Das historische Denken

bewiesen in der jüngeren Gruppe Männer wie Lujo BRENTANO (1844— 1931) und GEORG FRIEDRICH KNAPP (18.42 bis 1926) Willen und Fähigkeit zu theoretisch-systematischer Analyse. So bleibt als geschichtlicher Anlaß zur Abgrenzung der beiden Gruppen nur der sogenannte Methodenstreit, den die jüngere historische Schule mit Vertretern der Grenznutzentheorie führte. In diesem Methodenstreit ging es darum, die wissenschaftliche Berechtigung der deduktiven und der induktiven Methode der Forschung nachzuprüfen. KARL MENGER, dem wir eine Wiederbelebung der im engeren Sinne des Wortes theoretischen Forschung innerhalb des deutschen Sprachgebietes verdanken, verfocht das Recht der Deduktion, der gedanklichen Ableitung besonderer Einsichten und Erkenntnisse aus allgemeinen Obersätzen, so wie es etwa in der Mathematik und in der theoretischen Physik möglich ist. KARL MENGER glaubte, auf diesem Wege allgemeine Gesetzmäßigkeiten des Wirtschaftslebens aufdecken zu können, mit deren Hilfe der jeweils gegebene Einzelfall zureichend erklärt werden könnte. „Erklären" heißt in diesem Falle, einen beobachteten Tatbestand in einen allgemeinen Zusammenhang einzuordnen, ihn als Ausdruck eines allgemein gültigen Gesetzes zu erkennen. GUSTAV- v. SCHMOLLER behauptete demgegenüber, daß im Bereich der geschichtlichen Erscheinungen, zu denen auch die menschliche Wirtschaft zu rechnen sei, nur die induktive Forschung brauchbare Erkenntnisse liefern könne. Allgemeine Erkenntnisse könnten nur gewonnen werden, wenn man eine Vielzahl von Einzelfällen gleicher oder ähnlicher Art genau beobachte und dabei allgemeine Merkmale und Besonderheiten unterscheide. Beobachtung und Erfahrung seien die Grundlagen exakter Forschung. Das Wirtschaftsleben sei im Zeitalter des Industrialismus so verwickelt und zeige so vielfältige Besonderheiten, daß man sich zunächst darauf beschränken müsse, diese Wirklichkeit bis in alle Einzelheiten hinein zu beschreiben und so Erfahrungsmaterial zu sammeln. Jede voreilige Verallgemeinerung von Erkenntnissen würde den Gang der Forschung nur stören. SCHMOL-

3. Die jüngere historische Schule

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LER übersieht dabei, daß Tatsachen nur dann wissenschaftlich festgestellt und geordnet werden können, wenn man bestimmte Begriffe besitzt, mit deren Hilfe man an die Wirklichkeit herangehen kann. In der Wirtschaftswissenschaft herrscht heute die Überzeugung, daß nur in einer Verbindung von Induktion und Deduktion das Ziel, die wirtschaftliche Wirklichkeit geistig zu durchdringen, erreicht werden kann. Auch darüber besteht Einigkeit, daß allgemein gültige Aussagen über die Art, wie induktive und deduktive Forschung miteinander verbunden werden müssen, nicht gemacht werden können. Jeder Forschungsgegenstan.d erfordert ihm angepaßte Methoden der Untersuchung. Ganz deutlich wird das etwa in JOSEPH SCHUMPETER'S Abhandlung über „Gustav v. Schmoller und die Probleme von heute". Als das wichtigste Ergebnis dieses „Methodenstreites" kann wohl angesehen werden, daß die moderne theoretische Forschung immer wieder die Besonderheiten der gegebenen gesellschaftlichen Verhältnisse in ihre Überlegungen einbezieht. Nicht mit Unrecht spricht man davon, daß die Wirtschaftstheorie der Gegenwart bemüht sei, ihre Gedankengänge soziologisch zu vertiefen, um Erkenntnisse zu gewinnen, die der Wirklichkeit des Lebens entsprechen. GUSTAV v. SCHMOLLER forderte und förderte weitausgreifende Untersuchungen tatsächlicher Wirtschaftsverhältnisse, gleichsam als Vorarbeiten für eine geschichtlich begründete Theorie, mit deren Hilfe die Wirtschaft aus dem Zusammenhang ihrer gesellschaftlichen und politischen Bedingtheiten verstanden werden kann. Er sah die Wirtschaft als Teil des Volkslebens überhaupt und es ging ihm darum, Anschauung den geschichtlich bedingten Einrichtungen und Ordnungen der Wirtschaft zu gewinnen. Die geistige Auseinandersetzung mit den funktional zu begreifenden Beziehungen im Rechensystem der Wirtschaft trat dabei in den Hintergrund. Kennzeichnend für SCHMOLLER ist das positive Bekenntnis zu sozialpolitischer Gestaltung. Auch als Wissenschafter glaubte er, Normen für eine sozialpolitisch sinnvolle Ordnung von Wirtschaft 7 Geschidvte der Volkswirtschaftslehre

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VII. Das historische Denken

und Gesellschaft entwickeln zu können. Im Jahre 1872 war er maßgebend an der Gründung des Vereins für Sozialpolitik beteiligt. Das Bewußtsein sozialer Verantwortung bestimmte auch die wissenschaftliche Arbeit des dem Liberalismus zugeneigten Lujo BRENTANO (1844—1931), dem im Bereiche des Lohnproblems bedeutende Erkenntnisse grundsätzlicher Art, insbesondere über den Zusammenhang von Arbeitslohn, Arbeitszeit und Arbeitsleistung zu danken sind. BRENTANO machte darauf aufmerksam, daß die Arbeitsleistung keine lineare Funktion der Arbeitszeit ist, sondern daß zwischen beiden Erscheinungen höchst verwickelte funktionale Abhängigkeiten bestünden, die nur aufgedeckt werden könnten, wenn man die konkreten Bedingungen eines jeden Falles berücksichtige. Das Optimum der Leistung im Verhältnis zur Arbeitszeit ist geschichtlich wandelbar. Auch 'der Arbeitslohn — gedacht als Lohnsatz für eine bestimmte Einheit der Arbeitsleistung, etwa für eine Arbeitsstunde — sei als solcher nicht für die Höhe der Arbeitskosten entscheidend. Es komme auf das dem Arbeitslohn entsprechende Ergebnis der Arbeit an. Da zeige sich, daß hochbezahlte Arbeiter im allgemeinen auch eine höhere Leistungsfähigkeit besäßen. Entwicklungsmäßig gesehen bestünde zwischen der Höhe des Arbeitslohnes und der Größe der Arbeitsleistung eine funktionale Beziehung. Große Leistungsfähigkeit ermögliche einen hohen Arbeitslohn; aber ein hoher Arbeitslohn steigere unter bestimmten Bedingungen auch die Arbeitsleistung. In der Außenhandelspolitik vertrat er mit Leidenschaft den Gedanken des Freihandels. Ein großes Industrieland wie Deutschland brauche die weitgehende Eingliederung in die Weltwirtschaft, wenn die industrielle Arbeit zu sozialpolitisch vernünftigen Bedingungen geleistet werden solle. Er wandte sich daher mit aller Entschiedenheit gegen jeden handelspolitischen Schutz der Landwirtschaft. Bedeutend sind seine wirtschaftshistorischen Untersuchungen, insbesondere die Darstellung der wirtschaftlichen Entwicklung Englands.

3. Die jüngere historische Schule

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GEORG FRIEDRICH KNAPP (1842—1926), der die Auswirkung der Bauernbefreiung auf die soziale Struktur und die wirtschaftliche Lage der Landwirtschaft eingehend untersucht hat, gelang in der „Staatlichen Theorie des Geldes" ebenfalls eine systematisch-theoretische Leistung von hohem Rang. Allerdings ging KNAPP in diesem glänzend geschriebenen Buche — es gehört ohne Zweifel zu den größten schriftstellerischen Leistungen unseres Faches — nicht auf die ökonomische Problematik des Geldes ein. Er erfaßte das Geld überhaupt nicht als eine Funktion des Wirtschaftslebens, sondern beschränkte sich darauf, die Arten des Geldes und die Einrichtungen des Geldwesens zu beschreiben. So kam er dazu, das Geld als ein Geschöpf der Rechtsordnung zu betrachten. Der Staat habe die Möglichkeit zu sagen, was Geld sein soll, er begültige das Geld und gebe dadurch an, durch welche Art der Zahlung ein Schuldner sich seiner Verpflichtungen mit Rechtskraft entledigen könne. KNAPP stellte also der metallistischen Auffassung des Geldes, die das Geld nur als eine Ware zu denken vermochte, eine nominalistische Auffassung gegenüber, die das Zeichen der vom Staat gesetzten Begültigung für das Wesentliche hält. Ohne Zweifel hat die „Staatliche Theorie des Geldes" von GEORG FRIEDRICH KNAPP dazu beigetragen, manche Vorurteile metallistischer Art zu überwinden. Auf der anderen Seite hat sie die Auseinandersetzung mit den dynamischen Problemen der Geldwertveränderung in Deutschland in einer verhängnisvollen Weise gehemmt. Als Vertreter historischen Denkens wären noch zu nennen KARL BÜCHER (1847—1930), der im Zusammenhang geschichtlicher Forschungen das Gesetz der Massenproduktion entdeckte, GERHART v. SCHULZE-GÄVERNITZ (1864 bis 1943), dem wir aufschlußreiche Untersuchungen über die wirtschaftlichen und sozialen Probleme des Großbetriebes verdanken, MAX SERING (1857—1939), der das ländliche Siedlungswesen und die Problematik der landwirtschaftlichen Verschuldungsverhältnisse untersucht hat, HEINRICH HERKNER (1863—1932) der — gestützt auf die groß angelegte Untersuchung über „ die Arbeiterfrage" — einen maß-

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VII. Das historische Denken

gebenden Einfluß auf die deutsche Sozialpolitik gewonnen hat, und HERMANN SCHUMACHER (1868—1952), der die wirtschaftspolitischen Probleme seiner Zeit stets in weltweiten Zusammenhängen gesehen hat, immer bemüht, zu grundsätzlich bedeutungsvollen Erkenntnissen vorzustoßen. LITERATUR Brentano, L.: Die Arbeitergilden der Gegenwart. 1. Bd. Zur Geschichte der englischen Gewerkvereine, 1871; 2. Bd. Zur Kritik der englischen Gewerkvereine, 1872. Brentano, L.: Über das Verhältnis von Arbeitslohn und Arbeitszeit zur Arbeitsleistung. 1876, 2. 1893. Brentano, L.: Über die Ursachen der heutigen sozialen Not. Ein Beitrag zur Morphologie der Volkswirtschaft, 1889, 2. 1889. Brentano, L.: Mein Leben im Kampf um die soziale Entwicklung Deutschlands, 1931. Knapp, G. Fr.: Die Bauernbefreiung und der Ursprung der Landarbeiter, in den älteren Teilen Preussens. 2 Bde., 1887, 2. als 2. und 3. Bd. der Ausgew. Werke, 1927. Knapp, G. Fr.: Staatliche Theorie des Geldes. 1905, 4. 1923. Bücher, K.: Die Entstehung der Volkswirtschaft. 1. Sammig., 1893, 17. 1926, 2. Sammig., 1918, 8. 1925. Bücher, K.: Arbeit und Rhythmus. 1896, 6. 1924. Schulze-Gävernitz, G. v.: Der Großbetrieb. Ein wirtschaftlicher und sozialer Fortschritt. 1892. Schmoller, G. v.: Zur Methodologie der Staats- und Sozialwissenschaften. Schm. Jb., Bd. 7, 1883. Schmoller, G. v.: Über einige Grundfragen der Sozialpolitik und Volkswirtschaftslehre. 1898, 2. 1904. Schmoller, G. v.: Grundriß der allgemeinen Volkswirtschaftslehre. 1. Teil, 1900, 2. 1923; 2. Teil, 1904, 2. 1923. Sdimoller, G. v.: Die soziale Frage, Klassenbildung, Arbeiterfrage, Klassenkampf. Hrsg. v. Lucie Schmoller, 1918. Sering, M.: Die Bodenbesitzverteilung und die Sicherung des Kleingrundbesitzes. Sehr. d. Ver. f. Soz. pol., Bd. 58, 1893. Sering, M.: Agrarkrisen und Agrarzölle. 1925. Serinp, M.: Die deutsche Landwirtschaft unter volks- und weltwirtschaftlichen Gesichtspunkten. Dargestellt unter Verwertung und Ergänzung der Arbeiten des Ausschusses zur Untersuchung der Erzeugungs- und Absatzbedingungen der deutschen Wirtschaft. 1932. Sering, M.: Deutsche Agrarpolitik. Auf geschichtlicher und landeskundlicher Grundlage. Beridit des deutschen Forschungsinstitutes für Agrar- und Siedlungswesen an die internationale Konferenz für Agrarwissenschaft, 1934. Herkner, H.: Die Arbeiterfrage. Eine Einführung, 1894, 8. in 2 Bden., 1922. Schumacher: Weltwirtschaftliche Studien. Vorträge und Aufsätze, 1911. Schumacher: Die Wirtschaft in Leben und Lehre. Eine Einführung in die Volkswirtschaftslehre, 1934. Schumpeter, J.: Gustav Schmoller und die Probleme von heute. Schm. Jb., Bd. 50, 1926, wieder abgedr. in: Dogmenhistorische und biographische Aufsätze, hrsg. von E. Schneider und A. Spiethoff, 1954. Brinkmann, C.: Gustav Sdimoller und die Volkswirtschaftslehre. 1937. Eucken, W.: Die Überwindung des Historismus. Schm. Jb. Bd. 62, 1938. Eucken, W.: Wissenschaft im Stile Schmollers, Weltw. Ardi. Bd. 52, 1940.

4. Die historisch-soziologische Schule

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Ritzel, G.: Sdimoller versus Menger! Eine Analyse des Methodenstreites im Hinblick auf den Historismus in der Nationalökonomie (Diss. Basel), Frankfurt, 1950. Wendt, S.: Die Wirtschaft in Leben und Lehre. Hermann Schumacher und sein Werk, Schm. Jb., Bd. 78, 1958.

