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English Pages 145 [155] Year 2008
Alain Drouard Geschichte der Köche in Frankreich
Studien zur Geschichte des Alltags ---------------------------------Herausgegeben von Hans-Jürgen Teuteberg Peter Borscheid Clemens Wischermann Annerose Menninger Stefan Haas Band 26
Alain Drouard
Geschichte der Köche in Frankreich Aus dem Französischen von Michael Tillmann
Franz Steiner Verlag 2008
Ouvrage publié en français sous le titre: Histoire des cuisiniers en France XIXème XXème siècle, CNRS EDITIONS (Paris) Gedruckt mit freundlicher Unterstützung/ Ouvrage publié avec le concours du Ministère français chargé de la culture – Centre national du livre Centre Roland Mousnier ( UMR8596 du CNRS) Ecole doctorale II Histoire moderne et contemporaine de l'Université Paris-Sorbonne Bildnachweis: Madam Poulard making his omelette, at Mont-SaintMichel (Manche) (#40101216 ullstein bild/Roger Viollet) Prosper Montagné (1864-1948), cuisinier français (#40019104 ullstein bild/Roger Viollet) Henri-Paul Pellaprat (collection particulière) Übersetzer: Michael Tillmann
Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. ISBN 978-3-515-08897-8
Jede Verwertung des Werkes außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. Dies gilt insbesondere für Übersetzung, Nachdruck, Mikroverfilmung oder vergleichbare Verfahren sowie für die Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen. © 2008 Franz Steiner Verlag, Stuttgart. Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Druck: AZ Druck und Datentechnik GmbH, Kempten Printed in Germany
Inhaltsverzeichnis Geleitwort ................................................................................................................7 Einleitung ............................................................................................................... 11 Kochen als Familienerbe ................................................................................. 11 Die soziale Stellung der Köche .......................................................................12 Die mittelalterlichen Ursprünge ......................................................................16 Die Zunftzwänge im 18. Jahrhundert ..............................................................18 Kapitel 1: Die Köche und ihr Streben nach gesellschaftlicher Anerkennung (1800 – 1840) ..............................................25 Köche in Dienstbotenstellung .........................................................................25 Die Gastronomie hilft den Köchen..................................................................28 Restaurants, Restaurantbesitzer und Restaurantköche ....................................32 Kapitel 2: Der Kampf für die Berufsgemeinschaft der Köche (1842 – 1880) ........39 Die privaten Stellenvermittlungsbüros ............................................................39 Die Société de secours mutuels des cuisiniers de Paris ..................................40 Die Société des cuisiniers français ..................................................................44 Die solidarischen Berufsverbände der Köche als heimliche Helfer der Arbeitgeber? .................................................46 Kapitel 3: Kochen als Beruf (1842 – 1880) ............................................................59 Zwei neue Losungen: Kochunterricht und berufliche Ausbildung .................59 Kulinarische Ausstellungen und Wettbewerbe ................................................69 Erfolge und Misserfolge im ausgehenden 19. Jahrhundert .............................73 Einheit und Vielfalt der „französischen“ Küche .............................................86 Kapitel 4: Auf dem Weg zur Emanzipation (1919–1945)......................................97 Stärken und Schwächen der Köche .................................................................97 Eine blühende Organisation ............................................................................97 Die neuen Herausforderungen der Zwischenkriegszeit.................................102 Ein soziales System in der Krise? .................................................................104
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Kapitel 5: Die berufliche Anerkennung (nach 1945) ........................................... 111 Die Köche in den bürgerlichen Privathaushalten als Hüter der Tradition ..... 111 Die Restaurantköche: Köche im Wandel ....................................................... 116 Die nouvelle cuisine und der Aufstieg der Köche zu Medienstars ............... 118 Die Merkmale der nouvelle cuisine ..............................................................122 Die Köche der Großküchenverpflegung: Der Kochberuf im Zeichen der abhängigen Beschäftigung ..........................127 Die Zusammenarbeit von Lebensmittelindustrie und Meisterköchen...........129 Schlusswort ..........................................................................................................135 Bibliographie........................................................................................................139 1. Quellen ......................................................................................................139 2. Drucksachen ..............................................................................................139 3. Zeitschriften ..............................................................................................140 4. Sekundärliteratur .......................................................................................140
GELEITWORT Welche Erwartungen erweckt dieser Buchtitel? Zunächst denkt man an die weltbekannte „Französische Küche“ und ihre großen Meisterköche mit weißem Hut (toque) und Kittel, einen Kochlöffel in der Hand. Die ältere Feinschmeckergeneration, auch in Deutschland, erinnert sich dabei vor allem an den Namen Paul Bocuse. Diese Studie geht zwar auf ihn und seine Rezepte für die damals „Neue Küche“ in einem Kapitel ausführlich ein, jedoch geschieht dies fern aller üblichen populären Schwätzerei im Rahmen einer streng wissenschaftlichen Untersuchung. Sie wurde von einem an dem Nationalen Forschungsinstitut (CNRS) tätigen Sozialhistoriker verfasst, der 2007 zum neuen Präsidenten der International Commission for Research into European Food History (ICREFH) gewählt wurde. Inspiriert von einer schon in der Jugendzeit begonnenen Kochbüchersammlung und einem familiär geschärften Sinn für typische Unterschiede französischer Geschmackslandschaften setzte er sich das Ziel, erstmals dem Wandel der realen Existenzbedingungen der französischen Berufsköche vom Beginn des modernen Zeitalters vor anderthalb Jahrhunderten bis heute im größeren historischen Zusammenhang, aus überlieferten Zeugnissen schöpfend, akribisch nachzuspüren. Eigentlich erscheint es einem deutschen Leser fast unglaublich, dass gerade in Frankreich als traditioneller Geburtsstätte kulinarischer Hochkultur in der Neuzeit Europas dieses Thema so lange akademisch vernachlässigt wurde. Nach der Lektüre dieses Bandes wird die Ursache dieser Wissenslücke verständlich: Die Küche, im privaten Haushalt von jeher stets eine weibliche Domäne, galt wie die dort stattfindende tägliche Nahrungszubereitung nur als eine Art niederer Kleinkultur, bei der es unter der Würde gelehrter Hohepriester lag, diese historisch näher zu analysieren. Diese wissenschaftliche Nichtbeachtung der gewöhnlichen Speisenzubereitung wurde später recht gedankenlos auf die zunehmende Gruppe der professionellen männlichen Köche übertragen. Bezeichnenderweise blieb es für die Zünfte wie den Staat schwierig, den Status eines gewerblichen Kochs rechtlich zu definieren. Er blieb bis heute eine seltsame Mischung aus Handwerker, Facharbeiter, Angestellten, Künstler und eigenem Unternehmer, der sich kaum in einen anderen Berufsverband voll eingliedern ließ. Die Geschichte der Köche seit der Mitte des 19. Jahrhunderts ist so spannend, weil diese sich in geringer Zahl seit dem Beginn der modernen Gewerbefreiheit von der Stellung eines Dienstboten oder kleinen Lohnangestellten bis zum Restaurantbesitzer gesellschaftlich empor kämpfen konnten. Sie emanzipierten sich damit von der Aufsicht der Haushofmeister und erster Diener in den Fürsten-, Adels- und bürgerlichen Patrizierhaushalten oder aber von der Aufsicht des tonangebenden Oberkellners. Nach dem endgültigen Sieg der bürgerlichen Gewerbefreiheit und dem Durchbruch zur liberalen Ökonomie kam es dann, wie Drouard erstmals anhand der Quellen nachweisen kann, zur Gründung verschiedener freiwilliger solidarischer Unterstützungsvereine und dann zu festen Vereinigungen für die Durchsetzung spe-
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zifischer Interessen der Berufsköche. Das Kochen wurde nun allmählich immer mehr zu einem gängigen Berufsziel. Freilich gelang der großen Majorität nicht der rasche Aufstieg zum selbstständigen Gastronom, sondern die meisten Köche blieben zunächst als Dienstboten noch weiterhin in der Küche gefangen. Erst die zunehmende Verbandsarbeit und die dadurch ausgelösten Reformen im Rahmen einer neuen staatlichen Sozialpolitik brachten erste Abschlüsse über einheitliche Lohntarife und geregelte Arbeitszeiten. Die Köche wurden nun erst so mehrheitlich allmählich zu normalen Arbeitnehmern. Wie Drouard weiterhin transparent machen kann, kam es aber später nicht zu einer beruflichen Vereinheitlichung, sondern die Vielfalt der Köche mit ihren speziellen Aufgaben ist bis zur Gegenwart als Charakteristikum geblieben. Neben den wenigen Star-Köchen im Show-Geschäft gibt es heute die Masse kleiner Köche, welche zum einen in Form einer Mannschaft für Großküchen der rationalisierten und hochtechnisierten Systemgastronomie (z. B. Kettenrestaurants) arbeiten, zum anderen in wesentlich kleineren Anstaltsküchen (z. B. in Kliniken, Universitätesmensen, Schulen, Altersheimen, Gefängnissen usw.) oder aber natürlich in normalen kleineren oder in luxuriösen großen Gaststätten. Auch beim Catering von Zügen, Flugzeugen und Schiffen sowie der Versorgung der Lebensmittelgeschäfte und Privathaushalte mit Fertigspeisen haben professionelle Köche ganz neue Wirkungsstätten gefunden und deren Vielfalt erheblich weiter vermehrt. Der Autor hat in diesem Rahmen den immer enger gewordenen Verbindungen der Köche mit Lebensmittelhandel und Lebensmittelindustrie sowie den ihnen zuliefernden agrarischen Produzenten ebenfalls Beachtung geschenkt. Die Arbeit der Köche hat sich seit dem späten 20. Jahrhundert durch diese engeren Netzwerke erheblich verändert. So sind in die angelieferten Waren im Laufe der Zeit immer mehr Dienstleistungen bereits vorher eingefügt worden: Das Schälen, Entkernen, Auspressen, Säubern, Portionieren und manche andere traditionelle Handarbeiten in der Küche sind damit hinfällig geworden. Es werden bereits geschnittene Fleisch- oder Fischstücke, vorgegarte Nahrungsmittel, Soßenpulver und Tiefkühlkost in Vakuumbeuteln gleich in die Küche geliefert, wo neue Funktionsherde und Mikrowellen die Zubereitungsdauer erheblich verkürzt haben. Manche Köche haben daher ihre Hauptaufgabe weniger im eigentlichen Kochen, sondern mehr in der geschickten Montage der zugelieferten Bestandteile, die zu einer ästhetisch aufbereiteten und gewürzten Mahlzeit zusammengefügt werden. Durch diese revolutionären Rationalisierungen im Küchenbereich ist freilich die früh bestehende Kluft zwischen den Luxusrestaurants und der täglichen außerhäuslichen Nahrungsversorgung noch größer geworden. Es ist aufschlussreich, die heutige Situation mit der Alltagsarbeit eines Koches im 19. Jahrhundert zu vergleichen, der hier ausführliche Schilderungen gewidmet werden. Wie Drouard Fortschritte und Misserfolge nüchtern abwägend herausstellt, dürfen die Erfolge weniger Spitzenköche nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Arbeit französischer Köche immer noch körperlich recht anstrengend, die Durchschnittsteinkommen vergleichsweise bescheiden und die Arbeitszeiten weit länger
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als sonst üblich sind. Die Köche haben daher oft Mangel an qualifizierten Lehrlingen und besonders diejenigen, welche in Großküchen arbeiten, leiden unter der fehlenden gesellschaftlichen Anerkennung. Der Leser gewinnt nach der Vorführung dieses so inhaltsreichen Gemäldes den Eindruck, dass die hier aufgezeichneten Grundlinien auch für andere Länder der Europäischen Gemeinschaft und besonders auch für die deutsche kulinarische Kultur zutreffen. Drouards Sozialgeschichte der Köche am Beispiel Frankreichs wurde in unserer wissenschaftliche Schriftenreihe „Studien zur Geschichte des Alltags“ aufgenommen, da personelle Veränderungen bei Nahrungszubereitung ganz im Sinne französischer Historiker aus der berühmten Annales-Schule zu den besonders tief greifenden allmählichen Strukturwandlungen unserer täglichen Lebensformen gehören. International vergleichende Fortsetzungen dieses Pionierwerkes wären daher von großem Nutzen. Die weitere historische Aufhellung der immer noch wissenschaftlich gering geschätzten Küchenarbeit und damit eines der wichtigen Sektoren der Nahrungskultur hat hier nun eine verlässliche Basis erhalten. Hans Jürgen Teuteberg
Einleitung Kochen als Familienerbe Ich bin in einer Familie groß geworden, in der die Freuden des Gaumens stets einen hohen Stellenwert einnahmen, und so ist mir die Kochkunst als Produzent und Konsument zu einem Herzensanliegen geworden. Das Kochen lernte ich, indem ich zuerst meiner Mutter und danach meiner Großtante väterlicherseits zuschaute. Zum Beispiel ist mir die komplizierte Zubereitung der Ravioli in lebhafter Erinnerung geblieben: Mein Großonkel, ein italienischer Tischler aus der Region um San Pellegrino, war Anfang des 20. Jahrhunderts nach Frankreich ausgewandert und hatte an seine elsässische Ehefrau das Rezept zur Herstellung des Teigs und der verschiedenen Füllungen aus Hühnchenfleisch, Spinat oder Rindfleisch weitergegeben. Noch heute sehe ich die ovale, weiße Porzellanform vor mir, in der dieses oft sonntägliche Mahl mit einer hausgemachten Tomatensoße und geriebenem Parmesan serviert wurde. Ein Hochgenuss! Meinen Geschmackssinn schärften unterschiedliche Ess- und Kochtraditionen. Dazu zählen etwa die italienische und die elsässische Küche – eine weitere Tante aus dem Elsass hat mich schon in jungen Jahren mit dem Gugelhupf und mit Kalbsund Schinkenfüllungen in Teigkruste vertraut gemacht – die russische Küche, die meine Mutter aus ihrer Heimat Russland mitgebracht hatte, und schließlich die jüdisch-polnische Küche, die ich bei einer Nachbarin entdeckte, die Bigos, ein Sauerkraut-Rindfleisch-Gemisch, und Krautsuppe mit Steinpilzen so unnachahmlich kochen konnte und oft Leber mit zerhackten gekochten Eiern und eine Hühnerbouillon mit Knödeln zubereitete. Noch als Student begann ich in den 1960er Jahren, Kochbücher zu sammeln, die ich las, wie andere Romane lesen. An der Universität war damals allerdings nicht daran zu denken, sich mit derart unwissenschaftlichen Themen wie der Kochkunst ernsthaft auseinander zu setzen. Was wie ein unterhaltsamer Zeitvertreib erschien, war jedoch in Wahrheit eine wirkliche Passion, die mich im Laufe meiner Forschungsarbeiten zur Geschichte des Mittelalters, der Erziehung, der Sozialwissenschaften und der Eugenik immer begleitete. In den Kochbüchern entdeckte ich nicht nur Rezepte, die mir schmackhafte Momente bereiteten, sondern darüber hinaus auch die Köche selbst, für deren noch längst nicht erforschte Geschichte ich mich zu interessieren begann. Das mag umso paradoxer erscheinen, da die großen, ruhmreichen und prestigeträchtigen Köche Frankreichs internationales Renommee genießen. Jeder kennt schließlich Paul Bocuse, den berühmtesten aller französischen Köche, der als erster das Titelblatt von Newsweek zierte. Als das Sunday Times Magazine 1987 eine Liste mit jenen zwanzig Persönlichkeiten veröffentlichte, die das vergangene Vierteljahrhundert am nachhaltigsten geprägt hatten, war darunter nur ein Franzose: der Koch Michel Guérard. In einer
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jüngeren Umfrage zum Bekanntheitsgrad der großen Köche gaben 87 Prozent aller Franzosen an, den Chefkoch des Drei-Sterne-Restaurants La Côte d‘Or in Saulieu, Bernard Loiseau,1 zumindest dem Namen nach zu kennen. Damit lag dieser sogar noch vor Paul Bocuse und Joël Robuchon, die fast drei Vierteln aller Befragten ein Begriff waren. Loiseau und Bocuse wurden gleichermaßen von beiden Geschlechtern genannt. Allerdings stellte sich heraus, dass vor allem Ältere Paul Bocuse kannten (88 Prozent der über 35-Jährigen kannten ihn gegenüber 54 Prozent der unter 35-Jährigen). Bernard Loiseau dagegen war bei allen Befragten gleichermaßen gut bekannt. Alter, Einkommensniveau oder Beruf der Befragten hatten offensichtlich keinen nennenswerten Einfluss. Auf Platz drei der Rangliste landete Joël Robuchon, der von 72 Prozent der Befragten (und von 15 Prozent spontan) genannt wurde. Zur direkten Verfolgergruppe zählte Michel Troisgros mit einer 52-prozentigen Nennung. Allerdings war er offensichtlich stärker im Gedächtnis der Franzosen verankert als der in der Rangliste vor ihm Platzierte, da jeder fünfte Franzose ihn spontan nannte (21 %). Mehr als ein Drittel der Befragten (37 %) kannte Alain Ducasse, der jedoch nur selten spontan genannt wurde (2 %). Danach folgen Michel Guérard und Marc Veyrat, mit denen in etwa jeder fünfte Franzose (25 % bzw. 24 %) etwas verbindet.2
Die soziale Stellung der Köche In Wahrheit jedoch verstellen die Zahlen den Blick auf die Wirklichkeit. Diese Starköche, über die alle Welt spricht, arbeiteten bzw. arbeiten als Köche in einem Restaurant. Das gilt für Bocuse und seine Gruppe von Gleichgesinnten, die sich zu der so genannten „Haute Cuisine française“ zusammengeschlossen haben, für Georges Blanc, Bernard Loiseau und jetzt auch Alain Ducasse. Die Köche sind allerdings nicht allein in Restaurants zu Hause und ganz sicher nicht ausschließlich in den großen Gourmettempeln. Auch in bürgerlichen Haushalten sind Köche tätig, die als Berufsgruppe in den historischen Erkundungen zu Kochkunst und Köchen im Allgemeinen gewöhnlich etwas zu kurz kommen. Es gibt zudem die Kantinenköche (in Gymnasien, Krankenhäusern, Kasernen, Gefängnissen, Unternehmen), die einer jüngeren Doktorarbeit zufolge3 inzwischen zahlenmäßig die größte Gruppe darstellen. Seit der Epoche, als der berühmteste Koch seiner Zeit, Carême, seiner Kunst 1
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Am 24. Februar 2003 erschoss sich Bernard Loiseau mit seinem Jagdgewehr. Über dieses tragische Ende wurde in den Medien sogleich ausführlich berichtet. Den Gastronomiekritikern des Figaro und des Restaurantführers Gault et Millau wurde der Vorwurf gemacht, für seinen Tod verantwortlich zu sein. François Simon hatte zuvor nämlich bekannt gegeben, dass Bernard Loiseau seinen dritten Stern würde abgeben müssen, und im Gault et Millau stand zu lesen, dass Loiseaus Note von 19 auf 17 heruntergestuft würde. Eine von Agis und Bernard Loiseau in Auftrag gegebene Umfrage des französischen Meinungsforschungsinstituts Ipsos: Zwischen dem 11. und dem 13. April 2000 wurde eine repräsentative Auswahl der französischen Bevölkerung von 1.007 Personen telephonisch befragt. Sylvie-Anne Mériot, Compétence et identité d’un groupe professionnel: Les cuisiniers de la restauration collective, Doktorarbeit an der EHESS (École des Hautes Études en Sciences Sociales), 2000; dies., Le cuisinier nostalgique, Paris, CNRS Éditions, 2002.
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im Dienste von Königen, Prinzen und Reichen huldigte, waren zwischen den Küchenchefs in den bürgerlichen Familien und den Restaurantköchen die Beziehungen zwischen diesen beiden Welten, in denen die Männer und Frauen hin und her wechselten, nie abgerissen. Köche aus Bürgerhäusern eröffneten ihre eigenen Restaurants, in denen sie eine gutbürgerliche Küche servierten, während die Restaurantköche in den bürgerlichen Häusern „aushalfen“, genau wie heutzutage viele Küchenchefs aus den Großküchen ursprünglich der kommerziellen Gastronomie entstammen. Vor diesem Hintergrund begann ich mich für die Stellung und den Status der Köche in der französischen Gesellschaft zu interessieren und für das, was die Köche selbst über ihren Beruf und ihre Arbeitsbedingungen zu berichten haben. Seit Ende des 19. Jahrhunderts beschreiben sich die Köche als Menschen, die „im Hintergrund“4 wirken, die zumeist überhaupt nicht wahrgenommen werden, die aufgrund ihrer sich den Blicken entziehenden Tätigkeit in den Küchen gar nicht sichtbar sind und um die man kein großes Aufheben macht.5 So weist beispielsweise Chatillon-Plessis darauf hin, dass der Koch zwar Kenntnisse besitze, die mit den in anderen qualifizierten Berufen erforderlichen Kompetenzen vergleichbar seien, dass er demgegenüber jedoch weder das dazugehörige Prestige noch überhaupt Anerkennung genieße: „Das 19. Jahrhundert mag viele Vorurteile zerstört haben. Ein Vorurteil jedoch, noch dazu eines der lächerlichsten, hat auch heute noch Bestand und weist den Koch eine ihm völlig unwürdige soziale Stellung zu.“6 Eine Mitschuld daran, dass die Vorurteile gegenüber den Köchen nicht auszurotten sind, habe Chatillon-Plessis zufolge die weiße Kochuniform: „In einer Zeit, in der sich der Straßenanzug demokratisiert hat, betrachtet man mit Verwunderung die Uniform des Kochs. Apotheker und Ärzte haben begriffen, dass ihre schwarze Kopfbedeckung der Würde ihres Berufes schadet, und sie kleiden sich jetzt wie alle anderen auch. Die weiße Kochjacke hat dagegen noch nicht kapituliert. Natürlich hat sie etwas Pittoreskes, und sie ist auch unter praktischen Nutzenerwägungen sinnvoll. Unter „modischen“ Gesichtspunkten lässt sie sich allerdings kaum rechtfertigen.“7 Und weiter heißt es: „Ihr hat der Koch es zu verdanken, dass er Koch geblieben und kein ehrenwerter Bürger geworden ist. Man betrachtet ihn mit belustigter Neugier.“ 4
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Der Koch Philéas Gilbert schreibt in der Zeitschrift L‘art culinaire (1883: 22 – 23): „Welchen Stellenwert haben wir in der Gesellschaft? Durch die Kunst, die wir ausüben, haben wir ein Anrecht auf die Achtung und die Wertschätzung aller, insofern die Küche mit den freien Berufen als gleichwertig betrachtet werden kann und muss. Ein allgemeines Vorurteil scheint allerdings darin zu bestehen, dass der Koch als eine Art Söldner betrachtet und letztlich ausgeschlossen wird, ohne dass diejenigen, die ihn so ausgrenzen, auch nur einen Blick in das Leben diese Mannes geworfen hätten, der nichts weiter kennt als Arbeit und Entsagung!“ In dem Editorial der Zeitschrift La cuisine française et étrangère (Nr. 1, August 1891) heißt es etwa: „Oft wird um die Köche nicht viel Aufheben gemacht. Dabei sind sie es doch, die über die Gesundheit einer Unzahl von Mägen entscheiden. Wie viele Erkrankungen dieses Organs werden durch eine fehlerhafte und falsch zubereitete Nahrung verursacht! Der Koch ist nichts anderes als ein vorbeugender Magenarzt!“ Chatillon-Plessis, La vie à table au XIXe siècle, Firmin Didot: 209. Ebd., S. 210.
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Bereits Ende des 19. Jahrhunderts sollte dem vor allem durch die Forderung nach einer Professionalisierung, einer beruflichen Ausbildung und einem Prüfungssystem für Nachwuchsköche und Berufseinsteiger Abhilfe geschaffen werden: „Genau wie man ohne Abschluss nicht als Apotheker arbeiten darf, sollte es verboten sein, ohne Ausbildung den Kochberuf auszuüben. Wenn man Kochmütze und Kochjacke – genau wie die Anwaltsrobe – erst nach einer Prüfung tragen dürfte, dann würde vielleicht auch der Straßenanzug und mit ihm der Küchenberuf wieder an Achtung gewinnen.“8 Die Köche stießen oft auf Vorurteile und wurden nicht sonderlich hoch geschätzt. Dazu wurde entweder auf ihre gesellschaftliche Stellung, ihre fehlende Ausbildung oder aber auf den Umstand verwiesen, dass die Küche doch eigentlich eine Frauensache sei: In Frankreich wie in den meisten zivilisierten Nationen ist das Kochen ausschließlich die Aufgabe von Frauen oder von Männern, die den unteren Klassen entstammen und die keinerlei schulische Bildung erhalten haben. Je nach Fähigkeiten, Vorlieben und – ich möchte fast sagen – Genie erlangen die Köche eine mehr oder weniger solide Berufspraxis, d. h. sie werden entweder zu ausgezeichneten oder zu miserablen Köchen (wobei jede Zwischenstufe fehlt). Ganz allgemein lässt sich auch feststellen, dass die Köche stets in die Fußstapfen ihrer Lehrer treten und äußerst selten Neues erfinden. Mit Ausnahme des berühmten Carême, der vor Einfällen nur so sprühte, stößt man in den kulinarischen Annalen selten genug auf Köche, die mit der von ihren Vorgängern aufgezeigten Routine gebrochen und ihren Erfindungsreichtum unter Beweis gestellt hätten. Wenn man in einem Kochbuch neue Zubereitungen oder Geschmacksassoziationen liest, stammen diese fast immer von einem hochrangigen Gourmet: Ein Küchenchef beschränkt sich allein darauf, das Erlernte abzuspulen.9
Dieses Urteil sollte zu einer Art Leitmotiv werden, da sich in der Folgezeit alle so oder ähnlich äußerten. Ein Beispiel dafür ist etwa Raymond Oliver, der zu Anfang der 1950er Jahre schreibt: Damit möchte ich sowohl für den Beruf des Kochs als auch für den des Gastronomen eine Lanze brechen, die gemeinhin allzu sehr verkannt werden […]. Beide haben ein Anrecht auf einen Platz an der Sonne und nicht nur auf einen Platz in den Untergeschossen und hinter den Kulissen […]. Die Köche und Gastronomen verdienen die Achtung, die ihrer Stellung gebührt. Andernfalls könnte es das Ende der Gourmetküche im Laufe des 20. Jahrhunderts bedeuten. Die Köche brauchen die Gastronomen. Aber das Gegenteil ist genauso richtig.10
Das Gefühl, verkannt zu sein, und die Suche nach Anerkennung, der Wunsch nach sozialem Aufstieg und die damit verbundenen Schwierigkeiten, mit denen die unqualifizierten, von Raymond Olivier als „unwissend“ bezeichneten kulinarischen Handwerker konfrontiert sind, sowie die Behauptung, beim Kochen handele es sich um eine Form der Kunst: All das sind immer wiederkehrende Themen, die von allen Köchen, egal, ob sie in einem Restaurant oder in Privathaushalten tätig sind, aufgegriffen werden. 8 9
Ebd. Auszug aus Hygiène alimentaire. Histoire simplifiée de la digestion des aliments et des boissons à l‘usage des gens du monde, Paris, Dentu, 1868. 10 Raymond Olivier, Cuisine pour mes amis, Paris, Albin Michel, 1955.
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Es bedarf nicht eigens ausführlicher Zitate oder langer Beispiele: Der Wunsch nach einem beruflichen Status, nach Anerkennung und Wertschätzung seitens der Gesellschaft ist ein dominantes Merkmal der Geschichte des Kochberufs von der Mitte des 19. Jahrhunderts an bis in unsere Tage. Festzustellen ist jedenfalls, dass die Köche binnen eines Jahrhunderts den Dienstbotenstand bzw. das abhängige Arbeitsverhältnis gegen eine Stellung als kulinarische Handwerker eintauschten, die über ihre eigenen Produktionsmittel verfügen, dass sie kurze Zeit später zu Medienstars aufstiegen und seitdem als Partner bzw. Berater der Lebensmittelindustrie tätig sind. Man mag versucht sein, diese Entwicklung als einen sozialen Aufstieg zu beschreiben. Vergessen werden sollte dabei allerdings nicht, dass parallel dazu die meisten Köche nunmehr als Angestellte und noch dazu in Großküchen beschäftigt sind. Bereits Auguste Escoffier hatte darauf hingewiesen, dass die gesellschaftliche Stellung der Köche, ihr sozialer Status als überaus ambivalent und ungewiss erscheinen: Dafür, dass die gesellschaftliche Situation der Küchenchefs niemals genau definiert wurde, tragen die Köche selbst die Verantwortung, weil sie aus Gleichgültigkeit – oder besser: aus Bescheidenheit – niemals über die Konsequenzen nachgedacht haben, die sich daraus für den Gang ihrer Existenz ergeben könnten. Abgesehen davon führen die Köche eingestandenermaßen kein Leben wie die Arbeiter in anderen Teilen des Gesellschaftskörpers. Aufgrund der zu leistenden Arbeitsstunden stehen sie eher abseits der Gesellschaft. So etwas wie ein Familienleben ist ihnen nahezu unbekannt […]. Diese abseitige Stellung, die den Großteil ihrer Existenz prägt, macht sich sicherlich nicht vorteilhaft bemerkbar. Die Öffentlichkeit kennt lediglich die Berufsbezeichnung „Koch“, die sie allzu oft aus Spottlust, aus Scherzhaftigkeit, vor allem aber aus Unkenntnis der Lächerlichkeit preisgibt […].11
Die Berufs- und Tätigkeitsbezeichnungen selbst – cuisinier, queux, chef, maîtrecuisinier, ouvrier – zeigen, wie stark unterschiedliche Register und soziale Bezugssysteme in das Vokabular dieses Berufszweiges einfließen. Von Bedeutung sind in diesem Zusammenhang vor allem die historische Tradition und die Begrifflichkeit der Zünfte. Oftmals sprechen die Köche zur Bezeichnung ihres Berufes von einer Zunft, mit der die Vorstellung einer Lehrzeit und verschiedener Etappen verbunden ist, die man auf dem Weg in den Meisterstand erfolgreich bewältigen muss. In den Kochwettbewerben (Meilleur Ouvrier de France, Bocuse d’or), gastronomischen Vereinigungen, Gesellschaften und diversen Vereinigungen ist die Idee der Meisterprüfung und des Meisterstücks immer noch präsent. All diese Begriffe haben eine weit zurückreichende Geschichte. In der Tat: Die modernen Küchenchefs sind die Erben von Berufen und Traditionen, die ursprünglich im Mittelalter kodifiziert wurden.
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La revue culinaire (Jg. 1, Nr. 1, 1. April 1920).
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Die mittelalterlichen Ursprünge Wie alle anderen Berufsstände waren auch die Verpflegungsberufe in Zünften organisiert, die im Falle eines métier juré durch spezifische, auf ein königliches Patent zurückgehende Statuten als solche definiert wurden. Mit diesen Statuten wurden die Rechte und Pflichten jedes einzelnen Berufsstandes sowie die Arbeitsbedingungen und insbesondere die Lehrdauer und Lehrbedingungen festgelegt. Innerhalb jeder Handwerkervereinigung bestand ein korporativer Ältestenrat, der „die Qualität und Ehrlichkeit der Handwerksarbeit“ überwachen und den Regeln zur Erlangung des Meisterbriefes Geltung verschaffen sollte. Lehrlinge, Gesellen und Meister bildeten eine Arbeitsgemeinschaft, die zusammenlebte und oft einen gemeinsamen Schutzpatron verehrte. In seinem Buch Le Livre des métiers erwähnt der Pariser Bürgermeister Étienne Boileau schon 1268 überaus detaillierte Statusregeln für all jene Köche, die Geflügel verarbeiteten und die auch „Gänseköche“ genannt wurden, weil Gänse damals das am meisten verzehrte Geflügel waren. Beispielsweise erfährt man in dieser Schrift, dass „niemand das Recht hat, einen Arbeiter einzustellen, der keine zweijährige Lehrzeit hinter sich hat oder der nicht selbst Sohn eines Meisters ist; bei einer Strafe von sechs bzw. vier Sol, die an den König bzw. die Zunftmeister zu entrichten sind.“ Meister und Lehrling waren zur Unterzeichnung eines Lehrvertrages verpflichtet. Bei Zuwiderhandlungen wurde eine Geldstrafe in Höhe von 40 Sol fällig. Wenn ein Meister den Arbeiter eines anderen Zunftbruders ohne dessen Einverständnis abwarb, riskierte er ebenfalls eine Geldstrafe. Ein Drittel der Strafgelder diente zur Unterstützung der „verarmten alten Mitglieder des erwähnten Berufsstandes“, die „aus Gründen des Marktes oder wegen ihres Alters in Not geraten sind.“ Außerdem hieß es, dass „niemand an einem Stand oder in einem Haus Gerichte verkaufen darf, wenn er nicht zuvor alle Arten Fleisch zubereiten kann“ und dass „kein Koch Aushilfen einstellen darf, wenn diese nicht zwei Jahre in Lehre gewesen sind oder wenn sie als Söhne eines Meisters das Handwerk vollkommen beherrschen.“ Bei der Steuererhebung von 1292 werden 21 Köche und drei Gänseköche erwähnt. Diese sind von den so genannten queux, den im Dienst eines Adeligen oder eines Klosters stehenden Köchen zu unterscheiden, die ihre Zubereitungen nicht verkauften und die in der scherzhaften Wendung maître queux noch heute fortleben. Die im 19. Jahrhundert gängige Unterscheidung zwischen Küchenchefs in Restaurants und Köchen in Bürgerhäusern hat also eine lange Tradition. Im 14. Jahrhundert ist der Leibkoch von Karl V., Guillaume Tirel genannt Taillevent, nicht nur der Autor eines der ersten bedeutenden Kochbücher, des Viandier, sondern auch eine beachtete Persönlichkeit: Er wird zum ritterlichen Knappen ernannt und hat das Recht, ein Schwert zu tragen. Im Jahre 1362 schenkt ihm der Dauphin, in dessen Dienst er sich zu diesem Zeitpunkt befindet, 100 Goldfranken, um ihn für seine Leistungen zu belohnen und ihm beim Kauf eines Hauses in Paris behilflich zu sein. Mit Taillevent beginnt auch die Tradition der im Dienst des französischen Hofes und einflussreicher Familien stehenden Köche, die sich ohne Unterbrechung bis zur Französischen Revolution erstreckt und zur Definition der Haute cuisine in Frankreich beiträgt.
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Rivalisierende Zunftgemeinschaften Im Jahre 1468 zerfällt die Gemeinschaft der Köche in zwei Stränge: Der erste Strang übernahm den Status der „Gänseköche“ und nannte sich nun rôtisseurs, d. h. „Braten- oder Garköche“, während sich die Meister des zweiten Handwerksstranges als charcutiers-saulcissiers, also als Metzger und Wurstmacher bezeichneten und ihre Satzungen erst 1476 erhielten. 1599 gründete Heinrich IV. die Zünfte der chaircuitiers saucissiers boudiniers courtiers visiteurs de porcs morts, lards et graisses (also etwa: „Fleischer, Metzger, Wurstmacher, Makler und Aufseher toten Schweinefleisches, Schinkens und Fetts“), zu denen 1708 auch noch die Berufsgruppe der traiteurs kam. 1599 vereinigten sich die Maîtres Queux Cuisiniers et Porte Chapes de la Ville, Faubourgs, Banlieue, Prévôté et Vicomté de Paris (d. h. der Köche der Stadt Paris und ihrer Vororte und der jeweiligen Gerichtsbarkeiten) in einer zünftigen Organisation. Die darin zusammengeschlossenen Köche erhielten das königliche Zunftpatent des métier juré, das dem der „Gänseköche“ deutlich überlegen war. Der maître queux arbeitete als Küchenchef in den großen Häusern. Mit zunehmendem Reichtum im 16. Jahrhundert wuchs die Zahl der Mitglieder dieser Berufsgruppe so sehr, dass es in den Adelshäusern nicht genug Arbeitsplätze gab. Daher schlossen sie sich zu der Zunftgemeinschaft der queux cuisiniers porte-chapes zusammen, die sich deswegen so nannte, weil die Köche ihre Gerichte unter einem Deckel trugen.12 Unter den verschiedenen Handwerkerzünften im so genannten verpflegenden Gewerbe wurde die handwerkliche Kunst des Kochens im Sinne einer beruflichen Spezialisierung schnell in Zweifel gezogen, wenn nicht alle in ihren Satzungen definierten Verpflichtungen befolgt wurden. Da die Statuten aus dem Jahre 1599 den Köchen das Gewerbemonopol bei Hochzeiten und Festveranstaltungen zubilligten, beschwerten sie sich, wenn die Garköche einen Meisterkoch einstellten, um diese Veranstaltungen zu organisieren. Am 29. Juli 1628 erging ein Erlass des Parlaments, dass es im öffentlichen Interesse sei, dass die Bratenköche „in ihrem Laden bis zu drei gekochte Fleisch- und drei Frikasseegerichte verkaufen dürfen, ohne dass es ihnen aber bei Androhung des Entzugs der Gewerbelizenz und eines arbiträren Strafgeldes erlaubt sei, ihre Gerichte zu Hochzeits- oder anderen Festveranstaltungen in öffentliche oder private Gebäude auszuliefern.“ Die „Geflügelhändler“ (poulaillers) gehörten zu der weitläufigen Familie der regrattiers und verkauften als solche Gerichte aus zweiter Hand, nämlich Nutz- und Wildvögel, wie man in Le Livre des Métiers erfährt. Obwohl es ihnen die Satzungen13 eigentlich untersagten, verkauften die „Geflügelhändler“ selbst gebratenes Geflügel. Bis ins 17. Jahrhundert gingen sie diesem Geschäft nach. Erst dann verliert sich ihre Spur. Zum Fleisch braucht man Soßen. Diese wurden von den Saucenköchen zubereitet, die zur Zunft der vinaigriers gehörten. Die Berufsvereinigung der patissiers produzierte sowohl Salz- als 12 Die Statuten aus dem Jahr 1599 wurden 1642 von Louis XIII. und 1645 von Louis XIV. bestätigt. 13 Die ersten Satzungen gehen auf das Jahr 1300 zurück und wurden 1363, 1498, 1518 und 1548 bestätigt.
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auch Süßteige. Die ersten uns erhaltenen Satzungen dieses Berufsstandes datieren aus dem Jahr 1440. Bis zum 16. Jahrhundert zerfiel die Konditorzunft in zwei Spezialisierungen, nämlich in die Waffel- und Kuchenbäcker, oubloyers genannt, und die eigentlichen patissiers, die Fleisch-, Käse- und Fischpasteten herstellten. Durch einen offiziellen Erlass König Karls IX. erhielten sie im Juli 1566 eine gemeinsame Zunftsatzung. Ursprünglich hatten die boulangers, die eigentlichen Bäcker, alle diese Spezialisierungen in ihrer zünftigen Organisation vereint, bis dann 1270 die Waffel- und Kuchenbäcker entstanden. Die traiteurs, die Speisewirte, stehen bis dahin in der Tradition der Köche des 13. Jahrhunderts und späteren rôtisseurs (16. Jahrhundert). Dabei maßte sich diese Berufsgruppe natürlich Vorrechte an, die eigentlich den „Weinhändlern, Kneipenwirten, Schankstuben und Garköchen“ vorbehalten waren. 1628 wurde den Garköchen erlaubt, „bei sich bis zu drei gekochte Fleischgerichte und drei Frikasseegerichte zu servieren.“ Die ständigen Konflikte zwischen den unterschiedlichen Berufsgruppen zwangen die königliche Macht des Ancien Régime oft zum Eingreifen und zur Klärung der Rechte und Pflichten der verschiedenen Zünfte und Berufsvereinigungen. Angesichts der Zahl der Verfahren, bei denen sich die Zünfte und Berufsgruppen aus dem Nahrungsmittelgewerbe gegenüberstanden, war diese Aufgabe praktisch nicht zu erfüllen. 1663 wird von dem Parlament der neue Status der Köche erlassen, der vor allem den Beruf des Speisewirts genauer zu bestimmen versucht. In Artikel 29 heißt es, dass die Speisewirte in den Pariser Vororten und Vorstädten sich nur dann als Meister bezeichnen dürfen, wenn sie von einem Richter geprüft und zugelassen wurden. Schon Endes des 16. Jahrhunderts, im Jahre 1587, stellten die Zunftregularien für die Weinhändler und Schankwirte fest, dass sie sich in Großhändler und Schank-, Gast- und Kneipenwirte aufgliedere. Am 29. März 1708 erhielten „die Weinhändler in etwa dieselben Rechte wie die Bratenköche, allerdings nur unter der Bedingung, dass sie auf ein Ladenschild als Hauswirt oder Koch verzichteten und dass sie auch kein Fleisch verkauften.“ Im 18. Jahrhundert musste es zu einem Durcheinander kommen bei all den Unterschieden zwischen Weinhändlern, wo man nur den dort gekauften Wein trinken durfte, den Schankwirten, wo der Wein in Krügen verkauft und vor Ort konsumiert werden konnte, und den Kneipenwirten, wo Tischdecken auf den Tischen lagen und auch Essen serviert wurde. Die Zunftzwänge im 18. Jahrhundert Der Koch als Künstler Aus dem 18. Jahrhundert sind Zunftrechte erhalten, in denen die Pflichten der angehenden Köche und vor allem die Regelungen zur dreijährigen Lehrzeit präzisiert werden, nach deren Ablauf der Lehrling eine Gesellenprüfung ablegen und ein Gesellenstück anfertigen musste. Danach trat er feierlich in den Stand des Gesellen
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bzw. eines Handwerkers und musste seine Fähigkeiten erneut durch die Anfertigung eines Meisterstückes unter Beweis stellen: Das Meisterstück bestand aus drei Patisserie-Produkten, nämlich einer Pastete aus dem Fleisch von sechs Tauben oder zwei Kaninchen mit Beilagen; einem Blätterteigkuchen bzw. einem Gericht im knusprigen Teigmantel, verziert mit Zeichen und Wappen, wie es den Meistern der Handwerkerzünfte, Zunftältesten und den zur Prüfung des Bewerbers ernannten Paten gefallen würde; zur Herstellung des Meisterstücks muss der Bewerber zudem je nach Jahreszeit ein Lamm, ein Huhn oder eine Pute zubereiten, mit Speckstreifen umwickeln und braten, sowie je nach Wunsch des Zunftrates, in dessen Anwesenheit er ebenfalls zwei Vorspeisenragouts – etwa aus einem Masthuhn – mit einer Terrinenbeilage und zwei Zwischengerichte in Gelee- oder Puddingform oder andere, weiter oben angeführte Gerichte zubereitet, eine Suppe aus sechs Tauben oder eine Krebssuppe kochen.
Außerdem musste der Meisterbewerber einen Betrag von 300 Pfund an die königliche Schatzkammer und den prüfenden Zunftrat aushändigen, der sich oft aus den Meistern selbst zusammensetzte und ihren Familien angehörte. Neben diesem Meisterstück, durch das man seinen Meisterbrief erhielt, gab es auch eine Handwerksprüfung, mit der man zu einem „Meistergesellen“ aufstieg. Dazu musste der Bewerber vor dem Ältestenrat „Oblatengebäck, trockene Waffeln und Waffeln mit Soße, Makronen und Biskuite“ anfertigen.14 Auch nachdem die Zünfte des Ancien Régime durch die Revolution nach 1789 abgeschafft wurden, dienten sie den Köchen im 19. Jahrhundert weiterhin als Modell und als Referenz. Dasselbe gilt auch für die Kochbekleidung – weiße Kochjacke, Kochhaube und -schürze in derselben Farbe und einem seitlich getragenen Messer –, die seit einem Erlass König Heinrichs II. am 15. Juli 1549, mit dem jedem Berufsstand eine spezielle Kleidung vorgeschrieben wurde, unverändert geblieben war. Nur die Kopfbedeckung änderte sich im Laufe der Zeit. Unter König Louis-Philippe wurde die Kochhaube durch den Kochhut aus einem Stoffstreifen mit einem ballonartigen Aufsatz aus demselben Material ersetzt. Entweder handelte es sich dabei um eine gestärkte, breit ausufernde oder um eine (auch Tour Eiffel genannte) hoch aufragende Kochmütze, die in ihrer französischen Bezeichnung, „toque“, später auch den Koch selbst bezeichnete. Der Zunftsprache entstammt auch der Begriff des ouvrier im Sinne eines ausgebildeten Facharbeiters bzw. Handwerkers. Gleichzeitig ist dieser Terminus jedoch insofern doppeldeutig, als damit auch später der Kochberuf mit der Tätigkeit eines Fabrikarbeiters und damit mit einem abhängigen Beschäftigungsverhältnis gleichgesetzt wird. Die Köche haben jedoch eine andere Stellung als die Arbeiter, wie Philéas Gilbert in einem Text betont, der an die berühmte Schrift von Abbé Sièyes über den Dritten Stand15 erinnert: Welche Stellung haben wir denn eigentlich heute in der Gesellschaft? Manche bezeichnen sich als Künstler, andere als einfache Handwerker. Welche der beiden Bezeichnungen trifft denn nun zu? […] Sind wir Handwerker? Ja. Werden wir als solche von dem Gesetz anerkannt? Nein! Gibt es unter uns Künstler im eigentlichen Wortsinn? Ja. Finden Sie die Beachtung, die ihnen als Künstler zusteht? Nein. Also sind wir weder Handwerker noch Künstler. Was sind wir aber
14 Satzung der Konditorenzunft von Angers, 1713. 15 Abbé Sièyes, Qu’est-ce que le Tiers-État?, 1789.
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Einleitung dann? Nichts. Was wollen wir in Zukunft werden? Beides. […] Köche, die Ihr in den Stand des Künstlers aufsteigen wollt, erkämpft Euch zuerst den Ehrentitel des Handwerkers […]16
In den Abhandlungen der Köche ist ein guter ouvrier ein Arbeiter, der ein Werk herstellt bzw. seine Arbeit gut verrichtet. Dieses Werk fertigt er mit seinen Händen an. Insofern gilt er als Handwerker, der seine Kunst beherrscht, und so ist auch die Grenze zwischen Handwerker und Künstler17 fließend, um nicht zu sagen durchlässig. In jedem Fall hat er nichts mit dem angestellten Industriearbeiter des 19. Jahrhunderts gemein. Der Status als abhängig Beschäftigter mit den dazu gehörigen Rechten und sozialversicherungsrechtlichen Ansprüchen ist im Übrigen eine relativ junge Errungenschaft des Kochgewerbes und ist erst im Anschluss an den Zweiten Weltkrieg eingeführt worden. Sieht man einmal von dem Problem der Qualifikation des kochenden Handwerkers ab, über die im ausgehenden 19. Jahrhundert gestritten wurde, so stellt sich die Berufsgemeinschaft mit großem Ernst die Frage, ob es sich beim Kochen eigentlich um eine Wissenschaft oder eine (Handwerks-)Kunst handele. Chatillon-Plessis zufolge ist das Kochen eine Wissenschaft, da „[…] die Kochkunst eine Summe an Kenntnissen voraussetzt, die nur wenige Wissensberufe erreichen bzw. übertreffen.“18 Vor allem aber handelt es sich beim Kochen um eine – wie es oft selbstbewusst heißt – Form der Kunst. Sowohl im Hinblick auf die technischen Fertigkeiten als auch unter ästhetischen Gesichtspunkten ist das Kochen eine Kunst, auch wenn es sich natürlich um eine vergängliche Kunstform handelt, die sich zu ihrer Vollendung zudem bei anderen Künsten bedient. Die Köche sind Handwerker, die sich zu Künstlern und Schöpfern von Meisterwerken erklären. Der Koch als Soldat? Die Küchenorganisation, die Ende des 19. Jahrhunderts von Chefköchen wie Gustave Garlin und Auguste Escoffier eingeführt wurde, ähnelt der Organisation einer zur Schlacht bereiten Armee.19 Der Küchenchef kommandiert seine Küchenbrigade, mit der er ins Gefecht zieht. Die Köche sind dem Feuer der Küche ausgeliefert, das – wie es schon Carême bemerkte – seine Opfer fordert: „Der Dienst in der Kü16 „L‘arbitrage ouvriers ou artistes?“, in: Le progrès des cuisiniers, 1. August 1887. 17 Die beiden französischen Begriffe artisan (Handwerker) und artiste (Künstler) sind Wortbildungen zu dem Substantiv art, das ursprünglich im Sinne einer technischen, d. h. handwerklichen Fertigkeit benutzt wurde und erst im Laufe des 19. Jahrhunderts die moderne Bedeutung eines ästhetischen Kunstempfindens annahm. Anmerkung des Übersetzers. 18 Chatillon-Plessis, La vie à table au XIXe siècle, Firmin Didot, 1894. 19 Philéas Gilbert schrieb daher auch im Progrès des cuisiniers (15. Juli 1887): „Die Karriere eines Kochs weist im Übrigen in dieser Hinsicht eine Reihe von Gemeinsamkeiten mit der Karriere in der Armee auf. Auf der untersten Rangstufe werden dem Berufsanfänger die mühsamsten Arbeiten aufgehalst genau wie dem einfachen Soldaten. Der chef de partie entspricht einem rangniedrigen Offizier, und der Küchenchef befehligt seine Brigade genauso wie der Oberst sein Regiment. Darüber stehen jene, deren Namen in aller Munde sind und die durch ihre Leistungen eine derartige allgemeine Wertschätzung erreicht haben, dass ihnen die Bezeichnung maître zuteil wird, die die höchste und begehrteste Auszeichnung darstellt. Damit steigt man gewissermaßen auf in den Generalstab der Kochkunst.“
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che spottet jeder Beschreibung von Mühe und Leid. Die Arbeit wird auf die Minute genau verrichtet, und der Dienstantritt lässt sich nicht hinauszögern. Es ist eine Frage der Ehre (wie der große Vatel bezeugt). Gehorsam ist das oberste Gebot, selbst wenn die körperlichen Kräfte schwinden. Aber die Kohle fordert ihren Tribut.“20 In den Küchen herrscht eine strenge Hierarchie. Der Küchenchef, der das gesamte Küchenpersonal dirigiert und kommandiert, ist der so genannte gros bonnet, unter dessen Leitung der zweite Küchenchef (second), die Jungköche (commis), die jeweiligen Postenchefs (Saucenkoch, Beilagenkoch, Grillkoch, Kaltküchenkoch, Süßspeisenkoch, Eisspeisenkoch), die Lehrlinge und die Küchenhilfen bis hinab zum Geschirrspüler (plongeur) arbeiten. Die Küchenchefs in Restaurants oder in bürgerlichen Privathaushalten, die entweder in einem Angestelltenverhältnis für einen Gaststätteninhaber oder in einem Dienstbotenverhältnis für einen Privatmann arbeiten, haben in ihrer Küche ihrerseits eine Arbeitgeberfunktion, insofern sie das Küchenpersonal einstellen und organisieren. Ihr Ziel ist es, sich ihrerseits selbstständig zu machen. Zusammen gesehen treffen sich im Berufsstand der Köche mehrere gesellschaftliche Organisationsmuster, insofern sich hier das Zunft- und Gesellenwesen mit seinen Regeln, Gebräuchen und Werten mit den Organisationsformen der Armee und der abhängigen Beschäftigung überschneiden. Lange Zeit arbeiteten die Küchenchefs in den Restaurants in einem angestellten Beschäftigungsverhältnis für den jeweiligen Restaurantbesitzer. Sie standen unter der Weisung eines Restaurantinhabers und oftmals auch eines Butlers. Erst im Anschluss an den Zweiten Weltkrieg haben sie diese Ketten abgelegt und ihre eigenen Restaurants eröffnet. Aber noch heutzutage besitzen die meisten Köche kein eigenes Restaurant. Die Realität des Kochberufes deckt sich bei weitem nicht mit den Vorstellungen, die man gemeinhin damit verbindet. Für die Franzosen ist der Kochberuf gleichbedeutend mit Restaurantchef, wenn nicht gar mit Meisterkoch. In diesem medial vermittelten Bild trägt der Küchenchef eine Kochmütze, eine weiße Schürze bzw. maßgeschneiderte Kochjacke aus der Hand großer Couturiers, an deren Saum die Auszeichnung als Meilleur Ouvrier de France in den französischen Nationalfarben prangt. In der Küche steht er an der Spitze einer hierarchischen Ordnung. Er befiehlt, überwacht und koordiniert sein Küchenteam. Er besitzt Kenntnisse, Fertigkeiten, Techniken, die seine Meisterschaft begründen. Der Küchenchef ist jemand, der leicht aus der Haut fährt. Trotzdem wird er oft als eine schlichte, ausgeglichene, lebensfrohe Natur wahrgenommen, die es sich gerne schmecken lässt. Dieses Bild oder, besser gesagt, Klischee verstellt jedoch den Blick auf die mannigfaltigen Unterschiede einer Berufsgruppe bzw. -gemeinschaft, die mehr Zuarbeiter zählt als Chefköche, mehr Angestellte als Selbstständige und bei der manche, wie etwa die Köche in bürgerlichen Privathaushalten, bei denen es sich zumeist um hochqualifizierte Facharbeiter des Kochgewerbes handelt, die in ihrer Kunst eine große Meisterschaft erzielt haben, bis heute aber kaum beachtet werden.
20 Carême, „Observation détachée“, in: Le pâtissier royal.
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In einem vor kurzem erschienenen Buch zur Erfindung des Kochberufes in Frankreich verliert Amy Trubek beispielsweise kaum ein Wort über diesen privathäuslichen Aspekt des Kochgewerbes.21 Nur die Restaurantchefs treten in ihr Blickfeld. Doch hat dieses Versäumnis eine lange, weit verbreitete Tradition: Die wenigen historischen Abhandlungen, die sich mit dieser Berufsgruppe beschäftigen – Pellaprat22, Maguelonne Toussaint-Samat / Mathias Lair oder Neirinck / Poulain23 –hüllen sich gleichermaßen in Schweigen. Dafür gibt es mehrere Gründe: Die meisten Köche, die ihrer Arbeit in privaten Haushalten nachgingen, haben weder Memoiren noch sonstige Berichte über ihren beruflichen Alltag hinterlassen. Die einzigen verbliebenen Dokumente sind oftmals die von ihnen angefertigten Menüs und ihre Buchhaltung. Einige autobiographische Berichte in Form von Büchern oder Beiträgen in Fachzeitschriften wie L‘art culinaire oder La revue culinaire wurden zwar veröffentlicht. Darin sprechen die Köche aus den Privathaushalten allerdings kaum über sich selbst. Das liegt nicht so sehr daran, dass sie einer derartigen Selbstschau prinzipiell abgeneigt gewesen wären, als an der Verschwiegenheit, zu der ihr Beruf sie verpflichtet. Wenn der Arbeitgeber zur gehobenen Gesellschaft gehörte, ein Großbankier, Großindustrieller bzw. Mitglied der politischen Klasse war, durfte keinesfalls etwas nach außen dringen. Die Köche waren in diesem Fall an ihre berufliche Schweigepflicht gebunden.24 Die Köche im privaten häuslichen Dienst verließen selten ihre Küche, manche sogar nie, da sie nicht selbst die Einkäufe besorgten und die von ihrem Büro aus bestellten Waren und Produkte einfach in Empfang nehmen konnten. Alle verbrachten viele Stunden mit der Zubereitung der verschiedenen Gänge der sich jeden Tag ändernden Menüs, die ihren Arbeitgebern schmecken und sie zufrieden stellen mussten. Nach getaner Arbeit, d. h. oft gegen Mitternacht, im Falle von Empfängen sogar noch später, griff natürlich niemand mehr zur Feder, um etwas niederzuschreiben. Daraus ergeben sich mehrere Grundfragen. Wer sind die Köche eigentlich? Welche Stellung hatten sie seit Mitte des 19. Jahrhunderts in der französischen Gesellschaft? Welchen Status besitzen sie heute? All diese Fragen stellte ich mir, während ich an meiner – wie Fernand Braudel es nannte – histoire majoritaire arbeitete,25 d. h. an einer Form der Geschichts21 Amy B. Trubek, Haute Cuisine. How the French Invented the culinary Profession, University of Pennsylvania Press, 2000. 22 Henri Pellaprat, Le cuisinier, 23 Maguelonne Toussaint-Samat / Mathias Lair, Grande et petite histoire des cuisiniers de l’Antiquité à nos jours, Paris, Pierre Laffont, 1989, oder auch Edmond Neirinck / Jean-Pierre Poulain, Histoire de la cuisine et des cuisiniers. Techniques culinaires et pratiques de table, en France, du Moyen Âge à nos jours, Paris, Éditions Lanore, 1997. 24 In einem Nachruf auf seinen ehemaligen Vorgesetzten und Lehrmeister Henri Provenchère, der im Dienst des Barons Élie de Rothschild gestanden hatte, beschreibt der Koch Jean Meunier die Empfänge in folgenden Worten: „Der Chefkoch erhielt als Weisung, sich nie mit den Journalisten, die sich vor dem Haus drängten, auf ein Gespräch einzulassen: Die Gäste sollten anonym bleiben“, in: Le cuisinier français (Juli / August / September 2000). 25 Unter Bezugnahme auf diese histoire majoritaire erklärte Fernand Braudel, dass die Geschichte der Ernährung sich in erster Linie für die Ernährung der breiten Masse der Bevölkerung zu interessieren habe. Vgl. „Alimentation et catégories de l‘histoire“, in: Pour une histoire de
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schreibung, die sich nicht allein auf die Elite des Berufsstandes in Gestalt der Meisterköche beschränkt, sondern die die gesamte Berufsgemeinschaft in ihrer beruflichen und sozialen Vielfalt in den Blick nimmt. Die Protokolle der Verwaltungsratssitzungen zweier solidarischer Hilfseinrichtungen – nämlich der Société de cuisiniers de Paris und der Société des cuisiniers français –, die seit den Anfängen der beiden Gesellschaften 1840 bzw. 1842 aufbewahrt worden waren, haben der vorliegenden Geschichte als Basisquellen gedient. Auch die Werke der berühmtesten Köche nach Carême – Plumerey, Viard, Gouffé, Favre, Reculet, Garlin, Escoffier, Nignon – fließen natürlich in die Untersuchung ein. Systematisch ausgewertet wurden zudem Fachzeitschriften wie L‘art culinaire, La revue culinaire, Le cordon bleu. Darüber hinaus wurden diese schriftlichen Quellen mit den Daten konfrontiert, die im Rahmen von halboffenen Interviews mit Köchen aus Restaurants, Privathaushalten und Großkantinen erhoben werden konnten.
l‘alimentation. Recueil de travaux présentés par Jean-Jacques Hémardinquer, Cahiers des Annales Nr. 28 (1970).
