Geschichte der abendländischen Philosophie: Antike [1] 3534740785, 9783534740789

Diese Philosophiegeschichte setzt neue Maßstäbe! Anthony Kenny ist in seinem vierbändigen Werk etwas gelungen, wonach ma

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German Pages 349 [346] Year 2015

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Table of contents :
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Titel
Impressum
Inhalt
Karte des Mittelmeerraums
Einführung
1 Die Anfänge: Von Pythagoras bis Platon
Die vier Ursachen
Die Schule von Milet
Die Pythagoreer
Xenophanes
Heraklit
Parmenides und die Eleaten
Empedokles
Anaxagoras
Die Atomisten
Die Sophisten
Sokrates
Der Sokrates Xenophons
Der Sokrates Platons
Sokrates’ eigene Philosophie
Von Sokrates zu Platon
Die Ideenlehre
Platons Dialog Politeia
Nomoi und der Timaios
2 Schulen des Denkens: Von Aristoteles bis Augustinus
Aristoteles in der Akademie
Der Biologe Aristoteles
Das Lykeion und sein Lehrplan
Aristoteles über Rhetorik und Dichtkunst
Die ethischen Schriften des Aristoteles
Die politische Theorie des Aristoteles
Die Kosmologie des Aristoteles
Das Vermächtnis von Aristoteles und Platon
Die Schule des Aristoteles
Epikur
Die Stoiker
Skeptizismus in der Akademie
Lukrez
Cicero
Judentum und Christentum
Die Stoa der Kaiserzeit
Frühe christliche Philosophie
Das Wiedererwachen von Platonismus und Aristotelismus
Plotin und Augustinus
3 Richtiges Argumentieren: Logik
Die Syllogistik des Aristoteles
Die Schrift De Interpretatione und die Kategorien
Aristoteles über Zeit und Modalität
Stoische Logik
4 Das Wissen und seine Grenzen: Erkenntnistheorie
Vorsokratische Erkenntnistheorie
Sokrates, Wissen und Nichtwissen
Das Wissen in Platons Dialog Theaitetos
Das Wissen und die Ideen
Aristoteles über Wissenschaft und Illusion
Die epikureische Erkenntnistheorie
Die Erkenntnistheorie der Stoiker
Der Skeptizismus der Akademie
Pyrrhonische Skepsis
5 Wie Dinge geschehen: Physik
Das Kontinuum
Aristoteles über Ort und Raum
Aristoteles’ Theorie der Bewegung
Aristoteles’ Zeitauffassung
Aristoteles über Kausalität und Veränderung
Die Kausalitätsauffassung der Stoiker
Kausalität und Determinismus
Determinismus und Freiheit
6 Was es gibt: Metaphysik
Die Ontologie des Parmenides
Platons Ideenlehre und ihre Probleme
Aristotelische Universalien
Wesen und Quiddität
Sein und Existenz
7 Seele und Geist
Pythagoras’ Seelenwanderungslehre
Wahrnehmung und Denken
Unsterblichkeit in Platons Phaidon
Die Anatomie der Seele
Platon über die sinnliche Wahrnehmung
Die philosophische Psychologie des Aristoteles
Die hellenistische Philosophie des Geistes
Wille, Geist und Seele in der Spätantike
8 Das rechte Leben: Ethik
Der Moralist Demokrit
Sokrates über die Tugend
Platon über Gerechtigkeit und Wohlergehen
Aristoteles über Glückseligkeit
Aristoteles über moralische und intellektuelle Tugend
Lust und Glück
Der Hedonismus Epikurs
Stoische Ethik
9 Gott
Xenophanes’ natürliche Theologie
Sokrates und Platon über Frömmigkeit
Die Entwicklung von Platons Theologie
Aristoteles’ unbewegte Beweger
Die Götter Epikurs und der Stoiker
Über Weissagung und Astrologie
Die Trinität Plotins
Zeittafel
Siglen und Abkürzungen
Bibliografie
Liste der Abbildungen
Register
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Geschichte der abendländischen Philosophie: Antike [1]
 3534740785, 9783534740789

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Anthony Kenny

Geschichte der abendländischen Philosophie

Band I Band II Band III Band IV

– – – –

Antike Mittelalter Neuzeit Moderne

Anthony Kenny

Geschichte der abendländischen Philosophie Band I

Antike Aus dem Englischen übersetzt von Manfred Weltecke

Studienausgabe

Originalausgabe: A New History of Western Philosophy. Volume 1: Ancient Philosophy Oxford University Press © Sir Anthony Kenny 2004

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung in und Verarbeitung durch elektronische Systeme. Studienausgabe 2016 3., unveränderte Auflage © 2014 by WBG (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt Die Herausgabe des Werkes wurde durch die Vereinsmitglieder der WBG ermöglicht. Lektorat: Tina Koch Satz: SatzWeise GmbH, Trier Einbandgestaltung: Christian Hahn, Babenhausen Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier Printed in Germany Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-wissenverbindet.de ISBN 978-3-534-26787-3 Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich: eBook (PDF): 978-3-534-74077-2 eBook (epub): 978-3-534-74078-9

Inhalt Karte des Mittelmeerraums

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Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Die Anfänge: Von Pythagoras bis Platon Die vier Ursachen . . . . . . . . . . . . . Die Schule von Milet . . . . . . . . . . . Die Pythagoreer . . . . . . . . . . . . . . Xenophanes . . . . . . . . . . . . . . . . Heraklit . . . . . . . . . . . . . . . . . . Parmenides und die Eleaten . . . . . . . Empedokles . . . . . . . . . . . . . . . . Anaxagoras . . . . . . . . . . . . . . . . Die Atomisten . . . . . . . . . . . . . . . Die Sophisten . . . . . . . . . . . . . . . Sokrates . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Sokrates Xenophons . . . . . . . . . Der Sokrates Platons . . . . . . . . . . . Sokrates’ eigene Philosophie . . . . . . . Von Sokrates zu Platon . . . . . . . . . . Die Ideenlehre . . . . . . . . . . . . . . Platons Dialog Politeia . . . . . . . . . . Nomoi und der Timaios . . . . . . . . . .

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Schulen des Denkens: Von Aristoteles bis Augustinus Aristoteles in der Akademie . . . . . . . . . . . . . . . Der Biologe Aristoteles . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Lykeion und sein Lehrplan . . . . . . . . . . . . . . Aristoteles über Rhetorik und Dichtkunst . . . . . . . . Die ethischen Schriften des Aristoteles . . . . . . . . . . Die politische Theorie des Aristoteles . . . . . . . . . . Die Kosmologie des Aristoteles . . . . . . . . . . . . . . Das Vermächtnis von Aristoteles und Platon . . . . . . . Die Schule des Aristoteles . . . . . . . . . . . . . . . . . Epikur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Stoiker . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Inhalt

Skeptizismus in der Akademie . . . . . . . . . . . . . . . Lukrez . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Cicero . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Judentum und Christentum . . . . . . . . . . . . . . . . Die Stoa der Kaiserzeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Frühe christliche Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . . Das Wiedererwachen von Platonismus und Aristotelismus Plotin und Augustinus . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Richtiges Argumentieren: Logik . . . . . . . . Die Syllogistik des Aristoteles . . . . . . . . . . . Die Schrift De Interpretatione und die Kategorien Aristoteles über Zeit und Modalität . . . . . . . Stoische Logik . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Das Wissen und seine Grenzen: Erkenntnistheorie Vorsokratische Erkenntnistheorie . . . . . . . . . . Sokrates, Wissen und Nichtwissen . . . . . . . . . . Das Wissen in Platons Dialog Theaitetos . . . . . . . Das Wissen und die Ideen . . . . . . . . . . . . . . Aristoteles über Wissenschaft und Illusion . . . . . . Die epikureische Erkenntnistheorie . . . . . . . . . Die Erkenntnistheorie der Stoiker . . . . . . . . . . Der Skeptizismus der Akademie . . . . . . . . . . . Pyrrhonische Skepsis . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Wie Dinge geschehen: Physik . . . . . . . Das Kontinuum . . . . . . . . . . . . . . . Aristoteles über Ort und Raum . . . . . . . Aristoteles’ Theorie der Bewegung . . . . . Aristoteles’ Zeitauffassung . . . . . . . . . Aristoteles über Kausalität und Veränderung Die Kausalitätsauffassung der Stoiker . . . Kausalität und Determinismus . . . . . . . Determinismus und Freiheit . . . . . . . .

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Was es gibt: Metaphysik . . . . . . Die Ontologie des Parmenides . . . . Platons Ideenlehre und ihre Probleme Aristotelische Universalien . . . . . . Wesen und Quiddität . . . . . . . . . Sein und Existenz . . . . . . . . . . .

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Inhalt

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Seele und Geist . . . . . . . . . . . . . . . Pythagoras’ Seelenwanderungslehre . . . . . Wahrnehmung und Denken . . . . . . . . . Unsterblichkeit in Platons Phaidon . . . . . . Die Anatomie der Seele . . . . . . . . . . . . Platon über die sinnliche Wahrnehmung . . . Die philosophische Psychologie des Aristoteles Die hellenistische Philosophie des Geistes . . Wille, Geist und Seele in der Spätantike . . .

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Das rechte Leben: Ethik . . . . . . . . . . . . . . Der Moralist Demokrit . . . . . . . . . . . . . . . . Sokrates über die Tugend . . . . . . . . . . . . . . . Platon über Gerechtigkeit und Wohlergehen . . . . . Aristoteles über Glückseligkeit . . . . . . . . . . . . Aristoteles über moralische und intellektuelle Tugend Lust und Glück . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Hedonismus Epikurs . . . . . . . . . . . . . . . Stoische Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Gott . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Xenophanes’ natürliche Theologie . . . Sokrates und Platon über Frömmigkeit Die Entwicklung von Platons Theologie Aristoteles’ unbewegte Beweger . . . . . Die Götter Epikurs und der Stoiker . . Über Weissagung und Astrologie . . . . Die Trinität Plotins . . . . . . . . . . .

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Zeittafel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Siglen und Abkürzungen

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Bibliografie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Liste der Abbildungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Mailand

Korsika Rom

Makedonien

Neapel

Akragas

Megara Leontinoi Syrakus

Elis Korinth

Lampsakos Assos Pergamon Klazomenai Kolophon Chalkis Ephesos Samos Aphrodisias Athen Milet

Soloi

Ke os

Hippo

Larisa

s

Kroton

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Elea

Sizilien

Abdera

Stageira

Karte des Mittelmeerraums

Sardinien

Kreta

Aschkelon Alexandria

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800 km

Einführung

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arum sollte man die Geschichte der Philosophie studieren? Es gibt viele Gründe, dies zu tun. Man kann sie in zwei Gruppen einteilen: philosophische und historische Gründe. Wir können die großen Philosophen der Vergangenheit studieren, um die Fragestellungen der gegenwärtigen philosophischen Forschung in ihren historischen Kontext zu stellen. Oder wir wollen vielleicht die Menschen und Gesellschaften vergangener Epochen verstehen und ihre philosophischen Werke lesen, um das intellektuelle Klima zu erfassen, in dem sie gedacht und gehandelt haben. Wir können die Philosophen früherer Jahrhunderte lesen, um bei ihnen Hilfen zur Lösung von philosophischen Problemen zu finden, die nach wie vor aktuell sind, oder um tiefer in die Gedankenwelt einer vergangenen Epoche einzudringen. In der vorliegenden Geschichte der Philosophie hoffe ich, von den Anfängen bis zur Gegenwart beide Ziele zu verfolgen. Ich werde dies jedoch in verschiedenen Teilen dieses Werkes auf unterschiedliche Weise tun. In dieser Einführung gelingt es mir hoffentlich zu erklären, was mich dazu bewogen hat. Bevor man jedoch eine Strategie zum Schreiben der Philosophiegeschichte erläutert, muss man zunächst innehalten und über das Wesen der Philosophie selbst nachdenken. Das Wort „Philosophie“ bedeutet, je nachdem, wer es im Munde führt, Unterschiedliches, weshalb auch der Ausdruck „Geschichte der Philosophie“ auf verschiedene Weise verstanden werden kann. Die Bedeutung des Ausdrucks hängt davon ab, was der jeweilige Historiker als für die Philosophie wesentlich ansieht. Dies gilt für Aristoteles, den ersten Historiker der Philosophie, und für Hegel, der hoffte, ihr letzter zu sein, da er glaubte, die Philosophie zur Vollendung geführt zu haben. Beide Denker hatten ein sehr unterschiedliches Philosophieverständnis. Gemeinsam war ihnen jedoch die Vorstellung von philosophischem Fortschritt: Philosophische Probleme werden im Laufe der Geschichte immer klarer erfasst, und sie können mit immer größerer Genauigkeit beantwortet werden. Im ersten Buch seiner Metaphysik beschreibt Aristoteles – genau wie Hegel in seinen Vorlesungen zur Geschichte der Philosophie – die von ihm dargestellten Lehren der früheren Philosophen als Zwischenschritte auf einem Weg in Richtung einer Sicht der Dinge, die er dann selbst entfaltet. Nur jemand mit höchstem philosophischem Selbstvertrauen konnte die Geschichte der Philosophie auf diese Weise darstellen. Die größte Versuchung für die meisten Historiker unter den Philosophen besteht nicht darin, die Philosophie als eine Entwicklung zu beschreiben, die in ihrem eigenen Werk ihren Höhepunkt erreicht, sondern eher als einen allmählichen Fortschritt bis zu demjenigen philosophischen System darzustellen, das sich gegenwärtig der größten Zustimmung erfreut.

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Einführung

Dieser Versuchung sollte man widerstehen. Es gibt keine Kraft, die einen philosophischen Fortschritt in irgendeiner bestimmten Richtung garantiert. Ja, man kann sogar daran zweifeln, ob es in der Philosophie überhaupt einen Fortschritt gibt. Manche Autoren vertreten die Auffassung, dass die großen philosophischen Fragen nach einer jahrhundertelangen Diskussion noch immer debattiert werden, und dass sie einer definitiven Antwort nicht nähergebracht wurden. Im 20. Jahrhundert schrieb der Philosoph Ludwig Wittgenstein: „Man hört immer wieder die Bemerkung, daß die Philosophie eigentlich keinen Fortschritt mache, daß die gleichen philosophischen Probleme, die schon die Griechen beschäftigten, uns noch beschäftigen. Die das aber sagen, verstehen nicht den Grund, warum es so ist/sein muß. Der ist aber, daß unsere Sprache sich gleich geblieben ist und uns immer wieder zu denselben Fragen verführt. […] Ich lese ‚[…] philosophers are no nearer to the meaning of reality than Plato got […]‘ 1 Welche seltsame Sachlage. Wie sonderbar, daß Plato dann überhaupt so weit kommen konnte! Oder, daß wir dann nicht weiter kommen konnten! War es, weil Plato so gescheit war?“ (MS 213/424)

Der Unterschied zwischen dem, was man die aristotelische und die Wittgenstein’sche Einstellung zur Frage des philosophischen Fortschritts nennen könnte, hängt mit zwei unterschiedlichen Philosophieauffassungen zusammen: Die Philosophie kann entweder als Wissenschaft oder als eine Kunst angesehen werden. In der Tat ist es im Falle der Philosophie besonders schwer, sie einer der beiden Kategorien zuzuordnen, denn sie weist Ähnlichkeiten sowohl mit der Wissenschaft als auch mit der Kunst auf. Einerseits scheint sie einer Wissenschaft ähnlich zu sein, insofern es in der Philosophie um die Wahrheitssuche geht. Es scheint, dass in der Philosophie durchaus Entdeckungen gemacht werden. Philosophen kennen daher wie Naturwissenschaftler die Begeisterung, die aus der Zugehörigkeit zu einem intellektuellen Abenteuer erwächst, das durch Kontinuität, Kooperation und die Erweiterung eines vorgegebenen Wissensbestandes geprägt ist. Trifft dies zu, muss der Philosoph die neuesten Veröffentlichungen kennen und mit dem Stand der Forschung Schritt halten. Gemäß dieser Auffassung haben wir Philosophen des 21. Jahrhunderts gegenüber den früheren Vertretern unseres Faches einen Vorteil. Zweifellos stehen wir auf den Schultern anderer großer Denker, doch wir stehen über ihnen. Wir haben Platon und Kant überholt. Andererseits veralten die klassischen Werke in den Geisteswissenschaften nicht. Wir lesen heute nicht mehr Newton oder Faraday, wenn wir Physik oder Chemie, nicht aber ihre Geschichte, studieren wollen. Doch wir lesen die Werke Homers und Shakespeares nicht nur, um in Erfahrung zu bringen, welch seltsame Dinge den Menschen in längst vergangenen Zeiten durch den Kopf gingen. Dasselbe gilt, diese Mei1

Anm. d. Übers.: „[…] Philosophen sind der Bedeutung der Wirklichkeit nicht näher, als Platon ihr gekommen ist […].“

Einführung

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nung lässt sich durchaus vertreten, für die Philosophie. Wir lesen Aristoteles heute nicht aus Neugier an antiquierten Ideen. Die Philosophie ist im Wesentlichen das Werk einzelner Genies, und Kant hat Platon ebenso wenig abgelöst wie Shakespeare Homer. Jede dieser Auffassungen enthält einen wahren Kern, doch keine von ihnen ist uneingeschränkt wahr oder kann beanspruchen, die gesamte Wahrheit darzustellen. Die Philosophie ist keine Wissenschaft und es gibt in ihr keinen „neuesten Stand“. Philosophie hat es nicht mit der Erweiterung des Wissens oder damit zu tun, neue Wahrheiten über die Welt zu finden. Der Philosoph ist nicht im Besitz von Wissen, das anderen verwehrt ist. In der Philosophie geht es nicht um das Wissen, sondern um das Verstehen, d. h. um die Strukturierung des Wissens. Doch da die Philosophie allumfassend und ihr Feld so weit ist, ist die von ihr geforderte Strukturierung des Wissens so kompliziert, dass sie nur von einem Genie geleistet werden kann. Für all diejenigen unter uns, die keine Genies sind, besteht der einzige Weg, auf dem wir hoffen können, uns in die Philosophie einzuarbeiten, darin, dass wir uns in die Höhe der Ideenwelt eines der großen Denker der Vergangenheit strecken. Obwohl die Philosophie keine Wissenschaft ist, stand sie im Laufe ihrer Geschichte in einer engen Beziehung zu den Wissenschaften. Viele Wissensgebiete, die in der Antike und im Mittelalter zur Philosophie gehörten, sind längst zu eigenständigen Wissenschaften geworden. Ein Wissenszweig bleibt philosophisch, solange seine Begriffe ungeklärt und seine Methoden umstritten sind. Vielleicht sind keine wissenschaftlichen Begriffe jemals vollständig geklärt, und keine wissenschaftlichen Methoden können je umfassende Zustimmung finden. Trifft dies zu, dann bleibt in jeder Wissenschaft ein philosophisches Element erhalten. Sobald jedoch Probleme unproblematisch formuliert und Begriffe widerspruchsfrei vereinheitlicht werden können und Einigkeit darüber erzielt werden kann, welche Methode zu ihrer Lösung zu befolgen ist, haben wir es, statt mit einem neuen Zweig der Philosophie, mit der Entstehung einer eigenständigen Wissenschaft zu tun. Man sollte die Philosophie, die einmal als Königin der Wissenschaften galt und dann als ihre Magd, daher vielleicht besser als Schoß oder Hebamme der Wissenschaften ansehen. Doch gehen Wissenschaften aus ihr weniger durch Geburt und Entbindung als vielmehr durch Abspaltung hervor. Zwei von vielen anderen möglichen Beispielen sollen dies veranschaulichen. Im 17. Jahrhundert beschäftigten sich Philosophen ausgiebig mit dem Problem, welche unserer Begriffe angeboren und welche erworben sind. Dieses Problem teilte sich in zwei Teilprobleme auf: in ein psychologisches („Was verdanken wir der Vererbung und was der Umwelt?“) und ein erkenntnistheoretisches („Welcher Teil unseres Wissens hängt von der Erfahrung ab, und wie viel davon ist unabhängig von ihr?“). Die erste Frage wurde an die wissenschaftliche Psychologie abgegeben, während die zweite weiterhin zur Philosophie gehörte. Doch sie zerfiel selbst ebenfalls in eine Reihe weiterer Fragen. Eine von ihnen lautete: „Ist die Mathematik lediglich eine Erweiterung der Logik oder gibt es eigenständige mathematische Wahrheiten?“ Die Frage, ob die Mathematik von der reinen

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Einführung

Logik abgeleitet werden kann, erhielt durch die Arbeiten von Logikern und Mathematikern des 20. Jahrhunderts eine präzise Antwort. Die Antwort war keine philosophische, sondern eine mathematische. Wir hatten es hier also mit einer anfänglich verwirrten philosophischen Frage zu tun, die sich in zwei Richtungen verzweigte: eine psychologische und eine mathematische. Als philosophischer Rest blieb eine weiterhin zu diskutierende Frage bezüglich des Wesens mathematischer Aussagen zurück. Ein früheres Beispiel ist komplizierter. Ein Zweig der Philosophie, dem von Aristoteles ein ehrenvoller Platz zugewiesen wurde, war die „Theologie“. Wenn wir heute lesen, was er dazu zu sagen hatte, so kommt uns dies wie eine Mischung aus Astronomie und Religionsphilosophie vor. Christliche und muslimische Theologen haben den aristotelischen Auffassungen Elemente aus den Lehren ihrer heiligen Schriften hinzugefügt. Als Thomas von Aquin dann im 13. Jahrhundert eine scharfe Trennungslinie zwischen einer natürlichen und einer auf Offenbarung basierenden Theologie zog, kam es zu einer ersten wichtigen Abspaltung: Berufungen auf Offenbarung wurden aus der Bearbeitung des philosophischen Problembestandes ausgeschlossen. Es dauert sehr viel länger, bis sich Astronomie und natürliche Theologie voneinander trennten. Dieses Beispiel verdeutlicht, dass es sich bei einem Fach, das von der Philosophie abgestreift wird, nicht um eine Wissenschaft handeln muss, sondern dass es ebenso ein humanistisches Fach sein kann, wie etwa biblische Studien. Es zeigt auch, dass sich in der Geschichte der Philosophie Beispiele für den Zusammenschluss wie für die Abspaltung von Fächern finden. Die Philosophie gleicht den Geisteswissenschaften auch darin, dass es in ihrer Literatur so etwas wie einen Grundbestand kanonischer Werke gibt. Ein Philosoph setzt zu bearbeitende Probleme zu einer Reihe klassischer Texte in Beziehung. Da sie über keine fest umrissene Thematik verfügt, sondern lediglich über charakteristische Methoden, ist die Philosophie ein Fach, das durch die Arbeiten seiner bedeutenden Vertreter definiert wird. Die frühesten Denker, die wir als Philosophen ansehen, die Vorsokratiker, waren zugleich Wissenschaftler, und mehrere von ihnen waren außerdem religiöse Führungsgestalten. Sie betrachteten sich selbst noch nicht als einer gemeinsamen Profession zugehörig, derjenigen, von der wir Philosophen des 21. Jahrhunderts behaupten, dass sie sich bis zu uns fortgesetzt habe. Es war Platon, der in seinen Schriften erstmals das Wort „Philosophie“ in einem Sinn verwendete, der unserem modernen Verständnis nahekommt. Diejenigen, die sich heute als Philosophen bezeichnen, können sich mit Fug und Recht als Erben Platons und Aristoteles’ ansehen. Doch wir sind nur eine kleine Untergruppe ihrer Erben. Was uns von den anderen Erben der großen Griechen unterscheidet und was uns berechtigt, das Erbe ihres Namens anzutreten, ist die Tatsache, dass wir Philosophen, im Gegensatz zu den Physikern, Astronomen, Ärzten und Linguisten, die Ziele von Platon und Aristoteles ausschließlich mit den Methoden verfolgen, die auch ihnen zur Verfügung standen. Wenn die Philosophie irgendwo zwischen den Natur- und Geisteswissenschaften anzusiedeln ist, wie lautet dann die Antwort auf die Frage: „Gibt es Fortschritt in der Philosophie?“

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Es gibt Denker, die meinen, es sei die Hauptaufgabe der Philosophie, uns von intellektueller Verwirrung zu befreien. Nach dieser bescheidenen Ansicht von der Rolle des Philosophen ändern sich die zu übernehmenden Aufgaben im Laufe der Geschichte, da jedes Zeitalter eine andere Form der Therapie benötigt. Das Netz, in dem sich der undisziplinierte Verstand verfängt, ändert sich von einer Epoche zur nächsten, und zur Befreiung aus dem Netz sind jeweils andere geistige Manöver erforderlich. So ist beispielsweise die Versuchung, sich das menschliche Bewusstsein als eine Art Computer vorzustellen, ein weitverbreitetes Übel unserer Zeit, während frühere Epochen versucht waren, es sich wie eine Telefonzentrale, eine Pedalorgel, einen Homunkulus oder einen Geist vorzustellen. Irrige Vorstellungen vergangener Zeiten, wie etwa der Glaube, dass die Sterne lebende Wesen sind, können entweder in einen Ruhezustand übergehen, oder sie können wiederkehren, wie der Glaube, dass die Sterne uns ermöglichen, menschliches Verhalten vorherzusagen. Es mag allerdings so scheinen, als erlaube die therapeutische Sicht der Philosophie lediglich eine Änderung der philosophischen Ansichten im Laufe der Zeit, jedoch keinen wirklichen Fortschritt. Dies muss aber nicht so sein. Eine irrige Vorstellung kann durch einen Philosophen so gründlich widerlegt werden, dass auch unvorsichtige Denker nicht mehr in Versuchung kommen, sie zu übernehmen. Ein Beispiel für diesen Fall werden wir im ersten Band dieser Geschichte ausführlich erörtern. Parmenides, der Gründer der Ontologie (der Wissenschaft vom Sein), stützte einen großen Teil seiner Lehre auf eine systematische Verwirrung verschiedener Bedeutungen des Verbs „sein“. Platon hat in einem seiner Dialoge diese Probleme so erfolgreich durchleuchtet, dass es seither keine Entschuldigung für diese Verwirrung mehr gibt. Es erfordert sogar eine große Anstrengung der philosophischen Einbildungskraft, sich vorzustellen, wie Parmenides dieser Verwirrung ursprünglich überhaupt erliegen konnte. Ein Fortschritt dieser Art wird häufig durch seinen Erfolg unsichtbar: Wenn ein philosophisches Problem gelöst wurde, betrachtet es niemand mehr als eine Angelegenheit der Philosophie. Es verhält sich damit ähnlich wie mit dem Landesverrat in folgendem Epigramm: „Landesverrat hat keinen Erfolg. Aus welchem Grunde? Hätte er Erfolg, wagte niemand ihn so nennen.“

Die sichtbarste Form philosophischen Fortschritts ist der Fortschritt in der philosophischen Analyse. Der philosophische Fortschritt besteht nicht darin, dass einem bestimmten Umfang von Wissen regelmäßig neues Wissen hinzugefügt wird. Wie ich bereits gesagt habe, bietet die Philosophie nicht Informationen, sondern ein vertieftes Verständnis. Natürlich verfügen die Philosophen der Gegenwart über einiges Wissen, das die größten Philosophen der Vergangenheit nicht besaßen. Bei dem, was sie wissen, handelt es sich jedoch nicht um philosophische Einsichten, sondern um diejenigen Wahrheiten, die von den Wissenschaften entdeckt wurden, die aus der Philo-

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sophie hervorgegangen sind. Es gibt jedoch einige Dinge, die von zeitgenössischen Philosophen verstanden werden, die selbst die größten Denker früherer Generationen nicht verstanden haben. So präzisieren Philosophen beispielsweise die Sprache, indem sie verschiedene Bedeutungen von Wörtern unterscheiden. Wenn eine solche Läuterung der Sprache erfolgt ist, muss sie von künftigen Philosophen bei ihren Überlegungen berücksichtigt werden. Nehmen wir als Beispiel das Problem der Freiheit des Willens. An einem bestimmten Punkt der Philosophiegeschichte wurden zwei unterschiedliche Arten menschlicher Freiheit unterschieden: die Freiheit der Indifferenz (die Fähigkeit, etwas anderes zu tun) und die Freiheit der Spontaneität (die Fähigkeit zu tun, was man will). Nachdem diese Unterscheidung vorgenommen wurde, muss die Frage „Ist der Wille des Menschen frei?“ auf eine Weise beantwortet werden, die diesen Unterschied beachtet. Selbst jemand, der die Auffassung vertritt, dass die beiden Arten der Freiheit übereinstimmen, muss Argumente dafür anführen, um zu zeigen, dass es sich so verhält. Er kann diesen Unterschied nicht einfach ignorieren und dennoch hoffen, dass seine Beiträge zu diesem Thema ernst genommen werden. Bedenkt man, welche Rolle der Kanon ihrer klassischen Texte für die Philosophie spielt, überrascht es nicht, dass eine wichtige Form des philosophischen Fortschritts in der Aneignung und Interpretation der Gedanken bedeutender Philosophen der Vergangenheit besteht. Die großen Werke der Vergangenheit verlieren in der Philosophie nicht ihre Bedeutung, und ihre Beiträge zum Denken der jeweiligen Gegenwart sind keineswegs statisch. Jedes Zeitalter interpretiert die philosophischen Klassiker neu und wendet sie auf seine eigenen Probleme und Ziele an. In den letzten Jahren ist dies auf dem Gebiet der Ethik besonders deutlich zu sehen. Die ethischen Schriften von Platon und Aristoteles haben auf die moralphilosophische Reflexion der Gegenwart einen ebenso großen Einfluss wie die Werke irgendwelcher Moralphilosophen des 20. Jahrhunderts. Anhand eines beliebigen Zitatenverzeichnisses lässt sich dies leicht bestätigen, doch werden ihre Werke heute auf sehr unterschiedliche Weise interpretiert und angewendet, als dies in der Vergangenheit der Fall war. Diese neuen Deutungen und Anwendungen stellen einen echten Fortschritt in unserem Platonoder Aristoteles-Verständnis dar. Doch handelt es sich hierbei natürlich um ein Verständnis, das sich von demjenigen deutlich unterscheidet, welches sich etwa durch eine neue Untersuchung der Chronologie der platonischen Dialoge oder einen stilometrischen Vergleich der verschiedenen ethischen Werke des Aristoteles gewinnen lässt. Das neue Licht, das hierbei auf diese Werke fällt, gleicht eher dem tieferen Verständnis von Shakespeare, das wir einer neuen und besonders einfühlsamen Aufführung von König Lear verdanken würden. Der Historiker der Philosophie, sei er hauptsächlich an Philosophie oder an Geschichte interessiert, kann nicht umhin, beides zu sein: Philosoph und Historiker. Um eine Geschichte der Malerei zu schreiben, muss man kein Maler sein, und ein Historiker, der sich mit der Geschichte der Medizin befasst, praktiziert, als Historiker, keine Medizin. Doch ein Historiker der Philosophie kann es nicht vermeiden, Phi-

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losophie zu betreiben, während er die Geschichte der Philosophie schreibt. Es ist nicht nur so, dass jemand, der nichts von Philosophie versteht, ein schlechter Historiker der Philosophie sein wird. Es ist ebenso zutreffend, dass jemand, der überhaupt nicht kochen kann, ein schlechter Historiker der Kochkunst sein wird. Die Verbindung zwischen der Philosophie und ihrer Geschichte ist noch wesentlich enger. Die historische Aufgabe selbst zwingt Historiker der Philosophie, die Meinungen der von ihnen behandelten Denker zu paraphrasieren, Gründe dafür zu nennen, warum Denker der Vergangenheit zu ihren jeweiligen Auffassungen gelangt sind, Spekulationen darüber anzustellen, welche Prämissen in ihren Argumenten unausgesprochen geblieben sind, sowie die Kohärenz und Stichhaltigkeit der von ihnen gezogenen Schlussfolgerungen zu beurteilen. Doch Gründe für philosophische Schlüsse beizubringen, verborgene Prämissen in philosophischen Argumenten aufzudecken und die Logik philosophischer Schlussfolgerungen zu bewerten sind selbst genuin philosophische Aktivitäten. Daher muss jede ernsthafte Geschichte der Philosophie sowohl eine philosophische Bemühung als auch eine Übung in der Geschichtsschreibung sein. Andererseits muss der Historiker der Philosophie den geschichtlichen Kontext kennen, in dem die Denker der Vergangenheit ihre Werke verfasst haben. Wenn wir Verhaltensweisen der Vergangenheit erklären, fragen wir nach den Gründen der handelnden Person; und wenn wir einen guten Grund gefunden haben, glauben wir ein bestimmtes Verhalten verstanden zu haben. Gelangen wir hingegen zu dem Schluss, dass die Person, selbst nach ihren eigenen Auffassungen, keine guten Gründe hatte, so müssen wir nach anderen, komplizierteren Erklärungen suchen. Was für Handlungen gilt, gilt auch für die Übernahme philosophischer Ansichten. Findet der philosophiehistorische Autor einen guten Grund für die Lehre eines Philosophen der Vergangenheit, hat er seine Aufgabe erfüllt. Wenn er jedoch zu dem Schluss gelangt, dass der Denker der Vergangenheit keinen guten Grund für seine Auffassung hatte, steht er vor einer weiteren und wesentlich schwierigeren Aufgabe: Er muss die Lehre aus dem historischen Kontext erklären, aus dem sie hervorgegangen ist, und dabei möglicherweise neben den intellektuellen auch soziale Aspekte in die Erklärung einbeziehen.2 Geschichte und Philosophie sind selbst in der ursprünglichen Bemühung um echte philosophische Aufklärung eng miteinander verbunden. In der neueren Philosophie veranschaulicht dies im 19. Jahrhundert auf besonders brillante Weise das Meisterwerk des bedeutenden deutschen Philosophen Gottlob Frege, Die Grundlagen der Arithmetik. Fast die Hälfte von Freges Buch ist der Erörterung und Widerlegung der Ansichten anderer Philosophen und Mathematiker gewidmet. Während er die Meinungen anderer untersucht, achtet er darauf, dass einige seiner eigenen Ansichten kunstvoll angedeutet werden, wodurch die anschließende Darstellung seiner eigenen Theorie erleichtert wird. Doch besteht der Hauptzweck der längeren kriti2

Besonders eindrücklich wird die Größe dieser Aufgabe von Michael Frede in der Einleitung zu seinen Essays in Ancient Philosophy (Oxford: Clarendon Press, 1987) dargestellt.

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schen Auseinandersetzung darin, den Leser von der Schwierigkeit der Probleme zu überzeugen, für die er dann später Lösungen vorschlägt. Ohne diese Präambel fehlt uns Frege zufolge die wichtigste Voraussetzung dafür, dass wir überhaupt etwas lernen: das Wissen über unser Nichtwissen. In unserem Zeitalter der Spezialisierung sind die meisten Geschichten der Philosophie das Gemeinschaftswerk vieler Autoren, die jeweils auf unterschiedliche Gebiete und Epochen spezialisiert sind. Indem Oxford University Press mir anbot, als Alleinautor eine Geschichte der Philosophie von Thales bis Derrida zu schreiben, brachte der Verlag damit die Überzeugung zum Ausdruck, dass die Schilderung der Entwicklung der Philosophie aus einem einzigen Gesichtspunkt, der die antike, mittelalterliche, neuzeitliche und gegenwärtige Philosophie in einer an zusammenhängenden Themen orientierten, durchgehenden Darstellung verbindet, ein lohnendes Projekt sei. Das Werk wird in vier Bänden erscheinen: Der erste wird die Jahrhunderte vom Beginn der Philosophie bis zur Bekehrung des Heiligen Augustinus im Jahre 387 behandeln. Der zweite Band setzt die Darstellung von Augustinus bis zum Laterankonzil im Jahre 1512 fort. Der dritte Band endet mit Hegels Tod im Jahre 1831, und der vierte und letzte Band stellt die philosophische Entwicklung bis zum Ende des zweiten Jahrtausends dar. Es versteht sich zwar von selbst, dass ich nicht behaupten kann, ein Fachmann für die vielen Philosophen zu sein, deren Gedanken ich in den Bänden meines Werkes erörtern werde, doch habe ich über wichtige Denker in jeder der in den vier Bänden behandelten Epochen eigene Monografien verfasst: über Aristoteles (The Aristotelian Ethics und Aristotle on the Perfect Life), über Thomas von Aquin (Aquinas on Mind und Aquinas on Being), über Descartes (Descartes: A Study of his Philosophy und Descartes: Philosophical Letters) sowie über Frege und Wittgenstein (bei Penguin erschienene Einführungsbücher zu Frege und Wittgenstein und The Legacy of Wittgenstein). Ich hoffe, dass die Mühe, die ich auf das Schreiben dieser Bücher verwendet habe, mir ein Verständnis des philosophischen Stils von vier verschiedenen Epochen der Philosophie gegeben hat. Was ich dadurch gewiss gewonnen habe, ist ein Sinn für die anhaltende Bedeutsamkeit bestimmter philosophischer Probleme und Einsichten. Ich hoffe außerdem, dass ich meine Philosophiegeschichte auf eine Weise verfassen werde, die die Gesichtspunkte, die ich in dieser Einleitung angeführt habe, berücksichtigt. Ich gebe mich keineswegs der liberalen Illusion hin, dass der gegenwärtige Zustand der Philosophie den höchsten Punkt darstellt, den die philosophischen Bemühungen bislang erreicht haben. Mein Hauptanliegen beim Verfassen dieses Buches besteht im Gegenteil darin zu zeigen, dass die Philosophie der großen Denker der Vergangenheit in vieler Hinsicht nach wie vor aktuell ist und dass das sorgfältige Studium der großen Werke auch für Menschen der Gegenwart noch philosophisch erhellend sein kann. Es ist ein großes Privileg, sie geerbt zu haben. Der Kern jeder philosophiegeschichtlichen Darstellung ist die Textinterpretation: das genaue Lesen und die Exegese philosophischer Texte. Die Interpretation von Texten kann auf zwei Weisen erfolgen: als interne oder externe Interpretation. Bei der

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internen Interpretation ist der Exeget bemüht, den Text schlüssig und konsistent zu machen, wobei er in seiner Deutung das principle of charity 3 anwendet. Eine externe Interpretation versucht, die Bedeutung eines Textes durch den Vergleich und die Gegenüberstellung mit anderen Texten zu erschließen. Die Exegese kann der Ausgangspunkt von zwei sehr verschiedenen historischen Bemühungen sein, die ich zu Beginn dieser Einleitung beschrieben habe. Bei der einen von ihnen, die wir als historische Philosophie bezeichnen können, besteht das Ziel darin, die philosophische Wahrheit oder ein philosophisches Verständnis des vom Text behandelten Problems zu gewinnen. Die historische Philosophie sucht normalerweise nach den Gründen oder der Rechtfertigung für die Aussagen, die sich in dem studierten Text finden. Der anderen Bestrebung, der Ideengeschichte, geht es nicht darum, die Wahrheit über das vom Text behandelte Problem zu finden, sondern ein Verständnis einer Person, einer Epoche oder einer historischen Entwicklung zu erlangen. Der Ideengeschichte betreibende Historiker sucht weniger nach den Gründen als nach den Quellen, Ursachen oder Motiven für die Aussagen, die der zu verstehende Text enthält. Beide Disziplinen fußen auf der Textexegese, doch es ist die Ideengeschichte, bei der es am meisten auf die Genauigkeit und das Einfühlungsvermögen bei der Textlektüre ankommt. Man kann ein guter Philosoph sein, obwohl man ein schlechter Exeget ist. Zu Beginn seiner Philosophischen Untersuchungen diskutiert Wittgenstein die Sprachphilosophie des Heiligen Augustinus. Was er dort schreibt, ist exegetisch höchst suspekt, doch dies schwächt nicht die Überzeugungskraft der von ihm gegen die „augustinische“ Theorie der Sprache vorgebrachten Argumente. Allerdings entsprach Wittgensteins Selbstbild nicht wirklich demjenigen eines historisch Philosophierenden, ebenso wenig wie er seine Arbeit als Beitrag zur Ideengeschichte verstand. Der Bezug auf den großen Augustinus als Urheber der falschen Theorie dient lediglich dem Hinweis, dass es sich um einen Irrtum handelt, den es anzugreifen lohnt. In verschiedenen Geschichten der Philosophie kommen die Fähigkeiten des Historikers und diejenigen des Philosophen in unterschiedlichem Maß zum Einsatz. Das angemessene Verhältnis der beiden variiert je nach dem Zweck der Arbeit und dem Gebiet der Philosophie, um das es sich handelt. Das Bemühen um historisches Verständnis und das Bemühen um philosophische Einsicht sind beides legitime Zugangsweisen zur Philosophiegeschichte, doch beide haben ihre je eigenen Gefahren. Es ist wahrscheinlich, dass Historiker, die die Geschichte philosophischer Systeme studieren, ohne selbst an den philosophischen Problemen, um deren Lösung es den Philosophen der Vergangenheit ging, interessiert zu sein, ihnen dadurch nicht gerecht werden, dass sie über eine oberflächliche Darstellung nicht hinausgelangen. Die Interpretation von Philosophen, die antike und mittelalterliche Texte oder solche der 3

Anm. d. Übers.: Wer dieses Prinzip anwendet, interpretiert die Äußerungen anderer Personen so, dass ihre Überzeugungen größtenteils wahr sind.

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frühen Neuzeit lesen, ohne die historischen Kontexte zu kennen, in denen sie verfasst wurden, wird ihnen wahrscheinlich nicht gerecht werden können, weil sie die jeweilige Epoche der Entstehung nicht gut genug kennen. Autoren der Philosophiegeschichte, die sich auf ihrem Feld sicher bewegen können, ohne einer dieser Gefahren zu erliegen, sind selten. Jeder dieser Fehler kann den Zweck des Bemühens vereiteln. Der Historiker, der an den philosophischen Problemen, die die Denker der Vergangenheit umtrieben, kein eigenes Interesse hat, hat nicht wirklich verstanden, wie ihr Denken sich entfaltete. Der Philosoph, der den historischen Hintergrund der klassischen Texte der Vergangenheit ignoriert, wird kein neues Licht auf die Probleme werfen können, die uns heute noch beschäftigen, sondern lediglich zeitgenössische Vorurteile in kunstvoller Verkleidung darbieten können. Die beiden Gefahren bedrohen verschiedene Gebiete der Geschichte der Philosophie in unterschiedlichem Maß. Auf dem Gebiet der Metaphysik muss man am stärksten vor der Gefahr der Oberflächlichkeit auf der Hut sein: Jemanden, der selbst kein Interesse an grundlegenden philosophischen Problemen hat, werden die Systeme der großen Denker der Vergangenheit lediglich wie kurioser Wahnwitz vorkommen. In der politischen Philosophie droht hingegen als große Gefahr die unzeitgemäße Darstellung: Wenn wir die Kritik Platons oder des Aristoteles an der Demokratie lesen, werden wir nicht das Geringste davon verstehen, solange wir nichts über die politischen Institutionen im Athen der Antike wissen. Zwischen der Metaphysik und der politischen Philosophie liegen die Ethik und die Philosophie des Geistes: Hier drohen beide Gefahren in gleichem Umfang. Ich werde versuchen, in diesen Bänden sowohl ein philosophischer Historiker als auch ein historischer Philosoph zu sein. Philosophiegeschichten aus der Feder mehrerer Autoren sind manchmal chronologisch und manchmal thematisch aufgebaut. Ich werde versuchen, beide Vorgehensweisen zu kombinieren, indem ich in jedem Band zunächst eine chronologische Übersicht biete und dieser dann eine thematische Behandlung bestimmter philosophischer Fragen von bleibender Bedeutsamkeit folgen lasse. Leser mit vorwiegend historischem Interesse werden sich stärker auf die chronologische Übersicht konzentrieren und bei Bedarf die thematischen Abschnitte zur Ergänzung zurate ziehen. Diejenigen Leser, die stärker an den philosophischen Problemen interessiert sind, werden hauptsächlich die thematischen Abschnitte der Bände lesen und die chronologischen Übersichten konsultieren, um ein bestimmtes Problem in seinen historischen Kontext stellen zu können. Daher biete ich im ersten Teil dieses ersten Bandes einen herkömmlichen chronologischen Durchgang von Pythagoras bis Augustinus und im zweiten Teil eine detailliertere Behandlung von Themen, bei denen ich glaube, dass wir von unseren Vorgängern im klassischen Griechenland und im Rom der Kaiserzeit noch sehr viel zu lernen haben. Die Themen in diesen thematischen Abschnitten wurden zum Teil auch im Hinblick auf ihre Entwicklung in den noch ausstehenden Bänden ausgewählt. Bei den Lesern, die ich vor Augen habe, handelt es sich um Studenten auf

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dem Niveau des zweiten und dritten Studienjahres. Da mir jedoch klar ist, dass viele Studenten, die sich für die Geschichte der Philosophie interessieren, für andere Fächer eingeschrieben sind, in denen die Philosophie nur eine untergeordnete Rolle spielt, werde ich, soweit es geht, nicht voraussetzen, dass meine Leser mit den philosophischen Methoden und der philosophischen Terminologie der Gegenwart vertraut sind. Ich habe mir außerdem zum Ziel gesetzt, so klar und unterhaltsam zu schreiben, dass die Lektüre dieser Geschichte der Philosophie auch denjenigen Vergnügen bereitet, die sie nicht lesen, weil es ihr Lehrplan nahelegt, sondern die dies zur eigenen Bildung und Unterhaltung tun. Anmerkung des Übersetzers: Bei der Übersetzung der Zitate wurde nach Möglichkeit eine deutsche Standardübersetzung verwendet oder der Originaltext zurate gezogen.

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Die Anfänge: Von Pythagoras bis Platon

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ie Geschichte der Philosophie beginnt nicht mit Aristoteles, wohl aber die Philosophiegeschichtsschreibung. Aristoteles war der erste Philosoph, der die Lehren früherer Denker systematisch studiert, aufgezeichnet und kritisiert hat. Im ersten Buch der Metaphysik gibt er eine Zusammenfassung der Lehren seiner Vorgänger: von den fernen geistigen Ahnen Pythagoras und Thales bis zu Platon, der 20 Jahre sein Lehrer war. Bis heute ist er eine der umfassendsten und zuverlässigsten Informationsquellen zu den Anfängen der Philosophie.

Die vier Ursachen Aristoteles klassifiziert die frühesten griechischen Philosophen entsprechend der Struktur seines Systems der vier Ursachen. Wissenschaftliche Untersuchungen, so glaubte er, waren in erster Linie eine Sache der Ursachenforschung, und es gab vier verschiedene Arten von Ursachen: die Stoff-, die Wirk-, die Form- und die Zweckursache. Um ein alltägliches Beispiel dafür zu geben, was er vor Augen hatte: Wenn Alfredo ein Risotto kocht, so besteht die Stoffursache des Risottos in den Zutaten, die er dafür verwendet, die Wirkursache ist der Koch selbst, das Rezept ist die Formursache und die Zufriedenheit der Besucher des Restaurants die Zweckursache. Aristoteles war der Überzeugung, dass ein wissenschaftliches Verständnis des Universums eine Erforschung der Art und Weise der Wirksamkeit dieser Ursachentypen erfordert (Metaph. A 3. 983a24–b117). Im Zentrum des Interesses der frühen Philosophen an der griechischen Küste von Kleinasien standen die Stoffursachen: Sie suchten nach den Grundbestandteilen der Welt, in der wir leben. Thales und seine Nachfolger warfen folgende Frage auf: Besteht die Welt letztlich aus Wasser oder Luft oder Feuer oder Erde oder aus einer Kombination all dieser Elemente (Metaph. A 3. 983b20–84a16). Selbst wenn wir eine Antwort auf diese Frage haben, so reicht das Aristoteles zufolge offensichtlich nicht aus, um unsere wissenschaftliche Neugier zu befriedigen. Die Zutaten eines Gerichts stellen sich nicht selbst zusammen: Es muss eine Ursache geben, die durch Schneiden, Mischen, Rühren, Erhitzen oder dergleichen auf sie einwirkt. Aristoteles sagt, dass sich einige dieser frühen Philosophen dessen bewusst waren, und dass sie über die Ursachen der Veränderungen und Entwicklungen in der Welt Vermutungen anstellten. Manchmal galt eines der Elemente selbst als Ursache. Feuer war vielleicht der

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vielversprechendste Kandidat, da es das am wenigsten „starre“ Element ist. Häufiger war es ein anderes Agens oder ein Paar von ihnen, das sowohl abstrakter als auch poetischer war, wie zum Beispiel Liebe oder Sehnsucht oder Streit oder das Gute und das Böse (Metaph. A 3–4. 984b8–31). Unterdessen gab es in Italien – wiederum nach Aristoteles – um Pythagoras einen Kreis mathematisch interessierter Philosophen, deren Nachforschungen in eine ganz andere Richtung gingen. Ein Rezept nennt nicht nur bestimmte Zutaten, sondern es enthält auch eine ganze Reihe von Zahlenangaben: so viel Gramm von dieser und so viele Milliliter von jener Zutat. Stärker als an den Zutaten waren die Pythagoreer an den Zahlen im Rezept der Welt interessiert. Aristoteles schreibt, sie nahmen an, dass die Elemente der Zahlen die Elemente aller Dinge seien, und dass das Himmelsganze eine Tonleiter sei. Sie wurden in ihrer Suche durch die Entdeckung inspiriert, dass das Verhältnis zwischen den Tönen einer Tonleiter, die man auf einer Leier spielte, den verschiedenen Zahlenverhältnissen zwischen den Saitenlängen entsprach. Später verallgemeinerten sie dann diese Idee, dass qualitative Unterschiede das Ergebnis numerischer Unterschiede seien. Ihre Nachforschungen entsprachen, in aristotelischen Begriffen, einer Untersuchung der Formursachen des Universums (Metaph. A 5. 985b23–986b2). Wenn er auf seine unmittelbaren Vorgänger zu sprechen kommt, bemerkt Aristoteles, dass es Sokrates vorgezogen habe, sich auf ethische Fragestellungen zu konzentrieren, statt die Welt der Natur zu studieren. Platon habe hingegen in seiner philosophischen Theorie die Vorgehensweisen der Schulen von Thales und Pythagoras kombiniert. Doch Platons Ideenlehre schien Aristoteles, obwohl sie das umfassendste wissenschaftliche System war, das jemals entwickelt wurde, aus Gründen, die er hier zusammenfasst und in einer Reihe von Abhandlungen darlegt, gleich in mehrfacher Hinsicht unzureichend. Es gab so viele Dinge zu erklären, und die Ideen führten lediglich zusätzliche Dinge ein, die nach einer Erklärung verlangten: Sie boten keine Lösung, sondern sie vergrößerten das Problem nur (Metaph. A 5. 990b1 V). Die meisten Dissertationen, die mit einem Literaturbericht beginnen, versuchen nachzuweisen, dass sämtliche bislang geleistete Arbeit eine Lücke gelassen hat, die durch die neuartigen Forschungen des Autors nunmehr geschlossen wird. Die Metaphysik des Aristoteles bildet hierzu keine Ausnahme. Sein ziemlich deutlich erkennbarer Plan besteht darin zu zeigen, dass die früheren Philosophen das restliche Glied im Quartett der Ursachen vernachlässigt haben: die Endursache, die in seiner eigenen Naturphilosophie eine äußerst wichtige Rolle spielen wird (Metaph. A 5. 988b6–15). Die früheste Philosophie, so lautete seine Schlussfolgerung, hat in den meisten Wissensgebieten viel Gestammel zu bieten, da sie in ihren Anfängen einem lallenden Kind gleicht (Metaph. A 5. 993a15–7). Ein zeitgenössischer Philosoph, der die überlieferten Fragmente der frühesten griechischen Denker liest, ist nicht zu sehr von den Fragen beeindruckt, die sie stellten, sondern vielmehr von den Methoden, mit denen sie sie beantworten. Schließlich bietet uns auch das Buch Genesis Antworten auf die von Aristoteles eingeführten

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Fragen nach den vier Ursachen. Fragen wir beispielsweise nach dem Ursprung des ersten Menschen, erhalten wir als Antwort, dass die Wirkursache Gott gewesen sei, die Stoffursache der Staub der Erde, die Formursache das Bild und die Ähnlichkeit Gottes und dass die Zweckursache des Menschen darin bestanden habe, über die Fische im Meer, die Vögel in der Luft und jedes lebende Wesen auf der Erde zu herrschen. Das Buch Genesis ist jedoch kein Werk der Philosophie. Andererseits ist Pythagoras nicht dafür bekannt, dass er irgendeine der vier aristotelischen Fragen beantwortet hat, sondern für den Beweis des Lehrsatzes, dass das Quadrat der Hypotenuse eines rechtwinkligen Dreiecks dieselbe Fläche wie die Summe der Quadrate über den beiden anderen Seiten des Dreiecks hat. Von Thales glaubten die späteren Griechen, er habe im Jahre 585 v. Chr. als erster eine Sonnenfinsternis exakt vorausgesagt. Dies sind zweifellos Leistungen auf den Gebieten der Geometrie und Astronomie, jedoch nicht der Philosophie. Tatsächlich ist der Unterschied zwischen Religion, Wissenschaft und Philosophie noch nicht so deutlich, wie er in späteren Jahrhunderten geworden ist. Die Werke des Aristoteles und seines Meisters Platon bieten für jedes Zeitalter ein Musterbeispiel der Philosophie, und bis heute beansprucht jeder, der den Titel „Philosoph“ benutzt, einer ihrer Erben zu sein. Autoren der philosophischen Fachzeitschriften des 21. Jahrhunderts verwenden die gleichen Techniken der Begriffsanalyse und sie wiederholen oder widerlegen häufig dieselben theoretischen Argumente, die in den Schriften von Platon und Aristoteles zu finden sind. Diese Schriften enthalten jedoch manches andere, das man heute nicht mehr als philosophische Diskussion bezeichnen würde. Ab dem sechsten Jahrhundert v. Chr. gärten Elemente der Religion, der Wissenschaft und Philosophie gemeinsam in einem einzigen kulturellen Kessel. Aus der Distanz unserer Gegenwart können Philosophen, Wissenschaftler und Theologen auf diese frühen Denker zurückblicken und sie als ihre intellektuellen Vorfahren betrachten.