4. Die historisch-soziologische Schule

Das geschichtliche Denken drängte nach einer Periode weitausgreifender Einzeluntersuchungen zu geistiger Auswertung und Systematisierung der gewonnenen Erkenntnisse. Die historische Forschung wurde mit soziologischen Fragestellungen verbunden. Vielleicht kann man auch sagen, daß die soziologische Forschung Ergebnisse historischer Untersuchungen ausschöpfte und die eigenen Fragestellungen an Begriffen der ökonomischen Theorie orientierte. In umfassender Synthese versuchte WERNER SOMBART (1863—1941) die Gesamtgestalt der kapitalistischen Wirtschaft aus den geschichtlichen Kräften zu verstehen. Nach Abschluß dieser großen geschichtlichen Untersuchungen hat er sich bemüht, die Art seines Fragens und Forschens erkenntniskritisch zu prüfen. Der „richtenden" Nationalökonomie, die als normative Wissenschaft nicht in erster Linie erkennen will, was in der Wirklichkeit ist und was in ihr geschieht, sondern ableiten will, was sein soll, damit die Wirtschaft ihre eigentliche Aufgabe erfüllen kann — als Vertreter der richtenden Nationalökonomie nennt SOMBART die Scholastiker, die Harmonisten und die Rationalisten — und der „ordnenden" Nationalökonomie, die das durch Elementarisierung, Quantifizierung und Mathematisierung gekennzeichnete Denken der Naturwissenschaft auf die Erforschung der Wirtschaft übertragen will — in diese Gruppe reiht SOMBART die „Objektivisten", die „Subjektivisten" und die „Relationisten", also alle Vertreter der ökonomischen Theorie im engeren Sinne des Wortes ein — stellt WERNER SOMBART die „verstehende" Nationalökonomie als eigentlich „geistwissenschaftliche" Wirtschaftslehre gegenüber. Die Erkenntnisweise, die dieser Wissenschaft den Namen gegeben hat, ist das Verstehen. Ver-

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VII. Das historische Denken

stehen heißt, den Sinn eines Tatbestandes oder eines Vorganges zu erfassen. Verstehen ist nach SOMBART eine wissenschaftliche Erkenntnisweise, die den Erscheinungen menschlicher Kultur gegenüber ebenso berechtigt ist, wie das „Begreifen" im Sinne des äußerlichen Ordnens gegenüber den Erscheinungen der äußeren Natur. Zwischen dem „Verstehen" von Zusammenhängen im Bereich der menschlichen Kultur und dem „Begreifen" von Zusammenhängen im Erscheinungsbild der äußeren Natur bestehe ein grundsätzlicher Unterschied. Den Sinn eines geschichtlichen Vorganges erfassen wir, wenn wir ihn in einen uns bekannten Zusammenhang einbeziehen können. In anderen Bereichen der Geisteswissenschaften sind wesentliche Vorarbeiten für die Entfaltung dieser Art des Denkens in der Volkswirtschaftslehre geleistet worden. SOMBART selbst weist auf die Arbeiten des Historikers GUSTAV DROYSEN (1808—1884), der Philosophen WILHELM DILTEY (1833—1911) und EDUARD SPRANGER (geb. 1882) und des Juristen RUDOLF STAMMLER (1856—1938) hin. Im Bereiche des Faches selbst ist diese Entwicklung gefördert worden durch MAX WEBER (1864—1920), FRIEDRICH v. GOTTL-OTTLILIENFELD (1868—1958), CARL BRINKMANN (1885—1954), HORST JECHT (geb. 1901), GEORG WEIPPERT (geb. 1899) und ERICH EGNER (geb. 1901). Zur logischen Begründung einer geisteswissenschaftlichen Forschung in den Sozialwissenschaften hat MAX WEBER ohne Zweifel am meisten beigetragen. Nicht nur dadurch, daß er selbst die Zusammenhänge von Wirtschaft und Gesellschaft, von wirtschaftlichen Erscheinungen und geistigen Gestalten ebenso umfassend wie tiefschürfend untersucht hat, sondern vor allem durch eigene erkenntniskritische Besinnung. Bei diesen Bemühungen, Grenze und Umfang der „Objektivität sozialwissenschaftlicher Erkenntnis" zu unireißen, hat MAX WEBER sich zunächst mit der Problematik des Werturteils in der wirtschaftswissenschaftlichen Forschung auseinandergesetzt, dadurch den jüngeren „Methodenstreit" einleitend. Seine bedeutendste erkenntniskritische Leistung besteht aber wohl darin, daß er als wich-

4. Die historisch-soziologische Schule

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tigstes methodisches Hilfsmittel geisteswissenschaftlichen Verstehens den Begriff des „Idealtypus" entfaltet hat. Durch Bildung idealtypischer Begriffe soll nicht das gattungsmäßig Allgemeingültige, sondern die geistige Eigenart von Erscheinungen des menschlichen Gesellschaftslebens zu Bewußtsein gebracht werden. Idealtypische Begriffe werden also nicht im Wege aussondernder Abziehungen gewonnen, sondern durch zusammenfassende Hervorhebung dessen, was für das geisteswissenschaftliche Verständnis wesentlich ist. Ideale Typen sind also durch Zusammenschau gewonnene synthetische Vorstellungen. Das gilt nicht nur für zuständliche Erscheinungen, also für soziale Gebilde, die in ihrem Sein erfaßt werden sollen, sondern auch für Vorgänge im Gesellschaftsleben, die als geistbestimmte Veränderungen oder als geistige Bewegungen verstanden werden sollen. Durch diese Untersuchungen erhielten auch die Wirtschaftstrleone im engeren Sinne des Wortes und die Behandlung theoretischer Einzelfragen wertvolle Anregungen. Man spürt das besonders an den Arbeiten CARL BRINKMANNS, der bestrebt war, die Fragen nach den Veränderungen im wirtschaftlichen Rechensystem mit der Untersuchung der zugrunde liegenden gesellschaftlichen Bewegungen zu verbinden. Wie sehr er dadurch die Wirklichkeitsnahe theoretischer Forschungen gefördert hat, zeigt sich am deutlichsten in der Analyse des Marktgeschehens. Es gilt heute als eine Selbstverständlichkeit, bei allen Untersuchungen über Marktvorgänge soziologische Tatbestände zu berücksichtigen. Auch ARTHUR SPIETHOFFS (1873—1957) Bemühungen um eine in Anschauungen begründete Theorie vom Wirtschaftsleben und seine bedeutenden Leistungen auf dem Gebiete der Konjunkturforschung sind durch die methodischen Besinnungen MAX WEBERS entscheidend gefördert worden. In diesem Zusammenhang müssen zwei eigenwillige Denker genannt werden, die immer wieder betont haben, daß die Volkswirtschaftslehre als Wissenschaft vom wirtschaftlichen Leben der gesellschaftlich verbundenen Menschen

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VII. Das historische Denken

geisteswissenschaftlichen Charakter habe: OTHMAR SPANN (1878—1950) und FRIEDRICH v. GOTTL-OTTLILIENFELD. OTHMAR SPANN hat unmittelbar auf ADAM MÜLLER zurückgegriffen. Unter Berufung auf ARISTOTELES, aber auch auf die Philosophie des deutschen Idealismus hat er sich gegen den Positivismus und Materialismus gewandt. In den Wissenschaften vom menschlichen Zusammenleben stellte er dem Atomismus und Individualismus den Universalismus gegenüber, der sich auch grundsätzlich vom Kollektivismus unterscheidet, den OTHMAR SPANN als eine Abart des Individualismus betrachtet. Die wirtschaftlichen Erscheinungen betrachtete er als Ausgliederungen einer vorgegebenen Ganzheit, die mit dieser Ganzheit wiederum rückverbunden sind. Die vorgegebene Einheit verleiht den einzelnen Tatbeständen und Vorgängen erst Wesen, Bestimmung und Bedeutung. So erschien es ihm möglich, innerhalb der Ausgliederungsordnung Teilinhalte, Stufen und Vorränge zu unterscheiden. Das Ganze ist in jedem Falle mehr als die Teile. Infolgedessen hielt er es für falsch, von den Einzelheiten zum Ganzen aufzusteigen, sondern bemühte sich, vom Ganzen her die Bedeutung der Einzelheiten zu verstehen. In der Wirtschaft, die OTHMAR SPANN als ein Gebäude von Mitteln und Leistungen für Zwecke bezeichnete, kann die Ausgliederungsordnung wie folgt beschrieben werden: Als „Teilinhalte" gelten: Organisierende Leistungen, Erfinden, Lehren, Kreditwesen, Handel, Vorratshaltung, Verkehr, Schadenverhütung, Erzeugung. Als „Stufen" kommen in Frage: Weltwirtschaft, Großraumwirtschaft, Volkswirtschaft, Gebietswirtschaft, Verbandswirtschaft, Betrieb und Haushalt. In beiden Folgen gibt es — das ist ihr Wesen — Vorrangverhältnisse. So steht Handel, d. h. Absatzmöglichkeit logisch vor Erzeugung. Betreibt man solche Ausgliederung im Sinne einer rein logischen Entfaltung von Kategorien, so läuft man Gefahr, den Boden der Wirklichkeit zu verlieren. Gegenstand der Wirtschafts- und Sozialwissenschaften ist aber in jedem Falle die Wirklichkeit des menschlichen Zusammenlebens.

4. Die historisch-soziologische Schule

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FRIEDRICH v. GOTTL-OTTLILIENFELD suchte die Wortgebundenheit des überlieferten wissenschaftlichen Denkens durch eine Revision des Begreifens, durch eine Besinnung auf die wirklichen Probleme zu überwinden. Er bemühte sich, die Wirtschaft nicht von den Gütern her, sondern vom Menschen und seinem Dasein her zu erfassen. So begriff er sie als Gestaltung menschlichen Zusammenlebens in der Absicht, den Einklang von Bedarf und Deckung auf die Dauer zu sichern. Als wirtschaftliche Gebilde, in denen Menschen wirtschaftlich zusammenwirken, unterschied er Haushalte, in denen sich der Sinn aller wirtschaftlichen Bemühungen unmittelbar selbst erfüllt, von den Unternehmungen, die durch Erfüllung eines nach außen gerichteten Zweckes erwerben wollen, infolgedessen nur ein abgeleitetes Dasein haben. Die Unterscheidung von haushalten und unternehmen als wirtschaftlicher Verhaltensweisen ist für das Verständnis der unternehmungsweise betriebenen Industriewirtschaft von großer Bedeutung. An die Stelle des auf die Güter bezogenen Wertbegriffes setzte er den Begriff der „wirtschaftlichen Dimension", die gleichsam objektiver Ausdruck der in den wirtschaftlichen Gebilden von den Menschen angestellten, auf die Ordnung des ganzen Lebens bezogenen wirtschaftlichen Erwägungen ist. Das Selbstverständnis der Technik ist sehr durch seine Untersuchungen über das Verhältnis von Wirtschaft und Technik gefördert worden. LITERATUR Sombart, W.: Der moderne Kapitalismus. Historisch-systematische Darstellung des gesamteuropäischen Wirtschaftslebens von seinen Anfängen bis zur Gegenwart. 2. Bde., 1902, 1. Bd. Teil l u. 2, 2. Bd., Teil l u. 2, 4. 1921, 7. 1928. Sombart, W.: Das Wirtschaftsleben im Zeitalter des Hochkapitalismus. 2 Halbbde., 1927. Sombart, W.: Die drei Nationalökonomien. Geschichte und System der Lehre von der Wirtschaft, 1930. Weber, M.: Wirtschaft und Gesellschaft. 1922, Neudruck 1956. Weber, M.: Gesammelte Aufsätze zur Soziologie und Sozialpolitik. 1924. Weber, M.: Die „Objektivität sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis. Arch. f. Soz. wiss. u. Soz. pol., N.F. Bd. l, 1904, wiederabgedr. in: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, 1922. Spann, O.: Tote und lebendige Wissenschaft. Ein kleines Lehrbuch der Volkswirtschaft in fünf Abhandlungen, 1921, 4. 1935.

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VII. Das historische Denken

Spann, O.: Die Ausgliederungsordnung der Wirtschaft und ihre VorrangVerhältnisse. Jb. f. Nat. oek. u. Stat., III. Flge., Bd. 64, 1924. Spann, O.: Die Krisis in der Volkswirtschaftslehre. 1930. Gottl-Ottlilienfeld, Fr. v.: Wirtschaft und Technik. GdS, II. Abt., 1914, 2. 1923. Gottl-Ottlilienfeld, Fr. v.: Wirtschaft als Leben. Eine Sammlung erkenntniskritischer Arbeiten, 1925. Gottl-Ottlilienfeld, Fr. v.: Wirtschaft und Wissenschaft. Teil l u. 2, 1931. Gottl-Ottlilienfeld, Fr. v.: Wesen und Grundbegriffe der Wirtschaft. 1933. Spiethoff, A.: Die wirtschaftlichen Wechsellagen. Erklärende Beschreibung. 2 Bde., 1955. Spiethoff, A.: Die allgemeine Volkswirtschaftslehre als geschichtliche Theorie. Festgabe für W. Sombart, 1933. Spiethoff, A.: Anschauliche und reine volkswirtschaftliche Theorie. Synopsis, Festgabe für Alfred Weber, 1949. Brinkmann, C.: Wirtschaftsformen und_ Lebensformen. Gesammelte Schriften zur Wirtschaftswissenschaft und Wirtschaftspolitik, 1944, 2. 1950. Brinkmann, C.: Wirtschaftstheorie, 1948, 2. 1953.

5. Der amerikanische Institutionalismus

Erkenntnisstreben und Verfahrensweise der historischen Schulen Im deutschen Sprachgebiet finden eine Parallele in einer von THORSTEIN VEBLEN (1857—1929) und CHARLES BEARD (1878—1948) begründeten Forschungsrichtung, die von ihrem Bestreben, die Bedeutung der von der klassischen Schule nicht genügend berücksichtigten konkreten Einrichtungen des Wirtschaftslebens, der „Institutionen" zu erkennen, den Namen „Institutionalismus" erhalten hat. Im Gegensatz zur reinen Deduktion der Klassik und Neuklassik, aber auch im Gegensatz zu der von JOHN BATES CLARK (1847—1938) geführten Richtung mathematisch arbeitender Wirtschaftstheorie, bemühen sich die Institutionalisten, wirtschaftliche Einrichtungen und Ordnungen möglichst exakt zu beschreiben und ihre Bedeutung für wirtschaftliche Vorgänge zu untersuchen. Diese Aufgabe führt sie dazu, wirtschaftliche Erscheinungen und Vorgänge statistisch weitgehend zu durchleuchten. Methodisch fruchtbar entfaltet worden ist diese Arbeitsweise insbesondere durch WESLEY C. MITCHELL (1874—1948), der die Korrelationsrechnung als Hilfsmittel empirischer Konjunkturforschung mit großem Erfolg angewendet hat. LITERATUR Veblen, Th.: Why is economics not an evolutionary science? Quart. Journal of econ., Bd. 12, 1898. Tugwell, R. G.: The trend of economics. London 1924.