Kapitel 1 Die Köche und ihr Streben nach gesellschaftlicher Anerkennung (1800 – 1840) Das öffentliche Ernährungswesen insgesamt ist ein breites Gebiet der Politik, das in besonderem Maße vernachlässigt wird. Fast möchte ich sagen, es steckt noch in den Kinderschuhen. Honoré de Balzac, Traité des excitants modernes, 1838.
Köche in Dienstbotenstellung Eine Berufsgruppe ohne klare Grenzen Die Fachliteratur und auch die allgemeine Literatur zeugen davon, dass die Köche in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts kaum wahrgenommen wurden, da sie weder eine klare Identität noch eine gesellschaftliche Existenz besaßen. Sie bildeten keine bestimmte gesellschaftliche Gruppe oder Berufsgemeinschaft. Selbst von einem Kochberuf zu sprechen, fällt schwer. Sieht man einmal von den Werken Carêmes ab, die nur im Besitz weniger Privilegierter waren, so gab es so gut wie keine Kochbücher oder Abhandlungen, die zur Ausbildung der Köche hätten dienen können. Erst in den 1850er und 1860er Jahren erschienen La Cuisine classique (1856), Le Livre de cuisine von Jules Gouffé und La Cuisine de tous les pays (1867). Der 1806 unter Napoleon begründeten Arbeitsgerichtsbarkeit zur Schlichtung von Streitfällen zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern war diese Profession noch völlig unbekannt. Wenn ein Koch in einen Arbeitskonflikt geriet, beschäftigte sich ein einzelner Friedensrichter an Stelle eines Arbeitsgerichtes mit dem Fall. Noch im Jahre 1856 bleibt der Kochberuf in einem Dekret vom 26. Juli, das die Berufe auflistet, für die die Arbeitsgerichte zuständig sind, unerwähnt. Begründet wurde dies damit, dass die Köche Haus- bzw. Restaurantangestellte seien, deren Namen man zwar kenne,1 dass sie jedoch unter der Weisung eines Restaurateurs,2 d. h. eines Gaststätteninhabers, bzw. eines Butlers stünden, die direkt mit der Kundschaft zu tun hätten. Auch dreißig Jahre später hat sich daran nichts geändert. Seit dem 23. November 1883 wurden die Arbeitsgerichte in Paris durch gesetzlichen Erlass von den seit fünf Jahren steuerpflichtigen Arbeitgebern, den Teilhabern an einem gemeinsamen 1
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Christiane Demeulenare-Doyère, „Thérèse, Frédéric, Eugène et les autres ou la destinée d‘une famille de „gens de bouche“ à Paris dans la première moitié du XIXe siècle“, in: Bulletin de la Société d’histoire de Paris et de l’Île-de-France 1983. Mit diesem Begriff wurden von diesem Zeitpunkt an die Gaststättenbesitzer bezeichnet.
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Die Köche und ihr Streben nach gesellschaftlicher Anerkennung
Unternehmen, die seit mehr als fünf Jahren einen steuerpflichtigen Beruf ausübten, und von den Leitern eines Industriebetriebes, Vorstehern und Arbeitern gewählt, die schon genauso lange in ihrem Beruf tätig waren. Arbeitgeber und Arbeitnehmer mussten das 25. Lebensjahr erreicht haben und in dem Seine-Departement wohnhaft sein. Die Wahllisten wurden von den Bürgermeistern aufgestellt. Die Köche versuchten, dieses Gesetz auch für sich in Anspruch zu nehmen. 1885 beantragte einer jener Köche, der „im Unterschied zu manchen seiner Berufskollegen, die sich als Hausangestellte verdingten, in Cafés und Restaurants arbeitete“, seine Aufnahme in die Wahlliste für die Arbeitsgerichte. Da jedoch „die Köche in keiner der im Anhang angefügten Tabellen des Dekrets vom 26. Juli 1856, das die Klassifikation der Berufe bzw. Betriebe im Geltungsbereich der Pariser Arbeitsgerichtsbarkeit festsetzt, auftauchen, […] wird der Antrag von Herrn Bernier abgelehnt.“3 Kochen, eine Frauenarbeit? Das Kochen, das zu diesem Zeitpunkt weder als Arbeit noch als Beruf galt, war eine im Wesentlichen von Frauen ausgeübte häusliche Betätigung. In den bürgerlichen Familien standen Köchinnen im Dienst, die eine bürgerliche bzw. häusliche Küche praktizierten. Lange und langsam zubereitete Schmorgerichte bildeten den Grundstock dieser Küche, von der La Cuisinière de la campagne et de la ville, ein in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in steter Regelmäßigkeit neu aufgelegtes Buch, ein recht zuverlässiges Bild entwirft.4 Von der Köchin der ersten Hälfte des 19 .Jahrhunderts zeichnet Balzac ein charakteristisches Porträt. Trotz der lobenden Worte, die er für die Talente der so genannten cordons bleus5 findet, kritisiert er andererseits auch ihre Schwächen und Unzulänglichkeiten: In der Regel ist die Köchin unwissend, naschsüchtig und nicht immer ehrlich. In der tiefsten Provinz leben Carêmes in Röcken, verkannte Genies, die ein einfaches Bohnengericht so zubereiten, dass es jenes Kopfnicken verdienen würde, mit dem Rossini etwas PerfektGelungenem seine Anerkennung zollt […]. Flore mit ihrem angeborenen Talent für Frittierund Bratengerichte, das sich weder allein durch Beobachtung noch durch Fleiß erwerben lässt, sollte Franchette in kürzester Zeit übertreffen. Während sie diese Meisterschaft im Kochen erreichte, dachte sie stets an das Glück Jean-Jacques. Andererseits soll aber auch nicht verheimlicht werden, dass sie einigermaßen naschsüchtig war. Wie alle Menschen ohne Bildung
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Le droit, 25. Oktober 1885. Nur ein Jahr später wurde in einer von 2.000 Köchen unterzeichneten Unterschriftenaktion von dem Handels- und Industrieministerium die Aufnahme in die Wahllisten der Arbeitsgerichte gefordert. Trotz einer ermutigenden Antwort von Édouard Lockroy vom 11. September 1886 („Seien Sie versichert, dass meine Abteilung bei der derzeitigen Untersuchung zur Neuorganisation der gegenwärtigen Arbeitsgerichtsbarkeit Ihre Bitte mit berücksichtigen wird […]“) mussten die Köche 1887 eine neuerliche Anfrage formulieren, ohne dass diese jedoch erfüllt worden wäre. 1862 erschien das Buch bereits in seiner 42. Auflage. Nach der Farbe des Trägerbandes des Ordre du Saint-Esprit, einer von Henri III 1578 geschaffenen Auszeichnung [in Anlehnung daran bezeichnet der Ausdruck gemeinsprachlich auch eine Köchin, die sich durch ihr kulinarisches Talent auszeichnet – Anmerkung des Übersetzers].
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konnte sie sich nicht mit ihrem Hirn beschäftigen und entfaltete ihre ganze Energie im Haushalt.6
Konkurrenz durch Frauen am Herd Allerdings sollte das Talent der Köchinnen nicht überwertet werden. Auch in der Welt der Küche galt eine geschlechtsspezifische Arbeitsteilung. Den Köchinnen oblag die bürgerliche Haushaltsküche, den Köchen dagegen die haute cuisine, wie sie Carême zu Beginn des 19. Jahrhunderts kodifiziert hatte. Das ganze Jahrhundert über wurde dieser Gegensatz von Küchenchefs und Köchen selbst aufgegriffen, die mit unzähligen Argumenten erklärten, dass die Köchinnen bestenfalls zu einer gutbürgerlichen Küche fähig seien, ohne jemals das Niveau der haute cuisine erreichen zu können, das ausschließlich den männlichen Köchen vorbehalten sei. Den Standpunkt seiner Zunft brachte Philéas Gilbert treffend zum Ausdruck, als er in der ersten Ausgabe von L‘art culinaire schrieb: Manche behaupten, die Küche sei ein Privileg der Frauen. In gewisser Hinsicht möchte ich dem durchaus Recht geben. So wie kein Reisigbündel einem anderen gleicht, so vielfältig ist nämlich auch die Kochkunst. In keinem Fall wollen wir der Hausfrau ihren Eintopf oder ihr traditionelles Lammragout streitig machen. Daher mag sich auch die Mehrheit der Köchinnen damit zufrieden geben und sich tunlichst aus unseren Arbeiten heraushalten, die zum einen für ihren Frauenkörper zu anstrengend, zum anderen für ihre geringen Kenntnisse viel zu weit gefasst sind und die sie darüber hinaus, sie mögen sich noch so sehr bemühen, nur unvollständig und – ich möchte fast sagen – schlecht zu imitieren im Stande sind.7
Auch in der Literatur bekamen die Köchinnen ihr Fett weg. Wenn man Balzac glauben mag, waren sie nicht nur unwissend, sondern darüber hinaus auch noch unehrlich: Bei den Köchen und Köchinnen handelt es sich – die Ausnahmen sind so selten, dass sie eine staatliche Auszeichnung verdienten – um bedienstete Diebe, bezahlte und freche Betrüger, denen die Regierung als Hehler gefällig in die Hände spielt, indem sie sie in der Neigung zum Stehlen, zu dem die Köchinnen durch das schon antike Scherzwort der anse du panier8 geradezu angehalten werden, bekräftigt. […] Auf dem Weg zwischen dem Haus der Herrschaften und dem Markt haben diese Leute einen geheimen Wegezoll eingerichtet, und die Stadt Paris ist weniger geschickt beim Eintreiben der Zugangssteuer, als sie es beim Eintreiben ihrer Gebühren sind. Neben den fünfzig Prozent, die sie auf die Nahrungsmittel aufschlagen, fordern sie von den Lieferanten zusätzlich noch ihren jährlichen Obolus.9
Von den Köchinnen gingen umso größere Gefahren aus, weil sie ohne Arbeiterdienstbuch nicht kontrolliert werden konnten. Daher forderte Balzac auch eine Übernahme des Arbeiterstatus für die Hausdienerschaft: Wenn jeder Hausangestellte sein Arbeiterdienstbuch vorlegen müsste und die Hausherren dazu verpflichtet wären, die jeweiligen Entlassungsgründe einzutragen, würde dem Sittenverfall sicherlich nachhaltig Einhalt geboten. […] Die Statistik sagt nichts über die erschreckend hohe
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Balzac, La Rabouilleuse, Paris, Le Club français du livre,1962, Bd. 3: 185 – 186. Philéas Gilbert, „Cuisiniers, cuisinières et journaux“, in: L‘art culinaire 1883: 123. Der Ausdruck (faire danser) l‘anse du panier (wörtlich „den Henkel des Korbes (tanzen lassen)“) bezeichnet den zusätzlichen Betrag, den die Köche und Köchinnen auf den Preis der Einkäufe für ihre Herrschaften aufschlugen. Balzac, La Cousine Bette, Paris, Le Club français du livre, 1963, Bd. 9: 890 – 891.
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Die Köche und ihr Streben nach gesellschaftlicher Anerkennung Zahl von Arbeitern, die vierzig- und fünfzigjährige Köchinnen heiraten, die sich durch ihre Diebstähle bereichert haben. Wenn man an die Folgen derartiger Eheschließungen in den drei Bereichen des Verbrechens, der Verdummung der Rasse und der Verlotterung der Haushalte denkt, erzittert man buchstäblich.10
Die Konkurrenz und Rivalität zwischen männlichen und weiblichen Köchen war auch Balzac nicht entgangen: Madame Victorin, die mit großem Haushälterinnentalent, das sie im Übrigen Lisbeth zu verdanken hatte, dieses riesige Haus führte, musste einen Koch einstellen, der wiederum die Einstellung einer Küchengehilfin notwendig machte. Die Küchengehilfinnen sind heute ehrgeizige Geschöpfe, die nur darauf aus sind, die Geheimnisse des Kochs zu erhaschen und die selbst als Köchinnen arbeiten, sobald sie nur Soßen zuzubereiten im Stande sind. Daher werden die Küchengehilfinnen sehr regelmäßig ersetzt.11
Die Gastronomie hilft den Köchen Die gastronomische Literatur In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts entwickelt sich langsam eine Gastronomiekritik und -literatur, die das Schweigen und die Geringschätzung, mit denen die Köche gestraft waren, erstmals durchbricht.12 10 Ebd. 11 Balzac, La Cousine Bette, Paris, Livre de poche: 443. 12 Die gastronomische Literatur sollte nicht mit den kulinarischen Schriften der Köche selbst verwechselt werden, deren Ursprünge viel weiter zurückreichen. Ende des 14. Jahrhunderts erscheint der Traité où l‘on enseigne à faire et à appareiller tous boires comme vin, clairet, mouré et autres ainsi qu‘à appareiller et assaisonner toutes viandes selon usages de divers pays, der älter ist als der berühmte Viandier, den Guillaume Tirel, genannt Taillevent, Leibkoch von Philippe de Valois, erster Hofkoch von Charles V und Garnisonskoch von Charles VI, um 1375 verfasst hatte und der gegen 1486 gedruckt wurde. Zu Beginn des 16. Jahrhunderts wurde das sehr erfolgreiche Buch des Bartolomeo Sacchi, genannt Platina, unter dem Titel Platine en français très utile et nécessaire pour le corps humain qui traite d‘honnête volupté et toutes viandes et choses que l‘homme mange ins Französische übertragen und veröffentlicht. In den 1530er Jahren erschient sodann der Petit traicté auquel verrez la manière de faire cuisine et comment on doibt abiller toutes sortes de viandes, der, um zwei hundert zusätzliche Rezepte bereichert, zehn Jahre später unter dem Titel Livre de cuysine très utile et proufitable contenant en soy la manière d‘habiller toutes viandes veröffentlicht wurde. Es kam zu mehreren Neuauflagen unter dem Titel Le grand cuisinier de toutes cuisines, die offensichtlich auf großen Anklang stießen. Im 17. Jahrhundert erschien Le cuisinier françois (1651) von La Varenne, der ebenfalls für L‘école des ragousts sowie den Pâtissier françois verantwortlich zeichnet. 1691 veröffentlichte Massialot Le nouveau cuisinier royal et bourgeois. Die wichtigen Werke des 18. Jahrhunderts sind Le cuisinier moderne von Vincent La Chapelle (1735), Les dons de Comus von Marin (1739), La cuisinière bourgeoise von Menon (1746) und die Soupers de la cour. Je mehr man sich unserer Zeit nähert, desto länger wird die Liste mit Büchern aus der Feder von Köchen. Im 19. Jahrhundert ist es natürlich vor allem Antonin Carême, der in seinen Werken Le pâtissier pittoresque, Le maître d‘hôtel français, Le cuisinier parisien, Le pâtissier royal parisien die gehobene französische Küche für ein Jahrhundert kodifiziert. Dennoch sollte man etwa Beauvilliers L‘art de cuisinier bzw. Le cuisinier impérial von Viard nicht vergessen. Unter der Restauration erschienen u. a. Le cuisinier des cuisiniers von Jourdan Le Cointe und das Dictionnaire de cuisine von Burnet sowie im weiteren Verlauf des Jahrhunderts die ausgespro-
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Allerdings weisen Curnonsky und Gaston Derys darauf hin, dass die gastronomische Literatur ausschließlich von Feinschmeckern und jenen, die sich aufs Schreiben verstanden, verfasst wurde.13 Bei den Autoren handelte es sich um Ärzte, Juristen, Schriftsteller, Journalisten, Sänger, Romanciers, Rentiers und darüber hinaus gelegentlich auch um Angehörige des Adelsstandes. Diese Literatur, die im Anschluss an die Französische Revolution entstand, richtete sich an eine bürgerliche Leserschaft, genauer gesagt, an Neureiche und Parvenüs, von denen viele von Umgangsformen und Tischsitten nur rudimentäre Kenntnisse besaßen und die daher mit den Höflichkeitsusanzen und Benimmregeln bei Tisch, die ihnen abgingen, erst vertraut gemacht werden mussten.14 Der Begriff gastronomie taucht im Jahre 1800 auf, 1803 der dazu gehörige gastronome und 1807 schließlich das Adjektiv gastronomique. In das hoch offizielle Dictionnaire de l‘Académie française wird gastronomie 1835 aufgenommen. Die ersten Gastronomiekritiker sind „Schulmeister“. So jedenfalls bezeichnete sie Joseph de Berchoux (1775 – 1838), der die Gastronomie in einem Gedicht in vier Gesängen mit dem gleichnamigen Titel definiert:15 Sie, der Sie bisher meine Gesetze nicht kannten, der Sie Ihrem Geschmack regel- und willenlos folgten, der Sie, in Ihrem von der Gewohnheit bestimmten Appetit, nichts von der Kunst ahnen, der ich mich widme, meine Stimme wird Sie Wichtiges lehren: Kommen Sie in meine Schule, werte Säuglinge!16
Die Gastronomie richtet sich zuallererst an vollendete Gastgeber bzw. solche, die es gerne werden wollen, wie etwa an die stillosen Neureichen ohne Umgangsformen. Mehr noch als die Kunst, exquisite Gerichte auf den Tisch zu zaubern, ist sie ein Mittel, um gesellschaftlich Geltung zu erlangen und seiner sozialen Stellung Ausdruck zu verleihen: Wenn es eine edle und begehrenswerte Rolle gibt, eine angenehme Beschäftigung im Laufe eines Lebens, so ist es die eines einfachen Sterblichen, der in seinem Hause der Tischkunst als würdiger Gastgeber Ehre bereitet.17
Berchoux definiert die Rolle und die Stellung der Köche in den Privathaushalten des 19. Jahrhunderts als die eines kulinarischen Dieners und Künstlers. Dabei spart er nicht an Ratschlägen für die Gastgeber eines Tischmahles: Bei der Suche nach Personal, das Sie benötigen, erfordert die Wahl eines Koches besondere Sorgfalt.
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chen wichtigen Werke von Auguste Escoffier, Urbain Dubois, Joseph Favre, Prosper Montagné, Philéas Gilbert, Henri Pellaprat, Édouard Nignon und vielen anderen mehr. Curnonsky / Gaston Derys, Anthologie de la gastronomie française, Paris, Delagrave, 1936. Alain Drouard, „De Grimod à La Reynière: éléments de sociologie historique de la critique gastronomique“, in: Papilles 16 / 17 (Januar und September 2000). Die Erstveröffentlichung einer immer wieder neu aufgelegten Schrift stammt aus dem Jahr 1800. Joseph de Berchoux, La Gastronomie, 1. Gesang, Paris Michaud, 1819: 20. Ebd.: 57.
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Die Köche und ihr Streben nach gesellschaftlicher Anerkennung Als wichtiger Mann und nützlicher Diener sorgt er für die Beliebtheit Ihres Hauses, dafür, dass Ihr geachteter Name in aller Munde ist!18
Grimod de la Reynière Ein Zeitgenosse Berchoux’, Alexandre Balthazard Laurent Grimod de la Reynière (1758 – 1838) veröffentliche 1803 die ersten Bände des Almanach des gourmands19 und einige Jahre später, 1808, den Manuel des amphitryons20, der seinen Nachruhm begründen sollte. Auch in seinen Augen handelt es sich bei der Gastronomie um einen Höflichkeitscode bei Tisch, mit dem sich die neue gesellschaftliche Hierarchie, die im Zuge der Französischen Revolution entstanden war, rechtfertigen lässt: Neben dieser langen Unterbrechung bei der Praxis der Esskultur hat die Revolution der Vermögen, die fast gänzlich in andere Hände gefallen sind, Menschen in Besitz der neuen Reichtümer gebracht, die bisher mit der Kunst, diese sinnvoll einzusetzen und standesgemäß davon zu profitieren, nicht vertraut waren. Damit hat diese Revolution zwangsläufig eine fast vollständige Zeitenwende bei den Sitten und Gebräuchen der Gastgeber und ihrer Gäste mit sich gebracht. Selbst wenn die Aufgaben im Großen und Ganzen unverändert geblieben waren, waren es nun nicht mehr dieselben Personen, die sie zu erfüllen hatten.
Als Sohn eines fermier général, also eines Generalpächters, der das Recht zur Steuererhebung vom Staat erkauft hatte, und als Mann des Ancien Régime, bietet Grimod der neuen herrschenden Klasse beim Erwerb der gesellschaftlichen Gepflogenheiten und Umgangsformen der ehemals dominanten Gesellschaftsformation seine Hilfe an: Im Anschluss an die Revolution kam es zu einem Umbruch bei den Vermögen, die in neue Hände gerieten, währenddessen der Geist der meisten heute Wohlhabenden auf rein tierische Bedürfnisbefriedigung ausgerichtet ist. Daher schien es uns nützlich, ihnen einen Ratgeber an die Hand zu geben, der ihnen bei dem solidesten Teil ihrer liebsten Freuden eine sichere Hilfe bietet.
Ganz offensichtlich kommt der Gastronomie also eine gesellschaftliche Funktion bei der Versöhnung zwischen der einstmals herrschenden Klasse, dem Adel, und der neuen herrschenden Klasse, dem Bürgertum, zu: Die Praxis dieser Fertigkeit [des Schneidens von Fleisch] sollte jeder Hausherr beherrschen, wenn er denn zeigen möchte, dass er nicht von gestern ist. Sie verstärkt noch den Genuss eines schmackhaften Gerichts, den visuellen Eindruck und selbst die tatsächliche Qualität eines Festmahles. Da die Einzelheiten dazu in den unruhigen Revolutionszeiten verloren gegangen sind, haben wir versucht, sie wieder ins Bewusstsein zu rücken.
Grimod zufolge habe die Gastronomiekritik noch andere Aufgaben, wie etwa die Verbraucher über die Produkte und den Vertrieb von Lebensmitteln (Produzenten, 18 Ebd.: 38 – 39. 19 Almanach des gourmands ou Calendrier nutritif servant de guide dans les moyens de faire excellente chère […] par un vieux amateur, Paris, Maradan, Jahr XI, VIII, 247 Seiten (8 Bände bis 1812). 20 Manuel des Amphitryons, contenant un Traité de la dissection des viandes à table, la nomenclature des menus les plus nouveaux pour chaque saison et des Éléments de politesse gourmande, Paris, Capelle et Renaud, 1808, 384 Seiten.
Die Gastronomie hilft den Köchen
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Händler, Gaststättenbetreiber) zu informieren.21 Dazu organisierte er Degustationsjurys, deren Ergebnisse er in seinem Almanach des gourmands veröffentlichte und die in gewisser Hinsicht die modernen Gastronomiehandbücher antizipieren. Brillat-Savarin Zusammen mit Grimod gilt Brillat-Savarin, der Autor der berühmten Physiologie du goût (1826), als der zweite Begründer der Gastronomiekritik. Wie Grimod fühlt sich Brillat-Savarin noch dem Ancien Régime verbunden. Er wurde 1755 in Belley im Departement Ain geboren, trat in den Staatsdienst ein, war Abgeordneter der Verfassunggebenden Versammlung und flüchtete schließlich vor der Terrorherrschaft in die Vereinigten Staaten. Während des Direktoriums kam er nach Frankreich zurück und übernahm ein Amt als Staatsanwalt am Kassationsgerichtshof. Er starb im Jahre 1826. Bekannt ist Brillat-Savarins Definition der Gastronomie: Die Gastronomie ist die wissenschaftliche Kenntnis all dessen, was sich auf den Menschen als Essenden bezieht. Ihr Ziel besteht darin, für den Erhalt des Menschen mittels der bestmöglichen Ernährung zu sorgen. Dies gelingt ihr, indem sie all jene, die das, was sich zu Nahrungsmitteln verwandeln lässt, aufspüren, liefern oder zubereiten, durch gesicherte Prinzipien anleitet. Insofern ist sie es, die in Wahrheit die Landwirte, Weinbauern, Fischer, Jäger und die große Familie der Köche ungeachtet ihrer Titel oder Qualifikationen, mit denen sie ihre Arbeit bei der Zubereitung von Nahrungsmitteln verkleiden, antreibt.
Brillat-Savarin betont vor allem die Physiologie, eine damals in Mode gekommene Wissenschaft.22 Er erkundet die physiologischen Mechanismen des Geschmacks mit dem Ziel, diesen zu vervollkommnen und zu verfeinern. Als synthetische Wissenschaft, die mehrere Fachrichtungen bündelt, sollten diese neuen Erkenntnisse die Möglichkeit bieten, Genuss und Gesundheit miteinander zu vereinbaren. Damit entwickelt sich die Feinschmeckerei zu einer bewussten Kenntnis der menschlichen Ernährungsgesetze: Nun hat man endlich die Feinschmeckerei von der Fresserei und der Schlemmerei separiert und sieht sie als eine Schwäche an, deren man sich, als einer geselligen Eigenschaft, rühmen kann, dem Wirte angenehm, dem Gaste profitabel, nützlich der Wissenschaft. Der Feinschmecker ist heute jedem andern Liebhaber gleichgestellt, der sonst irgendwelche Vorliebe hegen mag.23
Trotz der Unterschiedlichkeit ihrer Werke bemühten sich alle Gastronomen schon zu Beginn des 19. Jahrhunderts, das, was sie die „französische“ bzw. „nationale“ Küche nannten, zu verbreiten und zu verteidigen. Voraussetzung dafür waren vielfältige wechselseitige Abhängigkeiten zwischen den Köchen einerseits und den gastronomischen Kritikern andererseits. Bekanntlich handelt es sich bei den Gastronomen um Kritiker bzw. Autoren, die den Kochberuf nicht selbst ausüben und 21 Die Ausgabe des Almanach des gourmands aus dem Jahre 1804 enthält einen „Speiseweg“ durch die Straßen von Paris. Acht der 26 angeführten Geschäfte und Restaurants liegen in der Nähe des Palais-Royal. 22 Balzac ist der Verfasser einer Physiologie du mariage, einer Physiologie du cigare sowie einer Histoire et physiologie des boulevards de Paris. 23 La Physiologie du goût, Méditation: XXVIII [zitiert nach der deutschen Übersetzung von 1864: Physiologie des Geschmacks oder Betrachtungen über das höhere Tafelvergnügen, Frankfurt a.M. und Leipzig, Insel-Verlag, 1979: 169 – Anmerkung des Übersetzers].
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Die Köche und ihr Streben nach gesellschaftlicher Anerkennung
die in ihren Werken und Restaurantführern den Ruf der Küchenchefs begründen, aber auch zerstören können. Obwohl die Köche auf sie angewiesen sind, um einen gewissen Bekanntheitsgrad zu erreichen, machten sie noch nie einen Hehl daraus, dass sie von der Kompetenz und dem Urteilsvermögen der Gastronomen zur Bewertung ihrer Kunst nicht viel halten. Als erster hat Carême die Fähigkeiten all jener in Abrede gestellt, die es wagten, ihn zu kritisieren oder auch nur über seine Gerichte zu schreiben: Trotz all Ihrer vermeintlichen Titel als Dichter und Schriftsteller, Künstler und Küchenchef will ich, werte Herren, meinen Stand von all Ihren Schmähungen reinwaschen. Ich will Ihnen sagen und werde Ihnen beweisen, dass Sie bestenfalls dazu im Stande sind, für mittelmäßige Vermögen zu kochen, wie Sie es im Übrigen selbst so treffend sagen.24
Wie sich diese Beziehungen später entwickeln sollten, ist kein Geheimnis: Bis in unsere Tage hält dieser Streit in der Fachpresse und den Fachzeitschriften an. Davon abgesehen haben jedoch die Gastronomen zusammen mit den Köchen eine wichtige Rolle bei der Definition der „nationalen“ Küche gespielt, indem sie bestimmte Gerichte bzw. Rezepte in den Stand eines „Nationalgerichtes“ erhoben. Von besonderer Bedeutung waren bei der Definition dieser nationalen kulinarischen Identität im 19. Jahrhundert ganz allgemein Suppen- und speziell Eintopfgerichte.25
Restaurants, Restaurantbesitzer und Restaurantköche Der gastronomische Diskurs und die Esskritik sind etwa zur selben Zeit entstanden wie die Restaurants. Wann genau diese neuartige Einrichtung ins Leben gerufen wurde, lässt sich allerdings nicht mit Gewissheit sagen. Generell wird sie auf die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts datiert. Das Wort „Restaurant“ tauchte im 18. Jahrhundert auf und bezeichnete ursprünglich keinen Ort, an dem Gerichte serviert wurden, sondern eine stärkende Kraftbrühe. Im Dictionnaire de Trévoux heißt es 1765: Restaurantbesitzer verstehen sich auf die Zubereitung wirklicher Fleisch- und Kraftbrühen, die entweder restaurants oder Prinzenconsommé genannt werden, und dürfen allerlei Crèmes,
24 Carême, „Discours préliminaire“, in: ders., Le pâtissier royal. 25 In einem Artikel mit dem Titel „Du potage national“ in der Zeitschrift L‘art culinaire (1883: 74) streitet Philéas Gilbert einem anderen Koch namens Génin, das Recht ab, einen von ihm kreierten Eintopf als Nationalgericht anzupreisen: „Tatsächlich scheint eher der klassische Eintopf […], der sowohl in einfachen Hütten als auch in Palästen zubereitet wird und der vor allem auch das Grundnahrungsmittel der Arbeiterklasse darstellt, die Bezeichnung Nationalgericht zu verdienen. […] Während die Bezeichnung als Nationalgericht für den Eintopf zutreffend ist, ist sie jedoch in unseren Augen für eine neue Kreation inakzeptabel.“ Im Jahre 1888 ist in derselben Zeitschrift zu lesen: „Der Eintopf, dieses delikate Nationalgericht, diese wohlschmeckende Allerleisuppe, die die unabdingbare Grundlage für alle anderen Suppen darstellt, erfordert eine sorgsame und zeitaufwändige Zubereitung, die selbst die wohlhabendsten Haushalte nur auf Kosten der Zubereitung der anderen Gerichte erbringen können.“
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Suppen mit Reis- bzw. Nudeleinlage, Makkaroni aus frischen Eiern, grob gesalzene Masthähnchen und andere sättigende und feine Gerichte verkaufen.26
Aufstieg und Vielfalt der Gaststätten Fest steht dagegen, dass in Paris in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts immer mehr Restaurants ihre Pforten öffneten. Dies geschah zur Befriedigung einer bürgerlichen Klientel, die Gefallen daran gefunden hatte, unterschiedliche Gerichte und Speisen mit vorgegebenen Preisen auf einer Speisekarte auswählen und an Einzeltischen konsumieren zu können. Louis Véron27 schreibt beispielsweise in seinen Erinnerungen: Ich habe meinen Sinn für Beobachtungen in den zahlreichen Restaurants erprobt, die eine Spezialität der Stadt Paris darstellen. Keine andere große europäische Hauptstadt besitzt derart prachtvolle, Tag und Nacht geöffnete Lokale mit luxuriösem Service, in denen man jeder Zeit ein Gericht serviert bekommt und inmitten einer großen Menschenmenge die Stille und Einsamkeit genießen kann […]. Es gibt in Paris keinen Angehörigen des Bürgertums, der sich an bestimmten Tagen nicht ein Abendessen im Café de Paris, bei den Frères Provençaux, im Café Anglais, bei Riche, Véry oder auch Véfour gönnen würde.
Vor der Revolution 1789 zählte man weniger als hundert Restaurants. Im Jahre 1804 hat sich diese Zahl schon vervier- bzw. verfünffacht. 1825 gibt es eintausend derartige Gaststätten28 und 1834 noch einmal doppelt so viele.29 Zu Anfang des 19. Jahrhunderts bezifferte Jean-Paul Aron die Zahl der Restaurants in Paris auf 3.000. 1835 tauchte der Begriff „Restaurant“ zum ersten Mal nicht mehr in seiner Bedeutung als Kraftbrühe im Dictionnaire de l‘Académie auf. Mit dieser neuartigen Form der Verköstigung entsteht auch der Beruf des Restaurateurs, den Brillat-Savarin folgendermaßen definiert: Ein Restaurantbesitzer ist jemand, dessen Geschäft darin besteht, den Kunden ein stets fertiges Festmahl aufzutischen, dessen einzelne Gerichte nach den Wünschen der Konsumenten zu festen Preisen zusammengestellt werden.30
Die Restaurants wecken das Interesse ausländischer Reisender und werden regelmäßig in den Touristenführern beschrieben: Beim Eintritt in ein Café oder Restaurant, die sich im Hinblick auf Mobiliar und Einrichtung kaum voneinander unterscheiden, fällt der faszinierte Blick sogleich auf die prachtvollen Spie26 Das Dictionnaire de l‘Académie française definiert 1787 restaurant [bei dem Wort handelt es sich ursprünglich um das Partizip I zu dem Verb restaurer „jmdem neue Kräfte geben“ – Anmerkung des Übersetzers] als ein „ein stärkendes Nahrungsmittel, das neue Kräfte verleiht. Wein, Schnaps, Amber sind restaurative, d. h. stärkende Substanzen. Vor allem bezeichnet man als restaurant eine schmackhafte Kraftbrühe oder auch einen Fleischsaft […].“ 27 Der Autor der Mémoires d‘un bourgeois de Paris, Paris, 1857, gründete darüber hinaus die Revue de Paris und war Intendant der Pariser Oper. 28 Bei Véron heißt es: „Im Jahre 1825 zählte man in Paris mehr als neun hundert Gaststätteninhaber.“ 29 So jedenfalls Simeon South, Simeon‘s Letters to His Kinsfolk and other great people from France and Belgium, Paris und London, 1834, zitiert nach Christiane Demeulenaere Douyère, „Thérèse, Frédéric, Eugène et les autres ou la destinée d‘une famille de „gens de bouche“ à Paris dans la première moitié du XIXe siècle“, aaO. 30 Brillat-Savarin, Physiologie du goût.
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Die Köche und ihr Streben nach gesellschaftlicher Anerkennung gel, die die Wände nahezu bis an die Decke zieren und alle Gegenstände des Raumes in einem unendlichen Wechselspiel multiplizieren. Zumeist steht ein hübscher Porzellanofen in der Mitte des Raumes, während mehrere Lampen mit geschliffenen Glassteinen von der Decke hängen. Auf einer Seite des Saales thront hinter einem leicht erhobenen Arbeitstisch eine Gottheit, die über das Geschick des Hauses wacht. Elegant und schick angezogen, mit damenhaften Manieren grüßt die stets ansehnliche, manchmal schöne Frau den Gast, indem sie in einer grazilen Bewegung den Kopf neigt. Sie kümmert sich auch um die Rechnungen. Unter keinen Umständen verliert sie ihre gute Laune, ihre Würde und vollkommene Selbstbeherrschung31
Im Zuge dieser Gründerwelle diversifizieren sich die Lokale und wechseln in andere Viertel. Die ersten Restaurants – Frères Provençaux, Véfour, Véry – konzentrierten sich um den Palais-Royal herum. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ändert sich jedoch die geographische Verteilung in der Stadt: Die bekanntesten Restaurants – La Maison Dorée, Café Anglais oder Café de Paris – befinden sich an den Boulevards und am Ende des 19. Jahrhunderts auf den Champs-Élysées. Faktisch spiegelt die hierarchische Ordnung der Restaurants den pyramidalen Aufbau der Gesellschaft wider. An der Spitze befinden sich die großen „À-la-carteRestaurants“, die nur der „gehobenen Börse“ offen stehen,32 von denen es allerdings nur wenige gibt. Bei Jean-Marc Vanhoutte heißt es diesbezüglich: Im Rahmen der Entwicklung der Restaurantkultur kam es zu einer Diversifizierung der Lokale. Die den aristokratischen Lebensgewohnheiten nachempfundenen Formen des Essenskonsums in einem luxuriösen Ambiente mit unzähligen Spiegeln bildete nur mehr einen Teil des Marktes, den sich die verschiedenen Restaurants untereinander aufteilten.33
Daneben gibt es eine breite Palette unterschiedlicher Lokale und darunter vor allem ein Restaurant mit festen Preisen für den „mittleren Geldbeutel“. Auch wenn die Reiseführer nur diese beiden Restauranttypen im Blick hatten, war das Angebot auf dem Gaststättenmarkt naturgemäß viel breiter gefächert. Neben den Luxusetablissements und den Restaurants mit Festpreisen gab es auch noch die so genannten bouillons, einfache Gaststätten, die eine nicht so vermögende Klientel besuchte.34 Die Gaststättenbetreiberfamilie Douix In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ist die Geschichte der Pariser Restaurants untrennbar verbunden mit der Geschichte der Gaststättenbetreiberfamilie Douix. Zu Beginn der Französischen Revolution führten André Douix und seine Gattin Marie-Françoise Ameline ein Café in Breuil, einem Vorort des südfranzösischen 31 Christiane Demeulenaere Douyère, aaO. 32 Zitat aus Paris en poche. Guide pratique illustré de l‘étranger, Paris, Librairie Achille Faure, 1867, zitiert nach Frédéric Morte aus seiner Studie mit dem Titel „Image et réalité de la restauration parisienne à travers les guides touristiques 1855 – 1889“, in: Alain Huetz de Lemps / JeanRobert Pitte (hg.), Les restaurants dans le monde et à travers les âges, colloque international de Paris, 9 – 12 octobre 1989, Grenoble, Éditions Glénat, 1990, 33 Jean-Marc Vanhoutte, La relation formation-emploi dans la restauration, 1982. 34 Der Metzger Duval gründete den ersten bouillon in der Rue Montesquieu. So konnte er die nur schwer verkäuflichen Rindfleischstücke weiterverarbeiten. Erfolgreich war diese Art Gaststätte vor allem wegen der niedrigen Preise und der weiblichen Bedienungen mit weißer Mütze und Schürze.
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Puy-en-Velay. Nach Geschäftsverlusten und dem Tod ihres Mannes beschloss Marie-Françoise Ameline jedoch, in Paris ihr Glück zu suchen. 1803 hatte eine ihrer Töchter, Thérèse-Geneviève Douix, den Koch Louis-François Motte geehelicht. 1814 ließ sich das Ehepaar als Betreiber einer Gastwirtschaft in der Rue Montmartre Nr. 105 nieder. Wenn man dem Inventurverzeichnis, das der Notar Roard nach dem Tod Louis-François Mottes am 2. April 1817 aufstellte,35 Glauben schenken darf, dann handelte es sich um ein bescheidenes Lokal mit wenig Personal: Eine Bedienung und eine Küchenhilfe genügen. Louis-François kümmert sich persönlich um die Zubereitung und Thérèse-Geneviève um die Buchführung. Geflügel und Gemüse beziehen sie aus den nahe gelegenen Markthallen. Das Brot liefert Buisson, der Hausbesitzer, und Gewürze und Weine die umliegenden Läden.36
Demgegenüber ist das Café Corazza am Palais-Royal, das einem anderen Mitglied der Familie, nämlich Eugène-André-Vincent Douix, gehört, einer ganz anderen Kategorie und Stilrichtung zuzuordnen, handelt es sich hier doch um ein „gehobenelegantes“ Restaurant: In der Mitte bzw. im hinteren Teil eines prachtvollen Saales, in dem die Maler-, Dekorationsund Tapisseriearbeiten sich in ihrer Kunst wechselseitig überbieten, steht ein mit Schnitzereien und Bronzeaufschlägen reich verzierter Schanktisch, auf dem symmetrisch zueinander kleine Teller, stilvolle, metallplatierte Zuckerkörbchen und zwei Schalen angeordnet sind, von denen die eine – zum Teil vergoldete – Silberlöffel in reicher Zahl enthält, während die zweite mit einem Schlitz in dem geschlossenen Deckel die Gaben der Kunden in Empfang nimmt, die dann zur Entlohnung an das Bedienungspersonal weitergereicht werden. Dahinter thront die Königin des Etablissements, die gemeinhin auch als Kaffeewirtin bezeichnet wird. Vor den Sofas stehen schön verzierte Marmortische. Zeitungen und jegliche Art von Broschüren stehen den Gästen zur Verfügung, die sich hier bei einem schmackhaften Mokka oder einem saftigen Kotelett über das politische Zeitgeschehen auf dem Laufenden halten oder sich auch nur mit Bonmots eindecken können. Allüberall herrscht eine ausgesuchte Höflichkeit. Der ganz in Schwarz gekleidete Hausherr schreitet, mit einer Serviette über dem Arm, auf und ab, verneigt sich vor den Neuankömmlingen, begrüßt die Stammgäste, mit denen er sich auf einen unverfänglichen Plausch einlässt, und schenkt auch den Geschwätzigen ein Ohr, deren fade Drolligkeiten er ausgesprochen geistreich findet, während er allen ein lächelndes und freundliches Gesicht zeigt.37
35 „In einer Ecke des Geschäfts, die als Speiseraum dient, steht ein Ladentisch aus Holz mit einer flämischen Marmorplatte. Um den großen Kachelofen stehen vier weiße Holztische und sechzehn Waldkirschtische. An der Wand hängen Spiegel mit gestrichenen Marmorimitaten aus Holz. Die einzige etwas luxuriösere Ausstattung scheint ein mit farbigem Kupfer verziertes Uhrwerk von Leneveu zu sein, das zwischen einem achteckigen Barometer mit golden lackiertem Holz und einer Öllampe mit zwei lackierten Blechhenkeln angebracht ist. Hinter dem Ladentisch steht ein lackierter Holzstuhl mit gestreiftem Utrechter Samt, auf dem sich wohl die Hausherrin am Ende des Arbeitstages niedergelassen haben mag. Das meiste Geschirr ist in schlechtem Zustand und von mittelmäßiger Qualität und aus gemeinem weißen Porzellan. Die einzige Ausnahme sind einige Teller und zwei Salatschüsseln aus Tournai-Porzellan.“ 36 Christiane Demeulenaere-Douyère, aaO. 37 Nationalarchiv, Zentralregister (minutier central), CX 808, 25. September 1827 (Stiftung Collot-Douix), zit. nach Christiane Demeulenaere-Douyère.
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Zum Besitz derselben Familie gehört zudem das Restaurant Les Trois Frères Provençaux, das Étienne Auguste Collot, Ehemann von Madeleine-Gaspard Douix, der jüngsten Tochter von André Douix und Marie-Françoise Ameline, 1840 erwarb. Das ursprünglich von drei Brüdern aus der Provence gegründete Restaurant, das in vielen Gastronomieführern als eines der besten Pariser Lokale geführt wurde, war in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts eine berühmte Adresse und verlor erst im Laufe der 1830er Jahre an Glanz. Nach der Übernahme durch Étienne-Augustin Collot knüpft es schließlich wieder an seine glanzvolle Vergangenheit an: Wie ein altgedienter Soldat mit Erfahrung und Geschick dem unsicheren Ausgang des Krieges entgegenprescht, so marschiert dieses von alter Pracht mit Stolz erfüllte Haus, getragen von einer ungeahnten Entwicklung, an der Spitze der französischen Küche voran […]. Heute wie gestern reißt man sich um einen Tisch bei den Trois Frères Provençaux, die bei den Gastronomen in höchstem Ansehen stehen.38
Die nach dem Tod Madeleine-Gaspard Douix‘ im Jahre 1840 erstellte Bestandsaufnahme aller Vermögenswerte der Hausgemeinschaft gewährt uns einen Einblick in die Räumlichkeiten: Das Restaurant besteht aus einem großen Saal im Erdgeschoss, den neun gasbetriebene Kronleuchter erhellen und in dem eine mit Marmor und goldenem Schmiedeeisen abgesetzte Palisandertheke, vierzig Tische aus schwarzem Holz und sechsundachtzig Stühle stehen. Ebenfalls im Erdgeschoss befinden sich die Küche, der Vorratsraum, die Wäschekammer und der Weinkeller. Im Zwischengeschoss sind neun Separees untergebracht, in denen sich jeweils ein mit Damast bezogenes Kanapee, ein kleiner ausziehbarer Tisch und Stühle sowie eine Stand- bzw. Wanduhr und Kerzenleuchter befinden. Im ersten Stockwerk findet sich ein Saal mit fünf ölbetriebenen Kronleuchtern aus Kristall und vergoldeter Bronze, zwei davon mit dreißig und drei mit zwanzig Lampen. Das Mobiliar setzt sich zusammen aus einem Schanktisch aus Mahagoni mit einer weißen Marmorplatte, einem großen Mahagonikanapee, drei Spieltischen ebenfalls aus Mahagoni, achtzehn Nussbaumtischen sowie sechsundsechzig Stühlen. Daran grenzt ein kleinerer, blauer Saal mit einem Mahagoniesstisch, einem Kanapee und vierzehn Stühlen. In der zweiten Etage gelangt man in eine Art Alhambra mit einem großen Esstisch für dreißig Gedecke, vier Spieltischen, mehreren Kanapees und zweiundzwanzig Stühlen. Außerdem befinden sich hier ein Billardraum mit einem Bouchanet-Spieltisch aus Palisanderholz mit Netzvorrichtung und Einlegearbeiten aus Zitronenbaumholz und zwei Separees. Im dritten Stock schließlich sind die Zimmer für das Personal und die Zimmer für die „Fräulein“ untergebracht, d. h. vermutlich für die Collot-Töchter.39
Zu den auf einen Wert von 1.892,80 Franc geschätzten Küchengeräten gehören zweiundvierzig Gelee- bzw. Charlottenformen, sieben Steinbutt- und sonstige Fischpfannen, neununddreißig Bain-Marie, dreißig Fleischpfannen und dreiundsiebzig Töpfe unterschiedlicher Größe. Unter die Textilausstattung fallen dreitausend Tischservietten, siebzig Tischdecken für die Separees, drei große Tischsets für je achtundvierzig Gedecke, eine Tischdecke für sechsunddreißig Gäste. Hinzu kom-
38 La table à Paris. Mystères des restaurants, cafés et comestibles. Promenades d‘un friand à travers les rues de la capitale, Paris, Bonfon, 1845. 39 Christiane Demeulenaere-Douyère, aaO.
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men u. a. noch zweihundert Servierschürzen, zweihundertachtzig Küchenschürzen, vierhundertachtzig Geschirrtücher sowie unzählige Gläser und Porzellangeschirr. Der Weinkeller ist ausgezeichnet sortiert: Château-Margaux (677 Flaschen), Saint-Émilion, Pommard, Médoc (898 Flaschen), Sherry, Portwein (332 Flaschen), Wein aus Malaga, Malvasia-Weine, alter Weinbrand (148 Flaschen). Der Wert des Weinkellers wird auf 28.889,30 Franc geschätzt und der gesamte Geschäftswert auf 68.378 Franc veranschlagt. Im Jahre 1844 ehelicht der verwitwete Étienne-Augustin Collot, Vater von vier Töchtern, Marie-Françoise-Constance Motte, Tochter von Louis-François Motte und Thérèse-Geneviève Douix. Zu ihrer eigenen Hochzeit erhalten die Töchter eine großzügige Mitgift: Die beiden älteren bekommen jeweils 30.000 Franc und die jüngste 50.000 Franc. Neben den Restaurants im eigentlichen Sinne öffnen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts allerdings auch andere Lokale ihre Pforten. Ginette Hell-Girod40 weist etwa darauf hin, dass unter dem Zweiten Kaiserreich,41 vor allem aber nach dem Krieg 1870 und dem Verlust von Elsass-Lothringen viele Brasserien in Paris gegründet wurden. Zu diesem Zeitpunkt begann das elsässische Bier im Zuge der neu gebauten Eisenbahnlinie zwischen Straßburg und Paris die französische Hauptstadt zu erobern. Das erste Zapfbier wurde 1870 in der Brasserie Bofinger verkauft. Die Elsässer eröffnen Brasserien, in denen sie ihr Bier und heimatliche Gerichte servieren. Zu den schönsten zählen Floderer, Bofinger, Lipp, Zeyer, Jenny und Muller. Abgesehen davon bekommt man auch in vielen Schenkwirtschaften kleinere Gerichte oder auch bei den Weinhändlern und den so genannten Cremerien, wo neben Milch, Milchkaffee und Kaffee auch Gemüse- und Fleischgerichte verkauft werden. Und dann gibt es natürlich auch unzählige einfache Wirtshäuser für die armen Bevölkerungsschichten. Fest steht jedenfalls, dass der Besuch in einem Speiselokal zu einer Gewohnheit geworden und dass das Gaststättengewerbe gut ausgelastet ist: In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts gehen in Paris von den 800.000 Einwohnern täglich 60.000 in ein Restaurant. Wenn man die Weinstuben und einfachen Wirtshäuser mit einrechnet, kommt man auf 100.000 Pariser täglich.42
Um dieser Nachfrage gerecht zu werden, gab es in Paris 1903 1.500 Restaurants, 2.900 Hotels, 2.000 Cafés und Brasserien und, sage und schreibe, 12.000 Weinstuben, von denen drei Viertel auch Essensgerichte servierten.
40 Ginette Hell-Girod, „Histoire des brasseries de Paris du XIXe et du XXe siècles“, in: Alain Huetz de Lemps / Jean-Robert Pitte (hg.), Les restaurants dans le monde et à travers les âges, colloque international de Paris, 9 – 12 octobre 1989, Grenoble, Éditions Glénat, 1990. 41 Endes des Zweiten Kaiserreichs zählte man in Paris mehr als 200 Brasserien. 42 Jean-Marc Vanhoutte, aaO.
Kapitel 2 Der Kampf für die Berufsgemeinschaft der Köche (1842 – 1880) Die privaten Stellenvermittlungsbüros Der Restaurantaufschwung in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts führte auch zu einer wachsenden Zahl von Köchen.1 Dadurch entstand ein Arbeitsmarkt, der lange Zeit von privaten Arbeitsvermittlungsorganisationen kontrolliert wurde, die an Restaurants und Privathaushalte Küchenpersonal in fester Anstellung oder als Aushilfe vermittelten. Die Pariser Vermittlungsbüros, zumeist in der Nähe des Hallen-Viertels gelegen, verlangten von den Arbeit suchenden Dienstboten, Küchenhilfen und Köchen eine Vermittlungsgebühr. Staatlicherseits versuchte man mehrfach, die Aktivitäten dieser Gesellschaften zu reglementieren bzw. zu kontrollieren. 1848 wurde sogar ein Verbot gegen sie verhängt, das allerdings später wieder aufgehoben wurde. In der Zeit des Second Empire wurden die Vermittlungsbüros durch ein kaiserliches Dekret 1852 offiziell anerkannt und die durchschnittlichen Vermittlungsgebühren festgesetzt:2 3 Prozent des Jahresgehalts eines Hausdieners, 5 Prozent des jährlichen Verdienstes eines Angestellten und 2 Prozent des monatlichen Lohnes eines Arbeiters. Dabei ging der Gesetzgeber 1852 davon aus, dass diese Summen für das ganze Jahr berechnet würden. Darauf jedoch wollten sich die Vermittlungsbüros nicht einlassen. Oftmals forderten sie den Betrag bei jeder im Laufe eines Jahres neu vermittelten Arbeitsstelle. Die Zeitschrift Le progrès des cuisiniers weist denn auch darauf hin, dass häufige Arbeitsplatzwechsel im Interesse der Vermittlungsbüros seien: Mit einem kurzen Inserat in den Kleinanzeigen kann ein Stellenvermittler beträchtliche Einnahmen erzielen. Es genügt zum Beispiel, dass er bekannt gibt, er suche einen jungen Mann für
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Die statistischen Daten zu dieser Berufsgruppe sind nur lückenhaft vorhanden und aufgrund von Unterbrechungen und unterschiedlichen Quellen (Presse, amtliche Datensätze und Untersuchungen, Monographien) nur schwer auswertbar. In seiner Ausgabe aus dem Jahr 1886 nennt der Progrès des cuisiniers beispielsweise die Zahl von 12.000 Köchen in Paris. Die Köche, die in Privathaushalten tätig waren, wurden lange Zeit dem Hauspersonal zugerechnet und gingen als solche nicht in die Statistiken ein. So liest man etwa 1844 in den Recherches statistiques sur la ville de Paris, dass „die Zahl der Hausangestellten, inklusive Köche, auf 51.776“ geschätzt werde. Noch 1954 werden die „privathäuslich beschäftigten Köche und Köchinnen“, deren Zahl sich auf 18.460 beläuft, dem Hauspersonal zugerechnet. Die jüngeren Statistiken des FAFIH (Fonds national d‘assurance formation de l‘industrie hôtelière) betreffen allein die heutige Situation der Gaststätten- und Hotelberufe. Mehrere amtliche Texte bestimmten die Aktivität der Vermittlungsbüros: ein Dekret vom 25. März 1852 sowie zwei Ordonnanzen vom 5. Oktober 1852 und 16. Juni 1857.
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Der Kampf für die Berufsgemeinschaft der Köche (1842 – 1880) eine leichte und lukrative Beschäftigung. Sogleich schreiben ihm ein- bis zweihundert junge Leute auf der Suche nach einer Anstellung aus allen Gegenden Frankreichs. Der Stellenvermittler investiert eine fünfzehn Centime teure Briefmarke und antwortet jedem Absender mit dem Hinweis, dass die Beschäftigung seinen Wünschen entsprechen dürfte und bittet um eine Bearbeitungsgebühr von fünf Franc. Die Betroffenen schicken ihm die geforderten fünf Franc. Für den Stellenvermittler macht das einen Nettogewinn von 97 Prozent. […] Scheinbar vermittelt er einen Platz an einen Angestellten oder an eine Hausdienerin. In Wahrheit jedoch spekuliert er darauf, dass weder der eine noch die andere an ihrem Platz bleibt. Es ist in seinem Interesse, dass sie so oft wie möglich die Stelle wechseln.3
Die Köche begnügten sich nicht nur mit der Kritik an den Praktiken der Vermittlungsbüros. Vielmehr versuchten sie – allerdings vergebens – zu erzwingen, dass sie reformiert,4 ersetzt oder abgeschafft werden. Der Kampf gegen diese Vermittlungsagenturen, der für manche im Gefängnis endete, hat bei der berufsgemeinschaftlichen Organisation der Köche eine entscheidende Rolle gespielt. Beseelt von den Ideen genossenschaftlicher Organisationsformen und dem solidarischen Miteinander der Zünfte, begründeten sie in den 1840er Jahren die ersten solidarischen Unterstützungsvereine, um den Vermittlungsbüros Paroli zu bieten, den einzelnen Mitgliedern beizustehen und den kranken, erwerbslosen und alten Köchen Hilfsleistungen zu bieten.
Die Société de secours mutuels des cuisiniers de Paris Das Prinzip der wechselseitigen Unterstützung, das den ersten Handwerkerzusammenschlüssen zugrunde lag, ist eng mit der Lehre Pierre-Joseph Proudhons (1809 – 1865) verbunden. Doch waren es Lyoner Weber, die als erste in dieser Richtung aktiv wurden und bereits 1832 einen solidarischen Handwerkerbund gründeten.5 Einige Jahre später folgten die Köche, die ihre ersten Zusammenschlüsse bildeten. 3 4
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In: Le progrès des cuisiniers, 15. August 1888. Von den zahlreichen Reformvorschlägen ist vor allem der des Kochs Marius Berte erwähnenswert, der in der Zeitschrift L‘art culinaire vom 15. Februar 1893 verlangte, dass eine von dem Polizeipräfekten zu erlassende Ordonnanz die Entlohnung der Vermittlungsbüros zu bestimmen habe, die proportional zur Arbeitszeit der Köche berechnet werden müsse: „Die Ordonnanz sollte beispielsweise festsetzen, dass der vermittelte Koch dem vermittelnden Büro drei Prozent seiner Bezüge schulde und dass diese Summe höchstens ein Jahr lang in zwölf Raten zahlbar sei, falls er die Arbeitsstelle über diesen Zeitraum hinaus behält. Wenn die Beschäftigungsdauer kürzer ist als ein Jahr, ist diese Summe nur zum Teil zahlbar, immer gemessen an der Beschäftigungsdauer und in zwölf Raten. Ein Beispiel: Eine Arbeitsstelle mit einer Bezahlung von 600 Franc pro Jahr, die von beiden Seiten einvernehmlich ausgehandelt wurde. Nach Ablauf des ersten Monats fordert das jeweilige Büro den gerechten Lohn für seine Vermittlung. Der vermittelte Koch muss ihm auf der Grundlage der vereinbarten 600 Franc ein Zwölftel der drei Prozent aushändigen, d. h. 1,50 Franc. Wenn der Arbeiter zwei, drei, sechs Monate in Anstellung bleibt, muss er für jeden Monat, aber höchstens zwölf Monate lang 1,50 zahlen.“ Dank des Solidarsystems der wechselseitigen Hilfe mag man ein armer Mann sein, doch ist man nicht länger armselig.“ Das Prinzip der Wechselseitigkeit als Ausdruck nationaler Solidarität findet ab Mitte des Jahrhunderts Anerkennung. 1850 erhalten die Hilfsvereine auf Gegenseitigkeit einen legalen Status und werden als „gemeinwohlorientiert“ anerkannt. 1852 betraut Napoleon III. die Mutualité française mit der Aufgabe einer freiwilligen Krankenversicherung.