Die Schule von Milet Von Thales von Milet (ca. 625–545 v. Chr.), der traditionellerweise als Gründer der griechischen Philosophie gilt, sind nur zwei Aussprüche überliefert. Sie veranschaulichen die Mischung aus Wissenschaft und Religion, denn der eine von ihnen lautet: „Alles ist voll von Göttern.“ Der andere Ausspruch lautet: „Wasser ist das Urprinzip von allem.“ Thales war ein Geometer, der erste, der eine Methode entdeckte, ein rechtwinkliges Dreieck in einen Kreis einzubeschreiben. Er feierte diese Entdeckung, indem er den Göttern einen Ochsen opferte (D.L. 1. 24 f.). Er bestimmte die Höhe der Pyramiden, indem er ihren Schatten zu der Tageszeit maß, zu der die Länge seines eigenen Schattens seiner Körpergröße entsprach. Er setzte sein geometrisches Wissen auch zu praktischem Nutzen ein: Nachdem er bewiesen hatte, dass Dreiecke mit zwei gleichen Seiten und zwei gleichen Winkeln kongruent sind, verwendete er dieses Ergebnis, um die Entfernung von Schiffen zu berechnen.

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Thales stand auch in dem Ruf, ein Astronom und ein Meteorologe zu sein. Zusätzlich zur Voraussage der Sonnenfinsternis soll er als erster bewiesen haben, dass das Jahr 365 Tage hat, und bestimmte angeblich erstmals die genauen Daten der Sommer- und der Wintersonnenwende. Er schätzte die Größe der Sonne und des Mondes und studierte ihre Konstellationen. Seine Fähigkeiten in der Wettervorhersage setzte er höchst gewinnbringend ein: Als er eine ungewöhnlich gute Olivenernte voraussah, mietete er sämtliche Ölmühlen an und verdiente durch dieses Monopol ein Vermögen. Auf diese Weise bewies er nach Aristoteles (Pol. 1.11. 1259a6–18), dass Philosophen sehr leicht reich werden könnten, wenn sie es nur wollten. Wenn nur die Hälfte der über Thales in der Antike kursierenden Geschichten wahr ist, war er ein sehr vielseitiger Mann. Doch das Bild, das die Tradition von ihm zeichnet, ist zwiespältig. Auf der einen Seite erscheint er als philosophischer Unternehmer und als politischer und militärischer Experte. Andererseits waren sein Mangel an lebenspraktischer Tauglichkeit und seine Weltfremdheit sprichwörtlich. Neben anderen Autoren erzählt Platon folgende Geschichte: „Als er einmal, um die Sterne zu betrachten, nach oben schaute und dabei in einen Brunnen fiel, soll ihn eine schlagfertige und witzige thrakische Magd mit den Worten verspottet haben, dass er zwar darauf aus sei zu wissen, was am Himmel vor sich gehe, ihm aber verborgen bleibe, was in seiner Nähe und vor seinen Füßen liege.“ (Theaitetos 174a) 1

Man erzählte sich auch die unwahrscheinliche Geschichte, dass er durch einen solchen Sturz bei der Himmelsbeobachtung zu Tode gekommen sei. Thales wurde, zusammen mit Solon, dem großen Gesetzgeber Athens, zu den Sieben Weisen Griechenlands gezählt. Man schreibt ihm auch eine Reihe von Aphorismen zu. Er sagte, dass es für einen Mann vor einem bestimmten Alter zu früh sei zu heiraten, und danach zu spät. Als man ihn fragte, warum er keine Kinder habe, sagte er: „Weil ich Kinder sehr gern habe.“ Diese Bemerkungen des Thales sind Vorboten vieler Jahrhunderte philosophischer Geringschätzung der Ehe. Jeder, der eine Liste von 12 wirklich bedeutenden Philosophen zusammenstellt, wird wahrscheinlich feststellen, dass sie fast ausschließlich aus Junggesellen besteht. Eine solche Liste könnte zum Beispiel Platon, Augustinus, Thomas von Aquin, Duns Scotus, Descartes, Locke, Spinoza, Hume, Kant, Hegel und Wittgenstein enthalten, von denen keiner verheiratet war. Aristoteles ist die große Ausnahme, die die Regel widerlegt, dass Philosophie mit der Ehe nicht vereinbar ist. Selbst in der Antike konnten die Menschen nur schwer verstehen, warum Thales als letztes Erklärungsprinzip das Wasser angenommen hatte. Die Erde, so sagte er, 1

Anm. d. Übers.: Die Werke Platons werden, sofern nichts anderes angegeben ist, nach der Übersetzung von Friedrich Schleiermacher zitiert: Platon, Werke in acht Bänden, herausgegeben von G. Eigler (Darmstadt: Wiss. Buchgesellschaft, 62011).

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schwimme auf dem Wasser wie ein Baumstamm auf einem Fluss. Doch worauf ruht dann, fragte Aristoteles, das Wasser? (Cael. 2. 13. 294a28–34) Er ging sogar noch weiter und behauptete, dass alles aus dem Wasser stamme und auf irgendeine Weise aus Wasser bestehe. Auch seine Gründe für diese Behauptung sind unklar, und Aristoteles konnte nur vermuten, dass Thales zu dieser Auffassung gekommen sei, weil alle Tiere und Pflanzen zum Leben Wasser benötigen oder weil die Samenflüssigkeit feucht ist (Metaph. A 3. 983b17–27). Die Kosmologie von Thales’ jüngerem Landsmann, Anaximander von Milet (gest. ca. 547 v. Chr.) ist weniger schwer zu verstehen. Wir wissen deutlich mehr über seine Ansichten, da er ein Buch mit dem Titel Über die Natur hinterlassen hat. Es ist in Prosa verfasst, einem Medium, das erst begann, in Mode zu kommen. Wie Thales schreibt man auch ihm eine Reihe eigenständiger wissenschaftlicher Leistungen zu: die erste Welt- und die erste Sternenkarte, die erste griechische Sonnenuhr sowie eine Uhr, die auch im Inneren von Häusern verwendbar war. Er lehrte, dass die Erde, wie der Stumpf einer Säule, eine zylindrische Form habe und nicht höher als ein Drittel ihres Durchmessers sei. Rund um die Erde befänden sich riesige Reifen voller Feuer. In jedem Reifen befinde sich ein Loch, durch das man das Feuer im Inneren von außen sehen könne, und diese Löcher seien die Sonne, der Mond und die Sterne. Die Sonnenfinsternisse und Mondphasen ließen sich durch Blockierungen dieser Löcher erklären. Das himmlische Feuer, das in der Gegenwart zum größten Teil verborgen ist, war einst ein riesiger Feuerball, der die noch junge Erde umgab. Als dieser Ball explodierte, wuchsen um die Fragmente eigene Reifen wie Rinde um einen Baum. Das Wachstum von Bäumen und die Art und Weise, wie sie ihre Rinde abwerfen, beeindruckten Anaximander sehr. Er verwendete die gleiche Analogie, um den Ursprung des Menschen zu erklären. Andere Tiere, so hatte er beobachtet, können sich direkt nach der Geburt um sich selbst kümmern, Menschen bedürfen hingegen noch langer Fürsorge. Wäre der Lebenslauf der Menschen immer so gewesen wie in der Gegenwart, hätte ihre Gattung nicht überlebt. In einem früheren Zeitalter, so vermutete er, seien die Menschen in ihrer Kindheit von einer stacheligen Rinde umgeben gewesen, sodass sie wie Fische ausgesehen hätten, und sie hätten im Wasser gelebt. In der Pubertät hätten sie ihre Rinde abgeworfen und seien an Land gekommen, in eine Umgebung, in der sie sich um sich selbst kümmern konnten. Aus diesem Grunde empfahl Anaximander, obwohl er ansonsten kein Vegetarier war, dass die Menschen keinen Fisch essen sollten, da die Fische die Vorfahren der menschlichen Gattung seien (KRS 133–7). Anaximanders Kosmologie ist in mehrfacher Hinsicht differenzierter als die von Thales. Zunächst suchte er nicht nach etwas, das die Erde abstützen könnte: Sie bleibe an ihrem Ort, weil sie sich in gleichem Abstand von allem anderen befinde und weil es keinen Grund gebe, warum sie sich in die eine statt in eine andere Richtung bewegen sollte (DK 12 A11; Aristoteles, Cael. 2. 13. 295b10).

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Anaximander mit seiner Sonnenuhr, in einem römischen Mosaik.

Zweitens war er der Meinung, dass es ein Fehler sei, den Urstoff des Universums mit irgendeinem derjenigen Elemente gleichzusetzen, die wir in der gegenwärtigen Welt um uns finden, wie zum Beispiel Wasser oder Feuer. Er behauptete, dass das Grundprinzip aller Dinge grenzenlos oder undefiniert (apeiron) sein müsse. Das von Anaximander verwendete griechische Wort wird häufig als „das Unendliche“ übersetzt, doch klingt das zu grandios. Er mag angenommen haben oder nicht, dass sich dieser Urstoff im Raum ins Unendliche ausdehnt: Wir wissen jedoch, dass er glaubte, er habe keinen Ursprung und kein Ende in der Zeit, und dass er nicht zu irgendeiner bestimmten Art oder Klasse von Dingen gehöre. „Ewiger Stoff“ ist wahrscheinlich die Umschreibung, die dem damit Gemeinten am nächsten kommt. Aristoteles hat den Begriff später zu demjenigen seiner ersten Materie weiterentwickelt. 2 Drittens finden wir bei Anaximander eine Erklärung für den Ursprung der gegenwärtigen Welt. Er erläuterte, welche Kräfte wirksam waren, um ihr zur Existenz zu verhelfen, und fragte damit, wie Aristoteles sagen würde, sowohl nach der Wirk- als auch nach der Stoffursache. Er sah das Universum als Schauplatz widerstreitender 2

Siehe Kapitel 5.

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Gegensätze: des Heißen und Kalten, Nassen und Trockenen. Manchmal gewann eine Seite eines Gegensatzpaares die Oberhand, manchmal die andere. Sie dringen gegenseitig auf ihr jeweiliges Gebiet vor und ziehen sich dann zurück. Ihre Einwirkungen aufeinander werden vom Prinzip der Wechselseitigkeit bestimmt. In einem seiner überlieferten Fragmente drückt Anaximander dies auf poetische Weise aus: „Sie leisten einander Sühne und Buße für ihre Ungerechtigkeit, gemäß der Verordnung der Zeit“. Man mag vermuten, dass auf diese Weise das Heiße und das Trockene im Winter dem Kalten und Nassen für die Angriffe büßen müssen, die sie im Sommer unternommen haben. Das Heiße und Kalte war das erste in Erscheinung tretende Gegensatzpaar, als sie sich vom ursprünglichen kosmischen Ei des ewigen, unbestimmten Stoffs trennten. Aus ihnen entwickelten sich das Feuer und die Erde, die, wie wir bereits erfahren haben, dem gegenwärtigen Kosmos als Ursprung zugrunde lagen. Anaximenes (546–525 v. Chr.), eine Generation jünger als Anaximander, war der letzte im Trio der milesischen Kosmologen. In vieler Hinsicht steht er Thales näher als Anaximander, doch wäre es falsch anzunehmen, dass die Wissenschaft mit ihm einen Rückschritt statt weitere Fortschritte gemacht habe. Wie Thales war er der Auffassung, dass die Erde auf etwas ruhen müsse, doch schlug er als ihr Kissen anstelle von Wasser die Luft vor. Die Erde selbst sei flach, ebenso wie die Himmelskörper. Diese umkreisten uns horizontal, wie sich ein Hut um den Kopf dreht, statt über und unter der Erde hindurch im Laufe eines Tages ihre Bahnen zu ziehen (KRS 151–6). Der Aufund Untergang der Himmelskörper lasse sich dadurch erklären, dass sich die Ausrichtung der Erdscheibe ändere. Was das Urprinzip betrifft, hielt Anaximenes den grenzenlosen Stoff Anaximanders für einen zu abstrakten Begriff, und er entschied sich, wie Thales, für ein einziges der existierenden Elemente als Grundelement, wobei er sich ebenfalls für die Luft statt für das Wasser entschied. In ihrem stabilen Zustand ist die Luft unsichtbar, doch wenn sie bewegt und komprimiert wird, wird sie zunächst zu Wind und dann zu Wolken und schließlich zu Wasser, und Wasser verdichtet sich dann weiter und wird zu Lehm und Gestein. Verdünnte Luft wird zu Feuer, womit sich der Kreis der Elemente schließt. Auf diese Weise können durch Verdünnung und Verdichtung alle Dinge aus der zugrunde liegenden Luft entstehen (KRS 140 f.). Als Argument für diese Behauptung appelliert Anaximenes an die Erfahrung, ja sogar das Experiment – ein Experiment, das der Leser oder die Leserin sehr leicht selbst durchführen kann: Blase auf deine Hand, erst mit gespitzten Lippen und dann mit offenem Mund. Das erste Mal wird sich die Luft kalt anfühlen, das zweite Mal heiß. Nach Anaximenes beweist dies den Zusammenhang zwischen Dichte und Temperatur (KRS 143). Die Berufung auf Experimente und die Einsicht, dass Änderungen der Qualität mit Änderungen der Quantität verbunden sind, zeichnet Anaximenes als aufkeimenden Wissenschaftler aus, als mehr allerdings noch nicht: Er verfügte noch über keine Methode, mit der er die von ihm angeführten Größen hätte messen können, er stellte keine Gleichungen auf, um sie zueinander in Beziehung zu setzen, und sein Grund-

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prinzip zeichnet sich noch durch mythische und religiöse Aspekte aus. Die Luft ist göttlich und erzeugt Gottheiten aus sich (KRS 144–6); Luft ist unsere Seele und sie hält unsere Körper zusammen (KRS 160). Die Milesier sind demnach noch keine wirklichen Physiker, doch bringen sie auch nicht nur Mythen in Umlauf. Sie haben den Mythos noch nicht hinter sich gelassen, aber sie gehen zu ihm auf Distanz. Sie sind auch keine echten Philosophen, es sei denn, man bezeichnet als „Philosophie“ die Wissenschaft in ihren Kinderschuhen. Begriffsanalyse und apriorische Argumente, die zum Handwerkszeug der Philosophen von Platon bis zur Gegenwart gehören, spielen bei ihnen noch kaum eine Rolle. Sie sind der Spekulation ergeben, und in ihren Spekulationen vermischen sich Elemente der Philosophie, der Wissenschaft und Religion zu einem reichhaltigen, berauschenden Gebräu.

Die Pythagoreer In der Antike teilte sich Pythagoras mit Thales das Verdienst, die Philosophie in die griechische Welt eingeführt zu haben. Pythagoras wurde auf Samos geboren, einer Insel vor der Küste Kleinasiens, etwa um das Jahr 570 v. Chr. Im Alter von 40 Jahren emigrierte er nach Kroton im Südwesten der stiefelförmigen italienischen Halbinsel. Dort spielte er eine führende Rolle in den politischen Angelegenheiten der Stadt, bis er während einer gewaltsamen Revolution um das Jahr 510 v. Chr. verbannt wurde. Er zog in das nahe gelegene Metapontum um, wo er um die Jahrhundertwende starb. Während seiner Zeit in Kroton gründete er eine halbreligiöse Gemeinschaft, die über seinen Tod hinaus fortbestand, sich aber um das Jahr 450 v. Chr. auflöste. Man schreibt ihm die Erfindung des Wortes „Philosoph“ zu: Statt zu beanspruchen, er sei ein kluger oder weiser Mann (sophos), erklärte er bescheiden, er sei lediglich ein Liebhaber der Weisheit (philosophos) (D.L. 8.8). Die Einzelheiten seines Lebens sind von Legenden umrankt, aber fest steht, dass er Mathematik betrieb und sich mit Mystik beschäftigte. Während der gesamten Antike, von Platon bis Porphyrios, war sein geistiger Einfluss, entweder als solcher anerkannt oder auf implizite Weise, auf beiden Feldern beträchtlich. Die Entdeckung der Pythagoreer, dass zwischen den Abständen von einzelnen Tönen und Zahlenverhältnissen eine Beziehung besteht, führte zu der Überzeugung, das Studium der Mathematik sei der Schlüssel zum Verständnis der Struktur und Ordnung des Universums. Astronomie und Harmonielehre, so behaupteten sie, seien Schwesterwissenschaften, die eine für die Augen und die andere für die Ohren (Platon, Pol., 530d). Es dauerte jedoch noch zwei Jahrtausende, bis Galileo und seine Nachfolger zeigten, in welchem Sinne es zutrifft, dass das Buch des Universums in Zahlen geschrieben ist. In der Antike war die Arithmetik noch zu sehr mit Zahlenmystik verwoben, um den Fortschritt der Wissenschaft fördern zu können, und die allgemeinen wissenschaftlichen Errungenschaften dieser Epoche (wie zum Beispiel

Die Pythagoreer

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Pythagoras empfiehlt eine vegetarische Lebensweise, nach der Vorstellung von Rubens.

die Zoologie des Aristoteles und die Medizin Galens) wurden ohne Hilfe aus der Mathematik erzielt. Die philosophische Sozietät des Pythagoras in Kroton war der Prototyp vieler derartiger Institutionen: Die Akademie Platons, das Lykeion des Aristoteles, Epikurs Garten und viele andere folgten ihrem Beispiel. Einige dieser Gemeinschaften hatten eine rechtliche Verfassung, während andere weniger formal waren. Einige glichen modernen Forschungsinstituten, andere waren eher Klöstern ähnlich. Die Gefährten des Pythagoras praktizierten Gütergemeinschaft und lebten nach asketischen und zeremoniellen Regeln: Sie hielten Zeiten des Schweigens ein, brachen kein Brot, lasen keine Krümel auf, schürten das Feuer nicht mit einem Schwert, zogen den rechten immer vor dem linken Schuh an usw. Die Pythagoreer ernährten sich zunächst nicht völlig vegetarisch, doch vermieden sie es, bestimmte Arten von Fleisch, Fisch und Geflügel zu essen. Am bekanntesten ist, dass es ihnen verboten war, Bohnen zu essen (KRS 271 f., 275 f.). Diese Diätvorschriften ergaben sich aus Pythagoras’ Glaubensüberzeugungen bezüglich der Seele. Er glaubte, dass sie nicht mit dem Körper stirbt, sondern eine Wanderung vollzieht, vielleicht in den Körper eines Tieres einer anderen Art. 3 Einige Pythagoreer erweiterten diesen Glauben zu demjenigen an einen 3000 Jahre dauern3

Siehe Kapitel 7.

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den, kosmischen Kreislauf: Die menschliche Seele würde nach dem Tode nacheinander in jedes Lebewesen auf dem Land, im Meer und in der Luft wandern und schließlich in einen menschlichen Körper zurückkehren, damit sich die Geschichte wiederholen könne (Herodot 2. 123; KRS 285). Von Pythagoras selbst glaubten seine Anhänger, er sei nach dem Tode zu einem Gott geworden. Sie verfassten Biografien über ihn, die zahlreiche Wunder berichteten, und schrieben ihm ein zweites Gesicht und die Fähigkeit zu, sich an zwei Orten gleichzeitig zu befinden. Er soll einen goldenen Oberschenkel gehabt haben und der Sohn des Apollon gewesen sein. Eine etwas prosaischere Anekdote erzählt, der Ausspruch „Ipse dixit“ 4 sei zu seinen Ehren erfunden worden.

Xenophanes Mit Pythagoras’ Tod und der Zerstörung von Milet im Jahre 494 ging die erste Epoche des vorsokratischen Denkens zu Ende. In der nächsten Generation begegnen wir Denkern, die nicht nur aufkeimende Wissenschaftler, sondern Philosophen im modernen Sinn dieses Wortes waren. Xenophanes von Kolophon (einer Stadt in der Nähe des heutigen Izmir, einige hundert Kilometer nördlich von Milet) reicht mit den Daten seines langen Lebens (570–470 v. Chr.) in beide Epochen. Wie Pythagoras ist auch er ein Bindeglied zwischen den östlichen und westlichen Zentren der griechischen Kultur. In seinem dritten Lebensjahrzehnt aus Kolophon vertrieben, wurde er ein wandernder Bänkelsänger, der nach eigenen Angaben 67 Jahre lang in Griechenland umherreiste und seine eigenen und die Gedichte anderer vortrug (D.L. 9. 18). Er sang über Wein, Wettkämpfe und Feste, doch es sind seine philosophischen Verse, die heute am meisten gelesen werden. Wie die Milesier hatte auch Xenophanes eine Kosmologie. Das Grundelement, so behauptete er, sei weder Wasser noch Luft, sondern Erde, und die Erde reiche nach unten bis in die Unendlichkeit hinab. Der Spruch „Alle Dinge stammen aus der Erde, und in die Erde kehren alle Dinge zurück“ (D.K. 21 B27) erinnert an christliche Begräbnisliturgien und die Ermahnung am Aschermittwoch „Bedenke Mensch, dass du vom Staub genommen bist und zum Staub zurückkehren wirst“. Doch an anderer Stelle bringt Xenophanes als Ursprung der Dinge Wasser und Erde zusammen. Tatsächlich nahm er an, die Erde müsse in früheren Zeiten einmal vom Meer bedeckt gewesen sein. Dies hängt mit der interessantesten seiner Beiträge zur Wissenschaft zusammen, seiner Beobachtung von Fossilien: „Mitten im Binnenland und auf Bergen würden Muscheln gefunden, und in Syrakus in den Steinbrüchen Abdrücke von Fischen und Algen. In Paros sei ein Abdruck eines Lorbeerblattes in der Tiefe des Gesteins gefunden worden, und auf Malta gebe es flache 4

„Er hat es selbst gesagt.“

Heraklit

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Abdrücke von allen möglichen Seetieren. Diese seien entstanden, als alles voreinst von Schlamm bedeckt gewesen und der Abdruck dann in dem Schlamm hart geworden sei.“ (KRS 184; 119) 5

Xenophanes’ Spekulationen über die Himmelskörper sind weniger beeindruckend. Da er glaubte, die Erde setze sich in die Tiefe bis ins Unendliche fort, konnte er nicht gelten lassen, dass sich die Sonne nach ihrem Untergang unter der Erde hindurchbewegt. Andererseits fand er Anaximenes’ Theorie, dass sie sich horizontal um eine seitlich verschiebbare Erdscheibe bewege, nicht plausibel. Er schlug eine neue und einfallsreiche Erklärung vor: Die Sonne, behauptete er, entstehe jeden Tag neu. Sie entstehe jeden Morgen aus dem Zusammenschluss winziger Funken und verschwinde später in die Unendlichkeit. Der Anschein einer kreisförmigen Bewegung lasse sich einfach durch den großen Abstand zwischen uns und der Sonne erklären. Aus dieser Theorie folge, dass es zahllose Sonnen gibt, ebenso wie zahllose Tage, denn die Welt währt ewig, obwohl sie wässrige und terrestrische Phasen durchläuft (KRS 175, 179). Obwohl Xenophanes’ Kosmologie unbegründet ist, verdient ihr Naturalismus Beachtung: Sie ist frei von den mystischen und halbreligiösen Elementen, die sich bei anderen vorsokratischen Philosophen finden. So ist beispielsweise der Regenbogen weder eine Gottheit (wie Iris im griechischen Pantheon) noch ein göttliches Zeichen (wie der von Noah gesehene Regenbogen). Er ist einfach eine mehrfarbige Wolke (KRS 178). Dieser Naturalismus bedeutete nicht, dass Xenophanes an Religion kein Interesse gehabt hätte: Er war im Gegenteil der theologischste Denker unter den Vorsokratikern. Er verachtete jedoch den Aberglauben des Volkes und verteidigte einen nüchternen und komplizierten Monotheismus 6 und war weder in der Theologie noch in der Physik dogmatisch. „Die Götter haben den Sterblichen nicht von Anfang an alles offenbart, sondern erst nach und nach finden diese suchend das Bessere.“ (KRS 188; 125)

Heraklit Heraklit war der letzte und berühmteste der frühen ionischen Philosophen. Er war vielleicht 30 Jahre jünger als Xenophanes, denn es wird berichtet, dass er mittleren Alters war, als das sechste Jahrhundert zu Ende ging (D.L. 9.1). Er lebte in der großen Metropole Ephesos, auf halbem Wege zwischen Milet und Kolophon. Von seinem Werk sind größere Teile als von irgendeinem der früheren Philosophen erhalten ge5

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Anm. d. Übers.: Ist bei Zitaten aus den Fragmenten der Vorsokratiker eine durch ein Semikolon abgetrennte Seitenangabe hinzugefügt, stammt die deutsche Übersetzung aus: Die Vorsokratiker, Fragmente und Quellenberichte, herausgegeben von W. Capelle (Stuttgart: Kröner-Verlag, 92008) oder ist daran angelehnt. Siehe Kapitel 9.

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blieben. Allerdings bedeutet dies nicht, dass wir ihn verständlicher finden. Seine Fragmente haben die Form prägnanter, in kunstvoller Prosa geschriebener Aphorismen, die häufig unklar sind und manchmal absichtlich zweideutig. Heraklit argumentierte nicht: Er verkündete. Der delphische Stil war vielleicht eine Nachahmung des Orakels des Apollon, das – in seinen eigenen Worten – „weder spricht, noch verbirgt, sondern andeutet“ (KRS 244). Die zahlreichen Philosophen späterer Jahrhunderte, die Heraklit bewunderten, konnten seinen paradoxen, vieldeutigen Aussprüchen ihre eigene Färbung verleihen. Selbst in der Antike hielt man Heraklit für schwierig. Er erhielt den Beinamen „der Rätselhafte“ und wurde „Heraklit der Dunkle“ genannt. Er schrieb eine aus drei Büchern bestehende – heute verschollene – Abhandlung über die Philosophie und hinterlegte sie im großen Tempel der Artemis (Paulus’ „Diana der Epheser“). Man konnte sich nicht darauf einigen, ob es ein Text der Physik oder ein politischer Traktat sei. „Was ich davon verstanden habe, zeugt von hohem Geist“, soll Sokrates gesagt haben, „und, wie ich glaube, auch was ich nicht verstanden habe; nur bedarf es dazu eines delischen Tauchers“ (D.L. 2.22). 7 Hegel, ein deutscher idealistischer Philosoph des 19. Jahrhunderts und großer Bewunderer Heraklits, verwendete die gleiche Meeresmetapher, um eine allerdings gegenteilige Einschätzung auszudrücken. Erreichten wir nach den schwankenden Spekulationen der frühen Vorsokratiker Heraklit, komme endlich Land in Sicht. Stolz fügte er hinzu: „Es ist kein Satz des Heraklit, den ich nicht in meine Logik aufgenommen.“ 8 Heraklit sah sich, genau wie Descartes und Kant in späteren Zeitaltern, als jemanden, der einen völligen Neuanfang in der Philosophie vollzieht. Er hielt die Arbeiten früherer Denker für wertlos: Homer hätte in jedem Dichterwettstreit gleich zu Beginn disqualifiziert werden sollen, und Hesiod, Pythagoras und Xenophanes seien lediglich Vielwisser gewesen, ohne wirklichen Verstand (D.L. 9.1.). Dennoch war Heraklit, auch darin Descartes und Kant ähnlich, von seinen Vorgängern stärker beeinflusst, als ihm bewusst war. Wie Xenophanes stand er der Volksreligion höchst kritisch gegenüber: Blutopfer zu bringen, um sich von Blutschuld zu befreien, sei etwa so, als wolle man Lehm mit Lehm abwaschen. Eine Statue anbeten sei wie das Flüstern in einem leeren Haus, während Phallusprozessionen und dionysische Riten einfach abstoßend seien (KRS, 241, 243). Wie Xenophanes glaubte auch Heraklit, dass die Sonne jeden Tag neu entstehe (Aristoteles, Mete. 2. 2355b13–14), und wie Anaximander nahm er an, die Sonne unterstehe einem kosmischen Vergeltungsprinzip (KRS 226). Die Theorie vom vergänglichen Wesen der Sonne ist bei Heraklit zu einer Lehre vom universalen Fluss

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Sämtliche Zitate aus Diogenes Laertius stammen aus: Diogenes Laertius, Leben und Meinungen berühmter Philosophen, herausgegeben von O. Apelt, unter Mitarbeit von H. G. Zekl (Hamburg: Felix Meiner Verlag, 2008). Zitiert nach G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie (Frankfurt: Suhrkamp, 1999), 320.

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aller Dinge erweitert. Er behauptete, dass sich alles in Bewegung befinde, und nichts still stehe. Die Welt ist wie ein fließender Strom. Wenn wir zweimal in denselben Fluss steigen, können wir unsere Füße nicht zweimal in dasselbe Wasser tauchen, denn das Wasser ist Momente später nicht mehr dasselbe (KRS 214). Das scheint recht plausibel, doch scheint es, dass Heraklit übertrieb, als er behauptete, wir könnten nicht zweimal in denselben Fluss steigen (Platon, Kra. 402a). Wörtlich verstanden scheint die Aussage falsch zu sein. Es sei denn, wir nehmen als Kriterium für die Identität eines Flusses das Wasser, das sich in seinem Bett befindet, statt seinen Verlauf. Allegorisch verstanden ist es wahrscheinlich die Behauptung, dass sich alles in der Welt aus ständig ändernden Bestandteilen zusammensetzt: Sollte dies gemeint sein, so müssten die Änderungen nach Aristoteles nichtwahrnehmbare Veränderungen sein (Ph. 8.3. 253b9 ff.). Vielleicht ist es dies, worauf Heraklit in dem Aphorismus anspielt, dass verborgene Harmonie besser sei als offensichtliche – wobei die Harmonie den zugrunde liegenden Rhythmus des sich in ständigem Fluss befindlichen Universums darstellt (KRS 207). Was immer Heraklit mit diesem Ausspruch gemeint haben mag, er sollte in der späteren griechischen Philosophie noch eine lange Geschichte haben. Ein heftig brennendes Feuer ist – mehr noch als ein fließender Strom – ein Musterbeispiel ständiger Veränderung, da es ständig Dinge verzehrt und weiteres Brennmaterial erhält. Heraklit sagte einmal, die Welt sei ein ewig lebendiges Feuer: Das Meer und die Erde seien die Asche dieses ewigen Feuers. Feuer ist wie Gold: Gold kann gegen alle möglichen Güter eingetauscht werden, und Feuer kann sich in jedes andere Element verwandeln (KRS 217 ff.). Diese feurige Welt ist die einzige Welt, die es gibt, weder von Göttern noch Menschen geschaffen jedoch durchgehend vom Logos regiert. Heraklit meinte, es sei absurd, wenn man annähme, dieser majestätische Kosmos sei nichts anderes als ein aufgetürmter Haufen Abfall (DK 22. B 124). Logos ist in der griechischen Umgangssprache ein geschriebenes oder gesprochenes Wort, doch seit Aristoteles gibt ihm fast jeder griechische Philosoph eine oder mehrere grandiosere Bedeutungen. Häufig wird es von Übersetzern mit Vernunft wiedergegeben – sei es die geistige Kraft einzelner Menschen oder ein höheres kosmisches Prinzip der Ordnung und Schönheit. Der Ausdruck fand Eingang in die christliche Theologie, als der Autor des vierten Evangeliums verkündete: „Im Anfang war das Wort und das Wort war bei Gott und Gott war das Wort.“ (Johannes 1:1) Der universale Logos ist nach Heraklit nur schwer zu erfassen und den meisten Menschen gelingt dies nie. Im Vergleich zu jemandem, der zum Logos erwacht ist, sind sie wie Schläfer, die in ihre eigene Traumwelt abgetaucht sind, statt die einzige universelle Wahrheit zu erkennen (S.E., M. 7. 132). Die Menschen lassen sich in drei Klassen einteilen, die von dem vernünftigen Feuer, das das Universum lenkt, unterschiedlich weit entfernt sind. Ein Philosoph wie Heraklit steht dem feurigen Logos am nächsten und wird von ihm erwärmt. Als nächstes empfangen normale Menschen von ihm Licht, wenn sie erwacht sind, indem sie von ihrer eigenen Vernunft Gebrauch machen. Die Schlafenden haben die Fenster ihrer Seelen verschlossen und sind mit der Natur nur durch die Atmung verbunden (S.E., M. 7.129 f.). Kann der

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Logos mit Gott gleichgesetzt werden? Heraklit gibt eine typisch ausweichende Antwort: „Das einzige, was wirklich weise ist, ist sowohl unwillig als auch willig mit dem Namen Zeus benannt zu werden.“ Vermutlich nahm er an, der Logos sei göttlich, aber mit keinem der olympischen Götter identisch. Die menschliche Seele ist selbst Feuer: Heraklit listet manchmal Seele, zusammen mit Erde und Wasser, als drei Elemente auf. Da Wasser das Feuer löscht, ist die beste Seele eine trockene Seele, und sie muss vor Feuchtigkeit geschützt werden. Es ist nur schwer zu sagen, was in diesem Kontext mit Feuchtigkeit gemeint ist, doch Alkohol gehört sicherlich dazu: Ein Betrunkener, sagt Heraklit, sei ein erwachsener Mann, dem von einem unmündigen Knaben der Weg gewiesen werde (KRS 229–231). Doch Heraklits Verwendung des Wortes „nass“ 9 scheint auch die Bedeutung zu haben, die es in der modernen Umgangssprache hat: Mutige und harte Männer, die in der Schlacht fallen, haben beispielsweise trockene Seelen, die den Tod durch Wasser nicht erleiden, sondern mit dem kosmischen Feuer vereinigt werden (KRS 237). Am meisten bewunderte Hegel an Heraklit, dass er auf der Einheit der Gegensätze bestand, wie zum Beispiel darauf, dass das Universum sowohl getrennt als auch ungetrennt sei, geworden und ungeworden, sterblich und unsterblich. Manchmal sind diese Gleichsetzungen von Gegensätzen klare Aussagen über die Relativität bestimmter Prädikate. Die berühmteste von ihnen: „Der Weg hinauf und hinab ist ein und derselbe“, klingt sehr tiefgründig. Er könnte jedoch nicht mehr bedeuten als dies: Wenn ich einen Berg hinunter schlendere, treffe ich dich, der du ihn mühsam hinaufsteigst. Wir befinden uns beide auf demselben Weg. Verschiedene Dinge sind zu verschiedenen Seiten attraktiv: Nahrungsmittel, wenn wir hungrig, das Bett, wenn wir müde sind (KRS 201). Unterschiedliche Dinge ziehen verschiedene Lebewesen an: Meerwasser ist für Fische heilsam, doch für Menschen verderblich; Esel ziehen wertlose Dinge Gold vor (KRS 199). Nicht alle aufeinandertreffenden Gegensatzpaare lassen sich durch Relativierung leicht auflösen, und selbst die am harmlosesten aussehenden haben möglicherweise eine tiefere Bedeutung. So sagt uns beispielsweise Diogenes Laertius, dass die Reihenfolge Feuer – Luft – Wasser – Erde dem Weg nach unten, während die Sequenz Erde – Wasser – Luft – Feuer dem Weg nach oben entspricht (D.L. 9. 9–11). Diese beiden Wege können nur dann als identisch betrachtet werden, wenn man sie als zwei Stadien eines kontinuierlichen, ewigen kosmischen Prozesses ansieht. Tatsächlich nahm Heraklit an, das kosmischen Feuer durchlaufe Stadien des Aufloderns und Verlöschens (KRS 217). Vermutlich sollten wir die Aussage, das Universum sei sowohl geworden als auch ungeworden, sterblich und unsterblich in diesem Sinne verstehen (DK 22 B50). Der zugrunde liegende Prozess hat keinen Anfang und kein Ende, wohl aber jeder Kreislauf des Auflodern und Verlöschens in einer individuellen Welt, die entsteht und wieder vergeht. 9

Anm. d. Übers.: Das englische Wort „wet“ (nass) hat als Adjektiv die Bedeutung von schwach oder schlapp und kann als Substantiv „Jammerlappen“ bedeuten.

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Obwohl von mehreren Vorsokratikern berichtet wird, sie seien politisch aktiv gewesen, kann Heraklit aufgrund der von ihm erhaltenen Fragmente als derjenige gelten, der als erster eine politische Philosophie entwickelt hat. An praktischer Politik war er nicht interessiert: Auf seinen Anspruch, als Aristokrat zu den Herrschenden zu gehören, verzichtete er und übertrug seinen Reichtum seinem Bruder. Er soll gesagt haben, er würde lieber mit Kindern spielen als mit Politikern verhandeln. Doch er war vielleicht der erste Philosoph, der von einem göttlichen Gesetz gesprochen hat: nicht von einem Naturgesetz, sondern von einem normativen Gesetz, das einen höheren Anspruch als alle menschlichen Gesetze hatte. Es gibt eine berühmte Passage in Robert Bolts Stück über Thomas Morus, A Man for all Seasons. Thomas Morus wird von seinem Schwiegersohn Roper dazu gedrängt, unter Missachtung des Gesetzes einen Spion festzunehmen. Thomas Morus weigert sich, dies zu tun: „Ich weiß, was gesetzlich ist, nicht was richtig ist. Und ich halte mich an das Gesetz.“ In seiner Antwort an Roper bestreitet Thomas Morus, dass er das Gesetz der Menschen über Gottes Gebote stellt. „Ich bin nicht Gott“, sagt er, „doch im Dickicht der Gesetze bin ich ein Förster“. Darauf sagt Roper, er würde jedes Gesetz in England umstoßen, um des Teufels habhaft zu werden. Morus antwortete hierauf: „Und wenn das letzte Gesetz umgestoßen ist, und der Teufel sich gegen dich wendet – wo würdest Du dich verstecken, Roper, nun, da das Gesetz am Boden liegt?“ 10 Es ist schwer, in Thomas Morus’ eigenen Schriften oder aufgezeichneten Aussprüchen Nachweise für dieses Gespräch zu finden. Doch zwei Fragmente des Heraklit bringen die Ansichten der Gesprächsteilnehmer zum Ausdruck. „Das Volk muss für das Gesetz kämpfen wie es zur Verteidigung der Stadtmauer kämpfen würde“ (KRS 249). Doch obwohl eine Stadt sich auf ihr Gesetz stützen muss, muss sie ein noch größeres Gewicht auf das universale Gesetz legen, das für alle gilt. „Alle Gesetze der Menschen werden durch ein einziges Gesetz genährt, das göttliche Gesetz“ (KRS 250). Die erhalten gebliebenen Fragmente des Heraklit umfassen nicht mehr als 15000 Wörter. Es ist erstaunlich, wie stark sein Einfluss auf die Philosophen der Antike und der neueren Zeit gewesen ist. Seine Position in Raffaels Fresko in der Vatikanischen Stanze, Die Schule von Athen, hat etwas Treffendes. In diesem monumentalen Szenario, das imaginäre Porträts vieler griechischer Philosophen zeigt, nehmen Platon und Aristoteles, wie es richtig und gerechtfertigt ist, die Mitte ein. Doch die Person, von der das Auge des Betrachters beim Betreten des Raumes sofort angezogen wird, ist eine spätere Hinzufügung: die gestiefelte, grüblerische Figur des Heraklit, der in tiefe Gedanken versunken auf der untersten Stufe sitzt. 11

10 Robert Bolt, A Man for all Seasons (London: Heinemann, 1960), 39. 11 Die traditionellerweise als Heraklit geltende Figur ist in Skizzen des Freskos nicht enthalten. Michelangelo soll Raphael Modell gestanden haben. R. Jones und N. Penny, Raphael (London: Yale University Press, 1983), 77, bezweifeln allerdings beide Traditionen.

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Parmenides und die Eleaten Im antiken Rom galt Heraklit als der „weinende Philosoph“. Man stellte ihm als lachenden Philosoph den Atomisten Demokrit gegenüber. Es wäre passender gewesen, ihm Parmenides gegenüberzustellen, den Leiter der italienischen Philosophenschule im frühen fünften Jahrhundert. Für das klassische Athen war Heraklit der Vertreter der Theorie, dass sich alles in Bewegung befindet, während Parmenides die Auffassung vertrat, dass sich nichts bewege. Platon und Aristoteles haben, auf unterschiedliche Weise, damit gerungen, die mutige These zu verteidigen, dass sich einige Dinge in Bewegung und andere in Ruhe befinden. Nach Aristoteles (Metaph. A 5. 986b21–5) war Parmenides ein Schüler von Xenophanes, doch er war zu jung, um unter ihm in Kolophon studieren zu können. Er verbrachte den größten Teil seines Lebens in Elea, etwas mehr als 100 km südlich von Neapel. Möglicherweise ist er dort Xenophanes bei dessen Streifzügen begegnet. Wie Xenophanes war auch er eher ein Dichter: Er schrieb ein philosophisches Gedicht in unbeholfenen Versen, von dem wir noch etwa 120 Zeilen besitzen. Er ist der erste Philosoph, dessen Schriften uns in Form zusammenhängender Fragmente größeren Umfangs überliefert sind. Das Gedicht besteht aus einem Prolog und zwei Teilen, von denen einer „Pfad der Wahrheit“ und der andere „Pfad der sterblichen Meinung“ heißt. Der Prolog zeichnet ein Bild, in dem der Dichter in einem Pferdewagen mit den Töchtern der Sonne die Hallen der Nacht hinter sich zurücklässt und auf das Licht zufährt. Sie erreichen die Tore, die zu den Pfaden von Tag und Nacht führen. Es ist unklar, ob sie mit den Pfaden der Wahrheit und Meinung identisch sind. Wie dem auch sei, die Göttin, die ihn bei seiner Reise begrüßt, erklärt ihm, dass er beides lernen muss: „[…] der wohlgerundeten Wahrheit unerschütterliches Herz, wie auch die Wahnvorstellungen der Sterblichen.“ (KRS 288.29 f.; 164)

Es gibt nur zwei mögliche Wege der Forschung: „Wohl an, ich will dir sagen, welche Wege der Forschung allein denkbar sind […]. Der eine [zeigt], daß [das Seiende] ist und daß es unmöglich ist, daß es nicht ist. Das ist der Pfad der Überzeugung; folgt er doch der Wahrheit. Der andere aber [behauptet], dass es nicht ist, und dass es dieses Nichtsein notwendig geben müsse.“ (KRS 291. 2–5; 165)

(Ich muss den Leser bitten, mir zu glauben, dass Parmenides’ Griechisch so unbeholfen und verwirrend ist, wie dieser deutsche Text.) Der Weg der Wahrheit des Parmenides, den wir damit auf rätselhafte Weise eingeführt haben, markiert eine Epoche in der Philosophie. Er ist die Gründungsurkunde einer neuen Disziplin: der Ontologie oder Metaphysik, der Wissenschaft vom Sein.

Parmenides und die Eleaten

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Was immer es gibt, was immer gedacht werden kann, ist für Parmenides nichts anderes als das Sein. Das Sein ist eines und unteilbar: Es hat keinen Anfang und kein Ende und unterliegt keiner zeitlichen Veränderung. Wenn ein Kessel mit Wasser kocht, so mag dies in den Worten Heraklits der Tod des Wassers und die Geburt der Luft sein; für Parmenides ist es jedoch nicht der Untergang oder die Entstehung von Sein. Welche Veränderungen auch immer geschehen mögen, es sind keine Änderungen vom Sein zum Nichtsein: Es sind alles Veränderungen innerhalb des Seins. Für Parmenides gibt es jedoch in Wirklichkeit überhaupt keine echten Veränderungen. Das Sein ist ewig dasselbe, und die Zeit ist unwirklich, da Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft alle eins sind. 12 Die alltägliche Welt der scheinbaren Veränderungen wird im zweiten Teil von Parmenides’ Gedicht beschrieben, dem Weg des Scheins, den seine Göttin auf folgende Weise einführt: „Hier schließe ich mit dem, was ich von der Wahrheit Sicheres denke und sage. Von hier an aber lerne die Wahnvorstellungen der Sterblichen kennen, indem du den trügerischen Bau meiner Verse hörst.“ (KRS 300; 168)

Es ist nicht klar, warum sich Parmenides verpflichtet fühlte, die falschen Auffassungen, die von den verblendeten Sterblichen geglaubt werden, überhaupt wiederzugeben. Nähmen wir den zweiten Teil dieses Gedichts aus seinem Kontext, so würden wir darin eine Kosmologie finden, die eindeutig in der Tradition der ionischen Denker steht. Den üblichen Gegensatzpaaren fügt Parmenides Licht und Dunkelheit hinzu, und Aristoteles lobte, dass er als Wirkursache vor allem die Liebe eingeführt habe (Metaph. A 3. 984b27). Tatsächlich umfasst der Weg des Scheins zwei Wahrheiten, die bisher nicht allgemein bekannt waren: erstens, dass die Erde eine Kugel ist (D.L. 9.21), und zweitens, dass der Morgenstern derselbe Stern ist wie der Abendstern. Die von Parmenides bestrittene Entdeckung sollte den Philosophen einer späteren Generation als Musterbeispiel für Identitätsaussagen gelten.13 Parmenides hatte einen Schüler, Melissos, der von Pythagoras’ Insel Samos stammte, und von dem man sagte, er habe außerdem bei Heraklit studiert. Er war politisch aktiv und stieg bis zum Rang eines Admirals der Flotte von Samos auf. Im Jahre 441 v. Chr. wurde Samos von Athen angegriffen, und obwohl Athen in diesem Krieg schließlich siegreich war, wird berichtet, Melissos habe der Flotte von Perikles zwei Niederlagen zugefügt (Plutarch, Perikles; D.L. 9.4). Melissos legte die Philosophie des parmenideischen Lehrgedichts in schlichter Prosa dar, und behauptete, das Universum sei unbegrenzt, unveränderlich, unbeweglich, unteilbar und gleichförmig. Er war dafür bekannt, aus dieser monistischen An12 In Kapitel 6 wird Parmenides’ Ontologie genauer analysiert werden. 13 Gottlob Frege, ein Philosoph des 19. Jahrhunderts, verwendete das Beispiel zur Einführung seiner berühmten Unterscheidung zwischen Sinn und Bedeutung.

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sicht zwei Konsequenzen gezogen zu haben: (1) dass Schmerz unwirklich ist, weil er (unmöglicherweise) einen Mangel an Sein implizierte; und (2) dass es kein Vakuum gebe, da es sich hierbei um einen Teil des Nichtseienden handeln müsste. Lokale Bewegungen seien daher unmöglich, denn für die Körper im Raum gibt es keinen Platz, in dem sie sich bewegen könnten (KRS 534). Ein weiterer von Parmenides’ Schülern war Zenon von Elea. Ihm verdanken wir eine Reihe berühmter Argumente gegen die Möglichkeit von Bewegung. Das erste von ihnen lautet folgendermaßen: „Es gibt keine Bewegung, denn was immer sich bewegt, muss den Mittelpunkt seines Weges erreichen, bevor es den Endpunkt erreicht.“ Um bis zum anderen Ende eines Stadions zu laufen, muss man zunächst den halben Weg zurücklegen, um bis zur Mitte des Stadions zu gelangen, muss man die Hälfte dieser Strecke zurückgelegt haben, und so weiter bis ins Unendliche. Bekannter ist das zweite Argument, das als der Wettlauf des Achilles mit einer Schildkröte bekannt ist. „Der Langsamere“, sagte Zenon, „wird vom Schnelleren niemals überholt werden, denn der Verfolger muss zunächst den Punkt erreichen, den der Davonlaufende verlassen hat, sodass der Langsamere notwendigerweise dem Schnelleren immer voraus ist.“ Nehmen wir an, Achilles laufe viermal so schnell wie die Schildkröte, und die Schildkröte habe zu Beginn eines Wettlaufs über eine 100 m lange Strecke einen Vorsprung von 40 m. Zenons Argument zufolge kann Achilles den Wettlauf niemals gewinnen. Hat er nämlich die 40-Meter-Marke erreicht, ist die Schildkröte bereits 10 m weiter. Wenn Achilles diese 10 Meter gelaufen ist, hat die Schildkröte immer noch einen Vorsprung von 2,5 Meter. Jedes Mal, wenn Achilles die Lücke schließt, öffnete die Schildkröte eine neue, kleinere Lücke, sodass er die Schildkröte niemals überholen kann (Aristoteles, Ph. 5.9. 239b11–14). Diese und ähnliche Argumente Zenons setzen voraus, dass Entfernungen und Geschwindigkeiten unendlich teilbar sind. Seine Argumente wurden von einigen Philosophen als intelligente, aber spitzfindige Paradoxa verworfen. Von anderen wurden sie sehr bewundert: Bertrand Russell behauptete beispielsweise, sie seien die Grundlage für die durch Weierstrass und Cantor eingeleitete Renaissance der Mathematik im 19. Jahrhundert gewesen. 14 Aristoteles, der die Rätsel Zenons überliefert hat, glaubte sie entkräftet und damit die Möglichkeit von Bewegung bewiesen zu haben, indem er zwischen zwei Arten von Unendlichkeit unterschied: der wirklichen und der potenziellen Unendlichkeit. 15 Doch es sollte noch viele Jahrhunderte dauern, bis die von Zenon aufgeworfenen Fragen Lösungen erhielten, die sowohl die Philosophen als auch die Mathematiker zufriedenstellten.