1. Die Grundlagen: Johann Heinrich Gossen

107

Mitdiell, W. C: Business cycles, New York, 1913, 2. 1927, dtsch. u. d. Titel: Der Konjunkturzyklus, 1931, Flügge, Eva: „Institutionalismus" in der Nationalökonomie der Vereinigten Staaten. Jb. f. Nat. oek. u. Stat., Bd. 126, 1927. Westmeyer, R. E.: Modern economic and social systems. New York 1940. Montaner, A.: Der Institutionalismus als Epoche amerikanischer Geistesgesdiidue. 1948. Montaner, A.: Institutionalismus. H. d. Soz. Wiss., Bd. 5, 1956.

VIII. Das finale Denken in der Wirtschaftslehre: Die Grenznutzentheorie 1. Die Grundlagen: Johann Heinrich Gossen

Die substanzgebundene Theorie der klassischen Schule fand in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts eine eigenartige Wiederbelebung. Dabei trat an die Stelle des kausalen Denkens das finale Denken. Die Preisbildung — als das auch dieser Forschungsrichtung zentral erscheinende Problem — wurde nicht kausal durch eine bei der Produktion in die Güter eingehende wertbildende Substanz erklärt, sondern final durch eine in den fertigen Gütern sich verkörpernde Nutzungsmöglichkeit. Nicht die Produktionskosten eines. Gutes bestimmen — gleichsam als Ursache — den Preis, sondern der Preis ist abhängig von der Möglichkeit, das Gut zu nutzen. Damit ändert sich auch der Ausgangspunkt der Betrachtung. Entsprach es der ursächlich gedachten Preislehre — wie KARL MARX es am schärfsten herausgearbeitet hat —, eine Tauschgleichung anzunehmen, so nimmt das finale Denken als Voraussetzung für das Zustandekommen eines Tausches die Ungleichheit der Werte an. Denn die Möglichkeit, ein Gut zu nutzen, ist von Person zu Person verschieden. Dieser neue Ansatz preistheoretischen Denkens ist zuerst von HERMANN HEINRICH GOSSEN (1810—1858) in einer Lehre der Bedürfnisbefriedigung gefunden worden. GOSSEN hat diese Theorie der Bedürfnisbefriedigung zur

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VIII. Das finale Denken in der Wirtschaftslehre

Grundlage einer Lehre von den Gesetzen des menschlidien Verkehrs gemacht. Daraus geht hervor, welche Bedeutung er den seelischen Vorgängen bei der Befriedigung der Bedürfnisse für das Verständnis des menschlichen Zusammenlebens überhaupt beimaß. Die zeitgenössische Wissenschaft hat von diesem Versuch keine Kenntnis genommen. Erst später, als der bei GOSSEN zu findende Denkansatz von drei Forschern, dem Engländer WILLIAM STANLEY JEVONS (1835—1882), dem Schweizer LEON WALRAS (1834—1910) und dem Österreicher KARL MENGER (1840—1921) — unabhängig voneinander, aber auch unabhängig von HEINRICH GOSSEN — wieder aufgegriffen worden ist, hat man sich mit den Gedanken GOSSENS gründlich auseinandergesetzt. Dieser Auseinandersetzung verdanken wir die Tatsache, daß drei wichtige Erkenntnisse GOSSENS als „ Gossen sche Gesetze" in die Geschichte unserer Wissenschaft eingegangen sind. Das erste Gossensche Gesetz, das Gesetz der Bedürfnissättigung, lautet in der Formulierung FRIEDRICH v. WIESERS: „Bei jedem teilbaren Bedürfnis wird innerhalb jedes Bedürfnisabschnittes der mit der ersten Verwendungseinheit vorzunehmende Befriedigungsakt mit der höchsten Intensität begehrt; jede Verwendung weiterer Einheiten derselben Art wird mit abnehmender Intensität begehrt, bis der Sättigungspunkt erreicht ist, darüber hinaus schlägt das Begehren in Widerwillen um." Als zweites Gossensches Gesetz hat WILHELM LEXIS (1837—1914) das Gesetz des Genußausgleiches bezeichnet. Wenn mehrere Genüsse miteinander konkurrieren, die Möglichkeit, sie voll zu befriedigen aber durch die zur Verfügung stehende Zeit begrenzt ist, müssen sie alle teilweise berücksichtigt werden, „und zwar in einem solchen Verhältnis, daß die Größe eines jeden Genusses in dem Augenblick, in welchem seine Bereitung abgebrochen wird, bei allen noch die gleiche bleibt". Dieses Gesetz hat ROBERT LIEFMANN (1874—1941) später in etwas abgewandelter Form als Gesetz des Ausgleichs der Grenzerträge in seine Gedankengänge aufgenommen.

1. Die Grundlagen: Johann Heinrich Gossen

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FRIEDRICH A. v. HAYEK (geb. 1899) hat schließlich vorgeschlagen, das Gesetz der Wertabnahme für jede hinzukommende Mengeneinheit eines Gutes als drittes Gossensches Gesetz hervorzuheben. Aus diesem Gesetz, das mit dem Gesetz der Bedürfnissättigung nicht verwechselt werden darf, zieht GOSSEN die Folgerung, „daß der Mensch, wenn seine Kräfte nicht ausreichen, sich alle denkbaren Genußmittel in vollauf genügender Menge zu verschaffen, sich ein jedes Gut so weit verschaffen muß, daß die letzten Atome bei einem jeden noch für ihn gleichen Wert behalten". Mit diesem Gedanken stößt GOSSEN in das Gebiet der Wirtschaftstheorie vor. Daß GOSSEN den für das Verständnis der Wirtschaft so wichtigen Gleichgewichtszustand von Nutzen und Arbeitsleid höchst eindrucksvoll beschreibt und ihn auch geometrisch ableitet, ist m der Wissenschaft bekannt. Weniger deutlich erinnert man sich aber der Tatsache, daß GOSSEN, um eine wirklich freie, auf persönlichem Eigentum beruhende Wirtschaftsordnung zu sichern, eine radikale Bodenreform im Sinne einer völligen Verstaatlichung des Grund und Bodens vorschlug. Er kam auf diesen Gedanken, weil es ihm daran lag, die günstigste geographische Verteilung der landwirtschaftlichen und industriellen Betriebe zu ermöglichen. Alle Betriebe sollten den von ihnen als Standort oder als Anbaufläche benötigten Boden vom Staate pachten und sich nach ihrer Fähigkeit, Rente zu zahlen, im Räume streuen. Mit Hilfe dieser — wie GOSSEN annahm — von Jahr zu Jahr wachsenden Renteneinnahmen des Staates könnten die Entschädigungen an die früheren Grundeigentümer im Laufe der Zeit getilgt werden. Mit dem Gedanken, jedem schöpferischen Menschen die Möglichkeit zu geben, ein Unternehmen ins Leben zu rufen, hängt auch der Plan zusammen, öffentliche Darlehnskassen zu errichten, die die dazu notwendigen Kapitalien kreditweise zur Verfügung stellen sollten. Die Hoffnungen, die GOSSEN mit diesem Plan verband, dürften wohl utopisch genannt werden.

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VIII. Das finale Denken in der Wirtschaftslehre 2. Die Wert- und Preislehre der Grenznutzenschule

Als wichtigste wissenschaftliche Leistung HERMANN HEINRICH GOSSEN'S kann wohl angesehen werden, daß es ihm gelungen ist, den Zugang zur Auflösung der sog. Wertantinomie zu finden, die schon ADAM SMITH bewußt geworden war. Man versteht unter dieser Wertantinomie die Tatsache, daß einem hohen Gebrauchswert ein verhältnismäßig niedriger Tauschwert und umgekehrt einem verhältnismäßig hohen Tauschwert ein niedriger Gebrauchswert entspricht. Die älteren deutschen Nutzwerttheoretiker wie FRIEDRICH JULIUS HEINRICH v. SODEN (1754—1836), GOTTLIEB HUFELAND (1760—1817) und ADAM MÜLLER haben diese Antinomie nicht auflösen können, weil sie von dem „objektiven", gleichsam absolut gedachten Nutzen einer bestimmten Warengattung, z. B. von dem objektiv feststellbaren Nutzen — etwa dem Nährwert — eines Nahrungsmittels ausgingen und nicht nach der Bedeutung eines Gutes in einer konkreten Lebenssituation fragten. Durch den Begriff des seit FRIEDRICH v. WIESER (1851—1926) so genannten „Grenznutzens" konnte die Antinomie des Wertes gedanklich überwunden werden. Bei der gedanklichen Fassung des Begriffs „Grenznutzen" ging man nicht von dem an und für sich bestehenden Nutzen einer Gütergattung aus, sondern von dem Nutzen, den die tatsächlich verfügbare Menge eines Gutes in einer gegebenen Situation bestimmten Menschen durch die Befriedigung eines bestimmten Bedürfnisses oder bestimmter Bedürfnisse stiften kann. So kam man zu dem Ergebnis, daß der Wert einer Gütermenge durch den Nutzen, der von der letzten vorhandenen Teilquantität des Gutes abhängig ist, durch den Grenznutzen, bestimmt wird. Diese Feststellung setzt voraus, daß es möglich ist, nicht nur die verschiedenen Bedürfnisse in eine größenmäßig bestimmte Rangordnung einzubeziehen, sondern auch den Grad der Bedürfnissättigung in einer Zahlenreihe festzulegen. Das kann freilich nicht bei allen Bedürfnissen geschehen. Es gibt Bedürfnisse, die aus technischen Gründen

2. Die Wert- und Preislehre der Grenznutzenschule

Hl

nur vollständig oder gar nicht befriedigt werden können. Man denke etwa an die Aufstellung eines Zimmerofens. Natürlich kann man, wenn man behaglicher leben will, ein zweites oder gar ein drittes Zimmer heizbar machen lassen. Aber stets wird das Bedürfnis, ein Zimmer mit einer Einrichtung zum heizen zu versehen, durch einen der Größe des Raumes entsprechenden Ofen befriedigt werden können. Diesen Ofen muß man aufstellen oder man muß darauf verzichten, das Zimmer heizbar zu machen. An dieser Entscheidungsnotwendigkeit ändert auch die Tatsache nichts, daß die Entwicklung der Technik verschiedenartige Einrichtungen, Räume zu beheizen, bereitgestellt hat. EuGENV.BöHM-BAWERK(1851—1914) bemühte sich trotz dieser Schwierigkeiten, die Gliederung der Bedürfnisse und die Möglichkeit, sie stufenweise zu befriedigen, in einem typischen Schema darzustellen, das hier mit einer das Verständnis erleichternden Änderung wiedergegeben wird. Während EUGEN v. BÖHM-BAWERK die Bedürfnisse in einer Reihe abnehmender Wichtigkeit mit I, II, III ... bis X bezeichnete, wird hier die umgekehrte Reihenfolge der Zahlen gewählt, so daß das wichtigste Bedürfnis die Ordnungszahl X, das unwichtigste die Ordnungszahl I erhält. Jedes Bedürfnis besitzt nun verschiedene Intensitätsstufen, deren Anzahl seiner Ordnungszahl entspricht. Fehlt aus technischen Gründen die Möglichkeit, ein Bedürfnis stufenweise zu befriedigen, so werden die Intensitätsstufen durch Punkte ersetzt. X 10 9 8 7 6 5 4 3 2 1 0

IX 9 8 7 6 5 4 3 2 1 0

VIII VII

8 7 6 5 4 3

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VIII. Das finale Denken in der Wirtschaftslehre

Die Anwendung dieses Schemas setzt natürlich voraus, daß ein Gut geeignet ist, mehrere verschiedene Bedürfnisse zu befriedigen. Ist das der Fall, so kann man, wenn die vorhandene Gütermenge — entsprechend den Intensitätsgraden, die auf dem Schaubild angegeben sind — eingeteilt wird, ablesen, welcher Wert der letzten Teilmenge zukommt. Wenn fünf Sack Getreide vorhanden wären, um die in dem Schaubild verzeichneten Bedürfnisse zu befriedigen, wäre — unter der Voraussetzung, daß ein Sack Getreide genüge, um eine Intensitätsstufe jedes der angegebenen Bedürfnisse zu befriedigen — der Grenznutzen gleich 8. Stünden zehn Sack Getreide zur Verfügung, so sänke der Grenznutzen auf 7. Meinungsverschiedenheiten gab es unter den Anhängern dieser Denkweise, als die Frage zu beantworten war, wie sich der gesamte Wert eines Gütervorrates bestimmen lasse. EUGEN v. BÖHM-BAWERK und mit ihm STANLEY JEVONS, LEON WALRAS und VILFREDO PARETO (1848—1913) berechneten den Gesamtwert eines Gütervorrates, indem sie die Grenznutzen aller Einheiten des Vorrates zusammenzählten, also nach der Formel 5 + 4 + 3 + 2 + 1 = 15. FRIEDRICH v. WIESER definierte dagegen den Gesamtwert eines Vorrates als mathematisches Produkt aus dem Grenznutzen und der Anzahl der vorhandenen Gütereinheiten. Das entspricht der Formel 5 - 1 = 5 . JOSEPH SCHUMPETER macht darauf aufmerksam, daß beide Bestimmungen des Gesamtwertes verschiedene Größen meinen, die IRVING FISHER (1867—1947) als „total utility" und „utility value" bezeichnet hat. Um von dieser Wertlehre zum Verständnis der Preisbildung zu kommen, stellen die Grenznutzentheoretiker grundsätzlich andere Überlegungen an als die Vertreter einer kausal gedachten Preislehre. Während etwa KARL MARX davon ausging, daß beim Tausch gleiche Wertsubstanzen — d. h. gleiche Quantitäten Tauschwert — einander gegenübergestellt würden, setzt EUGEN v. BÖHMBAWERK — vom Standpunkt des finalen Denkens ganz folgerichtig — an den Anfang seiner Betrachtungen über die

2. Die Wert- und Preislehre der Grenznutzenschule

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Preisbildung den Gedanken, daß ein Tausch nur möglich, ja nur sinnvoll ist, wenn die beteiligten Personen Ware und Preisgut abweichend, ja entgegengesetzt schätzen. Der Kauflustige muß die Ware höher, der Verkäufer die Ware niedriger einschätzen als das Preisgut. Wie bei beiderseitigem Wettbewerb die Kaufentscheidungen zustande kommen und wie sich damit die Preise bilden, versucht EUGEN v. BÖHM-BAWERK am Beispiel des Pferdehandels darzustellen. Auf dem Markt erscheinen zehn Kaufbewerber und acht Kauflustige, die je ein Pferd zu kaufen oder zu verkaufen wünschen. Jeder Verkaufslustige und jeder Kaufbewerber schätzt — je nach der eigenen wirtschaftlichen Lage, d. h. je nach der Bedeutung eines Pferdes für den eigenen Betrieb oder den eigenen Haushalt — den Wert eines Pferdes in bestimmter Höhe ein. Alle angebotenen Pferde sollen gleichen Alters und gleicher Güte sein. Dann ergibt sich eine Marktsituation, die durch folgende Tabelle beschrieben werden kann: Kauflustige A i A 2 A 3 A 4 A 5 A A 7 A A 9 Aio

schätzt schätzt schätzt schätzt schätzt schätzt schätzt schätzt schätzt schätzt

ein ein ein ein ein ein ein ein ein ein

Pferd = 300 M Pferd = 280 M Pferd = 260 M Pferd = 240 M Pferd = 220 M Pferd = 210 M Pferd = 200 M Pferd = 180 M Pferd = 170 M Pferd = 150 M