Die Société de secours mutuels des cuisiniers de Paris
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Am 1. April 1840 entstand die Société de secours mutuels des cuisiniers de Paris, der solidarische Unterstützungsverein der Pariser Köche, aus dem Zusammenschluss zweier bereits existierender Verbände, von denen der eine Laurentine hieß und der zweite unter dem Namen Société des pieds humides bekannt war, weil sich seine Mitglieder gewöhnlich morgens auf der Suche nach Arbeit auf dem nassen Boden des Hallen-Viertels einfanden. Ziel des neu gegründeten Hilfsvereins war es, gegen die Stellenvermittlungen vorzugehen, die Arbeitslosigkeit zu bekämpfen und zwischen seinen Mitgliedern Solidarbeziehungen zu entwickeln.6 Der Berufsverband half allen Köchen, die pflichtgemäß ihren Vereinsbeitrag in Höhe von einem Franc pro Monat entrichtet hatten, kostenlos bei der Stellensuche und kümmerte sich auch um zusätzliche Beschäftigungsmöglichkeiten, mit denen die Küchenchefs und sonstigen Köche in fester Anstellung sich gegebenenfalls absichern konnten.7 Die Mitgliederzahlen der Solidargemeinschaft entwickelten sich rasch und sprungartig: Zwischen Anfang 1841 und September 1842 stieg die Zahl der Mitglieder von 885 auf 1570, wobei allerdings nicht alle rechtzeitig ihren Beitrag bezahlten und manche gleichzeitig mehreren Vorsorgeeinrichtungen angehörten. Daher kam es zu Ausschlüssen, so dass letztlich nur 720 Mitglieder übrig blieben. Die ersten Initiativen Von Anfang an hatte sich der Unterstützungsverein zum Ziel gesetzt, all jene Mitglieder, die pflichtgemäß ihren Jahresbeitrag bezahlten, mit medizinischer Betreuung und pharmazeutischen Produkten zu versorgen, ihnen Verdienstausfallentschädigungen im Falle einer kankheitsbedingten Arbeitsunterbrechung bzw. Mutterschaftsbeihilfen zu gewähren, den Witwen und Waisen beizustehen, Köchen ab ihrem 55. Lebensjahr ein Ruhestandsgeld zu zahlen und gegebenenfalls die Beerdigungskosten zu übernehmen. In den Protokollen der ersten Sitzungen heißt es beispielsweise: 5. September 1842 Den ganzen letzten Winter übernahm der Verein aus seiner eigenen Kasse die Heiz- und Verpflegungskosten jener unglückseligen Männer, die ohne Arbeit waren, unterstützte die rekonvaleszenten Vereinsmitgliedern nach ihrem Krankenhausaufenthalt finanziell, bezahlte den verbandsinternen Arzt und Apotheker. Er trug alle Vereinskosten und verfügt heute über zuverläs-
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Aber nicht nur die Köche gründen solidarische Hilfsgemeinschaften. Die Société de secours mutuels et de prévoyance des maîtres d‘hôtel, garçons restaurateurs et limonadiers de Paris (Solidarischer Vorsorgeverein der Maître d’hôtel, Restaurant- und Gaststättenkellner von Paris) wird per Dekret vom 26. April 1865 genehmigt und am 1. Juli 1865 gegründet. Der Zusammenschluss bietet alle Leistungen einer solidarischen Hilfsgemeinschaft (Pflege, finanzielle Ersatzleistungen, Renten, Beerdigungen). Anfangs hat der Hilfsverein seinen Sitz in dem Viertel Les Halles, in der Rue Montorgueil, bevor er sich schließlich in der Rue des Prouvaires Nr. 8 niederließ. 1848 konstatiert der Verwaltungsrat: „Bericht für den Monat Mai zu Händen der Bürger und Ratsmitglieder. Die Zahl der Anstellungen und zusätzlichen Beschäftigungen ist höher als im Vormonat, und wir hoffen, dass sie noch weiter steigen wird. Die Zahl der festen Anstellungen lag bei 146. Die Bezahlung betrug zwischen 25 und 1.500 Franc. Die zusätzlichen Beschäftigungen beliefen sich auf 438 bei 492 Arbeitstagen und Einnahmen in Höhe von 2.715 Franc.“
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Der Kampf für die Berufsgemeinschaft der Köche (1842 – 1880) sige Arbeiter, deren Einsatzfähigkeit wir garantieren können, und zudem über einen Überschuss von 1.033, 09 Franc.
Die Hauptaufgabe besteht jedoch darin, Arbeitsstellen für die Köche zu finden. Dabei wird gern daran erinnert, dass die Mitglieder dadurch, dass der Verein die Aufgabe der Vermittlungsbüros übernimmt, Geld sparen: Der Verwaltungsrat anerkennt, dass zwischen dem 1. August 1840 und dem 20. Januar 1841 900 Arbeitstage in Aushilfsstellung und 209 feste Anstellungen vermittelt wurden, die den privaten Stellenvermittlungen für die Aushilfsstellen 450 Franc und die festen Anstellungen 2.090 Franc eingebracht hätten, d. h. einen Gesamtbetrag von 2.540 Franc, der im Besitz der Vereinsmitglieder geblieben ist.8
Der solidarische Unterstützungsverein tritt mit den Arbeitgebern in Kontakt, wobei insbesondere auf die Vorteile hingewiesen wird, die sich aus dem Angebot an verlässlichem Personal für sie ergeben: Die Herren Arbeitgeber mögen das Ergebnis unserer Zentralisierungsbemühungen nur selbst beurteilen, mit denen wir wieder für ein vertrauensvolles Verhältnis zwischen ihnen und den Arbeitern sorgen und dem unwürdigen Treiben rund um ihre Häuser ein Ende bereiten wollten, bei dem die Arbeiter gegen Geld und ungeachtet ihrer sittlichen und beruflichen Eignung vermittelt wurden. Insofern obliegt es nun den Arbeitgebern, uns ihr Vertrauen auszusprechen, das wir uns redlich verdienen wollen, und dadurch den Erfolg unseres Unternehmens zu begünstigen.9
Dieser Appell stieß in den nächsten Jahren durchaus auf ein offenes Ohr. Zahlreiche Restaurantbetreiber und Küchenchefs traten als Arbeitgeber dem Hilfsverein bei. 1848 zeigte sich, wie solidarisch und hilfsbereit die Köche waren, als sie sich bereit erklärten, den arbeitslosen und bedürftigen Berufsgenossen zu Hilfe zu eilen: Sitzung vom 16. November 1848 Sitzungsleitung: Bürger Bonnefond Die Sitzung wird um halb neun eröffnet. Der Vorsitzende erläutert dem Verwaltungsrat den Wunsch mehrerer Mitglieder nach Gründung einer Einrichtung zur wochenweisen und abwechselnden Beschäftigung erwerbsloser Köche in der ruhigen Saison. Gegen diesen Vorschlag erheben mehrere Mitglieder Einwände, die letztlich jedoch in Ermangelung eines konkreten Vorschlags der Betroffenen nicht berücksichtigt werden. Die Diskussion kreist um die Frage, wie den Köchen, die von Arbeitslosigkeit und Alter geplagt sind, am wirksamsten geholfen werden kann.
Nach der Februar-Revolution 1848 gründeten die Köche als erste genossenschaftliche Unternehmungen unter der Bezeichnung Associations fraternelles10, d. h. genau genommen genossenschaftlich betriebene Restaurants. Das Experiment war allerdings nicht von Dauer, da die Köche die Arbeit am Herd besser beherrschten als die Leitung eines Betriebs.
8 Protokoll vom 25. Januar 1841. 9 Ebd. 10 Ende 1849 zählte man nicht weniger als 44 genossenschaftliche Zusammenschlüsse von Köchen, wobei allerdings jede einzelne dieser Vereinigungen mit sieben bis zehn Genossenschaftlern nur eine geringe Zahl an Mitgliedern hatte.
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Staatliche Anerkennung Der solidarische Unterstützungsverein, zu dem sich die Pariser Köche zusammengeschlossen hatten, die Société de secours mutuels des cuisiniers de Paris, wurde unter dem Zweiten Kaiserreich offiziell anerkannt. Am 1. Januar 1853 wurde der Verein in die Société de secours mutuels et de prévoyance des cuisiniers de Paris, d. h. in einen Solidarischen Vorsorgeverein der Pariser Köche, umbenannt. Einige Jahre später, am 10. März 1856, wurde diese Vorsorgeeinrichtung in einem kaiserlichen Dekret unter dem Namen Société de secours mutuels et de retraite des cuisiniers – Solidarischer Unterstützungs- und Rentenverein11 – offiziell anerkannt, wodurch sie Anspruch auf staatliche Zuschüsse hatte.12 Die folgenden Auszüge aus den Sitzungsprotokollen des Verwaltungsrates zeigen, dass diese Organisation von nun an für die Ruhestandsleistungen sorgte sowie die Krankheits- und Erwerbslosigkeitsrisiken übernahm: 4. Juni 1858 Der Vorsitzende verliest ein Rundschreiben des Innenministeriums, aus dem hervorgeht, dass der bei der staatlichen Hinterlegungs- und Konsignationskasse eröffnete Kreditrahmen uns zur Erhöhung unseres Rentenfonds zu einer weiteren und schnellstmöglichen Überweisung verpflichtet. Der Verwaltungsrat beschließt die Hinterlegung einer Summe in Höhe von 500 Franc. […] Der Verwaltungsrat beschließt, dass alle hilfsbedürftigen Männer, die pflichtgemäß ihre Beiträge entrichtet haben, nach einer überstandenen Krankheit zur Erholung und gegen einen Betrag von 50 Centime pro Tag ins Pflegeheim von Vincennes geschickt werden. Der Hilfs- und Rentenverein garantiert gegenüber dem Pflegeheim die Zahlung dieser 50 Centime, die von der Summe in Höhe von einem Franc, die jedem Kranken täglich zusteht, abgezogen werden. […]
Die Hilfs- und Rentenorganisation sicherte sich die Dienste des Arztes Roy und nahm damit auf ihre Art Entwicklungen vorweg, die fast ein Jahrhundert später zur Begründung der Arbeitsmedizin führen sollten. Auch wenn sein Hauptaufgabengebiet die Berufskrankheiten der Köche betraf, entgingen dem Verbandsarzt natürlich nicht der übermäßige Alkoholkonsum und seine unglückselige Folgeerscheinungen in den Küchen. Ganz offensichtlich gab es viele Köche, die zu Gewaltausbrüchen neigten, übermäßig tranken oder stahlen. Die Organisation nahm die Beschwerden entgegen und fungierte deshalb als Disziplinarorgan: Sitzung vom 7. März 1851 […] Der Geschäftsführer legt einen Bericht gegen den Bürger Malatrait, Adolphe vor, aus dem hervorgeht, dass er am 24. Februar in das Haus von Herrn Étevé, Barrière du Maine geschickt wurde, um dort die Arbeit des Küchenchefs zu verrichten, dass er sich betrunken hat und daher seinen Aufgaben nicht nachkommen konnte und dass er zudem Absinth in eine Flasche gefüllt
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Der Zusammenschluss hatte seinen ursprünglichen Sitz im Hallen-Viertel. 1912 gründete der Hilfs- und Rentenverein eine börsennotierte Immobiliengesellschaft, die in der Rue Saint Roch Nr. 41 ein Repräsentationsgebäude errichtete, dessen Eigentümer er war und das den Verbandssitz beherbergte. 12 Am 6. April 1866 erhielt der Verein einen Zuschuss aus dem Innenministerium in Höhe von 4.740 Franc.
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Der Kampf für die Berufsgemeinschaft der Köche (1842 – 1880) hatte, die er zu sich nach Hause mitnehmen wollte. Der Verwaltungsrat beschließt einstimmig den Vereinsausschluss von Malatrait, Adolphe.13
Die Société des cuisiniers français Die Vereinigung Les cuisiniers français entspringt in direkter Linie zwei älteren solidarischen Unterstützungsverbänden. Die erste Vereinigung mit dem Namen Saint Laurent wurde am 1. Januar 1842 gegründet und zählte 21 Gründungsmitglieder, die jeweils 50 Goldfranken als Quellbeitrag einzahlten. Alle hatten sich bereits als Köche ihre Sporen verdient, wie beispielsweise der 57-jährige Alexandre, das älteste Vereinsmitglied, und vor allem Plumerey, der mit Carême zusammengearbeitet und seine Werke herausgegeben hatte.14 Die übrigen 26 Mitglieder zahlten jeweils 35 Goldfranken ein.15 Am 27. April 1842 wurden im Laufe der ersten Vollversammlung die für die Mitglieder in Zukunft geltenden solidarischen Beistandsgrundsätze festgelegt. Die Behandlung kranker Köche sollte demnach durch einen verbandseigenen Arzt erfolgen. Auf der Verwaltungsratssitzung vom 2. Mai 1842 wurde beschlossen, dass Doktor Moulin, dessen Praxis sich im 5. Pariser Arrondissement in der Rue Marguerite Nr. 33 – 35 befand, als erster Vereinsarzt jährlich einen Betrag in Höhe von 400 Franc für seine Aufwendungen beziehen sollte. Bei der zweiten Organisation handelte es sich um die 1876 gegründete Persévérance, deren Mitglieder als Köche in bürgerlichen Privathaushalten arbeiteten. Thomas Génin Im Jahre 1881 kam der intelligente und umtriebige Koch Thomas Génin (1835 – 1888) auf den Gedanken, eine erste Berufsschule für Köche zu gründen. Der Küchenchef von Léon Gambetta namens Trompette, mit dem er Bekanntschaft gemacht hatte, bestärkte ihn unter der Protektion Gambettas selbst in seinen Plänen.
13 Gewalttätigkeiten und Diebstahl von Nahrungsmitteln sind Gegenstand der folgenden Beschwerden: „4. April 1851. Der Bürger Malatrait tritt vor den Verwaltungsrat, um der Entscheidung vom 7. März zu widersprechen, mit der er wegen Trunkenheit im Hause von Étevé, Barrière du Maine ausgeschlossen wurde. Er erklärt, dass er tatsächlich betrunken war, dass dies aber zum ersten Mal vorgekommen sei. Er bittet den Verwaltungsrat um Nachsicht und gelobt, dass dies nicht wieder vorkommen werde. Nachdem ihm der Ratsvorsitzende einen Tadel ausgesprochen hat, beschließt der Verwaltungsrat einstimmig seine neuerliche Aufnahme als Vereinsmitglied.“ 14 Billiard, Wemberger, Aayer, Ph. Sainteville, Joly, Blondel, Le Roy, Fontaine, Coquelet, Sauvage, Tournant, Vide, Bergere, Chatelain, Alexande, Bellier, Magnier, Legrand, Leter, Montoy und Plumeray. 15 Savary, Huot, Hautecloque, Bellot, Jo Sainteville, Tortez, Lefevre, Debenne, Dessales, Daniel, Denis, Petit, Courtant, Mottrel, Guillet, Villuroze, Mude, Germot, Vendome, Hervillard, Rouiller, Le Comte, Gabriel, Dunant, Lafosse und Hemetan.
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Im selben Jahr erfuhr Thomas Génin von den Plänen Joseph Favres, der eine Union universelle pour le progrès de l‘art culinaire, d. h. eine Weltvereinigung für den Fortschritt der Kochkunst, mit Niederlassungen in allen großen Städten der Welt gründen wollte. Am 12. Mai 1883 wurde die Pariser Zweigstelle in der Rue Laffitte Nr. 52 eröffnet. Eines der Ziele bestand in Ausstellungen zu kulinarischen Ausschreibungen und der Förderung der sich weiterentwickelnden Kochkunst.16 In dem Gründungskomitee saßen 23 Mitglieder aus den vier bereits bestehenden Zusammenschlüssen Saint Laurent, Persévérance, Cuisiniers de Paris und Assiette au beurre, die jeweils ihre Unabhängigkeit behielten.17 Die Profite aus den Ausstellungen und Ausschreibungen sollten zur Einrichtung der ersten Berufsschule für Koch- und Ernährungswissenschaften genutzt werden, doch erwiesen sich die finanziellen Ressourcen der Organisation als unzureichend. Erst am 14. Dezember 1882 kam es im Palace-Théâtre und im Skating-Théâtre zur ersten kulinarischen Leistungsschau. Zu diesem Zeitpunkt machte Thomas Génin die Bekanntschaft des Journalisten Chatillon-Plessis, der mit der Petite Revue eine Zeitschrift für Literatur, Kunst und Gastronomie leitete, die als Publikationsorgan der Pariser Gourmet-Vereine diente. Dem zum Vorsitzenden des Gründungskomitees gewählten Thomas Génin gelang es schließlich, Chatillon-Plessis zur Schaffung einer alle zwei Wochen erscheinenden Fachzeitschrift mit dem Titel L‘art culinaire zu überreden. In der ersten Ausgabe vom 28. Januar 1883 formulierten die Zeitschriftengründer ihr Anliegen: Diese Zeitschrift dient von nun an als Bindeglied für alle Angehörigen des Kochgewerbes, für all jene, die im Sinne des wissenschaftlichen Fortschritts arbeiten, insofern hier alle konvergierenden Ideen zusammenlaufen. Sie beschäftigt sich mit allen dazu gehörigen Fakten und Ereignissen und berichtet darüber […].
Von den großen nationalen Presseorganen wurde L‘art culinaire mit Lob überschüttet. Verwaltungstechnisch war die Zeitschrift von der Union universelle unabhängig, deren Pariser Generalsektion im Zuge interner Auseinandersetzungen kurze Zeit später auf einer außerordentlichen Vollversammlung am 24. Mai 1883 in die Société des cuisiniers français umgewandelt wurde. Getragen von seinem patrio16 Ähnlich wie die anderen Zusammenschlüsse hatte sich die Union universelle das Ziel gesetzt: „1. die Weiterentwicklung der Kochkunst durch die Auswertung ernährungswissenschaftlicher Kenntnisse nach Kräften zu unterstützen; 2. Solidarbeziehungen zwischen den Mitgliedern, die die vorliegenden Statuten anerkennen, zu fördern und zwischen den Gesellschaften, die dieselben Vorstellungen vertreten und die sich in Amerika, England, Spanien und mehreren anderen Zentren Europas befinden, für Verständigung zu sorgen; 3. in der Zeitschrift L‘art culinaire, ihrem einzigen offiziellen Sprachrohr, alles, was für die Anliegen der Berufsgemeinschaft, die tägliche Berufspraxis und die erzielten wissenschaftlichen Fortschritte von Belang ist, zu veröffentlichen; 4. alle künstlerischen und wissenschaftlichen Projekte aktiv zu fördern, denjenigen, die sich durch ihren Einsatz für die Vereinigung auszeichnen, Hilfs- und Unterstützungsleistungen zukommen zu lassen, die kulinarischen Einrichtungen und Kreationen zu unterstützen und all jene zu belohnen, die dessen würdig erachtet werden.“ 17 Zu diesem Komitee gehörten die Herren: Raff, Pipouteau, Leroy, Mention, Bernier, Attrait, Valentin, Rierquin, Saute, Pieredon, Nichoux, Locque, Leclerc, Perreux, Capulet, Bienfait, Bidault, Gilly, Sirot, Morisset, Clement und Plee. Zum Vorsitzenden wurde Thomas Génin gewählt.
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tischen Elan nannte der Koch Louis Kanneingieser, der der Sitzung vorsaß, die Gründe für die Namensänderung: Was sind wir? Französische Köche. Was ist die Küche weltweit, sowohl was die gemeinen Handwerker betrifft als auch die der wenigen Künstler? Es ist die französische Küche […]. Aus der Bezeichnung Weltvereinigung sprach eine gewisse Unlogik, insofern wir unseren eigenen Wert und unsere nationale Bedeutung in den Schatten zu stellen schienen.18
Die solidarischen Berufsverbände der Köche als heimliche Helfer der Arbeitgeber? In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bildeten die Köche alles andere als eine einige Berufsgemeinschaft. Die verschiedenen Hilfsorganisationen standen in Konkurrenz zueinander, und der Organisationsgrad der Köche war gering. Mehr als die Hälfte der 4.000 Köche, die Paris nach 1870 zählte, gehörte keinem solidarischen Hilfsverein an. Der Rest war Mitglied in einer Vielzahl von Organisationen, von denen einige – wie etwa La Fraternité prévoyante – nur kurze Zeit existierten. Ein Koch der damaligen Zeit sucht nach Erklärungen dafür: Es ist festzustellen, dass – sieht man einmal davon ab, dass manche Angst haben, bei den Arbeitgebern unangenehm aufzufallen, und andere ihre Person übermäßig wichtig nehmen – Gleichgültigkeit und Trägheit die beiden wesentlichen Charakterzüge unserer beruflichen Grundhaltung sind. Während die einen in ihrer sicheren Anstellung zu glücklich sind, als dass sie sich um Fragen allgemeinen Interesses kümmern würden, sind die anderen so unglücklich, dass sie nicht mehr genug Kraft besitzen, um auch noch in dieser Richtung tätig zu werden. Angesichts einer solchen vorherrschenden Grundeinstellung und einer solchen Zusammensetzung unserer Berufsgemeinschaft hat ein praktischer Sozialismus gewiss nur wenig Sinn. Und wir können in unserer Berufssphäre davon ausgehen, dass das (so genannte) Führungspersonal noch auf lange Sicht jedwede Reform und jedweden Fortschritt verhindern wird.19
Gleichgültigkeit und Inkompetenz waren allerdings nicht die einzige Erklärung. Der Anreiz zum Beitritt zu einer solidarischen Hilfsorganisation war umso geringer, als diese die Vermittlungsbüros nicht hatte ersetzen können. Außerdem ging es den beiden wichtigsten Hilfsvereinen, auch wenn sowohl Arbeitgeber als auch Arbeiternehmer aufgenommen wurden, vor allem darum, die Nachfrage und die Bedürfnisse der Arbeitgeber, d. h. der Restaurantbetreiber und der Küchenchefs, zu befriedigen. Ein Beispiel dafür ist das von der Société des cuisiniers de Paris den Arbeitgebern zugestandene Recht, angestellte Arbeiter fristlos und ohne Abfindung zu entlassen.20
18 Louis Kanneingieser, „La Société des cuisiniers français“, in: L‘art culinaire 1883: 78. 19 In: Le progrès des cuisiniers, 15. März 1888. 20 1879 wurden die Satzungen der Organisation um folgenden Zusatz erweitert: „Aus Respekt vor der Freiheit der Arbeiter und der Arbeitgeber erklärt die Société des cuisiniers de Paris, dass jeder am Ende eines Arbeitstages und unter Einhaltung einer angemessenen Frist von seiner Arbeitsstelle zurücktreten kann und dass sich auch die Restaurantchefs nötigenfalls von ihren Köchen trennen können, ohne dass eine der beiden Seiten zu Entschädigungszahlungen verpflichtet wäre.“
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Die Chambre syndicale des cuisiniers Über diese Entwicklung beschwerten sich zahlreiche Arbeiter, die aus der Société des cuisiniers austraten und die Chambre syndicale des cuisiniers, die Gewerkschaftskammer der Köche, gründeten. Einer dieser Arbeiter, ein ehemaliges Mitglied des Verwaltungsrates der Société des cuisiniers, beschreibt diesen Prozess wie folgt: Vergangenheit und Zukunft […] Diese Reformen, die einige meiner Freunde und ich selbst als soziale Reformen bezeichneten, brachten letztlich nur die Führungsriege in der Société des cuisiniers in Rage. […] Der solidarische Hilfsverein durfte sich wegen seiner staatlichen Bezuschussung nicht mit politischen oder religiösen Fragen befassen. All das war in mustergültigen Statuten festgehalten. Noch weniger konnte oder durfte er sich um soziale Belange kümmern […] Wir wussten natürlich, dass unsere Gegner in diesem Punkt Recht hatten, wollten aber unsere Ideen nicht aufgeben und dachten daher daran, dass dort, wo der bestehende Verband keinerlei Handlungsfähigkeit besaß, eine andere Form der gesellschaftlichen Organisation ohne besondere Einschränkungen und mit einer größeren Handlungsfreiheit mächtig genug wäre, um sich mit solchen Vorschlägen auseinanderzusetzen, darüber zu debattieren und sie letztlich bei den staatlichen Behörden durchzusetzen. Eine Gruppe von Gesellschaftern hatte sich unter dem ausgesprochen französischen Namen „Die fröhliche Bande“ zusammengeschlossen, die sich schließlich in den Cercle de Fraternité des cuisiniers de Paris, den Brüderlichkeitszirkel der Pariser Köche, umbenannte.21 Wir machten uns ans Werk, und nachdem wir innerhalb der Arbeiterpartei22 eine Vertretung des Brüderlichkeitszirkels gegründet hatten, brachte der Verband auf den verschiedenen Landesparteitagen all diese emanzipatorischen Fragen vor. Wir begriffen, dass wir unser Ziel durch die Einrichtung einer Gewerkschaftskammer erreichen konnten, und so ernannte der Brüderlichkeitszirkel eine Kommission, die eine Gewerkschaftskammer der Pariser Köche organisieren sollte.23
In der Vorstellung eines der Förderer dieser Gewerkschaft und Mitarbeiters der Zeitung Le Corsaire, J. Barberet, sollte dieser Verband als Vermittlungsbüro fungieren und zugleich ein Geschäft für Kochprodukte führen, das die Auslieferung von Lebensmitteln an Privathaushalte sicherstellen sollte: Die neue Organisation, die alle Arbeiter im kochenden Gewerbe zusammenschließen könnte, was nur Vorteile hätte und keinerlei Nachteile mit sich brächte, wird die Arbeit der solidarischen Hilfsvereine in keiner Weise beeinträchtigen. […] Die Köche, die der Organisation beigetreten sind, könnten […] für sich und ihre Kunden ein wöchentliches bzw. monatliches Abonnement abschließen und ihrem festen Kundenstamm die Gerichte nach Hause liefern.
21 Diese Vereinigung, die in der Rue des Petits Carreaux in Paris ihre Sitzungen abhielt, wurde als gesetzlich anerkannte und regelmäßig tagende Vereinigung durch einen Erlass des Polizeipräfekten vom 22. Februar 1882 unter dem Namen Cercle de la Fraternité des Cuisiniers als eigenständiger Verband eingerichtet. 22 Die französische Arbeiterpartei, die Parti ouvrier français, war eine der ersten sozialistischen Parteien in Frankreich. Sie wurde auf Betreiben von Jules Guesde und Paul Lafargue, Schwiegersohn von Karl Marx, in den 1880er Jahren gegründet. In der marxistisch inspirierten Präambel ihres Programms hieß es, dass „die Emanzipation der produktiven Klasse die Emanzipation aller Menschen ohne Unterscheidung nach Geschlecht oder Rasse“ bedeute und dass „die Produzenten erst dann frei sind, wenn sie im Besitz der Produktionsmittel (Boden, Fabriken, Schiffe, Banken, Kredite usw.)“ seien. 23 In: Le progrès des cuisiniers, 1. Juli 1887.
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Am 20. September 1872 beschloss die Versammlung der Köche und Küchenhilfen des Verbandes der Fraternité prévoyante deren Umwandlung in eine Gewerkschaftskammer der Köche. Um ihre Mitgliederzahl zu erhöhen, richtete diese Chambre syndicale 1873, d. h. kaum ein Jahr nach ihrer Gründung, einen Aufruf an alle im Hotel- und Gaststättengewerbe Beschäftigten: An alle Köche und Caféhausbetreiber, Auf gemeinsame Initiative der Gewerkschaftskammer der arbeitenden Köche und Küchenhilfen wird ein einheitlicher Gewerkschaftsverband für alle Angestellten im Hotelgewerbe, in der Restauration und im Caféhausbetrieb mit der Bezeichnung Vereinigte Gewerkschaft der Köche, Caféhausdiener, Restaurantkellner und Sommeliers gegründet. Die Gewerkschaftskammer informiert alle Arbeiter in diesen Berufssparten darüber, dass das einzige Mittel, um den überteuerten Leistungen der Stellenvermittlungsbüros, an die die verantwortlichen Leiter im Gastgewerbe sich in Ermangelung alternativer Möglichkeiten zu wenden gezwungen sind, wirksam Einhalt zu gebieten, in dem Zusammenschluss aller genannten Angestellten in einer Einheitsgewerkschaft besteht. […] Das Ziel des neu gegründeten Gewerkschaftsverbandes wurde folgendermaßen bestimmt: Erstens sollen unter allen Arbeitern dieser Berufsgruppen regelmäßige Beziehungen aufgebaut werden, um sich besser kennen und schätzen zu lernen. Zweitens sollen bei der Arbeitssuche alle erdenklichen Mittel eingesetzt werden, um nicht auf die Leistungen der Stellenvermittlungsbüros angewiesen zu sein. Drittens soll versucht werden, die Zustimmung der Herren Arbeitgeber zu erlangen, damit die Streitigkeiten, zu denen es auf diesem Arbeitsgebiet kommen kann, vor einer zur Hälfte aus Arbeitgebern und zur Hälfte aus Angestellten bestehenden Handwerkskammer gütlich gelöst werden. Viertens soll jedwede Person, die den Beweis antritt, dass sie seit mindestens einem Jahr einen der genannten Berufe ausübt, das Recht auf eine Mitgliedschaft in der Gewerkschaftskammer haben.
Der Aufruf zu mehr Geschlossenheit verhallte jedoch weitgehend ungehört, und zwischen 1874 und 1878 hatte die Gewerkschaftskammer mehrere schwere Jahre zu überstehen. Auf die drohende Konkurrenz durch die Gewerkschaftskammer reagierten die Stellenvermittlungsbüros mit der Weigerung, gewerkschaftlich organisierte Arbeiter zu vermitteln. Unter diesen Umständen zögerten viele, bevor sie dem Gewerkschaftsverband beitraten,24 wenn sie nicht gar der Versuchung erlagen, sich anderen Berufsverbänden anzuschließen, die sich zu diesem Zeitpunkt gerade bildeten. Dazu zählte etwa auch der Cercle d‘études sociales et professionnelles des cuisiniers de Paris, der 1878 gegründet wurde und der sich nicht ausschließlich mit dem Kampf gegen die Stellenvermittlungsbüros befasste. Die parlamentarische Kommission Die Gewerkschaftskammer hatte einen anhaltenden Aderlass erlebt und zählte nur noch rund vierzig Mitlieder, als sie 1884 zu einer Stellungnahme vor die parlamen24 In einer Notiz der Gewerkschaftskammer heißt es: „Der gewählte Rat der Chambre syndicale ouvrière des cuisiniers protestiert energisch gegen die in den Pariser Küchen kursierenden Gerüchte, denen zufolge die Gewerkschaftskammer nur zu dem Zweck gegründet worden sei, die Société de secours mutuels in ihrer Bedeutung zu schwächen. Der Rat weist nachdrücklich darauf hin, dass die Aufgabe der Gewerkschaftskammer darin besteht, die Interessen aller Arbeiter zu vertreten sowie nach Kräften zu der Abschaffung der Vermittlungsbüros beizutragen, und dass es ihr keineswegs darum geht, die Société de secours mutuels in ihrer Tätigkeit zu behindern, sondern diese nach Maßgabe ihrer Kräfte mit allen Mitteln zu unterstützen.“
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tarische Kommission – die „Kommission der 44“, wie sie aufgrund der Zahl ihrer Mitglieder hieß – geladen wurde, die eine Untersuchung über die Arbeitsbedingungen in Frankreich durchführte. Die Antworten des stellvertretenden Vorsitzenden der Gewerkschaftskammer Thomas Génin auf die Fragen der Kommission zeichnen ein Bild der damals herrschenden Arbeitsbedingungen, zu einem Zeitpunkt, als die Köche noch nicht für eine Professionalisierung ins Feld gezogen waren. Damals ließen sich die Köche drei großen Berufsgruppen zuordnen, nämlich der Gruppe der Restaurant- und Hotelköche, der Gruppe der in bürgerlichen Privathaushalten angestellten Köche sowie denjenigen Köchen, die in den Großküchen der Krankenhäuser, Schulen, Gefängnisse und Armee arbeiteten. Auch wenn der bei weitem größte Teil der 16.000 Pariser Köche25 die meiste Zeit des Jahres über eine Anstellung hatte, waren rund 1.000 bis 1.200, d. h. 6 bis 7 Prozent aller Köche, von der Arbeitslosigkeit und insbesondere von der Saison bedingten Erwerbslosigkeit in den Wintermonaten betroffen. Die Köche machten den Stellenvermittlungsbüros, die immer noch den Arbeitsmarkt beherrschten, den Vorwurf, aus Eigeninteresse häufige Arbeitsplatzwechsel zu fördern. Ein anderes Mitglied der Chambre syndicale, der Koch Chêne, fasste das in folgenden Worten zusammen: Nein, die Stellenvermittlungen tragen die Verantwortung für die Arbeitsplatzwechsel. Sie haben uns in der Hand. Wir können ohne ihre Hilfe keinen Arbeitsplatz finden. Wer sich ihnen nicht beugen will, weiß, was ihn erwartet: Er kommt auf eine rote Liste, was bedeutet, dass er nicht lange an einem Platz bleiben wird und dass er unter dem geringsten Vorwand vor die Tür gesetzt werden kann.
In den 1880er Jahren wollte der Gewerkschaftsverband also den solidarischen Hilfsorganisationen, denen er ihre abwartende Haltung und Gleichgültigkeit vorwarf, ihren Platz streitig machen. Um diesen emanzipatorischen Kampf zu führen und einen „praktischen Sozialismus“ zu betreiben, wurde sogar eine Zeitschrift ins Leben gerufen. Schon der Name der Zeitschrift – Le Progrès des cuisiniers – war Programm, und die zusätzliche Bezeichnung als Organ der Arbeitergewerkschaftskammer der Köche erinnerte an ihre Funktion. Das Zielpublikum der Zeitung, die ab 1886 monatlich erschien, waren nicht nur die Köche, sondern auch die Küchenjungen. So hieß es dort: Die Küchenjungen gehen uns nützlich zur Hand. Deswegen dürfen wir sie bei den Emanzipationszielen, die wir uns gesetzt haben, nicht einfach übergehen.26
Das Gewerkschaftsorgan führte einen Kampf gegen die Stellenvermittlungsbüros und machte sich für einen wöchentlichen Ruhetag und die Anerkennung der Sozialrechte der Köche stark.27 Die Zeitung stellte sich in den Dienst der Gewerkschaftskammer und bestimmte ihre Ziele folgendermaßen: 25 Diese Zahl umfasst das gesamte Küchenpersonal, d. h. sowohl die Küchenchefs als auch die Jungköche, Spezialköche, Auszubildenden und Küchenjungen. 26 In: Le progrès des cuisiniers, 1. März 1886. 27 „Uns will scheinen, dass es keine übertriebene Forderung wäre, wenn prinzipiell jeder in der
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Der Kampf für die Berufsgemeinschaft der Köche (1842 – 1880) Im Anschluss an ihre Neugestaltung haben wir sogleich auf die Fahnen geschrieben: 1. Die Abschaffung der Stellenvermittlungsbüros, 2. einen Ruhetag pro Monat, 3. die Anerkennung der Köche als Berufsgruppe bei der Arbeitsgerichtsbarkeit, 4. die hygienischen Verhältnisse in den Küchen.28
Alle Berichte und autobiographischen Schriften sind in diesem Punkt gleichlautend: Die „hygienischen Missstände“ in den Küchen waren die Regel, und sie wurden ausnahmslos angeprangert. Küchenchefs und Arbeiter kritisierten die fehlende Küchenhygiene im ausgehenden 19. Jahrhundert: Die große Mehrheit der Köche arbeitet im Untergeschoss […]. In Paris gibt es unzählige Küchen, in die keine frische Luft dringt. Die Köche arbeiten vor einem Ofen. Hinter ihnen dreht sich ein Spieß, der mit Kohle oder Holz beheizt wird. Insgesamt herrscht hier eine Temperatur von 65 bis 70 Grad. Kann man solche Arbeitsbedingungen lange aushalten? Natürlich nicht! Alles wäre nur halb so schlimm, wenn wir bei dieser Hitze ein wenig frische Luft bekämen. Die meisten Köche werden nicht einmal vierzig Jahre alt. Die solidarischen Hilfsorganisationen wissen, wie viele Kranke sie zu pflegen haben und wie viele Tote sie jeden Monat verzeichnen […]. Es ist nicht zumutbar, den Männern solche Arbeitsbedingungen aufzuzwingen. Jeder wird zugeben, dass ein wenig frische Luft für die Arbeiter in unseren Küchen, deren Arbeitstage vierzehn Stunden zählen und die nur dann ein wenig verschnaufen können, wenn sie arbeitslos werden, keine übertriebene Forderung darstellt.29
Während die Frage der Hygiene und gesunder Arbeitsbedingungen in den Küchen die Gewerkschaftskammer mobilisierte, berichtete der Progrès des ouvriers darüber, wie die Kammer bei den Behörden zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen vorstellig wurde. Schon 1886 veröffentlichte eine Initiativkommission diesbezüglich eine informative Notiz: Wir wollen hier die ungesunden Arbeitsbedingungen in den meisten Küchen der Pariser Restaurationsbetriebe nachweisen. Wir wollen den Nachweis ohne jegliche Übertreibung führen […]. Der gegenwärtige Zustand ist derart unwürdig, dass die Öffentlichkeit erstaunt sein dürfte, wenn sie erfährt, wie man überhaupt Tag für Tag eine 14-stündige Arbeit in dem Brutofen der Pariser Küchen aushalten kann. Natürlich haben alle Berufe ihre Schattenseiten. Wir jedoch sind nicht nur monatelang arbeitslos, sondern werden zu allem Unglück auch noch buchstäblich auf kleinem Feuer gebraten, wenn wir Arbeit haben […].30
Einen Monat später erinnerte die Kommission an ihr Anliegen einer „überfälligen Reform“ und an ihr selbst gestecktes Ziel: „das Wohl unserer Korporation“.
Küche tätige Arbeiter Anspruch auf einen Ruhetag pro Monat hätte“, in: Le progrès des cuisiniers, 1. März 1886. 28 In: Le progrès des cuisiniers, 15. Juni 1886. 29 Dieser Text stammt von einer Sonderinitiativkommission aus Pariser Köchen und wurde von ihrem Vorsitzenden L. Plée, ihrem Sekretär Barafort und den Mitgliedern: E. Joly, A. Frémont, Aiglehoux und Mettre [sic] unterschrieben. 30 Diese Notiz trägt die Unterschrift der Mitglieder der Initiativkommission der Gewerkschaftskammer, d. h. des Vorsitzenden L. Plée, des Sekretärs Barafort und der Mitglieder Joly, Frémont, Aiglemoux, und Maître [sic].
Die solidarischen Berufsverbände der Köche als heimliche Helfer der Arbeitgeber?
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Die Zeitschrift publizierte eine Reihe von Beiträgen zu den hygienischen Bedingungen in den Küchen. In einem dieser Artikel mit dem Titel „Die Gesundheit der Köche“ stand etwa zu lesen: Darf man einfach zusehen, wenn Knochen, Fett und alle möglichen Küchenabfälle die Köche krank werden lassen und wenn diese bei großer Hitze acht bis zehn Tage in den schlecht belüfteten Untergeschossen bei Temperaturen zwischen vierzig und fünfzig Grad lagern und alles andere als wohlriechende Düfte verbreiten, die das Küchenpersonal einatmet.31
Andere Beobachter verweisen auf die Unfallgefahren durch Gasöfen und Gaslampen oder auch durch die mangelhaften Sicherheitsvorkehrungen und vor allem die fehlende Belüftung.32 Die Berufskrankheiten Schließlich beschloss die Stadtverwaltung, diesen Zuständen auf den Grund zu gehen. Die Untersuchung wurde dem Gesundheitsausschuss für unhygienische Wohnverhältnisse übertragen. Nach Abschluss der Nachforschungen veröffentlichte der Ausschuss einen Bericht, in dem tatsächlich unzureichende hygienische Zustände in den Küchen festgestellt und deren gesundheitsschädliche Konsequenzen für die Köche nachgewiesen wurden. Aus den Aussagen der Vertreter der Gewerkschaftskammer ergab sich, dass in dieser Kammer rund 1.400 Küchenarbeiter eingeschrieben waren und dass mindestens 2.000 keinen Mitgliedsausweis besaßen. Die Beschwerden über Küchen, in denen die Arbeiter beschäftigt waren, betrafen vor allem: 1) eine allzu große Hitze wegen der Koch- und Bratstellen […]; 2) den beengten Raum […]; 3) unzureichende Belüftungsanlagen […]; 4) Küchen, die unterhalb des Abwasserleitsystems der Straßen lagen […]; 5) Ansteckungsgefahr in den Küchen und den benachbarten Räumen durch Spül- und andere Abwässer […]; 6) verkommene Nahrungsmittel in manchen Vorratskammern […]33
Die Rolle der Ärzte Die verbandseigenen Ärzte der Société de secours mutuels des cuisiniers, Dr. Regeard und Dr. Calendreau, sahen einen Zusammenhang zwischen den Arbeitsbedingungen und den Berufskrankheiten, die sie bei den Köchen feststellten: In Wirklichkeit ist [die Küche] der schmutzigste Ort des Hauses. Nicht selten gibt es keine frische Luft, weil die Belüftungsschächte nach Beschwerden von Kunden oder Nachbarn verstopft wurden. Andernorts strömt durch die Belüftungsschächte eine eiskalte Luft in den Glut31 In: Le progrès de cuisiniers, 1. Oktober 1886. 32 In einem am 7. November 1883 vor der Société d‘hygiène publique in Bordeaux gehaltenen Vortrag nennt Dr. Arnozan aus Bordeaux drei interessante Unglücksfälle, die durch diese mangelnde Belüftung verursacht worden waren. 33 Laut Untersuchungsbericht, der von den Herren Hudelo und Napias im Auftrag des Unterausschusses vorgelegt wurde, der zur Prüfung eines staatlichen Regelungsprojekts der Restaurantküchen einberufen worden war und der sich aus den Herren Allard, André Gély, du Mesnil, Hudelo, Lhotte, Napias und Schacre zusammensetzte. Dieser Bericht war auch Gegenstand eines Vortrags, den Dr. Napias am 25. Juli 1888 vor der Société de médecine publique et d‘hygiène professionnelle hielt.
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Der Kampf für die Berufsgemeinschaft der Köche (1842 – 1880) ofen, in dem die Arbeiter ihrem Handwerk nachgehen. Manchmal handelt es sich auch um einen feuchten, unbelüfteten Keller, der nur mit Gaslampen beleuchtet ist. Wieder anderswo […] gibt es eine direkte Verbindungstür zwischen den sanitären Einrichtungen und der Küche bzw. der Speisekammer. Und das ist noch nicht das Schlimmste. In manchen Küchen erleichtert sich das Personal in Konservendosen, weil ihnen verboten wurde, einen bestimmten Raum zu durchqueren. In anderen Gaststätten steht in der Küche eine Kiste, in die die Tischabfälle hineingeworfen werden, die dort schnell verkommen und einen unerträglichen Gestank verbreiten.34
Dr. Regeard begnügte sich nicht mit einem kritischen Hinweis auf die Alkoholsucht unter den Köchen. Vielmehr erklärte er diese durch die Arbeitsbedingungen, die in den Küchen herrschten: Die Köche verbringen den ganzen Tag in einer von Dämpfen und Fettgerüchen geschwängerten Luft […]. Ihr ganzer Körper ist von Kopf bis Fuß völlig verschwitzt. Wenn sie also aus irgendeinem Grund ihren Glutofen kurz verlassen müssen, bekommen sie Bronchitis, Lungenentzündungen, Lungenödeme, Hämoptyse, Anfälle von akutem Gelenkrheuma und andere beruflich bedingte Krankheiten. […] Das ist aber noch nicht alles: Diese zweimalige Schwitzkur täglich raubt den Männern alle Kräfte. Sie sind durstig und müssen trinken, um den Flüssigkeitsverlust auszugleichen. Im Allgemeinen trinken sie Wein von mittelmäßiger Qualität, den sie von ihrem Betrieb bekommen. Daher ist die Alkoholsucht unter den Köchen auch so verbreitet. Da ihnen die üblichen Rationen nicht mehr genügen, kaufen sie sich von ihrem eigenen Geld noch welchen dazu. Am Ende ihres Arbeitstages sind sie erschöpft und ausgelaugt und gehen auswärts einen schmackhafteren Wein oder irgendeinen anderen Alkohol trinken. Und so geht es Tag aus, Tag ein.35
Bewusstseinsstörungen und eine allgemeine Lähmung sind die Folge des übermäßigen Alkoholkonsums. Auch andere Ärzte aus dem Umfeld der Hygienebewegung, die sich mit den Berufskrankheiten der Köche befassten, machten ähnliche Beobachtungen. Dr. Patissier erwähnte dazu noch Krampfadern und Geschwüre an den Beinen, Kopfschmerzen, Verbrennungen, Blutandrang, Schlaganfälle, Atemprobleme.36 Dr. Layet37 bemerkte, dass Köche und Konditoren, die den ganzen Tag in oft beengten und schlecht belüfteten Räumlichkeiten an ihren Öfen arbeiten, allen Folgeerscheinungen der Hitzequellen ausgesetzt seien. Durch das ständige Schwitzen und Einatmen einer warmen und oftmals ungesunden Luft entwickelten sie offenkundig anämische Zustände, von denen ihre gewöhnlich blasse Gesichtsfarbe, eine ausgeprägte Trägheit und Schlaffheit des Körpergewebes sowie in manchen Fällen ein aufgeblasenes Gesichtsgewebe sowie Ödeme am Knöchel zeugten. Zu den häufig auftretenden Krankheiten zählte Dr. Layet ebenfalls Magen- und Darmerkrankungen sowie Hautreizungen. Hände und Unterarme würden oft von Hautrötungen und Ekzemen befallen. Flechten und Akneerscheinungen seien an Körpergliedern und Oberkörper häufig anzutreffen. 34 In: Le progrès des cuisiniers, 15. Oktober 1888. 35 Ebd. 36 Philibert Patissier, Traité des maladies des artisans et de celles qui résultent des divers professions, d’après Ramazzini, Paris, J. B. Baillière, 1882. 37 Layet, Traité d‘hygiène des professions, Paris, 1875.
Die solidarischen Berufsverbände der Köche als heimliche Helfer der Arbeitgeber?
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In einer Notiz, die Dr. Calendreau an den beigeordneten Unterausschuss schickte, fasste er die wichtigsten pathologischen Krankheitsbilder, die er in den Untergeschossen und Hinterzimmern beobachtet hatte, folgendermaßen zusammen: Entzündung des Halsraumes und der Atemwege als Folge kalter Getränke und Zugluft; Verdauungsprobleme durch einen übermäßigen Alkoholkonsum; Lungenentzündungen. Mit Recht betrachteten die Köche sich als Hauptopfer ihrer Arbeitgeber, die keine Anstalten machten, den fehlenden hygienischen Zuständen in den Küchen Abhilfe zu verschaffen: Anhand der Todeszahlen, die die Société des cuisiniers verzeichnet, und ihrer Ausgaben für die Kranken lässt sich sagen, dass der Kranken- und Todesstand tagtäglich anwächst. Durch die modernen Gerätschaften und die Ansprüche einer immer umfangreicher werdenden Arbeit sind unsere Küchen immer schlechter belüftet […]. In die wenigsten Pariser Küchen dringt Tageslicht. Die meisten werden mit Gas beleuchtet, und angesichts einer körperzehrenden Arbeit, bei der man vierzehn Stunden lang ohne Luft und Licht auskommen muss, bleibt die Gesundheit auf der Strecke. Ein Koch, der zehn Jahre unter solchen Arbeitsbedingungen arbeitet, ist ein kranker Mann. Wenn ihn nicht die gleißenden Flammen um sein Augenlicht gebracht haben und ein Weiterarbeiten in seinem Beruf unmöglich machen, dann ist es die Krankheit, die ihn in das Krankenbett zwingt. […] Wir haben das fragwürdige Privileg, lediglich giftige und ungesunde Kohlenstaubdämpfe einamten zu dürfen, die sich direkt auf die Lungen niederschlagen. 48 Prozent der Köche, sterben an den Folgen von Lungenerkrankungen. Die Zahl der Köche, die nicht ihr 40. Lebensjahr erreichen, liegt bei 42 Prozent.38
Dementsprechend hoch waren die Morbiditäts- und Mortalitätsziffern dieser Lohnempfänger. In seiner Eigenschaft als verbandseigener Arzt der Société de secours mutuels des cuisiniers veröffentlichte Dr. Regeard seinerseits einige statistische Angaben: Krankenstand und Todesfälle unter Köchen Jahr
Gesamtfallzahl
Krankheitsfälle
Todesfälle
1883
1336
203
34
1884
1436
186
30
1885
1421
134
22
1886
1507
180
30
Quelle: Le Progrès des cuisiniers, 15. Dezember 1888.
Wenn man die Sterblichkeitsrate der Köche mit der der erwachsenen Einwohner von Paris im Alter von 20 bis 50 Jahren betrachtet, zeigte sich, dass bei den Köchen das Sterblichkeitsrisiko doppelt so hoch war.
38 In: Le progrès des cuisiniers, 15. August 1887.
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Der Kampf für die Berufsgemeinschaft der Köche (1842 – 1880)
Ein Plan zur Beseitigung der hygienischen Missstände Der Kampf um bessere hygienische Zustände in den Küchen führte dazu, dass der Unterausschuss für unhygienische Wohnverhältnisse einen Gesundheitsregelungsplan für die Küchen verabschiedete, mit dem die konstatierten Mängel – d. h. der beengte Platz, die unzureichende Beleuchtung und Belüftung, die übermäßige Hitze und die schlechten Abwasservorrichtungen – behoben werden sollten. In dem Dokument hieß es, dass die Küchen in den Restaurants sowie in den Cafés, Brasserien und Crèmerien mit Restauration mindestens drei Meter lang, zwei Meter fünfzig breit und zwei Meter achtzig hoch sein müssen. Vor der Vorderseite der Öfen ist eine mindestens einen Meter fünfzig breite Fläche freizuhalten. Die Arbeitstische sind fest mit dem Boden zu verschrauben, so dass die erwähnte Freifläche unter keinen Umständen verstellt werden kann.39
Artikel 2 verwies darauf, dass die Küchen zu einer Straße oder einem offenen Hof, dessen Größe bzw. Breite vier Meter fünfzig nicht unterschreiten darf, liegen und von dort Luft und Tageslicht beziehen müssen. Auf keinen Fall dürfen Luft und Tageslicht über einen kleinen Innenhof in die Küchen dringen. Das Tageslicht muss für die Küchenarbeit während des Tages genügen, ohne dass künstliches Licht vonnöten ist. Wenn abends Gaslampen Licht spenden, müssen diese mindestens zwei Meter über dem Boden angebracht werden.
Die weiteren Artikel betrafen die Belüftung der Küchen durch Belüftungsschächte (Artikel 3), die Einrichtung von Rauchabzugsvorrichtungen (Artikel 4), die räumliche Abtrennung der Wasch- von den Kochstellen (Artikel 5), die Undurchlässigkeit des Küchenbodens (Artikel 6), den direkten Abfluss des Abwassers in die Kanalisation (Artikel 7), die räumliche Trennung der Speisekammer von der Küche (Artikel 8), die Trennung von Pissoirs und Toiletten von den Küchen (Artikel 9). Durch seinen Kampf an der Hygienefront wollte der Progrès des ouvriers zeigen, dass es sich bei den Köchen um ganz normale Arbeiter handelte40 und dass sie als solche den Kampf gegen ihre Arbeitgeber, die Eigentümer von Betrieben aus dem Gaststättengewerbe, führen sollten.41 39 Der Plan wurde von dem Ausschuss für unhygienische Wohnverhältnisse auf den Sitzungen vom 23. Juli und 6. August 1888 verabschiedet. Von Interesse ist dieser Text weniger wegen der darin enthaltenen Vorschläge als wegen der Beschreibung der Missstände in den Küchen Ende der 1880er Jahre. 40 „Unterscheiden wir uns etwa von den Arbeitern anderer Berufsgemeinschaften, die uns gegenüber in den Genuss der speziellen Arbeitsgerichtsbarkeit kommen? Genau wie sie stehen wir in einem Abhängigkeitsverhältnis zu einem Arbeitgeber. Genau wie sie brauchen wir im Falle einer Auseinandersetzung eine Institution, an die wir uns wenden können, die uns dieselben Vorteile bietet wie den Arbeitern anderer Berufsstände“, in: Le progrès des cuisiniers, 1. August 1886. 41 „Wir, die wir seit mehreren Jahren für unsere Rechte kämpfen, protestieren dagegen, dass sich manche das Recht anmaßen, die Berufsgruppe, der sie anzugehören vorgeben, mit der von Dienstboten gleichzusetzen. Wir protestieren dagegen, weil ein Koch […] selbst in privathäuslicher Anstellung nicht gleichzeitig zwei so unterschiedliche Funktionen (wie die des Kochs und des Kammerdieners) ausüben kann, und wir sind der Ansicht, dass ein Individuum, das diese beiden Funktionen gleichzeitig ausfüllen möchte, nicht über die notwendigen Fähigkeiten verfügt, um die Arbeit, deren er sich fähig zu sein rühmt, sorgfältig ausführen zu können,“ zitiert nach Le progrès des cuisiniers, 15. Mai 1886.
Die solidarischen Berufsverbände der Köche als heimliche Helfer der Arbeitgeber?
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Wenn man die Zahl der gewerkschaftlich organisierten Köche betrachtet, die sich 1887 auf nicht einmal 1.200 belief, während Schätzungen zufolge zur selben Zeit zwischen 12.000 und 15.000 Köche in Paris ihren Beruf ausübten, war diese Positionen jedoch nur eine Minderheitenmeinung. Insofern war es nur natürlich, dass die Küchenchefs, die sich weigerten, die Köche mit Facharbeiter gleichzusetzen, protestierten, als die Restaurantköche 1890 in die Instanzen der Arbeitsgerichtsbarkeit aufgenommen wurden: Der Titel des Facharbeiters, der ihm per Gesetz zukommt, bedeutet für den Koch keine Höherstufung. Er wird dadurch lediglich einer Klasse zugeordnet und zwar einer niedrigeren Klasse, als es eigentlich wünschenswert wäre. Egal, was man tut, sagt, schreibt oder behauptet, das Kochen, wenn es denn richtig praktiziert wird, ist eine Kunst und kein Handwerk. Insofern sind Köche Künstler, keine Arbeiter. Den Stellenwert, den sie in der öffentlichen Wertschätzung verdienen, werden sie durch ihr Talent erhalten und nicht dadurch, dass sie in die Arbeitsgerichte aufgenommen werden. […] Die Berufsgruppe der Köche hat ganz besondere Traditionen, die sie von allen anderen Berufen unterscheiden und ihnen naturgemäß einen Platz unter den Freiberuflern zuweisen.42
Die Arbeiterkongresse Das änderte jedoch nichts an der Tatsache, dass die Köche, die Mitglied in der Chambre syndicale des cuisiniers waren, ihren Kampf zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen und zur Anerkennung ihrer Rechte fortsetzten. 1886 wurden alle Köche Frankreichs und Algeriens dazu aufgerufen, eine Vertretung zu einem Gewerkschaftskongress in Paris zu entsenden, dessen Tagesordnung folgendermaßen geregelt war: 1.) Allgemeine Versammlung der französischen Köche; 2.) Gründung einer Dachorganisation; 3.) Annahme eines Ruhetages pro Monat als Maßnahme zum Kampf gegen die Arbeitslosigkeit; 4.) Hygienische Zustände in den Küchen; 5.) Gesetz zur Arbeitsgerichtsbarkeit; 7.) Einrichtung von Gewerkschaftsniederlassungen in allen Gemeinden Frankreichs; 7.) Regelung des Ausbildungssystems; 8.) Lohnfrage; 9.) Schaffung einer Hilfskasse für beschäftigungslose Köche; 10.) Ernennung eines Bundesausschusses. Zwischen 1887 und 1896 sollten fünf derartige Kongresse stattfinden. Auf dem ersten Kongress, der in Paris im Jahre 1887 veranstaltet wurde, kam es zur Gründung der Fédération ouvrière des cuisiniers de France et d‘Algérie (Arbeiterbund der Köche aus Frankreich und Algerien). Außerdem wurde eine Prinzipienerklärung verabschiedet, in der unter anderem zu lesen war: Das Ziel der Fédération ouvrière des cuisiniers besteht darin, alle arbeitenden Kräfte unserer Berufsgruppe zur Durchsetzung derselben Ideen zu bündeln: […] Dazu müssen all jene, die den Beruf lehren, in den Stand versetzt werden, ihre Kenntnisse so schnell und zuverlässig wie möglich zu vermitteln. Allen muss die Möglichkeit offen stehen, eine Arbeit zu finden […]. Die Mitgliederzahl muss beschränkt werden und gerechte Proportionen erreichen, so dass ein jeder sich durch seine Arbeit seine Existenz sichern kann. Auch die Arbeitsstunden müssen auf eine vernünftige Dauer begrenzt werden […]. Durch die Einrichtung einer Hilfskasse muss sichergestellt werden, dass das Auskommen aller in Zeiten der Erwerbslosigkeit gesichert ist. […] Durch die Schaffung von gemischt besetzten
42 Chatillon-Plessis, „Le cuisinier-ouvrier“, in: L‘art culinaire, 30. April 1890: 77.
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Der Kampf für die Berufsgemeinschaft der Köche (1842 – 1880) Schlichtungsinstanzen, durch die Einbeziehung unserer Berufsgruppe in die Arbeitsgerichte, durch die Schaffung finanzieller Rücklagen im Konfliktfall muss sichergestellt werden, dass sie ihren Rechten Geltung verschaffen können […]. Notwendig ist darüber hinaus auch die Einführung und Förderung von hinreichenden Rentenzahlungen für die Älteren und von Pflegeheimen für die Kranken sowie die Reglementierung der Lehrzeit auf einer gerechten und sinnvollen Basis durch die Einrichtung spezialisierter Schulen.