14 Principia Mathematica (London: Allen & Unwin, 1903), 347. 15 Siehe Kapitel 5.

Empedokles

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Empedokles Der flamboyanteste unter den frühen Philosophen im griechischen Italien war Empedokles, dessen Lebensmitte etwa in die 50er des fünften Jahrhunderts fällt. Er stammte aus der Stadt Akragas, derjenigen Stadt an der Südküste Siziliens, die heute Agrigent genannt wird. Der Hafen der Stadt heißt heute Porto Empedocle, doch ist dies kein Beweis für die anhaltende Verehrung des Philosophen, sondern für die Leidenschaft, mit der man im Risorgimento Orte zu Ehren der glorreichen Vergangenheit Italiens umbenannte. Empedokles wurde in eine aristokratische Familie geboren, die ein Gestüt besaß, auf dem preisgekrönte Pferde gezüchtet wurden. In der Politik hatte er allerdings den Ruf eines Demokraten. Man sagt von ihm, er habe eine Verschwörung vereitelt, durch die die Stadt in eine Diktatur verwandelt werden sollte. Die dankbaren Bürger, so ging die Geschichte weiter, boten ihm an, ihr König zu werden, doch er lehnte das Amt ab, und führte stattdessen lieber das genügsame Leben eines Arztes und Lebensberaters (D.L. 8. 63). Wenn er auch nicht ehrgeizig gewesen ist, war er dennoch nicht frei von Eitelkeit. In einem seiner Gedichte rühmt er, dass, wo immer er hinkomme, sich Männer und Frauen um ihn scharen und Rat und Heilung bei ihm suchen. Er behauptete, im Besitz von Medikamenten zu sein, mit denen sich das Altern aufhalten lasse, und Zaubersprüche zu kennen, um das Wetter zu beeinflussen. In demselben Gedicht verkündet er freimütig, er selbst habe einen göttlichen Status erreicht (D.L. 8. 66). Verschiedene biografische Traditionen, von denen einige chronologisch unmöglich sind, machen Empedokles zum Schüler von Pythagoras, Xenophanes und Parmenides. Gewiss wird er Parmenides nachgeeifert haben, als er ein Lehrgedicht in Hexametern, Über die Natur, schrieb. Dieses Gedicht, das seinem Freund Pausanias gewidmet ist, enthielt etwa 2000 Zeilen, von denen etwa ein Fünftel überliefert ist. Er schrieb außerdem ein religiöses Gedicht, Reinigungen, von dem noch weniger erhalten geblieben ist. In der Forschung ist man sich nicht darüber einig, zu welchem Gedicht die zahlreichen zusammenhangslosen Zitate, die überliefert sind, gehören sollen. Einige sind sogar der Auffassung, die beiden Gedichte gehörten zu einem einzigen Werk. Weitere Teile des Textpuzzles wurden entdeckt, als man im Jahre 1994 in den Archiven der Universität Straßburg 40 Papyrusfragmente fand. Als Dichter zeichnete sich Empedokles durch größere Flüssigkeit und Vielseitigkeit als Parmenides aus. Nach Aristoteles schrieb er eine Erzählung über Xerxes’ Invasion Griechenlands und nach anderen Traditionen soll er Autor mehrerer Tragödien gewesen sein (D.L. 8. 57). Empedokles’ Naturphilosophie kann einerseits als Synthese der Gedanken der ionischen Philosophen angesehen werden. Wie wir sahen, hatte jeder von ihnen irgendeine Substanz als grundlegenden oder dominierenden Stoff des Universums ausgewählt: Thales hatte dem Wasser eine privilegierte Stellung zugewiesen, Anaximenes der Luft, Xenophanes der Erde und Heraklit dem Feuer. Für Empedokles waren alle vier Substanzen als Grundbestandteile oder Wurzeln des Universums, wie er sie nannte, von gleicher Bedeutung. Diese Wurzeln hatte es schon immer gegeben, be-

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hauptete er, doch vermischen sie sich in unterschiedlichen Verhältnissen auf solche Weise, dass sie die uns vertrauten Weltgegenstände erzeugen und außerdem die Bewohner des Himmels. „Denn aus ihnen [den Elementen] entsproß alles, was war und was ist und was sein wird; Bäume wuchsen empor und Männer und Weiber, wilde Tiere und Vögel und Fische des Wassers und langlebende Götter, die auf das höchste geehrt werden. Denn sie nur gibt es, und wie sie durcheinanderkreisen, nehmen sie die verschiedensten Gestalten an. So groß ist die Wandlung infolge ihrer Mischung miteinander.“ (KRS 355; 203)

Was Empedokles „Wurzeln“ nennt, nannten Platon und die späteren griechischen Denker stoicheia. Dieses Wort bezeichnete früher die Silben eines Wortes. Die lateinische Übersetzung elementum, von der sich unser Wort „Element“ ableitet, vergleicht die Wurzeln nicht mit Silben, sondern mit den Buchstaben des Alphabets: Ein Elementum ist ein LMNtum. Den vier Elementen des Empedokles wurde von Philosophen und Wissenschaftlern in der Physik und Chemie bis in die Zeit von Boyle im 17. Jahrhundert eine grundlegende Rolle zugeschrieben. Es lässt sich sogar behaupten, dass die vier Elemente auch noch für uns vorhanden sind, wenn auch in veränderter Form. Empedokles stellte sich seine Elemente als vier verschiedene Arten von Materie vor. Wir unterscheiden fest, flüssig und gasförmig als drei Zustände der Materie. Eis, Wasser und Dampf waren für Empedokles bestimmte Manifestationen von Erde, Wasser und Luft, denn es sind drei verschiedene Zustände derselben Substanz: H2O. Es war durchaus vernünftig, das Feuer – und besonders das Feuer der Sonne – als ein viertes Element von gleicher Wichtigkeit anzusehen. Man könnte behaupten, dass die im 20. Jahrhundert entstandene Plasmaphysik, die die Eigenschaften der Materie bei in der Sonne herrschenden Temperaturen studiert, das vierte Element des Empedokles den anderen dreien gleichgestellt hat. Aristoteles lobt Empedokles dafür, erkannt zu haben, dass eine kosmologische Theorie nicht nur die Elemente des Universums benennen, sondern auch Ursachen für die Entwicklung und Vermischung der Elemente angeben müsse, aus denen die lebenden und unbelebten Elemente der Wirklichkeit hervorgingen. Empedokles hatte diese Rolle der Liebe und dem Streit zugewiesen: Die Liebe vereinigte die Elemente, und der Streit zwang sie auseinander. Manchmal wachsen die Wurzeln so, dass aus mehreren eine einzige wird, und zu anderen Zeiten spalten sie sich auf, wodurch aus der Einheit eine Vielheit wird. Diese Wandlungen waren seiner Meinung nach Teil eines unaufhörlichen Wechsels, bei dem sich die Dinge durch Liebe vereinigen und dann durch den Hass des Streits wieder trennen (KRS 348). Liebe und Streit sind die anschaulichen Vorläufer der Anziehungs- und Abstoßungskräfte, die in der physikalischen Theorie jahrhundertelang einen festen Platz hatten. Für Empedokles ist die Geschichte ein Kreislauf, in dem manchmal die Liebe

Empedokles

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und manchmal der Streit dominiert. Unter dem Einfluss der Liebe vereinigen sich die Elemente zu einer gleichförmigen, harmonischen und glänzenden Kugel, die an das Universum von Parmenides erinnert. Unter dem Einfluss des Streits trennen sich die Elemente, doch wenn die Liebe ihren verlorenen Einfluss zurückgewinnt, entstehen die verschiedenen Arten lebender Wesen. Sämtliche zusammengesetzte Wesen, wie zum Beispiel Landtiere und Vögel und Fische, sind ephemere Kreaturen, die entstehen und vergehen. Allein die Elemente sind von ewiger Dauer, und ihr kosmischer Kreislauf hat kein Ende. Zur Erklärung des Ursprungs der Lebewesen schlug Empedokles eine erstaunliche Theorie der Evolution vor, nach der die am besten angepassten überlebten. Zuerst tauchten Fleisch und Knochen als chemische Mischungen der Elemente auf, wobei das Fleisch zu gleichen Teilen aus Feuer, Luft und Wasser zusammengesetzt war, und Knochen aus zwei Teilen Wasser, zwei Teilen Erde und vier Teilen Feuer bestand. Aus diesen Bestandteilen bildeten sich unverbundene Gliedmaßen und Organe: Augen, die sich in keiner Augenhöhle befanden, Arme ohne Schultern und Gesichter ohne Hals (KRS 375 f.). Diese bewegten sich umher, bis sie durch Zufall Partner fanden. Sie gingen Verbindungen ein, die in diesem frühen Stadium häufig ziemlich unpassend waren. Auf diese Weise entstanden verschiedene Missgeburten: Ochsen mit menschlichen Köpfen, Menschen mit Ochsenköpfen, doppelgeschlechtliche Kreaturen mit Gesichtern und Brüsten auf der Vorderseite und dem Rücken (KRS 397). Die meisten dieser Zufallsorganismen waren instabil und unfruchtbar. Aber die lebensfähigsten Strukturen blieben erhalten und wurden zu den Menschen und den uns bekannten Tierarten. Ihre Fortpflanzungsfähigkeit war eine Sache des Zufalls, ohne jeden Plan (Aristoteles, Ph. 2. 8. 198b29). Aristoteles lobte Empedokles dafür, als Erster das wichtige biologische Prinzip erkannt zu haben, dass verschiedene Teile unähnlicher Organismen homologe Funktionen haben können, wie zum Beispiel Oliven und Eier, Blätter und Federn (Aristoteles, Ph. 2.8. 198b29). Doch für seinen Versuch, die Teleologie auf Zufall zu reduzieren, hatte er nur Verachtung übrig, und über viele Jahrhunderte folgten die Biologen Aristoteles statt Empedokles. Er hätte zuletzt und am besten gelacht, als Darwin ihm die Ehre erwies „das Prinzip der natürlichen Selektion bereits schattenhaft angedeutet zu haben“. 16 Empedokles zog seine vier Elemente auch zur Erklärung der Sinneswahrnehmung heran, basierend auf dem Prinzip, dass Gleiches von Gleichem erkannt wird. In seinem Gedicht Reinigungen kombinierte er seine physikalische Theorie mit der pädagogischen Lehre der Seelenwanderung. 17 Sünder – göttliche oder menschliche – werden bestraft, wenn der Streit ihre Seelen in verschiedene Arten von Land- und 16 Anhang zur sechsten Ausgabe von The Origin of Species, zitiert in A. Gottlieb, The Dream of Reason: A History of Western Philosophy from the Greeks to the Renaissance (London: Allen Lane, 2000), 80. 17 Siehe Kapitel 7.

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Meerestieren verbannt. Ein Kreislauf von Wiedergeburten lässt Raum für die Hoffnung, dass privilegierte Menschen, Seher, Sänger, Ärzte und Fürsten, letztlich vergöttlicht werden (KRS 409). Natürlich konnte Empedokles beanspruchen, zu jeder dieser Gruppen zu gehören. In seinen Schriften wechselt Empedokles übergangslos zwischen einem nüchternen, mechanistischen und einem mystisch-religiösen Ton. Manchmal verwendet er für seine vier Elemente die Namen von Göttern (Zeus, Hera, Aidoneos und Nestis), und er setzt seine Liebe der Gottheit Aphrodite gleich, die er in Worten feiert, die Schillers berühmte Ode an die Freude antizipieren (KRS 349). Zweifellos wird man seinen eigenen Anspruch auf Göttlichkeit auf die gleiche Weise entmythologisieren können, die er auch für die Götter des Olymp gelten ließ. Doch erregte er damit die Aufmerksamkeit der Nachwelt, besonders in der Legende über seinen Tod. Eine Frau namens Pantheia, so lautet die Geschichte, war von den Ärzten für tot erklärt und aufgegeben, von Empedokles jedoch auf wundersame Weise ins Leben zurückgeholt worden. Um dies zu feiern, richtete er im Haus eines reichen Mannes am Fuße des Ätna ein mit einem Tieropfer verbundenes Festessen aus, zu dem achtzig Gäste eingeladen waren. Als die anderen Gäste sich schlafen legten, hörte er, wie sein Name vom Himmel gerufen wurde. Er eilte auf den Gipfel des Vulkans und dann, in den Worten von Milton, „[…] sprang er, um als Gott zu gelten, voll Liebe in die Flammen des Ätna.“ 18 (Paradise Lost, iii, 470)

Matthew Arnold dramatisierte diese Geschichte in seinem Gedicht Empedocles on Etna. Er legt dem Philosophen am Rand des Kraters folgende Worte in den Mund: „Dieses Herz wird nicht mehr glühen; Du bist kein lebender Mann mehr, Empedokles! Nur noch eine verzehrende Flamme des Denkens – ein nackter, ewig rastloser Geist! Zu den Elementen, aus denen es entstand, wird alles zurückkehren. Unsere Körper zur Erde, Unser Blut zum Wasser Hitze zum Feuer, Atem zur Luft. Sie waren wohl geboren, und sie werden wohl begraben sein – Doch der Geist?“ 19

18 „[…] to be deemed a god, leaped fondly into Aetna flames.“ 19 „This heart will glow no more; thou art A living man no more, Empedocles!

Anaxagoras

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Arnold gibt hier dem Philosophen, vor seinem Sprung in den Tod, die Hoffnung, dass als Belohnung für die Liebe zur Wahrheit sein Geist niemals vollständig untergehen werde.

Anaxagoras Wenn Empedokles eine Art Unsterblichkeit als Vorläufer von Darwin erlangt hat, so betrachtet man seinen Zeitgenossen Anaxagoras manchmal als geistigen Vorläufer der gegenwärtig weithin akzeptierten Big Bang-Kosmologie. Anaxagoras wurde um das Jahr 500 v. Chr. in Klazomenai, in der Nähe von Izmir, geboren und war wahrscheinlich ein Schüler von Anaximenes. Nach dem Ende der Kriege zwischen Persien und Griechenland kam er nach Athen und war ein Anhänger des Staatsmannes Perikles. Damit steht der am Anfang der Reihe hochrangiger Philosophen, die Athen entweder hervorgebracht oder willkommen geheißen hat. Als Perikles in Ungnade fiel, wurde auch Anaxagoras zum Ziel von Angriffen aus dem Volk. Man klagte ihn wegen Verrat und Gottlosigkeit an, und er floh nach Lampsakos am Hellespont, wo er in einem ehrenhaften Exil bis zu seinem Tode im Jahre 428 lebte. Dies ist seine Beschreibung des Anfangs des Universums: „Ursprünglich waren alle Dinge zusammen, unendlich an Menge und an Kleinheit. Denn auch das Kleine war und endlich, d. h. unendlich klein. Und solange alle Dinge zusammen waren, war infolge seiner Kleinheit keins von ihnen erkennbar. Alles lag unter Luft und Äther, beide unendlich“ (KRS 467; DK 266). Dieser uranfängliche Kieselstein begann sich zu drehen und schleuderte dabei den umgebenden Äther und die Luft aus sich heraus und ließ auf diese Weise die Sterne, die Sonne und den Mond entstehen. Die Drehung führte zur Trennung des Dichten vom Dünnen, des Heißen vom Kalten, des Trocknen vom Nassen und des Hellen vom Dunklen. Doch diese Trennung war niemals vollständig, und bis heute bleibt daher in jedem einzelnen Ding ein Teil von allen anderen erhalten. Im Schwarzen gibt es ein wenig Weißes, ein wenig Kaltes im Heißen usw.: Die Dinge werden nach dem benannt, was in ihnen vorherrscht (Aristoteles, Ph. 1.4. 187a23). Dies ist am offensichtlichsten bei der Samenflüssigkeit, die Haar und Fleisch enthalten muss und noch vieles, vieles mehr. Es muss auch für unsere Nahrungsmittel Nothing but a devouring flame of thought – But a naked, eternally restless mind! To the elements it came from Everything will return Our bodies to earth, Our blood to water, Heat to Wre, Breath to air. They were well born, they will be well entomb’d – But mind?“ (Zeilen 326–38)

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gelten (KRS 483 f., 496). In diesem Sinne sind alle Dinge, wie sie es am Anfang waren, weiterhin verbunden. Anaxagoras behauptete, dass sich die Ausdehnung des Universums in der Gegenwart fortsetzt und dass es sich auch in Zukunft weiter ausdehnen wird (KRS 476). Vielleicht hat sie bereits zur Entstehung von Welten geführt, die von der unseren verschieden sind. Da alles in allem anderen vorhanden ist, sagt er, dass „[…] sich so auch Menschen zusammenfügen und alle sonstigen Lebewesen, die eine Seele besitzen. Und daß diese Menschen nun auch bewohnte Städte und angebaute Äcker besitzen wie bei uns, und auch Sonne und Mond und die übrigen [Gestirne] haben wie bei uns, und daß ihr Land ihnen viele mannigfache Pflanzen hervorbringt, wovon sie das beste in ihr Haus zusammenbringen und davon leben. Dies ist meine Darlegung über die Ausscheidung, daß eine solche nicht nur bei uns, sondern auch anderswo stattgefunden hat“ 20 (KRS 498)

Anaxagoras kann daher beanspruchen, der Schöpfer der Idee gewesen zu sein, die später von Giordano Bruno vorgeschlagen wurde und sich bei vielen auch heute wieder einiger Beliebtheit erfreut: dass unser Kosmos nur einer von vielen ist, die wie der unsrige von intelligenten Wesen bevölkert sind. Die Bewegung, die die Entwicklung des Universums einleitet, ist nach Anaxagoras das Werk des Geistes. „Alle Dinge waren zusammen, dann kam der Geist dazu und ordnete sie“ (D.L. 2.6). Der Geist ist unendlich und getrennt und nimmt an der allgemeinen Vermischung der Elemente nicht teil. Wäre es anders, würde er in den evolutionären Prozess hineingezogen und könnte ihn nicht steuern. Diese Lehre, die dem Geist so eindeutig die Kontrolle über die Materie gibt, hat seine Zeitgenossen so sehr beeindruckt, dass sie Anaxagoras selbst scherzhaft „den Geist“ nannten. Doch obwohl seine Lehre Platon und Aristoteles tief beeindruckte, ist es schwer zu sagen, worauf diese Lehre konkret hinauslief. Im Dialog Phaidon lässt Platon Sokrates in seinen letzten Tagen im Gefängnis berichten, dass er von den mechanistischen, naturwissenschaftlichen Erklärungen, wie man sie bei den frühen Philosophen findet, immer mehr enttäuscht worden sei. Er sei erfreut gewesen, als er erfahren habe, Anaxagoras habe alles durch den Nous, oder Geist, erklärt. Allerdings sei er enttäuscht worden, dass in seinen Schriften jeglicher Bezug auf Werte fehlte. Anaxagoras gleiche jemanden, der sagt, dass alle Handlungen des Sokrates durch seine Intelligenz ausgeführt würden, und der dann als Grund dafür, warum er hier in einem Gefängnis sitze, die Zusammensetzung seines Körpers aus Knochen und Sehnen angeführt habe und über die Natur und Eigenschaften dieser Teile gesprochen habe, ohne zu erwähnen, dass er entschieden habe, es sei besser dort zu sitzen und sich dem Urteil des Athenischen Gerichts zu fügen. 20 Zitiert nach: Die Fragmente der Vorsokratiker. Griechisch und Deutsch, übersetzt und herausgegeben von H. Diels. 1. Band (Berlin: Weidmann, 31912).

Die Atomisten

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Teleologische Erklärungen seien tiefer gehender als mechanistische. „Wenn nun einer die Ursache von jeglichem finden sollte, wie es entsteht oder vergeht oder besteht, so müsse er nur dieses daran finden, wie es gerade diesem am besten sei zu bestehen, oder irgend sonst etwas zu tun oder zu leiden.“ (Phd. 97d) Anaxagoras spricht über seinen Geist wie über Götter, und dies könnte ihm in den Augen der Athener Gerichte den Vorwurf eingebracht haben, dass er fremde Götter einführe. Der Vorwurf mangelnder Frömmigkeit schien jedoch auf seinen wissenschaftlichen Vermutungen zu basieren. Die Sonne, so sagte er, sei ein feuriger Metallklumpen, etwas größer als der Peloponnes. Dies hielt man für unvereinbar mit der Verehrung, die der göttlichen Sonne entgegenzubringen war. Im Exil in Lampsakos erwies er der Menschheit seine letzte Wohltat, indem er die Schulferien einführte. Als ihn die Stadtregierung fragte, wie man ihn ehren solle, sagte er, dass die Kinder im Monat seines Todes Schulferien bekommen sollten. Die Dankbarkeit von Studenten der Naturwissenschaft hatte er sich bereits dadurch verdient, dass er der erste Autor war, der in seine Texte Diagramme einfügte.

Die Atomisten Die letzte und bemerkenswerteste Vorwegnahme der modernen Naturwissenschaft im vorsokratischen Zeitalter geschah durch Leukipp von Milet und Demokrit von Abderra. Obwohl die beiden immer in einem Atemzug genannt werden, wie Max und Moritz, und gemeinsam als Gründer des Atomismus gelten, wissen wir über Leukipp eigentlich nichts anderes, als dass er der Lehrer Demokrits gewesen ist. Unsere Kenntnis der Atomtheorie stützt sich hauptsächlich auf die überlieferten Schriften des Letzteren. Demokrit war ein Universalgelehrter und produktiver philosophischer Autor, der an die 80 Abhandlungen über Themen schrieb, die von der Poesie und Harmonielehre bis zu militärischen Strategien und babylonischer Theologie reichten. Alle diese Abhandlungen sind verloren gegangen, doch wir besitzen eine umfangreiche Sammlung von Fragmenten Demokrits, mehr als von jedem anderen früheren Philosophen. Demokrit wurde in Abdera an der Küste Thrakiens geboren, und ist damit der erste bedeutende Philosoph, der auf griechischem Boden geboren ist. Das Datum seiner Geburt ist zweifelhaft, doch liegt es wahrscheinlich zwischen 470 und 460 v. Chr. Er soll 40 Jahre jünger als Anaxagoras gewesen sein, von dem er einige seiner Ideen übernahm. Er unternahm weite Reisen, unter anderem nach Ägypten und Persien, doch war er von den besuchten Ländern nicht sonderlich beeindruckt. Er sagte einmal, er würde lieber eine einzige wissenschaftliche Erklärung entdecken, als König von Persien werden (D.L. 9. 41; DK 68 B118). Demokrits Grundthese lautet, dass die Materie nicht unendlich teilbar ist. Wie genau er zu dieser Schlussfolgerung gelangt ist, wissen wir nicht, doch Aristoteles vermutet, er habe folgendermaßen argumentiert. Wenn wir ein Stück irgendeines

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Stoffes so oft teilen, wie es uns möglich ist, müssen wir schließlich bei winzigen Körperchen ankommen, die nicht weiter teilbar sind. Wir können nicht zulassen, dass die Materie ins Unendliche teilbar ist. Denn nehmen wir an, die Teilung sei durchgeführt worden, und wir fragten dann: Was wäre das Ergebnis dieser Teilung? Wenn jedes der unendlichen Anzahl von Teilchen eine bestimmte Größe hätte, so müsste diese weiter teilbar sein, was unserer Hypothese widerspricht. Sollten andererseits die zurückgebliebenen Teilchen keine Größe haben, so könnten sie gemeinsam niemals eine bestimmte Menge ausgemacht haben: Denn Null multipliziert mit dem Unendlichen bleibt Null. Daher müssen wir schließen, dass die Teilbarkeit ein Ende hat und die kleinstmöglichen Fragmente müssen Körper mit einer bestimmten Größe und Form sein. Diese winzigen unteilbaren Körper nannte Demokrit „Atome“ (das griechische Wort atomos bedeutet „unteilbar“ 21) (Aristoteles, GC 1.2. 316a13– b16). Demokrit glaubte, die Atome seien zu klein, um mit den Sinnen wahrgenommen werden zu können. Es gebe unendlich viele von ihnen, sie seien von unendlicher Vielfalt und haben seit Ewigkeiten existiert. Gegenüber den Eleaten war er der Auffassung, dass es keinen Widerspruch bedeute, wenn man die Existenz eines Vakuums zugab: Es gab das Leere und in diesem unendlichen leeren Raum befanden sich die Atome, wie die Staubkörner in einem Sonnenstrahl, in ständiger Bewegung. Sie haben verschiedene Formen. Sie können sich in der Gestalt unterscheiden (wie der Buchstabe A vom Buchstaben N), in der Anordnung (wie sich AN von NA unterscheidet) und in der räumlichen Ausrichtung (wie sich N von Z unterscheidet). Einige von ihnen sind konkav und andere konvex, und einige sind wie Häkchen und andere wie Augen. In ihrer endlosen Bewegung kollidieren sie miteinander und schließen sich zusammen (KRS 583). Die uns im Alltag umgebenden Objekte mittlerer Größe sind Komplexe aus Atomen, die sich auf diese Weise durch zufällige Kollisionen verbunden haben. Die unterschiedlichen Arten dieser Gegenstände basieren auf den Unterschieden zwischen den Atomen, aus denen sie bestehen (Aristoteles, Metaph. A 4. 985b4–20; KRS 556). Wie Anaxagoras glaubte auch Demokrit an eine Vielzahl von Welten. „Es gäbe unzählige Welten, die sich durch ihre Größe unterschieden. In manchen sei weder Sonne noch Mond, in manchen seien sie größer als die in unserer Welt und in manchen gäbe es mehr davon. Es seien aber die Entfernungen der Welten voneinander ungleich, und an der einen Stelle gäbe es mehr Welten, an der anderen weniger, und die einen seien noch im Wachsen, die anderen ständen auf der Höhe ihrer Blüte; andere seien im Schwinden begriffen, und an der einen Stelle entständen sie, an der anderen schwänden sie. Sie gingen aber durcheinander zugrunde, wenn sie aufeinanderstießen. Und es gäbe einige Welten, in denen es keine Tiere und Pflanzen und keinerlei Feuchtigkeit gäbe.“ (KRS 565; 416) 21 Anm. d. Übers.: Von dem griechischen Verb temnein: schneiden, absondern.

Die Sophisten

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Für Demokrit waren die Atome und das Leere die einzigen beiden Wirklichkeiten: Was wir als Wasser oder Feuer oder Pflanzen oder Menschen wahrnehmen, sind nichts als Konglomerate von Atomen im Leeren. Die von uns wahrgenommenen sinnlichen Qualitäten sind unwirklich: Sie beruhen auf Konvention. Demokrit gab eine detaillierte Erklärung dafür, wie die wahrgenommenen Qualitäten durch die verschiedenen Arten und Konfiguration der Atome zustande kamen. So erklärte er beispielsweise den scharfen Geschmack eines Gewürzes durch sehr kleine, dünne, winkelige und gezackte Atome, während süße Geschmacksrichtungen durch größere, rundere und glattere Atome verursacht würden. Verglichen mit der Erleuchtung, die wir der Atomtheorie zu verdanken haben, ist das uns durch die Sinne vermittelte Wissen bloße Dunkelheit. Um diese Behauptungen zu rechtfertigen, entwickelte Demokrit eine systematische Erkenntnistheorie. 22 Außer über Physik schrieb Demokrit auch über Ethik. Es sind uns zahlreiche Aphorismen erhalten geblieben, von denen einige Gemeinplätzen sind oder dazu geworden sind. Es wäre jedoch falsch, in ihm einen Denker zu sehen, der uns auf schulmeisterliche Art herkömmliche Weisheiten auftischt. Wie wir in Kapitel 8 noch sehen werden, zeigt eine genaue Lektüre seiner Äußerungen, dass er als einer der ersten Philosophen eine systematische Moralphilosophie entwickelt hat.

Die Sophisten Zu Lebzeiten Demokrits war Protagoras, einer seiner jüngeren Landsleute aus Abdera, einer der Altmeister einer neuen Klasse von Philosophen: der Sophisten. Sophisten waren wandernde Lehrer, die von Stadt zu Stadt reisten und sachkundige Unterweisung in zahlreichen Fächern anboten. Da sie für die Vermittlung ihrer Fähigkeiten ein Honorar verlangten, könnte man sie als die ersten professionellen Philosophen bezeichnen. Was dem entgegensteht, ist allerdings die Tatsache, dass sie ihren Unterricht und ihre Dienste in einer viel größeren Palette von Themen anboten, als die Philosophie selbst im weitesten Sinne umfassen könnte. Der Vielseitigste von ihnen, Hippias von Elis, beanspruchte Fachwissen in Mathematik, Astronomie, Musik, Geschichte, Literatur und Mythologie sowie praktische Fähigkeiten als Schneider und Schuhmacher. Einige andere Sophisten boten Unterricht in Mathematik, Geschichte und Geografie an. Begabte Redner waren sie alle. In der Mitte des fünften Jahrhunderts machten sie in Athen hervorragende Geschäfte. Dort waren junge Männer, die vor Gericht Verteidigungsreden halten mussten oder die eine politische Karriere einschlagen wollten, bereit, ihnen für ihre Unterweisung und Anleitung stattliche Summen zu zahlen. Die Sophisten analysierten gerichtliche Debatten und die Überredungskunst auf systematische Weise. Während sie dieses Ziel verfolgten, schrieben sie über eine Viel22 Siehe Kapitel 4.

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zahl von Themen. Sie begannen mit den Grundlagen der Grammatik: Protagoras war der erste, der das Geschlecht der Hauptwörter sowie Tempus und Modus der Verben unterschied (Aristoteles, Rh. 3.4. 1407b6–8). Weiterhin gaben sie Unterricht in verschiedenen Argumentationstechniken und lehrten allgemeine Kniffe und Tricks bei der Verfechtung einer bestimmten Sache. Als Ausleger mehrdeutiger Texte und wegen ihrer Beurteilung widerstreitender Reden gehörten sie zu den frühesten literarischen Kritikern. Außerdem hielten sie öffentliche Vorlesungen und traten in Volksversammlungen auf, wo sie Proben ihrer Redekunst gaben, sowohl zur Unterweisung als auch zur Unterhaltung (D.L. 9. 53). Insgesamt könnte man sagen, dass ihre Rolle all dasjenige umfasste, was in der modernen Gesellschaft von Tutoren, Beratern, Anwälten, Public Relations-Fachleuten und Medienpersönlichkeiten übernommen wurde. Protagoras kam zunächst als Botschafter von Abdera nach Athen. Er wurde von den Athenern geehrt und später noch mehrfach eingeladen. Im Jahre 444 v. Chr. bat ihn Perikles, eine Verfassung für die neue panhellenische Kolonie in Thurioi in Süditalien zu entwerfen. Sein erster öffentlicher Auftritt in Athen fand im Haus des Tragikers Euripides statt. Er las laut einen Traktat mit dem Titel Über die Götter, an dessen Eröffnungsworte man sich noch lange erinnerte: „Von den Göttern weiß ich nicht, weder daß sie sind, noch daß sie nicht sind; denn vieles hemmt uns in der Erkenntnis, sowohl die Dunkelheit der Sache wie die Kürze des menschlichen Lebens“ (D.L. 9. 51). Sein berühmtester Ausspruch, „Der Mensch ist das Maß aller Dinge“, enthält in knapper Form eine relativistische Erkenntnistheorie, die wir an späterer Stelle dieses Buches noch genauer erörtern werden. 23 Protagoras scheint bereit gewesen zu sein, für beide Seiten einer beliebigen Frage einzutreten, und er rühmte sich, er könne das schlechtere Argument stets zum besseren machen. Dies mag einfach bedeutet haben, dass er die Fähigkeit besaß, einen schwachen Klienten so zu schulen, dass er seine Sache optimal darstellen konnte. Doch so unterschiedliche Kritiker wie Aristophanes und Aristoteles verstanden ihn so, dass er das Falsche als richtig erscheinen lassen konnte (Aristophanes, Wolken 122 ff., 656 f.; Aristoteles, Rh. 2.24. 1402a25). Protagoras’ Feinde erzählten gerne die Geschichte, wie er seinen Schüler Eualthos für die Nichtzahlung seines Honorars gerichtlich verfolgte. Eualthos hatte sich geweigert zu zahlen, weil er sagte, er habe noch keinen einzigen Prozess gewonnen. Protagoras sagte: „Aber ich muß das Geld auf jeden Fall erhalten; denn siege ich, so gehört es mir, eben weil ich gesiegt habe; siegst du aber, dann deshalb, weil du gesiegt hast.“ (D.L. 9. 56). Ein anderer Sophist, Prodikos, von der ägäischen Insel Keos, kam wie Protagoras in einer offiziellen Angelegenheit seines Heimatstaates nach Athen. Er war ein Linguist, der sich stärker für Semantik als für Grammatik interessierte: Vielleicht kann man ihn als den ersten Lexikografen ansehen. Aristophanes und Platon machten sich über ihn als einen Pedanten lustig, der spitzfindige Unterscheidungen zwischen Wörtern traf, die praktisch gleichbedeutend waren. Tatsächlich erlangten jedoch einige 23 Siehe Kapitel 4.

Die Sophisten

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der Unterscheidungen, die man ihm zuschreibt (wie zum Beispiel zwischen den beiden griechischen Äquivalenten für „wollen“, boulethai und epithumein; Platon, Protagoras 340b2), später eine wichtige philosophische Bedeutung. Prodikos soll auch der Verfasser einer romantisch-moralischen Fabel über die Wahl des jungen Herakles zwischen zwei weiblichen Verkörperungen der Tugend und des Lasters gewesen sein. Er vertrat auch eine Theorie über den Ursprung der Religion. „Die Menschen der Urzeit hielten Sonne und Mond, Flüsse und Quellen und überhaupt alles, was für unser Leben von Nutzen ist, wegen des von ihnen gespendeten Nutzens für Götter, wie zum Beispiel die Ägypter den Nil.“ (DK 84 B5; 267 f.). Daher ist die Verehrung von Hephaistos in Wirklichkeit eine Verehrung des Feuers und die Anbetung von Demeter in Wirklichkeit die Anbetung des Brotes. Gorgias aus Leontinoi in Sizilien, einst Schüler von Empedokles, war ein weiterer Sophist, der auf einer diplomatischen Mission nach Athen kam, um Hilfe in einem Krieg gegen Syrakus zu erbitten. Er war nicht nur ein überzeugender Redner, sondern auch ein Theoretiker der Rhetorik, der unterschiedliche Redefiguren unterschied, wie zum Beispiel die Antithese und rhetorische Fragen. Sein Stil wurde zu seinen Lebzeiten sehr bewundert, doch später hielt man ihn für viel zu überladen. Von seinen Schriften sind zwei kurze Abhandlungen von philosophischem Interesse erhalten geblieben. Die erste ist eine rhetorische Übung zur Verteidigung Helenas von Troja gegen ihre Verleumder. Darin wird für die These argumentiert, dass man ihr nicht vorwerfen könne, mit Paris davongelaufen zu sein und auf diese Weise den Trojanischen Krieg ausgelöst zu haben. „Sie unternahm, was sie tat, entweder aufgrund einer Laune des Schicksals, der Entscheidungen der Götter und der Anordnungen der Notwendigkeit, oder weil sie mit Gewalt entführt wurde, oder von Reden überzeugt oder weil sie von Liebe überwältigt wurde“ (DK 82 B11, 21–4). Gorgias geht diese Alternativen der Reihe nach durch und argumentiert in jedem einzelnen Fall, dass Helena kein Vorwurf gemacht werden sollte. Kein Mensch kann dem Schicksal widerstehen, und nicht der Entführte, sondern der Entführer verdient beschuldigt zu werden. Bis hierher hat Gorgias eine leichte Aufgabe. Um aber zu zeigen, dass man Helena nicht beschuldigen sollte, der Überredung nachgegeben zu haben, muss er eine nicht überzeugende, wenn auch zweifellos sympathische Lobrede auf die Kraft des gesprochenen Wortes halten: „Es ist ein mächtiger Herr, ohne Substanz und nicht wahrnehmbar, doch kann es göttliche Wirkungen entfalten“. Auch in diesem Fall ist es der Überredende und nicht der Überredete, der es verdient beschuldigt zu werden. Wenn Helena sich schließlich verliebt haben sollte, trifft sie kein Tadel: Denn die Liebe ist entweder ein Gott, dem man nicht widerstehen kann, oder eine Geisteskrankheit, die unser Mitleid erregt. Dieser kurze, geistreiche Text ist der Vorläufer zahlreicher philosophischer Erörterungen über Freiheit und Notwendigkeit, force majeure, Anstiftung und unwiderstehliche Impulse. Gorgias’ Schrift Vom Nichtseienden enthielt Argumente für drei skeptische Schlussfolgerungen. Erstens: Es gibt nichts. Zweitens: Wenn es etwas gäbe, könnte es

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nicht erkannt werden. Drittens: Wenn etwas erkannt werden könnte, so könnte es niemand einem anderen mitteilten. Diese Folge von Argumenten ist in zweifacher Form überliefert worden: einmal in der pseudo-aristotelischen Abhandlung Über Melissos und dann durch Sextus Empiricus. Das erste Argument macht sich die Vieldeutigkeit des griechischen Verbs „sein“ zunutze. Ich werde dieses Argument hier nicht im Einzelnen darlegen, jedoch in Kapitel 6 versuchen, die Mehrdeutigkeiten zu klären, die hier im Spiel sind. Das zweite Argument lautet folgendermaßen: Dinge, die ein Sein haben, können nur Gegenstände des Denkens werden, wenn Gegenstände des Denkens Dinge sind, die ein Sein haben. Doch Gegenstände des Denkens sind keine Dinge, die ein Sein haben; ansonsten würde alles, was man denkt, der Fall sein. Doch man kann an einen fliegenden Menschen oder einen Streitwagen denken, der über das Meer fährt, ohne dass es solche Dinge gibt. Daher können Dinge, die ein Sein haben, nicht Gegenstände des Denkens sein. Das dritte Argument, das plausibelste der drei, behauptet, dass die Wahrnehmungen jedes Einzelnen individuell sind, und dass wir an unsere Mitmenschen nur Worte, jedoch keine Erfahrungen weitergeben können. Die Argumente dieses berühmten Sophisten für diese alarmierenden Schlussfolgerungen sind in der Tat Trugschlüsse und wurden von denen, die sie zuerst hörten, bestimmt auch als solche verworfen. Doch es ist leichter, einen Trugschluss zu verwerfen, als seinem Wesen auf den Grund zu gehen, und es ist noch schwieriger, Abhilfe dafür zu schaffen. Der erste Sophismus wurde im Wesentlichen von Platon in seinem Dialog mit dem passenden Namen Sophistes verworfen. 24 Der zweite basiert auf einer ungültigen Argumentationsform, die uns manchmal auch bei Platon selbst begegnet. Die Logik des Aristoteles stellte jedoch für alle Denker nach ihm klar, dass die Aussage „Nicht alle As sind B“ den Satz „Kein B ist ein A“ nicht impliziert. Dem dritten Argument, das sich auf die Privatheit aller Erfahrung stützt, wurde erst im 20. Jahrhundert, im Werk von Wittgenstein, der Zahn gezogen. Außer Protagoras, Hippias, Prodikos und Gorgias gab es noch andere Sophisten, von denen uns Name und Ansehen überliefert sind. Da gab es beispielsweise Kallikles, den Verteidiger der Lehre vom Recht des Stärkeren, und Thrasymachos, der Gerechtigkeit als Selbstinteresse der Mächtigen entlarvt haben wollte. Dann gab es noch Euthydemos und Dionysidoros, zwei Logiker, die einem bewiesen, dass der eigene Vater ein Hund gewesen sei. Wir kennen diese Männer und selbst die bekannteren Sophisten, auf die wir eingegangen sind, jedoch hauptsächlich als Charaktere in den Dialogen Platons. Ihre philosophischen Behauptungen studiert man am besten im Kontext dieser Dialoge. Nach der historischen Wahrheit über die Sophisten zu forschen, ist in etwa so lohnend wie der Versuch, in Erfahrung zu bringen, wie Shakespeare König Lear und Prinz Hamlet in seinen Dialogen umgestaltet hat. Wir verabschieden uns daher von diesen Sophisten und wenden uns Sokrates zu, der nach einer Deutung der größte der Sophisten gewesen sein soll, und andererseits 24 Siehe Kapitel 6.

Sokrates

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als das Musterbeispiel des wahren Philosophen im völligen Gegensatz zu jeder Art von Sophistik gilt.

Sokrates In der Geschichte der Philosophie gebührt Sokrates ein Platz wie keinem anderen. Einerseits wird er dafür verehrt, die erste große Epoche der Philosophie eingeleitet zu haben, und daher in gewissem Sinne die Philosophie selbst. In Lehrbüchern werden alle früheren Denker als Vorsokratiker zusammengeworfen, als sei die Philosophie vor seinem Zeitalter irgendwie prähistorisch. Andererseits hinterließ Sokrates keinerlei Schriften, und es gibt kaum einen der ihm zugeschriebenen Sätze, von dem wir mit Sicherheit behaupten könnten, er habe ihn selbst geäußert, statt dass es sich um die literarische Schöpfung eines seiner Bewunderer handelt. Wir kennen seine Philosophie weniger direkt als die von Xenophanes, Parmenides, Empedokles oder Demokrit. Doch ist sein Einfluss auf die Philosophie nach ihm bis in unsere eigene Zeit unvergleichlich größer als der dieser anderen Denker. In der Antike nahmen viele philosophische Schulen Sokrates als ihren Gründer in Anspruch und viele Einzelne verehrten ihn als vorbildhaften Philosophen. Im Mittelalter wurde seine Geschichte kaum studiert, doch sein Name erscheint auf jeder Seite, auf der ein Logiker oder Metaphysiker ein Beispiel geben will: „Sokrates“ war für die scholastischen Philosophen lange Zeit, was „John Doe“ für juristische Autoren war. In neuerer Zeit wurde auf Sokrates’ Leben von vielen Philosophen unterschiedlicher Art als nachahmenswertes Beispiel verwiesen, besonders von solchen, die in Diktaturen lebten und riskierten, politisch verfolgt zu werden, weil sie sich weigerten, sich einer unvernünftigen Ideologie anzuschließen. Viele Denker haben sich den Ausspruch zu eigen gemacht, der einen ebenso großen Anspruch auf Authentizität hat wie jeder andere, der Sokrates zugeschrieben wird: „Ein unerforschtes Leben ist nicht lebenswert.“ Was wir von Sokrates mit Sicherheit wissen, ist schnell erzählt. Er wurde etwa um das Jahr 469 v. Chr. in Athen geboren, zehn Jahre nachdem die persische Invasion Griechenlands in der Schlacht von Plataea abgewehrt wurde. Er wuchs in den Jahren auf, als Athen eine blühende Demokratie unter dem Staatsmann Perikles sowie die Hegemonialmacht in der griechischen Welt war. Es war ein goldenes Zeitalter der Kunst und Literatur, in dem Phidias seine Skulpturen schuf, in dem das Parthenon erbaut wurde und in dem Aischylos, Sophokles und Euripides ihre großen Tragödien schrieben. Zur gleichen Zeit verfasste Herodot, „der Vater der Geschichtsschreibung“, seine Darstellungen der Perserkriege und führte Anaxagoras in Athen die Philosophie ein. Die zweite Lebenshälfte des Sokrates wurde durch den Peleponnesischen Krieg (434–431) überschattet, in dem Athen schließlich gezwungen wurde, seine Führungsrolle in Griechenland an das siegreiche Sparta abzugeben. Während der ersten Jahre

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des Krieges diente er in der schwerbewaffneten Infanterie und nahm an drei größeren Schlachten teil. Er erwarb sich den Ruf bemerkenswerter Tapferkeit, die sich besonders während eines Rückzugs nach einer verheerenden Niederlage bei Delium im Jahre 422 zeigte. Wieder in Athen, bekleidete er während der letzten Jahre des Krieges im Jahre 406 ein offizielles Amt in der Stadtversammlung. Einer Gruppe von Heerführern wurde der Prozess gemacht, weil sie die Leichname der Gefallenen nach einer siegreichen Seeschlacht bei den Arginusen zurückgelassen hatten. Es war verfassungswidrig, die Befehlshaber gemeinsam statt einzeln anzuklagen, doch Sokrates war der einzige, der gegen die Gesetzeswidrigkeit stimmte, und die Angeklagten wurden hingerichtet. Im Jahre 404, als der Krieg beendet war, ersetzten die Spartaner die athenische Demokratie durch eine Oligarchie, „die 30 Tyrannen“, an deren Terrorherrschaft man sich noch lange erinnerte. Als man ihm den Auftrag gab, einen unschuldigen Mann, Leon von Salamis, festzunehmen, ignorierte Sokrates diese Anweisung. Er weigerte sich, illegale Befehle anzunehmen, doch schien er an der Revolution, die die Oligarchie stürzte und die Demokratie wiederherstellte, nicht teilgenommen zu haben. Seine Aufrichtigkeit hatte zwischenzeitlich sowohl Demokraten als auch Aristokraten verärgert, und die wieder an die Macht gekommenen Demokraten erinnerten sich auch daran, dass einige seiner engen Gefährten, wie Kritias und Charmides, zu den Dreißig gehört hatten. Ein ehrgeiziger demokratischer Politiker, Anytus, erwirkte mit zwei anderen Gefährten, dass gegen Sokrates folgende Anklage erhoben wurde: „Sokrates versündigt sich durch Ableugnung der vom Staat anerkannten Götter sowie durch Einführung neuer göttlicher Wesen; auch vergeht er sich an der Jugend, indem er sie verführt. Der Antrag geht auf Todesstrafe.“ (D.L. 2. 40) Es gibt keine Aufzeichnungen über den Prozess, obwohl uns zwei von Sokrates’ Bewunderern fantasievolle Rekonstruktionen seiner Verteidigungsrede hinterlassen haben. Was er tatsächlich gesagt hat, konnte die 500 Geschworenen, bei denen es sich um Bürger Athens handelte, nicht in ausreichender Zahl umstimmen. Er wurde für schuldig befunden und – wenn auch nur mit knapper Mehrheit – zum Tode verurteilt. Nach einer kurzen Wartezeit im Gefängnis, die durch die Einhaltung eines religiösen Brauchs erforderlich war, nahm er im Frühjahr des Jahres 399 aus der Hand seines Gefängniswärters den totbringenden Schierlingsbecher entgegen. Der Vorwurf der Gottlosigkeit in der Anklage des Sokrates war nicht neu. Im Jahre 423 schrieb der Dramatiker Aristophanes eine Komödie, Die Wolken, in der eine Figur namens Sokrates auftritt, die eine Schule für betrügerische Machenschaften leitet, bei der es sich außerdem um ein Institut für fingierte Forschungen handelt. Die Studenten dieser Einrichtung lernen nicht nur, wie man mit schlechten Argumenten gute Argumente widerlegt, sondern sie studieren auch Astronomie, und zwar in einem Geist ehrfurchtloser Skepsis gegenüber der herkömmlichen Religion. Sie berufen sich auf ein neues Pantheon elementarer Gottheiten: Luft, Äther, Wolken und das Chaos (260–6). Die Welt, so lernen sie, wird nicht von Zeus, den es nicht

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gibt, regiert, sondern von Dinos (wörtlich: Wirbel), der Rotation der Himmelkörper (380 f.). Bei großen Teilen des Stückes handelt es sich um eine Parodie, die ganz offensichtlich nicht ernst gemeint war. So misst Sokrates darin beispielsweise, wie viele Flohmeter weit ein Floh springen kann, und er erforscht die Wolken in einem klapprigen Fluggerät. Doch der Vorwurf, dass die Astronomie mit Frömmigkeit nicht vereinbar sei, war ein gefährlicher Witz, wenn es ein Witz sein sollte. Schließlich hatte man erst im vorausgehenden Jahrzehnt Anaxagoras dafür verbannt, dass er behauptet hatte, die Sonne sei ein feuriger Metallklumpen. Am Ende des Stückes wird Sokrates’ Haus von einer aufgebrachten Menge, die ihn dafür bestrafen will, die Götter beleidigt und die Privatsphäre des Mondes verletzt zu haben, in Brand gesteckt. Für diejenigen, die sich an die Komödie des Aristophanes erinnerten, ahmte das Leben in den Ereignisse des Jahres 399 die Kunst auf deprimierende Weise nach. Einige der Eigenschaften, die Sokrates in den Wolken zugeschriebenen werden, legten ihm auch freundlichere Autoren bei. Man nimmt allgemein an, dass er einen Kugelbauch, eine Stupsnase, hervorstehende Augen und einen Watschelgang hatte. Er wird regelmäßig als von schäbigem Aussehen beschrieben, mit abgewetzter Kleidung, und als jemand, der gerne barfuß ging. Selbst Aristophanes stellt ihn als äußerst ausdauernd und unbekümmert angesichts von Mangel jeder Art dar: „niemals betäubt durch Kälte, niemals hungrig auf sein Frühstück wartend, ein Verächter von Wein und Völlerei“ (414–17). Nach anderen Quellen hat es den Anschein, als sei er ein Verächter von Wein nicht im Sinne eines Abstinenzlers gewesen, sondern insofern er eine ungewöhnlich große Mengen von Alkohol vertragen konnte (Platon, Smp. 214a). Sokrates war mit Xanthippe verheiratet und hatte mit ihr einen Sohn namens Lamprokles. Eine hartnäckiges, aber vermutlich gegenstandsloses Gerücht, stellt sie als einen Hausdrachen dar (D.L. 2. 36 f.). Nach einigen anderen antiken Autoren hatte er mit einer offiziellen Konkubine, Myrto (D.L. 2. 26), zwei weitere Söhne. In der Antike war er jedoch am besten für seine Zuneigung zu dem flamboyanten, 20 Jahre jüngeren Aristokraten Alkibiades bekannt. Hierbei scheint es sich zwar um eine leidenschaftliche Beziehung gehandelt zu haben, die aber dennoch, im Sinne des späteren Wortgebrauchs, platonisch geblieben ist.

Der Sokrates Xenophons In wichtigeren Fragen zu Sokrates’ Leben und Denken wissen wir mit Sicherheit nur Weniges. Für weitere Informationen sind wir hauptsächlich auf zwei Schüler angewiesen, deren Werke uns vollständig überliefert sind: auf den Soldaten und Historiker Xenophon und den idealistischen Philosophen Platon. Xenophon und Platon haben im Nachhinein Reden verfasst, mit denen sich Sokrates während seines Prozesses verteidigt hat. Xenophon hat zusätzlich vier Bücher mit Erinnerungen an Sokrates geschrieben sowie einen sokratischen Dialog, das Symposion. Platon schrieb außer der Apologie mindestens 25 weitere Dialoge, in denen Sokrates – mit nur einer Aus-

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nahme – vorkommt. Xenophon und Platon zeichnen Bilder von Sokrates, die sich ebenso deutlich voneinander unterscheiden wie die Bilder Jesu, die wir in den Evangelien von Markus und Johannes finden. Während der Jesus des Markus-Evangeliums in Parabeln und kurzen Sentenzen spricht und auf Fragen prägnant antwortet, hält der Jesus des vierten Evangeliums umfangreiche Reden mit mehrschichtigen Bedeutungen. Einen ähnlichen Gegensatz finden wir zwischen Xenophons Sokrates, der wie ein Handwerker fragt, argumentiert und ermahnt, und dem Sokrates in Platons Dialog Politeia, der tiefsinnige metaphysische Vorlesungen im Stil eines mehrschichtigen literarischen Kunstwerks hält; und wie es der Jesus des Johannes-Evangeliums war, der auf die spätere theologische Entwicklung den größten Einfluss genommen hat, so ist es der Sokrates Platons, dessen Ideen sich für die Geschichte der Philosophie als fruchtbar erwiesen haben. Nach Xenophon war Sokrates ein frommer Mann, der Rituale peinlich genau einhielt und die Orakel respektierte. In seinen Gebeten ließ er die Götter entscheiden, was für ihn gut sei, da die Götter allgegenwärtig und allwissend seien. Sie wüssten, was jeder gesprochen und getan habe und was jeder im Stillen beabsichtige (Mem. 1.2. 20; 3.2). Er lehrte, dass das Scherflein des armen Mannes den Göttern ebenso gefiel wie die großartigen Opfer der Reichen (Mem. 1. 3. 3). Er war ein ehrlicher, selbstbeherrschter Mann, frei von Habsucht und Ehrgeiz, der in seinen Wünschen maßvoll war und die Widrigkeiten des Lebens mit Geduld ertrug. Er war kein Erzieher, obwohl er die Jugend sowohl durch sein Verhalten als auch durch Belehrungen unterrichtete. Lasterhaftes Verhalten wies er zurück, sowohl durch ironische Reden und Geschichten als auch durch förmlichen Tadel. Man konnte es ihm nicht vorwerfen, dass sich einige Schüler, trotz seines guten Beispiels, zum Schlechten entwickelten; und obwohl er manchen Aspekten der Demokratie Athens kritisch gegenüberstand, war er ein Freund des Volkes und irgendwelcher Verbrechen und des Verrats völlig unschuldig (Mem. 1.2). Das Hauptanliegen Xenophons in seinen Erinnerungen bestand darin, Sokrates von sämtlichen während des Verfahrens gegen ihn erhobenen Vorwürfen zu entlasten, und zu zeigen, dass ihn konservative Athener aufgrund seines Lebenswandels verehrt, statt ihn zum Tode verurteilt haben sollten. Außerdem ist Xenophon sehr darum bemüht, den Abstand zwischen Sokrates und den anderen Philosophen des Zeitalters hervorzuheben. Im Gegensatz zu Anaxagoras habe er sich nicht für nutzlose Wissensgebiete wie Physik oder Astronomie interessiert (Mem. 1.1.16), und anders als die Sophisten habe er kein Honorar verlangt oder Fachwissen beansprucht, das er nicht besaß (Mem. 1.6 f.). Der Sokrates Xenophons ist ein aufrichtiger, etwas grobschlächtiger Mensch, der scharfsinnige und vernünftige Ratschläge in praktischen und moralischen Angelegenheiten geben kann. In der Diskussion klärt er Doppeldeutigkeiten schnell auf und entlarvt leere Phrasen, doch begibt er sich nur selten in philosophische Streitgespräche oder ergeht sich in Spekulationen. In dem seltenen Fall, in dem der dies tut, geht es ihm bezeichnenderweise darum, die Existenz und Vorsehung Gottes zu beweisen.