Verkaufslustige Bi BS Bs 64 Ba

schätzt schätzt schätzt schätzt schätzt schätzt 87 schätzt BS schätzt

ein ein ein ein ein ein ein ein

Pferd = Pferd = Pferd = Pferd = Pferd = Pferd = Pferd = Pferd =

100 M 110 M 150 M 170 M 200 M 215 M 250 M 260 M

Es wird angenommen, daß die Marktlage für jeden Marktteilnehmer durchsichtig ist. Die Frage ist nun, wieviele Marktbesucher kommen zum Geschäftsabschluß und zu welchem Preise werden die Geschäfte vollzogen. Bei beiderseitigem Wettbewerb wird der Preis innerhalb eines Spielraumes bleiben, der nach oben begrenzt wird durch die Wertschätzungen des letzten noch zum Tausch kommenden Käufers und des tauschfähigsten vom Tausche ausgeschlossenen Verkaufsbewerbers, nach unten durch die 8

Geschichte der Volkswirtschaftslehre

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VIII. Das finale Denken in der Wirtschaftslehre

Wertsdiätzungen des mindest tauschfähigen noch zum Tausche gelangenden Verkäufers und des tauschfähigsten vom Tausche ausgeschlossenen Kauf Bewerbers. Kürzer kann man sagen, daß die Höhe des möglichen Marktpreises durch die Höhe der Grenznutzenschätzungen der beiden Grenzpaare eingegrenzt wird. In dem angeführten Beispiel wird der Spielraum für die Preisbildung zwischen 210 M und 215 M liegen. Obwohl die Wertschätzungen der einzelnen Marktbesucher sehr weit auseinander gehen, werden die Geschäfte doch zu annähernd gleichen Preisen abgeschlossen. Auf Grund der Schätzungsskala können fünf Pferde den Besitzer wechseln, und zwar die Pferde, die die Verkaufslustigen BI bis BS auf den Markt gebracht haben. BÖ, B?, Bg müssen ihre Pferde wieder mit nach Hause nehmen, weil sie keine Käufer fanden, die geneigt waren, den von ihnen geschätzten Preis zu zahlen. Ebenso müssen die Kaufbewerber AO bis den Markt wieder verlassen, ohne ein Pferd gekauft zu haben. Dem unbefangenen Beobachter mag es merkwürdig erscheinen, daß hier der Ordnungszusammenhang der wirtschaftlichen Leistungen am Beispiel des Pferdehandels — losgelöst von der industriellen Produktionsweise — beschrieben wird. Es ist auch nicht ganz einfach, von dieser Betrachtung eines einzelnen Marktes aus den Ansatzpunkt dazu zu finden, den Gesamtzusammenhang des wirtschaftlichen Rechensystems zu verstehen. Dazu kommt, daß in diesem Beispiel die Möglichkeit, den Nutzen eines Gegenstandes in abgezogenen Geldeinheiten zu schätzen, vorausgesetzt wird. Darin liegt — vom Denkansatz der finalen Preistheorie aus gesehen — eine petitio prinzipii. Man setzt etwas voraus, was erst erklärt werden soll. Will man doch die Entstehung von Preisen aus den unmittelbaren Nutzenschätzungen ableiten. 3. Die Lösung des Kostenproblems

Ein besonderes Problem bietet im Rahmen der final gedachten Preistheorie das sog. Kostengesetz, also die Tatsache, daß Preise und Kosten miteinander verbunden sind.

3. Die Lösung des Kostenproblems

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In der ursächlich gedachten Preislehre werden die Kosten als preisbestimmende Faktoren angesehen. Die Übereinstimmung von Preisen und Kosten wird also durch die Kosten herbeigeführt. Denkt man final, so muß man den Zusammenhang von Preisen und Kosten von den Werten, die die Genußgüter erreichen, aus betrachten. Unmittelbarer Wertschätzung sind nur diejenigen Güter zugänglich, die als solche auf menschliche Bedürfnisse, auf Zwecke des menschlichen Lebens bezogen werden können. Güter, die dazu dienen, solche der unmittelbaren Verwendung zugänglichen Güter herzustellen, leiten — bei finaler Betrachtung — ihren Wert vom Werte dieser Genußgüter ab. Sie werden im Anschluß an KARL MENGER Güter höherer Ordnung genannt. Dabei kann man mehrere Ordnungen bilden, je nachdem wie weit das Vorerzeugnis von der Endstufe des fertigen Genußgutes entfernt ist. Je mehr Zwischenstufen die Produktion insgesamt durchläuft, um so höher ist die Ordnungszahl der am weitesten von der Endstufe entfernten Vörerzeugnisse anzusetzen. Alle diese Güter höherer Ordnung, die Rohstoffe, die Werkzeuge und die eigentlichen Anlagegüter erhalten ihre Werte gleichsam als Reflex des Wertes der Genußgüter. Die Verbraucher, die die Güter in ihre Nutzenschätzungsskala einordnen, bestimmen durch ihre Nachfrage nach fertigen Erzeugnissen auch die Nachfrage nach Vorerzeugnissen, Anlagegütern und elementaren Produktionskräften. Die Hersteller der fertigen Verbrauchsgüter sind nach dieser Auffassung Vermittler der Nachfrage nach Gütern höherer Ordnung. Alle Güter höherer Ordnung bis hin zu den elementaren Produktionskräften einer Volkswirtschaft folgen der so vermittelten Nachfrage und drängen sich der Reihe nach in die lohnendsten Verwendungen und empfangen von der letzten noch möglichen Verwendung ihren Wert und damit auch ihren Preis. Die Übereinstimmung von Kosten und Preisen wird also von den Preisen der fertigen Erzeugnisse her bestimmt. Denn diese Preise geben an, welche Kosten gerade noch aufgewendet werden können. Die Güter höherer Ordnung, die Kostengüter, haben keinen a priori fest8*

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VIII. Das finale Denken in der Wirtschaftslehre

stehenden Wert, sondern sie empfangen ihren Wert von den Verwendungsmöglichkeiten, die ihnen — auf Grund der jeweiligen Marktlage — offenstehen. Die Zusammenhänge werden also hier grundsätzlich anders gesehen als im Rahmen der kausal gedachten Preislehre. Die Übereinstimmung von Preisen und Kosten kann durch zwei Tatbestände gestört oder gar aufgehoben werden. Einmal durch immer wieder vorkommende Anpassungsschwierigkeiten und Reibungswiderstände, die bei einer positiven Differenz zwischen Preisen und Kosten als Friktionsgewinne, bei einer negativen Differenz als Friktionsverluste in Erscheinung treten. Diesen Erscheinungen ist nicht nur von den Grenznutzentheoretikern Aufmerksamkeit geschenkt worden. Auch die historisch-soziologisch denkenden Nationalökonomen haben sie beachtet. Dabei hat man festgestellt, daß es typische Zeitintervalle der Reaktion gibt, die in der englischen Literatur als time-lags bezeichnet werden. Zweitens gibt es unter bestimmten Bedingungen regelmäßig eine positive Differenz zwischen Preisen und Kosten, die Zins genannt wird. Sie hängt nach Ansicht von BÖHMBAWERK mit dem Zeitablauf zusammen. Es gelang EUGEN v. BÖHM-BAWERK, diese regelmäßig auftretende Differenz zwischen Preisen und Kosten vom Grundgedanken seiner Theorie aus zu erklären, indem er darauf hinwies, daß Gegenwartsgüter, Güter, die im gegebenen Augenblick genutzt werden können, von den Menschen in aller Regel höher geschätzt werden als Zukunftsgüter, auf deren Nutzung und Gebrauch man noch warten muß. Drei Gründe wurden von BÖHM-BAWERK angeführt, um diesen Unterschied in der Wertschätzung von Gegenwartsgütern und Zukunftsgütern verständlich zu machen. 1. Das Verhältnis von Bedarf und Deckung verschiebe sich im Laufe der wirtschaftlichen Entwicklung. Es werde künftig günstiger sein. Infolgedessen werde der Grenznutzen der Güter, die später in größerer Menge erwartet werden, niedriger.

3. Die Lösung des Kostenproblems

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2. Die Menschen seien geneigt, ihre künftigen Bedürfnisse systematisch zu unterschätzen. Sie sähen den Grenznutzen künftiger Güter in perspektivischer Verkleinerung. 3. Gegenwärtige Güter seien aus technischen Gründen besser geeignet, unsere Bedürfnisse zu befriedigen, weil sie uns erlauben, „Produktionsumwege" einzuschlagen, die zwar Zeit in Anspruch nehmen, aber auch höhere Erträge liefern und deshalb einen höheren Grenznutzen verbürgen als Güter, die erst künftig in unseren Besitz gelangen. Der Zins entsteht nun nach Auffassung von EUGEN v, BÖHM-BAWERK dadurch, daß künftige Güter mit dem Ablauf der Zeit zu Gegenwartsgütern, die einen höheren Grenznutzen versprechen, heranreifen. Diese — „AgioTheorie" genannte — Erklärung des Zinses bedeutet gegenüber den Zinserklärungen der ursächlich gedachten Preislehren ohne Zweifel einen Fortschritt. Versuchte man doch im Bereich der ursächlich gedachten Preislehre die zinsbildende Kraft bei einem der drei elementaren Produktionsfaktoren der Sache nach zu lokalisieren: Die Fruktifikationstheorie der Physiokraten sah die zinsbildende Kraft im Produktionsfaktor Boden, die Produktivitätstheorie klassischer und nachklassischer Prägung im substanziell gedachten Produktionsfaktor Kapital und die MARXsdhe Mehrwertlehre im Produktionsfaktor Arbeitskraft. Zwar gibt die gedankliche Verbindung des Zinses mit dem Zeitablauf keine zureichende Antwort auf die Frage nach der eigentlichen Quelle des Zinses. Sie legt aber den Blick auf die allgemeine Entwicklung der Wirtschaft frei. Insofern stellt die dynamische Zinstheorie JOSEPH SCHUMPETER'S, in der darauf aufmerksam gemacht wird, daß der Zins als allgemeine Größe nur dann in das Rechensystem der Wirtschaft hineinkommen kann, wenn die Wirtschaft im Ganzen sich entwickelt, einen Übergang zum Gedankenkreis der funktionalen Wirtschaftstheorie dar. Als fruchtbar für die weitere Entwicklung der ökonomischen Theorie zum funktionalen Denken hin hat sich

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VIII. Das finale Denken in der Wirtschaftslehre

auch die geistige Wandlung im Bereich des Kostenproblems erwiesen. Ermöglichte sie es doch, den Zusammenhang des wirtschaftlichen Rechensystems vom Marktgeschehen her einheitlich zu verstehen. Einer der ersten, der vom Grundgedanken einer Bewertung der Güter durch die Käufer, die Verbraucher, die Preisbildung als einen durch das Prinzip des Gleichgewichtes bestimmten Zusammenhang der wirtschaftlichen Rechengrößen beschrieben hat, war LEON WALRAS. Er hat den Blick über den einzelnen Markt hinaus auf die ganze Wirtschaft gerichtet. Dadurch hat er die Brücke zum funktionalen Denken, das die neueste Entwicklung der ökonomischen Theorie kennzeichnet, geschlagen. 4. Die Zurechnungstheorie

Die Grenznutzentheorie selbst stand mit ihrem einseitig finalen Denken bei der Beschreibung des ganzen Zusammenhanges der Preisbildung vor einem sehr schwierigen Problem. Wie können Güter höherer Ordnung, deren Preise ein Ergebnis der Preise der aus ihnen hervorgehenden Genußgüter sind, bewertet werden, wenn mehrere von ihnen bei der Herstellung eines Genußgutes zusammengefaßt worden sind. Dabei muß beachtet werden, daß die Produktionstechnik es möglich macht, die Verhältnisse, in denen die Güter höherer Ordnung zusammengefaßt werden, um bestimmte Genußgüter herzustellen, verschiedenartig zu gestalten. Welcher Anteil am Werte des Genußgutes soll unter diesen Umständen den verschiedenen in die Zusammenfassung einbezogenen Gütern höherer Ordnung zugerechnet werden? Dieses Problem hat die „Zurechnungstheorie", die es in dieser Form nur innerhalb der final gedachten ökonomischen Theorie geben kann, auf drei verschiedenen Wegen zu lösen versucht. KARL MENGER hat sich bemüht, die Wertanteile der einzelnen Produktivgüter vom Gedanken des Ausfalls her zu bestimmen. Er dachte aus der Gruppe der Produktivgüter, die zusammengefaßt worden sind, um ein bestimmtes Genußgut herzustellen, nacheinander eins der Produktivgüter

4. Die Zurechnungstheorie

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weg und fragte, wie der Wert des Genußgutes dadurch vermindert wird. Diese Wertminderung — so meinte er — entspräche dem Anteil am Werte des Genußgutes, der diesem Gute höherer Ordnung zugerechnet werden müßte. Diese „Ausfallehre" ist später dadurch verfeinert worden, daß man die Zusammensetzung der verwendeten Produktivgüter gedanklich veränderte. Schließlich hat man die einzelnen in die Zusammenfassung einbezogenen Güter höherer Ordnung nicht nur der Art nach gesondert, sondern in Gedanken auch mengenmäßig zergliedert. So mündete diese Lehre in die von JOHN BATES CLARK (1847—1938) entwickelte Grenzproduktivitätstheorie. In diese Theorie sind auch Gedanken eingegangen, die früher in anderen Zusammenhängen von JOHANN HEINRICH VON THÜNEN entwickelt worden sind. EUGEN v. BÖHM-BAWERK versuchte, das Problem der Zurechnung vom Gedanken der Substitution aus zu lösen. Er unterschied ersetzbare und nicht ersetzbare Produktivgüter. Der Wertanteil, der den ersetzbaren Produktivgütern zugerechnet werden könne, müsse zwischen ihrem eigenen Substitutionswert und dem Wert, den sie in anderweitiger Verwendung erzielen können, liegen. Was dann an Wert übrig bleibt, müsse den nicht ersetzbaren Produktivgütern zugerechnet werden. Neben die Wertfeststellung durch Veränderung des Einsatzes tritt der Gedanke des Residuums, des Überbleibsels als Grund der Wertzurechnung. FRIEDRICH v. WIESER begann mit einer Kritik an älteren Zurechnungslehren, die er als „physikalisch" gedachte Lehren zurückwies. Man habe den Versuch gemacht, den physischen Anteil der einzelnen in das jeweilige Herstellungsverfahren einbezogenen Produktivgüter am Werte des Erzeugnisses messen zu wollen, anstatt von wirtschaftlichen Gegebenheiten und wirtschaftlichen Fragestellungen auszugehen. Befriedigend könne nur solche Lösung des Zurechnungsproblems sein, die systematisch aus dem Gedanken des Grenznutzens, d. h. der Theorie der subjektiven Wertschätzung abgeleitet würde. Im Lichte dieser Förde-