Ein Zentralausschuss mit zehn Mitgliedern wurde mit der Veröffentlichung des Sprachrohrs des Dachverbandes, d. h. des Progrès des cuisiniers, beauftragt, dessen Untertitel nunmehr lautete: Organe de la Fédération ouvrière des cuisiniers de France et d‘Algérie. Auf dem zweiten Kongress, der im Jahre 1888 in Bordeaux abgehalten wurde, ging es im Wesentlichen um die Frage der Lehre. Eine dreijährige Ausbildung zum Koch bzw. Konditor wurde als Empfehlung ausgesprochen. Im dritten Jahr sollten die Lehrlinge als Entschädigung 25 Franc pro Monat erhalten. Außerdem sollten diese ausschließlich jene Arbeiten ausführen müssen, die Teil ihres Lehrprogramms seien. Ein Lehrgeld sollte für die Betroffenen dabei nicht anfallen, und die Arbeitsbedingungen vertraglich zwischen beiden Parteien festgelegt werden. Nach Ende der Lehrzeit sollte der Lehrling von dem für die Ausbildung verantwortlichen Arbeitgeber ein Zeugnis ausgehändigt bekommen. Dessen Gültigkeit würde sodann von zwei kompetenten ausgebildeten Köchen anerkannt, die ebenfalls bei der Abschlussprüfung zugegen sein müssen. Die Mitgliedschaft in kochgewerblichen Verbänden sollte nur denjenigen offen stehen, die ihre Lehre abgeschlossen und eine entsprechende Bescheinigung vorweisen können. Eine eigens dafür vorgesehene Kommission sollte mit der Kontrolle der Lehre betraut werden. In den Jahren 1890 und 1893 fanden weitere Kongresse in Marseille bzw. Paris statt. Auf diesem vierten Zusammentreffen ging es um die Lohnfrage. Gefordert wurde ein Mindestlohn von 150 Franc monatlich für Köche mit längerer Berufserfahrung und von 75 Franc für Nachwuchsköche sowie ein monatlicher Ruhetag. Darüber hinaus erging auch die Forderung nach einer Beschränkung der Zahl der Auszubildenden auf einen Lehrling bei zwei Köchen und auf zwei Lehrlinge bei fünf Köchen. Während prinzipiell gegen eine Vermittlung kulinarischer Kenntnis in Privathaushalten nichts einzuwenden war, sprach sich der Kongress gegen die Zulassung weiblicher Lehrlinge in den Großküchen aus. Auf dem fünften Kongress, der in Algier im Jahre 1896 stattfand, wurde die Abschaffung der Stellenvermittlungsbüros verlangt, die durch die Gewerkschaften und Berufsverbände ersetzt werden sollten. In diesem Sinne sollte der Zentralausschuss bei den sozialistischen Abgeordneten der Nationalversammlung vorstellig werden, um diese Forderung möglichst bald umzusetzen. Außerdem schlugen die Kongressteilnehmer vor, den Arbeitgebern und Familienvätern einen Musterlehrvertrag auszuhändigen, dem zufolge monatlich fünf Franc zur Einrichtung von Kochschulen von der Ausbildungsvergütung abgezogen werden sollten. Die anderen Vorschläge, die auf dem Kongress in Algier gemacht wurden, betrafen die Schaffung einer von Staat, Gemeinden und Arbeitgebern mitfinanzierten Rentenkasse; eine von den Arbeitgebern zu garantierende Pflichtversicherung für
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ausgebildete Köche, Konditoren und Süßspeisenköche gegen Arbeitsunfälle,43 die Schaffung von Stadtapotheken und kostenlosen Hilfsdiensten für kranke Köche. Nach den fünf Kongressen beschloss die Fédération ouvrière des cuisiniers, die mittlerweile immerhin 2.394, auf 20 verschiedene Gewerkschaften44 verteilte Mitglieder zählte den Beitritt zum Arbeiterdachverband der Confédération générale du travail.
43 Das Unfallversicherungsgesetz vom 9. April 1898 geht im produzierenden Gewerbe von dem Prinzip der persönlichen Haftung des Arbeitgebers aus, der sich bei privaten Versicherungsanstalten zu versichern habe. 44 Es waren die Gewerkschaften von Alger, Béziers, Bordeaux, Cannes, Carcassonne, Constantine, Grenoble, Le Havre, Lille, Marseille, Montpellier, Narbonne, Nizza, Paris, Rouen, SaintÉtienne, Toulouse.
Kapitel 3 Kochen als Beruf (1842 – 1880) Ich glaube allerdings, dass der Koch den ihm vorbestimmten gesellschaftlichen Platz erst dann einnehmen wird, wenn er durch unermüdliche Anstrengungen seine Kunst erhöht und wenn er seine Pflichten als intelligenter Arbeiter mit denen des rechtschaffenen Bürgers verbindet. Und dieses Ziel wird dann erreicht sein, wenn jeder Koch im Bewusstsein seiner Bedeutung danach strebt, am großen wissenschaftlichen Festbankett Platz zu nehmen. Philéas Gilbert, „La cuisine et les cuisiniers“, In: L’art culinaire 1883: 23.
Zwei neue Losungen: Kochunterricht und berufliche Ausbildung In den 80er und 90er Jahren des 19. Jahrhunderts wurden von den Köchen Gruppenstrategien begründet und dann weiterentwickelt, mit denen das Kochen als Fertigkeit und „Beruf“ im Sinne der als Bezugsmodell dienenden freien Berufe Anerkennung finden sollte.1 Eine Reihe von Köchen verglich damals ihre eigene Tätigkeit mit dem Arztberuf: Ich möchte versuchen, unsere Situation mit der Lage der so genannten Freiberufler zu vergleichen. Kümmert sich ein Arzt etwa nicht derart aufopferungsvoll um seine Patienten, dass man ihn Herr Doktor nennt und nicht einfach Herr Soundso? Gelten die Ärzte etwa nicht als Wissenschaftler und Künstler, obwohl sie einer viel abstoßenderen Tätigkeit nachgehen als wir? Mir käme es nie in den Sinn, unter dem Vorwand eines vergleichbaren Niveaus eine Herabstufung Höhergestellter zu fordern. Das hätte mit Fortschritt nicht viel zu tun. Gleichwohl werde ich immer auf eine Erhöhung unseres Leistungsstandes hinwirken, so dass wir letztlich ihre moralische Unabhängigkeit erlangen und den beruflichen Nachwuchs so erziehen, dass der allseits befürchtete Niedergang verhindert wird.2
So war das Ziel also klar vorgegeben. Inhalte und Methoden einer stärkeren Durchprofessionalisierung standen jedoch bei weitem noch nicht fest, selbst wenn ge1
2
Ende der 1880er, Anfang der 1890er Jahre wird in den kulinarischen Artikeln und Fachzeitschriften immer häufiger der Begriff des Berufes angeführt. Der Progrès des cuisiniers (15. Oktober 1887) möchte „den Köchen die für ihre Existenz und ihre berufliche Emanzipation notwendige Freiheit geben“, und in L‘art culinaire (31. Mai 1893) heißt es: „L‘art culinaire, die auf ihre, d. h. – wie Jules Simon sagen würde – die richtige, wahre Art Sozialismus betreibt, verkündet es seit mehr als zehn Jahren unaufhörlich und unermüdlich. Damit der kochende Künstler den ihm gebührenden Platz in der Gesellschaft einnimmt, muss er sich – außerhalb seiner beruflichen Aufgaben – durch seine Erziehung, seine Bildung, sein Auftreten und seine persönliche Würde seinen großen Lehrmeistern würdig zeigen.“ E. Granvillier, „Les hommes de cuisine“, in: L‘art culinaire (21. Mai 1893): 110.
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Kochen als Beruf (1842 – 1880)
meinhin Einverständnis darüber herrschte, dass die Grund- und Berufsausbildung der Köche verbessert werden müsse. Man war sich in dem Wunsch einig, dass der Zugang zum Kochberuf einer Kontrolle unterliegen sollte. Da es sich bei den Köchen, die sich dieses ehrgeizige Ziel auf die Fahne geschrieben hatten, zumeist um Dienstpersonal bzw. Angestellte handelte, mochte diese Aufgabe nahezu übermenschlich anmuten. Insofern ist es keine Überraschung, dass die Köche ihre selbst gesteckten Ziele nur zum Teil erreichen konnten. Es ist ihnen nie gelungen, nach dem Vorbild der freiberuflichen Kammerorganisation, der die Festsetzung der Regeln bei der Berufsausübung obliegt, eine berufsständische Organisation der Köche ins Leben zu rufen. Noch heute kann jeder sein Restaurant eröffnen, und niemand muss tatsächlich kochen können, um sich im Gastronomiegewerbe selbstständig zu machen. Eine Reform der Lehrzeit? Vor allem im Bereich der Berufsausbildung treten die Bemühungen und die Ergebnisse besonders klar zutage, weil hier die Lehrzeit reformiert und berufsschulische Ausbildungsstrukturen eingerichtet werden konnten. In der Zeit des Zweiten Kaiserreichs absolvierte man seine dreijährige Lehre, deren genauer Ablauf vertraglich festgelegt wurde, zumeist in einer Konditorei. Als Gegenleistung für Unterkunft, Ernährung und Ausbildung musste der Lehrling seinem Arbeitgeber zwölf Schürzen, zwölf Tücher und ein jährliches Lehrgeld in Höhe von 100 Franc aushändigen. In den 1850er und 1860er Jahren waren die Arbeits- und Lebensbedingungen für die Lehrlinge ausgesprochen hart: Eltern, die ihre Kinder vor dem 14. Lebensjahr in die Lehre geben, machen sich angesichts der abverlangten Arbeit eines Verbrechens schuldig. Sie machen sich einfach keinen Begriff davon, dass ein Lehrling wegen des morgendlichen Verkaufs schon um sechs oder sieben Uhr auf den Beinen ist. Egal ob es viel oder wenig zu tun gibt, er muss da sein. Aber natürlich gilt das nicht nur für ihn. Wenn die Arbeit in der Konditorei abgeschlossen ist, geht jeder seiner Aufgabe nach. Den Lehrlingen, die zuletzt gekommen sind, werden die schwersten Arbeiten aufgehalst. Sie müssen die Waren in die Stadt tragen, wieder zurückkommen, und so geht es den ganzen Tag ohne Unterlass hin und her. Gleich nach dem Mittagessen geht es an die nachmittägliche Arbeit, die bis zum Abend dauert. Und dann müssen auch noch die Vorbereitungen für den nächsten Tag getroffen werden. So sieht der Tagesablauf eines Lehrlings aus. Urteilen Sie selbst, ob man unter diesen Umständen einem Kind unter 14 Jahren eine solche Berufsausbildung zumuten sollte. Außerdem hat der Lehrling zumeist eine schlechte Schlafstätte, und oftmals muss er auch Dienstbotenarbeiten erledigen und den Laden abschließen.3
Als billige Arbeitskräfte waren die Lehrlinge tatsächlich vorwiegend mit Lieferund Reinigungsarbeiten beschäftigt. Im Regelfall wurden sie erst im zweiten Lehrjahr mit der eigentlichen Zubereitung von Esswaren betraut:
3
Bericht von M. Raff, Vertreter der Chambre syndicale des cuisiniers de Paris bei der Kochausstellung in Amsterdam im Jahre 1883. Zitiert nach L‘art culinaire 1884.
Zwei neue Losungen: Kochunterricht und berufliche Ausbildung
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Um vier Uhr früh waren wir mit unseren Marktkörben im Hallen-Viertel. Danach gingen wir zu der Fontaine des Innocents, wo sich die Lehrlinge gewöhnlich trafen. Nach den Einkäufen ging es wieder ins Geschäft, wo das große Reinemachen von Ofen, Laden, Boden, Auslagen begann. Die Herdplatten, Backformen, Tische und das ganze Küchenzubehör mussten komplett gesäubert werden. Danach erst begann die eigentliche Küchenarbeit. Fleischfüllungen wurden klein gehackt und in einem Mörser zerstampft. Elektrische Gerätschaften gab es damals noch nicht, und uns erging es schlecht, wenn uns die Füllung im Moment, da sie in den Ofen geschoben werden sollte, schlecht wurde! Danach mussten wir wieder zu den Kunden vom vorigen Tag, um die Behältnisse, mit denen wir die gelieferten Waren transportiert hatten, abzuholen. Die Zeit war knapp bemessen, und für zerbrochenes oder beschädigtes Material mussten wir selbst aufkommen.4
In den 80er Jahren waren sich alle Verbände bzw. Zusammenschlüsse von Köchen darin einig, dass es einer besseren, allgemeinen, berufsqualifizierenden Ausbildung bedürfe. In der Zeitschrift L‘art culinaire wurde etwa erklärt, dass der handwerkliche Unterricht vorrangig sei: Wissen und Fertigkeiten, Kenntnisse und praktisches Geschick, in einem Wort: eine genaue Kenntnis des Berufes sind das A und O.5
In Le progrès des cuisiniers vom 15. April 1886 forderte die Gewerkschaftskammer der Köche sogar, dass die Kochkunst den freien Künsten zugeordnet werden und dass man nicht länger von Lehrlingen, sondern von Schülern sprechen solle: Für Berufe, die Begabungen, eine solides Bildungsniveau, Einfallsreichtum und manchmal sogar ein gewisses Genie voraussetzen, ist die Bezeichnung Schüler am treffendsten. Zu diesen Berufen zählt auch die Kochkunst.
Um dieses Ziel zu erreichen und dem Kochberuf zur Anerkennung zu verhelfen, kam es von den 80er Jahren an zu zahlreichen Initiativen und Bemühungen, die sowohl die Lehre und die Berufsausbildung betrafen als auch werbende und die Öffentlichkeit aufklärende Maßnahmen. Ausschreibungen, Ausstellungen und Zeitschriften Am 18. Februar 1883 gründeten abtrünnige Köche der Union universelle pour le progrès de l‘art culinaire, die nur ein Jahr zuvor mit dem Ziel entstanden war, „durch das Studium der Ernährungswissenschaften die Entwicklung der Kochkunst möglichst nachhaltig zu begünstigen“, die Académie de cuisine.6 Nach dem Vorbild 4 5 6
Aus der dem Lehrlingsleben gewidmeten Chronik in: Le progrès des cuisiniers, 1. August 1887. Philéas Gilbert, „Considération sur les apprentis“, in: L‘art culinaire, 13. September 1885: 174. Die Statuten der Akademie besagten: „Die Académie de cuisine besteht aus dreißig ordentlichen und einer unbegrenzten Zahl auswärtiger Mitglieder. Die ordentlichen und auswärtigen Mitglieder werden auf Lebenszeit gewählt. Der Bewerber um das Amt eines ordentlichen Mitglieds muss eine gelehrte Schrift versiegelt vorlegen, die vor der versammelten Akademie erbrochen und verlesen wird. Akademiemitglied kann jeder werden, der einen der folgenden Berufe ausübt bzw. ausgeübt hat: Koch, Patissier, Konfiseur, Glacier, Metzger, Fabrikant von Lebensmittelkonserven. Die Altersgrenze liegt zwischen 25 und 50 Jahren. Um der Akademie beizutreten, genügt die Zusendung eines Aufnahmeantrags an den Akademieausschuss unter Beifügung eines polizeilichen Führungszeugnisses, einer Geburtsurkunde, einem Arbeitsnachweis, aus dem hervorgeht, dass der Antragsteller seit mindestens acht Jahren seinen Beruf ausübt, […].“
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Kochen als Beruf (1842 – 1880)
von Carême wollte diese Kochakademie die kulinarische Kunst und Wissenschaft fördern: Zu Beginn des Jahres 1883, nachdem eine Reihe von kulinarischen Vereinen verschwunden waren, die sich auf keinerlei positive bzw. wissenschaftliche Doktrin berufen hatten, mit der sie die lernwilligen Männer ihres Berufszweiges hätten an sich binden können, beschlossen einige entschlossene und hartnäckige Köche im engen Kreis die Gründung der Académie de cuisine, das Kochinstitut, von dem unser unsterblicher Carême immer geträumt hatte. Diese Bezeichnung erschien manchen als anmaßend und lächerlich, weswegen sie alsbald von älteren Verbänden, zu deren Gründungsmitgliedern die abtrünnigen Köche gehörten, heftig attackiert wurde. Die Begründer der neuen Akademie ignorierten jedoch Schmähungen wie Kritik und arbeiteten unverdrossen an der Verwirklichung ihres Programms. Ihnen ging es darum, die Kochkunst unter allen relevanten Gesichtspunkten weiterzuentwickeln, um die Köche und das Küchenpersonal mit allen erforderlichen und durch die neuen wissenschaftlichen Erkenntnisse gesicherten Ressourcen vertraut zu machen, die materiellen und geistigen Freuden des Lebens zu stärken, ohne das so erstrebenswerte Ziel aus den Augen zu verlieren, das schon der berühmte Cabanis Ende des letzten Jahrhunderts erkannt und in seinen Memoiren Du physique et du moral de l‘homme bereits so treffend zum Ausdruck gebracht hatte, nämlich: die Verbesserung der Rasse und die mentale Weiterentwicklung der Gattung.7
Die Gesellschaft veröffentlichte zwei nur sehr kurzlebige Fachzeitschriften: La science culinaire 1883 und L‘académie culinaire 1884 / 85. Parallel dazu zeigten sich die Professionalisierungsbemühungen des kochenden Gewerbes beispielsweise darin, dass Ausstellungen organisiert, kulinarische Wettbewerbe ausgeschrieben, Haushaltungsunterricht erteilt, die École professionnelle de cuisine gegründet und Kochkurse wie der Cordon bleu8 bzw. der Cours spécial de cuisine et de pâtisserie pour dames et demoiselles du monde von Auguste Colombié9 betrieben wurden. Dazu kamen natürlich noch die Fachzeitschriften wie die 1883 erstmals erscheinende Art culinaire10 oder La cuisine française11 sowie 7 8
Auszug aus dem Bulletin officiel de l‘Académie de cuisine, Jahrgang 1892. „Die Gründung unserer Zeitschrift Le cordon bleu und der illustrativen Kochkurse im Jahre 1894 verfolgte das Ziel, ein breites, nicht vorgebildetes Publikum mit einer Kochkunst vertraut zu machen, die bis dahin nur sehr schwer zugänglich war, weil sie von einer relativ kleinen Zahl an Spezialisten, die sie zumeist als ein Monopol zu ihrem alleinigen Nutzen betrachteten, ganz für sich vereinnahmt wurde. […] Wir freuen uns über die Feststellung, dass dank unserer Bemühungen zur Verbreitung der Kochkunst langsam ein Umdenken und ein Wandel der Gewohnheiten einsetzt. Die jungen Frauen von heute neigen weniger dazu, die Beschäftigung mit der Küchenarbeit als eine unwürdige Herabstufung zu betrachten. Auch wächst unter ihnen die Überzeugung, dass es unerlässlich ist, die Schwierigkeiten zu kennen, mit denen man bei der Ausführung eines Auftrages konfrontiert ist, um sinnvolle Anordnungen geben und die Leistungen eines Küchenchefs oder einer Köchin richtig würdigen zu können. […].“ 9 École de cuisine. Éléments culinaires à l’usage des demoiselles, Paris, l’Auteur, 1893. 10 Die am 19. Januar 1883 gegründete Fachzeitschrift Art culinaire war, wie in der ersten Ausgabe präzisiert wurde, das alleinige Werk von Köchen: „Alle Artikel stammen ausschließlich aus der Feder von Köchen, von denen jeder einzelne die volle Verantwortung für seinen Beitrag übernimmt […]. 11 Die 1891 gegründete Cuisine française et étrangère, deren Direktor E. Barthélémy Mitglied der Académie de cuisine de Paris war, setzte sich zum Ziel, „in unserem Land die kulinarischen Kenntnisse zu verbreiten, die berufliche und industrielle Bedeutung des Kochens zu stärken und, wenn uns dieser Ausdruck gestattet ist, den gastronomischen Geschmack einem ungebil-
Zwei neue Losungen: Kochunterricht und berufliche Ausbildung
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Zeitschriften wie Le gourmet, La cuisine pour tous, der 1892 gegründete Pot-aufeu: Journal de cuisine pratique et d‘économie domestique oder Culina aus dem frühen 20. Jahrhundert,12 die sich vor allem an Hausfrauen wandten. Das Hauptziel bestand darin, das Ausbildungsniveau der Köche anzuheben: Durch sein Sprachrohr L‘art culinaire will die Société des cuisiniers français mit Hilfe aller den Sinn für und die Kenntnis des Kochgewerbes fördern.13
Abgesehen von dieser sehr allgemein gehaltenen Absichtserklärung ging es aber bei der Gründung der neuen Zeitschrift vor allem um die Einrichtung einer neuen berufsbildenden Institution: Wir wünschen uns von ganzem Herzen diese Schule, in der die großen kulinarischen Prinzipien nicht mehr allein auf Theorien aufbauen, sondern auf handfesten Fakten, in der wir mit vereinten Kräften nach Mitteln und Wegen forschen, um den Gang unserer Arbeit zu beschleunigen und sie in der Praxis mit kaum merklichen Unterschieden bei gleich bleibenden Resultaten einfacher zu gestalten. […] Kenner und Laien, Anfänger und anerkannte Meister werden im Studium und der unmittelbaren praktischen Anwendung die richtigen Grundbegriffe einer sowohl künstlerischen als auch gesunden Arbeit entdecken und einen Sinn für das Schöne und Gute im Zusammenspiel mit dem Nützlichen entwickeln.14
Berufsschule für Köche Die geplante Gründung einer Berufsschule stieß innerhalb der Berufsgemeinschaft, die mit dem Lehrsystem über billige, um nicht zu sagen kostenlose Arbeitskräfte verfügte, nicht überall auf Gegenliebe, so dass die Förderer des Projekts noch einmal zu einer Klarstellung gezwungen waren: Wir wollen noch einmal darauf zu sprechen kommen, welches Ziel die Société des cuisiniers français mit der Gründung der Berufsschule verfolgt. Wir befürchten nämlich, dass der eigentliche Zweck dieser Schule von unseren Kollegen nicht verstanden worden ist, die in ihrer Gründung lediglich eine Beeinträchtigung der Interessen ihrer Berufsgemeinschaft sehen, die sich über kurz oder lang bemerkbar machen wird.
Mehrere Jahre lang war über das Projekt zur Gründung einer Berufsschule für Köche debattiert worden. Bereits 1878, als in Paris eine Niederlassung der Union universelle pour le progrès de l‘art culinaire gegründet wurde, hat der anerkannte deten Publikum näher zu bringen.“ Und an die Köche gewendet heißt es: „Vor allem wollen wir uns auch mit dem wissenschaftlichen Studium der Nahrungssubstanzen befassen, die für den modernen Koch, der in Zukunft zu einer wichtigen Aufgabe berufen ist, wenn er den hygienischen Nutzen der Kochwissenschaften zu vermitteln in der Lage ist, unerlässlich sein wird.“ Darüber hinaus wirbt die Cuisine française auch für die schulische Vermittlung von Kochkenntnissen. 12 Culina, „die ideale Zeitschrift für die Hausfrau aus dem Jahre 1908“, bestimmte ihre Ziele folgendermaßen: „Wir haben die berechtigte Hoffnung, dass jede Dame von Welt unsere Zeitschrift auf ihrem Lesetisch liegen hat und dass die Kochrezepte, die mondänen Ratschläge, die unzähligen Tipps für ein elegantes Heim ihr den Nutzen und die Originalität unserer Kreation vor Augen führen.“ 13 Auszug aus den Satzungen und verschiedener Sitzungsprotokolle der Société des cuisiniers français, Paris, 1883. 14 Philéas Gilbert, „Notre nouveau titre et l‘École professionnelle“, L‘art culinaire 1883: 88.
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Kochen als Beruf (1842 – 1880)
Sprecher der Köche Thomas Génin mit dem Gedanken einer solchen Einrichtung gespielt.15 Die geplante Berufsschule (Auszug aus einer Rede von Thomas Génin vom 8. Februar 1883 vor ein tausend Köchen) „Wir wollen eine beispielhafte Einrichtung mitten im Zentrum von Paris, die so gebaut sein soll, dass in die Küchen und Arbeitsräumen im Halbuntergeschoss genug Licht durch die Fenster der verschiedenen Fassaden dringt. Über den Küchen werden in einem großen Wartesaal alle hier gefertigten Produkte ausgestellt: Gerichte, Backwaren, Lebensmittel und Konfiserien, d. h. alles, was die Ernährung betrifft, sowie ein ständiges Büffet, mit dem die Kunden ihre Bestellungen vornehmen können. Seitlich dazu zwei Speiseräume mit zwei Tischen, an denen zu fester Stunde morgens und abends Gerichte serviert und Gäste von außerhalb zugelassen werden, die sich allerdings so früh wie möglich einschreiben müssen. Unter der Leitung der Lehrerschaft kümmern sich Schüler um den Tischservice. In jedem der beiden Räume herrschen spezifische Tarife. Im ersten Stockwerk befindet sich in der Etagenmitte ein Bankettsaal, um den herum mehrere Privatsalons für Familienessen oder gesellschaftliche Festveranstaltungen angeordnet sind, wobei diese Räumlichkeiten gegebenenfalls auch zu einem einzigen Saal zusammengeschlossen werden können. In der zweiten Etage werden in einem Sitzungsraum über dem Bankettsaal öffentliche theoretische und praktische Konferenzen vorgetragen werden, zu deren Zuhörern auch Frauen zugelassen sind. Den Schülern steht hier auch eine Bibliothek zur Verfügung mit allen seriösen älteren und neueren Werken. In mehreren Erholungs-, Billard- und sonstigen Spielräumen können sich die Köche nach ihrer Arbeit entspannen und mit den anderen Mitgliedern ihrer Berufsgemeinschaft verkehren. Von Zeit zu Zeit könnten im Konferenzsaal ebenfalls Konzerte veranstaltet werden.“ Für viele Köche, von dem Gefühl der männlichen Überlegenheit bei kulinarischen Dingen durchdrungen, war die Vorstellung einer gemischten Schule angesichts der rüden Konkurrenz der weiblichen Köche jedoch völlig inakzeptabel.
15 Es sei an dieser Stelle der Nachruf auf Thomas Génin aus L‘art culinaire (1888) zitiert: „Er hatte sich seinem Beruf mit Haut und Haar verschrieben. Sein ganzes Streben richtete sich darauf, die Situation seiner Kollegen zu verbessern. Gerade deshalb arbeitete er mit Feuereifer an der Gründung unsere Berufsschule, war er doch – wie er selbst sagte – der Überzeugung, dass die Köche, wenn sie in ihrem Beruf nur eine Meisterschaft erlangt haben, sich in Zukunft über ihren jetzigen Stand erheben werden. Nur wenn man ihnen den Sinn für die Schönheit ihrer Arbeit vermittelt, werden sie zu erstklassischen Köchen heranreifen. Nur wenn man sie die Liebe zu ihrer Kunst lehrt, kann man sie davor bewahren, sich angesichts der Beschwerlichkeiten ihres Arbeitslebens entmutigen zu lassen.“
Zwei neue Losungen: Kochunterricht und berufliche Ausbildung
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Kochunterricht für Frauen? Als 1887 in Rouen einer der ersten, kostenlosen, öffentlichen Kochkurse für Frauen angeboten wurde, reagierten die Köche fast einhellig auf diese – wie sie es empfanden – Bedrohung ihres Berufsstandes: Die Schülerinnen, d. h. die Hausfrauen, die aus diesem Unterricht die Prinzipien einer gewöhnlichen, schmackhaften, gesunden und leicht zuzubereitenden Küche beziehen, werden sich mit den vermittelten Kenntnissen begnügen. Es wird ihnen gewiss nicht darum gehen, selbst zu Meisterköchen heranzureifen, die mit ihren Lehrern auf eine Stufe gestellt werden wollen. […] Daher erweist man den Frauen einen großen Dienst, wenn man ihnen die Grundlagen des Metiers beibringt und sie zu einer einfachen und schmackhaften Küche befähigt. Und wie heißt es nicht so schön: Das Glück und Wohlbehagen im Haushalt der Arbeiter geht nur allzu oft durch den Magen.
Völlig unvorstellbar ist jedoch, dass Frauen auch höhere Ansprüche verfolgen und beispielsweise das, was Philéas Gilbert eine „gehobene Küche“ nannte, d. h. die Kochkunst der Küchenchefs, anstreben könnten. Dafür gebe es einen ganz einfachen Grund: Die Ideen von früher sind auch noch heute gültig, und es wird uns stets undenkbar erscheinen, dass eine Frau, sie mag eine noch so gute Ausbildung genossen haben, die Perfektion erreicht.
Eine ganz andere Meinung vertrat dagegen Marius Berte. Als einziges Mitglied seines Berufsstandes plädierte er in einem Artikel im Progrès des cuisiniers vom 15. Januar 1887 für eine „Küche der Frauen“ und verhieß den Köchinnen eine glänzende Zukunft: Ich kann ihnen versichern, dass ich niemals das Glück gehabt habe, in den hoch gelobten Restaurants an den Boulevards einen so köstlichen Rinderschmorbraten zu sehen, wie ihn unsere bezaubernden Französinnen aus der Provence mit einem so besonderen Geschmack zubereiten. Unsere Künstler der Boulevard-Küche machen angeblich Makkaroni à l‘italienne, die allerdings einem Vergleich mit den köstlichen Makkaroni, wie man sie in der Provinz und in Genua essen kann, in keiner Form standhalten. Die Hausfrauen dort sind nicht nur Köchinnen, sondern auch vollendete Gastgeber. […]. Tag aus Tag ein höre ich, dass die Frauen niemals zu der Arbeit, die wir leisten, fähig sein werden. Von einem rein materiellen Standpunkt aus betrachtet, mag das stimmen. Intellektuell aber nicht. […] Auf die lächerliche Vorstellung, Frauen hätten in den Berufsschulen nichts verloren, kann ich nur antworten, dass sie schon in naher Zukunft an der Spitze der Kochkunst stehen werden.16
Einen Monat später antwortete Philéas Gilbert grimmig: Ich glaube fest daran, dass diese Schule das Licht der Welt erblicken wird. Einen solchen Unsinn aber kann ich nicht akzeptieren. Ich stehe nicht alleine da, wenn ich sage, dass die Schule ausschließlich für Köche gedacht ist. […] Ich war noch nie und bin auch jetzt nicht dafür, dass die Frauen eine andere kulinarische Ausbildung erhalten sollten als die, die für die Hauswirtschaft unbedingt erforderlich ist, und meine Schlussfolgerungen in diesem Sinne sind schon lange bekannt.17 16 Marius Berte, „Les Écoles professionnelles“, in: Le Progrès des cuisiniers, 15. Januar 1887. 17 In: Le Progrès des cuisiniers, 15. Februar 1887. Schon vier Jahre zuvor hatte Philéas Gilbert eine berufliche Ausbildung junger Frauen abgelehnt: „Die meisten Köchinnen lernen ihr Hand-
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Das Projekt einer gemischten Berufsschule in Paris sorgte nicht allein für heftige Reaktionen innerhalb der Berufsgemeinschaft der Köche, sondern war auch einer der Gründe für deren neuerliche Spaltung. In der Tat musste die Finanzierung der geplanten Berufsschule gesichert werden, doch waren die Köche hierüber zerstritten. Als die Société des cuisiniers français, die die Gründung einer Berufsschule wünschte, aus der Union universelle pour le progrès de l‘art culinaire austrat, warb sie für die Organisation kulinarischer Ausstellungen, deren Erlöse dem Schulprojekt zufließen sollten. Die Berufsschule für Köche Nach vielen Verzögerungen wurde das Projekt und der Wunsch der Köche schließlich dennoch Wirklichkeit: Am 20. März 1891 wurde die École professionnelle de cuisine et des sciences alimentaires (Berufsschule für Koch- und Ernährungswissenschaften) in Paris, in der Rue Bonaparte Nr. 16, in den Räumen einer Zweigstelle des Pariser Pfandhauses eröffnet. Auch wenn der Staatspräsident die Schule unterstützte18 und das Ministerium für Handel und Industriegewerbe einen Zuschuss von 1.000 Franc bewilligte,19 wurde sie allen Wünschen der Köche zum Trotz staatlicherseits dennoch nicht anerkannt.20 In den Schulstatuten wurden die Ziele festgelegt: Die Berufsschule verfolgt das Ziel, in allen Bereichen der Kochkunst und der Ernährungswissenschaften, in der Garküche, Konditorei, Konfiserie, beim Ausschank von Likören, Eindecken der Tische und der Weinbewirtung, auf dem Gebiet der Fleisch- und Wurstverarbeitung und der Konservierung von Lebensmitteln qualifiziertes Fachpersonal auszubilden.
werk dadurch, dass sie mit den Ratschlägen der Hausherrin (und manchmal sogar des Hausherrn) und den Theorien der Cuisinière bourgeoise (deren Autor öffentlich geächtet werden sollte) sich schlampige Kochkenntnisse aneignen, ohne dass sie sich ihrer Arbeit eigentlich bewusst wären. […] Daher bin ich der Ansicht, dass eine Köchin selbst mit dem geringsten unserer Köche unmöglich würde Schritt halten können“ (in: L‘art culinaire 1883: 114). 18 Durch Pétrot, den Sekretär des Pariser Stadtrates, ließ der französische Staatspräsident dem Vorsitzenden der Société des cuisiniers einen Betrag von 100 Franc für die Kasse der von der Gesellschaft gegründeten Berufsschule aushändigen. 19 Am 19. Februar 1891 schickte der Minister für Handel, Industrie und Kolonien dem Vorsitzenden der Société des cuisiniers français folgenden Brief: „Monsieur, ich freue mich, Ihnen mitteilen zu können, dass ich für die von der Société des cuisiniers français gegründete Berufsschule für Köche auf Ihren Antrag hin einen Betrag in Höhe von 1.000 Franc als Finanzbeihilfe bewilligt habe. Zudem habe ich die genannte Gesellschaft mit einer großen Vermeilmedaille, je einer großen und einer kleinen Silbermedaille sowie drei Bronzemedaillen ausgezeichnet, die den Preisträgern der diesjährigen, von der Gesellschaft organisierten kulinarischen Wettbewerbsausstellung in meinem Namen ausgehändigt werden. Mit freundlichen Grüßen Jules Roche (Minister für Handel, Industrie und Kolonien).“ 20 In Le progrès des cuisiniers vom 1. Oktober 1886 heißt es in einem Artikel zu der Berufsschule für Köche: „Auf der sicheren und festen Basis staatlicher Anerkennung steht sie unter dem Schutz unserer Stadtväter, und wir denken, dass die im hauptsächlich französische Berufsschule gar nicht anders kann, als unserem Berufsstand dienlich zu sein und unserem Vaterland zur Ehre zu gereichen.“
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Die allein den Männern vorbehaltene Ausbildung sollte zu einem berufsqualifizierenden Abschluss mit der Bezeichnung brevet de capacité professionnelle führen und in zwei klar voneinander getrennten Stufen organisiert sein. Im Laufe der Grundausbildung bzw. der ersten Ausbildungsstufe ging es um die Vermittlung grundlegender Kenntnisse. Dazu gehörten das Studium der Grundsätze des Konditorberufs und des elementaren Garkochens, die Regeln der allgemeinen Zubereitung, die unterschiedlichen Aspekte der Hauswirtschaft, der Hygiene, der hauswirtschaftlichen Buchführung, Nutzung und Instandhaltung der Öfen, Küchengeräte usw., küchenrelevante Kenntnisse in Geschichte, Geographie, Botanik und vieles andere mehr.
Nach diesem ersten Ausbildungszyklus und der dazugehörigen Prüfung erhielt man ein Grundlagenzeugnis für den Kochberuf. Die zweite Ausbildungsstufe war bestimmt für die Nachwuchsköche, die bereits im Besitz dieses Nachweises von Grundkenntnissen waren. Teil des Lehrprogramms waren: das vollständige Studium der Garküche, der Konditorei, der Konfiserie, der Liköre, der Fleischund Wurstverarbeitung, der Lebensmittelkonservierung und ganz allgemein alles, was mit den Ernährungswissenschaften, den Kücheninstrumenten, der Hygiene, der Geschichte, der Geographie, der Botanik und der küchenrelevanten Tierkunde zu tun hat.
Außerdem zählten zu den Lehrstoffen: die Tieranatomie, der Fleischschnitt, das Anrichten der Speisen, die kulinarische Nutzung von Montage- und Modelliertechniken, die Aufbewahrung von Lebensmitteln und die Pflege des Weinkellers, der Service am Tisch und im Speiseraum, öffentliches Recht und Kleidung.
Nach Abschluss dieses zweiten Ausbildungszyklus erhielten die erfolgreichen Prüfungsabsolventen ihr berufsqualifizierendes Abschlusszeugnis, d. h. den brevet de capacité professionnelle, bei dem es sich um ein Zeugnis zum Garkoch, Konditor, oder Konfiseur oder einen Prüfungsnachweis für das Likörhandwerk oder die Fleisch- und Wurstverarbeitung bzw. einen Lehrnachweis im Bereich der Tischbedienung und Weinwirtschaft oder auch der Lebensmittelkonservierung handelte. Die Inhaber eines solchen brevet konnten anschließend eine weiterführende allgemeine Prüfung ablegen und in der Schule das so genannte diplôme supérieur d‘études professionnelles, d. h. einen höheren berufsqualifizierenden Abschluss, erwerben, der sie zur Lehre der Kochkunst in schulischen Einrichtungen befähigte. Außerdem veranstaltete die Berufsschule auf Initiative Charles Driessens’ unter der Bezeichnung „Vorbereitende öffentliche Grundkurse“ einen Koch- und Hauswirtschaftsunterricht für „junge Frauen und Damen des Hauses“. Dieser neuartige Unterricht, mit dem die Hausfrauen („ménagère“) eine Ausbildung erhalten sollten, wurde Haushaltungsunterricht („enseignement ménager“) genannt. Zu dieser Zeit hatte das Wort ménagère eine doppelte Bedeutung: Zum einen waren mit diesem Begriff Frauen einfacher sozialer Herkunft – eine Frau aus dem Volk – gemeint, die die Fertigkeiten der bürgerlichen Küche erlernten und sie zum Wohle ihrer Familie und zum Schutz der gesellschaftlichen Ordnung anschließend selbst praktizierten. Darüber hinaus bezeichnete der Begriff jedoch auch die maîtresse de maison, die Hausherrin klein- oder großbürgerlichen Standes, die entweder bereits Kochkenntnisse besaß oder diese erwarb, um ihrer angestellten Köchin Anweisungen geben zu können.
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In den Augen seiner Förderer war der Haushaltungsunterricht ein Instrument im Kampf gegen die „sozialen Geißeln“ Tuberkulose, Alkoholsucht und Syphilis, die besonders die unteren gesellschaftlichen Schichten in Mitleidenschaft zogen. Wenn die jungen Frauen, so der Gedanke, zu guten Haushälterinnen erzogen würden, könnten sie zu einer moralischen Erneuerung des einfachen Volkes beitragen. Das jedenfalls behauptete Charles Driessens, wenn er schrieb: Schon 1889, als ich den Haushaltungsunterricht einführte, bemühte ich mich während der Kochkurse darum, den Nährwert der Lebensmittel, ihre Eigenschaften und Kochbesonderheiten zu untersuchen. […] Wenn die jungen Frauen bei sich zu Hause die hier erworbenen Kenntnisse über den Nährwert der Nahrungsmittel und ihre besonderen Eigenschaft, d. h. kurz gesagt, die Wissenschaft von der Haushaltungsführung in die Praxis umsetzen, bekommt der Alkohol es mit einem weiteren Feind zu tun, und die Zahl der Trunksüchtigen wird sinken.21
Aufgabe der Hausfrau war es, Gerichte zuzubereiten, die sich an denen der großen Küchenchefs anlehnten, gleichwohl jedoch insgesamt einfacher waren als diese. Im Übrigen interessierten sich die großen Küchenchefs durchaus für die Ausbildung der Hausfrauen. In dem Vorwort zu seinem Buch über die neue gutbürgerliche Küche mit dem Titel Nouvelle cuisine bourgeoise nannte Urbain Dubois die wirtschaftlichen Prinzipien, die der Ausbildung der Hausfrauen zugrunde liegen sollten: Auf keinen Fall wollte ich den Fehler begehen und hier Rezepte vorschlagen, denen weder die Hausfrauen noch die Köchinnen folgen können. […] Aller Ehrgeiz einer guten Hausfrau sollte sich auf das ehrenwerte Ziel richten, mit Wenigem Gutes zu erzeugen. Dieses Ziel ist zwar nicht eben leicht zu erreichen, doch mag es ihr wohl gelingen, wenn sie es nicht verschmäht, sich in meine Küchenpraxis einweihen zu lassen, wenn sie es versteht, sich jene Methode zu eigen zu machen, die die Grundlage jedes Wirtschaftens ist und die darin besteht, nichts Nutzbares zu vergeuden, und wenn sie sich nur stets dessen bewusst ist, dass die teuersten Nahrungsmittel beim Kochen immer jene sind, die ohne das rechte Maß und ohne die notwendigen Vorkenntnisse zubereitet werden und die dadurch so unbefriedigend wie geschmacklos werden.
Haushaltungsunterricht mit moralischen Zielsetzungen Während die Gründung der Berufsschule für Köche im Jahre 1891 letztlich auf eine private Initiative zurückging, wurde der Haushaltungsunterricht noch im selben Jahr Teil des öffentlichen Grundschulsystems. In der Tat zeigte der Staat Interesse an einem Fach, das zum Bestand der gesellschaftlichen Ordnung beizutragen im Stande war.22 21 In: Le temps, 23. Juli 1915. Als einer der ersten Köche erhielt Charles Driessens 1895 die akademische Auszeichnung des officier d‘académie. 22 In zahlreichen offiziellen Berichten wird daran erinnert, dass der Haushaltungsunterricht auch als Schutz der gesellschaftlichen und politischen Ordnung fungiere. Als Beispiel sei etwa folgender Passus aus einer Abhandlung über den Haushaltungsunterricht zitiert, die auf der internationalen Hygieneausstellung in London 1884 vorgestellt wurde: „Der Haushaltungsunterricht – Hygiene, Schneidern, Nähen, Bügeln, Kochen – ist in gewisser Hinsicht die stärkste Stütze der theoretischen Moral. Es handelt sich gewissermaßen um eine konkret wirksame Moral vor allem in all jenen Klassen, die vom Glück wenig begünstigt sind. Die jungen Frauen, denen diese verschiedenen Aspekte des Haushaltslebens vermittelt wurden, sind besser auf ihre Pflichten als Hüterin des Haushalts vorbereitet. Sie werden eng verbundene Familien gründen, und da der normale Fortschritt der Gesellschaft von der gesellschaftlichen Keimzelle der Familie abhängt, leisten sie damit einen Beitrag zum Frieden und Glück der gesamten Menschheit.“
Kulinarische Ausstellungen und Wettbewerbe
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Dies erklärt auch, warum Jules Simon23 bei der feierlichen Eröffnung der Berufsschule glaubte, an seinen Einsatz zugunsten der Haushaltungskurse erinnern zu müssen: Ich wollte bei der Eröffnung Ihrer Schule zugegen sein, weil ich, wenn Sie mir dieses Eigenlob gestatten, die regelmäßigen Kochkurse in den Schulen initiiert habe. […] Nur mit größter Mühe konnte ich den Staatsrat für Erziehungsfragen dazu bewegen, die Kochkunst den „Pflichtfächern des berufsbezogenen Ausbildungsweges“ beizuordnen, und das ist nicht wenig. […] Ich wollte die vorherrschenden Essgewohnheiten näher untersuchen. In Paris ernährt man sich nicht sehr intelligent. […] Durch die Arbeit der Berufsschule wird in Zukunft beim Essen Nahrhaftes an die Stelle des nur Sättigenden treten. Die Nation wird dadurch stark werden.
Vor allem aber war es der Berufsschule aufgegeben, den „arbeitenden Frauen“ das Kochen beizubringen: Die Frau ist nämlich in ihrem Haushalt keine Angestellte mehr, sie ist Mutter und Moral in einem. Als Mutter erzieht sie ihre Kinder zu Pflichtbewusstsein und bereitet so den Boden für das künftige Vaterland.24
Angesichts des Erfolges der Grundkurse und kostenlosen Unterrichtseinheiten von Charles Driessens stieß die Berufsschule für Köche auf die feindselige Ablehnung der Küchen- und Restaurantchefs, die ihre billigen Arbeitskräfte nicht verlieren wollten und ihren Lehrlingen die Teilnahme am Unterricht untersagten. Eine Erklärung lieferte Philéas Gilbert: Unser Beruf ist mit keinem anderen vergleichbar. Es gibt bei uns keine festen Arbeitszeiten, keine zeitliche Begrenzung. Es gibt nur die Arbeit, die unseren Lebensablauf bestimmt und die sich wenig um die Stunde schert. Wie sollten unsere Nachwuchskräfte unter diesen Bedingungen – um welche Uhrzeit diese Kurse auch stattfinden mögen – regelmäßig und aufmerksam dem Unterricht folgen können, es sei denn, ihr Küchenchef lässt sie mit stillschweigender Erlaubnis des Restaurantbetreibers einfach gewähren? […] Ohne formelle Absprachen zwischen Küchenchefs und Arbeitgebern und zwischen diesen und der Schulverwaltung scheint es uns unmöglich, dass die Nachwuchskräfte in unseren Küchen an dem Unterricht in der Schule teilnehmen können. Unter diesen Umständen kommt er dann aber nur wenigen zugute und dürfte folglich auch nicht sonderlich nützlich sein.
Aufgrund dieser Kritik sowie aus Mangel an Schülern und finanziellen Ressourcen musste die Schule nur fünfzehn Monate nach ihrer Eröffnung wieder schließen.
Kulinarische Ausstellungen und Wettbewerbe Unabhängig von der Gründung der Berufsschule hatten die Köche schon zuvor kulinarische Ausstellungen organisiert. Dabei ging es ihnen nicht zuletzt um den Nachweis, dass es sich bei der Kochkunst tatsächlich um eine Kunst handele und bei den Köchen demgemäß um Künstler. 23 Jules Simon (1814 – 1896) war mehrfach Abgeordneter, Senator und Minister (Erziehungs- sowie Innenminister), bevor er das Amt des Regierungschefs übernahm. Als Mitglied der Académie française veröffentlichte er zahlreiche Bücher. 24 Rede Jules Simons zur Eröffnung der Berufsschule für Köche, abgedruckt in: L‘art culinaire (31. März 1891): 69.
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Kochen als Beruf (1842 – 1880)
Der berühmte Koch Joseph Favre, Verfasser eines Kochlexikons mit dem Titel Dictionnaire universel de cuisine pratique (1894) 25, Initiator einer der ersten Fachzeitschriften und Mitbegründer der Union universelle pour le progrès de l‘art culinaire, hatte noch vor 1870 eine kulinarische Exposition geplant. Bereits zu diesem Zeitpunkt hatte die Société des cuisiniers anlässlich ihres Jahresballs einige Gerichte mit Sockelpräsentation ausgestellt, die von Mitgliedern der Gesellschaft in Anlehnung an die Modelle der Cuisine classique und der Cuisine artistique, zweier Werke aus der Feder Urbain Dubois‘, angefertigt worden waren. Die erste Kochkunstausstellung fand jedoch 1878 in Frankfurt statt. In Paris wurde die erste offizielle kulinarische Exposition erst vier Jahre später veranstaltet. Hier präsentierte Auguste Escoffier seine berühmten „Wachsblumen“.26 Etwa ein Jahrzehnt lang war sodann die Société des cuisiniers français mit der Organisation der gleichzeitig stattfindenden kulinarischen Ausstellungen und Kochkunstwettbewerbe betraut. Von den 1890er Jahren an fiel die Leitung und Organisation der Ausstellungen dann an die Académie de cuisine und die Union philanthropique de l‘alimentation. Die zweite von der Société des cuisiniers français veranstaltete Exposition öffnete ihre Pforten am 19. Januar 1884 in den Räumlichkeiten der Freimaurerloge des Grand Orient27, in die es mehr als drei tausend Besucher zog. Nach der Preisübergabe gab es ein feierliches Abendessen mit knapp fünf hundert geladenen Gästen. Serviert wurde der Nationaleintopf – ein Gemüseeintopf mit weißen Bohnen, Karotten, Tomaten, Sauerampfer und Erbsen –, ein Rezept von Thomas Génin, das unter den Köchen nicht unumstritten war: Dem Gericht unseres ehrwürdigen Kollegen muss natürlich der größte Respekt gezollt werden. Trotzdem will uns seine Bezeichnung als falsch erscheinen.28
Die dritte Kochkunstausstellung und der dritte kulinarische Wettbewerb fanden 1885 wiederum in den Räumlichkeiten der Freimaurerloge statt. Hier konnten die Köche ihrem Patriotismus freien Lauf lassen. Der Vorsitzende der Bewertungsjury war Urbain Dubois, der Küchenchef des deutschen Kaisers Wilhelm I. Einem Journalisten des Gil Blas illustré, der auf dem abschließenden Festbankett seiner Verwunderung darüber Ausdruck verlieh, antwortete L‘art culinaire: Urbain Dubois ist einer unserer beliebtesten Kochautoren. Außerdem genießt er sowohl unter allen französischen als auch ausländischen Berufskollegen eine völlig unbestrittene Wertschätzung und Anerkennung. Urbain Dubois ist Franzose, seine Küche und seine Lehre sind französisch. Wenn der deutsche Kaiser die Leitung seiner Küchen unseren beiden Landsleuten Urbain 25 Aus der Feder desselben Autors stammt auch das Dictionnaire universel de cuisine et d‘hygiène alimentaire, mit einem Vorwort von Charles-Pierre Monselet, Paris, 1889 1891. 26 Auguste Escoffier veröffentlichte 1885 ein Werk zu diesem Thema: Les Fleurs de cire, Éditions Paris Art Culinaire (Neuauflage 1910). 27 Die Grande Loge de France und der Grand Orient de France zählten früher und zählen auch heute noch Köche zu ihren Mitgliedern. Selbst wenn es unmöglich ist, präzise Zahlen zu nennen, so steht doch zumindest fest, dass die ideologischen Grundlagen der Wanderjahre der zünftig organisierten Gesellen, die die Berufsgemeinschaft dauerhaft prägte, mit den Freimaureridealen der Solidarität und Brüderlichkeit völlig in Einklang steht. 28 Philéas Gilbert, „Du potage national“, in: L‘art culinaire 1883: 74.
Kulinarische Ausstellungen und Wettbewerbe
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Dubois und Émile Bernard anvertraut, ist das also nachgerade eine Hommage an unsere nationale Kochkunst.
Das „künstlerische“ Bemühen der Köche war auch den Journalisten der Zeitung Le temps nicht entgangen. Dort hieß es 1886: Die Wettbewerbsteilnehmer haben eine Vielzahl von Gerichten ausgestellt, deren Wert die Jury unter ausschließlich kulinarischen Gesichtspunkten zu bemessen haben wird. Von einem künstlerischen Standpunkt aus betrachtet, sind jedoch alle Stücke wegen ihrer einfallsreichen Darbietung und Ausführung beachtenswert. Auf dem Büffettisch inmitten des Saals drängen sich Gerichte in Form von Hetzjagden, Blumenkörben, Schiffen, Berghütten, gotischen Bauten usw. Die Herren Köche, Konditoren und Konfiseure beschränken sich im Übrigen keineswegs allein auf die Baukunst. Auf dieser Ausstellung, bei der Galatinen, Aspikgerichte, Krebsbäume oft kaum mehr sind als ein Vorwand zu Monumentalbauten, zu wie von Bildhauerhand gefertigten opulenten, plastisch herausragenden oder tief eingekerbten Verzierungen in einem Schmalzblock, sind alle Künste mehr oder weniger vertreten. Alles das gibt diesem Wettbewerb den Anschein einer vorgezogenen Bildhauerausstellung.
Immer mehr Besucher strömten auf die daran anschließenden Ausstellungen, die entweder im Pavillon de la Ville de Paris, im Palais de l‘Industrie oder in dem auch heute noch existierenden Veranstaltungssaal Wagram in der Nähe des Triumphbogens organisiert wurden. Zwischen 1900 und 1909 fand die Kochkunstausstellung unter einem Zelt im Jardin des Tuileries statt. Zwischen 1901 und 1914 zog sie in den Luna Park. Mit den Ausstellungen wollten die Initiatoren jedoch nicht nur der französischen haute cuisine ein Forum bieten. Vielmehr sollten sie einen Anreiz zur Professionalisierung des Kochgewerbes bieten, der Öffentlichkeit dessen künstlerische Möglichkeiten vor Augen führen und zudem zusätzliche finanzielle Ressourcen zur Gründung der künftigen Berufsschule sicherstellen:29 Auf diesen Ausstellungen haben die Köche der Welt ihr Künstlertum unter Beweis gestellt. […] Mehr noch: Dadurch, dass die Ausstellungen und Wettbewerbe die Liebe zu diesem Beruf wecken, verbessert sich durch die Präsentation der Speisen tendenziell auch die Tischkultur. Vor allem aber stimuliert das gestärkte Gefühl seiner Bedeutung und seiner Anerkennung den Koch zu einer noch vollkommeneren Zubereitung der Gerichte und zu einer noch ausgewogeneren Abstimmung zwischen Geschmack und Gesundheit.30
Bei den Kochkunstausstellungen wurde nicht allein Werbung für die gehobene französische Küche betrieben. Zudem wurden den Besuchern auch die Produkte der Lebensmittelindustrie, insbesondere in konservierter Form, dargeboten. Dieses Nebeneinander ist weniger überraschend, wenn man daran denkt, dass bereits zu diesem Zeitpunkt Beziehungen bestanden zwischen der Lebensmittelindustrie und je-
29 In Artikel XIV der allgemeinen Wettbewerbsvorschriften hieß es: „Die Nettoeinnahmen der Ausstellungen werden in vier gleich große Beträge geteilt und folgendermaßen zugewiesen: 1. Zwei Beträge fließen in die Kasse zur Gründung einer Berufsschule für Köche, dem eigentlichen Ziel der Société des cuisiniers français; 2. Ein Betrag geht an die Hilfskassen aller eingeschriebener Kochverbände und wird unter ihnen gleichmäßig aufgeteilt; 3. Ein Betrag kommt der öffentlichen Armenfürsorge der Stadt Paris zugute.“ 30 Rundbrief des Wettbewerbsausschusses, in: L‘art culinaire 1890: 14.
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Kochen als Beruf (1842 – 1880)
nen Köchen, die die nationalen Produkte und Produktionen in Frankreich und im Ausland zu bewerben versuchten. Ein Beispiel: Auguste Escoffier, Erfinder des Pfirsich Melba und berühmtester französischer Meisterkoch des ausgehenden 19. Jahrhunderts, hatte den Anstoß zur Dosenkonservierung von Pfirsichen und klein gehackten Tomanten gegeben, die gegen 1892 in den Handel kamen und schnell Abnehmer fanden.31 Die Ausstellungen waren jedoch nicht unumstritten. Von Anfang an kam es innerhalb der Berufsvereinigung der Köche zu Kritik und Infragestellungen. Schon 1887 bemängelten einige, dass bei den Gerichten zu viel Wert auf die Darbietung, die äußere Gestaltung und die Präsentation gelegt würde:32 Wirklich nichts Neues war zu sehen. Mehr denn je erwies sich die Kochkunst als verkrustet, zweckentfremdet, überfrachtet. […] Mit allen Mitteln ging es darum, zu blenden und das Sinnlos-Frivole in den Mittelpunkt zu stellen. Mit Erfolg pflegte man die Illusion des Vulgären.
Die Auseinandersetzung zwischen den Küchenchefs und den Köchen betraf letztlich die Konzeption der Kochkunst und das Verhältnis zwischen äußerer Gestalt und Inhalt, d. h. die Frage, ob eine gute Küche gleichzeitig schön und dekorativ dargeboten werden sollte. Manche Köche stellten sich auf den Standpunkt, dass der Wert der zubereiteten Speisen völlig unabhängig sei von ihrer Präsentation: In der Tat sollte ein ganz zentraler Aspekt herausgestrichen werden: Selbst ein ausgezeichneter Koch kann bei der Darbietung seiner Speisen sehr mittelmäßig sein. […] Das bedeutet allerdings nicht, dass wir gegen die Sockelpräsentation sind, die die Speisen zu einer wirklichen Kunstform machen.33
In der Zeitschrift Le progrès des cuisiniers wurden weitere Vorwürfe gegen eine rein dekorative Kochkunst erhoben: Ich möchte hier von den Sockeln sprechen, bei denen die Wachsblume den zentralen Aspekt der dargebotenen Speise darstellt und bei der zwangsläufig das eigentliche Nahrungsprodukt völlig in den Hintergrund tritt. […] Solche Ausstellungsstücke verdienen meiner Meinung nach allein wegen ihrer Präsentation Beachtung. Wenn man allerdings hinter die Kulissen blickt, wird man sich recht bald betrogen fühlen.34 31 In der Revue culinaire (1928: 235) erklärt Auguste Escoffier, wie es zu der Herstellung von Dosentomaten gekommen war: „Die erste Idee zu diesem Produkt kam mir 1874 – 1875, als ich im Restaurant Petit Moulin Rouge auf den Champs-Élysées, das 1880 geschlossen wurde, als Chefkoch arbeitete. Damals war es während der Tomatensaison üblich, Tomatenpüree in Champagnerflaschen zu konservieren und zu sterilisieren. Dieses Püree konnte allerdings lediglich für Soßen weiterverwendet werden. Ich sagte mir, dass eine bessere Lösung möglich sein müsse, wenn man ein Produkt entwickeln würde, das an Stelle frischer Tomaten zur Zubereitung verschiedener Gerichte, die andernfalls ausschließlich in der Tomantensaison möglich wären, zu jeder Jahreszeit verwendet werden könnte.“ Fünfzehn Jahre später ließ Escoffier in einer Konservenfabrik, an der er finanziell beteiligt war, klein gehackte Dosentomaten herstellen und anschließend 2.000 Dosen in das Savoy Hotel von London ausliefern, dessen Küche er vorstand: „Es war ein Riesenerfolg. Damit war die Dosentomate auf dem Markt, und ihr Ruf verbreitete sich derart schnell, dass wir im nächsten Jahr bereits 60.000 kg produzierten.“ 32 „L‘Exposition Culinaire“, in: Le progrès des cuisiniers, 1. März 1887. 33 In: Le progrès des cuisiniers, 15. März 1887. 34 Brief von Georges Dugoy, in: Le progrès des ouvriers, 1. September 1888.