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Wenn ein Objekt nützlich ist, so argumentiert Sokrates, muss es das Ergebnis von Planung, kann es kein Produkt des Zufalls sein. Nun sind unsere Sinnesorgane überaus nützlich und kompliziert gebaut. „Da unsere Augen empfindlich sind, sind sie mit Lidern geschützt, die sich öffnen, wenn wir sie brauchen, und die sich im Schlaf schließen. Damit sie nicht einmal der Wind beschädigen kann, wurden Wimpern zu ihrem Schutz angebracht, und unsere Stirn ist mit Brauen versehen, die verhindern, dass ihnen der Schweiß des eigenen Kopfes Schaden zufügt.“ (Mem. 1. 4. 6) Derartige Vorkehrungen sowie die Tatsache, dass die Instinkte zur Fortpflanzung und Selbsterhaltung in uns gelegt wurden, sehen wie die Handlungen eines weisen und wohlwollenden Kunsthandwerkers (demiourgos) aus. Es ist arrogant anzunehmen, dass wir Menschen die einzigen Wesen im Universum sind, die Geist besitzen. Zwar ist es zutreffend, dass wir die kosmische Intelligenz, die das unendliche, unüberschaubare Universum regiert, nicht sehen können, doch können wir die Seelen, die unsere Körper steuern, ebenfalls nicht sehen. Außerdem ist es absurd anzunehmen, der Mensch sei den kosmischen Mächten gleichgültig: Sie haben ihn vor allen anderen Tieren bevorzugt, indem sie ihm einen aufrechten Gang, zu zahlreichen Zwecken nützliche Hände, eine verständliche Sprache sowie einen ganzjährigen Paarungswunsch gegeben haben (Mem. 1.4. 11 f.). Außer dieser Vorwegnahme des zeitlosen teleologischen Arguments finden wir im Werk Xenophons nur wenig, was Sokrates zu einer wichtigen Stellung in der Geschichte der Philosophie berechtigen würde. In der Breite ihrer Interessen, ihrer Einsicht und Originalität sind ihm mehrere der Vorsokratiker mehr als ebenbürtig. Der Sokrates, der Generationen von Philosophen stets aufs Neue fasziniert hat, ist der Sokrates Platons und er ist es, dem wir uns im Folgenden zuwenden werden.

Der Sokrates Platons Es ist allerdings eine Vereinfachung von dem platonischen Sokrates zu sprechen, da der Sokrates genannten Figur in Platons Dialogen keine feste Rolle oder Persönlichkeit zugewiesenen wird. In einigen Dialogen ist er hauptsächlich ein kritisch Fragender, der das angemaßte Wissen anderer Charaktere durch eine charakteristische Technik von Frage und Antwort – den elenchus – angreift und auf diese Weise der Widersprüchlichkeit überführt. In anderen Dialogen ist Sokrates durchaus bereit, seinen Zuhörern eine Moralpredigt zu halten und in dogmatischer Form ein ethisches und metaphysisches System zu entfalten. In wieder anderen Dialogen spielt er nur eine Nebenrolle und überlässt die philosophische Initiative einem anderen Protagonisten. Bevor wir fortfahren, müssen wir daher zunächst ein wenig abschweifen und der Frage nachgehen, wann und wo wir davon ausgehen können, dass die Dialoge Sokrates’ Ansichten wiedergeben und wann und wo Sokrates als Sprachrohr für Platons eigene Philosophie dient. In den letzten Jahrhunderten haben Gelehrte versucht, diese Unterschiede chro-

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Sokrates und Platon. Porträt aus dem 13. Jahrhundert von Matthew Paris. Wer unterrichtet wen?

nologisch zu erklären: Die Sokrates in den verschiedenen Dialogen zugewiesenen unterschiedlichen Rollen stellen die Entwicklung von Platons Denken und seine allmähliche Emanzipation von den Lehrern seines Meisters dar. Der ursprüngliche Hinweis auf eine chronologische Anordnung der Dialoge stammt von Aristoteles, der uns mitteilt, dass Platons Dialog Nomoi (Die Gesetze) nach dem Dialog Politeia (Der Staat) geschrieben worden sei (Pol. 2. 6. 1264b24–7). Tatsächlich gibt es eine Tradition, die behauptet, dass der Dialog Nomoi zum Zeitpunkt von Platons Tod noch nicht fertiggestellt war (D.L. 3. 37). Auf der Grundlage dieser Annahme versuchten Gelehrte im 19. Jahrhundert eine Umgruppierung der Dialoge, angefangen von Platons letzter Lebensphase. Sie studierten die Häufigkeit, mit der in den verschiedenen Dia-

Der Sokrates Platons

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logen unterschiedliche stilistische Merkmale auftauchen, wie zum Beispiel die Verwendung technischer Begriffe, die Bevorzugung bestimmter synonymer Ausdrücke, die Vermeidung von Lücken sowie die Übernahme bestimmter Sprachrhythmen. Auf der Grundlage dieser stilometrischen Studien, die am Ende des 19. Jahrhunderts etwa 500 verschiedene linguistische Kriterien abdeckten, fand die Annahme allgemeine Zustimmung, dass sich eine Gruppe von Dialogen durch ihre Ähnlichkeit mit den Nomoi auszeichne. Sämtliche Forscher stimmten darin überein, dass zu dieser Gruppe die Dialoge Kritias, Philebos, Sophistes, Politikos und Timaios gehörten, und alle waren sich darin einig, dass diese Gruppe der letzten schriftstellerischen Phase von Platon angehörten. Bezüglich der Reihenfolge innerhalb dieser Gruppe gab es keinen vergleichbaren Konsens, doch ist es erwähnenswert, dass diese Gruppe sämtliche Dialoge enthält, in denen die Rolle des Sokrates auf ein Minimum reduziert ist. Allein im Dialog Philebos ist er eine bedeutende Figur. In den Nomoi kommt er überhaupt nicht vor, und im Timaios, Kritias, Sophistes und Politikos spielt er lediglich eine Nebenrolle, während die Hauptrolle ein anderer übernimmt. In den ersten beiden Dialogen ist dies der jeweilige Protagonist, nach dem der Dialog benannt ist, und in den beiden späteren ein Fremder aus Elea, der Heimatstadt des Parmenides. Es scheint daher sinnvoll anzunehmen, dass die Dialoge dieser Gruppe die Ansichten des reifen Platon wiedergeben, statt derjenigen seines bereits vor Jahren gestorbenen Lehrers. Bei der Einteilung der früheren Dialoge in Gruppen konnten die Forscher ebenfalls einem von Aristoteles gegebenen Hinweis folgen. In der Metaphysik M 4. 1078b 27–32 erläutert er die Vorgeschichte von Platons Ideenlehre und weist Sokrates folgende Rolle zu: „Zweierlei nämlich ist es, was man mit Recht dem Sokrates zuschreiben kann: die Induktionsbeweise und die allgemeinen Definitionen; dies beides nämlich geht auf das Prinzip der Wissenschaft. Sokrates aber setzte das Allgemeine und die Begriffsbestimmungen nicht als abgetrennte, selbstständige Wesenheiten; die Anhänger der Ideenlehre aber trennten sie und nannten diese Ideen der Dinge.“ Darstellungen der Ideenlehre werden Sokrates in mehreren wichtigen Dialogen in den Mund gelegt, insbesondere im Phaidon, in der Politeia und im Symposion. In diesen Dialogen erscheint Sokrates nicht als nachforschend Fragender, sondern als Lehrer im vollen Besitz eines Systems der Philosophie. Nach stilometrischen Kriterien stehen diese Dialoge der bereits beschriebenen letzten Gruppe näher als andere Dialoge. Es ist daher sinnvoll, sie innerhalb des platonischen Gesamtwerks als eine mittlere Gruppe zu behandeln und davon auszugehen, dass sie Platons eigene Philosophie statt derjenige des Sokrates darstellen. Eine dritte Gruppe von Dialogen lässt sich anhand einer Reihe gemeinsamer Merkmale identifizieren: (1) Sie sind kurz; (2) Sokrates taucht darin als Fragender und nicht als Lehrer auf; (3) die Ideenlehre wird darin nicht vorgestellt; und (4) nach stilometrischen Kriterien haben sie von der zuerst beschriebenen späten Gruppe den größten Abstand. Zu dieser Gruppe gehören die Dialoge Kriton, Charmides, Laches, Lysis, Ion, Euthydemus und Hippias Minor. Man geht im Allgemeinen davon aus, dass

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diese Dialoge Darstellungen der philosophischen Ansichten des historischen Sokrates enthalten. Hierher gehört auch die Apologie, in der Sokrates der einzige Sprecher ist, der vor Gericht um sein Leben kämpft. Dieser Dialog gleicht seinem philosophischen Inhalt und stilometrischen Eigenschaften nach den anderen Dialogen der Gruppe. Auch das erste Buch der Politeia gleicht bezüglich Inhalt und Stil dieser Gruppe mehr als den anderen Büchern des Dialogs: Einige Gelehrte nehmen mit guten Gründen an, dass es zunächst als eigener Dialog existierte, vielleicht mit dem Titel Thrasymachos. Es ist schwer, eine zeitliche Reihenfolge innerhalb dieser frühen Gruppe festzulegen, obwohl einige Autoren den Dialog Lysis an die erste Stelle setzen und ihn vor 399 datieren, denn es gibt eine antike Anekdote, nach der dieser Dialog Sokrates selbst vorgelesen worden sein soll und woraufhin dieser gesagt haben soll: „Beim Herakles, was der junge Mann doch alles über mich zusammenlügt“ (D.L. 3.35). Nach meiner Ansicht gibt es gute Gründe, die allgemeine Übereinstimmung zu akzeptieren, nach der die platonischen Dialoge in drei Gruppen eingeteilt werden: die Gruppe der frühen, mittleren und späten Dialoge. Diese Einteilung ist das Ergebnis der frappierenden Koinzidenz von drei unabhängigen Arten von Kriterien: dramatischen, philosophischen und stilometrischen. Unabhängig davon, ob wir die dramatische Rolle betrachten, die Sokrates zugewiesen wird, oder den philosophischen Inhalt der Dialoge oder die aussagekräftigen Einzelheiten des Stils und der Wortwahl: Wir gelangen in jedem Fall zur gleichen Aufteilung in drei Gruppen. Die Entwicklungen in der Stilometrie des 20. Jahrhunderts, die über wesentlich präzisere statistische Techniken verfügte und über eine riesige Menge neuer Daten, die sich durch die Computerisierung der Texte erschlossen hat, hat im Großen und Ganzen lediglich den Konsensus bestätigt, der bereits gegen Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts erreicht worden war. 25 Eine Reihe von Dialogen lassen sich keiner dieser drei Gruppen eindeutig zuordnen, weil die drei Kriterien in ihrem Fall nicht so glücklich zusammentreffen. Die wichtigsten Dialoge, für die dies gilt, sind Kratylos, Euthyphron, Gorgias, Menon, Phaedros, Parmenides, Protagoras und der Theaitetos. Hier haben neuere stilometrische Untersuchungen neues Licht auf die Probleme geworfen. 26 Es würde den hier gesteckten Rahmen sprengen auf die Argumente, mit denen diese Dialoge einer bestimmten Schaffensphase zugeordnet werden, im Detail einzugehen, sodass ich im Folgenden einfach diejenige Chronologie wiedergeben werde, die mir nach einer Prüfung der drei Kriterienarten die wahrscheinlichste zu sein scheint. Gorgias, Protagoras und Menon scheinen zwischen die erste und zweite Gruppe 25 Ernsthaft infrage gestellt wurde dieser Konsensus nur für den Timaios und seinen Anhang, den Kritias. Auf die entsprechende Diskussion werde ich später eingehen, wenn ich die Ideenlehre Platons erörtere. 26 Vgl. L. Brandwood, The Chronology of Plato’s Dialogues (Cambridge: Cambridge University Press, 1990); G. Ledger, Re-counting Plato: A Computer Analysis of Plato’s Style (Oxford: Clarendon Press, 1989); J. T. Temple, „A Multivariate Synthesis of Published Platonic Stylometric Data“, Literary and Linguistic Computing, 11/2 (1996), 67–75.

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zu gehören. Obwohl die Ideenlehre in den Diskussionen dieser Dialoge nicht vorkommt, steht die Rolle des Sokrates dem didaktischen Philosophen der mittleren Dialoge näher als dem agnostisch Fragenden der frühen Dialoge. Aufgrund philosophischer Erwägungen ergibt sich die Reihenfolge Protagoras, Gorgias, Menon; die aus stilometrischen Untersuchungen hervorgehende Reihenfolge lautet: Menon, Protagoras, Gorgias. Im Stil steht der Dialog Kratylos diesen dreien nahe, es ist jedoch schwierig, ihn exakt zu platzieren. Der Dialog Euthyphron gilt im Allgemeinen als früher Dialog, doch enthält er einen Hinweis auf die Ideenlehre, und nach stilistischen Kriterien steht er dem Gorgias nahe. Daher würde ich ihn dieser Zwischengruppe zuordnen. In der Antike ging man manchmal davon aus, dass der Phaidros der früheste von Platons Dialogen ist (D.L. 3. 38), doch aufgrund einzelner darin auftauchender Lehrstücke und stilistischer Kriterien passt der Dialog relativ gut in die mittlere Gruppe. Dies trifft für zwei andere wichtige Dialoge, die dem Phaedros stilistisch nahe stehen, nämlich für den Parmenides und den Theaitetos, nicht zu. Inhaltlich haben diese Werke einen relativ großen Abstand von der klassischen Ideenlehre, die im Theaitetos ignoriert 27 und im Parmenides einer strengen Kritik unterworfen wird. In der Struktur unterscheidet sich der Parmenides von allen anderen Dialogen; der Theaitetos gleicht den Dialogen der frühen Gruppe. Interne Referenzen im Theaitetos schauen auf den Parmenides zurück (Tht. 183e) und auf den Sophistes voraus (Tht. 210d). Alles in allem scheint es vernünftig, diese beiden Dialoge zwischen die mittleren und späten Dialogen einzuordnen, doch können wir die Probleme, die sich bei dem Versuch ergeben, eine zusammenhängende Darstellung von Platons philosophischer Position in dieser Phase zu geben, erst diskutieren, nachdem wir die Ideenlehre dargestellt haben.

Sokrates’ eigene Philosophie Eine plausible Chronologie der platonischen Texte zu erstellen, war erforderlich, um verständlich zu machen, als wie sichere Informationsquelle über den historischen Sokrates man Platon ansehen kann. Nachdem wir dies getan haben, können wir nun Sokrates’ eigene Philosophie darstellen, wie sie in den frühen Dialogen seines Schülers wiedergegeben ist. In der Apologie ist Platon, wie Xenophon, vor allem bestrebt, Sokrates gegen den Vorwurf des Atheismus zu verteidigen. Er weist auf die Widersprüchlichkeit der beiden Vorwürfe hin, dass er Atheist sei und fremde Gottheiten einführe. Außerdem weist er auf den geistigen Abstand zwischen Sokrates und dem säkularen Physikalismus des Anaxagoras hin. Dass Sokrates in der Apologie bestreitet, sich jemals mit Physik beschäftigt zu haben (Apol. 19d), will nicht so recht überzeugen, auch wenn diese Behauptung später von Aristoteles wiederholt wird 27 Anm. d. Übers.: Wenn man von der Digression (172c–177c) absieht.

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(Metaph. A 6. 987b2). Wenn Sokrates sich niemals im geringsten für Fragen der Kosmologie interessiert hätte, wäre seine Verhöhnung durch Aristophanes so abwegig gewesen, dass niemand über diesen Spott hätte lachen können. Außerdem lässt auch Platon Sokrates im Phaidon zugeben, dass er einmal die Neugier des Anaxagoras über die Frage, ob die Erde flach oder rund sei, ob sie sich in der Mitte des Universums befinde, und welches die Ursache der Bewegung und Geschwindigkeit der Sonne, des Mondes und der anderen Himmelskörper sei, geteilt habe (Phd. 97d–99a). Möglicherweise war es Sokrates’ Enttäuschung über Anaxagoras, die ihn dazu brachte, naturwissenschaftliche Nachforschungen aufzugeben und sich auf die Fragen zu konzentrieren, die nach der Apologie und nach Aristoteles den späteren Teil seines Lebens dominierten. Nach Platon und Xenophon war ein weiterer Faktor, der seinem Interesse die Richtung gab, ein Orakel, das von einer verzauberten Priesterin im Heiligtum von Delphi im Namen des Apollon gesprochen wurde. Als sie gefragt wurde, ob es in Athen jemanden gebe, der weiser als Sokrates sei, hatte die Priesterin diese Frage verneint. Sokrates gestand, dass er durch diese Antwort verblüfft worden sei, und er begann, verschiedene Personengruppen zu befragen, die beanspruchten, über Wissen verschiedener Art zu verfügen. Es stellte sich sehr bald heraus, dass Politiker und Dichter über gar kein echtes Fachwissen verfügten, und dass Handwerker, die in einem bestimmten Bereich tatsächlich Experten waren, nur so taten, als ob sie über eine allgemeine Weisheit verfügten, die sie nicht beanspruchen konnten. Sokrates gelangte auf diese Weise zu der Schlussfolgerung, dass das Orakel Recht hatte, da er allein erkannte, dass seine eigene Weisheit wertlos sei (Apol. 23b). Vor allem in Fragen der Ethik war es am wichtigsten, wirkliches Wissen zu erstreben und falsche Behauptungen aufzudecken. Denn nach Sokrates waren Tugend und ethisches Wissen ein und dasselbe: Niemand, der wirklich wusste, was am besten zu tun sei, könne dies nicht tun, und alles Fehlverhalten sei eine Folge von Nichtwissen. 28 Diese Behauptung lässt den Vorwurf, er habe die Jugend verdorben, umso absurder erscheinen. Offenbar würde jeder es vorziehen, unter tugendhaften statt moralisch schlechten Menschen zu leben, die einem Schaden könnten. Er kann daher keinen Grund gehabt haben, die Jugend absichtlich zu verführen; und sollte er es unabsichtlich tun, sollte er unterwiesen, nicht gerichtlich verfolgt werden (Apol. 26a). In der Apologie behauptet Sokrates nicht, über das Wissen zu verfügen, das dazu ausreichen würde, jemanden an moralischem Fehlverhalten zu hindern. Stattdessen, sagte er, vertraue er auf eine innere göttliche Stimme, die sich immer melde, wenn er im Begriff sei, einen falschen Schritt zu tun. Weit davon entfernt, ein Atheist zu sein, war sein ganzes Leben einer göttlichen Mission gewidmet, dem Kampf um die Aufdeckung falscher Weisheit, zu dem er durch das delphische Orakel bestimmt wurde. Es käme wirklich einem Verrat an Gott gleich, wenn er seinen Posten aus Todesangst verlassen würde. Wenn man ihn unter der Bedingung freilassen würde, dass er phi28 Eine ausführlichere Erörterung dieser bemerkenswerten Lehre findet der Leser im Abschnitt über das „sokratische Paradoxon“ in Kapitel 8.

Sokrates’ eigene Philosophie

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losophische Nachforschungen aufgebe, würde er antworten: „Ich bin euch, ihr Athener, zwar zugetan und freund, gehorchen aber werde ich dem Gotte mehr als euch, und solange ich noch atme und es vermag, werde ich nicht aufhören, nach Weisheit zu suchen und euch zu ermahnen.“ (Apol. 29d) Die frühen Dialoge Platons zeigen Sokrates bei der Durchführung seiner philosophischen Mission. Typischerweise wird ein Dialog nach einer Person benannt, die Wissen auf einem bestimmten Gebiet beansprucht oder die als Repräsentant einer bestimmten Tugend angesehen werden kann. Der Dialog Ion, über die Dichtkunst, ist nach einem preisgekrönten Rhapsoden (einem Rezitator Homers) benannt, der Dialog Laches, über die Tapferkeit, nach einem namhaften General. Charmides und Lysis, über Leidenschaft, Mäßigung und Freundschaft, sind nach zwei intelligenten jungen Männern benannt, um die sich jeweils ein Kreis von aristokratischen Bewunderern scharte. In jedem dieser Dialoge sucht Sokrates nach einer wissenschaftlichen Erklärung oder Definition des diskutierten Begriffs, und durch seine Fragen zeigt sich, dass der namensgebende Protagonist nicht imstande ist, eine solche zu liefern. Die Dialoge enden ausnahmslos mit dem scheinbaren Scheitern der Untersuchung, womit sich die Schlussfolgerung der Apologie bestätigt, dass diejenigen, von denen man am meisten erwarten würde, dass sie über Weisheit und Einsicht zu einem bestimmten Thema verfügen, während einer Prüfung unfähig sind, dies unter Beweis zu stellen. Die Suche nach Definitionen dient in verschiedenen Dialogen unterschiedlichen Zwecken: Im ersten Buch der Politeia wird eine Definition der Gerechtigkeit gesucht, um entscheiden zu können, ob Gerechtigkeit demjenigen nützt, der sie besitzt, und im Dialog Euthyphron wird nach einer Definition der Frömmigkeit gesucht, um eine besonders schwierige Gewissensfrage entscheiden zu können. Doch hatte Aristoteles Recht, als er die Suche nach Definitionen als kennzeichnende Eigenschaft der sokratischen Methode bezeichnete. Man hat die Methode manchmal dafür kritisiert, dass sie die ungültige Behauptung enthalte, wir könnten niemals wissen, ob eine bestimmte Handlung zum Beispiel gerecht oder fromm ist oder nicht, solange wir über keine unanfechtbare Definition der Gerechtigkeit oder Frömmigkeit verfügen. Eine solche Behauptung würde der Praxis des Sokrates widersprechen, die er im Laufe seines elenchus zur Suche nach Übereinstimmung darüber befolgt, ob bestimmte Handlungen (wie zum Beispiel die Rückgabe eines ausgeliehenen Messers an einen Verrückten oder der strategische Rückzug in einer Schlacht) eine bestimmte Tugend bezeugen, wie etwa Gerechtigkeit oder Tapferkeit. Sokrates’ Methode impliziert lediglich die schwächere Behauptung, dass wir ohne eine allgemeine Definition einer Tugend nicht in der Lage sind (a) anzugeben, ob die Tugend im Allgemeinen über eine bestimmte Eigenschaft verfügt, wie zum Beispiel diejenige, lehrbar oder nützlich zu sein, oder (b) in besonders schwierigen Grenzfällen zu einer Entscheidung zu gelangen, wie zum Beispiel in der folgenden Situation: Verstößt es gegen die Frömmigkeit, wenn ein Sohn seinen Vater für die Tötung eines angeklagten Mörders gerichtlich verfolgt? Das andere von Aristoteles hervorgehobene Merkmal der sokratischen Methode,

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d. h. die Verwendung induktiver Argumente, setzt voraus, dass wir uns der Wahrheit einzelner Fälle bereits sicher sein können, während wir noch nach einer allgemeinen Definition suchen. Platons Sokrates beansprucht nicht, im Besitz einer unwiderlegbaren Definition der techne oder Geschicklichkeit zu sein; aber dennoch untersucht er wiederholt bestimmte Kunstfertigkeiten, um allgemeine Wahrheiten über ihr Wesen zu gewinnen. So versucht er beispielsweise im ersten Buch der Politeia zu zeigen, dass der Test, ob jemand ein guter Handwerker ist oder nicht, nicht darin besteht, ob er sehr viel Geld verdient, sondern darin, ob er den Empfängern seiner Kunstfertigkeit nützt. Um dies zu zeigen, geht er die Produkte verschiedener Handwerke und Fertigkeiten durch: Ein guter Arzt stellt die Gesundheit seiner Patienten wieder her, ein guter Kapitän führt sein Schiff sicher ans Ziel, ein fähiger Baumeister baut ein gutes Haus, usw. Wie viel Geld diese Leute verdienen, spielt für die Qualität ihrer Kunstfertigkeit keine Rolle. Ihr Einkommen zeigt lediglich, wie gut sie die sehr verschiedene Geschicklichkeit des Geldverdienens beherrschen (Pol. 1. 346a–e). Die beiden von Aristoteles als zur sokratischen Methode gehörenden Verfahren sind eng miteinander verwandt. Das induktive Argument, das von besonderen Fällen auf allgemeine Wahrheiten schließt, leistet einen Beitrag zur allgemeinen Definition, obwohl dieser Beitrag in diesen Dialogen stets unvollständig bleibt und niemals auf eine Definition führt, zu der sich keine Ausnahme mehr finden lässt. Angesichts des Fehlens einer allgemeinen Definition der Tugend werden die allgemeinen Wahrheiten verwendet, um schwierige Grenzfälle der Praxis zu entscheiden und um vorläufige Hypothesen über die Eigenschaften der Tugend zu bewerten. So wird beispielsweise in der Politeia das induktive Argument verwendet, um zu zeigen, dass derjenige ein guter Herrscher ist, der seinen Untergebenen nützt, und dass, was gerecht ist, daher nicht (wie einer der Charaktere in dem Dialog behauptet) einfach mit demjenigen gleichgesetzt werden darf, was für die Machthaber von Vorteil ist. In diesen frühen Dialogen über die Tugend tauchen – trotz Sokrates’ Beteuerung der Unwissenheit – dennoch eine Reihe von Thesen sowohl über das Wissen als auch über die Tugend auf. In späteren Kapiteln über Erkenntnistheorie und Ethik werden wir hierauf noch näher eingehen. Vorerst wollen wir lediglich darauf hinweisen, dass die Probleme sich auf die eine Frage zuspitzen: Ist die Tugend lehrbar? Denn wenn Tugend in Wissen besteht, ist sie gewiss lehrbar. Dennoch ist es schwer, irgendeinen erfolgreichen Lehrer der Tugend zu nennen. In Athen gab es jedoch keinen Mangel an Leuten, die behaupteten, über das relevante Fachwissen zu verfügen: die Sophisten. Am Ende der frühen Periode, und vor der mittleren Phase von Platons schriftstellerischer Karriere, finden wir eine Reihe von Dialogen, die nach bekannten Sophisten benannt sind – Hippias, Gorgias, Protagoras – und der Frage nachgehen, ob die Tugend lehrbar ist. In jedem Fall wird die Behauptung der Sophisten, das Geheimnis der Lehrbarkeit der Tugend zu kennen, als unhaltbar erwiesen. Der Dialog Hippias Minor entwickelt eine große Schwierigkeit für die Theorie, die Tugend sei eine Geschicklichkeit, die erlernt werden könne. Ein Handwerker, der unwissend einen Fehler macht, versteht seine Kunst weniger gut als

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ein Handwerker, der einen Fehler absichtlich macht. Wenn die Tugend daher eine Geschicklichkeit ist, ist derjenige, der sich absichtlich untugendhaft verhält, tugendhafter als jemand, der aus Unwissenheit etwas moralisch Falsches tut. Der Dialog Gorgias liefert Argumente für die Behauptung, dass Rhetorik, der wichtigste Pfeil im Köcher der Sophisten, unfähig ist, wahrhafte Tugend zu bewirken. Der Dialog Protagoras scheint schließlich nahezulegen – sei es ernsthaft oder ironisch –, dass die Tugend tatsächlich lehrbar ist, da es sich hierbei um die Kunst handele, die Lustund Schmerzensanteile an den Folgen der eigenen Handlungen zu berechnen.29

Von Sokrates zu Platon Ob dies nun tatsächlich Sokrates’ letztes Wort über die Lehrbarkeit der Tugend gewesen ist oder nicht, der Leser der platonischen Dialoge begegnet im Menon und Phaidon schon bald einer ganz anderen Antwort: Die Tugend und die Kenntnis des Guten und Bösen, die für Sokrates mit der Tugend identisch ist, kann in diesem Leben nicht gelehrt werden. Sie kann nur durch Wiedererinnerung an eine andere, bessere Welt wiedergewonnen werden. Dies wird nicht als eine spezielle These über die Tugend vorgestellt, sondern als generelle Behauptung über das Wissen. Im Dialog Menon wird behauptet, dass ein Sklavenjunge, der nie zuvor Unterricht in Geometrie erhalten hat, durch geeignete Fragen dazu gebracht werden kann, sich an wichtige geometrische Lehrsätze zu erinnern (Men. 82b–86a). Im Dialog Phaidon wird die Behauptung aufgestellt, dass wir – obwohl wir häufig Dinge sehen, die mehr oder weniger gleich groß sind – niemals zwei Dinge sehen, die absolut identisch sind. Die Idee der absoluten Gleichheit kann daher nicht aus der Erfahrung gewonnen, sondern muss in einem früheren Leben erworben worden sein. Dasselbe gilt auch für ähnliche Ideen, wie zum Beispiel das absolut Gute und Schöne (Phd. 74b–75b). Die Dialoge Menon und Phaidon führen daher zwei Lehren ein, die Ideen- und die Wiedererinnerungslehre, die nach dem allgemeinen Urteil der Forschung Platon und nicht dem historischen Sokrates zuzurechnen sind. Sie nehmen die „Trennung“ vor, von der Aristoteles gesprochen hatte: zwischen den von Sokrates gesuchten allgemeinen Definitionen und den empirischen Gegenständen unserer Alltagswelt. Der Dialog Phaidon enthält auch Platons Darstellung von Sokrates’ letzten Tagen im Gefängnis. Sokrates Freund Kriton war es (in einem nach ihm benannten Dialog) nicht gelungen, für seinen Fluchtplan Zustimmung zu finden. Sokrates lehnte diesen Vorschlag mit der Begründung ab, dass er den Gesetzen Athens, unter denen er geboren und großgezogen worden sei und zufrieden gelebt habe, so viel verdanke, dass er jetzt dem Bündnis mit ihnen nicht den Rücken kehren und davonlaufen könne (Phd. 51d–54c). Mit der Ankunft eines Schiffes von der heiligen Insel Delos ging die aus religiösen Gründen einzuhaltende Aufschubsfrist der Hinrichtung zu Ende, und 29 Siehe Kapitel 8.

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Sokrates bereitet sich auf den Tod vor, indem er mit seinen Freunden ein langes Gespräch über die Unsterblichkeit der Seele führt. 30 Das Gespräch endet damit, dass Sokrates eine Reihe von Mythen über die Reisen der Seele in die Unterwelt erzählt, nachdem sie den Tod überlebt hat. Kriton fragt, ob Sokrates irgendwelche Anweisungen bezüglich des Begräbnisses habe. Ihm wird gesagt, er solle bedenken, dass sie nur seinen Körper und nicht die Seele, die die Freude der Seligen teilen werde, beerdigen würden. Nach seinem letzten Bad verabschiedet sich Sokrates von seiner Familie, scherzt mit dem Gefängniswärter und nimmt den Schierlingsbecher aus seiner Hand entgegen. Es wird beschrieben (was medizinisch eher unplausibel ist), wie gelassen und gefasst er sich gibt, während seine Gliedmaßen nach und nach empfindungslos werden. Seine letzten Worte sind, wie so viele in seinem Leben, rätselhaft: „Oh Kriton, wir sind dem Asklepios [dem Gott der Heilkunst] einen Hahn schuldig, entrichte ihm den und versäume es ja nicht.“ Auch hier fragt man sich, ob das Gesagte wörtlich zu verstehen ist, oder ob wir es mit einem Fall der für Sokrates typischen Ironie zu tun haben. Es ist wahrscheinlich kein Zufall, dass Platon in ein und demselben Dialog die letzten Stunden von Sokrates’ Leben beschreibt und zum ersten Mal eine klare Darstellung seiner eigenen Ideenlehre gibt. Wir werden zu Zeugen nicht nur von Sokrates’ physischem Ende, sondern auch des Untergangs seiner persönlichen Philosophie, die in der Folge in der metaphysischeren und mystischen Form des Platonismus wiedergeboren wird. Als Sokrates starb, war Platon, der acht Jahre lang sein Schüler gewesen war, in seinen späten 20er Jahren. Als Angehöriger einer aristokratischen Familie Athens war Platon gerade alt genug, um am Peleponnesischen Krieg teilgenommen zu haben; seine Brüder Glaukon und Adeimantos nahmen mit Sicherheit daran teil. Seine Onkel Kritias und Charmides waren zwei der 30 Tyrannen, er selbst nahm am politischen Leben Athens jedoch nicht teil. Im Alter von 40 Jahren ging er nach Sizilien und wurde ein Vertrauter von Dion, dem Schwager des regierenden Monarchen Dionysos I. Während dieses Aufenthalts lernte er den pythagoreischen Philosophen Archytas kennen. Nach seiner Rückkehr nach Athen gründete er in einem kleinen privaten Waldstück neben seinem Haus eine philosophische Gemeinschaft: die Akademie. Dort verfolgte eine Gruppe von Denkern unter seiner Leitung gemeinsam ihre Interessen in der Mathematik, Astronomie, Metaphysik, Ethik und Mystik. Als er 60 Jahre alt war, wurde er von Dions Neffen, der in der Zwischenzeit als Dionysios II den Thron bestiegen hatte, erneut nach Sizilien eingeladen. Doch sein Besuch war nicht von Erfolg gekrönt, weil sich Dion und Dionysios zerstritten. Ein dritter Besuch als königlicher Berater verlief ebenfalls erfolglos, und Platon kehrte im Jahre 360 enttäuscht in seine Heimatstadt zurück. Im Jahre 347 starb er, selbst unverheiratet, im Alter von 80 Jahren auf einer Hochzeit in Athen eines friedlichen Todes. Platons Leben wurde von den Schriftstellern der Antike mit zahlreichen Ge30 Der philosophische Inhalt dieses Gesprächs wird in Kapitel 7 analysiert.

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Eine Herme des Sokrates, mit einem Zitat aus Platons Dialog Kriton.

schichten umrankt, von denen nur wenigen Glauben geschenkt werden kann. Wenn wir die Grunddaten seiner Biografie durch weitere Details erweitern möchten, lesen wir am besten die Briefe, die traditionellerweise in seine Werke aufgenommen wurden. Obwohl einige, wenn nicht sogar alle, aus der Feder anderer Autoren stammen, enthalten sie Informationen, die wesentlich plausibler sind als die Anekdoten, die in Diogenes Laertius’ Darstellung von Platons Leben zu finden sind. Die Briefe geben an, dass sie aus den letzten zwei Jahrzehnten von Platons Leben stammen. Sie handeln hauptsächlich von seiner Verwicklung in die Regierung von Syrakus und von seinem

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Versuch, eine Gewaltherrschaft in einen Staat mit einer Verfassung zu verwandeln, die seine eigenen politischen Ideale verkörpert. Die uns von Platon überlieferten Werke umfassen insgesamt eine halbe Million Wörter. Obwohl wahrscheinlich einige der im platonischen Corpus enthaltenen Werke unecht sind, gibt es keine Platon in der Antike zugeschriebenen Dialoge, die nicht überlebt haben. Spätere antike Autoren haben nicht nur umfangreiche Passagen aus seinen Dialogen zitiert, sondern zeitweilig auch der mündlichen Tradition seiner Vorlesungen in der Akademie eine Bedeutung beigemessen. Da Platon in Dialogform geschrieben hat und er in den Dialogen niemals selbst als Sprecher auftaucht, lässt sich nur schwer mit Sicherheit sagen, welche der vielfältigen philosophischen Thesen, die von seinen Charakteren vorgetragen werden, er selbst vertrat. Ein Paradebeispiel hierfür hat sich uns im Fall des platonischen Sokrates gezeigt, doch muss man ähnliche vorsichtig sein, wenn man versucht, ihm die Lehren der anderen wichtigen Gesprächspartner in den Dialogen zuzuschreiben: von Timaios, des eleatischen Fremden in den Dialogen Sophistes und Politikos sowie des athenischen Fremden in den Nomoi. Die Dialogform ermöglichte es Platon, sich in wichtigen philosophischen Fragen des Urteils zu enthalten, während er gleichzeitig die stärksten Argumente, die er finden konnte, auf beiden Seiten der Frage vortrug (siehe D.L. 3.52).

Die Ideenlehre Die bekannteste der Lehren, denen wir in Platons Dialogen begegnen, ist die Ideenlehre. In den mittleren Dialogen, angefangen mit dem Euthyphron, wird auf diese Lehre Bezug genommen. Sie wird als wahr vorausgesetzt oder als Argumentationsgrundlage verwendet, statt dass sie explizit dargestellt und formal begründet würde. Die deutlichste Kurzdarstellung der Lehre findet sich nicht in den Dialogen, sondern im siebten der Platon traditionellerweise zugeschriebenen Briefe. Er dient hauptsächlich der Verteidigung von Platons Aktivitäten in Sizilien. In neuerer Zeit hat man die Echtheit dieses Briefes häufig bezweifelt. Es gibt jedoch keinen besseren Grund, Platons siebten Brief an die Syrakuser zu verwerfen als den zweiten Brief des Paulus an die Korinther (dem er in mehrfacher Hinsicht ähnlich ist). Zumindest gibt es keinen guten stilometrischen Grund, seine Echtheit zu bezweifeln.31 Wenn er nicht echt ist, ist er zumindest eine der klarsten und verlässlichsten Darstellungen der Ideenlehre in der gesamten Sekundärliteratur zu Platon. Der Brief führt Folgendes als Grundlehre an, die Platon häufig entwickelt hat:

31 Ledger, Re-counting Plato, 148–50, 224, hält den siebten Brief für echt und vermutet eine Entstehung in zeitlicher Nähe zum Philebus, dem ersten Dialog der Spätphase.

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„Für jedes Ding gibt es dreierlei, wodurch sich notwendigerweise seine Erkenntnis vollzieht, dazu kommt als viertes die Erkenntnis selbst, als fünftes muss man das selbst ansetzen, was eben Objekt der Erkenntnis und das wahrhaft Seiende ist, nämlich erstens der Name, zweitens die Definition, drittens das Abbild, viertens die Erkenntnis. Nimm als Beispiel einen Einzelfall, wenn du verstehen willst, was ich sage, und dann übertrage das auf alles. Zum Beispiel gibt es ein Ding, das man Kreis nennt. Sein Name ist eben gerade dies Wort, das wir jetzt ausgesprochen haben. Das zweite ist seine Definition; sie besteht aus Substantiven und Verben. Der Satz nämlich: „dasjenige Ding, dessen äußerste Punkte überall gleich weit von der Mitte entfernt sind“, das wird etwa die Definition dessen sein, das den Namen rund und gleichförmig gebogen und Kreis trägt. An dritter Stelle steht das, was gezeichnet und wieder ausgewischt wird, gedrechselt wird und wieder zerstört werden kann. Von all dem erleidet der Kreis selbst, auf denen alle die genannten sich beziehen, nichts, da er etwas anderes ist als sie. Das vierte aber, die Erkenntnis und die Einsicht und die wahre Meinung, stützt sich auf diese Dinge. All dies ist als eine Klasse aufzufassen, da es nicht in Sprachlauten noch in räumlichen Formen, sondern in der Seele existiert: dadurch ist es deutlich etwas anderes als das Wesen des Kreises an und für sich und als die drei vorhin genannten Dinge. Unter ihnen kommt aber die Einsicht dem fünften am nächsten durch Verwandtschaft und Ähnlichkeit, die andern sind weiter entfernt. Ganz gleich steht es mit geraden wie mit krummen Figuren und mit Farbe, Gut und Schön und Gerecht, mit jedem geschaffenen und natürlich gewordenen Körper, Feuer, Wasser und allem Ähnlichen, mit jedem Lebewesen und dem Charakter, jedem Tun und Leiden. Wenn nämlich einer nicht irgendwie die vier Dinge [miteinander] ergreift, wird ihm niemals ganz die Erkenntnis des fünften zuteil werden.“ (342a–d) 32

Platon folgend, werde ich damit beginnen, vier Dinge zu unterscheiden: das Wort ‚Kreis‘, die Definition eines Kreises (eine Folge von Wörtern), eine Zeichnung eines Kreises sowie meinen Begriff eines Kreises. Es ist wichtig über diese vier Dinge Klarheit zu erlangen, um sie von etwas zu unterscheiden und ihm gegenüberzustellen: einem fünften Ding, dem wichtigsten von allen, das er als „den Kreis selbst“ bezeichnet. Es handelt sich hierbei um eine der Ideen, um die es in Platons berühmter Lehre geht. Wie aus dem Satz am Ende des zitierten Abschnitts, der die Felder auflistet, in denen die Theorie anwendbar ist, hervorgeht, ist sie sehr umfassend. In seinen anderen Schriften verwendet Platon zahlreiche andere Ausdrücke zur Bezeichnung der Ideen. „Urbilder“ (eide) ist wahrscheinlich der häufigste, doch kann die Idee oder das Urbild von X auch als „X selbst“, „genau dasjenige, was X ist“ oder „X-heit“ oder als „was X ist“ bezeichnet werden. Es ist wichtig sich klarzumachen, was in der Liste in Platons siebtem Brief fehlt. Er erwähnt, selbst auf der untersten Ebene, keine tatsächlichen materiellen kreisför32 Zitiert nach: Platon, Der Siebente Brief, übersetzt und herausgegeben von E. Howald (Stuttgart: Reclam, 1964).

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migen Gegenstände, wie zum Beispiel Wagenräder oder Fässer. Der Grund hierfür geht aus anderen Abschnitten in seinen Schriften hervor (z. B. Phd. 74a–c). Die Wagenräder und Fässer, denen wir auf der Ebene der Erfahrung begegnen, sind niemals vollkommen kreisförmig: Irgendwo haben sie einen Knick oder eine Ausbuchtung, die verhindert, dass alle Punkte auf dem Umfang den gleichen Abstand vom Mittelpunkt haben. Dies gilt natürlich auch für jede Zeichnung eines Kreises auf Papier oder im Sand. Platon hebt diesen Punkt hier nicht hervor, doch ist es der Grund dafür, warum er sagt, dass die Zeichnung einen größeren Abstand zum Kreis selbst hat als mein Begriff von ihm. Mein subjektiver Begriff von einem Kreis – mein Verständnis dessen, was mit dem Wort „Kreis“ gemeint ist – ist nicht dasselbe wie die Idee des Kreises, da der Idee eine objektive Realität zukommt, die keine Eigenschaft eines individuellen Geistes ist. Doch immerhin ist der Begriff in meinem Geist der Begriff eines vollkommenen Kreises. Anders als der Ring an einem Finger ist er nicht nur eine unvollkommene Annäherung an einen Kreis. In dem von mir zitierten Text gelangt Platon zur Idee des Kreises im Ausgang von Überlegungen über das Wort „Kreis“, das an der Subjektstelle von Sätzen wie dem folgenden auftritt: Ein Kreis ist ein Gebilde, das aus denjenigen Punkten in einer Ebene besteht, die den gleichen Abstand von einem Mittelpunkt haben.

Manchmal führt Platon jedoch die Idee von X durch Überlegungen zu Sätzen ein, in denen X nicht an der Subjektstelle, sondern als Prädikat vorkommt. Bedenken wir folgendes Beispiel: Sokrates, Simmias und Kebes werden alle als „Männer“ bezeichnet. Was sie gemeinsam haben, ist, dass sie alle Männer sind. Wenn wir nun sagen: „Simmias ist ein Mann“, können wir uns fragen, ob das Wort „Mann“ auf die gleiche Weise etwas bezeichnet oder für etwas steht wie der Name „Simmias“ für den einzelnen Mann Simmias. Wenn dies zutrifft: Wofür steht es? Ist es dasselbe, für das das Wort „Mann“ in dem Satz „Simmias ist ein Mann“ steht? Um mit Fragen dieser Art umzugehen, führte Platon die Idee des Mannes ein. Es ist dasjenige, was Simmias, Kebes und Sokrates zu Männern macht. Es ist der ursprüngliche Träger des Namens „Mann“. In vielen Fällen, in denen wir sagen würden, dass ein gemeinsames Prädikat auf eine bestimmte Anzahl von Individuen zutrifft, würde Platon sagen, dass sie alle zu einer bestimmten Idee oder einem Urbild in Beziehung stehen: Wenn A, B und C alle F sind, stehen sie alle in Beziehung zur einzelnen Idee F. Manchmal beschreibt er diese Beziehung als Nachahmung: A, B und C gleichen alle F. Manchmal spricht er stattdessen von Teilhabe: A, B und C haben alle an F teil, F ist, was sie alle gemeinsam haben. Es ist nicht klar, wie allgemein wir das Prinzip, dass hinter einem gemeinsamen Prädikat eine gemeinsame Idee steht, anwenden sollen. Manchmal trägt Platon dieses Prinzip als allgemeingültig vor, manchmal zögert er, es auf bestimmte Arten von Prädikaten anzuwenden. Fest steht, dass er Ideen zahlreicher verschiedener

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Arten auflistet, wie zum Beispiel die Idee des Guten, die Idee des Bettes, die Idee des Kreises oder die Idee des Seins. Er ist bereit, die Theorie über einstellige Prädikate, wie zum Beispiel „ist rund“, auf zweistellige Prädikate wie „ist verschieden von“ auszudehnen. Wenn wir sagen, dass A von B verschieden ist, und wenn wir sagen, dass B von A verschieden ist, verwenden wir das Wort „verschieden“ zweimal, beziehen uns dabei jedoch jedes Mal auf eine einzige Entität. Über die Ideen und ihre Beziehungen zu den alltäglichen Gegenständen der Welt lassen sich eine Reihe von platonischen Thesen aufstellen: (1) Das Prinzip der Gemeinschaft. Wann immer mehrere Dinge F sind, ist der Grund hierfür, dass sie an einer einzigen Idee F teilhaben oder sie nachahmen (Phd. 100c; Men. 72c, 75a: Pol. 5. 476a10, 597c). (2) Das Prinzip der Verschiedenheit. Die Idee F ist von allen Dingen, die F sind, verschieden (Phd. 74c; Sym. 211b). (3) Das Prinzip der Selbstprädikation. Die Idee F ist selbst F (Hp. Ma. 292e; Prt. 230c–e; Prm. 132a–b). (4) Das Prinzip der Reinheit. Die Idee F ist nichts als F (Phd. 74c; Sym. 211e). (5) Das Prinzip der Einzigkeit. Nichts außer der Idee F ist wirklich, wahrhaft und ausschließlich F (Phd. 74d, Pol. 479a–d). (6) Das Prinzip der höheren Seinsweise. Ideen sind ewig, haben keine Teile, unterliegen keinen Veränderungen und können mit den Sinnen nicht wahrgenommen werden (Phd. 78d; Sym. 211b). An sich ist das Prinzip der Gemeinschaft nicht spezifisch platonisch. Viele Philosophen, die der Rede von einer „Teilhabe“ nicht zustimmen können, sind bereit zu sagen, dass Eigenschaften den vielen Dingen, die sie haben, „gemeinsam“ sind. Sie könnten beispielsweise sagen: „Wenn A, B und C alle rot sind, ist der Grund hierfür, dass sie die Eigenschaft rot zu sein gemeinsam haben, und wir lernen die Bedeutung von „rot“, indem wir sehen, was die roten Dinge gemeinsam haben.“ Das Besondere an Platon ist, dass er ernsthaft weiterfragt, was daraus folgt, wenn man von der Metapher „gemeinsam haben“ Gebrauch macht. 33 So darf es beispielsweise nur eine einzige Idee F gegeben, denn ansonsten könnten wir nicht erklären, warum die F-Dinge etwas gemeinsam haben (Pol. 597b–c). Das Prinzip der Verschiedenheit ist mit der Vorstellung einer Hierarchie verbunden, die zwischen den Ideen und den Einzeldingen besteht, die Beispiele für sie sind. Teilhaben und dasjenige zu sein, an dem die Teilhabe sich vollzieht, sind zwei recht verschiedene Relationen, und die beiden Elemente dieser Relationen müssen sich auf unterschiedlichen Ebenen befinden. Das Prinzip der Selbstprädikation ist für Platon wichtig, weil er ohne dieses Prinzip nicht zeigen könnte, wie die Ideen das Vorkommen von Eigenschaften in Einzeldingen erklären. Nur was heiß ist, kann auch anderes heiß sein lassen. Mit einem 33 Ich verdanke diesen Punkt G. E. M. Anscombe, Three Philosophers (Oxford: Blackwell, 1961), 28.

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nassen Handtuch kann man sich nicht abtrocknen. Man kann daher generell feststellen, dass nur, was selbst F ist, erklären kann, warum etwas anderes F ist. Wenn also die Idee des Kalten erklären können soll, warum Schnee kalt ist, muss sie selbst kalt sein (Phd. 103b–e). Die Idee F ist nicht nur F, sondern auch ein perfektes Exemplar eines F. Sie kann durch kein anderes, von der F-heit verschiedenes Element abgeschwächt oder verfälscht werden: Daher ist das Prinzip der Reinheit anzunehmen. Wenn sie über eine andere Eigenschaft verfügte, als F zu sein, so müsste dies durch Teilhabe an irgendeiner anderen Idee geschehen, die ihr mit Sicherheit auf die gleiche Weise überlegen sein müsste, auf welche die Idee F allen nicht-idealen Fs überlegen ist. Die Vorstellung von vielschichtigen Beziehungen zwischen den Ideen öffnet eine Büchse der Pandora, die Platon bei der Darstellung der klassischen Ideenlehre in den mittleren Dialogen vorzugsweise geschlossen hält. Das Prinzip der Einzigkeit wird von Kommentatoren manchmal auf irreführende Weise beschrieben. Platon sagt häufig, dass nur die Ideen wirkliches Sein haben, und dass die nicht-idealen Einzeldinge, denen wir in der sinnlichen Erfahrung begegnen, zwischen Sein und Nichtsein schweben. Er wird oft so verstanden, als behaupte er, dass nur die Ideen wirklich existierten und dass die greifbaren Objekte unwirklich sind und nur scheinbar existieren. Im jeweiligen Kontext ist jedoch klar: Wenn Platon sagt, nur die Ideen haben wirkliches Sein, meint er damit nicht, nur die Ideen existieren wirklich, sondern dass nur die Idee F wirklich F ist, was immer F in einem besonderen Fall sein mag. Einzeldinge befinden sich zwischen Sein und Nichtsein, insofern sie sich zwischen F-Sein und Nicht-F-Sein befinden, d. h., sie sind manchmal F und manchmal nicht-F. 34 So ist beispielsweise nur die Idee der Schönheit wirklich schön, weil einzelne schöne Dinge: (a) schön nur in einer Hinsicht sind, aber hässlich in einer anderen (zum Beispiel schön von Gestalt, aber nicht in der Gesichtsfarbe), (b) schön zu einer Zeit sind, jedoch nicht zu einer anderen (zum Beispiel im Alter von 20, aber nicht im Alter von 70 Jahren), (c) schön im Vergleich zu einigen Dingen, jedoch nicht zu anderen sind (Helena mag im Vergleich mit Medea schön sein, verglichen mit Aphrodite jedoch nicht) und (d) schön in manchen Umgebungen sind, aber nicht in anderen (Smp. 211 a–e). Ein wichtiger Aspekt der klassischen Ideenlehre ist das Prinzip der höheren Seinsweise. Die Einzeldinge, die an den Ideen teilhaben, gehören zur geringerwertigen Welt des Werdens, der Welt der Veränderung und des Verfalls. Die Ideen, an denen die Einzeldinge teilhaben, gehören zur höherwertigen Welt des Seins, die von ewiger Beständigkeit ist. Die höchste aller Ideen ist die Idee des Guten, die an Rang und

34 Diese Einsicht verdanke ich dem folgenden Aufsatz von G. Vlastos: „Degrees of Reality in Plato“, in: R. Bambrough (ed.), New Essays on Plato and Aristotle (London: Routledge & Kegan Paul, 1965).