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VIII. Das finale Denken in der Wirtschaftslehre

rung FRIEDRICH v. WIESER'S erscheint es merkwürdig, daß er selbst von der Vorstellung des produktiven Beitrages ausgeht, den die einzelnen Produktivgüter in den verschiedenartigsten Zusammenfassungen leisten können. Diese verschiedenen Zusammenfassungen ließen sich durch ein System simultaner Gleichungen beschreiben, in dem die Zahl der Unbekannten der Zahl der Gleichungen entspreche, sofern man den Grenznutzen der fertigen Erzeugnisse als bekannt voraussetze. Auf diese Weise könnten die produktiven Beiträge der einzelnen Produktivgüter bei der Herstellung von fertigen verbrauchsreifen Erzeugnissen, und damit ihre „Werte" errechnet werden. Dem kritischen Betrachter stellen sich alle drei Versuche als Scheinlösungen dar. Man kann von der Sache her den Wert eines Genußgutes nicht eindeutig auf mehrere Produktivgüter, die in höchst verwickelter Weise ganz oder anteilig in das Genußgut eingegangen sind, verteilen. Hier zeigt sich die Hauptschwierigkeit, die dem finalen Denken entgegensteht, in besonders deutlicher Form. Erscheint es schon fragwürdig^ subjektive Wertschätzungen in verbindlicher Weise zu messen, so erweist sich die Rückrechnung der Grenznutzen genußreifer Güter auf die bei ihrer Herstellung eingesetzten Güter höherer Ordnung als ein unlösbares Problem. Die Lehren der Grenznutzenschule wurden aufgenommen und weiterentwickelt durch EMIL SAX (1845—1927), dessen verkehrswissenschaftliche Untersuchungen noch heute von Bedeutung sind — er hat es verstanden, umfangreiches Erfahrungsmaterial durch theoretische Problemstellungen klar zu durchdringen und theoretisch wohlfundierte wirtschaftspolitische Schlüsse zu ziehen —, EUGEN v. PHILIPPOVICH (1858—1917), der sich insbesondere sozialpolitischen Fragen zuwandte, die konkrete Anwendung theoretischer Erkenntnisse in der Gestaltung des Wirtschaftslebens betreibend, HANS MAYER (1879—1955), der sich um die Weiterentwicklung der Wert- und Preistheorie — in seiner letzten Arbeit stellte er die Frage, wie mit dem Nutzen gerechnet werden kann, wenn seine Meßbarkeit

4. Die Zurechnungstheorie

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zweifelhaft ist — und um die logische Bereinigung der Zurechnungstheorie bemüht hat, LUDWIG v. MISES (geb. 1881), der die geldtheoretisch möglichen Fragestellungen vom Boden der Grenznutzenlehre aus entfaltet hat, und WILHELM VLEUGELS (1893—1942), der seine Aufmerksamkeit vornehmlich soziologischen Fragen geschenkt hat. JOSEPH SCHUMPETER (1883—1950) hat durch seine Problemstellungen die Grenzen finalen Denkens durchbrochen und ist zur funktionalen Analyse wirtschaftlicher Zusammenhänge vorgestoßen. Bedeutungsvoll sind insbesondere seine Untersuchungen über die Entwicklung unternehmungsweise betriebener Industriewirtschaften. Hier gelingt es ihm, den Zins als eine Erscheinung der wirtschaftlichen Dynamik, gleichsam als Entwicklungskoeffizienten innerhalb des Rechensystems der Wirtschaft aufzuzeigen. Im nicht deutschsprachigen Raum können als Vertreter finalen Denkens genannt werden: die Franzosen CHARLES RIST (1873—1955) und ALBERT AFTALION (geb. 1874), der auch der Frage nachgegangen ist, ob der Sozialismus mit der Grenznutzentheorie und der Lehre von der Grenzproduktivität vereinbar ist, der Holländer NICOLAAS GERARD PIERSON (1839—1909), der sich vorwiegend mit Problemen der Finanzwissenschaft beschäftigt hat, und der schon erwähnte Amerikaner JOHN BATES CLARK, der den Gedanken der Grenzproduktivität in die Untersuchung über die Bewertung der Produktivgüter und der elementaren Produktionsfaktoren eingeführt hat. Sehr stark angeregt worden durch Gedanken der Grenznutzentheorie ist auch der Engländer ALFRED MARSHALL (1842—1924). Seine wissenschaftlichen Arbeiten legen jedoch schon den Blick auf Probleme des funktionalen Denkens frei. LITERATUR Gossen, H. H.: Entwicklung der Gesetze des menschlichen Verkehrs und der daraus fließenden Regeln für menschliches Handeln. 1854, 3. mit einer Einleitung von Fr. A. v. Hayek 1927. Jevons, W. St.: The theory of political economy. 1871, dtsch. u. d. Titel: Die Theorie der politischen Ökonomie, 1923. Menger, C.: Grundsätze der Volkswirtschaftslehre. 1871, 2. 1923, Neudr. in:. The collected works of Carl Menger, Bd.I, London, 1934.

122

IX- Das funktionale Denken in der Wirtschaftslehre

Meager, C.: Untersuchungen über die Methode der Sozialwissenschaften und der politischen Ökonomie insbesondere. Leipzig 1883, Neudr. in: The collected works of Carl Menger, Bd. II, London 1933. Menger, C.: Die Irrtümer des Historismus in der deutschen Nationalökonomie. Wien, 1884, Neudr. in: The collected works of Carl Menger, Bd. III, Kleinere Schriften zur Methode und Geschichte der Volkswirtschaftslehre, London 1935. Walras, Leon: Eliments d'e'conomie politique pure. Bd. l u. 2, Paris 1874 bis 1877, Neuausg. Paris 1926. Walras, Leon: Mathematische Theorie der Preisbestimmung der wirtschaft• liehen Güter. 1881. Wieser, Fr. v.: Der natürliche Wert. Wien 1889. Wieser, Fr. v.: Theorie der gesellschaftlichen Wirtschaft, GdS, Abt. l, 1914, 2. 1924. Böhm-Bawerk, E. v.: Kapital und Kapitalzins. 1. Bd. Geschichte und Kritik der Kapitalzinstheorien, 1884, 4. 1921; 2. Bd. Positive Theorie des Kapitals, 1888, 4. 1921. Pareto, V.: Cours d'economie politique. Bd. l u. 2, Paris 1896—1897. Sax, E.: Das Wesen und die Aufgaben der Nationalökonomie. Ein Beitrag zu den Grundproblemen dieser Wissenschaft, Wien 1884. Sax, E.: Die Verkehrsmittel in Volks- und Staatswirtschaft. 2 Bde., Wien 1878—1879, 2. 3 Bde., 1. Bd. Allgemeine Verkehrslehre, Berlin 1918, 2. Bd. Land- und Wasserstraßen, Post, Telegraph, Telephon, Berlin 1920, 3. Bd. Die Eisenbahnen, mit einer Abhanolg. von E. v. Beckerath über die Wandlungen der Wirtschaft im Zeitalter der Eisenbahnen, Berlin 1922. Schumpeter, J.: Das Wesen und der Hauptinhalt der theoretischen Nationalökonomie. 1908. Mohrmann, W.: Dogmengeschichte der Zurechnungslehre. 1914. Mises, L. v.: Theorie des Geldes und der Umlaufsmittel. 1912, 2. 1924. Mayer, H.: Untersuchung zu dem Grundgesetz der wirtschaftlichen Wcrtrechnung. In: Z. f. Volksw. u. Soz. pol., N. F. Bd. l u. 2, Wien 1921 u. 1922. Weinberger, O.: Die Grenznutzenschule. 1926. Mayer, H.: Zurechnung, H.dSt 4. Bd. VIII, 1928 — Probleme der Wertlehre, hrsg. von L. v. Mises und A. Spiethoff, Sehr. d. Ver. f. Soz. pol., Bd. 183, 1931. Mayer, H.: Zur Frage der Rechenbarkeit des subjektiven Wertes. In: Wirtschaftstheorie und Wirtschaftspolitik, Festschr. f. Alfred Ammon, hrsg. von V. F. Wagner und F. Marbach, Bern 1953.

IX. Das funktionale Denken in der Wirtschaftslehre: Die moderne Wirtschaftstheorie 1. Vorbemerkung Die neuere ökonomische Theorie baut sich auf funktionalem Denken auf. Sie begreift das Gefüge der wirtschaftlichen Leistungen als einen funktionalen Zusammenhang.

1. Vorbemerkung

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An die Stelle des substanzgebundenen Denkens mit seinen einfachen, d. h. in eine Richtung gehenden kausal oder final bestimmten Vorstellungen ist das funktionale Denken getreten. Im engeren Sinne der Logik versteht man unter Funktion die gegenseitige Abhängigkeit von Vorgängen, Sachverhalten oder Begriffen. In der Mathematik drückt man durch den Begriff der Funktion aus, daß eine Größe y in einer bestimmten Weise von einer anderen Größe abhängig ist. Das funktionale Denken innerhalb eines besonderen Erkenntnisgebietes zeigt sich bereits in der Begriffsbildung. Die Begriffe werden nicht mehr aus den Bedingungen der Substanz erklärt, sondern aus dem Zusammenhang der Funktionen. An die Stelle der Substanzbegriffe treten Funktionsbegriffe. So wird das Geld nicht mehr als allgemeines Tauschmittel aus der Substanz bestimmt, sondern als Zahlmittel aus seiner gesellschaftlichen Funktion. Wenn wir die Entwicklung der ökonomischen Theorie mit der Entwicklung der theoretischen Physik vergleichen, in der auch das an die Substanz gebundene Denken durch funktionales Denken verdrängt worden ist, mutet es merkwürdig an, daß die ökonomische Theorie das funktionale Denken an eine Vorstellung knüpft, die aus dem Bereich der Mechanik entnommen ist, nämlich an den Begriff des Gleichgewichtes. Gemeint ist mit diesem Begriff, der zum erstenmal von LEON WALRAS meisterhaft angewendet worden ist, daß in einem System von Größen alle Großen in ihrer jeweiligen Zuordnung eindeutig bestimmt sind. Um jede Erinnerung an Substanzen, die gleich viel wiegen, auszulöschen, wäre es vielleicht besser, anstatt vom Gleichgewicht von einem System gegenseitiger Abhängigkeiten oder von einem System vollendeter Entsprechungen zu reden. Das würde auch insofern der wirklich geleisteten Denkarbeit gerecht werden, als die funktionalen Zusammenhänge nicht mehr allein im Zustand der Ruhe vorgestellt werden, sondern auch als Bewegungsvorgänge. Der Begriff des Gleichgewichtes ist logisch auf den Zustand der Ruhe bezogen. Die Waage erreicht den Zustand des Gleich-

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IX. Das funktionale Denken in der Wirtsdiaftslehre

gewichtes, wenn beide Schalen mit gleichen Gewichten belastet werden. Die neueste ökonomische Theorie versucht aber nicht den „Gleichgewichtszustand" der Wirtschaft im Sinn eines ausgeglichenen Ruhezustandes zu verstehen, sondern sie bemüht sich — ausgehend von der Erkenntnis, daß die industrielle Wirtschaft, die sich auf ein bestimmtes Maß von Investitionen eingestellt hat, nur als eine sich entwickelnde, stets wachsende Wirtschaft gedacht werden kann — die Bedingungen für ein entsprechungsrichtiges Wachstum der Wirtschaft herauszuarbeiten. Dieser Aufgabe hat man zeitweise dadurch gerecht zu werden versucht, daß man die Statik, die Lehre vom Gleichgewichtszustand der Wirtschaft von der Dynamik, der Lehre von der Bewegung, der Entwicklung, dem Wachstum der Wirtschaft unterschied. Der Begriff des als methodischen Prinzips verstandenen Gleichgewichtes sollte bei dieser Unterscheidung auf die Probleme der Statik bezogen werden. Das hätte dann einen Sinn haben können, wenn die Wirtschaft immer die Neigung hätte, nach einer Phase der Bewegung, die man als „Ungleichgewicht" hätte verstehen können, wieder zum „Gleichgewicht" im Sinne des Zustandes der Ruhe zurückzukehren, wenn also die Bewegung der Wirtschaft, ihre Entwicklung jeweils eine Unterbrechung des statischen Zustandes darstellen würde. Das ist im Zeitalter der industriellen Wirtschaft offensichtlich nicht der Fall. Es gehört zum Wesen der neuzeitlichen Industriewirtschaft, daß sie sich entwickelt, daß sie wächst. Infolgedessen erscheint es fraglich, ob es sinnvoll ist, die funktionalen Zusammenhänge im Gefüge der wirtschaftlichen Leistungen und im System der wirtschaftlichen Rechengrößen vom Prinzip des Gleichgewichtes abzuleiten. Man spricht zwar, um gewissen Gedankenverbindungen, die durch den Begriff des Gleichgewichtes hervorgerufen werden können, auszuweichen, oft von einem „dynamischen Gleichgewicht". Dieser Begriff ist jedoch logisch ein Widerspruch in sich selbst. Man sollte deshalb eigentlich vermeiden, das methodische Prinzip, das man braucht, um die

2. Der Übergang: Alfred Marshall

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funktionalen Zusammenhänge der Wirtschaft verständlich zu machen, als „Gleichgewicht" zu bezeichnen. LITERATUR Cassirer, E.: Substanzbegriff und Funktionsbegriff. 1910. Dricsch, H.: Ordnungsichre. 1912, 2. 1923. Schuster, E.: Untersuchungen zur Frage nach der Möglichkeit einer theoretischen Wirtschaftswissenschaft. Arch. f. Soz.wiss. u. Soz.pol., Bd. 49, 1922. Streuer, R.: Die Dynamik der theoretischen Nationalökonomie.