Erfolge und Misserfolge im ausgehenden 19. Jahrhundert
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Auch wenn man faktisch wohl kaum von zwei verfeindeten Gruppen sprechen kann, zerfiel die Berufsgruppe der Köche Ende der 1880er Jahre gleichwohl in jene, die für eine dekorative Küche warben und bei denen es sich vorwiegend um Küchenchefs handelte, und in solche der mehrheitlich einfachen Köche, die vor allem den schmackhaften Aspekt des Kochens in den Mittelpunkt stellten. Wieder andere betrachteten die Sockelpräsentation im Grunde bereits als überwunden: Für die wahren Köche, für die der geschmackliche Aspekt wichtiger ist als die Präsentation, hat eine einfach und sorgfältig zubereitete Küche stets ihren Wert. Selbst wenn sie ohne Sockel und ohne Dekoration präsentiert wird, wird der ausstellende Koch stets ihren Zuspruch ernten, solange sie nur geschmackvoll-symmetrisch angerichtet ist.35
Erfolge und Misserfolge im ausgehenden 19. Jahrhundert Ende des 19. Jahrhunderts waren die Appelle zur Geschlossenheit der kochenden Berufsgemeinschaft zumeist noch ungehört verhallt. Unter dem Vorwand, nicht denselben Beruf auszuüben, ignorierten sich die Köche in bürgerlichen Privathaushalten und die Restaurantköche wechselseitig. Mehrere solidarische Unterstützungsvereine – Saint Laurent, Persévérance, Chambre syndicale, Société de secours mutuels des cuisiniers de Paris – vertraten die Köche und ihre Interessen nach außen. Mit der Société des cuisiniers de Paris und der Société des cuisiniers français standen zwei der wichtigsten gewerkschaftlich organisierten Verbände in Konflikt mit der Chambre syndicale des ouvriers cuisiniers. Diese Spaltungen schwächten natürlich den Berufsstand derart, dass die von allen geforderte Abschaffung der Vermittlungsbüros auf sich warten ließ. „Suppenhändler“ Wie erwähnt, vertraten die Küchenchefs und Restaurantbetreiber nicht dieselbe Konzeption der Kochkunst wie die einfachen Köche. Über den Gegensatz zwischen äußerer Darbietung und geschmacklichem Aspekt der Speisen hinaus ging es dabei ganz offensichtlich um die Qualität der Küche. Die gewerkschaftlich organisierten Köche gingen mit den so genannten „Suppenhändlern“ scharf ins Gericht. Erfolgreiche Frauen Die Köche mussten sich aber insgesamt der Konkurrenz der Köchinnen erwehren. Diesbezüglich schrieb Pierre du Maroussem: Der Erfolg fiel eindeutig ihren Rivalinnen zu. Sowohl in den Haushalten der Mittelschicht als auch in den Küchen der Adelsschlösser, in denen die männlichen Küchenchefs gar nicht so häufig anzutreffen sind, wie man oft annimmt, und bei den Hauslieferanten und einfacheren Restaurants sind sie in großer Zahl vertreten und haben die Domäne der Männer zurückgedrängt.
Diese Konkurrenz betraf alle Niveaus, da es in Paris mehrere Kategorien von Köchinnen gab. Eine Tageszeitung schrieb dazu: 35 Ebd.
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„Restaurants fin de siècle Lass uns, geneigter Leser, in eines jener (modernen) Luxusrestaurants eintreten, die den Ruhm der Kochkunst ausmachen. Für 1,25 Franc isst man hier einigermaßen korrekt. Für 2 Franc wird man wie ein Botschafter behandelt; vier oder fünf Gänge stehen einem zur Auswahl zur Verfügung, von denen die einen verlockender klingen als die anderen. Das staunende Auge liest von Timbalen à la Talleyrand, Königinnenpastetchen, Rindermedaillon à la Mirabeau, Pompadour-Kroketten, und all das lässt Dir das Wasser im Munde zusammenlaufen. Treten wir also ein! Eine wohl gekleidete Kundschaft mit glänzenden Zylindern und Mänteln vom feinsten Schneider genießt hier in aller Stille die reichhaltigen Speisen, von denen wir soeben sprachen. Die Tischdecken sind strahlend weiß. Das Kristall der Gläser gibt dem Speisesaal noch einen zusätzlichen Glanz. Unzählige Saaldiener in tadelloser Kluft schreiten dienstwillig durch den Saal, stets bemüht, den Gästen ihre Wünsche von den Augen abzulesen. […] In der Mitte des Raumes thront die Wirtin wie in einem Rahmen. Ihr zur Seite sitzt zumeist eine junge, attraktive Kassiererin – die Kunden kommen schließlich nicht von allein. Alles, so scheint es, verbreitet seinen verführerischen Zauber. Aber woher kommt denn dies dumpfe Schreien, das man vom Ende des Saales zu hören vermeint? Folgen wir doch einfach unserer Neugierde und gehen in diese Richtung, durch eine mit reichem Orientteppich verzierte Tür. Träume ich? Kann ich meinen Augen trauen? Handelt es sich nicht eher um eine optische Täuschung? Nein, nein. Es ist die traurige und Ekel erregende Wahrheit: Hier, in einem dunklen und stinkenden Loch wimmelt durcheinander ein halbes Dutzend Menschen mit bleichen Wangen, fiebrig glänzenden Augen, schweißnassem Gesicht und Körper, als seien sie einem Bad entstiegen, in einer stickigen, geruchsschwangeren Luft. In einer Ecke des Kämmerchens „spülen“ Tellerwäscher Berge von Geschirr in schwärzlichem und klebrigem Wasser. Auf einem riesigen, glühend heißen Herd steht das Kochwerkzeug: Töpfe, die einmal aus Zinn gewesen sein mögen, alte, vor Schmutz starrende Konservendosen für das Erhitzen im Wasserbad, in denen kaum zu beschreibende Soßen aus allerlei Resten und Extrakten ihren Fettgeruch verbreiten. Lass uns unseren Ekel überwinden und einen Blick in diese Behältnisse werfen: Die Krebssuppe ist eine Mischung aus ausgelutschten Essensresten der Gäste, die unter dem Mörser zerkleinert und durch ein Sieb gepresst wurden. Verdickt wurde das Ganze mit einem Reispüree, das zumeist als Beilage zu vielerlei Gerichten schon geraume Weile auf dem Herd gestanden hatte. Die zusätzlich mit Bouillon gestreckte Mischung wird sodann, um den Laien hinters Licht zu führen, mit dem roten Farbstoff der getrockneten Schildlaus oder mit Fuchsin gefärbt. Und all diese Genüsse sind den Zwei-Franc-Gästen und Feinschmeckern vorbehalten.
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Als praktisch veranlagte Menschen behalten diese Suppenhändler stets ihr Ziel der klingenden Münze im Auge. […] Dass sie langsam einen Teil der Bevölkerung vergiften, interessiert sie genauso wenig, wie Blutarmut, Lungentuberkulose und Bronchitis, von denen – man lese nur die Berichte des Dr. Napias über die Berufskrankheiten der Köche – jährlich Tausende Unglückselige in der Blüte ihrer Jahre dahingerafft werden, die, weil es ihr Beruf ist oder aus Not, dazu gezwungen sind, in diesen stinkenden Löchern zu arbeiten, die schamlose Ausbeuter als Küchen zu bezeichnen die Chuzpe haben.“ Quelle: Le progrès des cuisiniers, 1. Juni 1892. Zuallererst wäre da die ausgebildete Meisterköchin, die ihren Beruf erlernt und in den großen Privatküchen oder in den Kochstätten wichtiger Häuser wie etwa des Bignon oder des Café anglais ernsthafte Studien betrieben hat. Danach kommt die an der Praxis geschulte Köchin, die hohe Ansprüche hat und der nichts fehlen darf. Man wäre schlecht beraten, ihr vorzuhalten, wie teuer die von ihr verwendeten Zutaten seien. […] Nicht selten stammt diese Künstlerin aus der Provinz und steht schon lange im Dienst einer Familie, in der sie von allen respektvoll behandelt wird, weil sie der Familie, als deren Mitglied sie betrachtet wird, Ehre bereitet. Die berühmte Sophie des Dr. Véron ist ein Beispiel hierfür. […] Darunter rangiert die weniger anspruchsvolle Köchin von Haushalten, die zu einem sparsameren Umgang gezwungen sind. Sie macht dieselben Braten wie ranghöhere Köche, für die sie nur Verachtung übrig hat. Sie versteht sich auf die sparsame Zubereitung von Küchenfonds, von mehlfreien Soßenbindern und Fleischsäften zur Soßenverfeinerung.36
Die männlichen Berufsvertreter hatten gegen diese Konkurrenz kaum etwas auszusetzen und reagierten mit dementsprechend verächtlichen Artikeln über die weiblichen Köche.37 In Anbetracht der Tatsache, dass die sozialen Existenzbedingungen der Köche in Frankreich in den Jahren der Jahrhundertwende noch längst nicht zum Besten bestellt waren, zog es zahlreiche französische Küchenchefs und Köche ins Ausland, wo sie hofften, Karriere zu machen. Neben jenen Köchen, die im Dienst der europäischen Höfe standen, arbeiteten die meisten französischen Köche im Ausland in den Küchenbrigaden der großen Hotels und neuen Luxuspaläste, die zu dieser Zeit für eine vermögenden Klientel entstanden. August Escoffier, den man „den Koch der Könige und den König der Köche“ nannte, war eine Geschäftspartnerschaft mit César Ritz eingegangen und von 1890 bis 1897 Küchenchef im Hotel Savoy in London und von 1899 bis 1909 im Carlton. In seinen Memoiren erzählt der Schöpfer des Pfirsich Melba38, wie er „rund 2.000 anderen Köchen aus der ganzen Welt 36 Die Tageszeitung Le Gaulois, zit. nach L’art culinaire 1884. 37 Unter den Autoren, die gegen die Köchinnen wetterten, tat sich besonders Philéas Gilbert hervor. In seinen Augen sei die Köchin „der Abschaum der Profession. Ein ungesundes Produkt einer praxisfixierten, gierigen und vulgären Epoche, die der Qualität die Quantität vorziehe, auch wenn ein zügelloser Luxus sie ein wenig dämpft, und deren schlimme Folgen wir seit langem über uns ergehen lassen müssen,“ in: L‘art culinaire 1884: 55. 38 Escoffier hatte dieses Rezept als Hommage an die Sängerin Nelly Melba kreiert, die er in Lon-
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ausgestochen hatte.“39 Diese Zahl mag zwar übertrieben klingen, doch ist sie nicht unbedingt unwahrscheinlich, wenn man bedenkt, dass 1886 schon mehr als fünf tausend Franzosen in England lebten. Im Jahre 1889 hatten die in New York ansässigen französischen Köche eine neue Gesellschaft gegründet, die Saint Laurent, die immerhin bald fünfzig Mitglieder zählte. Das Leben als Koch in Frankreich im ausgehenden 19. Jahrhundert Wie viele Köche lebten eigentlich am Ende des 19. Jahrhunderts in Frankreich? Wie viele davon in Paris und wie viele in anderen Regionen Frankreichs? Der Staat, der der Berufsschule für Köche die staatliche Anerkennung verweigert hatte, hat sich auch nicht weiter für die Zählung einer Berufsgruppe interessiert, der immer noch der Dienstbotenstatus anhaftete. Insofern bleibt die Frage nach der Zahl der Köche am Ende des 19. Jahrhunderts noch unbeantwortet. In der Tat lässt sich für ganz Frankreich kaum eine genaue Zahl nennen – es ist manchmal die Rede von 60.000 Köchen in den 1890er Jahren. Für Paris jedoch stehen dank der Arbeit von Pierre du Maroussem von Januar 1893 verlässliche Zahlen zur Verfügung.40 Innerhalb der Berufsgruppe der Köche arbeiteten demnach etwa 4.000 in bürgerlichen Privathaushalten und mehr als 10.000 in Restaurants. Handelte es sich in beiden Fällen aber um denselben Beruf? Machten beide dieselbe Küche? Oder verliefen die Berufskarrieren unterschiedlich? Konnte ein Koch aus einem bürgerlichen Privathaushalt Küchenchef in einem Restaurant werden? Und konnte umgekehrt ein Küchenchef in einem Restaurant seine Kochkunst auch in einem Privathaushalt ausüben? Austauschbare Rollen Antworten auf diese Fragen liefert Gustave Garlins41 Buch Le cuisinier moderne: Mit diesem Buch wollte ich auch einen Irrtum ausmerzen, der sich in den Köpfen vieler Menschen festgesetzt hat, dass nämlich ein Restaurantkoch die Stelle eines Küchenchefs in einem bürgerlichen Privathaushalt nicht auszufüllen im Stande wäre.
Gustave Garlin dagegen streicht vor allem die Ähnlichkeiten zwischen beiden Tätigkeiten heraus. Die Arbeit der Köche in Privathaushalten und Restaurants ist insofern identisch, als die Organisation der Küchenarbeit an beiden Orten dieselbe ist. Ordnung und Disziplin müssen unumschränkt herrschen. Der Chefkoch darf aller-
don bewundert hatte. Er selbst schreibt: „Das Gericht Pfirsich Melba besteht aus zarten, gerade reifen Pfirsichen, Vanilleeis und gezuckertem Himbeerpüree.“ 39 Auguste Escoffier, Souvenirs inédits, Marseille, Jeanne Laffitte, 1985: 193. 40 Office du Travail, La Petite Industrie (Salaire et durée du travail), Bd. 1: L’alimentation à Paris, Paris, Imprimerie nationale, 1893. 41 Viel ist über Gustave Garlin nicht bekannt, außer dass er 1838 in Tonnerre geboren wurde, dass er sich das Kochen selbst beigebracht hatte und er später in großen Privathaushalten und Botschaften arbeitete. Mit dem Kommunalaufstand 1871, an dem er sich beteiligt hatte, ging seine Karriere zu Ende. Er wurde zu einer fünfjährigen Haftstrafe verurteilt, die dann in eine Gefängnisstrafe von zweieinhalb Jahren umgewandelt wurde. In dieser Zeit schrieb er das Werk Le cuisinier moderne, das 1887 erscheinen sollte.
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dings kein Willkürherrscher sein, da er gegenüber seinen Küchenhilfen auch eine pädagogische Aufgabe zu erfüllen habe: Wer aus Egoismus oder beruflichem Neid Angst davor hat, Kenntnisse an seine Mitarbeiter weiterzugeben, verdient es nicht zu leben und noch weniger, die Stelle als Küchenchef in einem großen Privathaushalt zu bekleiden.
Der Koch ist der Dreh- und Angelpunkt der Arbeitsorganisation: In seiner Küche ist der Koch der Alleinherrscher: Die Spezialköche, Küchenjungen und sonstigen Aushilfen schulden ihm den größten Respekt und Gehorsam. Gehorsam bedeutet in diesem Fall eher ein freundliches, entgegenkommendes Auftreten als eine passive und willenlose Unterordnung.
In den bürgerlichen Familien hat der Küchenchef mehrere Aufgaben: [Er] muss sich stets darum bemühen, seinen Arbeitgeber zufrieden zu stellen, […] und durch eine zurückhaltende und umsichtige Sparsamkeit dessen Interessen wahren […]. Außerdem muss er auch den Appetit des Personals stillen, was nicht minder schwierig ist, da dieses nicht selten anspruchsvoller ist als der Arbeitgeber selbst […]. Soweit möglich sollte er regelmäßige Essenzeiten durchsetzen und die Gerichte nie verspätet auftischen, […] jedweden Konflikt zwischen den Hausdienern und seinem Küchenpersonal vermeiden, […] das Menü am Vorabend eigenhändig zusammenstellen, so dass der Arbeitgeber noch einen prüfenden Blick darauf werfen kann, und sich natürlich dessen kulinarischen Vorlieben beugen, […] die Anordnungen seines Arbeitgebers weder missachten noch kommentieren, […] die Ausgaben bzw. das Budget des Hauses, das er verwaltet, nicht überschreiten und vor allem die Lieferantenrechnungen sorgsam begleichen, damit ihm aus einem möglichen Versäumnis keine Unannehmlichkeiten erwachsen.
In den großen Häusern gingen dem Chefkoch Spezialköche für Soßen, Zwischengerichte, Braten, Teigwaren und Speiseeis und ein Verantwortlicher für die Speisekammer (garde-manger) zur Hand. Von all diesen Köchen war der chef saucier, der „gegebenenfalls seine Stelle übernehmen konnte“, am wichtigsten. Dieser Soßenkoch, dem selbst wiederum Küchengehilfen zur Seite standen, war mit der Zubereitung von „kleineren und größeren, geschmorten bzw. nach englischer Art gekochten Fleischgerichten“ betraut sowie mit „allen Vorspeisen im Allgemeinen, den Beilagen“ und einem Teil der Vorspeisen. Der für die Zwischengerichte zuständige chef entremetier kümmerte sich um die Suppen und die Zwischengerichte aus Gemüse, Eiern, Backwaren sowie um Süßspeisen und die Konservierung von Obst und Gemüse. Der rôtisseur, der französische Bratenkoch, war für das Fleisch am Spieß und am Grill und für das Frittieren allgemein zuständig. […] Er braucht eine exakte Kenntnis der jeweiligen Garzeiten von Fleischstücken jeder Größe, und er muss die Feinheiten jedes einzelnen dieser Fleischstücke kennen und wissen, bei welcher Hitze sie zuzubereiten sind. […] Gewöhnlich steht dem rôtisseur in den großen Privathäusern eine Küchenhilfe zur Seite.
Der chef du garde-manger war „verantwortlich für Fleisch, Fisch, Geflügel und Wild, bei dem er dafür Sorge zu tragen hat, dass in seinen Vorratsräumen nichts verdirbt.“ Gemeinsam mit dem eigentlichen Chefkoch schneidet er das Fleisch und macht es kochfertig. Seine Aufgabe ist es zudem, das Haus- und Wildgeflügel abzuflämmen, zu binden und mit einem Speckmantel als Vorspeisengericht zu umhüllen. […] Dazu ist er noch für die kalten Vorspeisen zuständig (Aspik,
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Kochen als Beruf (1842 – 1880) Chaud-Froid, Mayonnaise, italienische, russische, amerikanische Salate) sowie für die Gelees und die Sockelpräsentation im Allgemeinen.
Vor allem jedoch fungierte er als Wirtschafter. Er bestellte bei den Lieferanten, damit es nicht an Gewürzen, Obst, verschiedene Teigwaren, Konfiserien, Wurst, Fleisch, Geflügel, Wild, Süß- und Salzwasserfischen, an Krebs, Hummer, Miesmuscheln, Austern und sonstigen Schalentieren mangelt.
Der pâtissier kümmerte sich um die Zwischengerichte in Form von Backwaren und sorgte dafür, dass den chefs de partie stets ihre warmen Teigmäntel, Timbalen, Blätterteigpasteten und – je nach den Wünschen des entremetiers – die unterschiedlichsten Teigumhüllungen zur Verfügung standen.
Wenn es keinen auf Eisspeisen spezialisierten bzw. Dessertkoch gab, kümmerte er sich auch um Eis und andere Nachtische. Der glacier-limonadier schließlich war betraut mit der Herstellung der Füllungen bzw. Sirups und Cremes, Gramolaten bzw. alkoholisierten Erfrischungsgetränke; Eisbomben, Eisbiskuits, Schlagsahne und Eiscreme, Schaumcreme, Sorbet, kühle Bischof- und Punschgetränke.
In den Bürgerhäusern gab es einen eigenen Tafelservice. Diese Aufgabe war dem maître d‘hôtel anvertraut, „der völlig unabhängig von der Küche arbeiten konnte“. Zu seinem Aufgabenbereich gehörten Dessert, Likör, Sirup, Tee, Kaffee und Schokolade. Was die Küchengehilfen betraf, so mussten sie in den einzelnen Teilbereichen der Küchenarbeit jeden Morgen Gemüse schälen und den Teller für den jeweiligen Service vorbereiten. [Sie] holen in der Speisekammer die Artikel, die ihr Koch benötigt. […] Sie müssen regelmäßig die gängigen Tischartikel in ihrem jeweiligen Küchendienst instand halten […] und die Tische, Instrumente des täglichen Gebrauchs sowie den Fußboden ihres Arbeitsbereichs sorgfältig sauber halten.
Für Gustave Garlin stand es außer Zweifel, dass die Aufgaben der Köche in den privaten Bürgerhäusern und in den Restaurants austauschbar seien. Einzige Ausnahme: der Küchenjunge, „eine der aktivsten Hilfen bei der Küchenarbeit“, die dem Bratenkoch zur Hand geht, Fisch, Geflügel und Wild ausnimmt, Grill und Spieß vorbereitet, ganz allgemein die Herde vorheizt, Töpfe, Soßen und Pfannen anreicht, Suppen und Soßen abschöpft, blanchiert und ausbrüht, Kalbsköpfe und Lammhaxen ausbeint, die Muscheltiere vorkocht […].
In den bürgerlichen Haushalten war der Küchenjunge dank seiner langen „Lehrjahre“ in verschiedenen Häusern zu einem geschulten Koch gereift, der sich nicht allein auf die Kochkunst verstand, sondern auch auf das Bäckerhandwerk, die Herstellung von Eisspeisen und den Service. Sein Ziel war es, eines Tages selbst Küchenchef zu werden. In den Restaurantbetrieben waren die Küchenjungen demgegenüber gemeinhin weniger gelehrig. Sie hatten nicht denselben Ehrgeiz, sich in der Kunst des Kochens zu perfektionieren, was sie allerdings nicht daran hindert, es bisweilen bis in eine sehr ansprechende Stellung zu bringen, weil sie sich mit ihrem Ersparten leichter etablieren können als ein Künstler mit seinem Talent.
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Beim der Kundenbedienung im Speisesaal eines Restaurants handelte es sich um eine ähnlich streng hierarchisierte Ordnung. An der Spitze stand der Oberkellner, dem die chefs de rang unterstellt waren, die ihrerseits wieder die Arbeit der Jungkellner befehligten und überwachten. Handelt es sich bei der Beschreibung Gustave Garlins um eine theoretische Idealvision des Berufs im ausgehenden 19. Jahrhundert? In jedem Fall lässt sich sagen, dass die Berichte der Köche selbst ganz ähnlich zu lesen sind. Der Kochberuf in bürgerlichen Privathaushalten Vom Ende des 19. Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg hatten die Köche in den bürgerlichen Haushalten immer noch den Status von Dienstboten. Sie standen im Dienst von adeligen bzw. großbürgerlichen Familien, die damals in den Städten ihre hôtels particuliers und auf dem Land ihre Gutsherrensitze hatten. Paul Oudin, der als Koch in Privathaushalten tätig gewesen war, schildert in seinen Erinnerungen den Alltag in den für ihre exquisite Küche bekannten und nach dem französischen Staatsmann Talleyrand benannten Stadtpalästen der Place Vendôme und der Rue Saint-Florentin, in dem sich heute die amerikanische Botschaft befindet und gegenüber das hôtel particulier des Baron Alphonse de Rothschild: Es war ein berühmtes Haus. Der Küchenchef hieß Léon Barré. Hier wurden Diners aufgetischt, wie sie nicht besser und vollkommener hätten sein können. Oftmals ließ nach dem Essen die Baronin den Küchenchef kommen. Er war sich der geleisteten Arbeit bewusst, und trat ruhigen Gewissens vor die Hausherrin, die ihn respektvoll und bedauernd mit Kritik überschüttete. Barré gelobte für das nächste Mal Besserung und verließ den Salon. Als er weg war, protestierten die Gäste, alles sei doch exquisit, perfekt, köstlich gewesen, worauf die Baronin nur erwiderte, dass sie das natürlich auch wisse, aber dass dies notwendig sei, um gut bedient zu werden.
Paul Oudin führt uns sodann in weitere dieser villenartigen Stadtpaläste: das hôtel du duc de la Trémouille in der Avenue Gabriel, das hôtel du Cercle de l‘Épatant in der Rue Boissy d‘Anglas, den Stadtpalast der spanischen Königin Isabelle II. in der Avenue Kléber, dort, wo heute das Luxushotel Majestic steht, oder auch das hôtel Deutsch de la Meurthe an der Place des États-Unis und das hôtel Bischoffsheim, der sich in unmittelbarer Nähe dazu befindet. In der Avenue Montaigne waren zwei wichtige Häuser. In der Hausnummer 18 das Hôtel de Madame Porgès: Der Küchenchef war Marion, dessen Körperfülle ein solches Ausmaß erreichte, dass er im Omnibus zwei Plätze brauchte. Es war wirklich ein Haus der obersten Güte mit festlichen Diners und Empfängen unter Marions Leitung, der trotz seiner majestätischen Leibesfülle vor Lebhaftigkeit nur so sprühte. […] In der Hausnummer 20 befand sich die neu errichtete Stadtvilla der Familie Stern, in der ich als Küchenjunge arbeitete. Der Chefkoch hieß Victor Duverne und war ein fürchterlicher Schreihals. Seine Schreie drangen aus der Küche bis hinaus auf die Avenue, wo er sicherlich allseits bekannt war. Bei seinen Wutanfällen verfärbte sich sein Gesicht. Er begann zu stottern und die Selbstbeherrschung zu verlieren.
Auf dem linken Seine-Ufer befanden sich die Stadtpaläste des Faubourg Saint-Germain und die Botschaften, die den rechtsseitig gelegenen hôtels particuliers in ihrer luxuriösen Pracht in nichts nachstanden. In den Auslandsvertretungen war die Kü-
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che in der festen Hand französischer Köche und Chefköche. Lange arbeitete beispielsweise der Vorsitzende der Société des cuisiniers français, Victor Michon, in der österreichisch-ungarischen Botschaft. Lehrjahre eines Küchenchefs Bis zum Inkrafttreten der Schulgesetze Jules Ferrys, mit denen die Grundschule obligatorisch, kostenlos und laizistisch wurde, begann die berufliche Ausbildung gewöhnlich schon mit 11 bzw. 12 Jahren. Danach lag der Beginn der Lehrzeit lange bei etwa 14 Jahren.42 Paul Oudin schildert ebenfalls, wie er in einer Konditorei in Blois am Ende des 19. Jahrhunderts seinen Beruf erlernte: Im Juni 1891 fing ich als letzter Lehrling in dem Hause Gaucher in der Rue Denis Papin in Blois meine Arbeit an. Es ist schier unglaublich, dass man sich mit einer derartigen Unbekümmertheit, wie ich es tat, einem doch ganz anderen Leben beugen konnte, als ich es bis dahin geführt hatte. Ich verließ die reine Landluft und die weiten Felder meiner Heimatregion Beauce. Damit hatte es jetzt ein Ende. Und was erhielt ich im Gegenzug? Ich durfte in einem Keller ohne frische Luft im flatternden Schein einer Lampe stundenlang ununterbrochen arbeiten. Bei meinen Eltern schlief ich in einem großen Zimmer, in dem allein das unermüdliche Ticktack der alten Standuhr die nächtliche Ruhe störte. Dagegen tauschte ich einen schmutzigen, im Winter eisigen und im Sommer überhitzten Schlafraum, in dem es vor Flöhen nur so wimmelte.
Im Laufe seiner Lehrjahre reifte die Nachwuchskraft zu einem milicien, einem Küchensoldaten, heran, der gewöhnlich mit dem Geschirrspülen und dem Reinigen von Töpfen und Herden beginnt, bevor er sich der eigentlichen Küchenarbeit widmet. Das Leben dieser miliciens lässt sich dem ehemaligen Küchenchef Paul Oudin zufolge so schildern: Wenn in einem bürgerlichen Haus, in dem bereits ein Koch und ein Küchenjunge beschäftigt waren, zu viel Arbeit anfiel, stellte der Küchenchef, wenn es ihm möglich war, eine Nachwuchskraft ein, die weder Lohn erhielt noch eine Unterkunft. Sie verdiente sich ihr Essen, und wenn eine Stelle für sie gefunden wurde, wurde sie durch eine andere ersetzt.43
Als junger Lehrling ohne feste Anstellung handelte es sich bei dem milicien oftmals um einen jungen Mann aus der Provinz, der in Paris eine völlig andere Welt entdeckte:44 Eine richtige Stelle bekommt er nicht. Aber als Küchensoldat kann er seine ersten Schritte machen, und schon am nächsten Tag ist er an der Arbeit. Was für eine Veränderung! Nach den 42 Diese Regel galt noch nach dem Krieg von 1914 – 1918, wie aus der in der Revue culinaire (1921: 81) veröffentlichten Ausbildungsregelung hervorgeht, die zwischen dem Wirtschaftsverband der Restaurantbesitzer aus dem Departement Seine, dem Zusammenschluss der großen Pariser Hoteleinrichtungen und der Société des cuisiniers de Paris hervorgeht: „Art. III – Das Kind muss französischer Herkunft und mindestens vierzehn Jahre alt sein. Es muss seine Geburtsurkunde vorlegen und eine solide Grundschulbildung genossen haben; Art. V – Die Lehrzeit dauert zwei Jahre ohne Unterbrechung […] (mit einer Probezeit von zwei Monaten).“ 43 Paul Oudin, „Le milicien“, in: L‘art Culinaire 1894. 44 Die geographische Herkunft der Pariser Köche ist nur unzureichend bekannt. Viele von ihnen kamen aus den angrenzenden Departements und den Departements aus dem Herzen Frankreichs.
Der Gastwirt, nach einem Stich von Daumier. © Musée Carnavalet, Foto Gérard Leyris
Die neue Köchin, nach einem Stich von Lebeau © Musée Carnavalet, Foto Gérard Leyris
Kochausstellung 1890. Öffentlicher Kochkurs für jedermann, Zeichnung von Fertom. L‘art culinaire (1890)
Drei Tischpräsentationen von F. Morillo, Zeichnungen Gérard Tantet. L‘art culinaire (1889)
Forelle in Sahnesoße mit Sockelpräsentation, Geflügelbrust, Kalbsbries, Lerchenkoteletts, gebratenes Rebhuhn usw. L‘art culinaire (1890)
Der Koch gestern und heute © Bibliothèque des arts décoratifs, Paris, Sammlung Maciet.
Empfehlungsschreiben Louis Duchemins für Marcel Chamaillard. Privatbesitz des Autors
Charles Driessens, Begründer des Haushaltungsunterrichts: oben mit Kollegen; unten mit zwei Schülerinnen. Nach einer Zeichnung Paul Renouards © Bibliothèque des arts décoratifs, Paris, Sammlung Maciet.
Der Restaurantbetreiber der Hôtellerie du Coq hardi (Bougival, Île-de-France) mit Personal. ©Seeberger, Arch Photo CMN, Paris
Köche mit Butler oder Restaurantbetreiber (?), um 1946. © Agence Roger Viollet
Köche zu Beginn des 20. Jahrhunderts © Agence Roger Viollet
Küchenchef, erste Hälfte des 20. Jahrhunderts © Bibliothèque des arts décoratifs, Paris, Sammlung Maciet.
Küche in der privaten Stadtvilla Camondo, Herd und Grillanlage. © Musée Nissim de Camondo, Paris, Foto Stéphane Olivier.
Koch in der Gemeinschaftsgastronomie bei der Anrichtung eines Gerichts. Foto des Autors
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dunklen und klebrigen Kochräumen mit ihren abgegriffenen und verbeulten Gerätschaften steht er nun inmitten einer Küche mit glänzenden Kupfertöpfen, gekachelten Wänden und Regalreihen voller Kücheninstrumente, die er noch nie gesehen hat. Der farbige Fliesenboden wird mehrmals um Tag gereinigt und glänzt dementsprechend sauber. Angesichts dieser Gegensätze muss sich unser armer kleiner Küchenarbeiter erst einmal zurechtfinden. Und wie anspruchsvoll der Chef ist, der mit den so schwer zu befriedigenden Künstlern seiner Zeit zusammenarbeitet und seine Rezepte als ein in Stein gemeißeltes Dogma betrachtet! In den ersten Tagen hört er nur: „Junge, dein Sandgebäck ist zu hart, die Génoise zu fest.“ Bei der Zubereitung eines Kuchens muss der Teig fein und zerbrechlich sein, und er hat alle Mühe, dass er ihm nicht unter den Händen zerbröckelt. Was für eine geheimnisvolle und schwierige Kunst die Küche doch ist. Er weiß nichts, und alles, was er bisher gesehen und getan hat, ist nichts mehr wert. Immer wieder hört er: „Beeil dich doch, du machst nicht schnell genug. Du musst zügiger arbeiten!“ Und dann noch der vor Hitze glühende Herd, der ihm die Röte ins Gesicht treibt.45
Mit seiner ersten Anstellung wird aus dem Küchensoldaten ein Küchenjunge.46 Ihm obliegt nun die Vorbereitung des Frühstücks, das morgendliche Gemüseschälen, wenn er von den Markteinkäufen zurückkommt oder die Waren geliefert werden. Er muss dem Küchenchef bei der Zubereitung des Mittagessens zur Hand gehen und sich vor allem um das Hauspersonal kümmern, eine Arbeit, die gerade in den großen Häusern, in denen viele Angestellte zu ernähren sind, sehr anstrengend ist. Nach dem Mittagessen hat er eine kurze Ruhepause, bevor es mit der Arbeit weitergeht: Geschirrspülen, Vorbereitung des Abendessens und oft Konditorarbeiten. Lange Arbeitstage enden oft nicht vor zehn Uhr, und Freizeit gibt es kaum. Am Abend werden die Türen der großen Stadtvillen häufig um elf Uhr geschlossen. Es bleibt also nicht viel Zeit für einen Spaziergang vor dem Zubettgehen. Manchmal ging der Küchenjunge abends allerdings auch in die so genannten cafésconcerts, in denen Sänger und Sängerinnen auftraten, aber an diesen Tagen hatte, wie es bei Paul Oudin heißt, „der Nachwuchskoch keine Zeit, um zu Abend zu essen“: Es gab damals einfache Vergnügungen. Die cafés-concerts, in denen er für 75 Centime Berühmtheiten singen hören konnte wie Yvette Guilbert, Polin, Dranem, Polaire, Mayol, Vilbert, Reschal und viele andere mehr, waren ihm ein Hochgenuss. Er ging abwechselnd in alle wichtigen Theatersäle: Scala, Eldorado, Petit Casino, Trianon, Gaîté Rochechouart, Cigale, Européen, Parisiana, und im Sommer vergnügte er sich bei den Konzerten im Horloge, Ambassadeurs, Alcazar.47
Im Sommer sind die Arbeitstage noch länger, vor allem zur Jagdsaison, wenn er auf dem Landsitz, auf den er seinen Dienstherrn begleitet hat, das Mittagessen der Jäger um zehn Uhr aufzutischen hat und sich gleichzeitig um das Mittagessen und den Tee für die Damen kümmern muss und natürlich auch das übrige Personal zu bekochen hat:
45 Paul Oudin, aaO. 46 Nach einer oft mehrjährigen Dienstzeit steigt der Küchenjunge zur Küchenhilfe auf, und als solche geht er dem Küchenchef bei der Zubereitung der Gerichte und Rezepte direkt zur Hand. 47 Paul Oudin, „Le garçon de cuisine“, in: L‘art culinaire 1895.
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Kochen als Beruf (1842 – 1880) So wurde es Mitternacht, während der Lehrjunge, der sich vor Müdigkeit kaum noch auf den Beinen halten konnte, die Küche putzte. Am nächsten Morgen musste er in der Jagdsaison wieder um fünf Uhr auf den Beinen sein.48
Paul Oudin im Hause Rothschild Das, was derselbe Paul Oudin in einem in der Zeitschrift Le Cuisinier français (1934) erschienenen Artikel beschreibt, wirft ungeachtet der Tatsache, dass es sich um ein außergewöhnliches Haus handelte, ein erhellendes Licht auf die Arbeitsabläufe in den Küchen der großbürgerlichen Haushalte zur Jahrhundertwende: Ich war nicht wenig stolz, als ich eines schönen Morgens mit meinem bescheidenen Gepäck in der Rue de Monceau Nr. 45, vor dem Wohnsitz des Baron Adolphe de Rothschild ankam. Zuvor hatte ich in Diensten des Grafen Martin du Nord gestanden, wo ich und der Chefkoch Louis Corette allein beschäftigt waren. Jetzt sollte ich also ein großes Haus mit sechs Küchenangestellten kennen lernen. Der Küchenchef Chobaz, die erste Küchenhilfe Jules Repin, die zweite Küchenhilfe Lous Dousset, der Konditor Émile Eigler, die dritte Küchenhilfe Ernest Ramage und schließlich meine bescheidene Person. Es war eine große, gut belüftete und helle Küche im Erdgeschoss. Das Haus, in dem einstmals viel gearbeitet wurde, verfügte über alle modernen Einrichtungen. Der Küchenchef hatte sein eigenes Büro. Es gab je einen Ort zur Verarbeitung von Gemüse, Teigwaren und zum Spülen der Küchengeräte sowie eine geräumige Vorratskammer, die sich leider nicht unmittelbar neben der Küche befand und die mir viele anstrengende Gänge abverlangte. Es gab ausgezeichnete Arbeitsinstrumente. Hinter einer Glasvitrine zeugten die unterschiedlichsten Backformen noch von vergangenem Glanz. Ein Holzofen war vorhanden sowie ein Bratenspieß für mehrere Geflügel gleichzeitig. […] Wir hatten neben dem Baron und der Baronin, zwei schon hoch betagten Herrschaften, drei Sekretäre und eine Reihe von Hausangestellten, insgesamt rund 35 Personen, zu bedienen, die immer vor unseren Dienstherren aßen.
Man staunt, wenn man liest, dass Chobaz, der Chefkoch, Gehrock und Zylinder trug. Dieser angestellte Chefkoch, der in dem Hause seiner Arbeitgeber letztlich nichts anderes war als ein Dienstbote, gab sich wie ein Herr, wenn er nicht mehr in der Küche stand und durch die Stadt promenierte. Andere Köche in vergleichbarer Position gingen sogar zu den Pferderennen: Dann war da noch der Küchenchef. Monsieur Chobaz war damals bereits 74 Jahre alt und dem Haus schon seit 45 Jahren verbunden. Stets trug er eine Art Gehrock, dessen beide Spitzen seitlich zum Boden hin zeigten. Sein Haupt zierte immer ein Zylinder. Der ihm verbliebene Haarkranz und der Schnurrbart waren mit einem Frisiereisen in Form gebracht. Er war jeden Tag frisch rasiert, und so war er wirklich eine stolze Erscheinung, die man sich ohne weiteres mit einem Schwert an der Seite und Spitzenhemd wie im vorrevolutionären Frankreich hätte vorstellen können. Er war ausgesucht höflich und redete uns oft mit Monsieur an. Wenn er mich brauchte und ich nicht gleich antwortete, ging er mich mit den Worten suchen: „Wo ist der Küchenjunge? Monsieur Paul, wäre es möglich, dass Sie kurz zu mir kämen?“
Die Köche hatten zweimal zu kochen, zuerst für die Baronin und den Baron und dann für das restliche Hauspersonal, wobei nicht unbedingt jene Aufgabe die schwierigere war, die einem spontan vielleicht in den Sinn käme: Das Kochen für die Baronin war leicht. Ihr Essen bestand immer aus einem kalten Gericht, das ihr entweder morgens oder abends serviert wurde und das stets aus Geflügel, Galantine, Zunge,
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Schinken usw. bestand. Bei den warmen Gerichten handelte es sich fast immer um Geflügel, Gemüse und einen Zwischengang.
Wie in den Bürgerhäusern üblich wurden die Speisepläne dem Hausherrn bzw. der Hausherrin vorher gezeigt, der sie dann wieder an den Küchenchef zurückgehen ließ: Monsieur le Baron brachte seine Zufriedenheit bzw. Unzufriedenheit mit den Speisen über den Menüplan zum Ausdruck, den er mit roten und blauen Bleistiftnotizen anmerkte und dann wieder zurückgehen ließ. Seine Küche war allerdings nicht sonderlich kompliziert: Morgens gab es ein reichhaltiges Frühstück mit Fisch, Geflügel und oft Lammkoteletts. […] Das Abendessen war dagegen leicht: Manchmal gab es gekochte Eier, Geflügelbrot, eine Cremefüllung, deren Zubereitung großzügigerweise mir anvertraut wurde, Trauben- bzw. Orangengelee oder ein Zwischengang mit Bäckereiwaren.
Ende des 19. Jahrhunderts standen im Dienst des Baron Adolphe de Rothschild in der Rue de Monceau zwei maître d‘hôtel, jeweils sechs Kammerdiener für den Baron und die Baronin. Dazu kamen noch zahlreiche Lakaien, einfache Diener, Wäscherinnen und vier Portiers. Die Küchenchefs in den herrschaftlichen Bürgerhäusern verdienten nicht viel: Ihr Lohn lag zwischen 1.500 und 1.800 Franc. Allerdings sollten dabei nicht die „Nebenverdienste“ vergessen werden, mit denen nicht selten eine Summe von 4.000 Franc und mehr erreicht werden konnte. Diese Praxis der Nebenverdienste war zum Teil bis nach dem Zweiten Weltkrieg gang und gäbe. Die französischen Ausdrücke l‘anse du panier, le sou du denier oder auch la gratte bezeichnen dabei eine Praxis, mit der der Küchenchef, wenn er bei seinen Lieferanten bestellte, den Betrag jeder einzelnen Bestellung aufrundete und die Differenz zwischen dem auf der Rechnung oder in den Rechnungsbüchern angezeigten Betrag und dem tatsächlich bezahlten Warenpreis in die eigene Tasche steckte. Letztlich war diese Praxis allen recht: Die Dienstherren mussten ihr Personal nicht sonderlich gut entlohnen, die Lieferanten sicherten sich dadurch die Treue der Küchenchefs, die damit selbst wiederum ihr Einkommen aufbesserten, insofern sie ihren monatlichen Verdienst verdoppelten, wenn nicht gar verdreifachten. Die Berufsstatistiken Neben den Köchen in den herrschaftlichen Häusern gab es noch viele andere Kategorien von Köchen, wie etwa die einfachen Gastwirte (Traiteurs), die Hotelköche, jene, die für die sich mehrenden gesellschaftlichen Zirkel kochten49 oder in den großen Restaurants, den Pensionen, den billigen Restaurants mit Fixpreismenüs, den Restaurants à la carte, den Suppenküchen und den Weinstuben tätig waren. Einer Untersuchung aus dem Jahre 1893 zufolge beschäftigten die Hotels, Gesellschaftszirkel und Restaurants in der Küche 5.000 Mitarbeiter, davon 1.500 gelernte Köche, die sich mit zusätzlichen gelegentlichen Beschäftigungen zufrieden geben mussten. 49 Der Historiker Éric Mension-Rigau hat gezeigt, dass die Gesellschaftszirkel in den 1880er Jahren zu den größten Moden männlicher Kontaktformen geworden waren: „1885 zählt man in Paris dreiundsiebzig, während es 1860 lediglich einundzwanzig waren.“ Jules Gouffé, Autor des Livre de cuisine (1867) war selbst Koch in dem prestigeträchtigsten dieser Pariser Zirkel, dem Jockey Club.
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In den großen Restaurants mit Festpreismenüs arbeiteten rund sechzig Köche, in den billigen Restaurants mit festen Menüpreisen zwischen 1.400 und 1.500, und in den gehobenen Restaurants mit einer umfangreichen Speisekarte belief sich die entsprechende Zahl auf 2.500 bis 3.000. 1.000 Köche arbeiteten in den Suppenküchen und rund eine Hundertschaft in den Weinschänken mit Speiseangebot. Insgesamt zählte man 10.000 Restaurantköche in Paris, wenn man alle Küchenchefs, Jungköche, Küchengehilfen und selbst die Tellerwäscher mit einrechnet. Anderen Zahlen zufolge sollen in Paris Ende des 19. Jahrhunderts angeblich 14.000 Köche tätig gewesen sein. Eines steht jedenfalls fest: Es handelte sich um eine bunt gemischte Berufsgruppe. Verdienst, Einkommen und Status konnten verschiedener kaum sein. Während die meisten Chefköche zwischen 100 und 125 Franc im Monat verdienten, brachte es der Küchenchef in einem großen Privathaushalt immerhin auf einen Jahresverdienst von 12.000 Franc, und dabei handelte es sich allein um das legal erworbene Einkommen, während sich der Koch in einem Restaurant mit Festpreismenü mit jährlich 2.000 Franc zufrieden geben musste. Der Chefkoch für die Soßenzubereitung, der dem Küchenchef unterstellt war, verdiente monatlich zwischen 80 und 90 Franc und stand ein oder zwei Soßenköchen vor. Ein Bratenkoch erhielt pro Monat 60 bis 70 Franc. Das Monatsgehalt eines entremetier50 bewegte sich im Durchschnitt zwischen 70 und 80 Franc. In den großen Herrschaftshäusern hingegen konnte sich dessen Jahresverdienst auf 1.200 bis 3.000 Franc belaufen. Die Chefköche, die so genannten gros bonnets, verdienten in den großen Hotels zwischen 4.000 und 12.000 Franc jährlich, die Jungköche dagegen mit etwa 5.000 Franc um die Hälfte weniger. Je niedriger man auf der beruflichen Leiter stand, desto geringer war auch der Lohn. Die undankbarste und am schlechtesten entlohnte Arbeit war die des Tellerwäschers, die monatlich zwischen 50 und 60 Franc erhielten. Veranschlagt man freie Kost und Logis auf 750 Franc, so kommt man auf ein Jahresgehalt zwischen 1.350 und 1.470 Franc. Außerdem durften die Tellerwäscher die übrig gebliebenen Knochen und das Fett weiterverkaufen, vor allem an Schweinemästereien. Sowohl in den Restaurants als auch in den Hotels dauerte der tägliche Arbeitstag der Köche gewöhnlich mehr als zwölf Stunden (sieben Stunden am Vormittag und acht Stunden am Abend). Freie Urlaubstage waren selten, nachgerade eine Ausnahme: ein Ruhetag pro Monat, der nicht einmal regulär bezahlt war. Manche Küchenchefs nahmen sich im Sommer vierzehn Tage frei. Die Köche hatten freie Kost, und die Jungköche wurden oftmals auch untergebracht. Diesbezüglich ist in der Untersuchung von 1893 zu lesen:
50 Der entremetier war der für Zwischengerichte verantwortliche Spezialpatissier. Ende des 19. Jahrhunderts handelte es sich dabei im Wesentlichen um süße Zwischengerichte wie etwa Bayerische Creme, Löffelbiskuitkuchen, Kompotte, Reis- bzw. Griesaufläufe, Pudding, Sorbet und Soufflés.
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Der Tellerwäscher „Er fängt als erster mit der Arbeit an und hört als letzter auf. Morgens muss er das Geschäft auf- und abends, wenn die Köche und Kellner nach Hause gegangen sind, wieder zuschließen. Nachdem er morgens die Küche geputzt und aufgeräumt und die Öfen angeheizt hat, geht er mit einem Korb oder einer Kiepe in das Hallen-Viertel, wo er, die schweren Vorräte, die sein Chef auf dem Markt eingekauft hat, schultert. Unter der schweren Last ächzend, schleppt er sich nach Hause, leert seinen Korb und muss für einen zweiten und manchmal für einen dritten Gang ins Hallen-Viertel. In dem dunkelsten Winkel des Untergeschosses, wo auch die Küchen sind, befindet sich der Spülraum. Im Lichte einer schmalen Luke, durch die nur wenig Luft und noch weniger Tageslicht dringt, oder beleuchtet von einer einfachen Gaslaterne steht ein Mann mit bloßem Oberkörper über einen riesigen Kupferbottich gebeugt voll mit fettigem Wasser, das mittels eines Holzkohleofens in der Mitte des zylinderförmigen Behälters beheizt wird. Dieser Bottich, der mit Töpfen, Pfannen und Kesseln gefüllt ist, verströmt einen Ekel erregenden, pestilenzartigen Gestank, eine Mischung aus Öl-, Fett-, Kieselgur- und Gasgerüchen. Dieser breitschultrige Mann ist der Wäscher. Seine schwieligen Hände haben ihre menschliche Form verloren. Seine Fingernägel sind durch das Reiben und Kratzen völlig abgeschliffen. Fast liegt das Fleisch der Fingerkuppen frei. Wie die Ringer so trägt auch er lederne Stützbänder um das Handgelenk, und seine nackten Arme zieren übermäßig dicke Muskeln, die durch eine mühsame und unablässige manuelle Arbeit ausgebildet wurden. Er ist nur mit einer Leinenhose und einer groben Schürze bekleidet. An den Füßen trägt er Holzpantoffeln. Von Zeit zu Zeit richtet er sich auf. Mit seiner schwieligen, nassen und fettigen Hand fährt er sich durch das feuchte Haar und wischt sich den Schweiß von der Stirn. Dann greift er zu einem rauen Tuch, mit dem er sich das Wasser, das seine bloßen Schultern herunterrinnt, abwischt. Ab und zu tritt er zurück von seinem dampfenden Bottich, aus dem graue Gas- und Dampfwolken entweichen, um die etwas weniger stickige, aber kaum weniger unreine Luft tief einzuatmen, die ihm aus der Küche bzw. der Kohlekammer entgegenströmt. Dann wendet er sich wieder seiner Aufgabe zu und wäscht weiter, unermüdlich, weil sonst die Berge an Küchengerät, die ihm unablässig aus der Küche und dem Speiseraum zugetragen werden, über den Kopf wachsen würden. Und das alles für einen winzigen Lohn und ein lächerliches Zubrot. Quelle: Alfred Suzanne, „Les coulisses de la cuisine. Le plongeur“, in: L’art culinaire 1891.
Es ist ein anstrengendes Leben. Die Küchen sind schlecht eingerichtet, die hygienischen Verhältnisse unwürdig. Das Essen ist geschmacklos und gemessen an der anstrengenden Arbeit unzureichend: Es besteht das ganze Jahr über aus gekochtem Rindfleisch und Eintopfresten. In den Küchen herrschen bisweilen Temperaturen von über 40 Grad. Anämie und Alkoholsucht sind die Folge.
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Zur Berufsgruppe der Köche zählten natürlich auch die Köche in den Großküchen von staatlichen Einrichtungen und Warenhäusern. Chatillon-Plessis betrachtete speziell den Kaufhauskoch als einen „Wundermacher“, der trotz eines äußert eng bemessenen Budgets zur Bewirtung des Kaufhauspersonals nur eines im Sinn habe, nämlich seine Kundschaft zu befriedigen. Ein weiterer Beobachter verwies vor allem auf die wirtschaftlichen Qualitäten des Kaufhauskochs: Wenn man weiß, dass ein Warenhaus für zwei Mahlzeiten pro Tag und Person die Summe von 1,60 Franc inklusive Wein zur Verfügung stellt, wird man ohne Weiteres einsehen, was für eine Intelligenz, Energie und Diplomatie ein Koch unter vergleichbaren Bedingungen entwickeln muss, um seiner Aufgabe, das Personal eines wirklichen Kaufhauses ansprechend zu ernähren, gerecht zu werden.51
Hinzu kommen noch die Köche in den Krankenhäusern, Gymnasien und Gefängnissen. Auch wenn wir nur wenig über sie wissen, ist doch unbestritten, dass diese gering qualifizierte und am wenigsten „professionalisierte“ Kategorie der Berufsgruppe der Köche bei der Verbreitung neuer Essensgewohnheiten und bestimmter Nahrungsmittel eine Rolle gespielt haben. Das gilt etwa für das Rindfleisch, das ab 1866 zu dem Speiseplan für kranke Erwachsene in den öffentlichen Krankenhäusern gehörte: Dem neuen Speiseplan zufolge muss bei jeder Mahlzeit Fleisch serviert werden, und nicht immer nur in gekochter Form. Mehrmals pro Woche muss es gegrillt oder gebraten serviert werden. Fisch, Eier, Saisongemüse, Rinderragout und Innereien kommen ebenfalls auf den Speiseplan.
Eine vergleichbare Rolle spielten die Militärköche, die für eine größere Verbreitung der Anfang des 19. Jahrhunderts von Nicolas Appert erfundenen Lebensmittelkonserven sorgten. Die Fleisch- und Fischkonserven, die schon zur Zeit des Krimkrieges genutzt worden waren, gehörten sodann zu der Standardausrüstung der Armee. Ungeachtet dieser Heterogenität und Gegensätze am Ende des 19. Jahrhunderts verkündete die Berufsgemeinschaft der Köche lautstark ihre Verbundenheit mit der „französischen“ Küche, ihren Wunsch, ihr zu dienen und aktiv für sie einzutreten. Was genau verbarg sich aber hinter diesen patriotischen Erklärungen der französischen Köche?
Einheit und Vielfalt der „französischen“ Küche Ende des 19. Anfang des 20. Jahrhunderts prallten die Nationalitäten aufeinander und der Nationalismus insgesamt in Europa verschärfte sich. In Frankreich versuchten Köche und Gastronomen die „nationale“ Küche und die „nationalen“ Gerichte, aus der diese bestünde, zu bestimmen. Ihre Wahl fiel schließlich auf den pot-au-feu, den klassischen französischen Eintopf: Tatsächlich scheint eher der klassische Eintopf […], der sowohl in einfachen Hütten als auch in Palästen zubereitet wird und der vor allem auch das Grundnahrungsmittel der Arbeiterklasse darstellt, die Bezeichnung Nationalgericht zu verdienen.52 51 Meslard, „Le cuisinier de magasin“, in: L‘art culinaire 1890: 99. 52 Philéas Gilbert, „Du potage national“, in: L‘art culinaire 1883: 74. Derselbe Autor nannte auch
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Lässt sich aber überhaupt von einer „französischen“ Küche sprechen, ohne sie mit anderen, fremden Küchentraditionen zu vergleichen und von diesen abzugrenzen? Folgten die Köche und Küchenchefs in den großbürgerlichen Haushalten und die Köche und Küchenchefs in den Restaurants in Frankreich zu Beginn des 20. Jahrhunderts wirklich derselben Küchentradition? Daran lässt sich ernsthaft zweifeln. Folgt man dem König der Gastronomen, namens Curnonsky53, so ließen sich zu dieser Zeit zumindest vier französische Küchentraditionen unterscheiden Die vier französischen Küchentraditionen „Die gehobene Küche ist das angestammte Gebiet der großen Küchenchefs, die sich darauf verstehen, die gesamten, im Laufe der Jahrhunderte zusammengetragenen Kenntnisse des Kochens sinnvoll einzusetzen. Es ist eine zweifellos raffinierte und variantenreiche, nichtsdestotrotz aber ehrliche und loyale Küche, eine Küche mit unzähligen Rezepten, die letztlich auf dem persönlichen Genius jedes einzelnen Kochs aufbaut. Die gutbürgerliche Küche ist der ganze Stolz unserer alten Familien. Es ist eine liebevolle, gepflegte Schmorküche, die man vor allem in den Privathaushalten auf dem Land serviert bekommt. […] Es ist die Küche unserer tapferen Künstlerinnen am häuslichen Herd, die wissen, dass es zur Zubereitung einer schmackhaften Mahlzeit einer Art andächtiger Frömmigkeit bedarf, dass die Zeit keinen Respekt vor dem hat, was man allzu hastig zusammenwerkelt, dass die Dinge „nach dem schmecken müssen, was sie ursprünglich sind“ und dass nichts die Butter ersetzen kann, es sei denn ein gutes Fett und Olivenöl. Die Regionalküche ist eine unvergleichliche Küche, in der sich die Vielfalt unserer 32 Provinzen spiegelt und der wir 5.000 Lokalgerichte verdanken, deren vollständige Liste im Trésor gastronomique de la France einzusehen ist. Und schließlich wäre da noch die bäuerliche Küche, […], eine – wenn man so sagen kann – spontane Küche, die in wenigen Handgriffen mit frischen Zutaten aus dem Hühner- oder Hasenstall, dem nahen Fluss oder dem Obst- und Gemüsegarten auf den Tisch gezaubert wird.“ Quelle: Curnonsky / Pierre Andrieu, Les Fines Gueules de France …, Paris, Firmin Didot, 1935.
die Nationalgerichte der anderen Nationen: In England war es der plumpudding, in Spanien die olla podrida (sic), in Russland der tschi und in Deutschland das Sauerkraut. In den kulinarischen Fachzeitschriften wurde Kuskus als arabisches und Haggis als schottisches Nationalgericht bezeichnet. 53 Maurice Edmond Sailland wurde 1872 in Angers in einer bürgerlichen Familie geboren. Curnonsky, bei dem sich Archaisches und Modernes, Reaktionäres und Innovatives vermischten, warb stets für die von Frauen zubereitete Küche, die er als eine „friedliche Schmorküche“ bezeichnete. Ab 1895 folgte er einem Vorschlag von Alphonse Allais, der ihn vor dem Hintergrund der Allianzbeziehungen zwischen Russland und Frankreich fragte: cur non sky? (warum nicht sky?). Curnonsky, wie er von da an hieß, kam 1956 unter mysteriösen Umständen ums Leben.