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Macht allen anderen überlegen ist, und dem alles Erkennbare sein Sein verdankt (Pol. 509c). Das Problem der Ideenlehre ist, dass die sie definierenden Prinzipien nicht miteinander vereinbar scheinen. Es ist schwierig, das Prinzip der Verschiedenheit mit den Prinzipien der Gemeinschaft und der Selbstprädikation in Einklang zu bringen. Die Schwierigkeit wurde zuerst von Platon selbst in seinem Dialog Parmenides hervorgehoben, wo er folgendes Gegenargument vorbringt. Nehmen wir an, es gebe eine Reihe von Einzeldingen, von denen jedes F ist. Dann existiert nach (1) eine Idee F. Diese muss nach (3) selbst F sein. Doch nun machen die Idee F und die ursprünglichen einzelnen Fs eine neue Menge von Dingen aus, die F sind. Nach (1) muss der Grund hierfür sein, dass sie an der Idee F teilhaben. Nach (2) kann dies nicht die Idee sein, die zunächst postuliert wurde. Es muss daher eine weitere Idee F geben, und diese muss ihrerseits, nach (3), F sein, und so weiter bis ins Unendliche. Wenn wir diesen Regress ins Unendliche vermeiden wollen, müssen wir das eine oder andere der Prinzipien, die ihn herbeiführen, aufgeben. Bis heute sind sich die Fachwissenschaftler nicht einig, wie ernst Platon diese Schwierigkeit genommen hat, und welches seiner Prinzipien er, wenn überhaupt, modifiziert hat, um ihr zu begegnen. Ich werde auf diese Frage zurückkommen, wenn wir uns in der Folge mit Platons Metaphysik noch eingehender beschäftigen werden. 35 Platon wendete seine Ideenlehre auf viele philosophische Probleme an: Er schlägt Ideen als die Grundlage moralischer Werte, als letztes Fundament des wissenschaftlichen Wissens und als den letzten Ursprung allen Seins vor. Ein Problem, für das Platon seine Theorie als Antwort anbot, wird häufig als Universalienproblem bezeichnet: das Problem der Bedeutung allgemeiner Ausdrücke wie „Mensch“, „Bett“, „Tugend“ und „gut“. Da sich Platons Antwort als unbefriedigend herausgestellt hat, blieb das Problem auf der philosophischen Tagesordnung. In späteren Kapiteln werden wir sehen, wie Aristoteles mit dieser Frage umging. Ihre Geschichte setzt sich durch das gesamte Mittelalter fort und reicht bis in unsere Gegenwart. Eine Reihe von Vorstellungen, die in modernen Diskussionen des Problems vorkommen, weisen eine Ähnlichkeit mit Platons Ideen auf. Prädikate. In der modernen Logik geht man davon aus, dass ein Satz wie etwa „Sokrates ist weise“ aus einem Subjekt, Sokrates, und einem Prädikat besteht, das aus dem Rest des Satzes besteht, d. h.: „… ist weise“. Einige Logiker haben im Anschluss an Gottlob Frege angenommen, dass Prädikate eine extra-mentale Entsprechung haben: Dem Ausdruck „… ist ein Mann“ entspreche ein objektives Prädikat (Frege nannte es eine „Funktion“) auf ähnliche Weise, wie der Mann Sokrates dem Namen „Sokrates“ korrespondiert. Freges Funktionen, wie etwa die Funktion x ist ein Mann, sind objektive Entitäten: Sie sind dem fünften Element des siebten Briefes ähnlicher als die vier anderen. Sie teilen mit den Ideen einige ihrer transzendentalen Eigenschaften: Die Funktion x ist ein Mann wächst oder stirbt nicht, wie es Menschen tun, 35 Siehe Seite 221 ff.

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und nirgendwo in der Welt kann man die Funktion x ist durch 7 teilbar betrachten oder anfassen. Doch die Prinzipien der Selbstprädikation und Einzigkeit gelten für Funktionen nicht. Wie könnte man sich je vorstellen, dass die Funktion x ist ein Mensch, und nur diese Funktion, wirklich und wahrhaft ein Mensch ist? Klassen. Funktionen dienen als Prinzipien, nach denen Objekte zu Klassen zusammengefasst werden könnten: Objekte, die die Funktion x ist ein Mensch erfüllen, können beispielsweise zur Klasse der menschlichen Wesen zusammengefasst werden. Ideen haben mit Klassen eine gewisse Ähnlichkeit: Die Teilhabe an einer Idee kann mit der Zugehörigkeit zu einer Klasse verglichen werden. Die Schwierigkeit der Gleichsetzung von Ideen mit Klassen ergibt sich erneut aufgrund des Prinzips der Selbstprädikation. Die Klasse der Männer ist selbst kein Mann, und wir können nicht allgemein behaupten, dass eine Klasse von Fs selbst F ist. Es scheint jedoch auf den ersten Blick, als ob es tatsächlich Klassen gäbe, die sich selbst angehören, wie zum Beispiel die Klasse der Klassen. Doch genau so, wie Platon feststellte, dass das Prinzip der Selbstprädikation zu schwerwiegenden Problemen führt, fanden auch die modernen Logiker, dass sich Paradoxa ergeben, wenn man bei der Definition der Klassen von Klassen völlige Freiheit walten lässt. Am bekanntesten ist das Paradoxon der Klasse all derjenigen Klassen, die sich nicht selbst angehören. Bertrand Russell wies darauf hin, dass diese Klasse, wenn sie sich selbst angehört, sich nicht selbst angehört, und wenn sie sich nicht angehört, sich selbst gehört. Es ist kein Zufall, dass Russells Paradoxon eine auffällige Ähnlichkeit mit Platons Selbstkritik im Parmenides aufweist. Paradigmen. Es ist mehr als einmal vorgeschlagen worden, platonische Ideen sollten als Paradigmen oder Standards angesehen werden. Die Beziehung zwischen Einzeldingen und Ideen könnte man sich ähnlich denken wie diejenige zwischen ein Meter langen Objekten und dem Standardmeter, durch das die Länge eines Meters formal definiert ist. 36 Diese Vorstellung passt gut zu der Art und Weise, auf die nach Platon Einzeldinge die Ideen nachahmen oder ihnen gleichen: einen Meter lang sein besteht exakt darin, dem Standardmeter ähnlich zu sein, und wenn zwei Dinge jeweils einen Meter lang sind, so ist der Grund hierfür, dass beide dem Paradigma gleichen. Doch gilt für solche Paradigmata das Prinzip der höheren Seinsweise nicht: Das Standardmeter befindet sich nicht im Himmel, sondern in Paris. Konkrete Universalien. Philosophen haben manchmal mit dem Gedanken gespielt, dass das Wort „Wasser“ in einem Satz wie „Wasser ist eine Flüssigkeit“ wie der Name eines einzelnen, jedoch verstreuten Gegenstandes, des wässrigen Teils der Welt, betrachtet werden sollte, der aus Pfützen, Flüssen, Seen usw. besteht. Hierdurch ließe sich Platons Prinzip, dass Einzeldinge an Ideen teilhaben, ein deutlicher Sinn geben: Das Wasser in dieser Flasche ist im wahrsten Sinne des Wortes ein Teil allen36 Dieser Vorschlag geht auf Wittgenstein zurück. Siehe P. T. Geach, „The Third Man Again“, in: R. E. Allen (ed.), Studies in Plato’s Metaphysics (London: Routledge & Kegan Paul, 1965).

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Wassers-in-der-Welt. Darüber hinaus ist Wasser zweifellos Wasser, und nichts, was nicht Wasser ist, ist wirklich und wahrhaft Wasser. Dieser Gedanke passt auch zu Platons Vorliebe (die seine Kommentatoren nur selten teilen), sich auf die Ideen durch einen konkreten (zum Beispiel „das Schöne“) statt durch einen abstrakten Sprachmodus zu beziehen (zum Beispiel „Schönheit“). Konkrete Universalien scheitern jedoch am Prinzip der höheren Seinsweise und der Reinheit: Das Wasser im Universum hat einen Ort im Raum, es kann seine Menge und Verteilung ändern und es verfügt über andere Eigenschaften außer derjenigen, Wasser zu sein. Keine dieser Vorstellungen wird den zahlreichen Aspekten von Platons Ideenlehre gerecht. Wenn man sich veranschaulichen will, wie diese sechs Prinzipien Platon plausibel erschienen, ist es besser, statt eines technischen Begriffes der modernen Logik einen alltäglicheren Begriff zu betrachten. Stellen wir uns die Richtungen eines Kompass vor: Norden, Süden, Westen und Osten. Nehmen wir beispielsweise den Begriff des Ostens, wie er in der naiven Reflexion in verschiedenen Redewendungen von Briten verwendet wird. Es gibt viele Orte, die von uns aus gesehen im Osten liegen, zum Beispiel Belgrad und Hongkong. Alles, was auf diese Weise östlich liegt, gehört zum Osten (Teilnahme) und liegt in derselben Richtung wie der Osten (Nachahmung). Das ist es, wodurch, was im Osten liegt, östlich ist (1). Der Osten kann jedoch mit keinem Punkt im Raum gleichgesetzt werden, wie weit dieser auch im Osten liegen mag (2). Selbstverständlich ist der Osten östlich von uns (3), und der Osten ist nichts als der Osten (4): Wenn wir sagen „Der Osten ist rot“ meinen wir lediglich, dass der östliche Himmel rot ist. Nichts außer dem Osten ist bedingungslos östlich: Die Sonne steht manchmal im Osten und manchmal im Westen, Indien liegt östlich von Iran, jedoch westlich von Vietnam, doch der Osten liegt jederzeit und überall im Osten (5). Der Osten hat keine Geschichte in der Zeit und man kann ihn nicht sehen, greifen oder aufteilen (6). Ich schlage natürlich nicht vor, dass die Richtungen des Kompass eine Interpretation von Platons Prinzipien liefern, nach der jedes von ihnen zutrifft: Keine Interpretation könnte dies leisten, da sie einen inkonsistenten Prinzipiensatz ausmachen. Ich sage nur, dass diese Interpretation die Thesen auf den ersten Blick plausibler erscheinen lassen als die vorher betrachteten Interpretationen. Funktionen, Klassen, Paradigmata und konkrete Universalien führen zu je eigenen Problemen, wie Philosophen lange nach Platon entdeckt haben, und obwohl wir zur klassischen Ideenlehre nicht zurückkehren können, steht eine vollständig befriedigende Antwort auf die Probleme, die sie zu lösen versuchte, noch aus.

Platons Dialog Politeia In Platons berühmtestem Dialog, dem Dialog Politeia (Der Staat), wird die Ideenlehre nicht nur zur Lösung logischer und semantischer Probleme herangezogen, die wir soeben betrachtet haben, sondern auch, um auf Probleme in der Erkenntnistheo-

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rie, Metaphysik und Ethik einzugehen. Die Konsequenzen dieser Theorie werden wir in späteren Kapiteln noch erörtern. Der Dialog Politeia ist einer breiteren Öffentlichkeit jedoch nicht aufgrund seiner vielfältigen Verwendung der Ideenlehre bekannt, sondern aufgrund der politischen Einrichtungen, die in seinen mittleren Lehrbüchern beschrieben werden. Das offizielle Thema des Dialogs ist das Wesen und der Wert der Gerechtigkeit. Nachdem im ersten Buch (das wahrscheinlich ursprünglich als eigenständiger Dialog existierte) eine Reihe von möglichen Definitionen der Gerechtigkeit untersucht und für unzureichend befunden wurden, beginnt der Hauptteil des Werkes mit einer Herausforderung an Sokrates, zu beweisen, dass die Gerechtigkeit etwas ist, das um seiner selbst willen wertvoll ist. Platons Brüder Glaukon und Adeimantos, die als Gesprächspartner in diesem Dialog auftauchen, vertreten die These, dass Gerechtigkeit als Weg zur Vermeidung von Übel gewählt wird. Um zu verhindern, dass sie von anderen unterdrückt werden, sagt Glaukon, schließen sich schwache Menschen zusammen und vereinbaren, Ungerechtigkeit weder zu erleiden noch zu begehen. Menschen würden viel lieber ungerecht handeln, wenn sie dies straffrei tun könnten, zum Beispiel wenn sie die Straffreiheit genießen könnten, die etwa ein Mann besäße, der sich unsichtbar machen kann, sodass seine Übeltaten nicht erkannt werden können. Adeimantos stimmt seinem Bruder zu und sagt, dass unter Menschen der Lohn der Gerechtigkeit eher der Lohn für scheinbare Gerechtigkeit als der für tatsächlich gerechtes Verhalten ist, und im Verhältnis zu den Göttern könne man sich von Strafen für Ungerechtigkeiten durch Gebete und Opfer freikaufen (Pol. 2. 358a–367e). In Kapitel 8 werden wir sehen, wie Sokrates in den restlichen Büchern des Dialogs dieser anfänglichen Herausforderung begegnet. Im Interesse der Darstellung von Platons politischer Philosophie werden wir uns auf seine unmittelbare Antwort konzentrieren. Um seinen Brüdern zu antworten, verlagert er die Diskussion von der Gerechtigkeit oder Aufrichtigkeit der einzelnen Person zur umfassenderen Frage der Gerechtigkeit im Stadtstaat, denn dort sei das Wesen der Gerechtigkeit in größeren Buchstaben geschrieben und daher leichter zu lesen. Der Zweck des Zusammenlebens in Städten bestehe darin, es Menschen mit unterschiedlichen Fähigkeiten zu ermöglichen, durch eine entsprechende Arbeitsteilung sich gegenseitig bei der Befriedigung ihrer Bedürfnisse zu helfen. Idealerweise würde, wenn Menschen – wie in der Vergangenheit – mit der Befriedigung ihrer grundlegenden Bedürfnisse zufrieden wären, eine sehr einfache Gemeinschaft ausreichen. Doch im modernen luxuriösen Zeitalter verlangen die Bürger nach mehr als bloßer Subsistenz, und dies mache kompliziertere politische Einrichtungen erforderlich, einschließlich einer gut ausgebildeten Berufsarmee (Pol. 2. 369b–374d). Sokrates stellt nun einen Plan für eine Stadt mit drei Gesellschaftsklassen vor. Diejenigen unter den Soldaten, die für das Herrschen am geeignetsten sind, werden durch Wettbewerbe ausgewählt und bilden die oberste Klasse, die als Wächter bezeichnet werden. Die restlichen Soldaten werden als Gehilfen bezeichnet, und die anderen Bürger gehören zur Klasse der Bauern und Handwerker (Pol. 2. 374d–376e).

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Wie können die arbeitenden Klassen dazu gebracht werden, die Autorität der regierenden Klassen zu akzeptieren? Hierzu muss ein Mythos propagiert werden, eine „heilsame Täuschung“, die besagt, dass die Mitglieder der drei Klassen unterschiedliches Metall in ihren Seelen haben: Gold, Silber und Bronze. Im Allgemeinen sollen Bürger in der Klasse bleiben, in die sie hineingeboren wurden, doch erlaubt Sokrates ein begrenztes Maß an sozialer Mobilität (Pol. 3. 414c–415c). Die Herrscher und Gehilfen sollen eine umfassende Erziehung in der Literatur (basierend auf einem bereinigten Homer), in der Musik (sofern sie kriegerisch und erbaulich ist) und in der Gymnastik (in der sich beide Geschlechter gemeinsam üben) erhalten (Pol. 2. 376e–3.403b). Frauen und Männer sollen Wächter und Gehilfen sein, doch hiermit sind nicht nur Privilegien, sondern auch strenge Auflagen verbunden. Die Angehörigen der oberen Klassen dürfen nicht heiraten: Keine Frau gehört zu einem Mann und die sexuelle Betätigung ist staatlich reglementiert. Die Fortpflanzung erfolgt nach strengen eugenischen Kriterien. Kinder dürfen keinen Kontakt mit ihren Eltern haben, sondern werden in staatlichen Kinderhorten aufgezogen. Wächter und Gehilfen dürfen keinen Privatbesitz haben oder Geld anrühren. Was für ein bescheidenes Leben ausreicht, wird ihnen kostenlos zur Verfügung gestellt, und sie leben wie Soldaten gemeinsam in einem Lager (Pol. 5. 451d–471c). Das Staatswesen, dessen Bild Sokrates in den Büchern 3 bis 5 der Politeia entwirft, wurde sowohl als brutaler Totalitarismus verurteilt als auch als frühe Durchführung des Feminismus bewundert. Sollte es ernsthaft als Plan für eine reale politische Gemeinschaft gemeint gewesen sein, so ist zuzugeben, dass es in vieler Hinsicht mit grundlegenden Menschenrechten in Konflikt steht, keine Privatsphäre duldet und voller Täuschung ist. Als Vorschlag für eine Verfassung steht es zu Recht in dem schlechten Ruf, den ihm Konservative und Liberale gegeben haben. Doch wir müssen bedenken, dass der ausdrückliche Zweck dieser Erörterung verschiedener Verfassungen darin bestand, Licht auf die Natur der Gerechtigkeit in der Seele zu werfen, wie es Sokrates im Folgenden tun wird. 37 Wir wissen aus anderen Dialogen, dass Platon seine Leser gerne auf ironische Weise in die Irre führte. Die Ironie, die er bei Sokrates gelernt hatte, machte er zu einem wichtigen Prinzip philosophischer Aufklärung. Nachdem Platon die Analogie mit seinem Klassenstaat in seine Moralpsychologie eingearbeitet hat, kehrt er in den späteren Büchern der Politeia zur politischen Theorie zurück. Der ideale Staat, so schreibt er, verkörpert alle Kardinaltugenden: Die Tugend der Weisheit zeichnet die Wächter aus, Tapferkeit die Gehilfen, Mäßigung die arbeitenden Klassen und Gerechtigkeit wurzelt im Prinzip der Arbeitsteilung, aus der der Stadtstaat ursprünglich hervorgeht. In einem gerechten Staat macht jeder Bürger und jede Klasse das, wofür er oder sie am besten geeignet ist, und zwischen den Klassen der Gesellschaft herrscht Harmonie (Pol. 4. 427d–434c). In weniger idealen Staaten kommt es zu einem allmählichen Verfall dieser optimalen Zuständen. Es gibt fünf Verfassungstypen (Pol. 8. 544e). Die erste und beste 37 Siehe Kapitel 7.

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Trotz Platons Vorschlägen war es selten, dass Frauen, wie Hipparchia in diesem Fresko aus dem vierten Jahrhundert v. Chr., in eine philosophische Schule aufgenommen wurden. Sie schließt sich hier ihrem Ehemann Krates an, dem Gründer der Zyniker.

Verfassung wird Monarchie oder Aristokratie genannt: Wenn die Weisheit regierte, ist es unerheblich, ob sie in einem oder mehreren Herrschenden verkörpert ist. Es gibt vier weitere minderwertigere Verfassungstypen: die Timokratie, Oligarchie, Demokratie und die Tyrannis (Pol. 8. 543c). Jede dieser Verfassungen sinkt auf die jeweils niedrigere Stufe, weil eine der Tugenden des idealen Staats verfällt. Wenn die Herrscher keine weisen Menschen mehr sind, weicht die Aristokratie der Timokratie, bei der es sich im Wesentlichen um die Herrschaft einer Militär-Junta handelt (Pol. 8. 547c). Die Oligarchie unterscheidet sich von der Timokratie darin, dass es den oligarchischen Herrschern an Tapferkeit und militärischen Tugenden fehlt (Pol. 8. 556d). Oligarchen besitzen, wenn auch in höchst bescheidener Form, die Tugend der Mäßigung. Wenn nicht mehr entsprechend dieser Tugend gelebt wird, wandelt sich die Oligarchie zur Demokratie (Pol. 8. 555b). Für Platon ist jeder Abfall von der Aristokratie des idealen Staates ein Schritt in Richtung größerer Ungerechtigkeit, doch es ist der Schritt von der Demokratie zur Tyrannis, der die Inthronisierung der allergrößten Ungerechtigkeit bedeutet (Pol. 8. 576a). Demnach zeichnet sich der aristokratische Staat durch das Vorhandensein sämtlicher Tugenden aus, die Timokratie durch das Fehlen von Weisheit, die Oligarchie durch den Verfall der Tapferkeit, der

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demokratische Staat durch Verachtung der Mäßigung und der despotische Staat durch den völligen Umsturz der Gerechtigkeit. Platon ist sich bewusst, dass wir in der realen Welt mit sehr viel größerer Wahrscheinlichkeit den verschiedenen Formen minderwertiger Staatswesen begegnen, als der in seiner Politeia beschriebenen idealen Verfassung. Dennoch besteht er darauf, dass es nur in einer solchen Stadt öffentliches oder privates Glück geben kann, und dass solche staatlichen Verhältnisse nur herbeigeführt werden können, wenn Philosophen Könige oder die Könige Philosophen werden (Pol. 5. 473c–d). Philosoph wird man natürlich nur, wenn man Platons Erziehungssystem durchläuft, um mit den Ideen vertraut zu werden.

Nomoi und der Timaios Später hat Platon die Idee des Philosophenkönigs aufgegeben und der Ideenlehre keine so große politische Bedeutung mehr beigemessen. Er gelangte zu der Überzeugung, der Charakter eines Herrschers sei weniger wichtig für die Wohlfahrt eines Stadtstaates, als die Natur der Gesetze, nach denen er regiert wird. In seinem späten und längsten Werk, den Nomoi, stellt er einen Besucher aus Athen dar, der mit einem Mann aus Kreta und einem aus Sparta die Verfassung für die im Süden von Kreta zu gründende Kolonie Magnesia diskutiert. Sie sollte hauptsächlich landwirtschaftlich ausgerichtet sein und ihre freie Bevölkerung zum größten Teil aus Bauern bestehen. Manuelle Arbeiten sollten größtenteils von Sklaven erledigt, Handwerk und Handel den anwesenden Fremden überlassen werden. Volles Bürgerrecht sollte maximal 5040 erwachsenen Männern gewährt werden, und die Bürgerschaft in 12 Stämme unterteilt sein. Der Entwurf für die Staatsverfassung, die als Ergebnis der Ratschläge des athenischen Besuchers vorgestellt wird, liegt irgendwo zwischen der tatsächlichen Verfassung Athens und den bloß erdachten Strukturen von Platons Idealstaat. Wie Athen sollte auch Magnesia eine aus männlichen Erwachsenen bestehende Versammlung haben, einen Rat, sowie eine Reihe gewählter Staatsbeamter, die „Wächter der Gesetze“ genannt werden sollen. Gewöhnliche Bürger sind an der Einhaltung der Gesetze durch den Dienst in großen Schöffenversammlungen beteiligt. Die Berufung in verschiedene Ämter geschieht durch das Los, sodass eine breite politische Beteiligung sichergestellt wird. Privatbesitz ist zulässig, wird jedoch in steiler Progression besteuert (Nom. 5. 744b). Die Ehe ist keineswegs abgeschafft, sondern sogar gesetzlich vorgeschrieben: Junggesellen, die mehr als 35 Jahre alt sind, müssen jährlich hohe Gebühren entrichten (Nom. 6. 774b). Und schließlich müssen die Gesetzgeber erkennen, dass selbst die besten Gesetze ständiger Reform bedürfen (Nom. 6. 769d). Andererseits gibt es in Magnesia einiges, was an die Politeia erinnert. Die oberste Staatsgewalt liegt in den Händen des nächtlichen Rates, der aus den Weisen und am höchsten qualifizierten Beamten besteht, die in Mathematik, Astronomie, Theologie

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und der Rechtsprechung (jedoch nicht, wie die Wächter in der Politeia, in der Metaphysik) besonders ausgebildet sind. Privatbürger dürfen keine Gold- oder Silbermünzen besitzen, und der Verkauf von Häusern ist streng verboten (Nom. 5. 740c, 742a). Texte und Musik werden streng zensiert, und Dichter müssen über eine Lizenz verfügen (Nom. 7. 801d–2a). Eine weibliche Sexualpolizei, mit dem Recht in private Haushalte einzudringen, überwacht die Fortpflanzung und die Einhaltung eugenischer Standards (Nom. 6.784a–b). In Scheidungsgerichten müssen ebenso viele weibliche wie männliche Richter sitzen (Nom. 9. 930a). Frauen nehmen zusammen mit Männern an den gemeinschaftlichen Mahlzeiten teil, sie erhalten eine militärische Ausbildung und bilden eine Miliz zur Heimatverteidigung. Die Erziehung ist für alle Klassen von großer Bedeutung und muss von einem mit umfangreichen Befugnissen ausgestatteten Erziehungsminister überwacht werden, der der nächtlichen Versammlung direkt verantwortlich ist (Nom. 6. 765d). In den mittleren Büchern des Dialogs werden einzelne Gesetze dargelegt. Jedes Gesetz muss mit einer Präambel beginnen, in der sein Zweck erläutert wird, damit die Bürger es mit Verstand befolgen. So sollte beispielsweise ein Gesetz, dass die Eheschließung zwischen dem 30. und 35. Lebensjahr anordnet, eine Präambel haben, die erläutert, dass die Fortpflanzung der Weg ist, auf dem die Menschen Unsterblichkeit erlangen (Nom. 4. 721b). Die Pflichten der zahlreichen Verwaltungsbeamten sind in Buch 6 erläutert, und der Lehrplan, angefangen vom Kindergarten, wird in allen Einzelheiten in Buch 7 dargelegt. Die Nomoi selbst gehören zu den in der Schule durchzunehmende Texten. In Buch 9 werden die verschiedenen Rechtsverletzungen und der Mord behandelt und die Verfahren erläutert, die bei todeswürdigen Strafen, wie zum Beispiel Tempelraub, anzuwenden sind. Es werden detaillierte Bestimmungen festgelegt, die sicherstellen sollen, dass der Angeklagte einen fairen Prozess bekommt. In zivilrechtlichen Angelegenheiten werden kleinste Details erwähnt. So wird zum Beispiel festgesetzt, welche Wiedergutmachung dafür zu zahlen ist, dass ein Angeklagter den Bienenschwarm des Klägers fortgelockt hat (Nom. 9. 843e). Die Jagd wird stark eingeschränkt. Die einzig erlaubte Form ist die Jagd auf vierbeinige Tiere zu Pferd und mit Hunden (Nom. 7. 824a). Hin und wieder finden wir in Platons Nomoi theoretische Erörterungen der Sexualmoral, obwohl die tatsächliche Gesetzgebung bezüglich der Sexualität auf eine Form der Exkommunikation für Ehebruch beschränkt ist (Nom. 7. 785d–e). Auf eine Weise, die während der christlichen Ära weit verbreitet, in der heidnischen Antike jedoch selten war, ist die Sexualmoral der Nomoi auf die Vorstellung gegründet, dass der natürliche Zweck sexueller Betätigung die Fortpflanzung ist. Der Athener sagt an einer Stelle, er wolle ein Gesetz einführen, das vorsieht „den Beischlaf der Natur gemäß zur Kinderzeugung zu üben, indem sie sich, um nicht absichtlich der menschlichen Gattung den Todesstreich zu versetzen oder auf Felsen und Steinen, wo niemals der Same Wurzeln treiben und zu natürlichen Beschaffenheit gedeihen wird, die Aussaat zu machen, des männlichen Geschlechts enthalten, sowie jedes weiblichen Saatfeldes, wo man nicht wünscht, daß der Same aufgehe.“ (Nom. 8. 838e) Er erkennt

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jedoch, dass es sehr schwer sein würde, die Einhaltung eines solchen Gesetzes sicherzustellen, und schlägt stattdessen andere Maßnahmen vor, um die Sodomie zu unterbinden und die Menschen von anderen Formen des Beischlafs, die nicht der Fortpflanzung dienen, abzuhalten (Nom. 8. 836e, 841d). Wir haben hiermit einen Punkt in Platons Denken erreicht, der zu dem homosexuellen Geplänkel, das ein so typisches Merkmal der sokratischen Dialoge ist, auf große Distanz gegangen ist. Einer der interessantesten Abschnitte der Nomoi ist das zehnte Buch, das von der Verehrung der Götter und der Beseitigung von Häresien handelt. Unfrömmigkeit entsteht, so sagt der Athener, wenn Menschen nicht glauben, dass die Götter existieren, oder wenn sie glauben, dass es sie gibt, sie sich jedoch nicht um die Menschen kümmern. Als Präambel für Gesetze gegen die Gottlosigkeit muss der Gesetzgeber daher die Existenz des Göttlichen beweisen. Das detaillierte Argument, das Platon hierzu vorträgt, werden wir in einem späteren Kapitel über die Philosophie der Religion erörtern. Im Timaios, der wahrscheinlich zur selben Zeit wie die Nomoi entstanden ist, erläutert Platon die Beziehung zwischen Gott und der Welt. Er nimmt damit das traditionelle philosophische Thema Kosmologie wieder auf, das Anaxagoras seiner Meinung nach der Nachwelt in einem unbefriedigenden Zustand hinterlassen hatte. Die Welt des Timaios ist nicht das Feld mechanischer Ursachen: Sie wird von einer Gottheit gestaltet, die manchmal als Vater, als Schöpfer oder als Demiurg (von gr. demiourgos „Handwerker“, 28c) bezeichnet wird. Timaios, der namensgebende Held des Dialogs, ist Astronom. Er bietet Sokrates an, ihm die Geschichte des Universums zu erzählen, vom Anfang des Kosmos bis zum Auftauchen der Menschheit. Er sagt, dass die Menschen sich fragen, ob es die Welt schon immer gegeben hat oder ob sie einen Anfang in der Zeit hatte. Die Antwort muss lauten, dass sie einen zeitlichen Anfang hatte, da sie sichtbar, greifbar und körperlich ist, und weil nichts sinnlich Wahrnehmbares ewig und unveränderlich ist, wie es die Gegenstände des Denkens sind (Ti. 27d–28c). Die Gottheit, die die Welt geschaffen hat, hatte dabei ein ewiges Urbild vor Augen, „denn der Kosmos ist das schönste aller gewordenen Dinge, und die Gottheit ist die beste aller Ursachen“ (Ti. 29a). Doch warum hat sie die Welt geschaffen? Weil sie gut war und weil, was gut ist, frei von Neid und Selbstsucht ist (Ti. 29d). Wie Gott der Herr im Buch Genesis betrachtete der Demiurg sein Werk und fand, dass es gut war; und in seiner Freude schmückte er es mit vielen schönen Dingen. Doch unterscheidet sich der Demiurg vom Schöpfer der jüdisch-christlichen Tradition in mehrfacher Hinsicht. Erstens erschafft er die Welt nicht aus dem Nichts: Stattdessen lässt er sie aus einem anfänglichen Chaos hervorgehen, und seine schöpferische Freiheit ist durch die notwendigen Eigenschaften des Urstoffes eingeschränkt (Ti. 48a). „Weil nämlich der Gott wollte, daß alles gut und nach Möglichkeit nichts minderwertig sei, so führte er alles, was sichtbar war, und was er nicht in Ruhe, sondern in verworrener und ungeordneter Bewegung übernahm, aus der Unordnung in eine Ordnung – im Glauben, daß dieses in jeder Hinsicht besser sei als jenes.“

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(Ti. 30a) Zweitens sind bei Platon, im Gegensatz zum mosaischen Schöpfer, der an einem bestimmten Punkt der Schöpfung Leben in einer leblosen Welt schafft, sowohl das geordnete Universum als auch das Urbild, nach dem es geschaffen wurde, selbst lebende Wesen. Was ist dieses lebende Urbild? Er sagt es uns nicht, doch vielleicht ist es die Welt der Ideen, bezüglich der er gegen Ende des Sophistes zu dem Schluss gelangt, dass sie Leben enthalten müsse. Gott schuf die Weltseele, bevor er die Welt selbst gestaltete: Diese Weltseele schwebt zwischen der Welt des Seins und der Welt des Werdens (Ti. 35a) und an ihr befestigte er dann die Welt. „Indem sie aber von der Mitte aus bis zum äußersten Himmel überall hineinverflochten war und von außen ringsum diesen umschließend selbst in sich selber kreiste, begann ihr der göttliche Anfang eines endlosen und vernünftigen Lebens für alle Zeit. Und der Leib des Himmels ward ein sichtbarer, die Seele aber unsichtbar, doch des Denkens und des Einklanges teilhaftig, indem der Beste alles Denkbaren und Immerseienden zum Besten alles Gewordenen sie werden ließ.“ (Ti. 36e–37a)

Im Gegensatz zu jenen früheren Philosophen, die von einer Mehrzahl von Welten sprachen, behauptete Platon entschieden, unser Universum sei das einzige (Ti. 31b). Er folgt Empedokles darin, dass er die Welt als aus vier Elementen bestehend ansieht: aus Erde, Luft, Feuer und Wasser; und er folgt Demokrit in dessen Auffassung, dass die verschiedenen Qualitäten der Elemente auf den unterschiedlichen Formen der Atome beruhen, aus denen sie bestehen. Die Erdatome sind Würfel, die Atome der Luft Oktaeder, die Feueratome sind Pyramiden und die Wasseratome Ikosaeder. Der präexistente Raum war der Behälter, in den der Schöpfer die Welt setzt, und auf mysteriöse Weise liegt er den Veränderungen der vier Elemente zugrunde, ähnlich wie ein Klumpen Gold den verschiedenen Formen zugrunde liegt, die ein Goldschmied ihm geben mag (Ti. 50a). Hierin scheint Platon die Erste Materie von Aristoteles’ Hylemorphismus antizipiert zu haben. 38 Timaios erläutert, dass es vier Arten von lebenden Wesen im Universum gibt: Götter, Vögel, Tiere und Fische. Unter den Göttern unterscheidet Platon zwischen den Fixsternen, die er als ewige Lebewesen ansieht, und den Göttern der homerischen Tradition, die er in einer ihm etwas peinlichen Nebenbemerkung erwähnt. Er beschreibt, wie die Sterne und die Menschenwesen ihre Seelen bekommen haben, und entwickelt eine Dreiteilung der menschlichen Seele, die er bereits in der Politeia eingeführt hatte. Er gibt eine detaillierte Erläuterung des Wahrnehmungsvorgangs und der Konstruktion des menschlichen Körpers. 39 Diese Konstruktion, so lässt er uns wissen, wurde von Gott den geringeren Gottheiten anvertraut, die er selbst persönlich geschaffen hatte (Ti. 69c). Es folgt eine vollständige Beschreibung sämtlicher Organe

38 Siehe Kapitel 5. 39 Siehe Kapitel 7.

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des Körpers und ihrer Funktionen sowie eine Liste der Krankheiten von Körper und Seele. Über viele Jahrhunderte war der Timaios der einflussreichste von Platons Dialogen. Während die anderen Dialoge zwischen dem Ende der Antike und dem Beginn der Renaissance in Vergessenheit gerieten, überlebten große Teile des Timaios in lateinischen Übersetzungen von Cicero und eines Christen des vierten Jahrhunderts namens Chalcidius. Platons teleologische Beschreibung der Weltentstehung durch eine Gottheit war für die Denker des Mittelalters leicht an die Schöpfungsgeschichte der Genesis anzugleichen. Der Dialog gehörte in den frühen Tagen der Universität von Paris zur Pflichtlektüre, und 300 Jahre später ließ Rafael in seinem Gemälde der Schule von Athen Platon in der Mitte des Freskos eine Kopie des Timaios in Händen halten.

2

Schulen des Denkens: Von Aristoteles bis Augustinus

I

m vierten Jahrhundert kam es zu einer Verschiebung der politischen Macht von den Stadtstaaten des klassischen Griechenlands zum Königtum Makedonien im Norden. Ebenso war der nächste bedeutende Philosoph, nach den Athenern Sokrates und Platon, ein Makedonier. Aristoteles wurde 15 Jahre nach Sokrates’ Tod in der kleinen Kolonie Stagira auf der Halbinsel Chalkidiki geboren. Er war der Sohn des Nikomachos, des Leibarztes von König Amyntas, der der Großvater von Alexander dem Großen war. Nach dem Tod seines Vaters ging er im Jahre 367 im Alter von 17 Jahren nach Athen und trat in Platons Akademie ein. Er blieb 20 Jahre lang Platons Schüler und Mitarbeiter, und man wird mit Sicherheit behaupten dürfen, dass es in der Geschichte kein zweites Mal vorkam, dass in einer Institution so viel geistige Kraft konzentriert war.

Aristoteles in der Akademie Viele von Platons späten Dialogen stammen aus diesen Jahrzehnten, und einige der darin enthaltenen Argumente geben möglicherweise Gedanken wieder, mit denen Aristoteles die Diskussionen in der Akademie bereichert hat. Durch einen schmeichelhaften Anachronismus lässt Platon im Parmenides, demjenigen Dialog, der die schärfste Kritik der Ideenlehre enthält, einen Aristoteles genannten Gesprächsteilnehmer auftreten. Auch einige von Aristoteles’ eigenen Schriften fallen in diesen Zeitraum, obwohl viele dieser frühen Werke nur in Form von Fragmenten erhalten geblieben sind, die spätere Autoren zitiert haben. Wie sein Meister schrieb auch er zunächst in Dialogform, und auch inhaltlich zeigen seine Dialoge einen starken platonischen Einfluss. In dem verloren gegangenen Dialog Eudemus entwickelt Aristoteles zum Beispiel eine Konzeption der Seele, die derjenigen Platons im Phaidon sehr ähnlich ist. Er argumentiert entschieden gegen die These, dass die Seele eine Stimmung oder Harmonie des Leibes ist, und behauptet, dass sie in einem Leichnam gefangen gehalten ist und nach ihrer Zeit in einem Körper fähig ist, ein glücklicheres Leben zu führen. Die Toten sind seliger und glücklicher als die Lebenden und sind größer und besser geworden: „Es ist für alle Männer und Frauen besser, nicht geboren zu werden; und das Zweitbeste für die Menschen, nachdem sie geboren wurden, ist es, so schnell wie möglich zu sterben“ (Frag. 44). Durch den Tod kehrt man in seine wahre Heimat zurück.

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Die Lage der philosophischen Schulen von Athen.

Ein weiteres platonisches Werk aus der Jugend des Aristoteles ist sein Dialog Protreptikos, eine Ermahnung zur Philosophie. Auch dieser Dialog ist verloren gegangen, doch wurde er in der späteren Antike so ausgiebig zitiert, dass einige Philologen glauben, sie könnten ihn vollständig rekonstruieren. Aristoteles erklärt darin, jeder sei gezwungen, sich mit Philosophie zu beschäftigen, denn selbst wer gegen die Beschäftigung mit der Philosophie argumentiere, philosophiere schließlich. Doch die beste

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2 Schulen des Denkens: Von Aristoteles bis Augustinus

Form der Philosophie sei das Nachsinnen über das Universum oder die Natur. Anaxagoras wird für seine Behauptung gelobt, dass dasjenige, was das Leben lebenswert mache, die Beobachtung der Sonne, des Mondes und der Sterne am Himmel sei. Aus diesem Grund habe uns Gott geschaffen und uns einen gottähnlichen Geist gegeben. Alles Übrige – Stärke, Schönheit, Macht und Ehre – seien wertlos (Barnes, 2416). Der Protreptikos enthält eine lebhafte Darstellung der platonischen Ansicht, dass die Gemeinschaft der Seele mit dem Körper in gewisser Weise eine Strafe für in einem früheren Leben begangene Missetaten ist. „Wie man von den Etruskern behauptet, dass sie Gefangene damit foltern, dass sie sie an Leichen ketten, Gesicht zu Gesicht und Arm an Arm, Bein an Bein, so scheint die Seele über den Körper verteilt und an seine einzelnen Organe genagelt zu sein“ (Barnes, 2416). All dies unterscheidet sich sehr von den Auffassungen, die Aristoteles in seinen reiferen Jahren vertrat. Es ist wahrscheinlich, dass einige der von Aristoteles überlieferten Werke über Logik und die Kunst der Disputation, die Topik und die Sophistischen Widerlegungen, in diese Schaffensphase gehören. Hierbei handelt es sich um Werke, die in einem vergleichsweise informellen Stil verfasst sind, von denen das eine erläutert, wie man Argumente für eine Position entwickelt, zu deren Verteidigung man sich entschlossen hat, und das andere, wie man Schwächen in den Argumenten anderer ausfindig macht. Obwohl die Topik den Keim von Auffassungen enthält, wie zum Beispiel über die Kategorien, die in der späteren Philosophie des Aristoteles wichtig werden sollten, ist keines der beiden Werke eine systematische Abhandlung über formale Logik, wie wir sie später in der Ersten Analytik erhalten. Dennoch kann Aristoteles am Ende der Sophistischen Widerlegungen sagen, dass er die Wissenschaft der Logik aus der Taufe gehoben hat: Als er sich damit zu beschäftigen begann, konnte er sich auf keine Vorarbeiten anderer stützen. Er sagt, dass es viele Abhandlungen über Rhetorik gibt, doch: „Vor der hier geschehenen Untersuchung war aber nicht etwa schon Manches vorgearbeitet und Anderes nicht, sondern es war durchaus nichts vorhanden; […] Wenn ihr nun bei näherer Betrachtung meint, daß meine Darstellung, für welche nur solche Anfänge vorlagen, sich so ziemlich neben die Bearbeitungen jener Wissenschaften stellen kann, welche durch Überlieferung von Einem zu dem Anderen gewachsen sind, so bleibt für Euch und für die, welche meine Lehre gehört haben, nur übrig, daß wegen des in der Darstellung Übergangenen Nachsicht geübt, für das aber, was ich aufgefunden habe, mir viel Dank bewahrt bleibe.“ (SE 34. 184a9–b8) 1

Tatsächlich kann Aristoteles beanspruchen, Begründer der Logik gewesen zu sein. Seine wichtigsten Werke über das Thema sind die Kategorien, die Schrift De Interpretatione und die Erste Analytik. Er legt darin seine Auffassungen über Aussagen und 1

Zitiert nach: Aristoteles, Sophistische Widerlegungen, übersetzt von J. H. von Kirschmann (Leibzig: Dürr, 1882).

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logische Schlüsse in einfachen Worten dar. Sie werden mit den zwei anderen bereits erwähnten Werken und einer Abhandlung über wissenschaftliche Methode, der Zweiten Analytik, zu einer als Organon, oder „Werkzeug“ des Denkens bezeichneten Sammlungen zusammengefasst. Die meisten von Aristoteles’ Nachfolgern sahen die Logik nicht als eigenständige wissenschaftliche Disziplin an, sondern als eine propädeutische Kunst, die in jedem Fach verwendet werden konnte, woraus sich der Titel erklärt. Man ging zwei Jahrtausende lang davon aus, dass das Organon das Kernwissen des Faches enthält, obwohl schon in der Antike gezeigt wurde, dass es als System der Logik unvollständig war. 2 Während Aristoteles in der Akademie war, betrieb König Philipp II von Makedonien, der die Herrschaft im Jahre 359 von seinem Vater übernahm, jedoch eine Expansionspolitik und führte Krieg gegen eine Reihe griechischer Stadtstaaten, darunter auch Athen. Trotz der kriegerischen Eloquenz von Aristoteles’ Zeitgenossen Demosthenes, der den mazedonischen König in seinen „Philippika“ anprangerte, haben die Athener ihre Interessen nur halbherzig verteidigt. Nach einer Reihe demütigender Zugeständnisse ließen sie es zu, dass Philipp im Jahre 338 zum Herrn der griechischen Welt wurde. Für einen Mazedonier in Athen kann dies keine einfache Zeit gewesen sein. Innerhalb der Akademie blieben die Beziehungen jedoch scheinbar freundlich. Spätere Generationen stellten Platon und Aristoteles gern als Widersacher dar, und einige antike Autoren verglichen Aristoteles mit einem undankbaren Fohlen, das seine Mutter tritt (D.L. 5.1). Doch Aristoteles hat immer anerkannt, wie viel er Platon verdankt, den er bei seinem Tod als Besten und Glücklichsten der Sterblichen bezeichnete, „den schlechte Männer noch nicht einmal loben dürfen“. Er übernahm einen großen Teil seiner philosophischen Themen von Platon, und seine eigenen Auffassungen sind häufiger Änderungen als Widerlegungen von Platons Lehren. Die philosophischen Ideen, die beiden Denkern gemeinsam sind, sind wichtiger als die Fragen, die sie trennen – ebenso wie die im 17. und 18. Jahrhundert rivalisierenden Schulen der Rationalisten und Empiristen miteinander wesentlich mehr gemeinsam hatten, als mit den Philosophen, die ihnen vorangingen und die auf sie folgten. Doch bereits in seiner Phase in der Akademie begann Aristoteles sich von Platons Ideenlehre zu distanzieren. In seiner Streitschrift Über Ideen behauptete er, dass die Argumente in den mittleren Dialogen Platons lediglich zeigen, dass es zusätzlich zu den Einzeldingen bestimmte allgemeine Objekte der Wissenschaften gibt. Dies mussten jedoch keine Ideen sein. Gegen die Ideen setzte er eine Version des Arguments ein, dem wir bereits in Platons eigenen Dialogen begegnet sind: das „Argument vom dritten Menschen“ (Barnes, 2435). In seinen überlieferten Werken greift Aristoteles die Ideenlehre häufig an. Manchmal auf eher höfliche Weise, wie in der Nikomachischen Ethik, wo er eine Reihe von Argumenten gegen die Idee des Guten mit der Bemerkung einleitet, dass er eine schwierige Aufgabe vor sich habe, weil die Ideen von 2

Auf Einzelheiten von Aristoteles’ Logik wird in Kapitel 3 eingegangen.

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2 Schulen des Denkens: Von Aristoteles bis Augustinus

seinen guten Freunden eingeführt worden seien, dass es jedoch seine Pflicht als Philosoph sei, die Wahrheit mehr zu ehren als die Freundschaft. In der Zweiten Analytik verwirft er die Ideen jedoch verächtlich als „leeres Gerede“3 (APo. 1. 22. 83a33). In seiner Metaphysik erhebt er dann den ernsthaften Vorwurf gegen die Ideenlehre, dass sie die Probleme, zu deren Lösung sie eingeführt wurden, nicht löse. Sie verleihe den Einzeldingen keine Erkennbarkeit, denn unveränderliche und ewige Urbilder könnten nicht erklären, wie Einzeldinge entstehen und sich verändern. Darüber hinaus trügen sie zur Erkenntnis oder zum Sein anderer Dinge nichts bei (Metaph. A 9. 991a8 ff.). Die Theorie führe für die zu erklärenden Dinge lediglich ebenso viele zusätzliche Entitäten ein: Als könne man ein Problem lösen, indem man es verdoppele (Metaph. A 9. 990b3).

Der Biologe Aristoteles Als Platon im Jahre 347 starb, übernahm sein Neffe Seusippos die Leitung der Akademie, und Aristoteles verließ Athen. Er ging nach Assos an der Nordwestküste der heutigen Türkei. Die Stadt wurde von Hermias regiert, der selbst an der Akademie studiert und zuvor bereits einige andere Akademiker eingeladen hatte, um dort ein neues philosophisches Institut zu gründen. Aristoteles und Hermias wurden Freunde und er heiratete Pythias, eine enge Verwandte von ihm, mit der er zwei Kinder hatte. Im Jahre 343 fand Hermias ein tragisches Ende: Nachdem er mit Aristoteles’ Hilfe ein Bündnis mit Makedonien ausgehandelt hatte, wurde er auf verräterische Weise festgenommen und schließlich vom persischen Großkönig gekreuzigt. Aristoteles ehrte sein Andenken mit der „Ode an die Tugend“, seinem einzigen überlieferten Gedicht. Während seiner Zeit in Assos und während der nächsten paar Jahre, in denen er in der Nähe von Mytilene auf der Insel Lesbos lebte, unternahm Aristoteles umfangreiche wissenschaftliche Forschungen, insbesondere auf den Gebieten der Zoologie und Meeresbiologie. Die Ergebnisse wurden später in Buchform zusammengefasst, irreführend unter dem Titel Historia animalium (Geschichte der Tiere), der er zwei kürzere Abhandlungen hinzufügte, De partibus animalium (Über die Teile der Lebewesen) und De generatione animalium (Über die Entstehung der Tiere). Aristoteles erhebt nicht den Anspruch, die Wissenschaft der Zoologie gegründet zu haben, und seine Bücher enthalten zahlreiche Zitate früherer Autoren, verbunden mit einem auf reifer Urteilskraft basierenden Maß an Skepsis gegenüber einigen ihrer unplausiblen Berichte. Seine detaillierten Beobachtungen von Organismen höchst unterschiedlicher Art waren jedoch beispiellos und wurden in vielen Fällen erst im 17. Jahrhundert durch neuere Untersuchungen abgelöst. Obwohl er sich nicht für den ersten Zoologen hielt, ist es offensichtlich, dass sich Aristoteles als Pionier sah, und er hielt es sogar für erforderlich, sein Interesse an 3

Anm. d. Übers.: wörtlich: „Geträller“ (teretismata).

Der Biologe Aristoteles

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Titelblatt des Manuskripts einer Übersetzung von Aristoteles’ Historia animalium aus dem 15. Jahrhundert.

diesem Fach zu rechtfertigen. Frühere Philosophen hatten der Himmelsbeobachtung einen privilegierten Platz eingeräumt: Er hingegen beobachtete die Berührungsreaktionen von Schwämmen und das Ausschlüpfen von Maden. Zu seiner Verteidigung führt er an, dass die Himmelskörper zwar wunderbar und prachtvoll, jedoch nur schwer zu untersuchen seien, weil sie sich in so großer Ferne befänden und so verschieden von uns seien. Die Tiere hingegen lägen uns direkt vor Augen und seien mit

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uns wesensverwandt, sodass wir sie wesentlich genauer studieren könnten. Es sei kindisch, bei der Beobachtung der niederen Lebewesen ängstlich und zaghaft zu sein. „Wir sollten bei der Untersuchung jeder Tierart ohne Scheu vorgehen, denn jede von ihnen wird uns etwas Natürliches und Schönes zeigen“ (PA 1. 5. 645a20–5). Der Umfang von Aristoteles’ Forschungen ist höchst erstaunlich. Ein Großteil seiner Arbeit besteht in der Klassifikation nach Gattungen (z. B. Testacea) und Arten (z. B. Seeigel). In seinen Abhandlungen kommen mehr als 500 Arten vor, von denen viele detailliert beschrieben sind. Es wird deutlich, dass Aristoteles mit reiner Beschreibung nicht zufrieden ist: Wie ein Anatom präpariert er die untersuchten Tiere auch. Er gesteht, dass er das Sezieren nur widerwillig durchgeführt habe, besonders im Falle von Menschen. Doch um die Struktur des Ganzen verstehen zu können, sei es unerlässlich, die Teile eines jeden Organismus zu untersuchen (PA 1. 5. 644b22– 645a36). Aristoteles fügte in seine Abhandlungen erläuternde Zeichnungen ein, die leider verloren gegangen sind. Wir können uns vorstellen, von welcher Art die bereitgestellten Zeichnungen waren, wenn wir Abschnitte wie den folgenden lesen, in dem er das Verhältnis zwischen den Hoden und dem Penis erläutert. „Man mache sich dies aus der beigegebenen Zeichnung klar. A markiert den Anfang der aus der Aorta stammenden Stränge, KK markiert die Hodenköpfe und die von ihnen herabführenden Stränge. Die sich von den Hodenköpfen durch die Hoden ziehenden Stränge sind mit OO markiert, die umgekehrt verlaufenden Stränge, in denen sich die helle Flüssigkeit befindet, sind mit BB, der Penis mit D, die Blase mit E und die Hoden mit PP markiert.“ (HA 3. 1. 510a30–4) 4

Nur ein Biologe kann die Genauigkeit der zahllosen Informationen überprüfen, die uns Aristoteles über die Anatomie, die Nahrung, die Umwelt, das Paarungsverhalten und das Reproduktionssystem der Säugetiere, Vögel, Reptilien, Fische und Insekten mitteilt. Der Biologe Sir D’Arcy Thompson, der im 20. Jahrhundert die definitive Übersetzung der Historia animalium ins Englische verfasst hat, macht ständig auf die, mit Spuren von Aberglauben verbundene, Detailliertheit von Aristoteles’ Untersuchungen aufmerksam. Es führt einige spektakuläre Fälle an, in denen unwahrscheinliche Berichte von Aristoteles über seltene Fischarten sich viele Jahrhunderte später als zutreffend herausstellten.5 An anderen Stellen werden biologische Probleme, die erst Jahrtausende später gelöst wurden, von Aristoteles offen und ehrlich benannt. Einer dieser Fälle betraf die Frage, ob bei der Embryonalentwicklung zu Beginn bereits sämtliche Teile des späteren Tieres in Miniaturform vorhanden sind, 4 5

Zitiert in Anlehnung an: Aristoteles, Tierkunde, übersetzt und herausgegeben von P. Gohlke (Paderborn: Schöningh, 1949). Vergleiche G. E. R. Lloyd, Aristotle: The Growth and Structure of his Thought (Cambridge: Cambridge University Press, 1968), 74–81.