2. Der Übergang: Alfred Marshall

ALFRED MARSHALL (1842—1924) erschien seinen Zeitgenossen als der Wiedererwecker klassischen Denkens. Seine Art, die Probleme der ökonomischen Theorie zu sehen, zeigt aber, daß er nicht nur kausal denkt. Bei der Lösung einzelner Probleme nimmt er die Ergebnisse finaler Betrachtungen auf. Bei anderen stößt er zu funktionaler Denkweise durch. JOSEPH SCHUMPETER hat darauf aufmerksam gemacht, daß ALFRED MARSHALL sich weniger darum bemüht hat, die Bedingungen für das gesamte Gleichgewicht der Volkswirtschaft zu beschreiben. Seine Stärke lag darin, Probleme partieller, Teilbereiche bestimmender Gleichgewichte zu untersuchen. Dabei entwickelte er den für die neuere ökonomische Theorie so wichtigen Begriff der Elastizität der Nachfrage. Unter diesem Begriff versteht er die verschiedenartige Reaktion der Nachfrage auf Preisänderungen. Das Problem wurde von ALFRED MARSHALL theoretisch so weit geklärt, daß der Versuch gemacht werden konnte, für einige Waren Elastizitätskoeffizienten zu errechnen. Im Zusammenhang mit der gedanklichen Analyse der Nachfrageelastizitäten arbeitete ALFRED MARSHALL den Begriff der Konsumentenrente heraus: die verschiedenen Käufer einer Ware schätzen den Nutzen, den diese Ware ihnen bietet, verschieden hoch ein. Wenn der Preis sich nach den Nutzenschätzungen der Grenzpaare richtet, müssen alle diejenigen Käufer, die an sich bereit wären, einen höheren Preis zu zahlen, weil sie den Nutzen der Ware höher einschätzen, gleichsam einen „Gewinn" erzielen. Er besteht in dem Geldbetrag, der nicht ausgege-

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IX- Das funktionale Denken in der Wirtschaftslehre

ben zu werden brauchte, weil die Ware in Ansehung der Bedingungen des Marktes zu einem Preise erworben werden konnte, der unter den eigenen Wertschätzungen lag. Exakt kann diese „Konsumentenrente" als Differenz zwischen dem Preis, den ein Käufer zu zahlen bereit wäre, und dem tatsächlich bezahlten Marktpreis multipliziert mit der gekauften Menge definiert werden. Bei der Analyse der Nachfrageelastizität, ja der Nachfragefunktion überhaupt, widmet ALFRED MARSHALL auch der Möglichkeit einer Substitution diejenige Aufmerksamkeit, die ihr zukommt, wenn man die Preisbildung in einer differenzierten Industriewirtschaft untersuchen will. Den Kostenzusammenhang begriff ALFRED MARSHALL als ein einheitliches Phänomen, das er mit Hilfe des von JOHANN HEINRICH VON THÜNEN so meisterhaft benutzten Grenzgedankens zu analysieren versuchte. Seitdem spielt die Grenzkostenkurve bei der Darstellung des Kostenzusammenhanges eine entscheidende Rolle. Dieser Grenzkostenanalyse lag die Unterscheidung der Kosten in veränderliche und feste Kosten zugrunde, die ALFRED MARSHALL aus dem Rechnungswesen der neuzeitlichen industriellen Unternehmung ableitete. Das „Kostengesetz" faßte ALFRED MARSHALL funktional als Ausdruck der Notwendigkeit auf, daß auf die Dauer Kosten und Preise übereinstimmen müssen. Mit dieser Feststellung hängt auch die Tatsache zusammen, daß er die Rente der industriell tätigen Produzenten als „Quasirente" bezeichnete. Diese Rente industriell tätiger Produzenten ist Ausdruck besonderer „Ungleichgewichte" auf einzelnen Märkten, die dazu führen, daß die Preise sich über die Kosten erheben. Da in der industriellen Gütergewinnung auf lange Sicht gesehen alle Produktionsmittel den Produktionsnotwendigkeiten entsprechend vermehrt werden können, müssen sich die Preise immer wieder den Produktionskosten anpassen. Unternehmergewinne können deshalb immer nur vorübergehend auftauchen. Sie müssen verschwinden, wenn sich — bei „Marktgleichgewicht" — die Preise den Kosten wieder anpassen. Hierdurch unterscheidet sich der Unternehmer-

2. Der Übergang: Alfred Marshall

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gewinn als Quasirente von der landwirtschaftlichen Rente, die als Grundrente bei bestimmten Marktverhältnissen ständig anfällt. Im Zusammenhang mit diesen Gedanken entwickelte ALFRED MARSHALL die Theorie der unvollkommenen Konkurrenz. Aus unmittelbarer Anschauung schöpfte er die Feststellung, daß es einzelnen Unternehmungen gelingt, eine Sonderstellung am Markte zu erringen. Vielleicht kann man sogar sagen, daß es ihnen gelingt, sich besondere Märkte zu schaffen, die von Wettbewerbern nicht bedroht werden, unter bestimmten Umständen nicht einmal bedroht werden können. Auf der anderen Seite behauptete ALFRED MARSHALL als einer der ersten, daß vollkommener Wettbewerb nicht immer zu maximaler Produktionsleistung führt. Gelingt es durch besondere Maßnahmen, diejenigen Produktionen, die im Bereich steigender Kosten liegen, einzuschränken und diejenigen Produktionen, die einen Bereich sinkender Kosten vor sich haben, auszudehnen, so kann die Produktionsleistung insgesamt über den sich im Wettbewerb ergebenden Stand gehoben werden. ALFRED MARSHALL'S theoretische Analyse ging in allen Punkten darauf aus, „handliche Werkzeuge" zu liefern, wie JOSEPH SCHUMPETER einmal gesagt hat, Werkzeuge, die es ermöglichen, wichtige ökonomische Vorgänge und für das Verständnis der Gesamtwirtschaft bedeutungsvolle Größenrelationen statistisch in den Griff zu bekommen. Zahlreiche seiner theoretischen Begriffe erweisen sich als brauchbare Hilfsmittel zahlenmäßiger Messungen. Das ist etwa beim Begriff der Nachfrageelastizität deutlich sichtbar. Auch seine Kosten- und Angebotsfunktionen können nach JOSEPH SCHUMPETER'S Worten als „Teile eines Apparates, der statistische Messungen zum Ziel hat", aufgefaßt werden. Mit dieser Neigung, verwendungsfähige Begriffe zu bilden, hängt es wohl auch zusammen, daß MARSHALL'S Hauptwerk — wie JOHN MAYNARD KEYNES einmal festgestellt hat — nicht in erster Linie als eine Sammlung konkreter Wahrheiten angesehen werden kann, sondern als eine „Apparatur", die es ermöglicht, konkrete Wahrheiten

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IX. Das funktionale Denken in der Wirtschaftslehre

zu finden. ALFRED MARSHALL selbst hat die Wirtschaftswissenschaft immer als eine sich entwickelnde Wissenschaft angesehen. Er wußte um die geschichtliche Bedingtheit des jeweiligen Gegenstandes der wissenschaftlichen Forschung. Er stellte auch die menschliche Natur als solche nicht als einen gleichbleibenden Faktor in seine theoretischen Überlegungen ein. MARSHALL hat deshalb auch nie behauptet, daß es möglich sei, ein Problem der ökonomischen Theorie endgültig und für alle Zeiten zu lösen. Mit diesem Hinweis sind echte Probleme der ökonomischen Theorie gemeint und nicht einfache Rechenergebnisse der „volkswirtschaftlichen Saldenmechanik", die für jede in Frage kommende Situation eindeutig ermittelt werden können (WOLFGANG STÜTZEL). ALFRED MARSHALL blieb immer offen für das Neue, das auch neu durchdacht werden muß. Vielleicht liegt darin auch das Geheimnis seiner großen Wirkung. Er hat viele Schüler gehabt, die produktiv weiter gedacht haben. Ich nenne nur ARTHUR CECIL PIGOU (geb. 1877), DENNIS HOLME ROBERTSON (geb. 1890), JOHN MAYNARD KEYNES (1883—1946). Nicht ohne Grund spricht man in England von der Cambridger Schule. Daß man die Vertreter der Cambridger Schule nicht einfach als Neo-Klassiker bezeichnen kann, wie es manchmal geschieht, wird besonders deutlich in den Arbeiten von FRANCIS YSIDRO EDGEWORTH (1845—1926), der ALFRED MARSHALL ebenbürtig an die Seite gestellt werden kann. EDGEWORTH hat Wesentliches dazu beigetragen, die Substanzgebundenheit des kausalen und finalen Denkens zu überwinden. Das kommt darin zum Ausdruck, daß die theoretischen Analysen wirtschaftlicher Zusammenhänge, die wir EDGEWORTH verdanken, sowohl von dem Utilitarismus, der noch bei JOHN STUART MILL zu finden ist, als auch von dem hedonistischen Wertsubjektivismus der Grenznutzentheorie frei sind. Besonders aufschlußreich sind seine Untersuchungen über die monopolistische Preisbildung. LITERATUR Marshall, A.: The pure theory of foreign trade and domestic values, Privatdr. 1879, 2. 1930, 3. 1950.

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Marshall, A.: Principles of economics.1890, 8. 1920, Neudr. London u. New York, 1956, dcsch. u. d. Titel: Handbuch der Volkswirtschaftslehre, 1905. Marshall, A.: Money, credit and commerce. London 1923. Keynes, J. M.: Alfred Marshall. 1842—1924, in: Econ. Jl., Bd. 34, 1924, wieder abgedr. in: Politik und Wirtschaft. Männer und Probleme, 1956. Edgeworth, Fr. Y.: Papers relating to political economy. 3 vols., London 1925. Homan, P. Th.: Contempory economic thought. New York 1928. Schumpeter, J. A.: Alfred Marshall. In: Am. ccon. Rev., Bd. 31, 1941, wieder abgedr. in: Dogmenhistorische und biographische Aufsätze, 1954. Pigou, A. C.: Alfred Marshall and current thought. London 1953. Robertson, D. H.: Some recent writings on the theory of pricing. In: D. H. Robertson, Economics commentaries, London 1956.

3. Der Anfang: Gustav Cassel

Einer der ersten, die sich bewußt vom substanzgebundenen Denken lossagten und die Beschreibung des Zusammenhanges der Preise nicht mehr auf eine Wertlehre gründeten, war der Schwede GUSTAV CASSEL (1866—1945). Schon im Jahre 1899 hat GUSTAV CASSEL unter dem Titel „Grundriß einer elementaren Preislehre" eine Abhandlung vorgelegt, in der er seine Absicht, eine Preislehre ohne werttheoretische Begründung aufzubauen, zum erstenmal kundgetan hat. Entfaltet worden ist die CASSEL'sche Preislehre in seiner „Theoretischen Sozialökonomie", die gerade in Deutschland großen Einfluß gehabt hat. CASSEL bemühte sich, alle ökonomischen Fragen als Probleme der Preisbildung zu verstehen. So zog er auch die Einkommensgrößen als Preise der elementaren Produktionsmittel in den einheitlich aufgefaßten Zusammenhang der Preisbildung ein. Und er versuchte, die Preisbildung als einen einheitlichen Vorgang vom Prinzip der Knappheit aus zu erklären. „Gewirtschaftet" wird nur mit Gütern, die im Verhältnis zum Begehr knapp sind. Um die Nachfrage nach solchen Gütern mit der Möglichkeit, sie zu decken, in Übereinstimmung zu bringen, müssen für sie Preise gebildet werden. Preise haben nach CASSEL die sozialökonomische Funktion, die Nachfrage nach Gütern auf das Maß des zur Verfügung stehenden Angebotes zu beschränken. Hier kommt ein ideologisches Moment in die Betrachtungen hinein. „Das Prinzip der Knappheit besteht also für 9 Geschichte der Volkswirtschaftslehre

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IX- Das funktionale Denken in der Wirtschaftslehre

die Tausdrwirtschaft in der Notwendigkeit, die Konsumtion durch den Druck der Preisbildung in Übereinstimmung mit einer knappen Güterversorgung zu bringen/' Die Nachfrage nach Gütern, die verwendet werden sollen, ist mittelbar eine Nachfrage nach Produktionsmitteln, mit deren Hilfe diese Güter hergestellt werden können. Dabei muß beachtet werden, daß die Nachfrage nach einer Ware nicht nur eine Funktion des Preises dieser Ware ist, sondern auch der Preise aller anderen Waren, die in den nachfragenden Haushalten zur Deckung des Bedarfes herangezogen werden. So kam CASSEL von vornherein dazu, nach den Bedingungen für die gesamte Übereinstimmung von Nachfrage und Angebot zu fragen, d. h. er fragte nach den Funktionen, die die Abhängigkeit der Nachfrage von den Preisen aller verschiedenen Güter ausdrücken. Und da er die Nachfrage nach Gütern des unmittelbaren Bedarfes mittelbar als eine Nachfrage nach Herstellungscütern, letztlich als eine Nachfrage nach elementaren Produktionskräften ansah, gewann er die Möglichkeit, die Preisbildung der elementaren Produktionskräfte in die Beschreibung des allgemeinen Preiszusammenhanges einzubeziehen. Auch die Preisbildung der elementaren Produktionsfaktoren unterliegt bei GUSTAV CASSEL dem Prinzip der Knappheit. Um den die ganze Volkswirtschaft horizontal und vertikal durchdringenden Zusammenhang der Preisbildung mathematisch beschreiben zu können, nahm CASSEL die Preise der elementaren Produktionsfaktoren als gegeben an und setzte außerdem voraus, daß die technischen Produktionszusammenhänge, die Herstellungsverfahren bekannt sind. Man weiß dann, welche Menge von jedem dieser elementaren Produktionsfaktoren gebraucht werden, um eine Einheit des Bedarfsgutes herzustellen. Auf Grund dieser Annahmen können dann die Preise der Bedarfsgüter berechnet werden, die den Konsumenten die Möglichkeit geben, ihre Nachfrage nach jedem einzelnen Gut zu bestimmen. Allerdings muß beachtet werden, daß der Umfang der Nachfrage nach jedem Gut wiederum für den