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Ist eine solche Klassifikation begründet? In der Tat gab es eine gehobene Küche, die auch haute cuisine genannt wurde, auf Carême zurückgeht und von Escoffier in seinem Guide culinaire54 neu definiert wurde. Es war eine luxuriöse Prunkküche mit ausgesuchten und teuren Zutaten für eine vermögende und privilegierte Klientel – Noblesse, Handelsbourgeoisie und Rentiers –, die sich als Feinschmecker verstand und auf ihren Ruf als Feinschmecker achtete. Eine unter vielen Anekdoten aus der Feder des Chefkochs Philéas Gilbert illustriert die gesellschaftliche Bedeutung und Funktion dieser haute cuisine. Der Vicomte de M. spricht zu seinem Küchenchef: Gern will ich in Ihnen einen Mann von Talent, Ordnung und Pünktlichkeit anerkennen. Ich lege den kulinarischen Ruf meines Hauses vertrauensvoll in Ihre Hände. Plündern Sie die Märkte! Lassen Sie sich von den schönsten Stücken Fisch, Geflügel und Wild, von den schmackhaftesten Stücken Fleisch anziehen! […] Der Vicomte de M. [d. h. der Sprecher selbst] hat nur einen Wunsch und einen Stolz, dass nämlich sein Haus als eines jener bekannt sein möge, in denen gutes Essen an der Tagesordnung steht, und er wird diesbezüglich seinem Koch gegenüber nicht mit Mitteln geizen. […] Auch wenn ich meinem Küchenchef unbegrenzte Mittel zur Verfügung stelle, ist mein Handeln doch vernünftig, weil ich Vertrauen in seine Loyalität und seine unbestechliche Ehrlichkeit habe. Und wissen Sie, Madame, dass dieser Mann ein Künstler ist, ein Künstler in vollem Wortsinn? Er mag zwar zu Ihren Dienern zählen, doch sollten Sie ihm nicht das Unrecht tun, ihn als solchen zu behandeln. […] Wissen Sie, wie viele Jahre dieser Mann gearbeitet, geschuftet, sich abgequält und die moralischen Leiden eines Künstlers ertragen hat, der mit einer Aufgabe konfrontiert ist, die ihresgleichen sucht? Er allein trägt die Verantwortung. Er muss alles sehen, alles wissen, alles im Voraus erahnen. Nichts darf sich seinem Scharfblick entziehen. Ich für meinen Teil sehe in ihm keinen Diener, sondern einen Freund und einen Ratgeber für meine Gesundheit und gastronomischen Freuden.55
Die haute cuisine Als Werk der Meisterköche sowohl der herrschaftlichen Häuser als auch der Restaurants und Luxushotels fand die haute cuisine bei Diners und Empfängen in Menüs ihren Ausdruck, die gemäß einer strengen und von der gesamten Zunft getragenen Ordnung und nach festen Prinzipien gestaltet wurden. Chef- und Beiköche waren sich in einem Punkt einig: „Die Speisenfolge beruht auf Regeln und Prinzipien wie die gesamte Küchenarbeit […].“56 Die Regeln bei der Speisenfolge für Abendessen und vor allem auch für Empfänge definierten eine Tafelordnung, die sich über den Ersten Weltkrieg hinaus, in den Bürgerhäusern mit Köchen sogar über den Zweiten Weltkrieg hinaus halten sollte und die Gerichte in der folgenden Reihenfolge vorschrieb: Suppe, warme Horsd’œuvre, größerer Fleisch- oder Fischgang, Entree, Bratengericht, Punsch, Salat, Zwischengericht, Eis, Dessert, Kaffee.57 54 In seinen Souvenirs inédits (S. 128) erinnert Escoffier an sein Werk Le guide culinaire mit dem Hinweis, dass er „durch die Verbannung der Sockelpräsentation die Küche vereinfacht und neue Methoden einer einfacheren Darbietung der Gerichte geschaffen“ habe. 55 „Profils gourmands“, in: L‘art culinaire, 30. September 1889. 56 „Causerie culinaire“, in: Le progrès des cuisiniers, 1. November 1889. 57 Zur selben Zeit beschrieb Chatillon-Plessis folgendermaßen den Verlauf eines Menüs: „Eine
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Die Empfehlungen aus der Zeitschrift L‘art culinaire „Sie sollten dafür Sorge tragen, dass im Laufe eines Abendessens nicht zweimal Fleisch von Schlachttieren oder zumindest nicht zweimal helles Fleisch serviert wird. Keine Beilage sollte wie ein Entree oder selbst wie ein Hors-d‘œuvre präsentiert werden. Ein etwas schärferes Gericht sollte durch einen weniger würzigen Gang abgemildert werden. Zumindest eine kalte Vorspeise sollte die warmen Entrees ergänzen (Aspik, Chaud-Froid oder Mayonnaise). Selbst in Form eines warmen Hors-d‘œuvre sollte ein Fischgericht nicht zweimal vorkommen, auch nicht als kalter Bratfrisch. Nur bei Austern kann eine Ausnahme gemacht werden, da hier ein Fischentree nicht ausgeschlossen ist. […] Dasselbe gilt für Bratengerichte und Zwischengerichte. Zwei Geflügel, zwei Wildgerichte, zwei frittierte Speisen sind zu vermeiden, es sei den in unvorhergesehenen Fällen, wenn etwa Wild schnell weiterverarbeitet werden muss. In diesem Fall ist ein Wildragout oder ein Rebhuhn nach Kartäuser Art als Vorspeise und ein Fasan oder eine Rehkeule als Bratenteller denkbar. […] Wenn eine Gemüsesorte bereits eine Beilage bildet, sollte sie nicht mehr für ein Zwischengericht verwendet werden. Dasselbe gilt für Nudeln, Makkaroni und Lasagne. […] Wenn ein süßes Zwischengericht wie Bayerische Creme, Gelee, Obstsalat Teil des Speiseplans ist, sollte es mit Biskuit- oder Genoisekeksen oder anderen trockenen Beilagen wie etwa einer klassischen Waffel serviert werden. Bei warmen Zwischenmahlzeiten ist eine Beilage nicht nötig. Eisgerichte dürfen in keiner Weise mit den Zwischengerichten zu verwechseln sein, sieht man einmal davon ab, dass sie auch mit Waffeln und Petit fours serviert werden können. Quelle: Gustave Garlin, „L‘art de faire un menu“, in: L‘art culinaire 1889: 179.
heiß servierte, cremige Suppe eröffnet die Speisefolge, reinigt die Zunge von allen, den kulinarischen Sinnen fremden Geschmäckern und „macht damit den Weg frei“ für die ersten nährenden Zutaten. Die kalten Hors-d‘œuvre, die vorpreschende Vorhut des Mittagsessens, werden zu einem Abendessen gewöhnlich nicht serviert. Warme Hors-d‘œuvre können als angenehmes Geleit auf einen Potage Héraut folgen. Die größeren Voressen, Fisch- bzw. Fleischgerichte befriedigen die ersten Anwandlungen eines eiligen Appetits. Unter den warmen wie den kalten Entrees erfreuen sich sowohl beim Gaumen als auch beim Auge die Delikatessen der kulinarischen Kunst großer Beliebtheit: Die zu Turbanen aufgetürmten Koteletts, die Lamm-, Seezungen- und Hühnerbrustfilets; derart viel Hübsches und Nahrhaftes mit feiner Soße, umgeben von einem durchsichtigen Geleemantel. Das ist der paradiesische Moment des wahren Gourmets. Der Braten ist für den gesunden Appetit, was das Entree für die feine Zunge bedeutet. Er ist eine kräftigere, energischere und weniger delikate Gaumenfreude. Rindfleisch und Königinnenpoularde sind hier Ton angebend. Und nun zu den letzten Gängen dieses königlichen Festzuges: die Gemüsegänge, die zwischendurch serviert werden, eine ausgelassene Truppe, die einnachsich-
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Die haute cuisine war sowohl als Augenschmaus gedacht wie zum Verzehr. In dieser Hinsicht aufschlussreich ist die Tatsache, dass sich die Sorgfalt, die auf alles Äußere gelegt wurde, auch in den mehr oder weniger phantasievollen kulinarischen Bezeichnungen niederschlug, die unter den Köchen aber auch Verwunderung auslösten.58 Die Namen für die einzelnen Gerichte sind in der Regel umso hochtrabender, je mehr Wert die Küchenchefs auf ihren Künstlerstatus legen. Letztlich ging es ihnen um Prestige und soziale Anerkennung. Dafür schreckten sie auch nicht davor zurück, den Menschen Sand in die Augen zu streuen. Eine Unterscheidung zwischen der gehobenen aristokratischen Küche und der grande cuisine bourgeoise, der „gehobenen bürgerlichen Küche“, wie der Titel eines Buches von André Guillot59 lautet, war schlechterdings nicht möglich. Beide benutzen für ihre Gerichte auserlesene und teure Luxusprodukte. Beide wollen täglich vergängliche Meisterwerke kochen bzw. nachkochen, die den Geschmack der Kunden bzw. der Dienstherren, der Gourmets und Gastronomen treffen sollen. Gutbürgerliche Küche und einfache Hausfrauenküche: Kochunterricht und Kochpraxis Verglichen mit dieser haute cuisine oder grande cuisine bourgeoise basierte die gutbürgerliche Küche auf Schmorgerichten, die von Frauen, von Köchinnen zubereitet wurden, die, obwohl sie den Kochberuf nie erlernt hatten, auch zu „Meisterwerken“ fähig waren wie etwa Françoise in dem Romanwerk Marcel Prousts60 oder tiges Lächeln auf die Lippen zaubert. Das Defilee wird schließlich mit einer Käseplatte abgeschlossen, die als guter Gendarme auch bei den Gaumenfreuden für Ordnung sorgt!“ 58 In einem Artikel mit dem Titel „Des dénominations culinaires“ (L‘art culinaire 1885: 142-143) schrieb Philéas Gilbert: „Daraus entstehen bei den kulinarischen Begrifflichkeiten zwangsläufig sprachliche Inkohärenzen und Barbarismen, die man – nicht zu Unrecht – den französischen Köchen mehrfach vorgeworfen hat. Gleichwohl haben diese sich nicht davon abbringen lassen, für ihre Kreationen Begrifflichkeiten und eine Sprache zu verwenden, die nicht die unsere ist und die – wie wir bereits weiter oben erwähnt haben – den unerfahrenen Nachwuchskoch nicht selten in Verlegenheit bringen. […] Gewiss gilt das nicht für alle Bezeichnungen. Manche wurden dem französischen Adel gewidmet und tragen so klangvolle Namen wie Talleyrand, Montesquieu, Soubise, Condé, Colbert, Villeroy, Maintenon oder auch „nach Königinnenart“, „nach Königsart“, „nach Kronprinzenart“. Andere wiederum heißen à la Parisienne, à la Lyonnaise, à la Bordelaise, à la Provençale, à la Périgueux, à la Montpellier, oder tragen andere Bezeichnungen, die uns gerade nicht gegenwärtig sind. All diese Namen sind berühmt und französisch, so dass diese Kritik an ihnen abprallt. Wie viele gibt es aber dagegen, auf die diese Kritik zutrifft und die wir aus nahe liegenden Gründen hier lieber nicht anführen wollen. […].“ 59 André Guillot, La grande cuisine bourgeoise, Paris, Flammarion, 1976. 60 Marcel Proust erinnert an den berühmten Rinderbraten mit Karottengemüse der Köchin Françoise. In Du côte de chez Swann (1913) zeichnet er ein Porträt von Françoise, wie sie in der Küche beschäftigt ist: „Zu dieser Stunde, wo ich herunterging, um mich nach dem Menü zu erkundigen, war mit dem Abendessen bereits begonnen worden, und Françoise, die die kräftigen Naturburschen, die ihr als Küchenhilfen dienten, kommandierte, wie in den Märchen, in denen die Riesen sich als Köche verdingen, zerschlug Kohle in kleine Stücke, kochte Dampfkartoffeln und brachte kulinarische Meisterwerke auf dem Feuer zum Garen, die zuvor in Kunsttöpfergefäßen zubereitet worden waren, die von Bottichen, Brätern, Kesseln, Fischpfannen, Wildterrinen über Patisserieformen und kleine Cremeschüsselchen bis hin zu einer kompletten Kollektion von Töpfen in allen Größen reichten.“
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Marie Chevalier, verwitwete Coutance, die als Köchin „einundvierzig Jahre lang“ im Dienst der Familie Curnonsky stand und von der der König der Gastronomen schrieb: Ich erinnere mich an sie als eine große französische Bäuerin und als eine der vollkommensten Köchinnen, die ich je gesehen habe. Das Kochen hatte sie weder in der Schule noch in Büchern gelernt. Diese Gabe war ihr quasi atavistisch angeboren. Sie kochte wie ihre Mutter, wie ihre Großmutter, wie ihre Ur- und Ururgrossmutter es getan hatten, wie zwanzig Generationen treuer Hüterinnen des heimischen Herdes. Sie bereicherte diese Kochtradition um das, was ihre Region und ihre Rasse zu bieten hatten, d. h. Mäßigung, Geschmack, Schlichtheit, Geduld und Einfachheit.
Diese Frauenküche war eine „einfache, klare, geschmacklich schnörkellose Küche ohne Effekthascherei. […] Eine friedliche Schmorküche, eine Küche von Künstlerinnen am heimischen Herd.“61 Wenn man auf der Stufenleiter der Kochkunst eine Stufe weiter nach unten steigt, stößt man auf die „Volks-“ bzw. „einfache Hausfrauenküche“, die – wie ihr Name es verrät – von dem einfachen Volk und den Hausfrauen praktiziert wurde. Die Unterscheidung in mehrere Kochtraditionen ist allerdings nicht allein eine Besonderheit Curnonskys. Vielmehr war sie allgemein akzeptiert und nahm sogar institutionelle Formen an. Zu Anfang des 20. Jahrhunderts zerfiel in der Kochschule Le cordon bleu der Unterricht in die gehobene Küche, die bürgerliche Küche, die Hausfrauenküche und die moderne Küche. Manche Kurse jedoch trugen die Bezeichnung „bürgerliche Hausfrauenküche“, als wollte man eigens darauf hinweisen, dass die Trennlinien in Wahrheit nicht ganz so eindeutig waren. Die haute cuisine in der Kochschule Le cordon bleu (Woche vom 15. Januar 1907) Mittwoch, 16. Januar: Gefüllte Eier nach Elisabethenart (Neuheit) – Rinderfilet nach moderner Art (warmes Gericht für Abendveranstaltungen) – Zarte Hühnerleber mit Trüffel (warmes Entree für Abendveranstaltungen) – Eismandarine Überraschung – Zarte Katzenzungen. Um vier Uhr Fleischschneidetechnik: Technik zum Schneiden von Rinderfilet als Entree. Donnerstag, 17. Januar: Languste nach Pariser Art (Kaltgericht) – Kalbshirn nach österreichischer Art – York-Medaillon nach Frühlingsart (Kaltgericht) – Schokoladenkuchen „Le progrès“ - Buttercreme mit Nugat. Freitag, 18. Januar: Seezungenfilet Sylvette (Neuheit für Abendveranstaltung) – Poularde à la Césarine (Schöpfung des Cordon bleu) – Schinkencreme nach ungarischer Art – Pudding „Sans souci“ (warmes Zwischengericht) – Briocheteig. Um vier Uhr Fleischschneidetechnik: Technik zum Schneiden der Poularde Césarine.
61 Curnonsky, Souvenirs littéraires et gastronomiques, Paris, Albin Michel, 1958: 177-178.
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Kochen als Beruf (1842 – 1880)
Samstag, 19. Januar: Kleine Schweizer Flans (warmes Hors-d‘œuvre) – Hühnchen nach Art des Escorial – Lammschmorbraten nach Marseiller Art – Brioche mit Teigkopf und Brioche aus lockerem Hefeteig – Krapfen (warmes Zwischengericht). Montag, 21. Januar: Rührei, in Formen serviert – Geschmorte Kalbsnuss à la Reine Margot (warmes Entree) – Mürbteigpastete mit Kartoffel – Teigkruste mit Früchten nach Marschallsart (neues Zwischengericht). Dienstag, 22. Januar: Seezungenfilet Robert Charlie (Neuheit) – Tournedos Gabrielle – Kopfsalatherzen, im Fleischsaft geschmort – Zubereitung einer Geflügelgeleegalantine – Malteser Reis (kalten Zwischengericht). Quelle: Le cordon bleu, 15. Januar 1907: 13 – 14.
In den Kursen zur „gutbürgerlichen Hausfrauenküche“ wurde genauso gut ein „Seezungenfilet Marguery“ zubereitet wie ein „Omelette Parmentier“, eine „Wildlerchensülze nach Caenäser Art“ wie ein „Rinderschmortopf“, „Kalbsnieren Polignac“ wie ein einfaches „Kalbsragout Marengo“, ein „gratinierter Merlan“ wie ein „flämischer Rinderschmorbraten“. Im Cordon bleu wurden im Rahmen der „gutbürgerlichen Hausfrauenküche“ Rezepte aus der bürgerlichen Küche weiterverwendet, wohingegen die Haushaltungslehrwerke die „Hausfrauenküche“ als eine vereinfachte bürgerliche Küche definierten. Die haute cuisine, die das Werk sowohl von Restaurantköchen als auch Küchenchefs in den bürgerlichen Haushalten war, unterschied sich im Wesentlichen von der bürgerlichen Küche durch Anzahl und Komplexität der bei der Vorbereitung, dem eigentlichen Kochprozess und der abschließenden Tafelgestaltung anfallenden Handgriffe. Der Unterschied betraf weniger die verschiedenen Zutaten. In beiden Kochtraditionen finden sich nämlich foie gras, Trüffel, Lachs, Steinbutt, Fasan, Schnepfe, Ortolan. Die Darbietung war allerdings genauso wichtig wie die eigentlichen Zutaten: Auf ihrem niedrigen Sockel wirken die großen Fleisch- und Fischgerichte trotz ihrer schlichten Anrichtung elegant und großzügig. Die Entrees werden in einem Nudelteigkörbchen oder einer derart künstlerisch geformten Reisschale angerichtet, dass man fast glauben möchte, es handele sich um eine Albasterschale. Die raffinierten Zwischengerichte werden mit einer anmutigen Zuckerwerkdekoration oder mit einer Zuckerblumengarnitur serviert, für die sich die Natur selbst nicht zu schämen bräuchte; die Eisspeisen thronen auf einem hell leuchtenden Felsen. Recht bald wird Ihr Gaumen die ganze Feinheit der Soßen zu unterscheiden wissen. Damit keine Missverständnisse entstehen: Pracht und Eleganz eines festlichen Abendessens stehen in keinerlei Widerspruch zu Qualität. Es ist in gleichem Maße ein Augenschmaus wie ein Gaumenvergnügen. Das ist meines Erachtens die große französische Küche, der wir unsere unumstrittene Überlegenheit verdanken und deretwegen es in der ganzen Welt heißt: Es gibt keine große Küche ohne französische Köche.62
62 E. Capdeville, „La cuisine en 1891“, L‘art culinaire, 30. Juni 1891: 126.
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Ein Rezept der haute cuisine: Fasan à la Saint-Cyr, aus der Pfanne „Für die Zubereitung der Füllung 80 g frischen Speck in kleine Würfel schneiden und mit ein bisschen Fett in eine Pfanne geben. 250 g Geflügelleber, in Scheiben geschnitten, 125 g rohe fetthaltige Leber und 10 g klein gehackte Schalotten hinzugeben. All diese Zutaten kurz anbraten und sogleich zerstampfen und durch ein Sieb drücken. Die so entstandene feste Masse abschmecken und als Füllung für einen Fasan, der zuvor gerupft, ausgenommen und abgeflämmt wurde, und die entbeinte Brust verwenden. Den Fasan mit einem Fettmantel umhüllen, die Flügel und Beine festbinden und in Butter goldbraun anbraten. 250 ml Madeira hinzugeben und mit 500 ml heller, dicker Bratensoße aufgießen. Den Fasan 50 Minuten in einem fest geschlossenen Topf schmoren lassen. Ihn dann herausnehmen und abtropfen lassen. Den Fettmantel und die Fäden lösen, die Brust herausnehmen, in kleine Streifen schneiden. Diese Streifen so zurücklegen, dass der Fasan in seiner ursprünglichen Gestalt wieder erkennbar wird. Den Fasan auf einem Sockel aus im Ofen gebratenen Herzoginnenkartoffeln mit einer im Topf geschmorten Lerche in der Mitte anrichten. Zwischen jede einzelne Pfanne kommen schöne, enthäutete schwarze Weintrauben, die mit geschälten Walnussstücken vermischt werden. Das Fett des Fasan- und Lerchensuds abseihen, beide Flüssigkeiten miteinander vermischen, durch ein Sieb geben und damit Fasan und Lerchen überziehen. Der Rest der Soße wird heiß in einer Sauciere serviert.“ Quelle: Zusammenfassung des Rezepts von Henri Pellaprat, Le Cordon bleu, 1. Januar 1907: S. 4.
In derselben Ausgabe findet sich auch ein Rezept der bürgerlichen Küche: Glattbutt nach Admiralsart, ein Gericht, das den Eindruck einer leichteren Zubereitung erwecken sollte, weil der ganze Fisch ohne Füllung gekocht wird und die Präsentation lediglich „symmetrisch“ gestaltet werden soll.
Ein Rezept der bürgerlichen Küche: Glattbutt nach Admiralsart „Einen schönen, frischen Glattbutt häuten. Zum schnelleren Garen des Fisches das Filet leicht von den Gräten lösen. Den Glattbutt in eine große Pfanne oder besser noch auf ein zuvor mit Butter ausgestrichenes und einer Schicht Zwiebelringe ausgelegtes Backblech legen und mit zwanzig Milliliter Weißwein und derselben Menge Pilzsud und Fischbrühe begießen. Den Glattbutt im Ofen oder auf der Platte zugedeckt garen lassen und dann auf einem mit Butter bestrichenen Blatt Papier abtropfen lassen. Den Fisch auf einem silbernen, ovalen Vorlegeteller anrichten. 30 g Butter mit einem kleinen Teelöffel feinem Mehl verrühren. Den Fischsud bis auf die Hälfte eindicken lassen, die Mehlschwitze unterheben und diese Soße sodann bei gleichzeitigem Rühren mit einem Holzlöffel zum Binden auf das Feuer stellen.
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Kochen als Beruf (1842 – 1880)
Sobald die Soße gebunden ist, 125 g gekochte und in Scheiben geschnittene Champignons sowie vier schöne Karpfenmilchner hinzufügen. Kurz aufkochen lassen und dann mit einem Eigelb und 125 g Krebsbutter noch einmal binden. Abschließend die Soße mit Salz, (sehr wenig) weißem Pfeffer aus der Mühle und einer Messerspitze geriebenem Muskat abschmecken. Die Soße über den Glattbutt gießen und um den Fisch herum die Karpfenmilchner, sechs schöne Champignons mit dem Kopf nach unten, sechs Krebse, ein Dutzend Muscheln und Austern abwechselnd und symmetrisch anordnen.“ Quelle: J. Morard, Le Cordon bleu, 1. Januar 1907: S. 14.
Die so genannte Hausfrauenküche sollte ihrem Anspruch nach noch einfacher sein als die bürgerliche Küche. Aus dem Cordon bleu lässt sich beispielsweise ein Gericht wie das hachis Parmentier (gehacktes Rindfleisch mit Kartoffelpüree) oder Schweinekoteletts mit brauner Zwiebelsoße nennen. Ein Rezept der Hausfrauenküche: Schweinekotelett mit brauner Zwiebelsoße. Sechs Schweinekoteletts zum Braten vorbereiten und bei kleiner Hitze mit 30 g Butter von beiden Seiten 15 Minuten anbraten, dann herausnehmen und abtropfen lassen. 120 g fein gehackte Zwiebeln in demselben Topf goldbraun anbraten und mit 20 ml Weißwein und einem Teelöffel Essig vermischen. Zur Hälfte einkochen lassen. Mit 15 g Mehl und 20 g Butter eine dunkle Einbrenne anrühren und mit 20 ml Bouillon aufgießen. Vier bis fünf Minuten aufkochen lassen und die Flüssigkeit zu der eingedickten Weißwein- und Essigsoße hinzuschütten. Die Soße gut abschmecken, eine Prise Zucker und, wenn der Topf vom Feuer genommen ist, einen Teelöffel Senf hinzufügen. Die Koteletts auf einen Vorlegeteller legen, mit der Soße übergießen und heiß servieren. Quelle: Rezept von P. Robert, Le Cordon bleu, 15. Januar 1907: S. 46.
Seit Ende der 1880er Jahre wurde die „Hausfrauenküche“ gesondert unterrichtet. Bei dem ersten Kochkurs, den Charles Driessens am 18. Februar 1890 im Pavillon der Stadt Paris für ein „einfaches Publikum“ hielt, ging es um die Zubereitung folgenden Menüs: Eintopf, gebratene Nieren, Lammgeschnetzeltes mit pikanter Soße, Brathähnchen mit Kresse, Eischneeklößchen mit Vanillesoße. In Wahrheit lagen die Hausfrauen- und die bürgerliche Küche gar nicht so weit auseinander: In den einfachen Haushalten wurde ähnlich gekocht wie in den bürgerlichen. Die Rezepte waren oft identisch. Was sich unterschied, waren die Arbeitsbedingungen in den beiden Haushalten: Die einfache Hausfrau stand allein in der Küche, wohingegen die bürgerliche oder gar adelige Hausherrin Köche und Küchenhilfen beschäftigten, die wichtige Arbeiten erledigten. Sowohl die einfache Hausfrau als auch die bürgerliche Hausherrin kennen und schätzen jedoch die gute französische Küche: Gibt es in der Arbeiterklasse etwa eine Frau, die sich nicht darauf verstünde, einen Eintopf oder ein Kalbsfrikassee, ein Wild- oder Fischragout zuzubereiten? Und wenn sie sonntags ihr ge-
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wöhnliches Mahl um einen Gang bereichern möchte und dazu für zwei Franc bei ihrem Patissier einen Vol-au-vent, eine Blätterteigpastete mit dazugehöriger Füllung, bestellt und der Lehrling ihn schließlich bringt, so untersucht sie genauestens den Inhalt, damit auch nichts fehlt und genügend Fleischbouletten, Hirn und Champignons vorhanden sind. Sie vergisst auch nicht, den dazu gehörigen Krebs einzufordern, der den Vol-au-vent gewöhnlich ziert. Auch die Frau aus dem Bürgertum weiß, wie man ein Menü zusammenstellt und ein Abendessen zubereitet, selbst wenn sie nie einen Kochkurs besucht hat. Sie richtet selbst Dessert, Obst und Petit fours an. Und wenn der berühmte Vol-au-vent für zehn Franc geliefert wird, wirft auch sie einen kritischen Blick auf die Beilagen, zählt die Trüffel und versucht aus der Soße Foie gras, Hahnenkamm und Hühnerniere herauszuschmecken.63
Daneben gab es noch die regionale Bauernküche mit Zutaten aus den jeweiligen Landstrichen. Nach dem ersten Weltkrieg haben Curnonsky und Marcel Rouff in ihrer Bestandsaufnahme mehr als 5.000 verschiedene Rezepte verzeichnet.64 So wie es im ausgehenden 19. Jahrhundert in Frankreich mehrere Kategorien von Köchen gab, so lebten unter der Bezeichnung „französische Küche“ auch mehrere Kochtraditionen nebeneinander. Diese Essenstraditionen haben sich im Zuge des gesellschaftlichen Wandels verändert. Die haute cuisine, wie sie Auguste Escoffier in seinem Guide culinaire kodifiziert und illustriert hatte, konnte noch in den Jahren kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges in hellem Glanz erstrahlen. Die anschließende Zwischenkriegszeit war dagegen von einer Vereinfachung des Kochens geprägt.
63 „La ménagère française“, in: L‘art culinaire 1890: 123. 64 La France gastronomique, 1921 – 1928.
Kapitel 4 Auf dem Weg zur Emanzipation (1919–1945) Im Zuge des Ersten Weltkriegs ist die einstige Ordnung der Küchentraditionen verloren gegangen: Die haute cuisine verschwand nahezu ganz, und die kulinarischen Praktiken und Tischsitten, die Speisenfolgen und die Beziehungen zwischen den in der Küche Beschäftigten änderten sich. Zu Anfang der 1920er Jahre war die Situation der Köche überaus kontrastreich. Die Société de secours mutuels des cuisiniers de Paris erlebte die erfolgreichste Periode ihrer Geschichte. Während aber einige Köche außergewöhnlich erfolgreich waren, steckte die Berufsgemeinschaft insgesamt in einer ernsthaften Personalkrise. Viele Köche waren im Krieg gefallen, und den Küchen fehlte es dementsprechend an Personal. Durch eine Reform der Lehre im Jahre 1928 versuchten die einschlägigen Berufsorganisationen mehr Nachwuchskräfte für die Küchenarbeit zu gewinnen. Andererseits hat die Berufsgruppe der Köche natürlich von dem Boom des Gastronomietourismus und der Gastronomievereinigungen profitiert, während Gastronomen und Köche gleichzeitig über die französische Küche und ihre Entwicklung zum Teil kontrovers debattierten.
Stärken und Schwächen der Köche Trotz einer Vielzahl an unterschiedlichen, konkurrierenden Verbänden gelang es den Köchen, sich langsam aus der Umklammerung der Stellenvermittlungsbüros zu befreien. Zu verdanken war dies in erster Linie der Société de secours mutuels des cuisiniers de Paris, die zur größten solidarischen Hilfsorganisation innerhalb des Berufszweiges aufstieg.
Eine blühende Organisation Zu Wohlstand gelang die Société de secours mutuels des cuisiniers de Paris, als Léopold Mourier 1903 den Vorsitz übernahm: In weniger als zehn Jahren verdoppelte sich die Zahl ihrer Mitglieder, und das Kapital der Organisation stieg auf vier Millionen Franc. Entwicklung der Mitgliederzahlen der Société de secours mutuels des cuisiniers de Paris 1887
2.374 Mitglieder (ohne Ehrenmitglieder und Leistungsempfänger)
1.093 Beitragszahler
1888 1898
2.519 Mitglieder 2.546 Mitglieder
1.156 Beitragszahler 1.483 Beitragszahler
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1911 1919 1926
2.708 Mitglieder 5.086 Mitglieder 4.926 Mitglieder
1.982 Beitragszahler 3.000 Beitragszahler 4.185 Beitragszahler
Quelle: Archiv der Société de secours mutuels des cuisiniers de Paris. Von 1890 bis 1910 vermittelte die Hilfsorganisation jedes Jahr rund 2.000 Dauerstellen in Privathaushalten. 1920 lag diese Zahl bei 10.000. Was die Vermittlung von kurzzeitigeren Beschäftigungsverhältnissen betrifft, so belief sich ihre Zahl im Jahre 1900 auf 8.000 und zwanzig Jahre später auf 22.750. Darüber hinaus kümmerte sich der solidarische Hilfsverein um die Ausbildung der Lehrlinge und beteiligte sich 1914 an der Gründung des Amtes für Berufsausbildung, deren Aufgabe in der Zentralisierung und Verteilung der Lehrlingsnachfrage bestand. Léopold Mourier, der die Geschicke der Société de secours mutuels des cuisiniers de Paris bis zu seinem Tode leitete, war außergewöhnlich erfolgreich. ÉtienneLéopold Mourier, wie er mit vollem Namen hieß, wurde 1862 in Montjoux im Departement Drôme in einer Familie von Gasthofbetreibern geboren. Nach seiner Lehrzeit begann er seine Berufslaufbahn als Koch im berühmten Restaurant Marguery. Später arbeitete er in verschiedenen Häusern, bevor er selbst ins Restaurantgeschäft einstieg und zahlreiche angesehene Restaurants erwarb: 1891 übernahm er das Restaurant Foyot und 1897 das Café de Paris. Im Jahre 1900 kaufte er den Pavillon d‘Armenonville, 1908 das Pré Catelan und 1914 das Fouquet‘s. Zum materiellen Erfolg kamen noch Ehrungen und Ämter, wie etwa die Ehrenlegion, die akademischen Palmen, das Bürgermeisteramt seines Geburtsortes sowie das Amt des Generalrats in der Departementalvertretung der Drôme. Nach seinem Tod vermachte er an die Société des cuisiniers de Paris als Universalerbin einen Betrag von fast 20 Millionen Franc.1 Die Auslöschung der Armut war Auguste Escoffier ein Herzensanliegen, und er wollte, dass von Staats wegen eine Altersrente eingeführt werde und dass die dazu erforderlichen Finanzmittel genau wie das Ruhegeld für Angehörige von Militär und Verwaltung aus dem Staatshaushalt entnommen würden.“2 Léopold Mourier hatte seinerseits eine nach ihm benannte Stiftung gegründet, und er leitete vor allem auch das so genannte Familienhaus der Société des cuisiniers de Paris in Cormeilles-en-Parisis. Auch seinen Grundbesitz vermachte er der Hilfsorganisation, d. h. eine Fläche von drei Hektar mit Gärten und Gesindehäusern und einem Blick auf das Seine-Tal und den Wald von Saint-Germain.3 1 2 3
Aufgrund steuerlicher Abzüge war der verfügbare Vertrag geringer. Auguste Escoffier, Souvenirs inédits, Marseille, Jeanne Laffitte, 1985: 154. Das Testament Léopold Mouriers, das in der Revue culinaire (April 2003) in Auszügen abgedruckt wurde, nennt die Bedingungen, die an die Erbschaft in Höhe von damals 20 Millionen Franc, d. h. umgerechnet 2.588.584 Euro, geknüpft waren: „Ihr [der Société des cuisiniers] obliegt es, die Gesamtheit dessen, was sie aus dem Universalerbe bezieht, zur Instandhaltung und Verbesserung des Familienerholungsheimes und Waisenhauses der Verbandsmitglieder in Cormeilles-en-Parisis als Bestandteil meiner Hinterlassenschaft einzusetzen, und es obliegt ihr weiter, dem oben stehenden Familienhaus den Namen „Mourier-Stiftung“ beizufügen. Ich wünsche, dass dieser Zusatz vor der eigentlichen Bezeichnung und nicht nach ihr, wie es ge-
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Das zu Beginn des Ersten Weltkriegs gegründete Familienhaus wurde erst 1920 von dem amtierenden Staatspräsidenten Raymond Poincaré, dem früheren französischen Präsidenten und Ehrenvorsitzenden der karitativen Stiftung Émile Loubet sowie dem Arbeitsminister Pierre Colliard feierlich eingeweiht. Das Familienhaus wurde von Francis Carton, der Léopold Mourier an der Spitze der Société de secours mutuel des cuisiniers de Paris nachfolgen sollte,4 eingerichtet und betreute zunächst 34 Waisen und 25 ehemalige Vereinsmitglieder, die in den Ruhestand gegangen waren. 1924 wurden die Aufnahmekapazitäten und die Lokalitäten modernisiert. Ein neues Gebäude für die Waisen und zur präventiven Betreuung von Tuberkulosepatienten wurde eingerichtet. Im Juli 1922 fand für den Vorsitzenden Léopold Mourier aus Anlass des Erhalts der Auszeichnung zum Offizier der Ehrenlegion und aus Anlass seines 60. Geburtstags ein Festessen statt. Zu den Gästen zählte auch der Minister für Hygienefragen und soziale Vorsorge Paul Strauss. Auf dieser Veranstaltung erklärte der stellvertretende Vorsitzende Hourès: Vor zwanzig Jahren zählte unsere Société de secours 2.000 Mitglieder und besaß ein Kapital von 1.200.000 Franc. Die Höhe der Pension, die an 187 rentenberechtigte Mitglieder ausgezahlt wurde, betrug 240 Franc. Heute zählt sie 6.000 Mitglieder und ihr Kapital übertrifft jetzt die 3 Millionen-Marke. Außerdem wurde die Pensionshöhe auf die gesetzlich festgeschriebene Höchstsumme von 360 Franc heraufgesetzt, auf die 400 rentenberechtigte Mitglieder Anspruch haben. Die Einnahmen lagen letztes Jahr bei 654.000 Franc und das Ausgabenbudget in den verschiedenen Versicherungsbereichen stieg über 400.000. Die schon im September 1914 eingerichtete Kriegshilfekasse konnte die hübsche Summe von 102.000 Franc verteilen. [..] Im Anschluss daran gründete er [Léopold Mourier] das Familienhaus in Cormeilles, in dem sich gegenwärtig 32 mittellose Waisen und 18 Greise aufhalten. Dank dieser Stiftung, die er mit seinem eigenen Vermögen finanzierte, wurde die Société de secours per Dekret vom 28. März 1919 als eine gemeinnützige Einrichtung anerkannt. [..] Léopold Mourier gründete die Revue culinaire, die Monatszeitschrift unserer Vereinigung, deren Auflage sich bereits auf 10.000 Exemplare beläuft. [..] Außerdem rief er auch den Sportverband für Köche ins Leben.
Auf dem Weg zu gesellschaftlicher Anerkennung Der Erfolg Léopold Mouriers, so außergewöhnlich er auch war, war kein Einzelfall. Die Emanzipation der Köche war in Gang gekommen. Die Bewegung dazu begann in den 1930er Jahren. Unabhängig davon, ob sie ihr Restaurant von ihren Eltern geerbt oder – mit oder ohne die Hilfe des Crédit Hôtelier – käuflich erworben hatten, machten sich zu einer Zeit, in der der Großteil der Köche nicht gleichzeitig Eigentümer des Restaurants, in dem sie arbeiteten war, mehrere Meisterköche selbst-
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genwärtig der Fall ist, steht. Falls ich vor meinem Tode nicht alle Aktien der Immobiliengesellschaft der Société de secours mutuels des cuisiniers de Paris aufgekauft haben sollte, möchte ich meinen festen Wunsch zum Ausdruck bringen, dass die Société de secours mutuels, meine Universalerbin, so schnell wie möglich die vollständige Anzahl der Aktien dieser Immobiliengesellschaft gemäß den Satzungsbestimmungen und den in den Statuten vorgesehenen Preisen erwirbt, so dass das Gebäude in der Rue Saint-Roch Nr. 45, in Paris in ihren Besitz übergeht und die Einnahmen aus diesem Gebäude in voller Höhe zur Instandhaltung und Verbesserung des Familienhauses in Cormeilles eingesetzt werden können.“ Francis Carton war zwischen 1923 und 1935 Vorsitzender der Société des cuisiniers de Paris.
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ständig. Das jedenfalls galt für Alexandre Dumaine im Côte d‘Or in Saulieu 1931, André Pic in Valence 1936, Fernand Point in La Pyramide 1931 oder auch für die „Lyoner Mütter“. Nachdem sie als Köchinnen in bürgerlichen Haushalten tätig gewesen waren, wurden die „Lyoner Mütter“, jene von Curnonsky so geschätzten „Vestalinnen des Tisches“, durch den Erwerb von Gaststätten oder einfachen Cafés mit ihren eigenen Ersparnissen Restauranteigentümer: Die Mère Filloux erwarb ein Bistro und die Mère Brazier im Jahre 1921 eine Lebensmittelhandlung mit Restauration in der Rue Royale in Lyon. Mit wachsendem Erfolg überließ sie das Restaurant ihrem Sohn und eröffnete 1932 auf dem Col de Luère ein zweites Restaurant. Auch die Mère Bourgeois und die Mère Léa führten ihr Restaurant in Eigenregie.5 Ein weiteres Zeichen für die gesellschaftliche Anerkennung, die den Köchen in der Zwischenkriegszeit zuteil wurde, sind die Ehrungen und Auszeichnungen, die manche von ihnen erhielten. Philéas Gilbert (1857–1942)6 etwa erhielt die Goldmedaille der Mutualité wegen seines Einsatzes im Rahmen des solidarischen Vereinswesens. Prosper Montagné (1865–1948)7 und Francis Carton wurden 1922 bzw. 1924 zum Ritter der Ehrenlegion ernannt. Und 1928 wurde Auguste Escoffier nach einer langen und eindrucksvollen Karriere in den Stand des Offiziers der Ehrenlegion erhoben. Escoffiers Auszeichnung wurde von der Kochzunft als eine kollektive Ehrung empfunden.8 Am Donnerstag, den 22. März 1928, kamen ihm zu Ehren in den Räumlichkeiten des Palais d‘Orsay mehr als dreihundertfünfzig Gäste unter dem Vorsitz von Édouard Herriot, dem damaligen Minister für Erziehung und Schöne Künste zu einem festlichen Abendessen zusammen. Die Menschenverluste, die man im Laufe des Krieges zu beklagen hatte, hatten die Berufsgemeinschaft allerdings dezimiert, und die Ausbildungskrise führte zu einem Mangel an Arbeitskräften.9 Deswegen bemühte sich die Berufsgemeinschaft
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Georges Blanc / Coco Jobard, La cuisine de nos mères, Paris, Hachette, 2000. Der kulinarische Preisträger und Meisterkoch Philéas Gilbert entwickelte durch seine Mitarbeit bei den Zeitschriften Art culinaire und Revue culinaire als engagierter Journalist eine intensive Aktivität. Laut Gesetzblatt vom 15. Januar 1922. Der berühmte Koch, Traiteur und Chefredakteur der Revue culinaire Prosper Montagné war zudem bekannt als Autor (zusammen mit Pierre Salles) des Grand livre de la cuisine und des Larousse gastronomique (1. Auflage 1938). Der im Jahr seines Todes gegründete Gastronomieverein Club Prosper Montagné trägt seinen Namen. In der Revue culinaire (1928: 119) hieß es: „Das von der Société des cuisiniers organisierte Festbankett zu Ehren des Meisterkochs Auguste Escoffier und seiner Erhebung in den Stand des Offiziers der Ehrenlegion wurde als eine grandiose und ergreifende Veranstaltung zu Ehren der französischen Küche und ihres würdigsten Vertreters verwandelt.“ In der Zeitschrift Art culinaire heißt es im April 1926: „Seit mehreren Jahren verlauten Klagen aus dem Kreis der Hotelierverbände über den Mangel an Kochlehrlingen, die sogar bis ins Parlament vorgedrungen sind. Der Unterstaatssekretär für die berufliche Ausbildung sieht sich daher zur Gründung von berufsqualifizierenden Hotelierschulen gezwungen. Bald werden wohl schon die Grundschullehrer vor ihren Schülern die Vorzüge des Kochberufs preisen müssen. Es fehlt uns an Kochlehrlingen.“
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um eine Verbesserung der Ausbildung der Köche10 und forderte eine Reform der Lehrzeit im Sinne einer rechtlichen Besserstellung der Lehrlinge. Die loi Astier und die Organisation der Ausbildung zum Kochberuf Im Anschluss an den Ersten Weltkrieg wurde im Rahmen der loi Astier, eines am 29. Juli 1919 verabschiedeten Gesetzes, der Besuch berufsbildender Kurse durch die Lehrlinge verpflichtend vorgeschrieben. Diese Kurse sollten für die unter 18-Jährigen kostenlos und obligatorisch sein und überall dort, wo sie nicht vorhanden waren, eigens eingerichtet werden. Die Arbeitgeber mussten ihren Lehrlingen den Besuch dieser Kurse gestatten, die zu einem CAP (Certificat d‘aptitude professionnelle), d. h. einem berufsbildenden Abschluss führten. Gesetzlich vorgeschrieben war eine Aufteilung der Aufgabenbereiche: Während die theoretische Ausbildung der fachspezifischen Wissensvermittlung, d. h. den berufsbildenden Kursen, vorbehalten war, sollten sich die Arbeitgeber um die praktischen Aspekte der Ausbildung kümmern. In dem kochenden Gewerbe ließ die Umsetzung dieses Gesetzes jedoch lange auf sich warten. Zu Anfang des Jahres 1927 begann ein „Initiativausschuss zur Organisation der Ausbildung im Gaststätten- und Hotelleriegewerbe“, das sich aus Vertretern der berufsschulischen Ausbildung, der Société des cuisiniers und der Mutualité hôtelière, d. h. des solidarischen Hilfsvereins der in der Hotellerie Beschäftigten, sowie der Berufsverbände der Restauration und des Einzelhandels zusammensetzte, das Problem der Ausbildung näher zu untersuchen. Die Gespräche mündeten am 17. Januar 1928 in eine neue Lehrcharta. Damit sollten die Rechte des den Kochberuf erlernenden Auszubildenden festgelegt und staatlicherseits garantiert werden. Demnach wurde die Lehrzeit des zukünftigen Kochs auf zwei Jahre bemessen, auf die ein drittes Ausbildungsjahr zu einer so genannten Vervollkommnung der Kenntnisse folgte, in dessen Verlauf der „in der Küche Auszubildende“ (Artikel 1) den berufsbildenden Abschluss, den bereits erwähnten CAP, vorbereiten sollte. Wer mit einer Kochlehre beginnen wollte, musste sein dreizehntes Lebensjahr abgeschlossen haben und einen medizinischen Gesundheitsnachweis vorlegen können. Im Lehrvertrag wurden die Pflichten des Ausbildungsbetriebs gegenüber den Lehrlingen festgelegt. Der ausbildende Betrieb verpflichtete sich, den Lehrling „gerecht und sorgsam zu behandeln“, d. h. wie ein Vater über seine moralische und berufliche Erziehung zu wachen und ihn ausschließlich zu berufsbezogenen Aufgaben einzusetzen (Arti10 In der zweiten Ausgabe der Revue culinaire findet sich folgende Stellungnahme über die Ausbildung zum Kochberuf: „In unserem heutigen Beruf wird die Wissensvermittlung immer notwendiger. Buchführung gewinnt für uns jeden Tag immer mehr an Bedeutung, und auch die Fremdsprachen sollten in das Lehrprogramm unserer jungen Schüler aufgenommen werden: Ich gehe sogar soweit zu sagen, dass Stenographie von großem Nutzen wäre, vor allem in der Zukunft, wo das Telefon immer weitere Verbreitung finden wird. […] Um in den Genuss jener Stellen [im Ausland] zu gelangen, von denen ich weiter oben schon gesprochen habe, reicht aber Wissen allein nicht: Dazu bedarf es auch einer sorgsamen Erziehung, da ein Chefkoch heutzutage ständig in Kontakt mit Menschen steht, die manchmal ein höheres Wissens- und Erziehungsniveau besitzen.“
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kel 6). Vorgesehen war zudem, dass die Lehrlinge an je vier Wochenstunden dem berufsbildenden Unterricht würden folgen können. Die finanzielle Entlohnung des Kochlehrlings war genau festgelegt: In Paris erhält der Lehrling neben Unterkunft, Verpflegung und Wäsche in den ersten sechs Monaten mindestens 60 Franc, vom siebten bis zum zwölften Monat 80 Franc, vom dreizehnten bis zum achtzehnten Monat 100 Franc und vom neunzehnten bis zum zwanzigsten Monat 150 Franc.
Ausdrücklich hieß es, dass der Lehrling von dem Ausbildungsbetrieb eine Unterkunft zu erhalten habe (Artikel 7). Im Anschluss an die ersten beiden Ausbildungsjahre wurde dem Lehrling ein Lehrnachweis ersten Grades ausgehändigt sowie eine Vergütung in Höhe von 200 Franc. Das dritte Lehrjahr sollte innerhalb einer Berufsschule unter Aufsicht der zuständigen Ausbildungsbehörden und der Berufsverbände absolviert werden. Jene Lehrlinge, die an dem berufsbildenden Unterricht des dritten Ausbildungsjahres teilgenommen hatte, durften sich zur Prüfung des Certificat d‘aptitude professionnelle (CAP) anmelden. Doch weder mit der loi Astier noch der neuen Lehrcharta ließ sich die Ausbildungskrise beheben. Parallel dazu ergriff daher in den 1930er Jahren die Pariser Industrie- und Handelskammer die Initiative zur Gründung einer Handwerksschule, in der Fachpersonal in den Nahrungsmittelberufen, d. h. Metzger, Fleischer, Köche, Lebensmittelhändler, Bäcker und Konditoren ausgebildet werden sollten. Die Eröffnung des Atelier-École des métiers de l‘alimentation fand in dem Ausbildungsjahr 1931 / 32 statt.11 Der Begriff Atelier-École (Schulwerkstatt) verdeutlicht, dass die Ausbildung eng mit der Berufspraxis verbunden war. Die Ausbildung dauerte für die 14-jährigen Nachwuchskräfte, die nach dem Volksschulabschluss aufgenommen wurden, drei Jahre. Nach Abschluss des dritten Ausbildungsjahres legten sie ihren CAP ab. Ursprünglich wurden hier 100 Schüler von sechs Berufsschullehrern und sechs allgemein bildenden Lehrern unterrichtet.
Die neuen Herausforderungen der Zwischenkriegszeit Neben dem Krieg, der die Berufsgemeinschaft in Mitleidenschaft gezogen hatte, wurden die Ausübung des Kochberufs und die Küchenpraxis auch durch andere Veränderungen beeinflusst. Dabei spielten vor allem die technischen Innovationen eine nicht unbeträchtliche Rolle. Für ein breiteres Publikum sichtbar wurden diese Innovationen erstmals 1923 auf der Messe für Haushaltsgeräte, die 1926 in Messe für Haushaltskunst umbenannt wurde. Mehr als 100.000 Besucher strömten auf das Ausstellungsgelände auf dem Champ de mars, um die modernen Küchen, Staubsauger oder Spülmaschinen zu bewundern, deren Prototyp von dem Initiator der Messeveranstaltung JulesLouis Breton entwickelt worden war. Eine der wichtigsten Erfindungen, nämlich 11
Die Atelier-École befand sich in der Rue du Terrage Nr. 16, im 10. Pariser Arrondissement. 1958 wurde die Schulwerkstatt in die École des métiers de l‘alimentation (Berufsschule für das Nahrungsmittelgewerbe) mit Sitz in der Rue Ferrandi Nr. 11, im 6. Stadtbezirk umgewandelt.
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die Erzeugung von Kälte, hielt kurze Zeit später in Form von Gefriertruhen und Kühlschränken in die Küchen wohlhabender Familien Einzug.12 Parallel dazu gingen natürlich auch die gesellschaftlichen und kulturellen Veränderungen nicht spurlos an der Kochpraxis vorüber. Während des Krieges waren die Frauen mit Macht auf den Arbeitsmarkt gedrängt, und das Dienstpersonal machte sich zunehmend rar. Obwohl die Mitgliederzahlen der Société des cuisiniers français tendenziell abnahmen, setzten die Restaurantköche ihren Kampf um gesellschaftliche Anerkennung und soziales Ansehen fort. Im Jahre 1923 wurde eine neue Association des chefs de cuisine ins Leben gerufen, um den Rechten der Küchenchefs vor allem auch gegenüber den Restaurantbetreibern selbst Geltung zu verschaffen. Zu dieser Vereinigung zählten die Küchenchefs der großen Pariser Restaurants und Hotels, wie das Hôtel Crillon, die Restaurants Prunier, Ledoyen, das Hôtel du Quai d‘Orsay, das Hôtel Wagram, der Cercle Interallié. Die Zielsetzung war im Wesentlichen dieselbe geblieben: Es mag wirklich paradox erscheinen, dass zu einer Zeit, da die überregionale Presse und die staatlichen Behörden die französische Küche in den höchsten Tönen loben und als einen veritablen nationalen Schatz betrachten, immer noch eine Vielzahl von Häusern anzutreffen ist, in denen der Chefkoch in den Stand eines einfachen Gehilfen versetzt wird und unter der Aufsicht irgendwelcher Personen ohne jegliche kulinarische Fachkompetenz arbeiten muss. Gegen diese inakzeptable Situation, die der vollständigen Entfaltung unserer schönen französischen Kochtradition entgegensteht, protestieren wir energisch und wollen wir mit aller Macht angehen. Zwischen unseren Arbeitgebern und unseren verantwortlichen Gaststättenbetreibern einerseits und ihren Küchenchefs andererseits wollen wir einen ständigen Kontakt schaffen, der ohne nicht qualifizierte Mittlerinstanzen auskommt. Es ist endlich an der Zeit, dem Küchenchef die Wertschätzung zukommen zu lassen, die er durch die Bedeutung seiner Funktion verdient, und ihm die Freiheit zu gewähren, die er zur kompetenten Leitung der ihm unterstellten, im Wesentlichen technischen Aufgabenbereiche benötigt.
Eine weitere, wenig überraschende Zielsetzung bestand darin, dass der Verband auch zum Ausbau der beruflichen Ausbildung der Nachwuchskräfte beitragen wollte.13 12 Die ersten durch Luftkompression gekühlten Kühlschränke aus den Fabriken von General Electric bzw. Thomson-Houston waren auf dem französischen Markt in den Jahren 1926 / 27 erhältlich. Der frigidaire (d. h. die in Frankreich gängige Bezeichnung, die auf die von General Motors produzierte Marke zurückgeht – Anm. des Übersetzers) kam in den 1930er Jahren auf den Markt. Massive Verbreitung fand der Kühlschrank allerdings erst in der Zeit des Wirtschaftswunders. 13 In der Revue culinaire aus dem Jahr 1923 wurden die vereinsinternen Satzungen des neu gegründeten Verbandes veröffentlicht: „Art. 1 – Das Ziel der Vereinigung besteht darin, die Küchenchefs untereinander zu einen, um a) die gemeinsamen Interessen zu vertreten, b) die Stärkung ihrer Autorität zu erreichen oder zu bewahren und jedwede Einmischung durch den Leiter irgendeiner anderen Arbeitsstelle in die Aufgabenbereiche des Küchenchefs zu unterbinden, die ihm traditionell zustehen und für die der Berufsethos des Küchenchefs selbst eine hinreichende Garantie zu sein hat. […] Art. 3 – Insofern es sich bei der Vereinigung in erster Linie um einen Berufsverband handelt, sollte sie sich nicht allein auf darauf beschränken, die erreichten Vorteile und Besitzstände zu verteidigen, sondern vielmehr auch weiter dafür Sorge tragen, dass alle Reformen durchgeführt werden, mit denen sich die Situation des Küchenchefs und damit auch der unter ihm arbeitenden anderen Beschäftigten stärken bzw. stabilisieren lässt (Arbeitsverträge, Verpflichtungen usw.). Art. 6 – In keinem Fall obliegen der Vereinigung Ver-
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Der Kochberuf litt nicht allein unter einem Mangel an Prestige und Anerkennung. Die Nachwuchskräfte wandten sich oftmals anderen Erwerbsquellen zu, und die Hoteliers waren nicht selten verantwortlich dafür, dass die Lehrlinge arbeitslos wurden. Dass sie nämlich unumwunden zugaben, in der Schuld der Köche zu stehen,14 änderte nichts an der Tatsache, dass die Hotelbetreiber im Sommer weiterhin junge Nachwuchskräfte, die ihre Ausbildung noch nicht abgeschlossen hatten, einstellten, um sie im Herbst wieder auf den Arbeitsmarkt zu entlassen. Dies belastete nachhaltig die Beziehungen zwischen Hoteliers und Köchen. Ein Vorwurf sorgte damals für großes Aufsehen: In der Zeitung L‘hôtellerie wurde ein anonymer Beitrag veröffentlicht, der den Köchen ihr Fehlverhalten vorhielt15 und insbesondere auf ihre Trunksucht – „drei Viertel betrinken sich“ – und auch ihre Geldgier zu sprechen kam: „Alle laufen hinter ihren Lieferanten her wegen eines Geldstückes, das, falls es ihnen gewährt wird, sich natürlich entweder in Kilo oder in einer Preiserhöhung auf der Rechnung ihrer Arbeitgeber wiederfindet.“ Auf diesen Text reagierten die Köche empört. Eine dieser Entgegnungen mit dem Titel „Vernünftig betrachtet“16 sei an dieser Stelle zitiert: Unter der heutigen Generation der Köche ist der Trinker eine Ausnahme, das will ich laut und deutlich sagen. Der Fortschritt, die moralische Besserung sind in dieser Hinsicht unbestreitbar und ganz offensichtlich. Es bedarf schon eines auf Abwege geratenen Geistes, der verzweifelt nach einem Kritikpunkt sucht, um das Gegenteil zu behaupten.
Sieht man einmal von dieser Kritik ab, so lässt sich nach dem Ersten Weltkrieg beobachten, dass sich der Gegensatz zwischen den beiden Berufsgruppen vertieft. Die Köche mussten sich der Lehrzeit beugen und im Anschluss daran nach Anstellungen suchen, die ihnen eine Fortsetzung der Ausbildung gestatteten, während man den Hotelierberuf ohne Titel oder vorherige Ausbildung ausüben konnte. Das Hotelgewerbe ist einer der möglichen Wege, der für viele Köche in der Zwischenkriegszeit zu Autonomie und Unabhängigkeit führt.
Ein soziales System in der Krise? Im Anschluss an den Ersten Weltkrieg war die Welt der Küche und des Kochens geprägt von Spannungen und Konflikten zwischen Küchenchefs und Restaurantbe-
besserungen, die Gegenstand gewerkschaftlicher Arbeit sind, wie 8-Stunden-Tag, hygienische Zustände in den Küchen, wöchentlicher Ruhetag, Lohnfragen usw., wobei es dem jeweiligen Küchenchef überlassen bleibt, diese Fragen zum Besten zu regeln. […].“ 14 Bei der Verleihung der Ehrenlegion an Francis Carton im Jahre 1924 erklärte Barrier, der Vorsitzende der französischen Hotelbetreiber: „Die Hotellerie schuldet den Köchen einen großen Dank. […] Das Personal und vor allem die Nachwuchskräfte scheinen sich von der Küche abzuwenden: Es gibt eine Krise. Wir können einen Weg aus dieser Krise finden, doch ist es dazu unerlässlich, dass wir all unsere Kräfte bündeln. […].“ 15 „Pour et contre les cuisiniers“, in: L‘hôtellerie (4. Dezember 1925). 16 „Raisonnons“, in: La revue culinaire (1925): 113.
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treibern, Küchenchefs und Oberkellnern,17 Hoteliers und Köchen, Köchen und ihren Verbandsorganisationen (die Société de secours mutuels des cuisiniers de Paris und die Gewerkschaft der Köche). Philéas Gilbert schrieb etwa: Es ist bedauerlich, dass die Besitzer und Betreiber von Gaststätten und Hotels sich hinters Licht führen lassen; dass es ihnen gleichgültig ist, wenn ihre Küchen von fachfremden Personen regiert werden; dass sie es hinnehmen, wenn nicht gar fördern, dass eine Autorität, die bestenfalls an dritter Stelle zu kommen hat, dem Chefkoch Vorschriften erteilt, der eigentlich in allen Fragen an zweiter Stelle stehen müsste; dass sorgfältig arbeitende und talentierte Praktiker ihren beruflichen Stolz den Wünschen Unfähiger beugen müssen; dass der Künstler sich vor dem Handwerker erniedrigt. Nein, das ist unannehmbar. Jeder gehört an seinen Platz.18
Alte und neue Konflikte In den Küchen hatten die Chefköche nicht das Sagen, weil sie unter der Aufsicht des Oberkellners und des Restaurantbetreibers bzw. -besitzers arbeiteten. Die Beziehungen zwischen Speisesaal und Küche waren oftmals angespannt, und die Chefköche sparten nicht mit Kritik an dieser Situation: Die Köche wollten nicht wie Parias behandelt werden, wie arme Verwandte des Restaurantgewerbes. Sie wollten nicht länger die kleinlichen Vorurteile ertragen müssen und den Ostrazismus, dem sie allzu leicht zum Opfer fallen. Kurz: Sie wollen die Wertschätzung erhalten, die ihnen gebührt. Dazu ließen sie den Absichterklärungen auch Taten folgen, so dass – nach Ansicht von ihnen nicht unbedingt wohl gesonnenen Richtern – wirkliche, spürbare, unbestreitbare Fortschritte im Auftreten und bei der Ausübung ihrer Funktion erzielt wurden.19
Im Übrigen gerieten in den 1920er Jahren die Köche neuerlich mit den „kulinarischen Schreiberlingen“ und den „Gastronomen“ aneinander.20 Die Debatten und die Auseinandersetzungen betrafen den „Niedergang der französischen Küche“ im Anschluss an den Ersten Weltkrieg, die Rolle der Gastronomiekritik oder auch die Regionalküche. In der Zeitschrift Le Cyrano schrieb beispielsweise der Theaterkritiker G. de Pawlowski: Aus den übelsten Resten machen die Köche heute mit ihren schmutzigen Händen nur noch unsägliche Ragouts. 17 Natürlich versteht es sich von selbst, dass die Beziehungen zwischen Küche und Speisesaal nicht ausschließlich von Konflikten geprägt waren. 18 Philéas Gilbert, „Chacun à sa place“, in: La revue culinaire (1925): 7. 19 „À propos d‘un critique“, in: La revue culinaire (1927): 179. 20 Schon als sich die Köche im 19. Jahrhundert um ein organisiertes Miteinander bemühten, sparten die Gastronomen nicht mit Kritik an der Routine und der mangelnden Phantasie der Köche, denen vorgeworfen wurde, unablässig dieselben Muster zu wiederholen: „Sowohl in Frankreich als auch in den meisten zivilisierten Nationen wird die Kochkunst ausschließlich von ungebildeten Männern und Frauen aus den unteren Volksschichten betrieben. Je nach Fähigkeit, Neigung und – ich möchte sagen – Begabung erreichen die Köche eine mehr oder weniger vollkommene Praxis ihrer Kunst. Das heißt, entweder werden sie zu ausgezeichneten oder zu schlechten Köchen. […] Generell muss allerdings hinzugefügt werden, dass die Köche stets der Routine ihrer Lehrmeister folgen und nur sehr selten etwas Neues erfinden“ (Hygiène alimentaire. Histoire simplifiée de la digestion des aliments et des boissons à l‘usage des gens du monde, Paris, Dentu, 1868).