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oder ob während der Entwicklung des Embryos völlig neue Strukturen entstehen (GA 2. 1. 734a1–735a4). Der moderne Laie kann nur raten, welche Teile von Passagen wie den folgenden zutreffend sind und welche auf Fantasie beruhen. „Alle vierfüßigen Säuge- und Bluttiere haben Zähne, wobei zunächst einmal bei den einen in beiden Kiefern Zähne sind, bei den anderen hingegen nicht. Alle Hörnertiere haben ein unvollständiges Gebiss, da ihnen im Oberkiefer die Vorderzähne fehlen. Es gibt solche Tiere auch ohne Hörner, z. B. das Kamel. Manche haben Hauer, wie der Eber, manche nicht. Ferner haben manche spitze Zähne, wie Löwe, Panther und Hund, andere gleichmäßige ohne Lücken, wie Pferd und Rind. Im Gebiss mit scharfen Zähnen wechseln die spitzen Zähne miteinander ab.“ (HA 2. 1. 501a8 ff.) 6 „Die Eier bilden sich bei den sich paarenden Fischen nach der Befruchtung, aber sie legen auch ohne Paarung Eier. Man sieht es bei manchen Flußfischen. Sozusagen gleich nach der Geburt und noch ganz klein legen nämlich die Elritzen schon Eier. Sie streuen die Eier aus und die Männchen verschlucken die meisten, wie schon gesagt wurde, während die anderen im Wasser verkommen. Nur die bleiben erhalten, die an Stellen abgelegt sind, die sich zur Aufzucht eignen. Wenn nämlich alle erhalten blieben, wäre jede Gattung unermeßlich zahlreich. Und selbst von diesen werden die meisten nicht befruchtet, sondern nur diejenigen, die das Männchen mit der Samenflüssigkeit besprengt. Bei der Ablage der Eier folgt das Männchen nach und sprengt auf die Eier die Samenflüssigkeit. Aus denen, die befruchtet sind, werden durchweg kleine Fischchen, aus den anderen nur, wenn es der Zufall will.“ (HA 6. 3. 567a29–b6) 7

Leichter ist es dagegen, zu einem schnellen Urteil über Aristoteles’ Versuche zu gelangen, anatomische Merkmale des Menschen mit Charaktereigenschaft in Verbindung zu bringen. So sagte er uns beispielsweise, dass Menschen mit Plattfüßen sehr wahrscheinlich Schurken sind und dass Menschen mit großen, hervorstehenden Ohren eine Tendenz zum Schwätzen über triviale Dinge haben (HA 1. 11. 492a1). Obwohl Ammenmärchen darin enthalten sind, müssen uns Aristoteles’ biologische Schriften als ungeheure Leistung erscheinen, wenn wir uns klar machen, unter welchen Bedingungen er gearbeitet hat: ohne irgendwelche der Hilfsmittel der Forschung, die Naturwissenschaftlern seit der Neuzeit zur Verfügung standen. Er selbst und seine Assistenten müssen ein extrem gutes Sehvermögen besessen haben, da einige der von ihnen genau beschriebenen Merkmale von Insekten erst nach der Erfindung des Mikroskops erneut beobachtet wurden. Seine Nachforschungen wurden in einem genuin wissenschaftlichen Geist durchgeführt, und er ist jederzeit bereit, sein Nichtwissen einzugestehen, wenn die vorhandenen Beweise für eine defini6 7

Zitiert in Anlehnung an: Aristoteles, Tierkunde, übersetzt und herausgegeben von P. Gohlke (Paderborn: Schöningh, 1949). Ebd.

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tive Aussage nicht ausreichen. Bezüglich des Fortpflanzungsmechanismus der Bienen hat er beispielsweise Folgendes zu sagen: „Die Fakten sind noch nicht ausreichend erkannt. Sollten sie jemals erkannt werden, müssen wir der Beobachtung mehr als der Theorie vertrauen und Theorien nur Glauben schenken, wenn ihre Ergebnisse mit den beobachteten Phänomenen zusammenpassen.“ (GA 3. 10. 760b28–31)

Das Lykeion und sein Lehrplan Etwa acht Jahre nach Hermias’ Tod wurde Aristoteles von König Philipp II in die mazedonische Hauptstadt bestellt, um die Erziehung seines 13jährigen Sohnes, des späteren Alexander des Großen, zu übernehmen. Wir wissen nur wenig über den Inhalt dieses Unterrichts: Die Rhetorik für Alexander, die in die gesammelten Werke des Aristoteles Eingang gefunden hat, gilt im Allgemeinen als Fälschung. Antike Quellen geben an, Aristoteles habe für seinen Schüler Essays über das Königtum und über Kolonisation geschrieben und ihm eine eigene Homer-Ausgabe geschenkt. Alexander soll mit diesem Buch unter dem Kopfkissen geschlafen haben, und als er im Jahre 366 König wurde und seine spektakuläre militärische Laufbahn begann, sorgte er dafür, dass seinem Lehrer aus allen Teilen Griechenlands und Kleinasiens Präparate biologischer Exemplare geschickt wurden. Innerhalb von zehn Jahren hatte sich Alexander zum Herren eines Reiches gemacht, das von der Donau bis zum Indus reichte und zu dem Libyen und Ägypten gehörten. Während Alexander Asien eroberte, befand sich Aristoteles wieder in Athen, wo er im Lyzeum, einer Sportstätte direkt außerhalb der Stadtgrenze, seine eigene Schule gründete. Er war mittlerweile 50 Jahre alt und stellte eine beachtliche Bibliothek zusammen. Er versammelte eine Gruppe brillanter junger Forscher um sich, die sogenannten „Peripatetiker“. Der Name geht auf eine Allee (peripatos) zurück, entlang der sie bei ihren Gesprächen wandelten. Das Lyzeum war im Gegensatz zur Akademie keine private Institution. Zahlreiche Vorlesungen waren öffentlich und konnten von jedem Interessierten kostenlos besucht werden. Aristoteles’ anatomische und zoologische Forschungen hatten seiner Philosophie eine neue und definitive Richtung gegeben. Obwohl er sein Leben lang ein Interesse an der Metaphysik bewahrte, ist sein reifes Denken ständig mit der empirischen Wissenschaft verknüpft. Sein Philosophieren war insgesamt durch biologische Denkformen bestimmt. Die meisten Werke, die uns erhalten geblieben sind, mit Ausnahme der zoologischen Abhandlungen, sind wahrscheinlich während dieses zweiten Aufenthalts in Athen entstanden. Ihre chronologische Reihenfolge lässt sich nicht mit Sicherheit angeben, und es ist wahrscheinlich, dass die wichtigsten Abhandlungen – über Physik, Metaphysik, Psychologie, Ethik und Politik – ständig umgeschrieben

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und aktualisiert wurden. In ihrer überlieferten Form finden sich Spuren verschiedener Entstehungsebenen, obwohl keine Einigkeit darüber erzielt werden konnte, wie diese verschiedenen Schichten genau zu unterscheiden oder zu datieren sind. Aristoteles’ Stil in seinen Hauptwerken ist von demjenigen Platons oder irgendeines anderen seiner philosophischen Vorgänger sehr verschieden. In der Zeit zwischen Homer und Sokrates schrieben die meisten Philosophen in Gedichtform, und Platon, der in der Blütezeit der athenischen Tragödie und Komödie schrieb, verfasste dramatische Dialoge. Aristoteles, dessen Lebensdaten mit denen des größten griechischen Redners Demosthenes fast deckungsgleich sind, bevorzugte einen monologischen Prosastil. Die von ihm verfasste Prosa ist im Allgemeinen weder klar noch ausgefeilt, obwohl er, wenn er wollte, Passagen von ergreifender Eloquenz schreiben konnte. Es kann sein, dass es sich bei den Texten, die wir besitzen, um die Notizen handelt, die seinen Vorlesungen zugrunde lagen. Vielleicht sind es in einigen Fällen auch die Notizen von Studenten, die an den Vorlesungen teilnahmen. Alles, was Aristoteles schrieb, ist voll fruchtbarer Ideen und voller Energie. Jeder Satz hat großes intellektuelles Gewicht. Doch es verlangt große Anstrengung, die volle Bedeutung seiner schroffen Sätze zu entschlüsseln. Was uns von Aristoteles über die Jahrhunderte überliefert wurde, gleicht eher einem Satz von Telegrammen als Briefen. Die Werke des Aristoteles sind auf eine Weise systematisch, wie es die Werke Platons nie gewesen sind. Selbst in den Nomoi, demjenigen Text Platons, der einem Lehrbuch am nächsten kommt, springen wir auf verwirrende Weise von Thema zu Thema und sogar von Fach zu Fach. Keiner der anderen wichtigen Dialoge lässt sich einem einzelnen Gebiet der Philosophie eindeutig zuordnen. Wenn wir bei der Besprechung Platons von bestimmten „Disziplinen“ reden, so ist dies natürlich unzeitgemäß, allerdings nicht sehr, denn der Begriff einer Disziplin, im modernen akademischen Sinn dieses Wortes, wird von Aristoteles in der Schaffensperiode seines Lykeions sehr klar erläutert. In der Metaphysik unterscheidet Aristoteles drei Arten von Wissenschaft (Metaph. E 1. 1025b25): hervorbringende, handelnde und betrachtende Wissenschaften. Die hervorbringenden Wissenschaften sind, wie es ihr Name sagt, diejenigen Wissenschaften, die ein Produkt haben. Hierzu gehören das Ingenieurwesen und die Architektur mit Produkten wie Brücken und Häusern, jedoch auch Fachgebiete wie Strategie und Rhetorik, deren Produkte manchmal weniger konkret sind, wie zum Beispiel der Sieg auf dem Schlachtfeld oder vor Gericht. Handelnde oder praktische Wissenschaften sind solche, die dem Handeln die Richtung geben, vor allem die Ethik und Politik. Betrachtende oder theoretische Wissenschaften sind diejenigen, die weder ein Produkt noch ein praktisches Ziel haben, sondern in denen Wissen und Verständnis um seiner selbst willen gesucht wird. Es gibt drei theoretische Wissenschaften: die Physik, die Mathematik und die Theologie (Metaph. E 1. 1026a19). In dieser Trilogie ist nur die Mathematik das, was sie zu sein scheint. Physik ist gleichbedeutend mit Naturphilosophie oder dem Studium der Natur (physis). Es ist ein wesentlich breiteres Studienfach als die Physik im

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heutigen Sinne. Zu ihr gehören die Chemie, die Meteorologie und sogar die Biologie und Psychologie. Als „Theologie“ bezeichnet Aristoteles das Studium von Wesen mit einer den Menschen überlegenen Seinsweise, d. h. der Himmelskörper sowie derjenigen Gottheiten, die im bestirnten Himmel wohnen mögen. Seine Schriften zu diesem Thema gleiche mehr einem Lehrbuch der Astronomie als einer Abhandlung über natürliche Religion. Es mag überraschen, dass die Metaphysik, eine theoretische Disziplin par excellence, in Aristoteles’ Liste der theoretischen Wissenschaften nicht vorkommt, da so viele seiner Schriften sich damit befassen, und da eine der längsten Abhandlungen den Titel Metaphysik trägt. Tatsächlich kommt das Wort in Aristoteles’ eigenen Schriften nicht vor und taucht erstmals in einem nach seinem Tod erstellten Katalog seiner Werke auf. Es bedeutet einfach „nach der Physik“ und bezieht sich auf diejenigen Werke, die nach seiner Physik aufgelistet sind. Tatsächlich hat er jedoch den Zweig der Philosophie, den wir heute Metaphysik nennen, als eigenständig anerkannt: Er bezeichnete ihn als erste Philosophie und definierte sie als diejenige Wissenschaft, die das Seiende als Seiendes studiert. 8

Aristoteles über Rhetorik und Dichtkunst Auf dem Gebiet der hervorbringenden Wissenschaften schrieb Aristoteles zwei Werke: die Rhetorik und die Poetik. Sie waren dazu bestimmt, Anwälten und Autoren von Theaterstücken bei ihren jeweiligen Aufgaben zu helfen. Die Rhetorik ist nach Aristoteles diejenige Disziplin, die in einem beliebigen gegebenen Fall die möglichen Mittel der Überredung angibt. Sie ist nicht auf ein bestimmtes Feld beschränkt, sondern thematisch neutral. Es gibt drei Grundlagen der Überredung durch das gesprochene Wort: den Charakter des Sprechers, die Stimmung der Zuhörer und die Gründe (triftige oder schlechte) des Gesagten selbst. Der Student der Rhetorik muss daher in der Lage sein, logisch zu denken, Charaktere zu beurteilen und Gefühle zu verstehen (Rh. 1. 2. 1358a1–1360b3). Über Logik und Charaktereigenschaften hat Aristoteles in anderen Abhandlungen Aufschlussreicheres geschrieben, doch gibt er uns im zweiten Buch der Rhetorik eine umfassende Darstellung der Gefühle des Menschen. Gefühle sind für ihn Emotionen, die die Urteile der Menschen ändern, und sie sind von Schmerz und Lust begleitet. Er geht alle wichtigen Gefühlen der Reihe nach durch, bietet für jedes eine Definition und listet seine Objekte und Ursachen auf. Wut definiert er beispielsweise als einen von Schmerz begleiteten Wunsch nach etwas, das wie Rache für eine scheinbar unverdiente Kränkung der eigenen Person oder der eines Freundes aussieht (Rh. 2. 2. 1378a32–4). Er gibt eine Liste derjenigen Personen an, die uns wütend machen: zum Beispiel diejenigen, die sich über uns lustig machen, oder solche, die uns am

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Siehe Kapitel 5.

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Trinken hindern, wenn wir durstig sind, oder Personen, die uns bei unserer Arbeit im Wege sind. Ferner zürnen wir „denjenigen, die über das, was wir mit besonderem Eifer betreiben, lästern und es verachten, so sind z. B. die, die in der Philosophie Ehrgeiz an den Tag legen, zornig, wenn jemand etwas gegen ihre Philosophie sagt, die, welche sich viel auf ihre Schönheit zugute halten, wenn jemand sich abschätzig über sie äußert, und so ist es auch in den anderen Fällen. Der Zorn ist aber umso größer, wenn man annehmen muss, die entsprechenden Qualitäten nicht zu besitzen – entweder zur Gänze, oder nicht gerade in übermäßigem Ausmaß – oder nicht diesen Eindruck zu erwecken. Sobald man aber der Meinung ist, darin, worin man verspottet wird, bei weitem überlegen zu sein, so kümmert man sich nicht darum.“ (Rh. 2. 2. 1379a32–b1) 9

Aristoteles gibt uns eine detaillierte Erörterung der Gefühle Wut, Hass, Angst, Scham, Mitleid, Entrüstung, Neid und Eifersucht. Seine Behandlung ist in jedem Fall klar und systematisch und zeigt – wie im soeben zitierten Text – häufig eine scharfe psychologische Beobachtungsgabe. Die Poetik war, im Gegensatz zur Rhetorik, ein im Laufe der Geschichte viel gelesener Text. Nur das erste Buch ist überliefert, eine Abhandlung über Epik und tragische Dichtung. Das zweite Buch, über die Komödie, ist verloren gegangen. Umberto Eco hat in seinem Roman Der Name der Rose eine dramatische Dichtung über ihre fiktive Überlieferung und anschließende Zerstörung in einer Abtei des 14. Jahrhunderts geschrieben. Um das Anliegen des Aristoteles in seiner Poetik würdigen zu können, muss man etwas über Platons Verhältnis zur Dichtkunst wissen. Im zweiten und dritten Buch der Politeia wird Homer dafür gerügt, die Götter falsch dargestellt und entwürdigende Gefühle erregt zu haben. Auch die dramatischen Darstellungen der Tragiker werden als irreführend und erniedrigend angegriffen. Im zehnten Buch dient die Ideenlehre als Grundlage für einen weiteren, grundsätzlicheren Angriff auf die Dichter. Materielle Gegenstände sind unvollkommene Kopien der allein wahrhaft wirklichen Ideen. Daher sind künstlerische Darstellungen materieller Gegenstände, als Nachahmungen von Nachahmungen, von der Wirklichkeit gleich doppelt weit entfernt (Pol. 597e). Dramen haben einen verderblichen Einfluss, da sie die niederen Teile unserer Natur ansprechen und uns zum Weinen und Lachen bewegen (Pol. 605d–6c). Dichter von Dramen müssen aus der idealen Stadt ferngehalten werden: Sie sollen mit Myrrhe gesalbt, mit Lorbeer gekrönt, dann aber ihres Weges geschickt werden (Pol. 398b). Eines von Aristoteles’ Zielen bestand darin, den Streit zwischen Dichtkunst und Philosophie zu schlichten. Nachahmung ist für ihn – weit davon entfernt, die ernied9

Zitiert nach: Aristoteles, Rhetorik, übersetzt und herausgegeben von F. G. Krapinger (Stuttgart: Reclam, 1999).

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rigende Aktivität zu sein, als die Platon sie beschrieb – ein für Menschen von Kindesbeinen an natürliches Verhalten. Sie ist eines der Merkmale, die Menschen den Tieren überlegen sein lässt, da sie den Umfang dessen, was Menschen lernen können, ungeheuer erweitert. Außerdem ist jegliche Form von Darstellung Anlass einer ihr eigentümlichen Freude: Wir freuen uns an Gemälden von Objekten, die wir an sich ärgerlich oder abstoßend finden, und bewundern sie (Po. 4. 1448b5–24). Aristoteles bietet eine detaillierte Analyse des Wesens tragischer Dramen. Er definiert eine Tragödie auf folgende Weise: „Die Tragödie ist die Nachahmung einer edlen und abgeschlossenen Handlung von bestimmter Größe in gewählter Rede, derart, daß jede Form solcher Rede in gesonderten Teilen erscheint und daß gehandelt und nicht berichtet wird und daß mit Hilfe von Mitleid und Furcht eine Reinigung von derartigen Affekten bewerkstelligt wird.“ (Po. 6. 1449b24 ff.) 10

Niemand weiß, was Aristoteles mit katharsis, oder Reinigung, genau gemeint hat. Vielleicht wollte er uns Folgendes lehren: Die Betrachtung einer Tragödie hilft uns, unsere eigenen Sorgen und Nöte zu relativieren, da wir sehen, welches Unglück anderen, uns deutlich überlegenen Menschen, widerfuhr. Mitleid und Angst, die Gefühle, von denen wir gereinigt werden sollen, werden nach seiner Meinung am stärksten erregt, wenn die Tragödie Menschen als Opfer von Hass und Mord in solchen Situationen darstellt, in denen sie am meisten hätten erwarten können, geliebt und geschätzt zu werden. Das ist der Grund, warum so viele Tragödien von Feindschaften innerhalb einer einzigen Familie handeln (Po. 14. 1453b1–21). Nach Aristoteles sind für eine Tragödie sechs Elemente erforderlich: eine Handlungsfolge, Charaktere, Sprache, Erkenntnisfähigkeit, Inszenierung und Melodik (Po. 6. 1450a11 V.). Die ersten beiden Elemente interessieren ihn am meisten. Ein Bühnenbild und musikalische Begleitung gehören zum Zubehör, auf das man verzichten kann: Was an einer Tragödie großartig ist, kann man allein beim Lesen des Textes erfassen. Sprache und Erkenntnisfähigkeit sind wichtiger. Was die Gefühle des Zuhörers erregt, sind die von den Charakteren ausgedrückten Gedanken. Wenn die Aufwühlung der Gefühle zustande kommen soll, müssen die Gedanken von den Schauspielern auf überzeugende Weise vorgetragen werden. Was jedoch das Genie des tragischen Dichters ausmacht, sind die Charaktere und die Handlung. Aristoteles widmet den Charakteren ein langes Kapitel und der Handlung ganze fünf Kapitel. Der zentrale Charakter oder tragische Held muss entweder äußerst edel oder abgrundschlecht sein: Es sollte sich dabei um eine Person von Rang handeln, die im Prinzip gut ist, jedoch aufgrund eines großen Fehlers (hamartia) scheitert. Eine Frau kann die charakterliche Größe besitzen, die für eine tragische Heldin erforderlich ist, 10 Zitiert nach: Aristoteles, Poetik, übersetzt und eingeleitet von O. Gigon (Stuttgart: Reclam, 1961).

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und selbst ein Sklave kann eine tragische Person sein. Wer immer der Protagonist ist: Es ist wichtig, dass er oder sie die Eigenschaften hat, die zu ihm oder ihr passen, und sie müssen im Verlauf des gesamten Dramas konsistent sein (Po. 15. 1454a15 ff.). Jede der handelnden Personen sollte über einige gute Charaktereigenschaften verfügen. Was sie tun, muss sich aus ihrem Charakter ergeben, und was ihnen zustößt, sollte die notwendige oder wahrscheinliche Folge ihres Verhaltens sein. Die Handlung ist das wichtigste Element von allen: Die Charaktere werden um der Handlung willen erdacht, nicht umgekehrt. Bei der Handlung muss es sich um eine abgeschlossene Geschichte mit einem deutlich markierten Anfang, einer Mitte und einem klaren Ende handeln. Sie muss so kurz und einfach sein, dass sich die Zuschauer alle ihre Einzelheiten vergegenwärtigen können. Die Tragödie muss eine Einheit aufweisen. Man kann keine Tragödie schreiben, indem man einfach eine Folge von Episoden aneinanderreiht, die lediglich durch den gemeinsamen Held zusammengehalten wird. Stattdessen muss sie eine einzige bedeutsame Tat enthalten, die über den gesamten Verlauf der Handlung entscheidet (Po. 8. 1451a21–9). In einer typischen Tragödie wird die Geschichte allmählich immer komplizierter, bis ein Wendepunkt erreicht wird, den Aristoteles als „Umkehrung“ (peripeteia) bezeichnet. Dies ist der Moment, in welchem dem scheinbar glücklichen Held das Unglück zustößt, vielleicht durch eine „Offenbarung“ (anagnoresis), wie zum Beispiel die Entdeckung ihm bislang unbekannter Tatsachen (Po. 15. 1454b19). Auf die Umkehrung folgt die Auflösung, in der sich die zuvor eingeführten Komplikationen allmählich entwirren (Po. 18. 1455b24 ff.). Diese Behauptungen werden durch ständige Hinweise auf wirkliche griechische Dramen veranschaulicht, insbesondere auf die Tragödie König Ödipus von Sophokles. Zu Beginn des Stückes genießt Ödipus Wohlstand und allgemeines Ansehen. Er ist im Wesentlichen ein guter Mann, doch hat er einen fatalen Charakterfehler: Er ist zu impulsiv. Diese moralische Schwäche führt dazu, dass er in einem Streit einen Fremden tötet und ohne die erforderliche Besonnenheit eine Ehe eingeht. Die Offenbarung, dass es sich bei dem getöteten Mann um seinen Vater handelt, und dass die Frau, die er geheiratet hat, seine Mutter ist, führt zur Umkehrung seines Schicksals. Er wird aus seinem Königreich vertrieben und nimmt sich aus Scham und Reue selbst das Augenlicht. Aristoteles’ Theorie der Tragödie erlaubt es ihm, auf Platons Vorwurf einzugehen, die Dramatiker ahmten, wie andere Künstler, lediglich das alltägliche Leben nach, das selbst nur eine Nachahmung der realen Welt der Ideen sei. Er gibt seine Antwort, indem er die dramatische Dichtkunst mit der Geschichtsschreibung vergleicht. „Es ergibt sich auch aus dem Gesagten, daß es nicht die Aufgabe des Dichters ist, zu berichten, was geschehen ist, sondern vielmehr, was geschehen könnte, und was möglich wäre nach Angemessenheit oder Notwendigkeit. Denn der Geschichtsschreiber und der Dichter unterscheiden sich nicht dadurch, daß der eine Verse schreibt und der

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andere nicht (denn man könnte ja auch die Geschichte Herodots in Verse setzen und doch bliebe es gleich gut Geschichte, mit oder ohne Verse); sie unterscheiden sich vielmehr darin, daß der eine erzählt, was geschehen ist, der andere, was geschehen könnte. Darum ist die Dichtung auch philosophischer und bedeutender als die Geschichtsschreibung. Denn die Dichtung redet eher vom Allgemeinen, die Geschichtsschreibung vom Besonderen.“ (Po. 9. 1451b5–9) 11

Was Aristoteles über Poesie und Dramen schreibt, könnte natürlich auch über andere Arten des kreativen Schreibens gesagt werden. Vieles von dem, was den Menschen im Laufe ihres alltäglichen Lebens zustößt, ist eine Sache reinen Zufalls; nur in der Dichtung können wir sehen, wie sich aus einem Charakter und seinen Handlungen die notwendigen Konsequenzen entwickeln.

Die ethischen Schriften des Aristoteles Wenden wir uns von den herstellenden nun den handelnden Wissenschaften zu. Aristoteles’ Beitrag zu diesen Wissenschaften besteht in seinen Schriften zur Moralphilosophie und zur politischen Theorie. Im Corpus Aristotelicum finden sich drei Abhandlungen zur Moralphilosophie: die Nikomachische Ethik (NE) mit zehn Büchern, die Eudemische Ethik (EE) in sieben Büchern und die Magna Moralia in zwei Büchern. Für jeden, der an der Entwicklung des aristotelischen Denkens interessiert ist, sind diese Texte von höchstem Interesse. Während man in den Abhandlungen zur Physik und Metaphysik Spuren der Revision und Umarbeitung finden kann, liegen uns, allein auf dem Gebiet der Ethik, Aristoteles’ Auffassungen zum selben Thema in drei unterschiedlichen, mehr oder weniger vollständigen Durchführungen vor, ohne dass es hierfür eine allgemein akzeptierte Erklärung gibt. In den ersten Jahrhunderten nach Aristoteles’ Tod wurden seine ethischen Abhandlungen von den nachfolgenden Autoren nur wenig verwendet, doch wird die EE häufiger zitiert als die NE, die in den frühesten Verzeichnissen der aristotelischen Schriften nicht eigens aufgeführt wird. Tatsächlich gibt es geringfügige Zweifel daran, ob es sich bei der NE um ein von Aristoteles selbst verfasstes Werk oder vielleicht um eine Schrift seines Sohnes Nikomachos handelt. Seit der Zeit des Kommentators Aspasius im zweiten Jahrhundert n. Chr. herrschte allgemeine Übereinstimmung darüber, dass die NE nicht nur von Aristoteles selbst verfasst wurde, sondern auch das wichtigste der drei Werke ist. Während des gesamten Mittelalters und seit des Wiederauflebens der klassischen Philologie wurde das Werk als die Ethik des Aristoteles behandelt, ja sogar als das beliebteste aller von ihm überlieferten Werke.

11 Zitiert nach: Aristoteles, Poetik, übersetzt und eingeleitet von O. Gigon (Stuttgart: Reclam, 1961).

Die ethischen Schriften des Aristoteles

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Die anderen Werke wurden sehr unterschiedlich eingeschätzt. Während die NE schon seit langer Zeit bei einer breiten Leserschaft Anklang gefunden hat, gefiel die EE, selbst unter Aristoteles-Forschern, nie mehr als einer Handvoll von Fanatikern. Im 19. Jahrhundert hielt man sie für unecht, und sie wurde unter dem Namen von Aristoteles’ Schüler Eudemos von Rhodos neu herausgegeben. Im 20. Jahrhundert haben sich die Forscher im Allgemeinen der Auffassung von Werner Jaeger 12 angeschlossen, der die EE für ein echtes, aber noch unreifes Werk hielt, das durch die in der Schaffensphase des Lyzeums geschriebene NE abgelöst wurde. Was die Magna Moralia betrifft, so wurde sie von einigen Gelehrten, Jaeger folgend, als nach-aristotelisch verworfen, während andere glühende Verfechter der These waren, es handele sich um ein authentisches Werk, um die früheste der drei Abhandlungen. Ein weiteres Problem betrifft die Beziehung zwischen der NE und der EE. Unter den überlieferten Manuskripten tauchen drei Bücher doppelt auf: einmal als die Bücher 5, 6 und 7 der NE, und einmal als die Bücher 4, 5 und 6 der EE. Es wäre falsch, die Frage nach der Beziehung zwischen der NE und der EE zu beantworten, ohne vorher zu entscheiden, wohin diese drei Bücher ursprünglich gehören. Mit philosophischen und stilometrischen Argumenten lässt sich zeigen, dass diese Bücher der EE wesentlich näher stehen als der NE. Wenn sie in die EE aufgenommen werden, wird die Einschätzung, die die EE als unreifes Werk von geringerem Wert ansieht, unhaltbar: Jaegers Argument, dass die EE Platon näher stehe und damit früher als die NE sei, fehlt dann jegliche Stütze. Darüber hinaus legen interne historische Anspielungen die Vermutung nahe, dass die strittigen Bücher, und damit die EE, in die Schaffensphase des Lyzeums gehören bzw. gehört. Die Konsistenz der NE selbst ist ebenfalls problematisch. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts behauptete der Aristoteliker Thomas Case in einem berühmten Artikel in der 11. Ausgabe der Encyclopaedia Britannica, dass „es sich bei der Nikomachischen Ethik wahrscheinlich um eine Sammlung separater Vorträge handelt, die zu einer halbwegs systematischen Abhandlung zusammengefasst wurden.“ Dies bleibt auch weiterhin sehr wahrscheinlich. Die Unterschiede zwischen der NE und der EE widersetzen sich einer einfachen chronologischen Lösung: Es kann sein, dass einige der in die NE aufgenommenen Vorträge älter und andere jünger sind als die EE, die selbst ein zusammenhängendes Ganzes bildet. Die stilistischen Unterschiede, die die NE nicht nur von der EE, sondern auch von fast allen anderen von Aristoteles’ Werken trennen, mögen anhand der antiken Überlieferung erklärbar sein, die behauptet, dass die NE von Nikomachos, die EE, zusammen mit einigen anderen Werken des Aristoteles, jedoch von Eudemos überarbeitet wurde. Was die Magna Moralia betrifft, so lehnt sie sich zwar eng an den Gedankengang der EE an, enthält aber eine Anzahl von Missverständnissen ihrer Lehre. Dies lässt sich sehr einfach erklären, wenn man annimmt, dass sie aus Mitschriften eines Studenten am Lyzeum besteht, die dieser auf12 W. Jaeger, Aristoteles, Grundlegung einer Geschichte seiner Entwicklung (Berlin: Weidmannsche Buchhandlung, 1923).

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gezeichnet hat, während Aristoteles eine Reihe von Vorlesungen hielt, die der EE inhaltlich glichen.13 Der Inhalt der drei Abhandlungen weist im Allgemeinen jeweils große Ähnlichkeit mit den beiden anderen auf. Die NE behandelt so ziemlich denselben Themenumfang wie Platons Politeia, und mit ein wenig Übertreibung könnte man sagen, dass die Moralphilosophie von Aristoteles diejenige Platons ohne die Idee des Guten ist. Die Idee des Guten kann Aristoteles zufolge nicht das höchste Gut sein, von dem die Ethik handelt, und dies schon allein aus dem Grunde nicht, dass die Ethik eine praktische Wissenschaft über dasjenige ist, was mit menschlicher Kraft erreichbar ist, während eine ewige und unveränderliche Idee des Guten bestenfalls von theoretischem Interesse sein könne. An die Stelle der Idee des Guten setzt Aristoteles als höchstes Gut, um das es in der Ethik geht, die Glückseligkeit (eudaimonia), denn wie Platon sieht auch er einen engen Zusammenhang zwischen einem tugendhaften und einem glücklichen Leben. In allen ethischen Abhandlungen ist ein glückliches Leben ein von tugendhafter Aktivität bestimmtes Leben, und jede von ihnen bietet eine Analyse des Begriffs der Tugend und eine Einteilung der Tugenden in verschiedene Arten oder Klassen. Eine Klasse ist die der moralischen Tugenden, wie zum Beispiel Mut, Mäßigung und Freizügigkeit, die in Platons ethischen Diskussionen ständig behandelt werden. Die andere Klasse ist die der intellektuellen Tugenden: Hier unterscheidet Aristoteles, wesentlich schärfer als Platon es je getan hat, zwischen der intellektuellen Tugend der Weisheit, die das ethische Verhalten bestimmt, und der intellektuellen Tugend des Verstehens, die sich in wissenschaftlichen Bemühungen und Betrachtungen ausdrückt. Der Hauptunterschied zwischen der NE und der EE besteht darin, dass Aristoteles in der NE die vollständige Glückseligkeit ausschließlich durch die Aktivitäten der philosophischen Kontemplation für erreichbar hält, während sie in der EE in der harmonischen Ausübung aller Tugenden besteht, der intellektuellen und der moralischen. 14

Die politische Theorie des Aristoteles Selbst in der Eudemischen Ethik ist es „der Dienst und die Kontemplation Gottes“, die den Maßstab für die angemessene Ausübung der moralischen Tugenden vorgeben, und in der Nikomachischen Ethik wird diese Kontemplation als übermenschliche Ak-

13 Die hier für das Verhältnis zwischen den moralphilosophischen Abhandlungen des Aristoteles gegebene Erklärung ist umstritten. Erläutert und verteidigt habe ich sie in: A. Kenny, The Aristotelian Ethics (Oxford: Clarendon Press, 1978) und, mit einigen Korrekturen und Änderungen, in: A. Kenny, Aristotle on the Perfect Life (Oxford: Clarendon Press, 1992). 14 Die Einzelheiten von Aristoteles’ Ethik werden in Kapitel 8 dargestellt.

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tivität eines göttlichen Teils unserer Selbst beschrieben. Aristoteles letztes Wort in dieser Sache ist, dass wir uns, obwohl wir sterblich sind, soweit wir können unsterblich machen sollen. Kommen wir von der Ethik zu ihrer Folgeabhandlung, der Politik, so haben wir wieder festen Boden unter den Füßen. „Der Mensch ist ein politisches Lebewesen“, wird uns gesagt: Menschen sind Kreaturen aus Fleisch und Blut, die in Städten und Gemeinschaften aufeinanderstoßen. Wie in seinen zoologischen Werken sind auch in Aristoteles’ politischen Untersuchungen Beobachtung und Theorie miteinander verbunden. Diogenes Laertius berichtet, dass er die Verfassungen von 158 Staaten gesammelt habe, zweifellos mit Unterstützung von Assistenten im Lyzeum. Eine von diesen, Der Staat der Athener, obwohl sie nicht als Teil des aristotelischen Corpus überliefert ist, wurde 1891 auf Papyrus entdeckt. Trotz einiger stilistischer Unterschiede zu anderen Werken gilt sie heute im Allgemeinen als echt. In einem Nachtrag zur NE, der sich wie ein Vorwort zur Politik liest, sagt Aristoteles, dass er – nachdem er die früheren Schriften über politische Theorie studiert habe – im Lichte der gesammelten Verfassungen untersuchen wolle, worin eine gute und worin eine schlechte Regierung bestehe, welche Faktoren der Bewahrung einer Verfassung zuträglich und welche hier abträglich seien, und welche Verfassung der beste Staat übernehmen solle (NE 10. 9. 1181b12–23). Die Politik wurde wahrscheinlich nicht in einem Zug niedergeschrieben, und wie in anderen Schriften überlappen und ergänzen sich wahrscheinlich auch hier Beobachtungen und theoretische Versuche. Die Gliederung des Buches in seiner jetzigen Form entspricht in etwa derjenigen des Programms der NE: Die Bücher 1–3 enthalten eine allgemeine Theorie des Staates sowie eine Kritik an früheren Autoren. Die Bücher 4–6 enthalten eine Darstellung der verschiedenen Verfassungsreformen: drei annehmbare (Monarchie, Aristokratie und Politie) und drei (Tyrannis, Oligarchie und Demokratie), die nicht toleriert werden können. Die Bücher 7 und 8 handeln von der idealen Verfassungsform. Auch in diesem Fall ist die Reihenfolge der Vorträge im Corpus wahrscheinlich nicht deckungsgleich mit derjenigen ihrer chronologischen Entstehung, doch besteht in der Forschung hierüber keine Einigkeit. Aristoteles beginnt mit der Feststellung, dass der Staat die höchste Form der Gemeinschaft ist, die sich das höchste der Güter zum Ziel setzt. Die einfachsten Gemeinschaften sind Familien aus Männern und Frauen, Herren und Sklaven. Er scheint den Unterschied zwischen Herr und Sklave als nicht weniger natürlich als denjenigen zwischen Mann und Frau anzusehen, obwohl er beklagt, dass es barbarisch sei, Frauen und Sklaven gleich zu behandeln (Pol. 1. 2. 1252a25–b6). Mehrere Familien machen ein Dorf aus und mehrere Dörfer einen Staat, bei dem es sich um die erste eigenständige Gemeinschaft handelt, die so natürlich ist wie die Familie (Pol. 1. 2. 1253a2). Obwohl der Staat jünger ist als die Familie, ist er ihr, als ein organisches Ganzes, seinem Wesen nach vorgeordnet, wie auch der menschliche Körper seinen Teilen, wie Händen und Füßen, vorgeordnet ist. Ohne Recht und Gesetz ist der Mensch das wildeste Tier. Wer nicht in einem Staat leben kann, ist ein wildes Tier, jemand, der keinen Staat benötigt, muss ein Gott sein. Die Gründung des Staates war

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Aristoteles hielt Frauen für minderwertiger als Männer. Die Legende hat sich an an ihm gerächt, wie in dieser Illustration eines Textes von Petrarca, in der Aristoteles’ Frau Phyllis auf ihm reitet und ihn schlägt.

die größte aller Wohltaten, da der Mensch seine Möglichkeiten nur innerhalb eines Staates entfalten kann (Pol. 1. 2. 1253a25–35). Unter den Autoren, die Aristoteles zitiert und kritisiert, nimmt Platon natürlicherweise eine wichtige Stellung ein. Ein großer Teil des zweiten Buchs der Politik beschäftigt sich mit der Kritik der Dialoge Politeia und Nomoi. Wie es in der Ethik keine Idee des Guten gibt, gibt es in der Politik keine Philosophenkönige. Aristoteles ist der Auffassung, dass der platonische Kommunismus zu nichts anderem als Streit führen wird. Eigentum sollte zwar gemeinsam genutzt werden, sich aber dennoch in Privatbesitz befinden. So können Eigentümer auf ihren Besitz stolz sein und die Freude erfahren, ihn mit anderen zu teilen oder zu verschenken. Aristoteles verteidigt die traditionelle Familie gegen den Vorschlag der Weibergemeinschaft und er missbilligt selbst die eingeschränkte militärische und offizielle Rolle, die den Frauen in den Nomoi zugewiesenen wird. Immer wieder beschreibt er Platons Vorschläge als undurchführbar. Er glaubt, sein Grundirrtum bestehe darin, dass er versuche, den Staat zu einheitlich zu gestalten. Die Vielfalt verschiedener Arten von Mitbürgern ist unerlässlich, und das Leben in einer Stadt sollte nicht wie das Leben in einer Kaserne sein (Pol. 2. 3. 1261a10–31). Wenn Aristoteles jedoch seine eigene Darstellung politischer Verfassungen gibt,

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macht er reichlichen Gebrauch von Platons Vorschlägen. Ein ständig wiederkehrender Unterschied zwischen beiden Autoren ist, dass Aristoteles zur Veranschaulichung seiner theoretischen Auffassungen häufig auf konkrete Beispiele verweist. Doch die begriffliche Struktur ist oft sehr ähnlich. Im folgenden Abschnitt aus Buch 3 ist der Widerhall der späten Bücher des Staates nicht zu überhören. „Da nun die Staatsverfassung und die Staatsregierung dasselbe meinen und die Staatsregierung das ist, was den Staat beherrscht, so wird dieses Beherrschende eines oder einige oder die Mehrheit sein müssen. Wenn nun der eine oder die einigen oder die vielen im Hinblick auf das Gemeinwohl regieren, dann sind dies notwendigerweise richtige Staatsformen, verfehlte aber jene, wo nur der eigenen Nutzung des eigenen, der einigen oder der vielen bezweckt wird. Denn entweder dürfen diejenigen, die nicht am Nutzen teilhaben, nicht Bürger genannt werden, oder sie müssen als Bürger am Nutzen teilhaben. Wir nennen nun von der Monarchie jene, die auf das Gemeinwohl schaut, das Königtum, von den Regierungen einiger, also mehrerer als eines, die entsprechende die Aristokratie (entweder weil die Besten regieren, oder weil sie zum Besten des Staates und der Gemeinschaft regieren). Wenn aber die Menge zum allgemeinen Nutzen regiert, so wird dies mit den gemeinsamen Namen aller Verfassungen, nämlich Politie genannt. Dies mit Recht: denn daß sich einer oder einige an Tugend auszeichnen, ist wohl möglich, daß dagegen viele in jeder Tugend hervorragen, schwierig; am ehesten noch in der kriegerischen, denn diese besitzt die Masse, und darum ist auch in einer solchen Verfassung das kriegerische Element das maßgebende, und es haben diejenigen an ihr teil, die Waffen tragen. Verfehlte Formen im genannten Sinne sind für das Königtum die Tyrannis, für die Aristokratie die Oligarchie und für die Politie die Demokratie. Denn die Tyrannis ist eine Alleinherrschaft zum Nutzen des Herrschers, die Oligarchie eine Herrschaft zum Nutzen der Reichen und die Demokratie eine solche zum Nutzen der Armen. Keine aber denkt an den gemeinsamen Nutzen aller.“ (Pol. 3. 6. 1279a26–b10) 15

Im Anschluss daran gibt Aristoteles eine detaillierte Bewertung dieser verschiedenen Verfassungsformen. Er legt dabei seine Ansichten über das Wesen des Staates zugrunde. Ein Staat ist nach seiner Auffassung eine Gemeinschaft von Menschen, die eine gemeinsame Sicht dessen besitzen, was gut und schlecht, gerecht und ungerecht ist. Sein Zweck ist es, seinen Bürgern ein gutes und glückliches Leben zu ermöglichen. Gibt es in einer Gemeinschaft ein Individuum oder eine Familie von überragender Vortrefflichkeit, so ist die Monarchie die beste Verfassung. Doch dies ist nur selten der Fall, und das Risiko, dass diese Verfassung missrät, ist groß, denn die Verfallsform der Monarchie ist die Tyrannis, die schlechteste aller Verfassungen. Rein theoretisch ist die Aristokratie nach der Monarchie die nächstbeste Verfassungsform, in der Praxis 15 Zitiert nach: Aristoteles, Politik, übersetzt und herausgegeben von O. Gigon (München: dtv, 1984).

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favorisiert Aristoteles jedoch eine Art konstitutioneller Demokratie, denn was er als „Politie“ bezeichnet, ist ein Staat, in dem die Reichen und Armen gegenseitig ihre Rechte respektieren, und in dem die hierzu qualifizierten Bürger mit der Zustimmung aller Bürger regieren (Pol. 4. 8. 1293b30 ff.). Der Verfall dieser Regierungsform ist dasjenige, was Aristoteles als „Demokratie“ bezeichnet, nämlich eine anarchistische Herrschaft des Pöbels. So schlecht die Demokratie ist, nach Aristoteles ist sie die am wenigsten schlechte der Verfallsformen der Herrschaft. Die Aufteilung der Regierung in drei Gewalten, in Legislative, Exekutive und Judikative, ist uns heute vertraut. Die Grundlagen dieses Systems werden von Aristoteles dargelegt, obwohl er die Gewalten etwas anders verteilt als zum Beispiel die Verfassung der USA. Alle Verfassungen haben nach seiner Meinung drei Elemente: das deliberative, das ausführende und das richterliche. Das deliberative Element hat Macht in den Angelegenheiten von Krieg und Frieden und im Eingehen von Bündnissen. Es verabschiedet Gesetze, überwacht die Durchführung der gerichtlichen Urteile und überprüft die Konten der den Staat führenden Beamten. Das ausführende Element ist für die Benennung der Minister und Beamten zuständig, angefangen von den Priestern über die Botschafter bis zu den Aufsichtsbeamten für Frauenangelegenheiten. Das richterliche Element besteht aus den zivilen und strafrechtlichen Gerichten (Pol. 4. 12. 1296b13–1301a12). Zwei Aspekte der politischen Lehren des Aristoteles haben die politischen Institutionen über viele Jahrhunderte beeinflusst: seine Rechtfertigung der Sklaverei und seine Verurteilung des Wuchers. Einige Leute, sagt uns Aristoteles, glauben, dass die Gewalt von Herren über Sklaven naturwidrig und daher ungerecht sei. Diese Auffassung ist jedoch völlig falsch: Ein Sklave ist jemand, der von Natur aus nicht sich selbst gehört, sondern Eigentum eines anderen Mannes ist. Die Sklaverei ist ein Beispiel für die allgemeine Wahrheit, dass einige Menschen von Geburt an dazu bestimmt sind zu herrschen, andere hingegen beherrscht zu werden (Pol. 1. 3. 1253b20–3; 5. 1254b22–4). Aristoteles gibt zu, dass in der Praxis die Sklaverei häufig ungerecht ist. Es gibt einen Brauch, nach dem die Kriegsbeute den Siegern gehört, und hierzu gehört das Recht, aus den Besiegten Sklaven zu machen. Doch viele Kriege sind ungerecht, und Siege in solchen Kriegen erteilen nicht das Recht, die Unterlegenen zu versklaven. Es gibt jedoch einige Menschen, die so minderwertig und animalisch sind, dass es besser für sie ist, von einem gütigen Herren beherrscht, als sich selbst überlassen zu werden. Sklaven sind für Aristoteles lebende Werkzeug – und darum ist er bereit zuzugestehen, dass es keinen Bedarf an Sklaven gäbe, wenn nichtlebende Werkzeuge denselben Zweck erfüllen könnten. „Wenn nämlich jedes einzelne Werkzeug auf einen Befehl hin, oder einen solchen schon voraus ahnend, seine Aufgabe erfüllen könnte, wie man das von den Standbildern des Dädalus […] erzählt […], wenn also auch das Weberschiffchen so webte und das Plektron die Kithara schlüge, dann bedürften weder die Baumeister der Gehilfen, noch die Herren der Sklaven.“ (Pol. 1. 4. 1253b35– 54a1) In einem Zeitalter der Automatisierung würde Aristoteles daher die Sklaverei nicht länger verteidigen.

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Obwohl er selbst kein Aristokrat war, hatte Aristoteles eine aristokratische Verachtung für kommerzielle Aktivitäten. Besitz hat seiner Meinung nach zwei Zwecke: einen angemessenen und einen unangemessenen. Die angemessene Verwendung eines Schuhs besteht zum Beispiel darin, ihn zu tragen. Ihn für andere Güter oder Geld einzutauschen, ist eine unangemessene Verwendung (Pol. 1. 9. 1257a9–10). Gegen Tauschgeschäfte mit dem zum Leben Notwendigen ist nichts einzuwenden, doch der Handel mit Luxusgütern ist, im Gegensatz zur Landwirtschaft, keine naturgemäße Beschäftigung. Beim Handel mit einzelnen Gütern spielt das Geld eine wichtige Rolle, und auch für Geld gibt es eine angemessene und eine unangemessene Verwendung. „So ist erst recht der Wucher hassenswert, der aus dem Geld selbst den Erwerb zieht, und nicht aus dem, wofür das Geld da ist. Denn das Geld ist um des Tausches willen erfunden worden, durch den Zins vermehrt es sich aber durch sich selbst. Daher hat es auch seinen Namen: das Geborene ist gleicher Art wie das Gebärende, und durch den Zins (tokos) entsteht Geld aus Geld. Diese Art des Gelderwerbs ist also am meisten gegen die Natur.“ (1. 10. 1258b5–7) 16

In Aristoteles’ hierarchischer Stufenfolge des Erwerbslebens stehen Bauern ganz oben, Bankleute ganz unten und Händler in der Mitte. Seine Haltung zur Erhebung von Zinsen war eine der Quellen ihres Verbotes während des gesamten christlichen Mittelalters, in dem es untersagt war, Zinsen auch nur in bescheidener Höhe zu erheben. „Wann hat die Freundschaft“, fragt Antonio Shylock im Kaufmann von Venedig, „jemals einem Freund einen Goldbarren abgenommen?“ Was an der Politik des Aristoteles am meisten auffällt, ist das fast völlige Fehlen jeglicher Hinweise auf Alexander oder auf Mazedonien. Wie ein moderner Vertreter von Amnesty International kommentiert Aristoteles, was in anderen Ländern an Gutem und Schlechtem geschieht, nur nicht in seinem eigenen. Sein eigener Idealstaat sollte aus nicht mehr als 100000 Bürgern bestehen, und damit noch klein genug sein, dass sich alle Bürger gegenseitig kennen und ihren Beitrag zu den gerichtlichen und politischen Ämtern leisten können. Er ist sehr verschieden von Alexanders Imperium. Wenn Aristoteles sagt, dass die Monarchie die beste Form der Verfassung ist, wenn es in einer Gemeinschaft außerordentlich vortreffliche Personen oder Familien gibt, so fällt überdeutlich auf, dass jeglicher Hinweis auf die mazedonische Königsfamilie fehlt. Tatsächlich scheinen sich die Beziehungen zwischen dem Welteroberer und seinem früheren Lehrer während der Jahre des Lyzeums abgekühlt zu haben. Alexander wurde immer größenwahnsinniger und verkündete schließlich, er sei göttlicher Natur. Aristoteles’ Neffe Callisthenes leitete im Jahre 327 den Widerstand gegen die Forderung des Königs, dass sich Griechen als Ausdruck der Anbetung vor ihm nie16 Zitiert nach: Aristoteles, Politik, übersetzt und herausgegeben von O. Gigon (München: dtv, 1984).

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derwerfen sollten. Er wurde auf lügenhafte Weise mit einer Verschwörung in Zusammenhang gebracht und hingerichtet. Der großmütige und hervorragende Mann, der der Held der ersten Bücher der NE ist, hat einige der grandiosen Eigenschaften Alexanders. In der EE werden die angeblichen Tugenden der Großmütigkeit und Prachtentfaltung jedoch abgewertet, und im Mittelpunkt stehen nunmehr Milde und Erhabenheit. 17

Die Kosmologie des Aristoteles Die Mehrzahl der überlieferten Werke des Aristoteles behandelt nicht hervorbringende oder praktische, sondern theoretische Wissenschaften. Seine biologischen Werke haben wir bereits besprochen. Es ist Zeit, etwas über seine Physik und seine Chemie zu sagen. Seine Beiträge zu diesen Wissenschaften sind sehr viel weniger beeindruckend als seine Forschungen in den Lebenswissenschaften. Während noch Darwin von seinen zoologischen Schriften beeindruckt war, wurde seine Physik bereits im sechsten Jahrhundert überholt. In seinen Schriften De generatione et corruptione und De caelo übergibt Aristoteles seinen Nachfolgern ein Bild der Welt, das viele Merkmale enthält, die von den Vorsokratikern übernommen wurden. Er übernahm die vier Elemente des Empedokles, d. h. Erde, Wasser, Luft und Feuer. Jedes von ihnen zeichnet sich dadurch aus, dass es ein ihm eigentümliches Paar der Eigenschaften warm, kalt, feucht und trocken besitzt: Die Erde ist kalt und trocken, die Luft warm und feucht, usw. Jedes Element hatte im geordneten Kosmos seinen natürlichen Platz sowie eine ihm wesentliche Tendenz, sich zu diesem Platz hinzubewegen. Daher fallen die erdigen Festkörper nach unten, während das Feuer, wenn es ungehindert ist, in immer größere Höhen steigt. Jede dieser Bewegungen ist seinem Element natürlich. Andere Bewegungen sind möglich, können aber nur mit Gewalt herbeigeführt werden. (Ein Relikt dieser aristotelischen Unterscheidung ist unsere Rede von einem natürlichen oder gewaltsamen Tod.) In seinen naturwissenschaftlichen Abhandlungen bietet Aristoteles Erklärungen einer großen Anzahl natürlicher Phänomene anhand der Elemente, ihrer grundlegenden Eigenschaften und ihrer natürlichen Bewegung. Die philosophischen Begriffe, die er zur Formulierung dieser Erklärungen verwendet, umfassen ein Spektrum verschiedener Formen von Ursachen (materiale, formale sowie Wirk- und Endursachen) sowie eine Analyse der Veränderung als Übergang von der Möglichkeit zur Wirklichkeit, sei es (bei einer substanziellen Änderung) von Stoff zu Form oder (bei einer zufälligen Änderung) von einer Qualität einer Substanz zu einer anderen. Diesen technischen Begriffen, die er in einer so erstaunlichen Vielzahl von Kontexten verwendet, werden wir uns in späteren Kapiteln noch ausführlicher zuwenden. 17 Vgl. A. Kenny, The Aristotelian Ethics (Oxford: Clarendon Press, 1978), 233.