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Preiszusammenhang von Bedeutung ist. Denn die Stückkosten verändern sich je nach der Menge des Gutes, die hergestellt werden soll. Die Kosten erscheinen bei CASSEL als das Ergebnis der Preisbildung und nicht als objektive Gegebenheiten, wie etwa noch in der Darstellung ALFRED MARSHALL'S, der in den Kosten wesentlich eine persönliche Leistung, eine menschliche Anstrengung sah. Natürlich stehen hinter den Kosten letztlich menschliche Anstrengungen. Aber CASSEL vermied es, diese Anstrengungen als solche zu bewerten. Das „Kostenprinzip" hat nach CASSEL lediglich die Bedeutung, „daß jedes fertige Gut einen Preis bekommt, der seinen Produktionskosten entspricht, oder allgemeiner, daß jede Nachfrage die vollen Kosten ihrer Befriedigung tragen soll" (S. 78). In dem System simultaner Gleichungen, mit deren Hilfe der Vorgang der Preisbildung beschrieben werden soll — ihre Zahl entspricht der Zahl der Unbekannten des Problems — werden drei Gruppen von Faktoren in funktionale Beziehungen gesetzt: die Mengen der elementaren Produktionsmittel, die technischen Koeffizienten, die sich je nach dem Stande der technischen Entwicklung ändern können, und die Elastizität der Nachfrage, d. h. die Abhängigkeit der Nachfrage von den Preisen. Dieser Hinweis auf die Gestalt der simultanen Gleichungen zeigt, daß es bei GUSTAV CASSEL kein besonderes Verteilungsproblem gibt. Die Einkommen bilden sich aus den Preisen, die die elementaren Produktionskräfte im Preisbildungsvorgang erzielen. Die preismäßig bestimmten Erlöse fließen als Einkommen denjenigen zu, die diese elementaren Produktionsmittel zur Verfügung stellen. Wer das ist, hängt von der jeweiligen Organisation der Gesellschaft, praktisch von dem Verhältnis im Umfange des Privateigentums und des Gemeineigentums ab. Ein elementares Produktionsmittel gehört aber stets der einzelnen Person, nämlich die persönliche Arbeitskraft. Die Bildung der Einkommen ist also nach GUSTAV CASSEL auch ein Ergebnis des Preisbildungszusammenhanges. Die Einkommen setzen sich aus Entgelten zusam-

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IX. Das funktionale Denken in der Wirtschaftslehre

men, die als Preise dafür zu definieren sind, daß bestimmte elementare Produktionsmittel zur Verfügung gestellt werden. Ein besonderes „Beschäftigungsproblem" kann es nach dieser Auffassung nicht geben. Denn die Verwendung der Produktionsmittel, ihr „Absatz", ist davon abhängig, daß ihre Preise der Nachfrage entsprechen. GUSTAV CASSEL sagte ausdrücklich, daß im Preisbildungszusammenhang keine „Rangordnung" zwischen den verschiedenen Preisen bestünde, infolgedessen auch keine Aussagen über notwendige Bedingungszusammenhänge gemacht werden könnten. Voraussetzung für die Möglichkeit, alle wirtschaftlichen Güter, die elementaren Produktionsmittel ebenso wie die Bedarfsgüter in den wirtschaftlichen Rechenzusammenhang einzugliedern und so ihre wirtschaftliche Verwertung, ihren Absatz zu sichern, ist nach CASSEL allein die Freiheit der Preisbildung, die sich jeweils der gegebenen „Knappheit" anpassen muß. Auch der Zins ist für CASSEL kein monetäres Phänomen, er wird nicht durch die Geldmenge beeinflußt, sondern zeigt — bei neutraler Geldschöpfung — stets den Knappheitsgrad der tatsächlichen Ersparnisse im Verhältnis zum Investitionsbedarf an. Bei freier Entfaltung des Kapitalmarktes führt der Zins die Übereinstimmung von Kapitalangebot und Kapitalnachfrage, d. h. von Sparen und Investition herbei. Um den Zins in seiner Funktion als Preis verständlich zu machen, hat GUSTAV CASSEL den Begriff der Kapitaldisposition geprägt. Kapitaldisposition ist dabei gleichbedeutend mit der wirtschaftlichen Fähigkeit und der Bereitschaft, warten zu können. Warten zu können, ist nach CASSEL eine notwendige ökonomische Leistung, denn alle Güterherstellung erfordert Zeit, die um so ausgedehnter wird, je mehr Produktionsumwege im Sinne BÖHM-BAWERK'S eingeschlagen werden. Dazu kommt, daß auch die Nutzung ausdauernder Gebrauchsgüter, wie wir sie etwa in Wohngebäuden vor uns haben, Zeit erfordert. Da die wirtschaftliche Fähigkeit und die Bereitschaft warten zu können, anders ausgedrückt: da das Angebot an Kapitaldisposition, an echten Sparmitteln begrenzt ist, muß die Nachfrage nach

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Sparmitteln, der Wille zu investieren, durch einen Preis, der Zins genannt wird, eingeschränkt werden. Der GASSEi/sche Ansatz des preistheoretischen Denkens bestimmt auch die Stellung der Theorie des Geldes in der allgemeinen Wirtschaftstheorie. Bei der Beschreibung des Preiszusammenhanges hat GUSTAV CASSEL eine Geldeinheit vorausgesetzt, in der alle Preise ausgedrückt werden können. In dem System simultaner Gleichungen, das die Bestimmung der Preise beschreibt, sind alle Rechengrößen miteinander verbunden. Konkret zu bestimmen sind die Preise aber erst, wenn die Recheneinheit, die als der multiplikative Faktor des Gleichungssystems angesehen werden kann, ökonomisch festgelegt wird. Zu erklären, wie das geschieht, ist die Aufgabe der Geldtheorie. Die geschichtliche Entwicklung des Geldes ist nach CASSEL dadurch bestimmt worden, daß zwei verschiedene Bedürfnisse des wirtschaftlichen Leistungszusammenhanges befriedigt werden mußten: Das Bedürfnis nach einer „Recheneinheit" und das Bedürfnis nach einem „Tauschmittel". Die Geldlehre hat nun zu untersuchen, wie die Zahlungsmittelvcrsorgung in den verschiedenen möglichen Geldsystemen geregelt wird und wie die Kaufkraft der Recheneinheit durch die jeweils verwirklichte Knapphaltung der Versorgung mit Zahlungsmitteln bestimmt wird. Es ist deutlich zu sehen, daß von dieser Fragestellung aus das Problem des Geldwertes, der Kaufkraft der Recheneinheit nur quantitätstheoretisch gelöst werden kann, und zwar quantitätstheoretisch im strengen Sinne des Wortes. Ähnlich wie IRVING FISHER drückt GUSTAV CASSEL die funktionalen Beziehungen zwischen Geldmenge, Umlaufsgeschwindigkeit des Geldes, allgemeinem Preisstand und Größe der Warenumssätze in der einfachen Form der Verkehrsgleichung aus, die GUSTAV CASSEL zunächst in der üblichen Form · = · V schrieb, wobei T die Gesamtmenge der auf den Markt gelangenden Waren, P den allgemeinen Preisstand M die Geldmenge und V die Umlaufsgeschwindigkeit des Geldes darstellt. GUSTAV CASSEL führte dann den Begriff des relativen Geldbedarfes ein, der mit R bezeichnet wird.

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IX. Das funktionale Denken in der Wirtsdiaftslehre

Der relative Geldbedarf ist gleich der gesamten Zahlungsleistung, die in einer als Einheit gedachten Periode vollzogen werden muß. Deshalb schrieb GUSTAV CASSEL R · T · P = M. In dieser Gleichung wird die Abhängigkeit des allgemeinen Preisstandes von der Geldmenge und dem relativen Geldbedarf ausgedrückt. Wichtig für das Verständnis der CASSEi/schen Geldtheorie ist die Tatsache, daß CASSEL den Zins als Preis für die Kapitaldisposition ansieht, der die Aufgabe hat, die Übereinstimmung von Kapitalangebot und Kapitalnachfrage, d. h. von Sparen und Investieren herbeizuführen. Der Zins wird also mit den realen Vorgängen auf dem Kapitalmarkt in Verbindung gebracht. Er wird nicht als ein monetär bestimmtes Phänomen angesehen. Weicht der Zins, den die Banken fordern, von dem Zins ab, den die Lage des Kapitalmarktes bestimmt, kommt es zu Veränderungen der Geldmenge, die nicht in Veränderungen der Produktionsleistung begründet sind und sich daher in entsprechenden Veränderungen des allgemeinen Preisstandes niederschlagen müssen. Liegt der Bankzins unter dem „natürlichen" Zins, den die Lage auf dem Kapitalmarkt erfordert, steigt die Inanspruchnahme des Bankensystems, die wirksame Geldmenge nimmt zu, die Preise steigen. Die entgegengesetzte Wirkung ist festzustellen, wenn der Bankzins über dem „natürlichen" Zins steht. Bei der Untersuchung dieser Zusammenhänge dachte CASSEL in den Vorstellungen der klassischen Ökonomie, wie sie am deutlichsten bei DAVID RICARDO zum Ausdruck kommen. Die Lehre vom auswärtigen Handel hat GUSTAV CASSEL unmittelbar mit seiner Geldlehre und seiner Preistheorie verbunden. Das Gleichgewicht des internationalen Handels, wertmäßige Übereinstimmung von Einfuhr und Ausfuhr, ist nach CASSEL abhängig von der relativen Kaufkraft der verschiedenen Geldeinheiten derjenigen Länder, die am Güteraustausch beteiligt sind. Dieses Gleichgewicht findet seinen Ausdruck darin, daß die Wechselkurse, zu denen die Geldeinheiten verschiedener Währungen umgetauscht werden, den „Kaufkraftparitäten" entsprechen. Mit Hilfe

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dieser Kaufkraftparitätentheorie wollte GUSTAV CASSEL die Veränderungen der Wechselkurse bei inflationistisch bestimmten Preissteigerungen in einzelnen am internationalen Handel beteiligten Ländern erklären. GUSTAV CASSEL'S Gedanken gewannen in der ganzen Welt großen Einfluß, als es nach dem ersten Weltkriege darum ging, den Inflationismus der Kriegs- und Nachkriegszeit zu überwinden. Die krisenhaften Schrumpfungserscheinungen der Wirtschaf t, die einer kurzen Aufschwungsperiode folgten, konnten jedoch mit Hilfe der CASSEi/schen Konzeption nicht zureichend verstanden werden. Hier zeigten sich die Grenzen des Versuchs, den Rechenzusammenhang der neuzeitlichen arbeitsteilig gegliederten und unternehmungsweise betriebenen Industriewirtschaft allein mit den Methoden preistheoretischen Denkens zu durchdringen. Das Einkommen, das in der neuzeitlichen Industriewirtschaft Unternehmungen und Haushalte miteinander verbindet, erscheint im theoretischen System GUSTAV CASSEL'S gar nicht als eine besondere Kategorie, sondern nur als das Ergebnis von Preisen. Es wird nicht einmal als. Summe von Preisen besonders begriffen. Infolgedessen fehlte der begriffliche Apparat, den makroökonomischen Zusammenhängen des wirtschaftlichen „Kreislaufes" nachzugehen. Das hat sich in der sog. Weltwirtschaftskrise verhängnisvoll ausgewirkt. In Deutschland sind vor allem ADOLF WEBER (geb. 1876), der einen großen pädagogischen Einfluß gewonnen hat, und LUDWIG POHLE (1869—1926) durch GUSTAV CASSEL angeregt worden. Auch WALTER EUCKEN (1891 bis 1950) ist in seinem Denkansatz bis zu einem gewissen Grade von GUSTAV CASSEL abhängig. LITERATUR Cassel, G.: Grundriß einer elementaren Preislehre. Zeitschr. f. d. ges. Staatsw-, Bd. 55, 1899. Cassel, G.: Die Produktionskostentheorie Ricardos und die ersten Aufgaben einer theoretischen Volkswirtschaftslehre. Zeitschr. f. d. ges. Staatsw., Bd. 57, 1901. Cassel, G.: Der Ausgangspunkt der theoretischen Ökonomie. Zeitschr. f. d. ges. Staatsw., Bd. 58, 1902.

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IX- Das funktionale Denken in der Wirtschaftslehre

Cassel, G.: The nature and necessity of interest. London und New York 1903.

Cassel, G.: Theoretische Sozialökonomie. 1918, 5. 1932. Cassel, G.: Grundgedanken der theoretischen Ökonomie. Vier Vortrage. 1926, 2. 1928.

Cassel, G.: Währungsstabilisierung als Weltproblem. 1928, 2. 1928. Pohle, L.: Die gegenwärtige Krisis in der deutschen Volkswirtschaftslehre. 1911, 2. 1921. Weber, Ad.: Die Aufgaben der Volkswirtschaftslehre als Wissenschaft. 1909. Weber, Ad.: Allgemeine Volkswirtschaftslehre. Eine Einführung, 1928, 7. 1957. Weber, Ad.: Politische Preise, politische Arbeitsbedingungen, Arbeitslosigkeit. 1931. Kromphardt, W.: Die Systemidee im Aufbau der Casselschen Theorie. 1927. Schultze, K.: Cassels Preislehre. Eine Auseinandersetzung mit ihren Kritikern, 1932. Wendt, S.: Der Erkenntniswert der Kaufkraftparitätentheorie. Jb. f. Nat. oek. u. Stat. III. Fg., Bd. 81, 1932. Stackelberg, H. v.: Zwei kritische Bemerkungen zur Preistheorie Gustav Cassels. Zeitschr. f. Nat. oek., Bd. 4, Wien 1933.