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Und er fügte hinzu, dass nirgendwo in Paris noch ein richtig gekochtes Ei serviert würde oder dass man ein Brot finden könne, das diesen Namen verdiene. Der Kritiker geriet jedoch sogleich ins Visier der Revue culinaire, die ihm vorhielt, Pfirsich und Apfel nicht voneinander unterscheiden zu können: Sollte es sich bei G. de Pawlowski nicht zufällig um eben jenen Gastronomen handeln, der sich – so jedenfalls will mir scheinen – eines Tages zum Mittagessen bei einem anerkannten Traiteur einfand, seiner Begeisterung angesichts der ihm servierten Speisen lautstark Ausdruck verlieh, beim Dessert nicht mit Lob für die kunstvoll zubereitete Frucht sparte, die er sich gerade einverleibt hatte, und dem Hausherrn mitteilte: „Ganz exquisit, Ihr Pfirsich!“ Darauf dieser mit unerschütterlicher Miene: „Einen Kern dürften Sie allerdings kaum gefunden haben. Es ist nämlich ein Apfel!“21
In mehreren Beiträgen in der Revue culinaire sind die Spannungen ersichtlich, die die Beziehungen zwischen Esskritikern und Köchen prägten: Ohne die Gastronomen würde der Koch zu einem einfachen Nahrungsproduzenten herabsinken. All seine Talente würden ihm nichts nützen, weil niemand seine Werke einem Urteil unterziehen würde und er selbst nicht sein eigener Richter sein kann, da er mit Gewissheit einem Fehlurteil unterliegen würde. Folglich kann der Gastronom, ein wirklicher Gastronom, ein kluger Ratgeber des Kochs sein, notfalls aber auch ein unerbittlicher Kritiker. [..] Mehr noch: Wer anderes als die renommierten Gastronomen begründen einen Ruf, verkünden die Namen jener Köche, deren Begabungen aufhorchen lassen, produzieren Persönlichkeiten, die andernfalls unbeachtet blieben und die das breite Publikum nicht in ihrer Souterrainhölle aufsuchen würde? Allerdings sollten wir uns über den Begriff „Gastronom“ verständigen. Nicht jeder nämlich, der es will, ist auch ein Gastronom. In Frankreich haben wir einige wenige hoch stehende Naturen dieses Schlags, ausgewiesene Kenner in Geschmacksfragen und würdige Richter kulinarischer Feinheiten, die sich ihrem weisen Urteil unterziehen. Dazu gehören: Louis Forest, Camille Cerf, Robine, Marcel Rouff, Léon Abric, André Lamandé, Maurice Brillant, Gottschalk und einige andere. Ihnen gebührt unsere Anerkennung! Sie sind die hohen Würdenträger am Hofe unseres nationalen Gourmandfürsten Curnonsky. All die Pseudogastronomen, eine Mischung aus Mittelmaß und snobistischem Angebertum, die in Wahrheit nichts weiter sind als ein Schmarotzergesindel, das fröhlich ein klassisches Wildragout mit geschnetzelter Hausmannskost verwechselt, können uns gestohlen bleiben.22
Prosper Montagné dagegen untersuchte den Gegensatz zwischen dem Koch als einem Handwerker, der seinem „Beruf“ nachgeht, und dem Gastronomen, der „Neues“ sucht und „Neues“ erfindet: Es ist an der Zeit, dass die Restaurantbetreiber, die an die kulinarischen Kenntnisse der „großen“ Gastronomen glauben, diese endlich so sehen, wie sie sind, nämlich als kulinarische Ignoranten, und dass sie ihnen nicht allzu viel Einfluss einräumen, indem sie ihre Meinung und ihre Ratschläge einholen.23
Ein weiterer Streitpunkt zwischen Kritikern und Restaurationsberufen betraf die Regionalküche, die nach dem Krieg in Mode gekommen war. Die Frage, wie diese definiert werden solle und ob es sie überhaupt gebe, stellte sich umso eindringli-
21 A. Guérot, „Dies-moi qui tu hantes!“, in: La revue culinaire (1927): 156. 22 Philéas Gilbert, „Cuisiniers et Gastronomes français en 1928“, in: La revue culinaire (1928): 347–348. 23 Prosper Montagné, „Sur les „grands“ gastronomes“, in: La revue culinaire (1929): 128.
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cher, als manche angebliche Regionalgerichte in Wahrheit in Pariser Restaurantbetrieben erfunden worden waren: Und dann die „Regionalküche“! Auch das ist eine Laune unserer Amateurgastronomen. Natürlich hat jede Provinz, jede Region ihre Traditionen, ihre typischen Verfahrensweisen beim Kochen, denen manche Restaurants an ihren Provinztagen jedoch übel mitspielen! Und da die Zahl der Regionalgerichte nicht unendlich ist, werden einfach neue erfunden oder besser: willkürlich Attribute zugewiesen wie „normannische“ Seezunge, Hühnchen „Vallée d‘Auge“, sauce béarnaise und andere mehr sind rein pariserische Schöpfungen. Aber sei‘s drum. Das Übel ist so schlimm nicht. Wichtiger ist, dass wir für den Erhalt einer gesunden Küche eintreten, die von selbst ernannten Gastronomen gefährdet wird.24
Der Wandel der Kochtradition Ungeachtet dieser Streitigkeiten ist eines unbestritten: Das Kochen hatte sich in Frankreich nach dem Ersten Weltkrieg gewandelt. Wenn man den Köchen selbst Glauben schenken mag, so betrafen diese Veränderungen sowohl die inhaltlichen als auch die formalen Aspekte. Bei Philéas Gilbert etwa liest man: Die Küche jedoch lebte, auch wenn ihr Rahmen weniger großzügig gesteckt war und genau zu diesem Zeitpunkt ihr angeblicher Niedergang besungen wurde. [..] Das Würzen, die Zubereitungsformen waren einfacher geworden, was eher ein Fortschritt ist. Es geht heute nicht mehr darum, den Geschmack eines Gerichts mit Gewürzen zu übertönen, die wir jetzt als störend empfinden würden. Vielmehr versucht man heute, den jeweiligen Eigengeschmack zu respektieren, ihn zu verstärken, ihn mit umsichtig ausgewählten Ingredienzien herauszustreichen. Die Köche von heute haben nicht nur die komplizierten Zubereitungen aufgegeben, sondern verzichten auch auf eine prunksüchtige, pompöse und prätentiöse Präsentation. [..] Die Küche von heute will einfach sein, was weder Eleganz noch guten Geschmack – im vollen Wortsinn – ausschließt.25
Zieht man jedoch die Menüs dieser Zeit als Maßstab heran, dann handelt es sich offensichtlich um eine nur sehr eingeschränkte Vereinfachung. Die Menüs der großen Chefköche in den berühmten Restaurants, die Festtags- oder Familienmenüs ändern sich bis Mitte der 1930er Jahre kaum, und das selbst wenn sie sich zu einer so genannten „modernen Kochpraxis“ bekennen. Typisches Menü von Auguste Escoffier (1924) April Regenpfeifereier – Frühlingssuppe In Wein aus der Touraine gekochte Lachsforelle, als Beilage: Krebs mit Trüffel und Beschamel-Sahne-Soße Lammrücken Béhague, in der Pfanne angebraten Erbsen nach französischer Art Frühlingskartoffeln in Butter Kücken im Schmortopf mit Morcheln Kopfsalat Spargel aus Lauris Erdbeeren Sarah Bernhardt – Süßigkeiten
Juni Cantaloup-Melone Klares Hühnerconsommé Steinbutt nach Hausfrauenart Fischmilcher nach Müllerinnenart geschmortes Kalbsbries nach traditioneller Art Puree Saint-Germain Entenpastete in weißem Gelee Kopfsalatherzen Argentueil-Spargel in Isigny-Butter Trianon-Pfirsich – Leckereien
24 Dr. Gottschalk, „Chronique gastronomique“, in: La revue culinaire (1928): 350. 25 Philéas Gilbert, „Quelques réponses“, in: La revue culinaire (1925): 34.
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Aller Spannungen und Auseinandersetzungen zwischen Köchen und Gastronomen zum Trotz war die Zwischenkriegszeit eine für die Gastronomie sehr erfolgreiche Periode. Die Gastronomieinitiativen jedenfalls mehrten sich in diesem Zeitraum. Der Boom des Gastronomietourismus Der Gastronomietourismus, der zur Jahrhundertwende zeitgleich zum Automobil entstanden war, entwickelte sich rasch. Noch bevor Curnonsky 1927 zum „König der Gastronomen“ gewählt wurde, hatte er die so genannten „Gastronomaden“ ins Leben gerufen, d. h. eine Entdeckungstour der lohnenswerten Gastronomieadressen in Frankreich. Der erste Guide Michelin aus dem Jahr 1900 wurde „den Automobilisten kostenlos ausgehändigt“. Er enthielt alle dem Fahrer nützlichen Adressen, „um sein Automobil mit Treibstoff zu versorgen, reparieren zu lassen und selbst eine Unterkunft zu finden und sich zu verpflegen.“ Doch waren zu diesem Zeitpunkt die Adressen noch nicht klassifiziert. Erst ab 1920 und vor allem 1923, als der Führer im Handel käuflich zu erwerben war, tauchten die ersten Klassifizierungen auf, die zwischen erstrangigen, mittelmäßigen und einfachen Restaurants unterschied. 1926 verteilte der Guide France seine ersten „Sterne für gutes Essen“ an 46 Häuser in der französischen Provinz, womit der gastronomische Anspruch des Guide Rouge Michelin zum ersten Mal in Erscheinung trat. 1931 dann entstand die Klassifikation nach Sternen. Von nun an wurde unterschieden zwischen einer „Küche sehr guter Qualität“, einer „Küche ausgezeichneter Qualität“ und – die höchste Auszeichnung – einer „zu Recht renommierten Feinschmeckerküche“. In der Ausgabe von 1933 werden für Paris und die Provinz 23 Häuser dreier Sterne für würdig befunden: ein historischer Rekord. In der Hauptstadt sind es sechs Adressen: Café de Paris, Tour d‘Argent, Foyot, Lapérouse, Larue, Carton. Die Mehrheit der Drei Sterne-Restaurants befindet sich jedoch außerhalb von Paris: Es handelt sich um La Mère Brazier in Lyon und am Col de la Luère, Sorret in Lyon, Le Chapon Fin in Bordeaux, La Réserve in Beaulieu, Pernollet in Belley, Hôtel du Midi in Lamastre, Hôtel d‘Europe et d‘Angleterre in Mâcon, Hôtel de France in Moosch, La Mère Bourgeois in Priay, das Château Jacques Cæur in Roanne, La Couronne in Rouen, Jouve in Saint-Agrève, Comminges in Saint-Gaudens, Parendol in Sassenage, Valentin Sorg in Straßburg und La Pyramide in Vienne. In dieser Zeit entstand eine Vielzahl von gastronomischen Gesellschaften, Verbänden und Vereinen. Zu den bekanntesten zählten der Club des Cent, der 1912 von dem Journalisten Louis Forest gegründet wurde, „um die Entwicklung der guten Hotels, Gasthöfe und Garagen in Frankreich zu fördern.“ Ziel der Vereinigung war es zudem, wie ihr Gründer schrieb, die nationale Küche zu verteidigen: Wir haben uns zum Ziel gesetzt, den Sinn für unsere altehrwürdige nationale Küche zu schärfen, die durch die chemischen Formeln aus Ländern bedroht werden, die noch nicht einmal ein einfaches Suppenhuhn zu kochen im Stande sind.26
26 Artikel aus der Zeitung Le matin vom 4. Oktober 1912, zit. nach Jean-François Mesplède, Trois étoiles au Michelin. Une histoire de la haute gastronomie française et européenne, Paris, Gründ, 1998: 20
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1922 gründet Curnonsky zusammen mit Freunden die Académie des psychologues du goût, deren Ziel in der „Aufwertung der Regionalküche besteht“. 1923 kommt es zur Gründung der Purs Cent, deren Ziele mit denen des Club des Cent identisch sind: Der Tourismus in Frankreich soll gefördert und der Komfort der Touristen in den Hotels, Gasthöfen und Garagen mit allen Mitteln sichergestellt werden. [..] Außerdem geht es um den Erhalt der Tradition der alten französischen Küche.
1927 wurde die Académie des gastronomes von Maurice Edmond Sailland Curnonsky gegründet. Mit Hilfe einiger Freunde verwirklichte der erkorene König der Gastronomen den Wunsch Brillat-Savarins: Und wenn die von dem Orakel geweissagte Akademie erst einmal auf der unverrückbaren Basis des Vergnügens und der Notwendigkeit entstanden sein wird, werden Sie, die aufgeklärten Gourmands und liebenswerten Gäste Mitglieder oder Korrespondenten werden.
Genau wie die Académie française setzte sich die Académie des gastronomes aus vierzig auf Lebenszeit gewählten Mitgliedern zusammen und verfolgte das Ziel: so sorgfältig und rasch wie möglich im Sinne einer Förderung der Tischkunst und des Erhalts der Regeln des guten Essens und Trinkens sowie der Traditionen der französischen Kochkunst zu wirken.27
Die Akademie veröffentlichte ein zweibändiges Lexikon,28 dessen Autoren „sich darum bemühten, die wesentlichen Begriffe, in denen die Ergebnisse einer mehrere Jahrhunderte langen kulinarischen Erfahrung zusammenlaufen, soweit wir sie heute zurückverfolgen können, zu inventarisieren.“
27 Erwähnt werden sollten auch noch Les gais gentilshommes gastronomes (1910), die Association des gastronomes régionalistes (1923) und der Cercle des gourmettes (1929), dessen Ziel darin bestand, „den Sinn für die gute französische Küche zu bewahren und zu stärken, den Tourismus in Frankreich durch die Förderung guter Restaurants zu erleichtern und zu verbessern, den Sinn für eine solide Familienküche durch die Auszeichnung von Köchinnen und Köchen zu entwickeln, die sich durch den Austausch von guten Rezepten unter den Mitgliedern verdient gemacht haben“, sowie „die Einrichtung von Kochkursen und Koch- und Haushaltungsschulen zu fördern“. 28 Dictionnaire de l’Académie des gastronomes, 2 Bde, Paris, Éditions Prisma, 1962.
Kapitel 5: Die berufliche Anerkennung (nach 1945) Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges, vor allem aber im Zuge der in den 1960er Jahren entstehenden Konsumgesellschaft, änderte sich der soziale Status der Köche in der französischen Gesellschaft grundlegend. Während sich die Restaurantköche Freiräume gegenüber Restaurantbetreibern und Oberkellnern erkämpften und ihre Autonomie behaupten konnten, arbeitete die erdrückende Mehrheit der Köche, die in bürgerlichen Privathaushalten ihrer Arbeit nachgingen, als gewöhnliche Angestellte. Im Zusammenhang mit der nouvelle cuisine beschleunigte sich die Emanzipationsbewegung, in deren Verlauf die Meisterköche zu Stars des Showbusiness aufstiegen. Hinreichend bekannt ist die Formel Paul Bocuses, der seine Rolle beim sozialen Aufstieg der Köche in folgende Worte fasste: „Ich habe den Koch aus der Küche geholt.“ Von dieser Entwicklung waren zuallererst die Köche aus seiner „Clique“ betroffen – Charles Barrier, Alain Chapel, Michel Guérard, die Gebrüder Haeberlin, René Lasserre, Raymond Oliver, Louis Outhier, Jean und Pierre Troisgros, Roger Vergé, Pierre Laporte, die sich 1970 zu der Vereinigung La grande cuisine française zusammenschlossen. Doch sollten noch viele andere dieser Entwicklung folgen. Die Chefköche der nouvelle cuisine zog es hinaus aus der Anonymität der Küche. Sie strebten nach Ruhm – erst in Frankreich und dann im Rest der Welt. Schon ab Mitte der 1970er Jahre knüpften zahlreiche Meisterköche Kontakte zu der Lebensmittelindustrie, aus denen gegen Ende des Jahrhunderts das Kochen verändert hervorgehen sollte. Ähnlich wie die haute couture entwickelte sich die haute cuisine zu einer Luxusindustrie, wobei die eine nur durch die Stangenware des Prêt-à-porter und die andere lediglich durch die Derivate der Lebensmittelindustrie zu existieren im Stande ist. Parallel dazu gewannen die Großküchen- und Anstaltsverpflegung sowie die davon abhängigen Beschäftigungen innerhalb der Berufsgruppe derart an Bedeutung, dass sich dadurch die typischen Charakteristika und das Berufsbild Koch völlig verwandelten.
Die Köche in den bürgerlichen Privathaushalten als Hüter der Tradition Im Anschluss an den Zweiten Weltkrieg gab es noch etwa hundert Küchenchefs in bürgerlichen Privathäusern, die im Dienst von Bankiers, Finanzmanagern, Industriellen und Politikern1 standen und welche die Tradition der haute cuisine des 19. Jahrhunderts weiterpflegten. 1
Georges Prade, Chronist und Mitglied der Académie des gastronomes, hat zu Anfang der 70er
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Mit frischen Zutaten2 und Luxusprodukten (Trüffel, Kaviar, Gänsestopfleber, Seezunge, Steinbutt, Lachs, Hummer, Langusten, Krebs, Lammbraten, Lammrückensteaks, Rinderfilet) zeigte sich die reiche und dekorative Küche der bürgerlichen Haushalte in den Pariser Patrizierhäusern – abseits der lärmenden Unruhe und der Indiskretionen der Stadt – sowie den großen Schlössern in der Region um Bordeaux und einigen Villen der Côte d‘Azur noch in alter Pracht.3 Eine besondere Situation In den großen Privathaushalten arbeitete der Koch nie allein in der Küche. Ihm zur Seite standen oft eine junge Nachwuchskraft, welche die Aufgabe eines Beikochs hatte, und ein „Patissier“ (Konditor, Feinbäcker), der sich um die Desserts kümmerte. Aushilfskräfte, die anderweitig selbst noch als Chefköche arbeiteten oder vor dem Ausscheiden aus dem Berufsleben gearbeitet hatten, sprangen zusätzlich bei Empfängen ein. Darüber berichtet ein ehemaliger Koch, der in einem bürgerlichen Haushalt zusammen mit Henri Provenchère, dem Küchenchef des Baron Élie de Rothschild, beschäftigt gewesen war: Es war ein großes Privileg, als „Beikoch“ bei Élie de Rothschild in der Rue Masseran im 7. Arrondissement von Paris arbeiten zu dürfen. Damals galt dieses hôtel particulier angesichts der dortigen Empfänge als das bedeutendste Haus in Paris. Ich hatte gerade meinen zweijährigen Militärdienst in den französischen Kolonien Nordafrikas hinter mir und war nun frei. René Chamaillard, Küchenchef in Diensten der Baronin Édouard de Rothschild, und Lucien Buteau, Chefkoch bei Bemberg, mit denen ich bereits – offensichtlich zu ihrer Zufriedenheit – zusammengearbeitet hatte, hatten mich weiterempfohlen.
In der Küche waren wir zu viert: der Chefkoch, eine Küchenhilfe, ein Patissier und ein Jungkoch, der sich vor allem um das Personal kümmerte. Zwanzig Gedecke mittags und abends. Wir schrieben das Jahr 1958, die Empfänge folgten zügig aufeinander und wir mussten uns oft von so erlesenen und treuen Fachkräften aushel-
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Jahre eine Liste – den Bottin mondain des fines bouches – mit Namen von Feinschmeckern erstellt, die noch ihre eigenen Küchenchefs hatten: „Die Großbank ist vertreten mit Madame David Weill, Baron Alain de Gunzburg. Unzweifelhaft Pariser Ausländer wie Monsieur Ambiricos, Madame Arturo Lopez, Monsieur Patino, Monsieur Bemberg, die Familie Van Zuylen, Bestegui gehören dazu. Der alte Adel ist vertreten mit Guy Weissweiller, den Baronen Van Zuylen und de Rédé. Die Wildtiere sind vertreten mit Monsieur de la Panouse aus Thoiry [Antoine de la Panouse eröffnete 1968 auf seinem Anwesen einen Wildpark mit afrikanischen Tieren – Anm. des Übersetzers]. Monsieur Boussac bleibt sowohl in Neuilly als auch in der Sologne seinem Leibkoch treu. Außerdem sollten noch die Küchenchefs von Madame Rochas, Madame Thome-Patenôtre, der Familie Bettencourt und die Köche in den Botschaften Großbritanniens (James Viaene) und der Vereinigten Staaten Robert Bolard oder auch der Windsors erwähnt werden. Diesbezüglich heißt es bei André Guillot in seinem Buch La grande cuisine bourgeoise: „Man sollte nur natürliche und unverfälschte Zutaten vom Land verwenden, die auf angenehme Weise mit den reichen und subtilen Erzeugnissen des Weinanbaus in Frankreich verbunden werden.“ Als Beispiel sei an dieser Stelle die Speisefolge eines von dem Küchenchef René Chamaillard kreierten Dinners bei Baron Édouard de Rothschild genannt: Sherry-Consommé, Forelle in Krebssoße, Masthuhn nach Rezept von Carême, Entenbruststreifen in Gelee, Kopfsalatherzen, Spargel in Buttersoße, Vacherin Pompadour.
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fen lassen wie Lionel Besnard, Barbot, der zusammen mit Bernard Cormier eine der Säulen im Präsidentenpalast war, Tonin, Ollier, Paul Ecart, die inzwischen alle verstorben sind.“4 Jeden Tag kochte der Chefkoch entweder allein oder zusammen mit seinem Gehilfen. Die Menüs für Mittag- und Abendessen – zumeist handelte es sich um drei oder vier Menüvorschläge – wurden gewöhnlich am Vortag dem Hausherrn bzw. der Hausherrin zur Durchsicht vorgelegt, die sie dann – manchmal mit Änderungen versehen – in die Küche zurückgehen ließen. Obwohl das Kochbudget eigentlich keinerlei Beschränkungen unterlag, ergingen sich manche Dienstherren in zumeist ritualisierten Bemerkungen, dass es doch notwendig sei, auf die Ausgaben zu achten. Der Chefkoch jedoch hatte darauf stets die richtige Antwort parat: Schwarz auf weiß konnte er nachweisen,5 dass der Hummer tatsächlich teurer geworden war! Obgleich der Küchenchef in einem bürgerlichen Haushalt nicht zum Sparen angehalten war, änderte das nichts an seiner nicht immer ganz leichten Aufgabe, jeden Tag ein und denselben Dienstherren zufrieden stellen zu müssen. Diese anspruchsvolle Aufgabe beschränkte sich bei weitem nicht allein darauf, dessen Vorlieben zu kennen und zu treffen, vor allem wenn der Hausherr oder die Hausherrin selbst Feinschmecker waren oder sich für Feinschmecker hielten. Ob ein Chefkoch erfolgreich war, hing nicht allein von der Qualität seiner Arbeit ab, sondern auch davon, wie gut seine Beziehungen zu einer weiteren zentralen Figur in den großen Adels- bzw. Bürgerhäusern, waren, nämlich dem Butler (d. h. dem ersten Diener und oft auch Kellermeister) der täglich in Kontakt mit dem Dienstherrn und seinen Gästen stand und dadurch Bemerkungen über die Menüs und die Speisen auffangen und gegebenenfalls an die Küche weitergeben konnte. André Guillot erzählt, dass er seinen Arbeitgeber, den Schriftsteller und Milliardär Raymond Roussel in den sechs Monaten, in denen er als erste Küchenhilfe bei ihm tätig war, nie zu Gesicht bekam. Aber auch nach dem Zweiten Weltkrieg sahen die Chefköche ihren Dienstherrn bzw. ihre Dienstherrin nur äußerst selten. Die Küche verließen sie nur zu ihren Markteinkäufen oder während ihrer nachmittäglichen Pause, die nur ein paar Stunden dauerte. Manche gingen zu Pferderennen, andere im Wald spazieren. Unter diesen Umständen spielte die Familie im Leben der in den bürgerlichen Privathäusern beschäftigten Köche kaum eine Rolle: Wer nicht gleichzeitig auch im Hause seines Arbeitgebers wohnte, kam abends spät nach Hause und musste morgens früh los. Für Frau und Kinder blieb da nicht viel Zeit. Gegenüber den Restaurants unterschied sich die Küchenpraxis in den bürgerlichen Haushalten auch dadurch, dass die Gerichte nicht auf Tellern, sondern noch in Schüsseln und Vorlegetellern angerichtet wurden, wobei der Butler jeden Gang zweimal servierte. In den größeren Häusern hatte ein Butler sich manchmal nur um drei oder vier Gedecke zu kümmern. Ein weiterer Unterschied bestand darin, dass der Wein in den bürgerlichen Privathaushalten nie in der Flasche, sondern stets in 4 5
Jean Meunier, in: Le cuisinier français (Juli-August-September 2000): 20. Die Chefköche hatten Blankorechnungen, die sie bei Bedarf vorlegen konnten, um Ausgaben zu rechtfertigen, die als überzogen betrachtet wurden.
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Karaffen dekantiert serviert wurde und der Butler vor dem Eingießen Namen und Jahrgang jedes Weines verkündete. In den letzten zwanzig Jahren war diese aufwändige Luxusküche jedoch Wandlungen unterlegen. Bis zu Anfang der 1990er Jahre gehörte zu einem Abendessenmenü unbedingt eine Suppe (bevorzugt ein Consommé), eine kalte oder warme Vorspeise (Fisch), ein Braten (Fleisch oder Geflügel) und daran anschließend – vor dem Käse und dem Dessert – nicht selten Enten- oder Gänsestopfleber. Die Wirtschaftskrise und die Einschränkungen, denen nach der Machtübernahme der Linken 1981 die Häuser der Oberschicht ausgesetzt waren, führten zu einer Verringerung der Ausgaben und damit auch der Zahl der Köche in den bürgerlichen Haushalten. Ohne den Einfluss der nouvelle cuisine, die eher auf leichtes und gesundes Essen setzt, in Abrede stellen zu wollen, muss auch auf die Globalisierung hingewiesen werden, die sich in einer größeren Mobilität der Menschen und Familien niederschlägt und dazu führt, dass Köche in fester Anstellung weniger nachgefragt sind. Als Konsequenz dessen werden nun auch in den bürgerlichen Haushalten weniger Gänge serviert, im Regelfall eine Vorspeise, ein Hauptgericht und ein Dessert.6 Der Kochberuf auf dem Weg zur abhängigen Beschäftigung Aber nicht nur das Essen hat sich in den letzten Jahrzehnten geändert. Auch der Status der Köche in den bürgerlichen Haushalten hat sich nach und nach dem normalen Arbeitnehmerstatus angeglichen. Während die Köche in den Bürgerhäusern am Ende des Zweiten Weltkriegs immer noch der Kategorie der „Dienstboten“ zugerechnet wurden und als solche den Tarifverträgen für bürgerliche Hausbedienstete unterstanden,7 hatten sie von den 1960er Jahren an Anspruch auf dieselben Rechte wie andere abhängig Beschäftigte (bezahlter Urlaub, Rente). Die Köche empfanden diese Gleichsetzung als einen Fortschritt und eine Emanzipation. Trotzdem unterschied sich die Situation der Köche von der der meisten anderen Arbeitnehmer schon allein aufgrund der viel längeren Arbeitszeiten: Ein Arbeitstag, der früh morgens begann und oft erst spät abends endete, zählte nicht selten mehr als zwölf, manchmal sogar bis zu vierzehn oder fünfzehn Stunden, und die Köche hatten auch keinen Anspruch auf einen festen wöchentlichen Ruhetag. Sie mussten bis Ende der 1970er Jahre warten, bevor ihr Status als abhängig Beschäftigte (mit monatlicher Gehaltsabrechnung, festem Ruhetag, bezahltem Urlaub, schriftlichem 6
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In der Mitte der 1970er Jahre hat sich die Reihenfolge der einzelnen Gänge und die Menüzusammensetzung insofern verändert, als die Gänse- und Entenstopfleber als Entree und nicht mehr als dritter oder vierter Gang serviert wurden. Der Arbeitstarifvertrag für die Angestellten in bürgerlichen Privathaushalten der Region Paris von 1958 verweist beispielsweise darauf, dass eine Lohnabrechnung vorgelegt werden müsse: „Artikel 7: Dem Angestellten wird als Beleg für die Arbeitsentlohnung gemäß Artikel 44a des Arbeitsgesetzes eine Gehaltsabrechnung ausgehändigt. Aus den Gehaltsabrechnungen muss stets die Art der Beschäftigung hervorgehen sowie die Anzahl der geleisteten Stunden, die Bruttoentlohnung, Art und Höhe diverser Abzüge (Sozialbeiträge des Beschäftigten usw.), die Entlohnung in Form von Geld- und Sachleistungen (Kost und Logis).“
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Arbeitsvertrag) in den Arbeitstarifverträgen für Angestellte in bürgerlichen Privathaushalten der Pariser Region voll anerkannt wurde.8 Der Statuswechsel erfolgte in mehreren Etappen: Zuerst kam es nach mehr als einem Jahrhundert zum offiziellen Ende der Vermittlungsbüros für Köche. Nach Kriegsende verbot der Staat die Einrichtung neuer Arbeitsvermittlungsagenturen.9 Bei der Einstellung der Köche wurde nun ein Arbeitsvertrag direkt von Arbeitgeber und Arbeitnehmer unterschrieben. Das bedeutete allerdings nicht, dass die Solidaritätsvereine und Verbände für Köche, die gerade auch mit dem Ziel gegründet worden waren, die Vermittlungsbüros zu ersetzen, aus dieser neuen Situation Profit ziehen konnten, da ihre Mitgliederzahlen nach dem Zweiten Weltkrieg kontinuierlich zurückgingen. Die Société des cuisiniers français zählte in der Zwischenkriegszeit fast 500 eingetragene Mitglieder. Mitte der 1970er Jahre lag ihre Zahl in Paris noch über 200, von denen 120 regulär eingeschrieben waren. Heute sind es kaum mehr als 70!10 Mit nun neuen Forderungen wurde der alte Kampf fortgesetzt: Vor allem die privathäuslich beschäftigten Köche drängten darauf, dass die Rentenleistungen, auf die sie Anspruch hatten, mit denen anderer Arbeitnehmerkategorien gleichgesetzt würden. Das 1945 eingerichtete System hatte nämlich eine beitragsfinanzierte Versicherung auf der Basis eines pauschalierten Grundgehalts in Höhe von 283 Franc vorgesehen,11 so dass die Versicherungsleistungen im Falle einer Krankheit bzw. nach Renteneintritt nur sehr gering ausfielen. Diese Situation wurde als umso inakzeptabler empfunden, weil kaum ein Küchenchef ein derart niedriges Grundgehalt bezog. Selbst in den 1960er Jahren lag das Lohnniveau der Küchenchefs in den großbürgerlichen Haushalten bei unter 1.000 Franc.12
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In einem Tarifvertrag, der in der Zeitschrift Le cuisinier français (Januar-Februar 1978) veröffentlicht wurde, heißt es: „Artikel 8 des Arbeitstarifvertrages der Angestellten in bürgerlichen Privathaushalten der Region Paris: Die wöchentliche Ruhezeit beträgt mindestens vierundzwanzig Stunden hintereinander (Arbeitsgesetz, 2. Buch, Kapitel 4, Artikel 32). Diese Ruhezeit muss prinzipiell den ganzen Sonntag gewährt werden, d. h. von Samstagabend bis Montagmorgen. Andere Regelungen zur Ruhezeit müssen zwischen den beiden Vertragsparteien abgestimmt und im Arbeitsvertrag schriftlich festgehalten werden.“ 9 Die Ordonnanz vom 24. Mai 1945 bezüglich der Arbeitervermittlung und der Beschäftigungsaufsicht sah vor, dass keine neuen gebührenfreien Stellenvermittlungsbüros eröffnet werden dürften. 10 Dieser Rückgang betrifft weniger die betrieblichen Köche und Köchinnen, die in den großen Unternehmen ihrer Arbeit nachgehen und die zwischen den Restaurantköchen und privathäuslichen Köchen eine Art Zwischenstellung einnehmen. Die Betriebsköche unterliegen nicht den Zwängen der gewerblichen Gastronomie, insofern es nicht darum geht, Gewinne abzuwerfen, was jedoch nicht die Kontrolle der Einkäufe und Ausgaben ausschließt. Gleichzeitig genießen sie den Status abhängig Beschäftigter und die dazu gehörigen Sozialrechte vor allem in Bezug auf Arbeitszeit, bezahlten Urlaub und Gewerkschaftsvertretung. 11 Ein Franc des Jahres 1945 entspricht in etwa 0,10 Euro. 12 In neuen Franc [nach der Währungsreform 1958 entsprach ein neuer Franc 100 alten Franc – Anm. des Übersetzers].
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Insofern war es nur eine logische Konsequenz, dass die Köche sich Gehör verschaffen wollten, damit die Beiträge auf der Grundlage der tatsächlichen Vergütung bemessen werden: Natürlich bezahlen wir unsere Steuern auf der Bemessungsgrundlage unseres tatsächlichen Lohnes – was gegenüber dem Gesetz nur normal ist – und nicht auf der Basis des fiktiven Gehalts. Was soll also diese Benachteiligung, wenn es um die Alterssicherung geht? Von 111,20 Franc im Monat kann man nicht leben. Wir haben die Möglichkeit zum Abschluss einer so genannten Zusatzversicherung, deren Rentenleistung auf höchstens 100 Franc begrenzt wird. Warum dürfen wir nicht die Beiträge, die wir in diese Rentenkasse einzahlen, von unserer Steuererklärung abziehen, wohingegen alle Arbeiter ihre Sozialversicherungsbeiträge in voller Höhe geltend machen können. Aus diesen Gründen fordern wir die schnellst mögliche Angleichung an das allgemeine Sozialversicherungssystem. Wir stellen eine Ausnahme dar und wollen unsere Beiträge auf derselben Basis entrichten wie alle Arbeitnehmer. Für unsere älteren Kollegen, die das Rentenalter erreicht haben, besteht dringlicher Handlungsbedarf. In einem so wohlhabenden Land hat es einfach keinen Sinn zu sagen, es sei unmöglich, die dieser Berufskategorie zustehenden Entgeltsätze bei Krankheit, Invalidität und Rente anzuheben.13
Die Restaurantköche: Köche im Wandel Parallel zum sozialen Statuswechsel der Köche in den bürgerlichen Haushalten, die zunehmend als normale Arbeitnehmer betrachtet wurden, emanzipierten sich die Restaurantköche nach und nach von den Restaurantbetreibern, vor allem indem sie ihre eigenen Restaurants eröffneten. Bei dieser Emanzipation spielten jedoch auch die Bildung von Zusammenschlüssen, eine verbesserte Informationspolitik und natürlich auch eine stärkere Mediatisierung eine gewisse Rolle. In den 1950er Jahren verfolgte eine erste, elitär geprägte Initiative das Ziel, die Autonomie und die Macht der Chefköche gegenüber den Restaurantbetreibern und der öffentlichen Meinung zu behaupten. Die Rede ist hier von der Gründung der Vereinigung der Maîtres cuisiniers de France im Jahre 1951,14 deren Vorsitzender 1960 schrieb: Zumeist haben sich die Köche als selbstständige Gaststättenbetreiber niedergelassen und verfolgen das Ziel, die Kochkunst in unserem Land, die weltweit als führend anerkannt wird, zu pflegen und zu verbreiten, Nachwuchskräfte, die in der Zukunft für den Bestand des Kochberufs zu sorgen haben, für die Ausbildung in der Küche zu gewinnen und jedem Einzelnen dabei zu helfen, in diesem so wichtigen Lebensbereich Fortschritte zu machen. Es handelt sich also um Fachpersonal, das jeden Tag nur einen Wunsch hat: seine Arbeit noch besser zu machen als am Vortag, und dessen Ehrgeiz gestillt ist, sobald der vorgebildete Kunde das Resultat ihrer Kompetenz und ihrer Praxis zu schätzen weiß.
Die 1951 verabschiedete Charta unterstreicht zwar die beiden Aspekte der Arbeit des Küchenchefs, der als kompetenter Koch, darüber hinaus aber auch als talen-
13 Aus den Archiven der Société des cuisiniers français. 14 Die Association des Maîtres-Queux, wie sie ursprünglich hieß, wurde zwar bereits 1949 ins Leben gerufen. Ihre Statuten werden jedoch erst 1951 verabschiedet.
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tierter Gaststättenbetreiber „von Natur aus polyvalent“ zu sein habe.15 In Wahrheit handelt es sich dabei jedoch lediglich um eine Grundsatzerklärung, da die Köche zu dieser Zeit in der Regel zwar mehr oder weniger begabte, mehr oder weniger künstlerisch veranlagte Handwerker waren, aber nur selten ein ausgeprägtes unternehmerisches oder geschäftliches Geschick an den Tag legten. Nach dem Vorbild einiger Küchenchefs, die um 1950 ihr eigenes Restaurant eröffneten – Raymond Oliver übernahm 1948 das Grand Véfour in Paris, während André Guillot sich 1952 in der Auberge du Vieux Marly und Jean Delaveyne im Camélia in Bougival niederließen –, machte sich eine Reihe von Köchen selbstständig.16Als selbstständige Restaurantbesitzer benannten sie ihre Etablissements nach ihrem eigenen Namen, so wie etwa die Gaststätte in Collonges-auMont-d‘Or in „Paul Bocuse“ umbenannt wurde. Diese schon in den 1960er Jahren einsetzende Entwicklung beschleunigte sich in den 70er und 80er Jahren. Die Köche, die sich heutzutage mit ihrem eigenen Restaurant selbstständig machen, werden immer jünger. Die Köche befreien sich aus der Umklammerung der Restaurantbetreiber und Oberkellner. Sie erklären, dass die Arbeit in der Küche als wichtiger zu erachten sei als die Arbeit im Speisesaal und setzen durch, dass die Gerichte auf einem Teller serviert werden. Das wiederum degradiert die Kellner zu einfachen „Tellerträgern“, „deren Tätigkeit sich letztlich darauf beschränkt, in einem hübschen Ambiente die Silberglocken zu lüften, unter denen sich die Gerichte verbergen.“17Die Veränderung gegenüber dem frühen 20. Jahrhundert und selbst noch verglichen mit der Zwischenkriegszeit ist unübersehbar. Zu dieser Zeit nämlich legte der Gast durchaus noch Wert darauf, „das Stück, das ihm zum Verzehr serviert wird, ganz zu sehen. Ihm diesen Augenschmaus vorzuenthalten, ist ein grober Fehler.“ Definiert wurde das Zuschneiden, das allein dem Saalpersonal vorbehalten war, als „die Kunst, mit geübten Gesten die Teile eines Fleischstücks herauszutrennen, wobei das Fleisch intakt bleibt, die Haut säuberlich geschnitten ist und es einen
15 „Seine beruflichen Kompetenzen müssen nach einer nahezu künstlerischen Gestaltung streben. Für die Mitglieder unserer Vereinigung bedeutet die strenge Einhaltung der Kochprinzipien keineswegs, dass die Weiterentwicklung oder die Kreativität, in der die Persönlichkeit jedes Einzelnen zum Ausdruck kommt, in den Hintergrund treten müssen. Beim Kochen besteht die erste Etappe darin, die besten Zutaten auszusuchen und unablässig nach Perfektion zu streben. Der Maître cuisinier de France lebt in seiner Küche und trägt Sorge dafür, dass dieser Ort tadellos, funktionell und angenehm geführt ist und dass er unter Beachtung der Hygienevorschriften das harmonische Miteinander seiner Küchenbrigade und damit auch die Effizienz der Arbeitsleistung garantiert. Die Mitglieder unserer Vereinigung müssen ständig auf die Sauberkeit und die Bequemlichkeit ihres Restaurants achten. Die Gäste werden unabhängig von ihrem Rang, ihrer gesellschaftlichen Stellung und der Höhe der Rechnung im Grunde wie Freunde empfangen. Die Maître cuisinier achten auch auf die Qualität des Service, was nicht bedeutet, dass die kleinen Details und Aufmerksamkeiten, wie sie das Markenzeichen anspruchsvoller Häuser sind, vernachlässigt werden sollten. Ganz im Gegenteil.“ (aus der 1951 verabschiedeten Charta). 16 In den 70er Jahren besitzen 250 Küchenchefs ihr eigenes Restaurant. 17 So jedenfalls Freddy Girardet, zitiert in: Les colloques de la Fondation Auguste Escoffier, 1998: 64.
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angenehmen und Appetit anregenden Anblick behält.“18 Das Bedienungspersonal spielte damals eine umso größere Rolle, als es auch direkt die Zubereitung und Anrichtung der Speisen beeinflusste. Ein Beobachter schrieb beispielsweise: Diese Fertigkeiten waren bei der Qualifikation eines Oberkellners und selbst noch eines chef de rang von großer Bedeutung. Dabei musste das Personal vor dem stets neugierigen und interessiert zuschauenden Gast, auf einem schmalen Beistelltischchen, dessen Platz noch zusätzlich durch eine Warmhalteplatte, Vorlegeschüsseln, Teller und kleinere Utensilien beengt war, mit großem Geschick und möglichst schnell seine Arbeit verrichten, um den Gast nicht warten zu lassen und zumeist auch um die Gerichte nicht kalt zu servieren.19
Der Service im Speisesaal beschränkte sich allerdings nicht allein auf das Zuschneiden von Fleisch, Geflügel oder Fisch. Dazu kam noch die Zubereitung einiger klassischer Gerichte, zu denen etwa Fleischtartar, flambierte Waldschnepfe, Ente in der Presse, Salate, Nachspeisen (flambierte Crepe oder Crepe mit Eierlikör) gehörten. All diese Aufgaben erforderten eine Lehrzeit und eine langjährige Berufserfahrung: Mehr als drei Jahre waren für den Beruf eines demi-chef de rang im Falle einer betrieblichen Ausbildung notwendig. Nach der Ausbildung in einer Hotelfachschule dauerte die Lehrzeit allerdings nur zwei Jahre. Wer keine Schule besucht und schon mit 14 oder 15 mit dem Arbeiten begonnen hatte, konnte nicht vor seinem 30. oder 35. Lebensjahr zum Oberkellner aufsteigen. In den 1970er Jahren verlor das Bedienungspersonal durch die Rückstufung seiner Aufgaben zunehmend an Bedeutung. Zur selben Zeit vertiefte sich auch die Kluft zwischen den Küchenchefs in privater Anstellung20 und den Köchen und Küchenchefs im Restaurant, die nunmehr ins mediale Rampenlicht rückten und von denen manche im Zuge der nouvelle cuisine wie Filmstars gefeiert wurden.
Die nouvelle cuisine und der Aufstieg der Köche zu Medienstars Der Begriff nouvelle cuisine stammt aus einem Artikel Henri Gaults mit dem Titel „Vive la nouvelle cuisine française“ („Es lebe die neue französische Küche“). Der Artikel wurde 197321 in der Monatszeitschrift Gault et Millau22 veröffentlicht, die kurz zuvor, im Jahre 1969 gegründet worden war, d. h. am Ende eines Jahrzehnts, in dessen Verlauf in Frankreich sowohl die Konsumgesellschaft als auch die Konsumkritik Einzug gehalten hatten.
18 Louis Léospo, Traité d’industrie hôtelière, Paris, Flammarion, 1931. 19 Raymond Armisen, „Service: savoir-faire et techniques oubliés“, in: Les colloques de la Fondation Auguste Escoffier, 1998: 63. 20 All jene, die den Eindruck haben, nicht genug öffentliche Anerkennung erhalten zu haben, erinnern gerne daran, dass eines der angesehensten Restaurants in Frankreich – Fernand Point in Vienne – nichts anderes serviert als die gehobene Küche, wie sie in bürgerlichen Privathäusern zubereitet wird. 21 Gault et Millau 54 (Oktober 1973). 22 Die Bezeichnungen Gault Millau bzw. Gault et Millau sind gleichermaßen für die Restaurantführer wie für die Monatszeitschrift üblich.
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Worum genau handelt es sich bei der nouvelle cuisine? Ihre Fürsprecher Henri Gault und Christian Millau sprachen von einer „bestimmten mentalen Einstellung“ und auch von einer „Reaktion auf den vorherrschenden fürchterlichen Dogmatismus“. Handelt es sich dabei um einen Bruch mit der „klassischen Küche“? Um eine wirkliche Neuerung? Folgt man der Argumentation der beiden Autoren, dann ist die Neue französische Küche Teil einer Entwicklung, die in den 1960er Jahren einsetzte und die auf ein einfacheres und leichteres Kochen abzielte: Der Wandel hatte um 1965 eingesetzt, nachdem die Franzosen nach Jahren der Entbehrungen förmlich ausgehungert waren und die Opulenz der großen Restaurantküche begierig wieder entdeckt hatten. Ihr Hunger war nunmehr gestillt. Ihr Geschmacksempfinden hatte sich verfeinert. Langsam wurden sie wieder empfänglich für eine natürlichere und authentischere Küche. Ein großer Teil der großen Kochtradition der Königshöfe, der verschwenderischen Esskultur des Zweiten Kaiserreichs und der ersten Jahre der Dritten Republik war gerade im Begriff, in sich zusammenzufallen. Die Effekthaschereien einer aufdringlich-indiskreten Küche, die Wettbewerbsgerichte, die eher einer Ornamentalküche entstammten als dem raffinierten Geschmacksempfinden erschienen uns zunehmend veraltet, überholt und oft sogar angesichts ihrer extremen Ansprüche nachgerade unerträglich.23
Unbestreitbar ist jedenfalls, dass diese Reaktion vor allem den noch jüngeren Köchen zwischen dreißig und vierzig eigen war. Sie bildeten Zusammenschlüsse, mit denen sie sich Gehör verschaffen, ihre Meinungen durchzusetzen sowie ihre Stellung und ihren sozialen Status stärken wollten. Diese Köche – vornehmlich Restaurantköche – hatten zwischen den 70er und den 90er Jahren gut zwanzig Jahre lang Erfolg, was vor allem darauf zurückzuführen ist, dass ihre Kochkunst den Wünschen einer neuen Kundenschicht mit neuen Wertvorstellungen entsprach. Henri Gault und Christian Millau betonten stets, dass sie nicht die Erfinder der nouvelle cuisine seien: Die „nouvelle cuisine“ – alle schreiben Sie in Anführungszeichen, um diese neue Küche entweder in den Himmel zu heben oder mit Spott zu übergießen, und so halten auch wir uns an diese Tradition – ist keine Erfindung von uns. Wir haben nur den Begriff in die Welt gesetzt, der dann auch eingeschlagen hat wie eine Bombe. Der Rest, d. h. das Eigentliche, war Sache der Köche selbst. Wir sind und bleiben lediglich Beobachter.
Worin bestanden nun aber ihre Beobachtungen, und wie war überhaupt die Situation der Gastronomie und Küche zu Anfang der 1960er Jahre? Seit dem Ableben Curnonskys, des „Königs der Gastronomen“ und elegischen Fürsprechers der Regionalküche und der weiblichen Kochkunst im Jahre 1956 war die Gastronomiekritik verwaist. Curnonsky hatte in Robert Courtine (1910–1998) alias La Reynière zwar einen geistigen Ziehsohn bzw. Schüler, der für die Tageszeitung Le Monde Gastronomiekritiken verfasste und sich als verbissenster Gegner der nouvelle cuisine erweisen sollte. Trotzdem war in der Gastronomiekritik ein Platz zu vergeben, auf den Henri Gault und Christian Millau nun Anspruch erhoben. Die „neuen“ Gastronomiekritiker Henri Gault und Christian Millau waren Neulinge in der Welt der Gastronomiekritik. Ihr Abenteuer begann 1960 bei Paris-Presse, wo Henri Gault von Pierre Charpy 23 Ebd.
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eine Rubrik mit dem Titel Week-end et promenades („Wochenende und Ausflüge“) für eine von Christian Millau betreute Seite der Zeitschrift angeboten wurde. Dort beschrieb er seine Entdeckungen und gab Tipps, die bei der Leserschaft sogleich ankamen, weil sie den Erwartungen eines neuen Publikums entsprachen, das die ausgetretenen Pfade verlassen wollte und begierig auf Neues war. Die haute cuisine schlummerte dagegen in einem Dornröschenschlaf und war in ihren Dogmen, Prinzipien und Rezepten erstarrt. Mehr noch: Sie hatten sich seit der Vorkriegszeit nicht weiterentwickelt: Die Küche der Vorkriegszeit wurde auch in der Nachkriegszeit ab 1951 faktisch unverändert weitergeführt. […] Offensichtlich verstanden sich die Drei-Sterne-Restaurants lange Zeit eher als Erbe und Hüter einer Tradition, die es zu bewahren galt, denn als einen kreativen Ort des Schaffens. Diese Tradition bestand entweder in der haute cuisine française, wie sie aus dem 19. Jahrhundert, vor allem aber von Escoffier übernommen wurde, oder in einer stärker regional geprägten Küche oder auch in einer Mischung aus beidem. Insofern war es auch nicht weiter überraschend, dass dieselben Spezialitäten in vielen Restaurants serviert wurden.24
Die Küche und das Renommee der großen Restaurants der damaligen Zeit beruhten auf einem begrenzten Repertoire an Rezepten wie etwa dem Krebsschwanzgratin, dem Rossini-Medaillon und der Seezunge Dugleré. Bei der Mère Michel aß man Fisch mit weißer Butter, in der Tour d‘Argent eine Blutente und bei Lasserre in der Pfanne angebratene Seezungenfilets. Allerdings hatte sich bis Anfang der 60er Jahre auch die Küchenausstattung kaum geändert, die praktisch seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges gleich geblieben war. Dazu gehörten große Holzfeuerherde und Eisschränke anstelle eines Kühlschranks.25 Hygienebedingungen und industrielle Kühlmöglichkeiten waren nur sehr eingeschränkt gegeben. Die Frische der Zutaten war nicht das Hauptanliegen, insofern man „mit sehr intensiven Soßen, zu viel Alkohol, Butter und Sahne den Geschmack überspielte.“ Es war damals üblich, dass die Soßenfonds schon tags zuvor zubereitet wurden und dass auch manche Gerichte im Vorhinein gekocht wurden und auf dem Herd auf die Bestellung der Gäste warteten. Das war der Hintergrund, vor dem es zu der „göttlichen Überraschung“ und der Entdeckung der nouvelle cuisine kam. In der Zeitschrift Le Crapouillot (Herbst 1980) berichten Henri Gault und Christian Millau über ihr Essen bei Paul Bocuse, der zu diesem Zeitpunkt noch auf seinen dritten Stern wartete: Er wollte ein wahres Feuerwerk für Augen und Magen abbrennen: Krebssuppe, Seebarsch im Teigmantel usw. Es war perfekt, aber es war alles andere als ein Erweckungserlebnis.
Trotzdem kommen die beiden Freunde abends wieder in die Gaststätte von Colonges-au-Mont-d‘Or, jedoch ohne großen Appetit: Da serviert uns Paul Bocuse einen einfachen Bohnensalat mit Tomaten. Ein Hochgenuss, der Duft des Gemüsegartens, ein unvergesslicher Geschmack. Danach brachte er uns nur kurz angebratene Meerbarben. Wieder waren wir überwältigt von Düften, die wir schon lange seit
24 Claude Fischler, L’homnivore, Paris, Points Seuil, 1993: 253. 25 Einige der bekanntesten Restaurants bekamen erst Anfang der 60er Jahre moderne Kühlschränke.
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Ewigkeiten nicht mehr gerochen hatten. Wir hatten soeben die nouvelle cuisine entdeckt. Sie existierte, wir hatten sie gekostet, wir wussten es nur noch nicht.
Nach Bocuse suchten die beiden Weggefährten nach weiteren Köchen, die – ohne es recht zu wissen – bereits die neue Küche praktizierten. Auf ihrer Suche wurden sie in Roanne bei den Brüdern Troisgros fündig, wo sie Kräuterfrösche serviert bekamen: „Natürlich wurden sie mit Mehl bestäubt, dies jedoch mit einer unnachahmlichen Leichtigkeit“, und die frischen Kräuter kamen erst im letzten Moment hinzu. Christian Millau verbringt eine Woche in den Küchen der Brüder Troisgros und konnte sich so vergewissern, dass hier nichts im Voraus, sondern alles auf die Minute genau zubereitet wurde: „Eine Küche ohne Netz und doppelten Boden.“ Von Anfang an stand das „Leichte“ im Mittelpunkt, einer der zentralen Werte dieser neuen Kochkunst, der gleichzeitig in zahlreichen Erfolgsbüchern wie La grande cuisine minceur von Michel Guérard 1976 oder La grand cuisine légère von André Guillot 1981 gefeiert wurde. Die nouvelle cuisine: eine neue Küche? Ob die bei Paul Bocuse und den Brüdern Troisgros „entdeckte“ neue Küche wirklich auf das Konto dieser Köche ging, ist allerdings mehr als fraglich. In der Tat lassen sich schon Ende des 19. Jahrhunderts etwa mit Auguste Colombié, einem gerade auch wegen seiner Schaumcremerezepte renommierten Küchenchef, Vorläufer finden oder in neuerer Zeit mit André Guillot. Der von einem Privathaushalt ins Restaurantgewerbe übergewechselte Chefkoch26 erzählt: Ich glaube in der Tat, unter Wahrung der Überzeugungen und Ethik meines ehrwürdigen Lehrmeisters Fernand Juteau dadurch als Neuerer gelten zu können, dass ich 1947 a) die Mehlschwitzen, b) die unsägliche „spanische“ Beilage, c) die seit einem Jahrhundert ritualisierten Vol-au-vent und Königinnenpasteten, die ich durch Blätterteigpasteten ersetzt habe (da ein wirklicher Blätterteig zwangsläufig leicht zu sein hat, ist der Ausdruck „leichter Blätterteig“ nichts weiter als ein Pleonasmus) und d) allzu beladene Menüs aus der Küche verbannt habe. Meine Devise war: ein einziges (allerdings großes) Gericht, ein angenehm-kleiner und origineller Appetithappen vorweg und ein leichtes Dessert im Anschluss. Ich riet auch zu einem einzigen Wein, der gut mit dem Hauptgericht harmoniert.27
Benedict Beaugé wiederum erwähnte den Namen Alex Humbert, der in den 1960er Jahren sowohl in der technischen Leitung des Maxim‘s als auch in der Küche des Caméléon in der Nähe der Pariser Börse tätig war. Die leichten Gemüsebeilagen waren eine Erfindung: Sein Lammrücken Callas ist ein perfektes Beispiel hierfür: Der mit in Streifen geschnittenen Trüffeln und Champignons gefüllte Lammrücken 26 Nachdem er als Küchenchef bei Raymond Roussel und dem Herzog d‘Auerstaedt in Diensten gestanden hatte, übernahm er 1947 die Leitung des Restaurants La Réserve in Seine-Port zwischen Melun und Corbeil. 1952 dann übernahm der die Auberge du Vieux Marly, wo er „auf eigene Rechnung“ rund zwanzig Jahre tätig war und gerade auch wegen seiner Blätterteigkreationen berühmt wurde: Grüne Spargelspitzen in Blätterteig, Pâté Pantin im Blätterteigmantel, Feuilleté Dauphinois, Hummer mit Blätterteig, Kalbsbries mit Blätterteig und Sherry. Den Anstoß zu all diesen im Jahre 1947 kreierten Gerichten hatte ihm seine Großmutter mit ihren Fleischgerichten im Teigmantel gegeben. 27 André Guillot, La grande cuisine bourgeoise, Paris, Flammarion, 1976: 64.