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Aristoteles’ Sicht des Kosmos verdankt viel seinen vorsokratischen Vorgängern und Platons Dialog Timaios. Die Erde befindet sich im Mittelpunkt des Universums. Sie ist von einer Reihe konzentrischer Kristallsphären umgehen, die den Mond, die Sonne und die Planeten auf ihrer Reise über den sichtbaren Himmel tragen. Die Himmelskörper waren nicht aus den vier Elementen der Erde zusammengesetzt, sondern bestanden aus einem höheren fünften Elemente bzw. der Quintessenz. Sie hatten einen Körper und eine Seele, d. h. eine lebende, übernatürliche Intelligenz, die ihre Reise durch den Kosmos lenkte. Diese Intelligenzen waren Beweger, die sich selbst in Bewegung befanden, und hinter ihnen, argumentierte Aristoteles, musste es eine Quelle der Bewegung geben, die sich selbst nicht in Bewegung befand. Die einzige Weise, auf die ein unveränderlicher, ewiger Beweger in anderen Wesen eine Bewegung verursachen konnte, bestand darin, dass er sie als ein Liebesobjekt anzieht, und dass sich diese Anziehungskraft in ihrer vollkommenen Kreisbewegung ausdrückt. So findet Dante, in den letzten Zeilen des Paradieses, seinen eigenen Willen wie ein gleichmäßig sich drehendes Rad in die Liebe verfangen, die die Sonne und alle anderen Sterne bewegt. Selbst die besten naturwissenschaftlichen Arbeiten von Aristoteles sind heute nur noch von historischem Interesse. Der bleibende Wert von Abhandlungen wie seiner Physik besteht in der philosophischen Analyse einiger grundlegender Begriffe, die sich durch die Physik verschiedener Zeitalter ziehen, wie zum Beispiel Raum, Zeit, Kausalität und Determinismus. Wir werden sie in Kapitel 5 noch genauer untersuchen. Für Aristoteles waren Biologie und Psychologie nicht weniger Teile der Naturwissenschaft als Physik und Chemie, da auch sie verschiedene Formen der Physis beziehungsweise der Natur studierten. Die biologischen Werke haben wir bereits betrachtet; auf die psychologischen Werke werden wir in Kapitel 7 genauer eingehen. Zum aristotelischen Corpus gehört, zusätzlich zu den systematischen wissenschaftlichen Abhandlungen, eine riesige Sammlung von Gelegenheitsnotizen über wissenschaftliche Themen, die sogenannten Problemata. Seiner Struktur nach scheint dies ein gewöhnliches Buch gewesen zu sein, in das Aristoteles vorläufige Antworten auf Fragen schrieb, die ihm von Studenten oder Korrespondenten gestellt wurden. Da diese Fragen eher wahllos gruppiert sind und oft mehrfach auftauchen – und manchmal unterschiedlich beantwortet werden – scheint es unwahrscheinlich, dass sie von Aristoteles selbst verfasst wurden, sei es als einzelne Fragenreihe oder im Laufe seines Lebens. Doch diese Sammlung enthält zahlreiche faszinierende Details, die einen Einblick in die Arbeitsweise dieses alles verschlingenden Geistes erlauben. Manche dieser Fragen sind von der Art, wie sie ein Patient seinem Arzt stellen könnte. Sollten Geschwüre in den Achseln oder der Leistengegend mit Medikamenten behandelt oder chirurgisch entfernt werden? (Prob. 1. 34. 863a21) Ist es wahr, dass sich mit einer Mischung aus Portulak und Salz eine Gaumenentzündung behandeln lässt? (Prob. 1. 38. 863b12) Ist Kohl wirklich ein Heilmittel gegen einen Kater? (Prob. 3. 17. 873b1) Warum es so schwer, den Geschlechtsverkehr unter Wasser auszuführen?

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(Prob. 4. 14. 878a35) Andere Fragen und Antworten zeigen uns Aristoteles eher in der Rolle einer Kummerkastentante. Was tut man am besten gegen die unerwünschten Folgen von Knoblauchgenuss? (Prob. 13. 2. 907b28–908a10) Wie kann man verhindern, dass Gebäck hart wird? (Prob. 21. 12. 928a12) Warum küssen betrunkene Männer alte Frauen, die sie im nüchternen Zustand niemals küssen würden? (Prob. 30. 15. 953b15) Ist es richtig, Diebstähle von einem öffentlichen Ort härter zu bestrafen als Diebstähle aus einem Privathaus? (Prob. 29. 14. 952a16) Eine ernstere Frage lautet: Warum ist es schlimmer, eine Frau als einen Mann zu töten, obwohl das Männliche dem Weiblichen von Natur aus überlegen ist? (Prob. 29. 11. 951a12) Ein ganzes Buch der Problemata (26) ist im Wesentlichen der Wettervorhersage gewidmet. Andere Bücher enthalten Fragen, die einfach eine allgemeine Neugier zum Ausdruck bringen. Warum geht uns das Geräusch, das beim Schärfen einer Säge entsteht, durch Mark und Bein? (Prob. 7. 5. 886b10) Warum haben Menschen keine Mähne? (Prob. 10. 25. 893b17) Warum niest von allen Tieren allein der Mensch, und warum schielte nur er? (Stimmt das?) (Prob. 10. 50. 896b5; 54. 897a1) Warum zählen Barbaren und Griechen bis 10? (Prob. 15. 3. 910b23) Warum eignet sich eine Flöte besser zur Begleitung einer Solostimme als eine Leier? (Prob. 19. 43. 922a1) Häufig stellen die Problemata Fragen der Art „Warum ist dies und das der Fall?“, wenn es passender gewesen wäre zu fragen: „Ist dies und das der Fall?“ Zum Beispiel: „Warum haben Fischer rote Haare?“ (Prob. 37. 2. 966b25) Warum kann ein großer Chor den Takt besser halten als ein kleiner? (Prob. 19. 22. 919a36) Die Problemata zeigen uns einen Aristoteles, der seine Seele baumeln lässt, ähnlich wie spätere Autoren in ihren Tischgesprächen. Eine seiner Fragen wird besonders denjenigen gefallen, denen seine schwierigeren Werke einen größeren Lesewiderstand entgegengesetzt haben: „Warum werden manche Leute, wenn sie beginnen, ein ernsthaftes Buch zu lesen, gegen ihren Willen vom Schlaf überwältigt?“ (Prob. 18. 1. 916b1)

Das Vermächtnis von Aristoteles und Platon Als Alexander der Große im Jahre 323 starb, wurde es im demokratischen Athen selbst für einen anti-imperialistischen Makedonier unbehaglich. Aristoteles sagte, er wünsche nicht, dass die Stadt, die Sokrates hingerichtet hatte, „ein zweites Mal gegen die Philosophie sündigt“. Er floh nach Chalkis, wo er im Jahr darauf starb. Sein Testament, das uns erhalten geblieben ist, trifft fürsorgliche Vorkehrungen für eine große Anzahl von Freunden und für von ihm abhängige Personen. Seine Bibliothek vererbte er Theophrast, seinem Nachfolger in der Leitung des Lyzeums. Seine eigenen Schriften und Aufzeichnungen waren von enormem Umfang und einer ungeheuren intellektuellen Spannweite. Was davon überliefert ist, umfasst etwa eine Million Wörter, und man sagt, dass wir nur ein Fünftel seines Gesamtwerks besitzen. Wie wir gesehen haben, gehörten hierzu, außer den philosophischen Abhandlungen über Logik, Metaphysik, Ethik, Ästhetik und Politik, auch historische Arbeiten über Verfas-

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sungen, Theater und Sport sowie wissenschaftliche Werke über Botanik, Zoologie, Biologie, Psychologie, Chemie, Meteorologie, Astronomie und Kosmologie. Seit der Renaissance ist es üblich, die Akademie und das Lyzeum als zwei gegensätzliche Pole der Philosophie zu betrachten. Nach dieser Tradition war Platon idealistisch, utopisch und weltfern, Aristoteles hingegen realistisch, utilitaristisch und ein Anhänger des gesunden Menschenverstandes. In Raffaels Schule von Athen trägt Platon daher die Farben der flüchtigen Elemente Luft und Feuer und zeigt gen Himmel, während Aristoteles, im Blau des Wassers und Grün der Erde gekleidet, mit beiden Beinen fest auf der Erde steht. „Jeder Mensch wird als Aristoteliker oder Platonist geboren“, schrieb S. T. Coleridge. „Dies sind die beiden Klassen der Menschen, und es ist so gut wie unmöglich, sich außer diesen eine dritte vorzustellen.“ Der Philosoph Gilbert Ryle traf die Sache im 20. Jahrhundert besser als Coleridge. Er meinte, man könne die Menschen nach vier Dichotomien in zwei Klassen unterteilen: grün/blau, süß/herzhaft, Katzen/Hunden und Platon/Aristoteles. „Nenne mir deine Präferenz in einem dieser Paare“, so pflegte er zu sagen, „und ich nenne dir deine Präferenz in den anderen drei.“ 18 Wie wir jedoch bereits gesehen haben, und im Folgenden noch genauer sehen werden, sind die Lehren, die Platon und Aristoteles gemeinsam sind, wichtiger als diejenigen, die sie voneinander unterscheiden. Vielen Philosophiehistorikern seit der Renaissance war dies weniger klar als den zahlreichen Kommentatoren der Spätantike, die es als ihre Pflicht ansahen, einen harmonischen Einklang zwischen den beiden größten Philosophen der alten Welt herzustellen. Es wird manchmal behauptet, dass ein Philosoph nach der Wichtigkeit der von ihm gestellten Fragen beurteilt werden sollte, nicht nach der Richtigkeit der von ihm gegebenen Antworten. Wenn dies zutrifft, hat Platon einen unanfechtbaren Anspruch darauf, der Philosoph von höherem Rang gewesen zu sein. Er war der erste, der Fragen von großer Tiefgründigkeit stellte, von denen viele auch für die heutige Philosophie nach wie vor offene Fragen sind. Doch auch Aristoteles kann beanspruchen, einen beträchtlichen Beitrag zum intellektuellen Erbe der Welt geleistet zu haben. Denn er hat den Begriff der Wissenschaft erfunden, wie wir ihn heute verstehen und wie er seit der Renaissance verstanden worden ist. Zum einen ist er der Erste, dessen überlieferte Schriften detaillierte Beobachtungen von Naturphänomenen enthalten. Zweitens war er der erste Philosoph, der über ein solides Verständnis der Beziehung zwischen Beobachtung und Theorie in der wissenschaftlichen Methode verfügte. Drittens unterschied und klassifizierte er die verschiedenen wissenschaftlichen Fächer und untersuchte die Beziehungen zwischen ihnen: Ihm verdanken wir den Begriff einer gesonderten wissenschaftlichen Disziplin. Viertens ist er der erste Professor, der seine Vorlesungen in Kurse gegliedert und sich die Mühe gemacht hat zu entscheiden, welches der ihnen angemessenste Platz in 18 Die Bevorzugung eines Elements auf der linken Seite eines Paares sollte mit der Bevorzugung des linken Elements in den drei anderen einhergehen und umgekehrt.

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einem Lehrplan ist (vgl. Pol. 1. 10. 1258a20). Fünftens war sein Lyzeum das erste Forschungsinstitut, über das wir genaue Kenntnis haben, in dem eine Reihe von Gelehrten und Forschern bei gemeinsamen Untersuchungen und Dokumentationen zusammenarbeiteten. Sechstens, und nicht weniger wichtig, war er die erste Person in der Geschichte, die eine Forschungsbibliothek aufgebaut hat – nicht nur eine Handvoll Bücher für seine eigene Nutzung, sondern eine systematische Sammlung, die zur Nutzung durch seine Kollegen und für die Nachwelt bestimmt war. 19 Aus all diesen Gründen steht jeder akademische Wissenschaftler der heutigen Welt in Aristoteles’ Schuld. Den Titel, den Dante ihm gab, hat er mehr als verdient: „der Meister derer, die wissen“.

Die Schule des Aristoteles Theophrast (372–287), Aristoteles’ genialer Nachfolger als Leiter des Lyzeums, führte die Forschungen seines Meisters in mehrfacher Hinsicht fort. Er verfasste umfangreiche Schriften zur Botanik, einem Wissensgebiet, das Aristoteles kaum berührt hatte. Er verbesserte Aristoteles’ Modallogik und sah einige Neuerungen voraus, die von der Stoa später vorgenommen wurden. Er widersprach einigen Grundprinzipien von Aristoteles’ Kosmologie, wie zum Beispiel über das Wesen der Orte im Raum und die Notwendigkeit eines unbewegten Bewegers. Wie sein Meister war er schriftstellerisch ungeheuer produktiv. Allein die Liste der Titel seiner Werke nimmt in der Loeb-Ausgabe seiner Biografie von Diogenes Laertius 16 Seiten ein. Sie umfassen Essays über Schwindel, Honig, Haare, Witze und den Ausbruch des Ätna. Das bekannteste der von ihm überlieferten Werke ist ein Buch mit dem Titel Charaktere. Sein Inhalt ist an Aristoteles’ Darstellung der individuellen Tugenden und Laster in der Ethik angelehnt, seine mit Witz und Scharfsinn verfassten Skizzen der verschiedenen Charaktere sind jedoch präziser und lebhafter. Er war ein sorgfältiger und fleißiger Philosophiehistoriker, und ein Teil der von ihm überlieferten Darstellung früherer Lehren, Über die Sinne, ist unsere Hauptquelle für vorsokratische Theorien der Empfindung. Demetrios von Phaleron, ein Schüler Theophrasts, war ein Berater von Ptolemäus, eines Generals von Alexander, der sich im Jahre 305 selbst zum König von Ägypten ernannte. Möglicherweise war er es, der vorschlug, in der neuen Stadt Alexandria eine Bibliothek aufzubauen, die sich an Aristoteles’ Vorbild orientierte. Das Projekt wurde schließlich von Ptolemäus’ Sohn Ptolemäus’ II Philadelphos realisiert. Die Geschichte von Aristoteles’ eigener Bibliothek ist von Dunkel umhüllt. Nach dem Tod von Theophrast scheint sie nicht vom nächsten Leiter des Lyzeums, dem Physiker Strato, sondern von Theophrasts Neffen Neleos von Skepsis geerbt worden zu sein, einem der letzten überlebenden Schüler von Aristoteles. Man sagt, Neleos’ Erben 19 Siehe L. Casson, Libraries in the Ancient World (New Haven: Yale University Press, 2001), 28 f.

Die Schule des Aristoteles

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Eine venezianische Darstellung von König Ptolemäus und seiner Bibliothek in Alexandria.

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hätten die Bücher in einer Höhle versteckt, damit sie nicht von den Agenten des Königs Eumenes konfisziert würden, der in Pergamon eine Bibliothek aufbaute, die diejenige in Alexandria übertreffen sollte. Nachdem sie von einem Bücherfreund gerettet und nach Athen gebracht worden waren, so geht die Geschichte weiter, sollen die Bücher von dem römischen General Sulla konfisziert worden sein, als er die Stadt im Jahre 86 v. Chr. einnahm. Sie sollen dann nach Rom gebracht worden sein, wo sie schließlich Andronikos von Rhodos um die Mitte des ersten Jahrhunderts v. Chr. redigiert und herausgegeben haben soll (Strabo 609–9; Plutarch, Sulla 26). 20 Sämtliche Einzelheiten dieser Geschichte wurden von dem einen oder anderen Gelehrten infrage gestellt, 21 wenn sie wahr ist, würde sie jedoch erklären, warum die Schriften des Aristoteles in der Zeit zwischen Theophrast und Cicero in Vergessenheit gerieten. Sehr treffend hat man festgestellt: „Hätte Aristoteles im Jahre 272 v. Chr., 50 Jahre nach seinem Tod, nach Athen zurückkehren können, würde er die Stadt kaum als das intellektuelle Milieu wiedererkannt haben, in dem er für einen Großteil seines Lebens gelehrt und geforscht hatte.“ 22 Es war nicht so, dass sich in der Philosophie zu diesem Zeitpunkt in Athen nichts ereignete, ganz im Gegenteil. Obwohl das Lyzeum unter Strato nur noch ein Schatten seiner selbst war, und die platonische Akademie unter ihrem neuen Leiter Arkesilaos die Metaphysik aufgegeben und sich stattdessen einem engen Skeptizismus verschrieben hatte, gab es zwei neue blühende philosophische Schulen in der Stadt. Die bekanntesten Philosophen in Athen waren weder Mitglieder der Akademie noch des Lyzeums, sondern die Gründer dieser neuen Schulen: Epikur, der eine als Der Garten bekannte Schule gegründet hatte, und Zenon von Kitium, dessen Anhänger Stoiker genannt wurden, weil sie in der Stoa, einer bemalten Säulenhalle, lehrten.

Epikur Epikur wurde in Samos in eine aus Athen ausgewanderte Familie geboren. In Aristoteles’ letztem Lebensjahr kam er für einen kurzen Besuch nach Athen. Während früherer Reisen hatte er bei einem Anhänger von Demokrit studiert, und auf den griechischen Inseln mehr als eine Schule gegründet. Im Jahre 306 zog er dauerhaft nach Athen und lebte dort bis zu seinem Tod im Jahre 271. Zu seinen Anhängern im 20 Rätselhafterweise scheint der beste antike Katalog der Ausgabe von Andronikus von einem Bibliothekar in Alexandria erstellt worden zu sein. Ist es möglich, dass Markus Antonius das Corpus Aristotelicum von einem Erben des geächteten Sulla erworben und dann zu Kleopatra gebracht hat, um die Lücken in ihrer erst kürzlich zerstörten Bibliothek aufzufüllen, ähnlich wie ihr früherer Geliebter Julius Cäsar die Bibliothek in Pergamon für sie plünderte? 21 Siehe J. Barnes, in: J. Barnes and M. Griffin, Philosophia Togata, vol. ii (Oxford: Clarendon Press, 1997), 1–23. 22 Einleitung zu LS, 1.

Epikur

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Garten gehörten Frauen und Sklaven. Sie führten ein von der übrigen Welt abgeschirmtes Leben und ernährten sich von einfachen Speisen. Es wird berichtet, er habe über 300 Bücher geschrieben, doch alles, was von ihm intakt überliefert wurde, sind drei Briefe und zwei Maximensammlungen. Seine Naturphilosophie ist in einem Brief an Herodot und einem an Pythokles dargestellt. Im dritten Brief, an Menoecos, fasst er seine ethischen Lehren zusammen. Die erste Sammlung der Maximen, vierzig an der Zahl, wurde uns, wie die drei Briefe, im Leben des Epikur von Diogenes Laertius überliefert. Sie hat den Titel Kyriai Doxai, oder wichtigste Lehren. Einundachtzig ähnliche Aphorismen wurden 1888 in einer Handschrift im Vatikan gefunden. Fragmente von Epikurs verlorener Abhandlung Über die Natur wurden beim Ausbruch des Vesuvs im Jahre 79 in Herculaneum von Vulkanasche begraben. Mühsame Versuche, die Fragmente zu entrollen und zu entziffern, die im Jahre 1800 begannen, werden bis heute fortgesetzt. Das Meiste, was wir über seine Lehren wissen, verdanken wir jedoch den überlieferten Schriften seiner Anhänger, insbesondere einem wesentlich späteren Autor, dem lateinischen Dichter Lukrez. Das Ziel von Epikurs Philosophie besteht darin, ein glückliches Leben zu ermöglichen, indem die Angst vor dem Tod beseitigt wird, dem größten Hindernis der Geistesruhe. Die Menschen kämpfen um Reichtum und Macht, um den Tod verzögern zu können. Sie stürzen sich in fieberhafte Aktivitäten, um seine Unausweichlichkeit vergessen zu können. Die Angst vor dem Tod wird durch die Religion geschürt, indem sie uns die Möglichkeit des Leidens nach dem Tod vor Augen hält. Dies ist jedoch eine Illusion. Die von der Religion angedrohten Schrecken sind Märchen, die wir aufgeben und uns stattdessen eine wissenschaftliche Sicht der Welt aneignen müssen. Die wissenschaftliche Sicht der Welt ist hauptsächlich vom Atomismus Demokrits übernommen. Nichts kann aus nichts entstehen: Die Grundbausteine der Welt sind ewige, unveränderliche und unteilbare Einheiten oder Atome. Diese Atome, von denen es unendlich viele gibt, bewegen sich im Leeren, das mit dem leeren und unendlichen Raum gleichgesetzt wird: Wenn es das Leere nicht gäbe, wäre Bewegung unmöglich. Diese Bewegung hatte keinen Anfang, und anfänglich bewegten sich alle Atome mit konstanter und gleicher Geschwindigkeit nach unten. Von Zeit zu Zeit wichen sie doch von ihrer geraden Bahn ab und stießen zusammen, und aus diesen Zusammenstößen der Atome ist alles im Himmel und auf Erden entstanden. Die Abweichung der Atome schafft Raum für die menschliche Freiheit, obwohl ihre Bewegungen blind und zwecklos sind. Atome haben keine anderen Eigenschaften als Gestalt, Gewicht und Größe. Die Eigenschaften der wahrnehmbaren Körper sind keine Illusionen, doch basieren sie auf den grundlegenden Eigenschaften der Atome. Es gibt eine unendliche Anzahl von Welten, von denen einige der unseren ähnlich sind, andere hingegen unähnlich (Brief an Herodot, D.L. 10. 38–45). Wie alles andere, so besteht auch die Seele aus Atomen, die sich von anderen Atomen nur dadurch unterscheiden, dass sie kleiner und feiner sind. Beim Tod verteilen sie sich, und die Seele hört auf wahrzunehmen (Brief an Herodot, D.L. 10. 63–

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7). Auch die Götter bestehen aus Atomen, doch sie leben in einer weniger turbulenten Region, in der es keine Auflösung gibt. Sie führen ein glückliches Leben, ungetrübt durch Sorgen um die Menschen. Aus diesem Grunde ist der Glaube an Vorbestimmung ein Aberglaube und sind religiöse Rituale eine Zeitverschwendung (Brief an Menoecos, D.L. 10. 123–5). Da wir, dank der Abweichung der Atome von ihrer Bahn, freie Wesen sind, liegt unser Schicksal in unserer eigenen Hand: Die Götter verhängen weder ein notwendiges Geschick, noch greifen sie in unsere Entscheidungen ein. Epikur hielt die Sinne für zuverlässige Informationsquellen, deren Funktionsweise darin besteht, dass sie von den Körpern der Außenwelt abgegebene Bilder auf unsere Seelenatome übertragen. Die sinnlichen Eindrücke sind, an sich selbst, niemals falsch, sondern wir gelangen zu falschen Urteilen auf der Grundlage wahrheitsgemäßer Erscheinungen. Wenn die Erscheinungen sich widersprechen (zum Beispiel wenn etwas glatt aussieht, sich aber rau anfühlt), muss der Geist zwischen diesen widerstreitenden Zeugnissen zu einem Urteil gelangen. Anfang und Ende eines glücklichen Lebens ist für Epikur die Lust. Dies bedeutet jedoch nicht, dass Epikur ein Epikureer war. Sein eigenes und das Leben seiner Anhänger war alles andere als luxuriös: Ein gutes Stück Käse, sagte er, sei so gut wie ein Fest. Obwohl er in der Theorie Hedonist war, befolgte er in der Praxis eine Unterscheidung, die er zwischen verschiedenen Arten der Lust vornahm. Es gibt eine Art von Lust, die aus der Befriedigung unserer Wünsche nach Essen, Trinken und sexueller Betätigung stammt, doch ist dies eine minderwertige Art von Lust, da sie mit Schmerzen verbunden ist. Die Wünsche, die diese Lüste befriedigen, sind selbst mit Schmerzen verbunden, und ihre Befriedigung führt zu erneutem Verlangen. Die Freuden, denen man nachstreben sollte, sind ruhige Genüsse, wie es zum Beispiel der Genuss einer privaten Freundschaft ist (Brief an Menoecos, D.L. 10. 27–32). Bis zum Ende seines Lebens bestand Epikur darauf, dass für einen Philosophen die Freude, unter welchen Umständen auch immer, den Schmerz überwiegen könne. Auf seinem Sterbebett schrieb er an seinen Freund Idomeneos den folgenden Brief: „Es ist der gepriesene Festtag und zugleich der letzte Tag meines Lebens, an dem ich diese Zeilen an euch schreibe. Harnzwang und Dysenterie haben sich bei mir eingestellt mit Schmerzen, die jedes erdenkliche Maß überschreiten. Als Gegengewicht gegen alles dies dient die freudige Erhebung der Seele bei der Erinnerung an die zwischen uns gepflogenen Gespräche.“ (D.L. 10. 22) Sterbend wurde er seiner Überzeugung gerecht, dass der Tod, obwohl ihm nicht zu entkommen ist, kein Übel darstellt, wenn wir ihn mit einer wahrhaft philosophischen Sichtweise betrachten.

Die Stoiker Die Stoiker suchten, wie die Epikureer, nach der Ruhe des Geistes, aber auf einem anderen Weg. Der Gründer der Stoa war Zenon von Kitium (334–262 v. Chr.). Er wurde auf Zypern geboren, ging jedoch im Jahre 313 nach Athen. Für die Philosophie

Die Stoiker

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begeisterten ihn Xenophons Erinnerungen an Sokrates. Man sagte ihm, unter den Zeitgenossen käme Krates der Kyniker Sokrates am nächsten. Kynismus war kein Satz philosophischer Lehren, sondern eine Art zu leben, die Wohlstand verachtete und konventionelles Wohlverhalten gering schätzte. Sein Gründer war Diogenes von Sinope, der wie ein Hund lebte („zynisch“ bedeutet „hündisch“), in einem Fass statt in einem Käfig. Er trug anstößige Kleidung und hing für seinen Lebensunterhalt von Almosen ab. Diogenes war ein Zeitgenosse Platons, für den er wenig Respekt hatte. Berühmt war er dafür, dass er Alexander den Großen, als dieser ihn fragte: „Was kann ich für dich tun?“, mit den Worten „Geh’ mir aus der Sonne“ abfertigte (D.L. 6. 38). Krates war von Diogenes so beeindruckt, dass er sein Vermögen den Armen gab und Diogenes’ unkonventionellen Lebensstil nachahmte. Er war allerdings weniger menschenfreundlich und hatte einen ausgesprochenen Sinn für Humor, den er in poetischen Satiren zum Ausdruck brachte. Zenon war eine Zeit lang Krates’ Schüler, doch er wurde kein Kyniker und kein „Aussteiger“, obwohl er Festmahle mied und es liebte, sich zu sonnen. Nach einigen Jahren in der Akademie gründete er seine eigene Schule

Alexander steht Diogenes in der Sonne.

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in der Stoa Poikile. Er führte einen systematischen Lehrplan in die Philosophie ein, der in drei Hauptdisziplinen unterteilt war: Logik, Ethik und Physik. Logik galt seinen Anhängern als das Skelett der Philosophie, die Ethik als ihr Fleisch und die Physik als ihre Seele (D.L. 7. 37). Zenon studierte unter dem bedeutenden Logiker Diodoros Kronos aus Megara und war ein Mitschüler von Philon, der die Grundlagen für eine Entwicklung der Logik legte, die – in einigen Bereichen – im Vergleich zu Aristoteles eine Verbesserung bedeutete. 23 Er selbst war jedoch mehr an Ethik interessiert. Es mag überraschen, dass ein Moralist wie Zenon der Physik den ersten Platz im philosophischen Lehrplan einräumte. Doch für Zenon und die späteren Stoiker war Physik das Studium der Natur, und die Natur war für sie Gott. Diogenes Laertius berichtet: „Zenon lehrt, dass die ganze Welt und der Himmel die Substanz Gottes sind.“ (D.L. 7. 148) Gott ist ein aktives Prinzip und die Materie ist ein aktives Prinzip. Beide sind körperlicher Natur, und gemeinsam machen sie ein alles durchdringendes, kosmisches Feuer aus (LS 45G). Zenons Werke sind uns nicht überliefert: Sein Staat war in der Antike das wichtigste von ihnen. Er verband einen platonischen Utopianismus mit einigen kynischen Elementen. Zenon verwarf das herkömmliche Erziehungssystem und hielt es für eine Energieverschwendung, Sportstätten, Gerichtshöfe und Tempel zu bauen. Er empfahl die Weibergemeinschaft und war der Meinung, dass Männer und Frauen die gleiche, freizügige Kleidung tragen sollten. Geld sollte abgeschafft werden, und für die gesamte Menschheit, die wie eine grasende Herde durch ein gemeinsames Gesetz gehegt und erzogen werden sollte, nur ein einziges Rechtssystem existieren (LS 67A). Trotz dieser kommunistischen Vorschläge, die viele seiner eigenen späteren Schüler schockierten, wurde Zenon zu Lebzeiten von den Athenern, die ihn zu einem ihrer Ehrenbürger machten, Hochachtung entgegengebracht. König Antigonos von Makedonien lud ihn ein, sein persönlicher Philosoph zu werden, doch Zenon erklärte, er sei hierfür zu alt, und schickte stattdessen zwei seiner begabtesten Schüler an den Hof des Königs. Nach Zenos Tod wurde seine Rolle als Leiter der Stoa von Kleanthes (331–232) übernommen, einem ehemaligen Boxer mit religiösen Neigungen. Kleanthes schrieb eine Hymne an Zeus, die später von Paulus in einer Predigt in Athen zitiert wurde, in der das stoische aktive Prinzip in Begriffen verherrlicht wurde, die für den jüdisch-christlichen Monotheismus akzeptabel waren. Die grundlegende Gottesvorstellung der Stoa ist von derjenigen der biblischen Religionen jedoch sehr verschieden. Gott ist nicht vom Universum getrennt, sondern ein materieller Bestandteil des Kosmos. In seinen Prosaschriften beschreibt Kleanthes auf detaillierte Art und Weise, wie das feurige göttliche Element allen lebenden Wesen in der Welt ihre Lebenskraft liefert (Cicero, ND 2. 23–5). 24

23 Zu Diodorus und Philon vgl. Kapitel 3. 24 Zu Kleanthes’ Theologie vergleiche Kapitel 9.

Die Stoiker

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Nach Kleanthes übernahm Chrysippos von Soli von 232 bis 206 die Leitung der Schule. Chrysippos war Kleanthes’ Schüler, doch scheint er für seinen Lehrer nicht viel Respekt gehabt zu haben. „Du teilst mir deine Theorien mit“, soll er gesagt haben, „und ich versehe sie mit Beweisen.“ Er verbrachte einige Zeit als Student der Akademie und impfte sich dadurch gegen den Skeptizismus. Er war der intelligenteste und fleißigste der hellenistischen Stoiker. Seine literarische Produktion war gewaltig: Sein Haushälter berichtete, dass er täglich 500 Zeilen schrieb. Er hinterließ 705 Bücher, überlebt haben jedoch nur Fragmente. Allerdings wird deutlich, dass er es war, der die Stoa zu einem System abgerundet hat. Man pflegte zu sagen: „Denn ohne den Chrysipp gäb’s auch die Stoa nicht“ (D.L. 7. 183). Die einzelnen Beiträge der drei frühen Stoiker lassen sich nur schwer genau auseinanderhalten, da alle ihre Werke verloren gegangen sind. Es besteht jedoch kaum ein Zweifel daran, dass die bedeutenden Fortschritte in der Logik, denen wir uns im nächsten Kapitel zuwenden werden, hauptsächlich das Verdienst von Chrysippos gewesen sind. In der Physik ersetzte er als Lebensprinzip der Tiere und Pflanzen Kleanthes’ Feuer durch den Atem (pneuma). Er akzeptierte die aristotelische Unterscheidung zwischen Stoff und Form, doch als guter Materialist bestand er darauf, dass auch die Form körperlich sei, nämlich pneuma. Die Seele und der Geist des Menschen bestehen aus diesem Pneuma; ebenso Gott, der die Seele des Kosmos ist, der in seiner Gesamtheit ein vernünftiges Tier darstellt. Wären Gott und die Seele nicht selbst körperlich, so argumentierten die Stoiker, wären sie nicht in der Lage, auf die materielle Welt einzuwirken. Das vollständig entwickelte physikalische System der Stoa lässt sich folgendermaßen zusammenfassen. Es gab einmal eine Zeit, in der nichts existierte außer Feuer. Allmählich tauchten die anderen Elemente und die uns vertrauten Gegenstände und Objekte des Universums auf. Zu einem späteren Zeitpunkt wird die Welt in einer kosmischen Feuersbrunst wieder zum Feuer zurückkehren, und dann wird sich der ganze Zyklus ihrer Geschichte immer und immer wieder von neuem vollziehen. All dies geschieht in Übereinstimmung mit einem System von Gesetzen, die man als „Schicksal“ (da die Gesetze keine Ausnahmen zulassen) oder als „Vorsehung“ (weil die Gesetze von Gott zu wohltätigen Zwecken eingerichtet wurden) bezeichnen kann. Das göttlich gestaltete System wird Natur genannt, und das Ziel unseres Lebens sollte darin bestehen, in Übereinstimmung mit der Natur zu leben. Chrysippos war außerdem der Hauptautor des ethischen Systems der Stoa, die auf dem Prinzip der Unterwerfung unter die Natur basiert. Nichts kann den Gesetzen der Natur entkommen, doch trotz des Determinismus des Schicksals sind die Menschen frei und verantwortlich. Gehorcht der Wille der Vernunft, so lebt er in Übereinstimmung mit der Natur. Das Wesen der Tugend besteht in dieser freiwilligen Annahme der Gesetze der Natur, und die Tugend ist sowohl notwendig als auch hinreichend für ein glückliches Leben.25 25 Die Einzelheiten des ethischen Systems der Stoa werden in Kapitel 8 behandelt.

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Alle Stoiker waren sich darin einig, dass ein tugendhafter Mensch, da die Gemeinschaft dem Menschen natürlich ist, in seinem Bestreben in Harmonie mit der Natur zu leben, eine Rolle in der Gemeinschaft übernehmen und soziale Tugenden kultivieren wird. Chrysippos hatte jedoch einige ethische und politische Ansichten, die ihn von den anderen Stoikern unterschieden. Wie Zenon schrieb er eine Abhandlung über den Staat, in der er Inzest und Kannibalismus verteidigt haben soll (LS 67 f.). Chrysippos unterschied sich von einigen seiner Gefährten darin, dass er darauf bestand, ein Philosoph müsse sich nicht der Gelehrsamkeit widmen: Es sei für einen Stoiker akzeptabel, ja sogar lobenswert, am politischen Leben aktiv teilzunehmen (LS 67w).

Skeptizismus in der Akademie In der zweiten Hälfte des dritten Jahrhunderts wurde die stoische Lehre von der Akademie angegriffen. Die akademischen Erben Platons begannen, sich von Platons alles infrage stellendem Meister Sokrates inspirieren zu lassen, und wendeten sich einer Form des Skeptizismus zu. Von 273 bis 242 wurde die Akademie von Arkesilaos, einem Schüler Pyrrhons von Elis geleitet, den man häufig als Gründer des philosophischen Skeptizismus ansieht. Pyrrhon, der ein älterer Zeitgenosse Epikurs war und als Soldat in Alexanders Armee gedient hatte, lehrte, dass man nichts wissen könne, und schrieb demzufolge keine Bücher. Es waren Arkesilaos und Timon, ein anderer von Pyrrhons Schülern, die den Skeptizismus in den frühen Jahren des dritten Jahrhunderts nach Athen brachten. Timon bestritt die Möglichkeit, dass irgendwelche selbstevidenten Prinzipien gefunden werden könnten, die als Grundlage der Wissenschaften dienen könnten. Ohne solche Axiome müsse jede Argumentation letztlich zirkulär und endlos sein. Der Skeptizismus von Timon und Arkesilaos kam im Werke von Karneades, der der Akademie von 155 bis 137 vorstand, in einer veränderten und differenzierteren Form zur Vollendung. Wie Pyrrhon hinterließ Karneades keine Schriften, seine Argumente wurden jedoch von einem Schüler aufgezeichnet, der seine äußerst beliebten Vorlesungen besuchte. Sie sind uns hauptsächlich durch die guten Dienste von Cicero überliefert worden, der einmal von Karneades Schüler Philon unterrichtet wurde. Im Jahre 155 wurde Karneades, zusammen mit einem stoischen und peripatetischen Philosophen, von Athen in einer diplomatischen Angelegenheit nach Rom geschickt. Während dieses Aufenthalts stellte er seine rhetorischen Fähigkeiten unter Beweis, indem er an aufeinanderfolgenden Tagen zunächst für und dann gegen die Gerechtigkeit argumentierte. Der römische Zensor Cato, der diese Veranstaltung miterlebte, schickte ihn aufgrund seines subversiven Einflusses wieder nach Hause (LS 68M). Arkesilaos kritisierte die Stoiker, da sie behaupteten, ihre Wahrheitssuche auf geistige Eindrücke zu gründen, die unmöglich falsch sein konnten: Er bestritt, dass es solche Eindrücke gebe. Auch Karneades griff die stoische Erkenntnistheorie an und

Lukrez

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lehrte, dass nicht die unerreichbare Wahrheit, sondern Wahrscheinlichkeit als Leitfaden der Lebensführung dienen sollte, und obwohl er selbst kein Atheist war, verspottete er sowohl den traditionellen Götterhimmel als auch den stoischen Pantheismus auf gnadenlose Weise. Seine Argumente gegen die stoische Theorie der Weissagung wurden von Cicero übernommen und geschickt weiterentwickelt. 26

Lukrez Kein Philosoph des zweiten Jahrhunderts war so intelligent oder überzeugend wie Karneades, und im ersten Jahrhundert ging die philosophische Vorrangstellung von griechischen auf lateinische Autoren über. Die lateinische Philosophie begann, wie die griechische, zunächst in Versform und wurde erst später in Prosa verfasst. Das erste vollständige lateinische philosophische Werk, das uns überliefert ist, ist ein langes und großartiges Gedicht in Hexametern: Über das Wesen der Dinge von Lukrez. Über das Leben von Lukrez ist so gut wie nichts bekannt: Wir können über die ungefähre Entstehungszeit seines Gedichts mutmaßen, indem wir feststellen, dass es von Cicero im Jahre 54 gelesen wurde und einem Mann namens C. Memmius, der sich im Jahre 53 um das Amt des Konsuls bewarb, gewidmet war. Lukrez war ein bewundernder Verehrer Epikurs, und die sechs Bücher des Gedichts legen das epikureische System in Gedichtform dar – wie Cicero bemerke: immer mit großer Kunstfertigkeit und manchmal mit genialen Geistesblitzen. Lukrez selbst beschreibt seine dichterischen Fähigkeiten als Honig, der den Wermutsgeschmack der Philosophie überdeckt (RN 1. 947). Teile des Gedichts wurden von John Dryden ins Englische übersetzt. Hätte er seine Arbeit vollendet, wäre seine Version ein würdiger Rivale von Popes Essay on Man. Lukrez beginnt sein Gedicht, indem er den Mut Epikurs lobt, mit dem dieser die Angst der Religion von sich geworfen habe. Die Menschen könnten der Tyrannei der Priester nicht die Stirne bieten, weil sie Angst vor ewigen Strafen hätten; doch diese Angst hätten sie nur, weil sie das Wesen der Seele nicht verstünden. In seinem ersten Buch entfaltet Lukrez den epikureischen Atomismus: Die Natur besteht aus einfachen Körpern und dem Leeren. Die Körper werden von den Sinnen wahrgenommen und das Leere durch vernünftige Schlüsse erwiesen. Körper bestehen aus Atomen, wie Wörter aus Buchstaben bestehen: Die Wörter „ignis“ und „lignum“ bestehen aus fast denselben Buchstaben, ebenso wie die von ihnen bezeichneten Dinge, nämlich Feuer und Holz, aus fast denselben Atomen bestehen (RN 1. 911–14). In einer berühmten Passage zu Anfang des zweiten Buches beschreibt Lukrez wie der Philosoph, aus der Höhe der Tugend, auf die kleinlichen Streitereien der Menschheit herabschaut. Er

26 Die Einzelheiten der Diskussion zwischen Stoikern und Skeptikern sind in Kapitel 4 dargestellt.

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rühmt das epikureische Streben nach einfachen Freuden und der Vermeidung unnötiger Wünsche: „O wie arm ist der Menschen Verstand, wie blind ihr Verlangen! In welch finsterer Nacht und in wieviel schlimmen Gefahren Fließt dies Leben, das bißchen, dahin! Erkennt man denn gar nicht, Daß die Natur nichts andres erheischt, als daß sich der Körper Wenigstens frei von Schmerzen erhält und der Geist sich beständig Heiteren Sinnes erfreut und Sorgen und Ängsten entrückt ist? Weniges ist’s demnach, was im ganzen für unseres Körpers Wesen erforderlich scheint: Fernhalten jeglichen Schmerzes!“ (RN 2. 16–28) 27

Das dritte Buch erläutert die epikureische Theorie der Seele und den Mechanismus der Empfindung. Wenn wir die materielle Natur der Seele verstanden haben, erkennen wir, dass die Angst vor dem Tod kindisch ist. Ein toter Körper kann nichts fühlen, und der Tod lässt kein Selbst zurück, das leiden könnte. Es sind die Überlebenden, die das Recht auf Trauer haben. „Gib die Angst vor dem Tod auf“, sagt Lukrez seinem Gönner: „Du wirst so, wie du jetzt im Tode entschlummerst, auch künftig Ruhen, erlöst von allen dich kränkenden Schmerzen und Nöten; Doch wir standen dabei, als du auf dem schaurigen Holzstoß Wurdest zu Asche verbrannt. Wir beweinten dich bitterlich; nie wird Kommen der Tag, der den ewigen Gram aus den Herzen uns nähme. Hier nun darf man wohl fragen: ‚Was ist denn so Bittres geschehen?‘ Wenn doch die Sache auf Schlaf und auf ewige Ruhe hinausläuft […]“ (RN 3. 90–6)

Selbst Epikur musste sterben, obwohl sein Genie im Vergleich zu den anderen Denkern so hell leuchtete, dass er sie völlig überstrahlt, wie auch die aufgehenden Sonne das Licht der Sterne unsichtbar macht (RN 3. 1042–4). Das vierte Buch des Lukrez, über das Wesen der Liebe, ist voller lebensnaher Beschreibungen sexueller Aktivität sowie der atomistischen Erklärungen der zugrunde liegenden Physiologie. Zweifellos war es der Inhalt dieses Buches, was zu der – von St. Jerome berichteten und von Tennyson in ein Drama verwandelten – Legende führte, Lukrez habe dieses Gedicht in den geistesgegenwärtigen Zwischenzeiten eines Wahnsinns verfasst, der durch den übermäßigen Genuss eines Liebestranks hervorgerufen worden sei. Von St. Jerome stammt auch die Überlieferung, dass das Gedicht unvollendet geblieben und nach dem Tod des Dichters von Cicero herausgegeben worden sei. Dies 27 Sämtliche Zitate aus De rerum natura stammen aus: Lukrez, De rerum natura, übersetzt von H. Diels (Düsseldorf: Artemis & Winkler, 1994).

Cicero

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scheint unwahrscheinlich, da Cicero, nachdem er seine Bewunderung der ersten Lektüre dieses Gedichts zum Ausdruck gebracht hat, es in seinen eigenen philosophischen Schriften niemals erwähnt, obwohl er auf das epikureische System relativ ausführlich eingeht.

Cicero Ciceros eigene Philosophie war eklektisch, was für den Historiker eine Wohltat ist, da seine Schriften Informationen über eine Vielzahl philosophischer Tendenzen enthalten. Er machte seine erste Bekanntschaft mit den verschiedenen philosophischen Schulen, als er in seinen späten 20er Jahren in Athen studierte. Später studierte er in Rhodos unter dem Stoiker Posidonios. Er wurde stark von Philon von Larisa beeinflusst, dem letzten Leiter der Akademie, der im Jahre 88 v. Chr. von Athen nach Rom kam. In seinem Haus lebte bis zu dessen Tod im Jahre 60 als sein persönlicher Guru der Stoiker Diodotos. Lange Zeit blieb in Ciceros geschäftigem Leben in Politik und vor Gericht keine Muße für irgendwelche andere als politische Philosophie. In seinen späten 50er Jahren ahmte er Platon nach, indem er ein Buch über den Staat und eins über die Gesetze schrieb, die uns jedoch nur teilweise überliefert sind. Als jedoch Julius Cäsar nach einem Bürgerkrieg, in dem er auf der anderen Seite gestanden hatte, seine stärkste Machtstellung errungen hatte, zog er sich aus dem öffentlichen Leben zurück. Einen großen Teil der Diktatur Cäsars verbrachte Cicero mit literarischen Aktivitäten, und nach dem Tod seiner einzigen Tochter Tullia im Februar 45 schrieb er immer und immer mehr, um seinen Schmerz zu vergessen. Die meisten seiner philosophischen Werke wurden in den Jahren 45 und 44 geschrieben. Die ersten beiden, eine Trostschrift über den Tod von Tullia, und der Hortensius, eine Ermahnung zum Studium der Philosophie, die im Leben des heiligen Augustinus eine dramatische Rolle spielen sollte, gingen verloren. Zehn weitere Schriften, deren thematische Breite und Eloquenz beeindruckend sind, blieben jedoch erhalten. Cicero setzte es sich zum Ziel, ein lateinisches philosophisches Vokabular zu schaffen, damit die Römer Philosophie in ihrer eigenen Sprache studieren konnten. Tatsächlich leiten sich viele philosophische Ausdrücke der modernen Sprachen von seinen lateinischen Prägungen ab. Seiner eigenen Meinung nach nahm er Elemente verschiedener philosophischer Tendenzen auf. In der Erkenntnistheorie favorisierte er die gemäßigten skeptischen Auffassungen, die er bei Philon kennengelernt hatte: Er legt das akademische System und seine Varianten in seinem Buch Academica dar, das in zwei unterschiedlichen Versionen erschien. In der Ethik gab er der stoischen vor der epikureischen Tradition den Vorzug. Er suchte in der Moralphilosophie Trost und Beruhigung. In seinen Schriften De Finibus bonorum et malorum (Über das höchste Gut und das größte Übel) und den Tusculanae disputationes (Gesprächen in Tusculum) schreibt er, oft mit großer Leidenschaft und sprachlicher Schönheit, über die

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Beziehung zwischen Gefühl, Tugend und Glück. Seine Schriften über die Natur der Götter und über das Schicksal enthalten interessante Diskussionen aus der philosophischen Theologie und zur Frage des Determinismus. Seine Schrift über die Weissagung macht guten Gebrauch von Argumenten, die er – auf einem Umweg – bei Karneades kennengelernt hatte. 28 Ciceros philosophische Arbeiten sind ohne Tiefe, aber seine Argumente sind häufig scharfsinnig, sein Stil ist immer elegant, und er kann große menschliche Wärme zum Ausdruck bringen. Seine Essays über Freundschaft und das Alter haben sich über die Jahrhunderte großer Beliebtheit erfreut. Sein letztes moralphilosophisches Werk, De officiis (Über die Pflichten), war, kurz nach der Ermordung von Julius Cäsar im März 44, an seinen Sohn gerichtet. Zu verschiedenen Zeiten der Geschichte galt es als unerlässliches Element in der Erziehung eines Gentlemans. Nach Cäsars Tod kehrte Cicero mit bitteren Angriffen auf den cäsarischen Konsul Markus Antonius in die Politik zurück. Nachdem sich Antonius mit Cäsars Adoptivsohn Octavian zusammengeschlossen hatte, wurde Cicero in dem Putsch, den sie gemeinsam organisierten, hingerichtet. Den Streit zwischen den beiden, der dazu führte, dass Antonius bei Actium im Jahre 31 besiegt wurde, hat er nicht mehr miterlebt. Als Octavian, der seinen Namen zu Augustus änderte, erster römischer Kaiser wurde, war er bereits tot.

Judentum und Christentum Das für die langfristige Entwicklung der Philosophie wichtigste Ereignis im ersten Jahrhundert des römischen Weltreichs war das Leben Jesu von Nazareth. Die Wirkung seiner Lehre auf die Philosophie war natürlich verzögert und indirekt und seine eigene Morallehre war nicht ohne Vorgänger. Wie Platons Sokrates vor ihm lehrte er, dass wir Böses nicht mit Bösem vergelten sollten. Er ermahnte seine Zuhörer, ihren Nächsten zu lieben wie sich selbst, doch damit zitierte er das alte jüdische Buch Levitikus 29. Er lehrte uns, dass wir nicht nur schlechte Taten unterlassen, sondern auch von falschen Gedanken und Wünschen Abstand nehmen sollten. Auch Aristoteles hatte gesagt, dass ein wirklich tugendhafter Mensch niemals etwas moralisch Falsches tun möchte. Jesus lehrte seine Anhänger, die Vergnügungen und Ehrungen der Welt zu verachten, doch auf ihre eigene Weise lehrten dies auch die Epikureer und die Stoiker. Betrachtet man ihn als Moralphilosophen, war Jesus kein großer Neuerer: Doch das war natürlich überhaupt nicht die Rolle, in der er sich selbst und in der seine Jünger ihn sahen. Der Rahmen der Lehre Jesu war das Weltbild der jüdischen Bibel, nach dem Gott der Herr, Jahwe, Himmel und Erde und alles, was darin ist, durch sein Wort geschaf28 Siehe Kapitel 9. 29 Anm. d. Übers.: Das dritte Buch Mose.

Judentum und Christentum

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fen hat. Die Juden waren Gottes auserwähltes Volk, einzigartig privilegiert durch den Besitz des Moses offenbarten göttlichen Gesetzes. Wie Heraklit und andere griechische und jüdische Denker sagte Jesus voraus, dass es ein von einer kosmischen Katastrophe begleitetes, göttliches Gericht über die Welt geben werde. Im Gegensatz zu den Stoikern erwartete er diese kosmische Auflösung nicht in einer unbestimmten fernen Zukunft, sondern als unmittelbar bevorstehendes Ereignis, in dem er selbst als Messias eine wichtige Rolle spielen würde. Um die Zeit der Kreuzigung Jesu (ca. im Jahre 30) wurden jüdische Ideen in Rom zunehmend stärker wahrgenommen. Da die heiligen Schriften der Juden in Alexandria zur Zeit Ptolemäus’ I ins Griechische übersetzt worden waren, gab es eine beachtliche, Griechisch sprechende jüdische Diaspora. Im ersten nachchristlichen Jahrhundert war Philon der herausragende Vertreter der hellenistischen jüdischen Kultur. Im Jahre 40 leitete er eine Delegation zum Kaiser Caligula, um gegen die Verfolgung der Juden in Alexandria und die Zumutung zu protestieren, den Kaiser anbeten zu müssen. Er schrieb einen Bericht über das Leben Moses’ sowie eine Reihe von Kommentaren über den Pentateuch, der die Absicht verfolgte, die heiligen Schriften der Juden für Menschen, die in der griechischen Kultur erzogen worden waren, verständlich und attraktiv zu machen. In seiner Frühzeit verbreitete sich das Christentum durch die Griechisch sprechende Diaspora im römischen Weltreich, doch es kam schon bald in Kontakt mit der heidnischen Philosophie. Als Paulus in Athen das Evangelium predigte, führte er ein Streitgespräch mit epikureischen und stoischen Philosophen, und die Predigt gegen den Götzendienst, die ihm in der Apostelgeschichte in den Mund gelegt wird, ist kunstvoll komponiert und zeigt ein Bewusstsein von den Themen, um die es diesen philosophischen Sekten geht. Indem er sich vom Altar zu Ehren des unbekannten Gottes inspirieren ließ, unternahm es Paulus, den Philosophen den Gott zu zeigen, den sie unwissend verehrten. „[Gott] ist nicht ferne von einem jeglichen unter uns. Denn in ihm leben, weben und sind wir; wie auch etliche Poeten bei euch gesagt haben: ‚Wir sind seines Geschlechts.‘ So wir denn göttlichen Geschlechts sind, sollen wir nicht meinen, die Gottheit sei gleich den goldenen, silbernen und steinernen Bildern, durch menschliche Kunst und Gedanken gemacht.“ (Apostelgeschichte, 17: 27–9)

Der „Poet“, den Paulus hier zitiert, war Kleanthes, der zweite Leiter der Stoa. Spätere Legenden stellten sich Paulus in philosophischen Gesprächen mit dem stoischen Philosophen Seneca vor. Die Geschichte ist zweifellos unwahr, doch war sie nicht vollständig aus der Luft gegriffen. Paulus erschien einmal vor Gericht vor Senecas Bruder Gallio, und er hatte Freunde im Palast von Senecas Herrn und Meister Nero.