4. Die Entfaltung der Preislehre Die Wirtschaftstheorie der Gegenwart sieht — nach dem Vorgange GUSTAV CASSEL'S — ihre Aufgabe nicht mehr darin, eine Theorie des Preises zu entwickeln, durch die der Preis als gleichsam absolute Erscheinung dinghaft erklärt werden soll. Sie kann als eine Theorie der Preise bezeichnet werden, die durch den Gedanken der Interdependenz, der gegenseitigen Bedingtheit aller wirtschaftlichen Rechengrößen bestimmt wird. Die Vorstellung des „Gleichgewichtes" wird dabei im umfassenden Sinne einer gesellschaftlichen Zuordnung von Deckungsmöglichkeiten auf die vorhandenen Bedarfe verstanden. Man hat eingesehen, wie fragwürdig es ist, vom Leben, von der Wirklichkeit abgezogene Größen in die Betrachtung der funktionalen Zusammenhänge des wirtschaftlichen Rechenzusammenhanges einzusetzen. Nach dem Vorbilde WALTER EUCKEN'S und ERICH SCHNEIDERS (geb. 1900) dienen als Ausgangsdaten die durch die Einkommen bestimmten Dispositionspläne der Haushalte, die die Menge der vorhandenen Produktionskräfte und den Stand der technischen Ausrüstung berücksichtigenden Produktionspläne der Unternehmungen und das Vorhandensein einer bestimmten Geldmenge. Die Dispositionspläne der privaten und öffentlichen Haushalte

4. Die Entfaltung der Preislehre

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schließen das Problem der Nadifrageelastizitäten ein — über dieses Problem hat ALFRED MARSHALL bereits Entscheidendes gesagt — die Produktionspläne der Unternehmungen berücksichtigen das Problem des Kostenzusammenhanges, d. h. den Zusammenhang von Produktionsmengen und Kosten je Einheit des hergestellten Gutes. Für die moderne Kostentheorie ist kennzeichnend, daß sie die Aufspaltung in zwei Kostengesetze, deren Geltungsbereich sachlich verschieden lokalisiert wird, grundsätzlich überwunden hat. Nach der „klassischen Lehre" sollte das Gesetz der steigenden Kosten — anders ausgedrückt: das Gesetz vom abnehmenden Ertragszuwachs — allein in der Landwirtschaft gelten, das Gesetz der sinkenden Kosten allein in der industriellen Produktion. Neuere Forschungen haben erwiesen, daß grundsätzlich bei allen Arten der Gütergewinnung die gleichen Bedingungen maßgebend sind. Wird angenommen, daß ein bestimmtes Produktionsverfahren und damit auch eine bestimmte Produktionskapazität gegeben ist, so sinken — bei ansteigender Produktionsmenge — die Kosten je Einheit der ausgebrachten Menge, bis das diesem Verfahren entsprechende Optimum der Kapazitätsausnutzung erreicht ist. Wird die Gütererzeugung über das Optimum hinaus ausgedehnt, so nehmen die Kosten je Einheit des Gutes zu. Werden das Produktionsverfahren und die Produktionskapazität geändert, so gelten neue Kostenrelationen. Das Produktionsoptimum, das die niedrigsten Kosten je Einheit ermöglicht, wird dann bei einer anderen Produktionsmenge erreicht. Auch in der landwirtschaftlichen Gütergewinnung lassen sich die Kostenrelationen positiv beeinflussen, wenn Anbauart und Anbauverfahren technisch verbessert werden. Auch hier kann das Produktionsoptimum verlagert werden. Der Spielraum für verhältnismäßige Kostensenkungen ist in der Landwirtschaft allerdings geringer, weil bestimmte Leistungsfaktoren — man denke etwa an die Sonneneinstrahlung je ha — nicht verändert werden können. Auf der anderen Seite gibt es auch in der industriellen Güterherstellung Bedingungen, unter denen man bei einer Produktions-

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IX. Das funktionale Denken in der Wirtsdiaftslehre

ausdehnung mit steigenden Kosten redinen muß. Das wird immer dann eintreten, wenn die gegebene Produktionskapazität überlastet wird. Je bedeutender die festen Anlagen in der industriellen Güterherstellung werden, um so häufiger wird sich der kostenmäßige Einfluß der jeweils gegebenen Produktionskapazität bemerkbar machen. Verhältnismäßige Kostensteigerungen treten nicht nur ein, wenn die Produktionskapazität überlastet wird, sondern auch dann, wenn neue Kapazitäten in Betrieb genommen werden, ohne daß sie sofort voll ausgenutzt werden können. Die Gestalt der Kostenkurve hängt also von den besonderen Bedingungen eines jeden Falles ab. Die Erkenntnis, daß die Preisbildung nicht als abgezogener Vorgang verstanden werden kann, sondern von der gestalthaften Ordnung der Märkte entscheidend bestimmt wird, legte den Gedanken nahe, eine besondere Lehre von den Marktformen zu entwickeln. Diese Lehre ist besonders mit dem Namen WALTER EUCKEN'S verbunden. EUCKEN ging von der Feststellung aus, daß es grundsätzlich nur zwei — als ideale Typen1) zu denkende — Wirtschaftssysteme geben könne: die verkehrslose „zentralgeleitete Wirtschaft", die — sofern sie ihrer Größe wegen eines besonderen Verwaltungsapparates bedarf — als „Zentralverwaltungswirtschaft" in Erscheinung tritt, und die „Verkehrswirtschaft". In der „Zentralverwaltungswirtschaft" wird das gesamte wirtschaftliche Leben auf Grund des Planes einer zentralen Stelle gelenkt, während in einer Verkehrswirtschaft die einzelnen Pläne der Haushalte und der Unternehmungen aufeinander abgestimmt werden müssen. Das Hauptproblem, das bei der Erforschung jeder Verkehrswirtschaft gelöst werden muß, besteht also darin, zu erklären, wie die Pläne der einzelnen Haushalte und Unternehmungen aufeinander abgestimmt, wie sie einander zugeordnet werden. Das Mittel, mit dessen Hilfe die Pläne aufeinander abgestimmt werden, sind grundsätzlich die auf *) Auf den Unterschied zwischen Idealtypen im Sinne Max Webers und Realtypen, von denen Walter Eucken spricht, kann hier nicht eingegangen werden.

4. Die Entfaltung der Preislehre

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den Märkten sich bildenden Preise. Preise bilden sich — wie WALTER EUCKEN meinte — verschieden, je nach der Form des Marktes, je nach der Weise, wie Kaufende und Verkaufende einander begegnen. Diese verschiedenen Marktformen faßte EUCKEN nicht als denkbare Grenzfälle einer an sich bestehenden Grundform auf, sondern als wesensverschiedene Erscheinungen. WALTER EUCKEN untersuchte zunächst die verschiedenen Arten offenen und geschlossenen Angebotes und offener und geschlossener Nachfrage. Dabei wird unter „Offenheit" des Marktes eine Ordnung verstanden, die jedem Wirtschafter als Anbietenden und Nachfragenden den Zugang zum Markte eröffnet, während Geschlossenheit des Marktes gegeben ist, wenn nicht jeder Wirtschafter zum Markte Zutritt hat oder wenn die Mengen, die angeboten oder nachgefragt werden können, begrenzt sind. Die Märkte können durch öffentlich-rechtliches Gebot, Gewohnheitsrecht oder auch nur durch öffentliche Meinung geschlossen werden. Dabei kann es Grenzfälle geben. In beiden Grundordnungen des Marktes können verschiedene Marktformen vorkommen. Sie bedeuten in den beiden Grundordnungen allerdings nicht dasselbe. Das muß bei der gedanklichen Analyse der Marktformen beachtet werden. Auf jeder Marktseite gibt es grundsätzlich fünf Formen. Fünf Formen des Angebotes: Wettbewerb, Teiloligopol, Oligopol, Teilmonopol, Monopol. Ihnen stehen fünf Formen der Nachfrage gegenüber, die in der gleichen Weise gegliedert werden können1). Durch die verschiedenartige Zusammenfügung dieser auf beiden Seiten des Marktes vorkommenden Ordnungen ergeben sich 25 mögliche Marktformen, deren Zahl sich vervierfacht, wenn man den entscheidend wichtigen Unterschied zwischen offenen und geschlossenen Marktseiten berücksichtigt. Ein Schaubild erleichtert den Überblick über die möglichen Marktformen: 1 ) Die aus dem griechischen Worte polcin abgeleiteten Wortzusammensetzungen lassen sich streng genommen nur zur Bezeichnung der auf der Seite des Angebotes vorkommenden Marktformen verwenden. Es ist jedoch schwierig, ein sprachlogisch richtig gebildetes Wort für die Marktformen der Nachfrageseite zu bilden. Deshalb wende ich die üblichen Bezeichnungen an, obwohl sie sprachlogisdi falsch sind.

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IX. Das funktionale Denken in der Wirtschaftslehre

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4. Die Entfaltung der Preislchre

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Die Preistheorie hat sich auf Grund dieser Lehre von den Marktformen vornehmlich der Aufgabe zugewandt, die Preisbildung unter den Bedingungen unvollkommenen Wettbewerbes zu untersuchen. Die Theorie der monopolistischen Preisbildung stand dabei im Vordergrund. Die moderne Lehre konnte bei der Entfaltung dieses Problems auf Ansätze zurückgreifen, die bei AUGUSTIN ANTOINE COURNOT (1801—1877) zu finden sind. COURNOT war nicht nur einer der ersten, die mathematische Denkformen zur Lösung theoretischer Probleme der Ökonomie angewendet haben, er erkannte auch mit klarem Blick, welche Probleme der theoretischen Ökonomie mathematischer Behandlung zugänglich sind. COURNOT gliederte die Wirtschaftswissenschaften in drei Disziplinen, die Sozialökonomie, die Statistik, die es ermöglicht, das Prinzip der Wahrscheinlichkeit anzuwenden, und die Theorie im engeren Sinne, die er als „Theorie des richesses" entwarf. Von der Konzeption der Angebots- und Nachfragekurven ausgehend, unterschied COURNOT klar zwischen der Theorie des vollständigen Wettbewerbes, der Theorie des Monopols, der Theorie des Duopols und der Theorie des Oligopols. Die Theorie der monopolistischen Preisbildung stützt sich auf den Gedanken, daß der monopolistische Anbieter die abzusetzende Menge so begrenzen wird, daß er den größten Gesamtgewinn zu erzielen vermag. Er wird also den Preis so festsetzen, daß er gerade die Menge verkaufen kann, bei der das mathematische Produkt aus Stückgewinn und abgesetzter Menge den größten Wert erreicht. Die Relationen, die die Maximierung des Gewinnes ermöglichen, sind als „Cournot'scher Punkt" in die Lehrgeschichte des Faches eingegangen. Bei der Lösung des Duopolproblems und des Oligopolproblems ging COURNOT von der Annahme aus, daß jeder Anbieter die von seinem Wettbewerber angebotene Menge als eine von seinen eigenen Dispositionen unabhängige und darum konstante Größe ansieht. Mit Recht machte HEINRICH VON STACKELBERG (1905—1946) darauf aufmerksam, daß ein solches Verhalten aus den Bedingungen des Pro-

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IX· Das funktionale Denken in der "Wirtsdiaftslehre

blems selbst nicht abgeleitet werden kann. Infolgedessen erweist sich die CouRNOT'sche Lösung als unzureichend. Die neuere Theorie der oligopolistischen Preisbildung — ein Oligopol liegt vor, wenn nur wenige Anbieter einen Markt beliefern, wie es etwa auf dem Markte der Personenkraftfahrzeuge der Fall ist, — geht von der Annahme aus, daß der erste Anbieter merkt, daß der nächste sich auf sein Angebot mit bestimmten Dispositionen einzustellen versucht. Unter diesen Umständen wird er sich bemühen, diejenige Menge auf dem Markte anzubieten, die ihm unter der Voraussetzung, daß der Wettbewerber sich bereits in bestimmter Weise an seine Dispositionen angepaßt hat, den größten Gewinn ermöglicht. Diese Menge kann als Unabhängigkeitsangebot des ersten Anbieters bezeichnet werden. Genau ebenso könnte aber auch der zweite oder dritte Wettbewerber handeln. Er kann seinerseits versuchen, den ersten in die Abhängigkeitsposition zu drängen. Es kann also ein Machtkampf entstehen, wenn jeder den anderen in die Abhängigkeitsposition zu drängen sich bemüht. Ein solcher Machtkampf führt zu Verlusten und schließt ein „Gleichgewicht" aus. Im Anschluß an HEINRICH v. STACKELBERG kann dieser Fall als „Bowleysches Duopol" bezeichnet werden. In besonderen Fällen kann auch die Abhängigkeitsposition für alle Marktteilnehmer vorteilhaft sein. Dann wartet jeder auf die Marktentschließungen des anderen in der Absicht, sich dieser Entschließung anzupassen. Ein „Gleichgewicht" kann sich erst dann einstellen, wenn die oligopolistische Marktform „asymmetrisch" wird. In diesem Falle wird die wirtschaftliche Führerstellung eines Anbieters von den übrigen so anerkannt, daß er sein Angebot unabhängig auf den Markt bringen kann, während die anderen sich diesem Angebot anpassen. Mit dieser Möglichkeit hat sich HEINRICH v. STACKELBERG vornehmlich beschäftigt. Eine Annäherung der Preislehre an die wirtschaftliche Wirklichkeit zeigt sich auch in dem Bestreben, die Unvollkommenheiten des Marktes in ihrem Wesen zu erfassen. Vollkommen wäre der Markt nur, wenn das Prinzip der

4. Die Entfaltung der Preislehre

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Unterschiedslosigkeit in sachlicher, personeller, räumlicher und zeitlicher Hinsicht gegeben ist. In der wirtschaftlichen Wirklichkeit finden wir dagegen häufig sachliche, persönliche, räumliche und zeitliche Unterschiedlichkeiten auf den Märkten. Ein durch solche Unterschiedlichkeiten aus dem allgemeinen Zusammenhang herausgelöster Teilmarkt wird als Elementarmarkt bezeichnet. Jeder Elementarmarkt eines unvollkommenen Marktes kann jede denkbare Marktform aufweisen. Häufig wird sich jedoch auf einem Elementarmarkt die Marktform des Monopols durchsetzen. Auf dem unvollkommenen Gesamtmarkt bildet sich dann ein Wettbewerb von Anbietern, die in ihrem besonderen Bereich eine Monopolstellung besitzen. Diese Situation wird unvollständige Konkurrenz genannt. Wie die Preisbildung sich unter diesen Bedingungen vollzieht, haben außer HEINRICH v. STACKELBERG vor allem JOAN VIOLET ROBINSON (geb. 1903) in England und EDWARD HASTINGS CHAMBERLIN (geb. 1899) in den Vereinigten Staaten untersucht. Diese Autoren schenken den Ubergangsformen zwischen monopolistischer und wettbewerblicher Preisbildung besondere Aufmerksamkeit. Sie ziehen dabei auch solche Märkte in den Kreis ihrer Betrachtungen ein, die durch die Möglichkeit der Substitution, durch die Möglichkeit, ein Gut durch ein ähnliches zu ersetzen, verbunden sind. Man geht wohl nicht fehl, wenn man annimmt, daß die weitgehende Differenzierung des preistheoretischen Denkens, durch die man der vielgestaltigen Wirklichkeit des wirtschaftlichen Lebens nahe zu kommen versucht, auf den Einfluß des historisch-soziologischen Denkens in der Wirtschaftswissenschaft zurückgeht. So wirken die an ganz verschiedene Ansatzpunkte anknüpfenden Denkweisen innerhalb der Wirtschaftswissenschaft zusammen, die wirtschaftliche Wirklichkeit geistig immer vollkommener zu durchdringen. LITERATUR Cournot, A. A.: Recherches zur les principes mathematiques de la theorie des richesses. Paris 1838, Neudr. 1938, dtsch. u. d. Titel: Untersuchungen über die mathematischen Grundlagen der Theorie des Reichtums, 1924.

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IX- Das funktionale Denken in der Wirtschaftslehre

Chamberlin, Ed. H.: The theory of monopolistic competition. Cambridge (Mass.) 1933, 7. 1956. Robinson ,Joan: The economics of imperfect competition. London 1933. Stackelberg, H. v.: Marktform und Gleichgewicht. Wien und Berlin 1934. Sta