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wird einfach gebraten, die Soße war Wahrheit ein mit etwas Kalbsfonds und Sherry abgelöschter Bratensaft, die Beilage bestand aus Spargelspitzen und blanchierten, in Butter goldgelb gebratenen Kartoffeln. Vergessen werden sollte auch nicht Raymond Oliver. Der Sohn einer Gastwirtfamilie aus Langon warb schon vor der Bewegung der nouvelle cuisine für seine „Küche mit marktfrischen Produkten“. Als Eigentümer des Restaurants Le grand Véfour sah er sich als „Künstler“ und bereicherte seine Karte mit eigenen Gerichten (Eier Louis Oliver, Taube Rainier). Seinen dritten Stern erhielt er 1953, in demselben Jahr, in dem er zusammen mit Catherine Langeais in der Sendung Art et magie de la cuisine im Fernsehen auftrat. Mit ihm gelangte die gehobene Küche in die Haushalte, aus denen sie danach nicht mehr wegzudenken war.28 Außerdem war er einer der ersten Köche, der „seinem Herd den Rücken kehrte“, um ins Ausland zu reisen, vor allem nach Japan, wo er 1964 für die Bewirtung bei den Olympischen Spielen zuständig war – wie überhaupt das ästhetische Interesse der nouvelle cuisine der japanischen Küche viel zu verdanken hat.29
Die Merkmale der nouvelle cuisine Die „neue Küche“ ist mehr als bloß eine „mentale Einstellung“. Sie lässt sich als eine Veränderung in der öffentlichen Meinung interpretieren, die sich leichter nachvollziehen lässt, wenn man die Beziehungen zwischen drei Akteuren berücksichtigt: 1) Die Chefköche und Köche emanzipierten sich von ihrem Status als abhängig Beschäftigte bzw. von ihrem Dienstbotenstatus und leiteten ihre Restaurants nun in Eigenregie.30 2) Mit der Monatszeitschrift und dem jährlichen Restaurantführer Gault Millau, der sich bewusst vom Michelin, dem wichtigsten Gastronomieführer absetzen und zu einer Erneuerung der französischen Küche beitragen wollte, entstand ein neues Medium. Die beiden Journalisten bereisten das Land auf der Suche nach interes28 In die Fußstapfen Raymond Olivers traten danach andere Köche. Michel Guérard, einer der Sprecher der nouvelle cuisine, der beispielsweise seine Fernsehrezepte – Mes recettes de télévision – in Buchform veröffentlichte, sowie Raymond Olivers Sohn Michel oder auch Joël Robuchon sorgten dafür, dass die Franzosen mit dem Bild des Meisterkochs vertraut waren. 29 Jean-Robert Pitte erinnert zu Recht daran, dass andere Küchenchefs der nouvelle cuisine nach Raymond Oliver während ihrer Japan-Aufenthalte Ende der 60er Jahre „eine exotische Küche“ entdeckten, „die sie faszinierte“. 30 Christian Millau (1998) weist nachdrücklich auf die soziale Dimension des Phänomens nouvelle cuisine hin, wenn er die „Entwicklung einer Berufsgruppe“ betont, „die umso zuversichtlicher in die Zukunft blickte, als die Franzosen im Überschwang der Wirtschaftswunderzeit gastronomisch aktiv waren und sich gerade auch leidenschaftlich für den Wein interessierten, mit dem sie sich gerne ihre Zeit vertrieben. Es wäre sicherlich ungerecht und unredlich, sich nicht an diese Zeit zu erinnern und dieses goldene Zeitalter der Gastronomie, in der das Restaurationsgewerbe, getragen von einer noch nie da gewesenen Welle der Begeisterung, in einem Ambiente vergnüglichen Glückgefühls nahezu die Perfektion erreichte, einfach mit Sarkasmen zu überziehen.“
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santen Restaurants. Dabei flossen weder der Luxus der Lokalität noch die Geschirrausstattung in die Bewertung ein. Die alleinigen Kriterien waren der Geschmack, die Darbietung und die Originalität des Küchenchefs. Sie benoteten die Restaurants nach ihrem eigenen Gutdünken unabhängig von der Meinung der anderen Essführer. Diese geistige Unabhängigkeit ermutigte so manchen zu einem Besuch in den derart umstrittenen Restaurants. Auch wenn die nouvelle cuisine in Paris entstanden war, fand sie bald in ganz Frankreich ihre Anhänger. 3) Parallel dazu bildete sich eine neue Klientel heraus, die sowohl das neue Medium als auch die Küchenchefs und Köche der nouvelle cuisine im Blick hatten. Dabei handelt es sich um Angestellte mittleren bzw. gehobenen Leitungsniveaus, d. h. der bestimmenden Gruppe der Konsumgesellschaft, deren Werte sich in gastronomischer Hinsicht als schlank, leicht, gesund, geschmackvoll zusammenfassen lassen. Alle drei Akteure sind aufeinander angewiesen: Die Chefköche der nouvelle cuisine brauchen die Kritiken von Gault Millau, mit denen sie erst bekannt werden und die ihnen die Gäste ins Haus bringen, während die Angestellten in Führungspositionen nach einer Küche suchen, die ihrem Wunsch nach Neuem, Leichtem, Gesundem und Geschmackvollem entspricht. Paul Bocuse war die treibende Kraft und der Sprecher der Bewegung der nouvelle cuisine, auch wenn sich seine Kochkunst verglichen mit der Küche vieler seiner Berufskollegen – selbst nach Ansicht von Henri Gault und Christian Millau – niemals durch eine besondere Originalität auszeichnete. Sein großes Verdienst besteht darin, einfache Gerichte und Zubereitungen wieder dem Zeitgeschmack angepasst zu haben. Erinnert sei in diesem Zusammenhang allein an die „Trüffelsuppe“, die er 1975, als er mit der Ehrenlegion ausgezeichnet wurde, dem französischen Staatspräsidenten im Élysée-Palast servierte. Vor allem jedoch warb er für die Küche der anderen Mitglieder seiner „Clique“, insbesondere für die Brüder Jean und Pierre Troisgros aus Roanne und die Brüder Haeberlin in der Auberge de l‘Ill im Elsass. Demgegenüber war Michel Guérard als Fürsprecher der „leichten“ Küche einer der innovativsten, indem er nicht zuletzt als erster – schon ab 1976 – Beziehungen zu der Lebensmittelindustrie, vor allem zu Nestlé (Tiefkühlprodukte der Marke Findus) knüpfte. Die Neuerungen In dem Gründungsartikel aus dem Jahre 1973 hatten Henri Gault und Christian Millau die zehn „Gebote“ der nouvelle cuisine definiert: 1) Kürzere Garzeiten nach chinesischem Vorbild und dem Modell des zügigen Garens im Wok. 2) Eine neue Nutzung der Zutaten mit marktfrischen Produkten.31 31 „Marktfrische Küche“ (La cuisine du marché) ist gerade der Titel eines 1976 erschienenen Buches von Paul Bocuse, das der Gastronomiekritiker Robert Courtine in der Tageszeitung Le Monde mit dem Vorwurf belastet, es handele sich schlicht um ein Plagiat: „Ich habe gerade eine unglaubliche Entdeckung gemacht: Paul Bocuse gibt es gar nicht! Es ist nur ein Pseudonym
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3) Eine Speisekarte mit einer geringeren Auswahl, was dann zwangsläufig bedeutet: „geringere Lagerungskosten, originellere, frischere, weniger eingefahrene Gerichte, die stets auf Bestellung zubereitet werden, sowie ein freudiger Abschied von den Soßenfonds, dem Nonplusultra der Vorkriegszeit, die in ihren Wasserbädern vor sich hin dümpelten.“ 4) Ohne „bedingungslose Modernisten“ zu sein, verwerfen die Köche der nouvelle cuisine doch weder die neuen Gartechniken noch neuartige Kücheninstrumente. 5) Die Küche ist ein moderner und angenehmer Arbeitsort: „Die Öfen sind neu und sauber, mit einer leicht einstellbaren Temperatur. Sie arbeiten in einer von der Hitze nicht so aufgeladenen Luft, ohne unerträgliche Gerüche in hellen und großzügig bemessenen Räumlichkeiten. Sie benutzen Mixer, Eismaschinen, automatische Bratspieße, Schälmaschinen, Resteverarbeiter. Sie wissen, dass der kommerzielle Misserfolg von Tiefkühlprodukten – zumindest was bestimmte Waren anbelangt – eher mit der schlechten Qualität der Basiszutaten zu tun hat als mit dem Verarbeitungsverfahren als solchem, und nutzen diese mit Bedacht. Und schließlich erproben sie Gar- bzw. Aufwärmmethoden, bei denen älteren Köchen – die allerdings gut daran täten, den in seinem eigenen Saft in der Mikrowelle gebratenen Meerbarben bei Paul Bocuse zu kosten – die Haare zu Berge stünden. 6) Die nouvelle cuisine hält nichts von abgehängtem Wild, und folglich sind auch die Kräuter aus der Küche verschwunden, mit denen „die beschämende Geruchsbildung übertüncht wurde.“ 7) Die nouvelle cuisine möchte Schluss machen mit all den „kräftigen“, „schweren“ und „schrecklichen hellen und dunklen Soßen, all den dicken Trüffel-, Wild-, Béchamel- und Mornay-Soßen, die unzähligen Lebern zugesetzt und so viel fade Fleischgerichte dekoriert haben.“ Logischerweise stehen auch „eingedickten Fleisch- und Kalbfonds, Rotwein, Madeira, Blut, Mehlschwitzen, Gelatine, Käse, Kartoffelstärke nicht mehr auf den Gesetzestafeln. Behalten wurden dagegen Bratensäfte, Sahne, Butter, Eifer, Trüffel, Zitrone, frische Kräuter, fein gemahlener Pfefvon Alfred Guérot. Das Verlagshaus Flammarion hatte mir ein dickes Buch von Paul Bocuse mit dem Titel La cuisine du marché zukommen lassen. Mit großem Interesse begann ich meine Lektüre mit dem Vorwort, das Bocuse seinem Vater und Fernand Point widmet, den „Erfindern der nouvelle cuisine“, was wohl bedeuten mag, dass vor ihnen nur schlechtes Essen serviert wurde. Das Vorwort macht deutlich, dass die nouvelle cuisine nichts weiter ist als ein modischer Schickschnack zu Werbezwecken. Diese nouvelle cuisine ist also die Kunst, wie man den eigentlichen Geschmack der Zutaten bewahrt, wie schon Curnonsky vor einem halben Jahrhundert behauptet hat! Ein weiteres grundlegendes Prinzip lautet, dass kein Menü im Vorhinein zusammengestellt wird, sondern je nach den Einkäufen auf dem Markt. Dann machte also meine Großmutter eine „neue Küche“, ohne es zu wissen. Genau wie alle oder fast alle anderen Hausfrauen, die sich bestimmt darüber freuen werden. Nachdem der Meister also derart die Grundlagen der nouvelle cuisine gelegt hat, heißt es weiter: „Ich benutze oft die wunderbaren Rezepte von Guérot. […] Ich arbeite die Rezepte um, ich verwandle sie.“ Und da wollte ich also vergleichen, ist doch der verehrte Alfred Guérot, der vor einigen Jahren das Zeitliche segnete, ein authentischer (und begabter) Vertreter einer doch sehr klassischen Küche. Ich habe nicht alles gezählt, aber von den ersten 150 Bocuse-Rezepten stammen 120 aus dem Buch von Guérot, ohne dass auch nur ein Komma verändert worden wäre!“
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fer, und die Köche haben durchaus Sinn für helle und all jene Soßen, die sich harmonisch ins Ganze fügen, geschmacksverstärkend wirken und weder den Geist umwölken noch den Bauch belasten.“ 8) Die nouvelle cuisine hat auch ein offenes Ohr für gesundes Essen.32 9) Die nouvelle cuisine verfolgt auch ästhetische Zielsetzungen (Telleranrichtung und Präsentation des Gerichts), wobei von Anfang an Grenzen gesetzt wurden, die sie jedoch nicht immer einhielt: „Sie haben noch Sinn für das Dekorativ-Ästhetische, sind sich allerdings der Grenzen bewusst, die es nicht zu überschreiten gilt, und entdecken die Schönheit des Einfachen wie auch die Selbstgefälligkeit hochtrabender Bezeichnungen.“ 10) Und schließlich wollte die nouvelle cuisine auch „originell“ und kreativ sein. Dieser kreative Anspruch zeigte sich zuallererst bei den Beilagen, die nicht dazu verdammt waren, ewig die gleichen zu sein: „Sie halten es nicht für ein Sakrileg, Schafsfleisch zu etwas Anderem zu servieren als zu Erbsen, Hummer zu etwas Anderem als zu Reis, Seezunge zu etwas Anderem als Dampfkartoffeln, Kalb zu etwas Anderem als Spinat, Beefsteak zu etwas Anderem als Fritten, und auch Weißwein muss nicht zwangsläufig zu Fisch oder Foie gras zu Trüffel serviert werden. Die Köche können und sollen aber auch darüber hinaus experimentieren, heißt doch eines der wichtigsten Prinzipien der nouvelle cuisine: „Alles ist erlaubt“, was fast an das 68er-Motto „Verbieten verboten“ zu gemahnen scheint. Das erklärt zum Beispiel auch den rohen Fisch und gewisse Exzesse und Überspanntheiten, die von den Gegnern des Neuen Kochens recht bald gegeißelt wurden. Die nouvelle cuisine hatte Erfolg mit ihren Zutatenverbindungen und -kombinationen und der Einbeziehungen „ausländischer“ Techniken bzw. Produkte. Einige Beispiele: Sauerkraut mit Fisch oder Meereseintopf von Michel Guérard, „ein Vetter des Eintopfs mit Zutaten vom Land“, den er in seinem ersten Restaurant in Asnières servierte, oder auch Alain Chapels „Ringeltaubeneintopf mit Sternanis und Kräuterravioli“. Was zudem die ausländischen Einflüsse betrifft, so sei auf das bis zu diesem Zeitpunkt in Frankreich kaum bekannte Dampfgaren hingewiesen, bei dem sich Jacques Manière an der chinesischen Küche orientierte, oder auch der japanische Einfluss beim Anrichten der Speisen und der Tellerästhetik. Die Anerkennung lässt nicht lange auf sich warten: Schon 1965 wird Paul Bocuse mit seinem dritten Michelin-Stern ausgezeichnet. 1967 und 1968 folgen Haeberlin bzw. die Troisgros und Barrier. 1970 erhält Louis Outhier die höchste Ehrung und einige Zeit später, im Jahre 1973, Alain Chapel, Claude Peyrot und das Restaurant Pic in Valence. 1974 wird Roger Vergé mit einem dritten Stern belohnt, während Guérard und Senderens ihre ersten Auszeichnungen erhalten. Gleichzeitig zieht es die französischen Köche in die Ferne. Die nouvelle cuisine wird so zu einem Exportschlager, der sich anschickt, die Welt zu erobern. Der Erfolg geht einher mit Überspanntheiten und Verirrungen. Epigonen, die nichts weiter 32 Nach Kriegsende, zu einem Zeitpunkt, da noch Mangel herrschte und Lebensmittel rationiert waren, entdecken die Franzosen die Diätetik, während Dr. Jean Trémolières mit der Ernährungswissenschaft eine neue Disziplin zu gründen versuchte.
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interessiert als die Lust am Profit und der schnelle Erfolg, wiederholen und reproduzieren ohne Talent die Pionierköche, halten sich aber für kreativ. Daraus erklären sich die Entgleisungen, die die Gegner der nouvelle cuisine immer wieder brandmarken. Jean Ferniot wetterte gegen Jakobsmuscheln in Orange […]; Kalbsbries mit Vanille […]; Aalpüree mit Birnen; Makrelenterrine mit Johannisbeere; Seeteufelleber mit Kapuzinerkresse […]; Lammstreifen in Tee; Johannisbeerrochen.33
An Kritikern der nouvelle cuisine herrschte also keinerlei Mangel. Ihr bekanntester Gegner war Robert Courtine, der mit dem Ausdruck „Teller der Illusionen“ diese neue Kochform dem öffentlichen Spott preisgab und ihr insofern die Etikette des Neuen absprach, als es nur eine gute oder schlechte Küche geben könne, und ihr weiterhin zum Vorwurf machte, die Menschen mit ihrem „Schnickschnack“ hinters Licht zu führen: Noch andere Köche bedienten sich dieses anfangs amüsanten Schnickschnacks, der auf den Namen nouvelle cuisine hörte, um die Portionen zu reduzieren und Karotten (aber natürlich in Stangen oder aufgeblättert oder in Pfeifenform!) zu Kaviarpreisen feilzubieten. Leichte Küche, säuselten sie. Je leichter die Küche, desto schwerer wiegt leider die Rechnung! Könnte es nicht sein, dass diese Köche nur ans Geld denken? Ans Rampenlicht? An dicke, fette Schlagzeilen? Wäre es nicht so traurig, hätten wir sogar unseren Spaß an all diesen Stars der „Essensshow“ mit niedlichen Gemüsebeilagen als Zugabe! Und da erklang doch tatsächlich die Forderung nach einer Art Urheberrechtsgesellschaft Schmatzigutifeini, um der kollegialen Plagiate juristisch zu Leibe zu rücken! „Wir kreieren Meisterwerke,“ beschwerten sie sich bei irgendeinem Minister, „und der erste Beste kocht das einfach nach. Ein Skandal!“ Als hätte der werte Herr nichts Besseres zu tun! Und warum hat er ihnen nicht zugerufen, dass man weder in der Küche noch auf dem Theater Neues erfinde: Man entdeckt nur Altes wieder oder interpretiert es neu!34
Sieht man einmal von diesen oft überzogenen Kritiken ab, so erkannte Courtine durchaus an, dass die nouvelle cuisine mehr war als nur eine Augenwischerei und dass sie die Essensgewohnheiten der Franzosen – allerdings im negativen Sinne – beeinflusst habe: Die Essensgewohnheiten der Franzosen entsprechen heute der nouvelle cuisine oder genauer gesagt: ihren Abfällen!35
Dadurch, dass sie vor allem auf Qualität und Frische der Zutaten achtete, hat sie vor allem auch zur Herausbildung der Konturen einer neuen Gastronomie beigetragen. Ihre kulturübergreifende Praxis des Verbindens und Vermischens bereitete den Boden für das fusion cooking und das world food von heute. Außerdem haben die Fürsprecher der nouvelle cuisine ihre Arbeitsbedingungen und ihren Status verbessern können und darüber hinaus auch die Küchenpraxis in den bürgerlichen Haushalten beeinflusst. Eine Unterkategorie der Köche blieb jedoch von dieser Bewegung unberührt.
33 Jean Ferniot, „Les farces et salades de la Nouvelle Cuisine“, in: Le Crapouillot 56 (1980): 20–21. 34 Robert Courtine, „L’assiette aux leurres“, in: Le Monde, 15. November 1986. 35 Robert Courtine, Brief vom 12. April 1995.
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Die Köche der Großküchenverpflegung: Der Kochberuf im Zeichen der abhängigen Beschäftigung Für die Franzosen ist der Begriff der Restauration gleichbedeutend mit dem kommerziellen Gaststättengewerbe, d. h. mit den Restaurants. Bei dem Wort Koch denken sie an Restaurantköche. In der kollektiven Vorstellung handelt es sich dabei um einen Chefkoch, genauer gesagt: um einen Meisterkoch mit seinem Kochhut und seiner weißen, von einem großen Modedesigner maßgeschneiderten Kochjacke. Davon, dass Köche auch in bürgerlichen Privathaushalten tätig sind, wissen sie genauso wenig wie von den Köchen der Gemeinschaftsgastronomie, obwohl diese – wie Sylvie-Anne Mériot gezeigt hat36 – einen wachsenden Anteil der in Frankreich zubereiteten Gerichte servieren. In der kommerziellen Restaurantwesen machen die selbstständigen Arbeitgeber 80 Prozent der Berufsgruppe aus, während in der Großküchenverpflegung vor allem große Catering-Unternehmen aktiv sind, wie etwa die Gesellschaften Sodexho, Avenance und Compass Group, die Tausende Angestellte beschäftigen. Auch wenn die Zahlen im Vergleich zu den gewerblichen Restaurants rückläufig sind, unterstreichen sie doch die Bedeutung der Gemeinschaftsverpflegung, die für 60 Prozent der Essen in Frankreich verantwortlich ist: 1967 und 1977 belief sich die Zahl der in staatlichen Kantinen und privaten Anstalts- und Großküchen servierten Gerichte noch auf 62 bzw. 75 Prozent. Wie Sylvie-Anne Mériot erklärt, umfasst die Gemeinschaftsgastronomie, die schon seit längerer Zeit einem besonderen Steuersystem unterliegt, zwei klar voneinander getrennte Branchen: die von staatlichen Behörden eigenverantwortlich geleiteten Kantinen und die Betriebsräte sowie die an so genannte Catering-Unternehmen ausgelagerte Gemeinschaftsverpflegung.37 Davon betroffen sind in erster Linie die Bildungseinrichtungen (vom Kindergarten bis zur Hochschule), die Unternehmen und die Sozialeinrichtungen, d. h. Krankenhäuser, Senioren- und Pflegeheime. Nach den Erhebungen des französischen Statistikamtes INSEE sind die meisten Köche in Frankreich im Bereich der Großküchenverpflegung beschäftigt. 1996 arbeiteten in Frankreich 165.000 Köche in angestellter Tätigkeit und davon mit 55 Prozent mehr als die Hälfte im Großküchensektor. Diese Köche haben keine geringere Qualifikation als die Restaurantköche. Auch in Bezug auf die Verdienstmöglichkeiten sind sie nicht schlechter gestellt: Innerhalb der Großküchengastronomie liegt offenbar das durchschnittliche Gehalt in privaten Einrichtungen höher als in staatlichen Institutionen, die wiederum höhere Verdienstmöglich-
36 Sylvie-Anne Mériot, Compétences et identité d’un groupe professionnel. Les cuisiniers de la restauration collective, Doktorarbeit im Fach Soziologie an der EHESS, 2000; Dieselbe, Le cuisinier nostalgique. Entre restaurant et cantine, Paris, CNRS Éditions, 2002. 37 Die eigenverantwortlich geleitete Großküchenverpflegung, die im Wesentlichen von staatlichen Einrichtungen oder gemeinnützigen Organisationen wie Betriebsräten betrieben wird, ist nicht mehrwertsteuerpflichtig. Bei einer Auslagerung gemeinschaftsgastronomischer Dienstleistungen wird dagegen eine Mehrwertsteuer von 5,5 Prozent erhoben.
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Die berufliche Anerkennung (nach 1945) keiten bieten als Restaurants.38 Trotz großer Gehaltsunterschiede ist der Verdienst mit durchschnittlich 7.400 Franc im Bereich des selbstständigen Privatsektors (Restaurants und einfache Gaststätten) am geringsten. In gewerblichen Restaurantbetrieben wie in der Großküchenverpflegung sind die kleinbetrieblichen Berufstätigkeiten am wenigsten lukrativ. Die privatwirtschaftlich betriebenen Restaurants ohne Hotel bieten die niedrigsten Gehälter (durchschnittlich 6.500 Franc). Die Catering-Unternehmen und die Hotelgastronomie bieten dagegen die lukrativsten Stellen, was vielleicht mit einer durch die größeren Produktionseinheiten bedingten, starken gewerkschaftlichen Präsenz zu tun hat (8.500 Franc).39
Die Vorteile der Großküchengastronomie beschränken sich jedoch nicht allein auf höhere Gehälter. Sie betreffen auch die Arbeitsbedingungen, insbesondere die Arbeitszeitregelungen und eine moderne, durch die technologischen Fortschritte in den letzten zwei Jahrzehnten verbesserte Küchenausstattung.40 Schon in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts war es zum Teil den Köchen in den Großküchen zu verdanken, dass bisher teuere und neue Nahrungsmittel wie Rindfleisch oder Konserven Verbreitung fanden. Diese innovative Funktion ist ganz besonders in den rund 2.600 zentralen Großküchen spürbar, die nahezu jedes fünfte Gericht zubereiten, das die Franzosen tagtäglich in den Kantinen und Mensen von Schulen, Universitäten, Betrieben, Krankenhäusern und Verwaltungseinrichtungen serviert bekommen.41 In den Krankenhäusern zum Beispiel wurden aufgrund der vorgekochten Mahlzeiten (durch die „Kälte- und Wärmekette“) und der Lagerung bei Raumtemperaturen schon 1974 Hygienevorschriften zur Reduzierung der Verbraucherrisiken erlassen.42 Diese Gar- und Konservierungsverfahren, vor allem die so genannte sous 38 Die Analyse der Entlohnungsstruktur basiert auf einer Bearbeitung der Zahlen aus der Beschäftigungsstudie von INSEE aus dem Jahre 1998. 39 Sylvie-Anne Mériot, Le cuisinier nostalgique: 38 40 Bereits in der Vergangenheit war die Gemeinschaftsgastronomie ein bevorzugter Bereich für Neuerungen bei der Ernährung. Die Hitzesterilisierung von Lebensmitteln, die von Appert zu Anfang des 19. Jahrhunderts für die Armee erfunden wurde, ermöglichte später dann erste Erfolge der Konservenindustrie. Andere Erfindungen waren etwa die Zuckergewinnung aus Rüben, die Herstellung von Margarine bzw. – in jüngerer Zeit – Verfahren für eine längere Konservierung von Lebensmitteln. 41 Die Verordnung vom 29. September 1997 definiert die Zentralküche als einen Ort, „der zumindest zum Teil dazu genutzt wird, vorgefertigte Speisen herzustellen, die dann an wenigstens ein abhängiges Restaurant oder eine nicht-kommerzielle Gemeinschaftsküche ausgeliefert werden.“ Im Jahre 2001 waren laut Néorestauration (N°373, Februar 2001) 1694 Zentralküchen staatlich zugelassen und bei 925 wurde der Zulassungsantrag gerade geprüft. 42 Journal officiel (Amtsblatt) – Verordnung vom 26. Juni 1974 zur Bestimmung der Hygienebedingungen bei Zubereitung, Konservierung, Verteilung und Vertrieb vorgekochter Gerichte. Später ergänzten weitere Verordnungen den bestehenden Maßnahmenkatalog: Journal officiel vom 31. Juli 1974 – Verordnung vom 26. Juni 1974 zur Bestimmung der Hygienebedingungen beim Einfrieren, Haltbarmachen und Auftauen von tierischen Lebensmitteln bzw. Lebensmitteln tierischer Herkunft; Journal officiel vom 31 März 1977 – Verordnung vom 10. März 1977 zum notwendigen Gesundheits- und Hygieneniveau des Personals, das mit tierischen Lebensmitteln bzw. Lebensmitteln tierischer Herkunft arbeitet; Journal officiel vom 19. Januar 1980 – Verordnung vom 21. November 1979 zu den mikrobiologischen Kriterien, die bestimmte tierische Lebensmittel bzw. Lebensmittel tierischer Herkunft erfüllen müssen; Journal officiel vom 15. Oktober 1980 – Verordnung vom 26. September 1980 zur Regelung der Hygienebe-
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vide-Technik, d. h. das Garen im Vakuumbeutel, sowie die dazu gehörigen strengen Hygienevorschriften wurden nach und nach von der Gemeinschaftsgastronomie auch in die gewerbliche Gastronomie überführt.43 Was die „Wärmekette“ betrifft, d. h. die Essensproduktion und den Essentransport an den eigentlichen Verpflegungsort, so müssen die Temperaturen bei über 65 Grad Celsius liegen und der Transport darf nicht länger dauern als zwei Stunden. Bei der „Kältekette“ werden die zubereiteten Mahlzeiten zügig abgekühlt (von mehr als 65 auf unter 10 Grad Celsius in weniger als zwei Stunden). Lagerung und Transport erfolgen bei unter 3 Grad, so dass die Gerichte in weniger als einer Stunde zum Konsum aufgewärmt werden können. Bei der Umsetzung dieser Zubereitungs- und Konservierungsverfahren wurden 1994 die neuen HACCP-Normen (Hazard Analysis Critical Control Point – zu deutsch: „Gefährdungsanalyse und kritische Lenkungspunkte“) übernommen.44 Sowohl bei den Hygienenormen und den technischen Innovationen als auch beim Arbeitsumfeld, der Entlohnung und den Arbeitszeiten unterscheidet sich die Gruppe der Köche in der Gemeinschaftsgastronomie also von den anderen Kategorien derselben Berufsgruppe. Auch wenn sie nicht mehr wie noch im ausgehenden 19. Jahrhundert am unteren Ende der Berufsgruppe stehen, sind die Gemeinschaftsgastronomieköche doch weit davon entfernt, ein berufsspezifisches Bewusstsein bzw. eine eigene Berufsidentität entwickelt zu haben. Der Beruf des Großküchenkochs wird in der Tat als ein körperlich anstrengender Beruf wahrgenommen, der sowohl unter einem Prestigemangel leidet, was mit der sozialen Herkunft und dem Qualifikationsniveau der meisten Köche in diesem Sektor zu tun hat, als auch unter einer unzureichenden Anerkennung in der Öffentlichkeit und innerhalb der Berufsgruppe der Köche selbst: Hier bleibt der Restaurantkoch die zentrale Referenz.
Die Zusammenarbeit von Lebensmittelindustrie und Meisterköchen In den 1980er Jahren verwies André Daguin, der „Erfinder“ des magret de canard, auf die Ähnlichkeiten zwischen einem Restaurant und einer Theaterbühne: Der kreative Koch ist wie ein Akrobat, der hoch oben auf dem Seil des Geschmacks seiner Gäste balanciert, und das Essen ist eine Live-Show. Playback gibt es nicht (bei uns entspricht dem Playback das essfertige Tiefkühlgericht oder die Konservendose). Von dem Theater haben wir auch das Programm übernommen: das Menü; der Vorhang geht auf: Madame wird das Essen serviert; Beifall: der Koch wird gefeiert.45 dingungen in den Speisestätten, in denen Gerichte mit tierischen Lebensmitteln bzw. Lebensmitteln tierischer Herkunft zubereitet, serviert oder verteilt werden. 43 R. Bonn / A. Daguin, „La marque H.R.H.: pour une promotion de l‘hygiène dans le cadre de la restauration commerciale dans le département du Gers, in: Bull. Acad. Vet. de France 62 (1989): 135–146. 44 HACCP ist also ein Verfahren, bei dem die spezifischen Gefahr(en) beim Konsum eines Nahrungsprodukts bestimmt, bewertet und vorbeugende Maßnahmen eingeleitet werden können. 45 André Daguin, „Invention et création à la cuisine“, Beitrag zur Académie des sciences morales et politiques vom 30. März 1987.
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Heutzutage funktionieren die großen Restaurants wie ein Schattenspiel: auf der einen Seite der Leinwand der kochende Kunsthandwerker und auf der anderen Seite der Koch als Unternehmer und Berater der Lebensmittelindustrie. Hinter demselben Mensch verbirgt sich sowohl ein Meisterkoch, der zusammen mit seiner Küchenbrigade ein künstlerisches Meisterwerk auf den Tisch zaubert, als auch ein Berater großer Lebensmittelkonzerne, der mit dieser Zusammenarbeit versucht seine immensen Investitionskosten zu decken. Der die Unternehmen beratende Koch rechtfertigt seine Mitarbeit in der Industrie mit dem Hinweis, dass er dadurch die gehobene Küche „demokratisieren“, der Mehrheit der Verbraucher zugänglich machen und außerdem die industriell gefertigten Produkte verbessern könne. Feststeht in jedem Fall, dass – wie eine jüngere Studie hat nachweisen können – ein Drei Sterne-Restaurant heute hohe Kosten verursacht, ohne große Gewinne abzuwerfen (einige Prozentpunkte).46 Dieser Studie zufolge machen die eigentlichen Zutaten lediglich ein Viertel bis ein Drittel der Kosten aus, während die Personalkosten – manche Küchenbrigaden zählen mehrere Dutzend Mitarbeiter – den größten Kostenfaktor darstellen. In diesen großen Restaurants wird immer noch eine „traditionelle“ oder „kreative“ Küche mit frischen und teuren Zutaten praktiziert, eine alten Traditionen folgende, kunstvolle Luxusküche, die dem Restaurantbetreiber so gut wie nichts in die Kasse bringt, die andererseits jedoch unabdingbar ist, um das Image eines Meisterkochs aufzubauen und zu pflegen. Genau dieses Image wird dann zum Vertrieb von Nebenprodukten, Konserven oder Vakuumgerichten, genutzt, die von der Lebensmittelindustrie in den großen Supermärkten vertrieben werden. Das Cassoulet oder das Sauerkraut von William Saurin, für das Paul Bocuse wirbt, die sous vide-Gerichte Alain Senderens’, die in der Supermarktkette Carrefour vertrieben werden, die Gerichte, die Joël Robuchon für den Lebensmittelkonzern Fleury Michon zubereitet oder Pierre Troisgros für Casino, oder die von Bernard Loiseau beworbenen Produkte sind alles Beispiele dafür. Entstanden sind die Verbindungen zur Lebensmittelindustrie vor mehr als zwanzig Jahren. Eine Vorreiterrolle dabei spielte 1976 zweifelsohne Michel Guérard, einer der Köche der nouvelle cuisine, der einen Vertrag mit Nestlé, genauer gesagt: mit dem Hersteller von Tiefkühlprodukten Findus abschloss. Wie er selbst erklärt, hatten beide Vertragspartner konkrete Erwartungen: Als ich 1976 auf Bitte des Vorstandsvorsitzenden von Nestlé die Fabrik von Beauvais besuchte, begriff ich, dass es ihm bei meiner Mitarbeit nicht bloß um einen Namenszug unter seine Produkte ging. Er wollte wirklich, dass ich mich bei der Herstellung mit einbringe. Andererseits richtete ich selbst auch bestimmte Erwartungen an die Lebensmittelindustrie. Wenn man in der Küche letztlich eher empirisch arbeitet, möchte man den wissenschaftlichen Ablauf der Zubereitungsprozesse verstehen lernen. Die Beobachtung der industriellen Fertigungsprozesse hat mir für meine eigene Kochpraxis, aber auch für meine Arbeit im Allgemeinen viel gebracht […].47
46 Vgl. die Zeitschrift Capital (Mai 2003). In der Untersuchung werden die verschiedenen Kostenfaktoren in fünf Luxusrestaurants aufgelistet sowie die Höhe der durchschnittlichen Rechnung und der Vorsteuergewinn der Restaurantbetreiber. 47 Auszug aus „Agro-alimentaire et restauration à l‘heure de la décrispation“, in: L‘industrie hô-
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Seinem Beispiel folgte auch Joël Robuchon, der eine positive Bilanz aus seiner Zusammenarbeit mit Fleury Michon zieht: Die Arbeit mit den Industriefachleuten hat mir für viele Dinge die Augen geöffnet, vor allem was die Herstellung von Emulsionen betrifft. Dabei müssen sie alle Reaktionen analysieren und die chemischen Abläufe des Kochens in den Griff bekommen, um sie so für Fertigungsverfahren mit ganz anderen Mengen nutzen zu können, als wir sie in unseren Restaurants kennen. Wenn man für breite Bevölkerungsschichten produziert, erfordert das eine viel größere Kontrolle und viel mehr Kenntnisse. Das ist eine spannende Angelegenheit!48
Die Meisterköche, die – wie etwa Bernard Pacaud, Küchenchef des Pariser Restaurants Ambroisie – keinerlei Form der Zusammenarbeit mit der Lebensmittelindustrie unterhalten, lassen sich heute an einer Hand abzählen. Vielfältige Formen der Zusammenarbeit In der gegenwärtigen Situation, die weniger von der industriellen Produktion als von der internationalen Finanzwirtschaft geprägt ist, sind die Köche Unternehmer und Finanzfachleute, die an der Spitze von in Familienbesitz stehenden Finanzholdings und privaten Immobilien- bzw. Aktiengesellschaften stehen. Ein Beispiel dafür ist etwa Bernard Loiseau, der seit 1998 an der Börse notiert ist. Ob nun Paul Bocuse, Georges Blanc, Bernard Loiseau oder Alain Ducasse, bei allen lässt sich dieselbe Entwicklung beobachten: Nach und nach erarbeiteten sie sich durch ihre Restaurantarbeit ein Image als Meisterkoch, bevor sie dann Brasserien (Bierkneipen), Bistros (kleine Imbissgaststätten) oder Hotels eröffneten. Jean-Paul Lacombe, der berühmte Küchenchef im Restaurant Léon in Lyon, musste sich beispielsweise für jedes seiner sechs Bistros, die er in derselben Stadt eröffnete, verschulden. Insofern ist es leicht nachvollziehbar, dass sich die Köche gezwungen sehen, bei der Lebensmittelindustrie nach neuen Finanzierungsmöglichkeiten zu suchen. Heute sind die Beziehungen zu der Lebensmittelindustrie und die dazu gehörigen Verträge sehr unterschiedlich. Sie umfassen sowohl die Beratung und die Fortbildung der Köche als auch eine direkte Bewerbung von Produkten bzw. Küchengeräten oder Nebenprodukten (Tischkultur, Fertiggerichte usw.). Die Honorare, die die Köche dafür erhalten, die Vertragshöhe und finanziellen Rechtsansprüche, die den Meisterköchen zustehen, werden gehütet wie ein Staatsgeheimnis. 1999 schätzte Paul Bocuse auf mehr als 120 Millionen Franc den Umsatz der mit seinem Namen in Frankreich und im Ausland kommerzialisierten Gerichte.49 Zusammen mit Gaston Lenôtre und Georges Verger betreibt er seit 1980 das Restaurant Les chefs de France im Epcot Center inmitten des Freizeit-und Vergnügungsparks Disneyland in der amerikanischen Stadt Orlando, das jeden Tag 3.000 Mahlzeiten serviert.
telière (Oktober 2000): 28. 48 Joël Robuchon, Le carnet de route d’un compagnon cuisinier, Paris, Payot, 1995: 13. 49 In: Enjeux (Dezember 1999): 108
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Die Meisterköche haben Bistros, Brasserien und Weinanbaugebiete erworben. Zur Sicherung ihrer Geschäftsinteressen haben sie Holdings, Immobilien- und Aktiengesellschaften ins Leben gerufen. Alain Ducasse, der von allen französischen Köchen die meisten Auszeichnungen erhielt,50 definiert die Gastronomie als eine neue Luxusindustrie und erklärt: Das Unternehmen [Alain Ducasse] besteht aus fünf Unterbereichen, den Restaurants Alain Ducasse mit Spitzengastronomie, den anderen Restaurants (Konzeptuelle Beratung und Bistros), der Hotellerie, einem Bereich, der sich in erster Linie an die Beschäftigten des Gastronomiegewerbes wendet, den Verlagstätigkeiten und schließlich einem Fortbildungszentrum und einem Unternehmensbereich für das breite Publikum. An der Spitze des Gesamtgebäudes haben wir eine Führungsstruktur eingerichtet, die alle gemeinsamen Funktionen der Unternehmensführung sowie der Personal-, Kommunikations- und Einkaufspolitik umfasst.51
Für ihre Existenzsicherung benötigt diese Luxusindustrie eine Entwicklungsstrategie, die nicht allein die Analyse und Kenntnis der Konsumenten beinhaltet, sondern die sich auch als innovationsfähig und kreativ erweist: Wenn ich nicht selbst kreativ wäre, hätte ich das Gefühl, einzugehen, mich selbst zu verraten. Ein Leben ohne diese ständige Herausforderung des Sich-Erneuerns, der Entdeckung neuer Ideen könnte ich mir nicht vorstellen.
Daher verfiel der Koch Alain Ducasse auf den Gedanken, eine eigene Marke ins Leben zu rufen: eine einzige, alles umfassende Marke, die in der ganzen Welt die Zugehörigkeit jedes einzelnen Betriebs zu der Unternehmensgruppe Alain Ducasse kenntlich macht.
Die Entwicklung der Marke erfolgte über eine „durchdachte Diversifizierung der Unternehmensaktivitäten“ und über „ein neues Entwicklungsschema, bei dem die gehobene Gastronomie, die eine unersetzbare Bedeutung als Vitrine und als Laboratorium besitzt, sich auf andere, profitablere Aktivitäten stützt, zu denen vor allem auch Beratungstätigkeiten und Lizenzvergaben gehören“. Alain Ducasse spricht von einem kumulierten Umsatz in Höhe von 50 Millionen Euro bei mehr als 500 Angestellten in allen Betrieben der Unternehmensgruppe. Für die Gruppe im engeren Sinne stehen 17 Millionen Euro zu Buche bei einer Rentabilität von rund 10 Prozent („die Einnahmen stammen im Wesentlichen aus der Rechtevergabe“).52 Trotzdem müssen die Meisterköche ihre Zusammenarbeit mit der Lebensmittelindustrie rechtfertigen. Das beste Argument hierfür ist ganz offensichtlich das Interesse der Konsumenten: Die Köche müssen bei den Betrieben, Herstellern und auch bei der Lebensmittelindustrie, die mehr denn je auf unsere Mitarbeit setzt, für Qualität werben. […] Die Köche laufen ins offene Messer, wenn sie die alltäglichen Ernährungsgewohnheiten aus dem Blick verlieren.53
50 Zweimal drei Sterne mit dem Restaurant Louis XV in Monaco und dem Plazza Athénée in Paris. 51 In: Enjeux (Dezember 1999): 108. 52 Alain Ducasse, „La gastronomie doit devenir une nouvelle industrie de luxe“, in: Le Figaro Entreprises (12. Mai 2003). 53 Marc Veyrat, in: Libération (29. Dezember 2000).
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Und ergänzend heißt es bei Alain Sendersens: Was die großen Köche, die Kunsthandwerker schlechthin betrifft, so werden sie auch in Zukunft für eine begrenzte Klientel maßgeschneiderte Gerichte in ihren Küchen zubereiten, die gleichzeitig als Experimente für das „Prêt-à-porter“ dienen, die kulinarische Stangenware der industriellen Massenfertigung, die nicht mehr ohne ihr Wissen wird auskommen können.54
Folgt man dieser Argumentation, dann bietet das Bündnis mit der Lebensmittelindustrie nicht allein die Möglichkeit, die Betriebskosten in den Luxusrestaurants zu decken und oft beträchtliche Investitionen der Meisterköche in ihre Restaurants und Hotels zu finanzieren, die bisweilen in die Millionen Euro gehen. Vielmehr lasse sich nur so verhindern, dass sich in Zeiten schlechter Ernährungsgewohnheiten und Lebensmittelkrisen wie die des Rinderwahns die Kluft zwischen der gehobenen Gastronomie und dem Essen der Mehrheit der Franzosen noch vertieft! Dass die Köche in dieser Zusammenarbeit lediglich Vorteile sehen, ist leicht nachzuvollziehen. Ob die Ernährung der Franzosen dadurch auch an Qualität gewonnen hat, steht dagegen auf einem ganz anderen Blatt. Das Beispiel der sous vide-Technik, d. h. sowohl des Garens bei niedriger Temperatur als auch der Haltbarmachung von Lebensmitteln, ist in dieser Hinsicht recht aufschlussreich. Diese Ende der 1970er Jahre auf Anregung von Georges Paulus entwickelte Technik profitiert von der Zusammenarbeit mit Meisterköchen wie Joël Robuchon.55 Das Verfahren garantiert eine gleich bleibende geschmackliche Qualität des Endprodukts und entspricht daher den Ansprüchen der Standardisierung der Lebensmittelindustrie, die seitdem weitgehend auf diese Technik zurückgreift, um Produkte nach den Rezepten und unter dem Namen der Spitzenköche zu vertreiben: Senderens für Carrefour, Robuchon für Fleury Michon, Bocuse für William Saurin usw. Die Vorteile, die dieses Verfahren beim Garen bietet, treten allerdings in den Hintergrund, wenn man die Vakuumtechnik zur Konservierung benutzt. Joël Robuchon selbst lässt daran keinen Zweifel: An dieser Stelle sollten wir die Wahrheit über die Vakuumtechnik zu ihrem Recht kommen lassen: Das Verfahren eignet sich weniger zur Haltbarmachung als zum Garen. Ein bei niedriger Temperatur hergestelltes Gericht hält sich nicht länger als zwei bis drei Tage. Bei der industriellen Fertigung wird die Temperatur auf bis zu 80 Grad Celsius und mehr erhöht, um die Haltbarkeit zu verlängern. Die Gerichte können dann bis zu zwanzig Tage konserviert werden.56
Unter diesen Umständen lässt sich leicht nachvollziehen, dass die mit diesem Verfahren hergestellten und unter den Namen Senderens, Bocuse oder Robuchon ver54 Alain Senderens, Recettes de chefs en chef, Paris, Laffont, 1989. 55 In Le carnet de route d‘un compagnon cuisinier (1995: 128) definiert Joël Robuchon das Verfahren folgendermaßen: „Anstatt eine Zutat in einem Topf oder im Ofen zuzubereiten, wird es in einem Beutel oder einem hermetisch geschlossenen Behälter abgepackt. Mit einem Spezialapparat wird sodann ein Vakuum erzeugt. Danach wird es entweder gedämpft oder im Wasser bei niedriger Temperatur gegart, was der eigentliche Vorteil ist. Alle Zubereitungen folgen den traditionellen Techniken. Der einzige Unterschied besteht darin, dass die Menge an verwendeter Flüssigkeit viel geringer ist. 56 Ebd., 133.
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triebenen Mahlzeiten kaum etwas mit den Gerichten zu tun haben, die in den Gourmet-Tempeln zubereitet und serviert werden. Faktisch jedoch spielt die Ernährungsindustrie in den Küchen der Restaurants eine immer größere Rolle, weil hier zum einen vorbereitete Produkte (geschältes bzw. geschnittenes Gemüse und Obst, vorgeschnittenes Fleisch, Geflügel und Fisch) Verwendung finden und zum anderen durch Multifunktionsherde (trockene Gartechniken, Dämpfen, Umlufterhitzung, Aufwärmen ohne Garen usw.) neue Kochtechniken Einzug gehalten haben. Mit all diesen Verfahren und Produkten der Lebensmittelindustrie lässt sich auch der Personalmangel bewältigen, der von der Berufsgruppe jedes Jahr auf mehrere zehntausend Stellen beziffert wird: 1999 lag die Zahl der Arbeitsangebote bei 99.000 offenen Stellen.57 Auch wenn es als ein „Fortschritt“ bewertet wurde, dass die Köche seit kurzem zunehmend in abhängiger Beschäftigung tätig sind, leidet der Kochberuf nicht nur unter einem Imagedefizit, sondern auch unter den immer noch schwierigen Arbeitsbedingungen. Die Arbeitszeiten der Köche sind im Durchschnitt länger als die in anderen Wirtschaftssektoren. Dazu kommt noch, dass die Löhne, die alles andere als attraktiv sind, im Laufe des letzten Jahrzehnts eine rückläufige Tendenz aufweisen.
57 Die Zahlen stammen aus: L‘industrie hôtelière (Dezember 2000): 26.
Schlusswort In etwas mehr als anderthalb Jahrhunderten haben sich die gesellschaftlichen Existenzbedingungen und die Stellung der Köche in Frankreich von Grund auf verändert. Unterstanden sie einst in einfachem Dienstboten- bzw. Angestelltenverhältnis der Aufsicht und Kontrolle der Haushofmeister, Restaurantbesitzer, Gastwirte und Oberkellner, so haben sie sich in diesem Zeitraum schrittweise sozial emanzipiert und mehr oder weniger eine gewisse berufliche Unabhängigkeit erobert. Die Restaurantköche sind zu Besitzern eigener Restaurants aufgestiegen, die privathäuslichen Köche haben immerhin einen öffentlich anerkannten Status als abhängig Beschäftigte errungen. Diese Entwicklung zeigt die ganze Tragweite des Strukturwandels bei der gewerblichen wie privathäuslichen Nahrungszubereitung und veranschaulicht somit einen zentralen Aspekt des Alltagsphänomens Kochen. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts stellten die Köchinnen in den bürgerlichen Privathaushalten noch bei weitem die Mehrheit und waren daher gefürchtete Konkurrentinnen der wenigen männlichen häuslichen Köche. Lange lebten die Köche ganz allgemein und besonders die Restaurantköche eingesperrt in ihren Küchen und waren gleichsam gefangen in ihrem lebenslangen niederen Dienstbotenstatus. Unterdessen haben sie diese unrühmliche Vergangenheit jedoch definitiv hinter sich gelassen. Die größten, reichsten und berühmtesten Köche sind im Laufe der zurückliegenden 25 Jahre in die Welt des modernen Showbusiness und sogar manchmal der internationalen Finanzwirtschaft aufgestiegen. Sie glänzen auf den Titelblättern großer internationaler Magazine und geben sich in den Fernsehstudios die Klinke in die Hand. Zu den unterschiedlichsten Themenbereichen ist oft ihre Meinung gefragt. Das ändert allerdings nichts an der Tatsache, dass die Stellung und der Status der Köche in der französischen Gesellschaft auch heute noch nur schwierig zu definieren ist. Was genau ist eigentlich ein Koch? Ein Handwerker? Ein Geschäftsinhaber? Ein Künstler? Ein Facharbeiter? Ein Angestellter? Ein Unternehmer? Ein Finanzmanager? Ein Kunsthandwerker? Ein Handel treibender Handwerker? Auch die staatlichen Behörden, die offenbar nicht recht wissen, in welche Kategorie sie die Köche einordnen sollen, geben hierzu keine verlässliche Auskunft. Während das Bildungsministerium die Küchenarbeit als eine Dienstleistungsaktivität betrachtet, rechnet das Nationale Amt für Statistik (INSEE) die „ausgebildeten Köche“ in ihrer Berufseinteilung den „Facharbeitern“1 und das Saalpersonal den „einfachen Angestellten“ zu.2 1
2
Die Rubrik 6354 der Klassifikation der PCS ESE (Professions et catégories socioprofessionnelles des emplois salariés d‘entreprise – Berufskategorien der in Betrieben tätigen Arbeitnehmer) des französischen Statistikamtes (INSEE) erfasst die gelernten Köche und sowohl die Kantinen- als auch die Gemeinschaftsköche. Restaurant- und Hotelkellner werden der INSEE-Rubrik 5612 zugeordnet, die die „direkten Personendienstleistungen“ erfasst.
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Schlusswort
Der Sammelbegriff „Koch“ beinhaltet dabei berufliche Wirklichkeiten, die sich stark voneinander unterscheiden, und diese Vielfalt betrifft gleichermaßen die kleingewerbliche und die Großküchen- und Anstaltsverpflegung. In der gewerblichen Gastronomie finden sich neben großen Restaurants, in denen Küchenbrigaden von bisweilen mehr als 20 oder 30 Mitarbeitern tätig sind, sowohl Restaurantketten als auch Bistros, Brasserien (d. h. kleine Imbisslokale und Bierstuben) oder auch unabhängige Restaurants, die von ihrem jeweiligen Besitzer, eventuell unter Mithilfe von Jungköchen, geleitet werden. Ebenso vielfältig wie die Restaurants ist natürlich auch die Kochpraxis. Manche Köche arbeiten immer noch mit frischen, noch nicht vorbehandelten Zutaten, während in den Restaurants der großen technisierten Systemgastronomie Produkte zum Einsatz kommen, die bereits vorbereitet, zugeschnitten, tiefgefroren und in Vakuumbeuteln abgepackt von der Lebensmittelindustrie zur Verfügung gestellt werden. Und auch was die Großküchen- und Anstaltsverpflegung betrifft, so lässt sich nicht behaupten, dass ein Koch in einer Schulkantine oder einem Krankenhaus denselben Beruf ausübt wie der Koch, der in einer riesigen Zentralküche arbeitet und täglich Tausende Mahlzeiten zubereitet. Natürlich ist die Vielfalt unterschiedlicher Berufspraktiken Teil des Kochberufs, bei dem es sich sowohl um einen Dienstleistungsberuf als auch um einen Beruf des produzierenden Gewerbes handelt. Die breite Öffentlichkeit ist sich jedoch dieser tatsächlichen Vielfalt nicht bewusst. In ihrer Vorstellung existiert lediglich der renommierte Spitzenkoch mit Mütze, Schürze oder weißer Kochjacke und einem Messer oder Holzlöffel in der Hand. Sieht man jedoch einmal von diesen vielfältigen Berufslagen, Praktiken und Vorstellungen ab, so überrascht letztlich, dass die Probleme und Forderungen innerhalb der Berufsgruppe, deren Mitglieder heute mehrheitlich ganz normale Arbeitnehmer mit einem arbeitsrechtlichen Status und Tarifverträgen sind, die ihnen Rechte und Vorteile garantieren, im Grunde unverändert geblieben sind. Lässt sich hier überhaupt generell von aufsteigender sozialer Mobilität und Fortschritt sprechen? Ist die Tatsache, dass immer mehr Köche in einer abhängigen Beschäftigung tätig sind, nicht vielmehr die Folge einer allgemeinen, soziostrukturellen Mobilität, die dazu führt, dass die abhängig Beschäftigten heute mehr als 75 Prozent der Erwerbsbevölkerung Frankreichs ausmachen? Außerdem beinhaltet der Status eines abhängigen Arbeitnehmers trotz seiner finanziellen und arbeitsrechtlichen Absicherungen nicht nur Vorteile. Sylvie-Anne Mériot hat beispielsweise gezeigt, dass besonders die Köche der Großküchen- und Anstaltsverpflegung auf der Suche sind nach eigener sozialer Identität, mehr Prestige und damit Anerkennung in der Öffentlichkeit. Die Ursache hierfür lässt sich leicht erkennen: Viele von ihnen entstammen eigentlich der gewerblichen Gastronomie und zählen sich nicht zu den „ganz normalen“ Köchen, weil die Anstalts- und Großküchengastronomie einen Bruch mit den traditionellen Wertvorstellungen und dem berufsspezifischen Idealbild darstellt, das immer noch von dem Modell des Handwerks bestimmt wird. Allerdings stellt sich die Frage, ob die Köche der gewerblichen Gastronomie nicht auch an ihrer beruflichen Identität zweifeln.
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In den letzten dreißig Jahren hat die Lebensmittelindustrie die Kochpraxis durch neue Basisprodukte (Tiefkühlwaren, sous vide-Produkte, küchenfertig geschnittetes Fleisch und Fisch, Soßenpulver, vorgegarte Nahrungsmittel) völlig verändert. Mit den Nahrungsmitteln haben sich aber auch die Garverfahren für diese neuen Nahrungsmittel gewandelt, die nunmehr in Mikrowellen, Multifunktions- und Induktionsherden zubereitet werden. Feststeht in jedem Fall, dass die Köche diese Veränderungen noch längst nicht alle bewältigt und in die Kochausbildung integriert haben, die auch weiterhin von dem handwerklichen Idealbild bestimmt wird und zahlreiche Fragen offen lässt. Neben dem CAP (Certificat d‘aptitude professionnelle), d. h. dem berufsbildenden Abschluss, der immer noch der wichtigste Abschluss ist und die zentrale Einstiegspforte in den Kochberuf darstellt,3 zeugt die Einführung eines BEP (Brevet d‘études professionnelles) und eines Fachabiturs von dem Wunsch, das Ausbildungs- und Anwerbeniveau der Nachwuchsköche anzuheben. Allerdings führt diese Verlängerung der Schulzeit zu unerwünschten Nebeneffekten, da viele Fachabiturienten nach ihrer Hotelfachschule nur noch daran denken, wie sie der Arbeit in der Küche aus dem Weg und einen Einstieg in das Hotelgewerbe finden oder gar einen völlig anderen Berufsweg einschlagen können. Außerdem ist es den Köchen in keiner Weise gelungen, den Zugang zum Kochberuf zu kontrollieren. Nicht anders als in der Vergangenheit muss man kein gelernter Koch sein, um ein Restaurant zu eröffnen. Aus diesem Grund haben sich in den letzten Jahren eine Reihe von Künstlern, Filmstars und Sportlern mit mehr oder weniger Erfolg in das an sich für sie völlig fremde Gastronomiegewerbe gestürzt. Aber es fehlt den Köchen keineswegs an Handlungsmöglichkeiten. Es wimmelt nur so von Gesellschaften, Verbänden und Berufsorganisationen, die sich die Vertretung der Köche aufteilen und in ihrem Namen sprechen: Dazu zählen solidarische Unterstützungsvereine, Gewerkschaften, Verbände wie die Maîtres cuisiniers de France die Chambre syndicale de la haute cuisine, die Gastronomievereine wie der Club Prosper Montagné4, die Jeunes Restaurateurs, Eurotoques und natürlich die Union interprofessionnelle des métiers de l‘hôtellerie (UIMH). Eine derartige Fragmentierung ist jedoch nicht unbedingt ein Zeichen von Vitalität und führte bisher vielmehr zu Missklängen und unerwünscht hoher Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt. Insofern sollte der außergewöhnliche Erfolg der französischen Spitzenköche, die wie Weltstars gefeiert und in den Himmel gehoben werden, nicht den Blick auf die Krise des Kochberufs verstellen, der immer noch unter einer unzureichenden Wertschätzung und gesellschaftlichen Anerkennung leidet. Allen Veränderungen zum Trotz ist der Kochberuf auch heute noch ein manueller und körperlich anstren3
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Die Verordnung vom 12. Februar 1954, die am 9. März 1954 im Amtsblatt veröffentlicht wurde, schuf „den landesweit gültigen berufsqualifizierenden Abschluss für Köche, Hotelangestellte, Saalpersonal und Sommeliers“. Der 1950 von René Morand gegründete Club Prosper Montagné ist ein Zusammenschluss aus Restaurantbetreibern und Köche. Gemäß den Wünschen von Prosper Montagné organisiert dieser Verein alljährlich einen Kochwettbewerb, die so genannten Coupe culinaire, dessen Ziel darin besteht, neue Köche zu entdecken, welche die große Tradition der französischen Kochkunst weiterführen und sie um neue Rezepte bereichern können.
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gender Beruf. Die Löhne der meisten Köche sind nicht sonderlich hoch (das Durchschnittseinkommen betrug vor der Einführung des Euro ungefähr 8.000 Franc), die Wochenarbeitszeit liegt mit durchschnittlich 43 Wochenstunden deutlich über den gesetzlich vorgeschriebenen 35 Stunden, wobei die in der gewerblichen Gastronomie notwendige Wochenendarbeit noch nicht einmal eingerechnet ist. Dass das Personaldefizit von der Berufsgemeinschaft auf mehrere Zehntausende Köche beziffert wird, ist also nicht sonderlich überraschend. Kann vielleicht die Lebensmittelindustrie einen Ausweg aus der Nachwuchskrise weisen? Zumindest bietet sie bis zu einem gewissen Grad die Möglichkeit, den Mangel an Köchen zu kompensieren. Dadurch, dass sie den Köchen eine Reihe von Vorprodukten an die Hand gibt, erleichtert sie ihnen die Vorarbeiten, für die bisher Personal vonnöten war. Gleichzeitig verwandelt sie allerdings auch die Küchenarbeit in eine Montagetechnik, bei der der Küchenchef nur noch letzte Hand anlegt und sich damit begnügt, den Rezepten eine „persönliche Note“ zu geben. Gerade weil die industriell vorgefertigten Produkte heute weder aus der gewerblichen noch aus der Gemeinschaftsgastronomie wegzudenken sind, müssen sie nach besonderen Regeln verarbeitet werden, was insbesondere die Gartemperatur betrifft. Allzu viele Köche haben diesbezüglich nur unzureichende Kenntnisse, was die gegenwärtigen Enttäuschungen und Frustrationen erklären mag. Werden die Köche und die Kochkunst den Weg gehen, den die Lebensmittelindustrie ihnen weist? Die Antwort hängt natürlich von den Konsumenten und Restaurantgästen ab. Während die hochgradig verfeinerte haute cuisine für die breiten französischen Bevölkerungsschichten heute immer weniger zugänglich ist, vertieft sich jeden Tag die Kluft zwischen den Sonntagsreden zur Bewahrung der weltweiten gastronomischen Vorrangstellung Frankreichs und den alltäglichen Ernährungsgewohnheiten der Bevölkerungsmehrheit, die sowohl in der gewerblichen Gastronomie – ob nun in Fastfood- oder anderen Restaurants – als auch in der Großküchen- und Anstaltsverpflegung industrialisierte und standardisierte Mahlzeiten zu sich nimmt.
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