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2 Schulen des Denkens: Von Aristoteles bis Augustinus

Die Stoa der Kaiserzeit Der bedeutendste Philosoph des ersten Jahrhunderts war Seneca. Er wurde zu Beginn des christlichen Zeitalters in Córdoba in Spanien geboren. Im Alter von 49 Jahren machte man ihn zum Lehrer des 12-jährigen Nero. Als Nero im Jahre 54 den Thron bestieg, wurde er zu einem seiner leitenden Berater, und er führte den Kaiser durch eine Zeit relativ erfolgreicher Regierung, die im Jahre 59 mit Neros Ermordung seiner eigenen Mutter endete. Nach 62 verlor Seneca sämtlichen Einfluss auf Nero, und er zog sich allmählich aus dem öffentlichen Leben zurück. Im Jahre 65 wurde er gezwungen, sich die Adern aufzuschneiden, da er angeblich an einer Verschwörung gegen den Tyrannen teilgenommen hatte, und er starb einen sokratischen Tod. Seneca schrieb eine Reihe von Tragödien und hinterließ uns ein Notizbuch mit Fragen über Naturphänomene, doch sein Ruf als Philosoph basiert auf zehn ethischen Dialogen und auf seinen 124 Episteln über moralphilosophische Fragen, die hauptsächlich in der Zeit entstanden, in der er sich aus dem öffentlichen Leben zurückgezogen hatte. Senecas Stil stützt sich stärker auf Ermahnungen als auf Argumente und er predigt lieber, als dass er argumentiert. An Logik zeigte er kein Interesse und er hatte eine philisterhafte Haltung zu den Freien Künsten: Er verglich jemanden mit einem übermäßigen literarischen Wissen mit einem Mann, der in seinem Haus zu viele Möbel hat (Ep. 88. 36). Er hatte ein mäßiges Interesse an den Naturwissenschaften und schrieb eine Abhandlung Über Fragen der Natur, doch liebte er es, aus natürlichen Phänomenen eine Moral zu ziehen, und von den drei Zweigen der stoischen Philosophie galt sein Hauptinteresse der Ethik. Er ermahnt uns, eine immer größere Freiheit von unseren Affekten anzustreben. Im längsten und bekanntesten seiner Dialoge, De ira (Über den Zorn), besteht er auf dem entscheidenden Unterschied zwischen einem aufgewühlten Körper einerseits und falschen Auffassungen andererseits, die für ihn wesentlich zu den Dingen gehören, von denen wir uns reinigen und befreien müssen. Bezüglich dieser Frage waren sich die früheren Stoiker nicht einig gewesen. „Keine der Dinge, die den Geist zufällig treffen, sollten Leidenschaften genannt werden: Es sind nicht Dinge, die der Geist verursacht, sondern solche, die ihm zustoßen. Es ist nicht Leidenschaft, von den Erscheinungen der Dinge affiziert zu werden, die sich uns darstellen. Leidenschaft besteht darin, sich ihnen zu ergeben und dieser zufälligen Einwirkung zu folgen.“ (Ir. 2. 3. 1) Weinen, Erblassen, plötzliches tiefes Einatmen und sexuelle Erregung sind keine Leidenschaften, sondern lediglich körperliche Phänomene. Worauf es ankommt, sind die begleitenden Gedanken. Seneca gelingt sein Feldzug gegen die Affekte mit größerer Klarheit und Energie, nachdem diese Unterscheidung getroffen ist. Seneca war Materialist. Er akzeptierte die stoische Lehre, dass der menschliche Geist ein materieller Teil einer materiellen, göttlichen Weltseele ist (Ep. 66. 12). Doch schreibt er häufig über das Verhältnis zwischen Seele und Körper auf eine Weise, die dezidiert jenseitig ist. „[Die Seele] ist niemals eher göttlich als dann, wenn sie an ihre Sterblichkeit denkt und weiß, dazu ist der Mensch geboren, daß er das Leben hinter

Die Stoa der Kaiserzeit

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sich bringe, und nicht ein Heim ist dieser Körper, sondern eine Herberge für kurze Zeit, die du verlassen hast, sobald du siehst, daß du dem Wirt lästig wirst.“ (Ep. 120. 14) 30 Seneca erkennt die Schwierigkeit des stoischen Wegs zur Tugend. Er unterscheidet zwischen drei Stadien des moralischen Fortschritts. Es gibt Menschen, die einige Laster aufgegeben haben, jedoch nicht alle – sie sind ohne Habgier, jedoch nicht ohne Zorn; ohne Begierde, aber nicht ohne Leidenschaft, und so weiter. Dann gibt es solche, die alle Leidenschaften aufgegeben haben, jedoch noch rückfällig werden können. Die dritte Gruppe, die der Weisheit am nächsten kommt, besteht aus denjenigen, bei denen kein Rückfall möglich ist, die aber noch kein sicheres Selbstbewusstsein ihrer Tugend erlangt haben (Ep. 75. 8–14). Außerdem machte Seneca die stoische Unterscheidung zwischen Lehrsätzen und Vorschriften populär. Die Lehrsätze stellen den allgemeinen philosophischen Rahmen bereit, während die Vorschriften es ermöglichen, den wahren Begriff des höchsten Guts in speziellen Ratschlägen an Einzelne auszudrücken (Ep. 94. 2). Mit dieser Unterscheidung gelang es den Stoikern, sich gegen den Vorwurf zu verteidigen, dass ihr System zu abgehoben sei, um von praktischem Nutzen sein zu können, und es berechtigte den Philosophen, die Art seelsorgerlicher Ratschläge zu erteilen, von denen Senecas Briefe voll sind. Von vielen wurde Seneca, in der Antike und der neueren Zeit, als scheinheilig angesehen: Er sei ein Mann gewesen, der die Barmherzigkeit lobe, sich aber an den Verbrechen eines Tyrannen beteilige; ein Mann, der die Wertlosigkeit irdischer Güter predige, aber ein riesiges Vermögen ansammle. Zu seiner Verteidigung kann man sagen, dass er auf Nero einen bremsenden Einfluss ausübte und dass er während seiner letzten Lebensjahre eine wirkliche Distanz zur Welt gesucht hat. Er gab sich, was seine eigene Fähigkeit betraf, den stoischen Maßstäben zu genügen, keinen Illusionen hin: „Ich bin nicht nur sehr weit davon entfernt, perfekt, sondern davon, ein halbwegs anständiger Mensch zu sein“, schrieb er (Ep. 57. 3). Seneca war der Gründungsvater der Stoa der römischen Kaiserzeit. Zwei weitere bedeutende Vertreter der Schule zeigen, für wie breite Schichten die Stoa während der Kaiserzeit attraktiv war: der Sklave Epiktet und der Kaiser Marcus Aurelius. Die Stoiker waren während dieser Periode ihrer Geschichte wesentlich weniger an Logik und Physik interessiert als ihre Vorgänger in hellenistischer Zeit, und wie bei Seneca, ist es vor allem die Moralphilosophie von Epiktet und Marcus Aurelius, durch die sie in die Geschichte der Philosophie eingegangen sind. 31 Die Lebensdaten Epiktets sind nicht genau bekannt. Wir wissen jedoch, dass er mit einigen anderen Philosophen durch den Kaiser Domitian im Jahre 89 aus Rom verbannt wurde. Aus der Sklaverei freigelassen, obwohl dauerhaft gelähmt, gründete 30 Zitiert nach: L. Annaeus Seneca, Philosophische Schriften, Band IV, übersetzt und herausgegeben von M. Rosenbach (Darmstadt: Wiss. Buchgesellschaft, 1984). 31 J. Barnes hat in seinem Buch Logic and the Imperial Stoa (Leiden: Brill, 1997) eine brillante Darstellung der logischen Kompetenz Epiktets gegeben.

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2 Schulen des Denkens: Von Aristoteles bis Augustinus

er eine Schule in Epiros. Sein Bewunderer Arrian veröffentlichte vier Bücher mit seinen Abhandlungen und ein Handbuch seiner Hauptlehren (enchiridion). Epiktet gehört zu den lesbarsten Stoikern. Er hat einen rauen und scherzhaften Stil und bedient sich ständig der Einwürfe imaginärer Gesprächspartner. Aus diesem Grunde war er, außer für Philosophen, auch für viele andere Autoren interessant. Matthew Arnold zählt ihn, zusammen mit Homer und Sophokles, zu den drei Männern, die ihn am meisten erleuchtet haben: „Er, dessen Freundschaft ich wenig später gewann, Dieser humpelnde Sklave, der in Nikopolis Arrians Lehrer war, als Vespasians brutaler Sohn Rom von dem befreite, was ihn am meisten schämte.“ 32

Typisch für Epiktets Stil ist die folgende Passage über den Selbstmord, in der er sich vorstellt, dass unter Tyrannei und Ungerechtigkeit leidende Menschen sich an ihn wenden: „Epiktet, wir ertragen es nicht länger, an diesen Leib gefesselt zu sein, ihm Speise und Trank geben zu müssen, ihn ausruhen zu lassen, ihn waschen, uns nach diesem und jenem richten zu müssen. Ist das alles nicht gleichgültig? Ist nicht der Tod für uns eine Erlösung? Sind wir nicht mit Gott verwandt und von ihm hergekommen? Laß uns dahin zurückkehren, woher wir gekommen sind“ (Disc. 1. 9. 12) 33

Er antwortet auf folgende Weise: „Ihr Menschen, wartet auf Gott. Wenn er euch ruft und vom Dienst ablöst, dann geht zu ihm; für jetzt aber bleibt ruhig auf eurem Platze, auf den er euch gestellt hat.“ 34

Statt im Selbstmord Rettung zu suchen, sollten wir erkennen, dass keine der Übel dieser Welt uns wirklich schaden können. Um dies zu zeigen, setzt Epiktet das Selbst dem moralischen Willen (prohairesis) gleich. „Wenn mich der Tyrann bedroht und herbeizitiert, antworte ich: ‚Was ist es, was du mir androhst?‘ Wenn er sagt: ‚Ich lasse dich in Ketten legen‘, antworte ich: ‚Es sind meine Hände und meine Füße, die er bedroht.‘ Wenn er sagt: ‚Ich werde dich enthaupten lassen‘, antworte ich: ‚Es ist mein Hals, den er bedroht.‘ Bedroht er dich also überhaupt

32 „He, whose friendship I not long since won, that halting slave, who in Nicopolis taught Arrian, when Vespasian’s brutal son cleared Rome of what most shamed him.“ 33 Zitiert nach: Epiktet, Handbüchlein der Moral und Unterredungen, herausgegeben von H. Schmidt (Stuttgart: Kröner, 1966). 34 Ebd.

Frühe christliche Philosophie

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nicht? Nein, solange nicht, wie ich all dies als nichtig für mich erachte. Wenn ich jedoch zulasse, dass ich irgendwelche dieser Drohungen fürchte, dann ja, dann bedroht er mich. Wen gibt es sonst noch, vor dem ich Angst haben müsste? Ein Mann, der die Dinge beherrscht, die in meiner Macht stehen? – Einen solchen Mann gibt es nicht. Ein Mann, der die Dinge beherrscht, die nicht in meiner Macht stehen? – Warum sollte ich mir über ihn Gedanken machen?“ (Disc. 1. 29)

Menschen, die unter der Herrschaft von Tyrannen leben mussten, haben in den Schriften Epiktets immer wieder Trost gefunden. Doch in seinem eigenen Zeitalter war derjenige, der von ihnen am meisten beeindruckt war, selbst Herrscher der römischen Welt: Marcus Aurelius Antoninus. Er wurde 161 zum Kaiser ernannt und verbrachte einen großen Teil seines Lebens damit, die Grenzen des römischen Weltreichs zu verteidigen, das seine größte Ausdehnung erreicht hatte. Obwohl er selbst Stoiker war, gründete er in Athen Lehrstühle für die drei wichtigsten philosophischen Schulen: die platonische, die peripatetische und die epikureische. Während seiner Feldzüge fand er Zeit, Eintragungen in ein philosophisches Notizbuch vorzunehmen, das heute als seine Selbstbetrachtungen bekannt ist. Es ist eine Sammlung von Aphorismen und Gesprächen zu Themen wie der Kürze des Lebens, der Notwendigkeit, für das Gemeinwohl zu arbeiten, die Einheit der Menschheit und den verderblichen Einfluss der Macht. Er versuchte, Patriotismus mit einer die gesamte Menschheit im Auge behaltenden Perspektive zu vereinbaren. „Meine Stadt und mein Land“, sagte er, „sofern ich Antonius bin, ist Rom; aber sofern ich ein Mensch bin, ist es die Welt“. Er redete vom Universum als von „Zeus’ geliebter Stadt“. Einer von Marcus Aurelius Freunden war der Arzt Galen, der nach Rom kam, nachdem er der Arzt der Gladiatoren von Pergamon gewesen war. Seine umfangreichen Schriften gehören eher zur Geschichte der Medizin als der Philosophie, obwohl er ein ernst zu nehmender Logiker war und eine Schrift mit dem Titel Dass ein guter Arzt ein Philosoph sein muss verfasste. Er korrigierte Aristoteles’ Physiologie in einem wichtigen Punkt, der für das korrekte Verständnis der Beziehung zwischen Leib und Seele von entscheidender Bedeutung war. Aristoteles hatte geglaubt, dass der Sitz der Seele das Herz sei, und er hielt das Gehirn lediglich für ein Organ, das zur Abstrahlung der Blutwärme dient. Galen entdeckte, dass Nerven, die vom Gehirn und vom Rückenmark ausgehen, zur Einleitung von Muskelkontraktionen notwendig sind, weshalb er das Gehirn und nicht das Herz als primären Sitz der Seele ansah.

Frühe christliche Philosophie Mit Marcus Aurelius verabschiedete sich die Stoa von der Bühne der Philosophie. Der Epikureismus befand sich bereits im Ruhestand. Unter den Schulen der Philosophie, für die der Kaiser in Athen Lehrstühle einrichtete, fiel eine durch ihre Abwesenheit auf: das Christentum. Tatsächlich leitete Marcus eine grausame Verfolgung der Chris-

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2 Schulen des Denkens: Von Aristoteles bis Augustinus

Die Feldzüge von Marcus Aurelius, dargestellt auf einer Säule in Rom.

ten ein und verwarf ihre Märtyrertode als theatralisch. Einer von denen, die unter ihm hingerichtet wurden, war Justin, der erste christliche Philosoph, der ihm eine Apologia, eine Verteidigung des Christentums gewidmet hatte. Beachtenswerte Versuche, die Religion von Jesus und Paulus mit der Philosophie von Platon und Aristoteles in Einklang zu bringen, unternahmen Christen erstmals

Das Wiedererwachen von Platonismus und Aristotelismus

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zu Beginn des zweiten Jahrhunderts. Clemens von Alexandria veröffentlichte eine Reihe von Sammlungen (stromateis), die im Stil von Tischreden verfasst waren, in denen er dafür argumentierte, dass das Studium der Philosophie nicht nur erlaubt, sondern für einen gebildeten Christen sogar notwendig sei. Die griechischen Denker seien Erzieher für die Jugendzeit der Welt, von Gott dazu bestimmt, sie in ihrer Reife zu Christus zu bringen. Clemens nahm Platon als Verbündeten gegen dualistische, christliche Häretiker in Anspruch, er experimentierte mit aristotelischer Logik und lobte das stoische Ideal der Freiheit von den Affekten. Auf die Weise Philons erklärte er Aspekte der Bibel, und insbesondere des alten Testamentes, die gebildete Griechen abstoßend fanden, als allegorisch. Hiermit gründete er eine Tradition, die in Alexandria eine lange Geschichte haben sollte. Clemens stellte Anthologien zusammen und betätigte sich als Popularisator, während sein jüngerer alexandrinischer Zeitgenosse Origenes (185–254) ein origineller Denker war. Obwohl er sich selbst hauptsächlich als Student der Bibel verstand, hatte Origenes zu Füßen des alexandrinischen Platonisten Ammonius Saccas gesessen, und er integrierte in sein System zahlreiche philosophische Ideen, die Christen mehrheitlich für häretisch hielten. Mit Platon glaubte er, dass menschliche Seelen bereits vor der Geburt oder Empfängnis existieren. Die menschlichen Seelen, die in einer früheren Existenz freie Geister gewesen waren, konnten in ihrem inkarnierten Zustand, unterstützt durch die Gnade Christi, ihren freien Willen dazu verwenden, eine himmlische Bestimmung zu erreichen. Er glaubte, dass am Ende aller Zeiten alle vernünftigen Wesen, Sünder ebenso wie Heilige, und Teufel ebenso wie Engel, gerettet werden und einen seligen Zustand erreichen würden. Es würde eine Auferstehung der Leiber geben, von denen er (laut einiger unserer Quellen) annahm, dass sie kugelförmig sein würden, da Platon erklärt hatte, dass die Kugel die vollkommenste aller Gestalten sei. Origenes’ exzentrische Lehren brachten ihn in Konflikt mit den örtlichen Bischöfen, und seine Treue zum Christentum legte ihn unter den Bann des Reiches. Er wurde ins Exil nach Palästina verbannt, wo er, gegen seinen heidnischen Mitplatoniker Celsus, philosophische Argumente zur Verteidigung des christlichen Glaubens an Gott, der Freiheit und der Unsterblichkeit vorbrachte. Er starb im Jahre 254, nach mehrfachen Folterungen, während der Christenverfolgung durch den Kaiser Traianus Decius.

Das Wiedererwachen von Platonismus und Aristotelismus Während die christliche Philosophie an ihrem Anfang stand und sich die Stoa und der Epikureismus im Niedergang befanden, kam es zu einer fruchtbaren Wiederbelebung der Philosophien von Platon und Aristoteles. Plutarch (etwa 46–120) wurde in Böotien geboren und verbrachte dort den größten Teil seines Lebens, doch er hatte in Athen studiert und gab mindestens bei einer Gelegenheit Vorlesungen in Rom. Am bekanntesten wurde er als Historiker für seine parallelen Biografien von 23 berühm-

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ten Griechen und Römern. In ihrer Übersetzung während des elisabethanischen Zeitalters durch Sir Thomas North gaben sie Shakespeare die Handlungsabläufe und einen Großteil der Inspiration für seine römischen Schauspiele, doch er schrieb außerdem etwa 60 kurze Abhandlungen über beliebte philosophische Themen, die unter dem Titel Moralia zusammengestellt wurden. Er war Platonist und schrieb einen Kommentar zum Timaios. Außerdem verfasste er eine Reihe polemischer Schriften gegen die Stoiker und Epikureer, die zum Niedergang dieser Systeme beitrugen. Sie haben parallele Titel wie zum Beispiel Über die Widersprüche der Epikureer und Über die Widersprüche der Stoiker, oder Über den freien Willen in Antwort auf Epikur und Über den freien Willen in Antwort auf die Stoiker. Einer der längsten der von ihm überlieferten Essays hat den Titel Dass Epikur ein angenehmes Leben in Wahrheit unmöglich macht, und ein anderer ist ein Angriff auf ein ansonsten unbekanntes Werk von Kolotes, eines der ersten Schüler Epikurs. Obwohl seine Schriften von Philosophen um ihrer selbst willen nur selten gelesen werden, haben ihnen Historiker seit Langem die Informationen entnommen, die diese Schriften über die von ihnen angegriffenen Gegner enthalten. Zunächst noch wichtiger als die beginnende Wiederbelebung des Platonismus war der Beginn einer gelehrten Kommentierung von Aristoteles’ Schriften. Der älteste erhalten gebliebene Kommentar über einen Text ist ein Werk von Aspasius über die Ethik aus dem zweiten Jahrhundert. Es steht am Anfang der Tradition, die Nikomachische Ethik für kanonisch zu halten. Am Ende des Jahrhunderts wurde Alexander von Aphrodisias auf den peripatetischen Lehrstuhl in Athen berufen, und er verfasste umfangreiche Kommentare über die Metaphysik, über De Sensu, sowie einige der Werke zur Logik. In Pamphleten über die Seele und das Schicksal stellte er seine eigenen Entwicklungen aristotelischer Ideen vor. Aristoteles hatte, auf dunkler Weise, von einem aktiven Intellekt gesprochen, der in menschlichen Wesen für die Begriffsbildung verantwortlich sei. Alexander setzte diesen aktiven Intellekt mit Gott gleich. Diese Interpretation sollte später einen großen Einfluss auf die arabischen Anhänger von Aristoteles haben, während sie von den Christen abgelehnt wurde, die den aktiven Intellekt für ein Vermögen jedes einzelnen Menschen hielten.

Plotin und Augustinus Es war jedoch Platon, nicht Aristoteles, der den größeren philosophischen Einfluss in der Abenddämmerung der klassischen Antike hatte. Plotin (205–270) war ein Zeitgenosse des Christen Origenes, wie er Schüler von Ammonius Saccas und der letzte der großen heidnischen Philosophen. Nach einer kurzen militärischen Karriere ließ er sich in Rom nieder und gewann die Gunst des kaiserlichen Hofes. Er spielte mit dem Gedanken, in Campania eine platonische Republik zu gründen. Seine Werke wurden nach seinem Tod von seinem Schüler und Biografen Porphyrios zu sechs Gruppen von neun Abhandlungen (Enneaden) zusammengefasst. Sie sind in einem

Plotin und Augustinus

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knappen, schwer zugänglichen Stil verfasst und behandeln eine Vielzahl von philosophischen Themen: Ethik und Ästhetik, Physik und Kosmologie, Psychologie, Metaphysik, Logik und Erkenntnistheorie. Von zentraler Bedeutung für Plotins System ist „das Eine“: Der Begriff ist, über Platon, von Parmenides abgeleitet, für den Einheit eine wesentliche Eigenschaft des Seins ist. Das Eine ist, auf mysteriöse Weise, mit der platonischen Idee des Guten identisch. Es ist die Grundlage allen Seins und der Maßstab aller Werte, selbst jedoch jenseits von Sein und Gutheit. Die nächsten Plätze unterhalb dieses höchsten und unaussprechlichen Gipfels werden von Intellekt (dem Ort der Ideen) und Seele eingenommen, die der Schöpfer von Raum und Zeit sind. Die Seele schaut nach oben zum Intellekt auf, und nach unten auf die Natur herab, die ihrerseits die materielle Welt erschafft. Auf der untersten aller Ebenen befindet sich der bloße Stoff, die äußerste Grenze der Wirklichkeit. Diese Ebenen der Wirklichkeit sind nicht voneinander unabhängig. Jede Ebene hängt ihrer Existenz und Aktivität nach von der Ebene über ihr ab. Alles hat seinen Platz in einer einzigen abwärtsgerichteten Reihe aufeinander folgender Emanation des Einen. Dieses beeindruckende und verblüffende metaphysische System wird von Plotin nicht als mystische Offenbarung, sondern auf der Grundlage von philosophischer Prinzipien dargestellt, die von Platon und Aristoteles abgeleitet sind. In Kapitel 9 werden wir noch genauer darauf eingehen. Plotins Schule in Rom bestand über seinen Tod hinaus nicht fort, doch seine Schüler und deren Schüler trugen seine Ideen weiter. In Athen blühte eine neuplatonische Tradition, bis die dortigen heidnischen Schulen im Jahre 529 durch den christlichen Kaiser Justinian geschlossen wurden. Doch es waren Christen und nicht Heiden, welche Plotins Ideen in die nachklassische Welt weitertrugen. Der wichtigste unter ihnen war der heilige Augustinus von Hippo, der sich als der einflussreichste aller christlichen Philosophen erweisen sollte. Augustinus wurde im Jahre 354 in einer kleinen Stadt im heutigen Algerien geboren. Als Sohn einer christlichen Mutter und eines heidnischen Vaters wurde er als Kleinkind nicht getauft, obwohl er eine christliche Erziehung in lateinischer Literatur und Rhetorik erhielt. Die meisten Einzelheiten über seine frühen Jahre kennen wir durch seine Autobiografie, die Bekenntnisse. Sie zeichnen ein Porträt, das von einem Biografen verfasst wurde, der fast so begabt war wie Boswell, und sind das Zeugnis eines Geistes noch umfassender als derjenige Johnsons. 35 Nachdem er einige Grundkenntnisse im Griechischen erworben hatte, qualifizierte sich Augustinus im Fach Rhetorik und unterrichtete es in Karthago, einer Stadt die er als „Hexenkessel lasterhaften Liebestreibens“ beschrieb. Im Alter von achtzehn Jahren wurde er, beim Lesen von Ciceros Hortensius, von einer Liebe zu Platon ergriffen. Zehn Jahre lang war er ein Anhänger des Manichäismus, einer synkretisti35 Anm. d. Übers.: James Boswell (1740–1795) war ein schottischer Schriftsteller. Seine Biografie seines Freundes Samuel Johnson (1709–1784) gilt als eine der bedeutendsten Biografien in englischer Sprache.

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2 Schulen des Denkens: Von Aristoteles bis Augustinus

schen Religion, die lehrte, dass es zwei Welten gab: eine von Gott geschaffene Welt spiritueller Güte und des Lichts und eine vom Teufel geschaffene Welt der fleischlichen Dunkelheit. Das negative Verhältnis der Manichäer zur Sexualität hinterließ bei Augustinus eine dauerhafte Spur, obwohl er in seinen frühen Mannesjahren mehrere Jahre lang mit einer Geliebten zusammenlebte, mit der er einen Sohn namens Adeodatus hatte. Im Jahre 383 überquerte er das Mittelmeer und ging nach Rom und von dort wenig später nach Mailand, das damals die Hauptstadt des westlichen Teils des nunmehr geteilten römischen Weltreichs war. Dort befreundete er sich mit Ambrosius, dem Bischof von Mailand, der gegen die skrupellose säkulare Machtentfaltung des Kaisers Theodosius für die Sache der Religion und Moralität eintrat. Der Einfluss von Ambrosius und seiner Mutter Monika lenkte Augustinus in die Richtung des Christentums. Nach einer Zeit des Zögerns wurde er im Jahre 387 getauft. Einige Zeit nach seiner Taufe stand Augustinus noch unter dem philosophischen Einfluss von Plotin. Eine Reihe von Dialogen über Gott und die menschliche Seele bringt einen christlichen Neoplatonismus zum Ausdruck. Seine Schrift Contra Academicos legt eine detaillierte Reihe von Argumenten gegen den akademischen Skeptizismus dar. In De ideis legt er seine eigene Version der Ideenlehre Platons dar: Die Ideen haben keine extramentale Existenz, sondern sie existieren ewig und unwandelbar im Geist Gottes. Seine Schrift De libero arbitrio handelt von der Freiheit des menschlichen Willens, von der Willensentscheidung und dem Ursprung des Bösen. Der Text wird in einer Reihe philosophischer Seminare nach wie vor studiert. Außerdem verfasste er einen professoralen Traktat, Die 83 verschiedenen Fragen. Ferner schrieb er sechs Bücher über Musik sowie eine schwungvolle Schrift, De magistro, in der er einfallsreiche Reflexionen über Wesen und Macht der Worte anstellt. Alle diese Schriften verfasste Augustinus, bevor er seine endgültige Berufung fand und im Jahre 391 zum Priester geweiht wurde. Kurze Zeit später wurde er Bischof von Hippo in Algerien, wo er bis zu seinem Tod im Jahre 430 lebte. Er hatte zwar noch eine beachtliche Karriere als Autor vor sich und sein Meisterwerk, De civitate dei (Vom Gottesstaat), noch nicht geschrieben, doch das Jahr 391 markierte eine Epochenwende. Bis zu diesem Zeitpunkt zeigte sich Augustinus als letzte, schöne Blüte der klassischen Philosophie. Von nun an schreibt er nicht mehr als Schüler des Heiden Plotin, sondern als Vater der christlichen Philosophie des Mittelalters. In diese kreative Phase folgen wir ihm im nächsten Band dieses Werkes. In seinen reifen Jahren war das Selbstbild des Augustinus nicht dasjenige eines philosophischen Neuerers. Er sah seine Aufgabe vielmehr darin, eine göttliche Botschaft zu verkündigen, die von Platon und Paulus, Männern wesentlich größer als er, und von Jesus, der mehr als ein Mensch war, auf ihn gekommen war. Doch die Art und Weise, auf die spätere Generationen die Lehren von Augustinus’ Meistern begriffen und verstanden haben, ist zu einem großen Teil die Frucht seines eigenen Werkes. Von allen Philosophen der Antike hatte nur Aristoteles einen größeren Einfluss auf das menschliche Denken.

3

Richtiges Argumentieren: Logik

Die Logik ist eine philosophische Disziplin, die gute von schlechten Argumenten unterscheidet. Aristoteles erhob den Anspruch, sie begründet zu haben, und dies ist keine leere Prahlerei. Natürlich haben Menschen, seit sie in Gemeinschaft leben, Streitgespräche geführt und sich gegenseitig Fehlschlüsse nachgewiesen. Wie John Locke sagte: „Gott hat den Menschen nicht nur zweibeinig erschaffen und es Aristoteles überlassen, ihn vernünftig zu machen.“ Dennoch ist es Aristoteles, dem wir die erste formale Untersuchung argumentierenden Denkens verdanken. Doch ist in diesem Punkt, wie an so vielen anderen, zunächst anzuerkennen, inwieweit wir in Platons Schuld stehen. Im Anschluss an Protagoras traf Platon wichtige Unterscheidungen zwischen den verschiedenen Wortarten. Diese Unterscheidungen stellen einen Teil der Grundlagen da, auf denen die Logik errichtet ist. Im Dialog Sophistes führt er eine Unterscheidung zwischen Nomen und Verben ein, wobei Verben Handlungen und Namen die Akteure dieser Handlungen bezeichnen. Ein Satz, darauf besteht er, muss aus mindestens einem Nomen und mindestens einem Verb bestehen: Zwei aufeinanderfolgende Nomen oder Verben ergeben niemals einen Satz. „Geht läuft“ ist kein Satz, ebenso wenig wie „Löwe Hirsch“. Die einfachste Satzform ist ein Ausdruck wie etwa „Ein Mann lernt“ oder „Theaitetos fliegt“, und nur ein Gebilde mit dieser Struktur kann wahr oder falsch sein (Sph. 262a–263b). Die Aufspaltung von Sätzen in kleinere Einheiten – wovon dies nur ein mögliches Beispiel ist – ist ein unerlässlicher erster Schritt bei der logischen Analyse eines Arguments. Aristoteles hat uns eine Reihe logischer Abhandlungen hinterlassen, die traditionellerweise in der folgenden Reihenfolge an den Anfang seiner gesammelten Werke gestellt werden: die Kategorien, De Interpretatione, Erste Analytik, Zweite Analytik, die Topik und die Sophistischen Widerlegungen. Diese Reihenfolge entspricht weder derjenigen ihrer Entstehung, noch derjenigen, in der man sie am besten liest. Es empfiehlt sich, sich zunächst der Ersten Analytik zuzuwenden, dem bedeutendsten und am wenigsten umstrittenen seiner Beiträge zu der von ihm gegründeten Wissenschaft der Logik.

Die Syllogistik des Aristoteles Die Erste Analytik ist der Theorie des Syllogismus gewidmet, einer zentralen Methode des logischen Schließens, die durch vertraute Beispiele wie das folgende veranschaulicht werden kann:

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3 Richtiges Argumentieren: Logik

Alle Griechen sind Menschen. Alle Menschen sind sterblich. Deshalb: Alle Griechen sind sterblich.

Aristoteles setzt es sich zum Ziel, zu zeigen, wie viele Formen des Syllogismus es gibt, und welche von ihnen gültige Schlussfolgerungen erlauben. Zum Zweck dieser Untersuchung führt Aristoteles technische Begriffe ein, die in zahlreiche Sprachen übersetzt wurden und in der Logik im Verlauf ihrer Geschichte eine wichtige Rolle gespielt haben (APr. 1. 1. 24a10–b15). Das Wort „Syllogismus“, das Aristoteles für Schlussfolgerungen nach diesem Muster verwendet, ist selbst eine direkte Übernahme des griechischen Wortes syllogismos ins Deutsche. Es wird zu Beginn der Ersten Analytik folgendermaßen definiert: „Ein Schluss ist eine Rede, in welcher bei Setzung einiger [Sachverhalte] etwas anderes als das Gesetzte mit Notwendigkeit zutrifft.“ 1 (APr. 1. 1. 24b18) Das weiter oben angeführte Beispiel für eine Schlussfolgerung enthält drei indikativische Sätze, und jeder derartige Satz wird von Aristoteles als Aussage (protasis) bezeichnet: Eine Aussage ist, grob gesagt, ein hinsichtlich seiner logischen Merkmale betrachteter Satz. Der dritte Satz in der angegebenen Schlussfolgerung – derjenige, dem „Deshalb“ vorangestellt ist –, wird von Aristoteles als Schluss des Syllogismus bezeichnet. Die anderen beiden Sätze können wir als Prämissen bezeichnen, obwohl Aristoteles über keinen konsistenten terminus technicus zu ihrer Unterscheidung verfügt. Die Sätze im obigen Beispiel beginnen mit dem Wort „alle“: Solche Sätze werden von Aristoteles als allgemeine (katholou) Aussagen bezeichnet. Sie sind nicht die einzige Art allgemeiner Aussagen: Ebenso allgemein ist eine Aussage wie etwa „Keine Griechen sind Pferde.“ Handelt es sich jedoch bei der ersten Art von Aussage um eine allgemeine affirmative (behauptende) Aussage (kataphatikos), ist die zweite eine allgemeine negative (bestreitende) Aussage (apophatikos). Allgemeinen Aussagen stehen partikulare (en merei) gegenüber, wie zum Beispiel: „Einige Griechen haben einen Bart“ (ein affirmativer Einzelsatz) oder „Einige Griechen haben keinen Bart“ (ein negativer Einzelsatz). In allen derartigen Sätzen, so sagt Aristoteles, wird etwas von etwas anderem ausgesagt: Beispielsweise wird im einen Fall sterblich vom Menschen ausgesagt, und Pferd von Griechen im anderen. Das Vorhandensein oder Fehlen eines Negationszeichens entscheidet darüber, ob es sich bei diesen Aussagen um affirmative oder negative Sätze handelt (APr. 1. 1. 24b17). Die Elemente, die in die Satzaussagen eingehen, werden von Aristoteles als Begriffe (horoi) bezeichnet. Es ist eine Eigenschaft von Begriffen, wie Aristoteles sie versteht, dass sie entweder selbst als Prädikate fungieren können, oder dass andere Ausdrücke von ihnen ausgesagt werden können. Zum Beispiel wird in unserem ersten 1

Zitiert nach: Aristoteles, Erste Analytik, Zweite Analytik, übersetzt und herausgegeben von H. G. Zekl (Hamburg: Felix Meiner Verlag, 1998).

Die Syllogistik des Aristoteles

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Beispiel Mensch von etwas im ersten Satz ausgesagt, während im zweiten Satz etwas vom Menschen ausgesagt wird. Aristoteles weist den in einem Syllogismus vorkommenden Begriffen drei unterschiedliche Rollen zu. Der Begriff, der das Prädikat in der Schlussfolgerung ist, ist der Oberbegriff; der Begriff, von dem der Hauptausdruck in der Schlussfolgerung ausgesagt wird, ist der Unterbegriff; und der Begriff, der in jeder der beiden Prämissen vorkommt, ist der Mittelbegriff (APr. 1. 4. 26a21–3). 2 In unserem Beispiel ist also „sterblich“ der Oberbegriff, „Griechen“ der Unterbegriff und „Menschen“ der Mittelbegriff. Zusätzlich zur Erfindung dieser technischen Begriffe führte Aristoteles auch die Verwendung schematischer Buchstaben zur Darstellung von Argumentationsmustern ein: Diese Praxis ist für die systematische Untersuchung von Schlussfiguren unerlässlich und in der modernen mathematischen Logik allgegenwärtig. So wird etwa die in dem obigen Beispiel enthaltene Schlussfigur von Aristoteles nicht anhand eines Beispiels dargelegt, sondern durch den folgenden schematischen Satz: Wenn A von jedem B und B von jedem C ausgesagt wird, so ist es notwendig, dass A von jedem C ausgesagt wird.3

Wenn Aristoteles ein konkretes Beispiel angeben möchte, tut er dies im Allgemeinen nicht, indem er die einzelnen Sätze eines Syllogismus, sondern indem er einen schematischen Satz anführt und dann mögliche Substitutionen für A, B und C auflistet (z. B. APr. 1. 5. 27b30–2). Alle Syllogismen enthalten drei Begriffe und drei Aussagen. Da es jedoch die vier von Aristoteles unterschiedenen Arten von Aussagen gibt, und da die Begriffe in den Prämissen in unterschiedlicher Reihenfolge vorkommen können, wird es viele verschiedene syllogistische Schlussfiguren geben. Im Gegensatz zu dem anfänglich genannten Beispiel, das nur bejahende, allgemeine Aussagen enthält, wird es Schlussformen geben, die negative und partikuläre Aussagen enthalten. Wiederum wird es Fälle geben, in denen – anders als im ersten Beispiel, in dem der Mittelbegriff in der ersten Prämisse als Prädikat und in der zweiten als Subjekt vorkommt – der Mittelbegriff in beiden Prämissen Subjekt ist und Fälle, in denen er in beiden Prämissen Prädikat ist. (Nach der von Aristoteles bevorzugten Definition enthält die Schlussfolgerung immer den Unterbegriff als Subjekt und den Oberbegriff als Prädikat.) Aristoteles gruppierte die Formen der Schlüsse auf der Grundlage der Position 2

3

Aristoteles’ Verwendung dieser Ausdrücke in der Ersten Analytik ist inkonsistent: Die hier gegebene Darstellung, von der er bei der Besprechung der zweiten und dritten Figur des Syllogismus abweicht, wird seit der Antike als kanonisch akzeptiert (siehe W. C. Kneale and M. Kneale, The Development of Logic (Oxford: Clarendon Press, 1962), 69–71). Wir sollten beachten, dass Aristoteles’ Darstellung des Syllogismus, obwohl sie in schematischer Form wiedergegeben ist, dem Muster folgt: „Wenn p und q, dann notwendigerweise r“, statt dem Muster „p, q deshalb r“.

134

3 Richtiges Argumentieren: Logik

des Mittelbegriffs in den Prämissen in drei Schlussfiguren (schemata). In der ersten Schlussfigur, die dem zuerst angeführten Beispiel entspricht, kommt der Mittelbegriff einmal als Prädikat und einmal als Subjekt vor. (Auf die Reihenfolge, in der die Prämissen genannt werden, kommt es nicht an.) In der zweiten Schlussfigur kommt der Mittelbegriff zweimal als Subjekt vor, und in der dritten zweimal als Prädikat. Wenn wir daher den Unterbegriff durch S, den Mittelbegriff durch M und den Oberbegriff durch P darstellen, erhalten wir folgende Schlussfiguren:

Deshalb

(1) S–M M–P S–P

(2) M–S M–P S–P

(3) S–M P–M S–P

Aristoteles interessierte sich hauptsächlich für Syllogismen der ersten Figur, die einzigen, die er für „vollkommen“ hielt, womit er wahrscheinlich meinte, dass sie über eine intuitive Gültigkeit verfügen, die die Syllogismen in den anderen Figuren nicht besitzen (APr. 4. 25b35). Eine Prädikation geschieht durch alle Aussagen, doch liegt sie in den vier verschiedenen Aussagearten in unterschiedlichen Formen vor. Es gibt allgemeine bejahende, allgemeine bestreitende, partikuläre bejahende und partikuläre bestreitende Aussagen. Daher kann die Prädikation S–P entweder für „Alle S sind P“, „Kein S ist P“, „Einige S sind P“ oder für „Einige S sind nicht P“ stehen. Innerhalb jeder Figur gibt es daher zahlreiche mögliche Schlussfiguren. In der ersten Figur gibt es beispielsweise, neben vielen anderen Möglichkeiten, die beiden folgenden: Alle Griechen sind Menschen. Einige Tiere sind Hunde. Kein Mensch ist unsterblich. Einige Hunde sind weiß. Kein Grieche ist unsterblich. Jedes Tier ist weiß.

Schlussfiguren dieser unterschiedlichen Arten wurden in späteren Jahrhunderten als „Modi“ des Syllogismus bezeichnet. Beide angegebenen Schlussfiguren liefern ein Beispiel für einen Syllogismus der ersten Figur, doch besteht offensichtlich ein großer Unterschied zwischen ihnen: Die erste ist gültig, die zweite ungültig, da sie wahre Prämissen und eine falsche Schlussfolgerung hat. 4 Aristoteles stellte sich die Aufgabe festzustellen, welche der möglichen Modi eine gültige Schlussfolgerung ergeben. Zur Lösung dieser Aufgabe prüfte er die verschiedenen möglichen Prämissenpaare und fragte sich, ob eine Schlussfolgerung aus ihnen gezogen werden könne. Wenn aus einem Prämissenpaar keine gültige Schlussfolge4

Kein gültiges Argument hat wahre Prämissen und eine falsche Schlussfolgerung. Gültige Schlüsse aus falschen Prämissen, die zu falschen Folgerungen führen, sind allerdings ebenso möglich wie ungültige Schlüsse für wahre Folgerungen.

Die Syllogistik des Aristoteles

135

rung gezogen werden kann, stellt er fest, dass kein Syllogismus vorliegt. Er stellt zum Beispiel Folgendes fest: Wenn B zu keinem C, und A zu einigen B gehört, so lässt sich daraus kein Schluss ziehen. Als Testfall gibt er die Begriffe „Weiß“, „Pferd“ und „Schwan“ an (APr. 3. 25a38). Er lädt uns damit ein, folgendes Prämissenpaar zu erwägen: „Kein Schwan ist ein Pferd“ und „Einige Pferde sind weiß“ und festzustellen, dass sich aus diesen Prämissen nicht schließen lässt, dass Schwäne weiß sind bzw. nicht weiß sind. Seine Vorgehensweise scheint zunächst planlos und intuitiv zu sein, doch gelingt es ihm im Laufe seiner Darstellung, eine Anzahl allgemeiner Regeln aufzustellen, mit deren Hilfe sich feststellen lässt, welche Modi eine Schlussfolgerung erlauben und welche nicht. Es gibt drei Regeln, die für Syllogismen in allen Schlussfiguren gelten: (1) Mindestens eine Prämisse muss eine allgemeine Aussage sein. (2) Mindestens eine Prämisse muss eine bejahende Aussage sein. (3) Sind beide Prämissen negativ, muss die Schlussfolgerung ebenfalls negativ sein. Diese Regeln sind von allgemeiner Gültigkeit, bezogen auf bestimmte Schlussfiguren nehmen sie jedoch eine speziellere Form an. Die der ersten Schlussfigur eigentümlichen Regeln lauten: (4) Der Obersatz (derjenige, der den Oberbegriff enthält) muss eine allgemeine Aussage sein. (5) Der Untersatz (derjenige, der den Unterbegriff enthält) muss eine bejahende Aussage sein. Wenn wir diese Regeln anwenden, stellen wir fest, dass es nur vier gültige Modi des Syllogismus der ersten Schlussfigur gibt. Alle S sind M Alle M sind P Alle S sind P

Alle S sind M Kein M ist P Kein S ist P

Einige S sind M Alle M sind P Einige S sind P

Einige S sind M Alle M sind nicht P Einige S sind nicht P

Aristoteles nennt auch Regeln, mit denen sich die Gültigkeit der Modi in der zweiten und dritten Schlussfigur ermitteln lässt, doch müssen wir uns mit diesen nicht beschäftigen, da es ihm zu zeigen gelingt, dass es für sämtliche Syllogismen der zweiten und dritten Schlussfigur eine Entsprechung unter den Syllogismen der ersten Schlussfigur gibt. Generell lässt sich feststellen, dass sich die Syllogismen in diesen Figuren durch eine von ihm als „Konversion“ (antistrophe) bezeichnete Methode in Syllogismen der ersten Figur übertragen lassen. Diese Konversion hängt von einer Reihe von Beziehungen zwischen den Aussagen unterschiedlicher Formen ab, die Aristoteles zu Beginn der Abhandlung dargelegt hat. Wenn wir partikuläre bejahende und allgemeine negative Aussagen vor uns haben, kann die Reihenfolge der Begriffe umgekehrt werden, ohne den Sinn zu verändern: Ein S ist dann und nur dann P, wenn ein P S ist, und kein S ist dann und nur dann P, wenn kein P S ist (APr. 2. 25a5–10). (Im Gegensatz dazu kann die Aussage „Alle S sind P“ wahr sein, ohne dass die Aussage „Alle P sind S“ wahr ist.)

136

3 Richtiges Argumentieren: Logik

Ein Lysippos zugeschriebener Kopf des Aristoteles (viertes Jahrhundert v. Chr.)

Betrachten wir den folgenden Syllogismus in der dritten Figur: „Kein Grieche ist ein Vogel; aber alle Raben sind Vögel; daher ist kein Grieche ein Rabe.“ Wenn wir den Untersatz in sein Äquivalent „Kein Vogel ist ein Grieche“ umwandeln, erhalten wir einen Syllogismus der ersten Schlussfigur im zweiten der oben aufgeführten Modi. Aristoteles zeigt im Laufe seiner Abhandlung, dass fast alle Syllogismen der zweiten und dritten Schlussfigur durch eine derartige Konversion auf solche der ersten Schlussfigur zurückgeführt werden können. In den seltenen Fällen, in denen dies unmöglich ist, transformiert er den Syllogismus der zweiten und dritten Schlussfigur durch eine reductio ad absurdum, indem er zeigt: Wenn eine der Prämissen des Syllogismus in Verbindung mit der Negation seiner Schlussfolgerung als zweite Prämisse genommen wird, so ergibt sich (durch eine Deduktion in der ersten Figur) die Negation der ursprünglichen zweiten Prämisse als Schlussfolgerung (APr. 23. 41a21 V.). Die Schlusslehre des Aristoteles war eine bemerkenswerte Leistung: Sie ist eine systematische Darstellung eines wichtigen Teils der Logik. Einige seiner Nachfolger in späteren Zeiten – allerdings nicht in der Antike oder im Mittelalter – glaubten, dass die Syllogistik mit dem Ganzen der Logik identisch sei. So sagte beispielsweise Immanuel Kant im Vorwort zur zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft, dass die Logik seit Aristoteles weder einen einzigen Schritt vorwärts gemacht habe, noch einen einzigen Schritt habe zurückgehen müssen.

Die Schrift De Interpretatione und die Kategorien

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In Wahrheit ist die Schlusslehre jedoch nur ein Teil der Logik. Sie behandelt nur Schlussfolgerungen, die von Wörtern wie „alle“ oder „einige“ abhängen, die die Prämissen und Schlussfolgerungen der Syllogismen klassifizieren, jedoch keine Schlussfolgerungen, die von Wörtern wie „wenn“ und „dann“ abhängen, welche statt Nomen ganze Sätze verbinden. Wie wir im Folgenden noch sehen werden, wurden Schlussfolgerungen wie „Wenn es nicht Tag ist, ist es Nacht; doch es ist nicht Tag; also ist es Nacht“ erst in einer späteren Phase der Antike formalisiert. Eine andere Lücke in der Syllogistik des Aristoteles zu schließen, dauerte länger. Obwohl es in ihr hauptsächlich um Wörter wie „alle“, „jeder“ und „einige“ ging (um Quantoren, wie man sie später nennen wird), konnte sie nicht mit Schlussfolgerungen umgehen, in denen solche Wörter nicht an der Subjektstelle, sondern irgendwo im grammatischen Prädikat vorkamen. Die Regeln des Aristoteles erlaubten es nicht, die Gültigkeit von Schlussfolgerungen zu bewerten, in denen Prämissen der Form „Jeder Junge liebt ein Mädchen“ oder „Niemand kann alle Fehler vermeiden“ vorkommen. Es dauerte 20 Jahrhunderte, bis derartige Schlussfolgerungen auf zufriedenstellende Weise formalisiert wurden. Aristoteles hat vielleicht, für eine Weile, geglaubt, seine Syllogistik reiche aus, alle möglichen gültigen Schlussfolgerungen zu beschreiben. Doch seine eigenen Schriften zur Logik beweisen, dass er erkannte, dass die Logik wesentlich umfassender ist, als es sich seine Syllogistik träumen ließ.

Die Schrift De Interpretatione und die Kategorien In der Schrift De Interpretatione geht es Aristoteles, wie in der Ersten Analytik, hauptsächlich um allgemeine Aussagen, die mit „alle“, „kein“ oder „einige“ beginnen. Doch es geht ihm hierbei nicht in erster Linie darum, sie miteinander zu Schlussfolgerungen zu verbinden, sondern darum, die Beziehungen der Kompatibilität und Inkompatibilität zwischen ihnen zu untersuchen. „Jeder Mann ist weiß“ und „Kein Mann ist weiß“ können offensichtlich nicht beide gleichzeitig wahr sein. Aristoteles nennt solche Aussagen Widersprüche (enantiai) (Int. 7. 17b4–15). Allerdings können beide falsch sein, wenn – wie es tatsächlich der Fall ist – einige Männer weiß sind und andere nicht. „Jeder Mann ist weiß“ und „Irgendein Mann ist nicht weiß“ können, wie das vorige Aussagenpaar, nicht beide zugleich wahr sein, aber – unter der Voraussetzung, dass es so etwas wie Männer gibt – können nicht beide falsch sein. Wenn eine der beiden Aussagen wahr ist, ist die andere falsch. Ist eine von beiden falsch, so ist die andere wahr. Aristoteles nennt ein solches Aussagenpaar kontradiktorisch (antikeimenai) (Int. 7. 17b16–18). Ebenso wie eine allgemeine behauptende Aussage der entsprechenden partikulären verneinenden Aussage kontradiktorisch entgegensteht, widerspricht eine allgemeine negative Aussage einer partikulären behauptenden Aussage beziehungsweise wird der allgemeinen durch die partikuläre Aussage widersprochen, z. B.: „Kein

138

3 Richtiges Argumentieren: Logik

Mann ist weiß“ und „Irgendein Mann ist weiß“. Die beiden entsprechenden partikulären Behauptungssätze sind zueinander weder konträr noch kontradiktorisch: Die Aussagen „Irgendein Mann ist weiß“ und „Irgendein Mann ist nicht weiß“ können beide gleichzeitig wahr sein. Vorausgesetzt, dass es Männer gibt, können jedoch nicht beide Aussagen zugleich falsch sein. Diese Beziehung erhielt keinen Namen. Seine Nachfolger bezeichnen Aussagen, die zueinander in dieser Beziehung stehen, später als subkonträr. allgemein bejahend „Jeder Mann ist weiß“

partikulär bejahend „Irgendein Mann ist weiß“

konträr

subkonträr

allgemein verneinend „Kein Mann ist weiß“

partikulär verneinend „Irgendein Mann ist nicht weiß“

Die in De Interpretatione dargelegten Verhältnisse zwischen Aussagen können – und wurden von Aristoteles’ Nachfolgern über Jahrhunderte – in einem als logisches Quadrat bezeichneten Schema angeordnet werden. Alle Aussagen, die in Syllogismen und das logische Quadrat eingehen, sind allgemeine Aussagen, unabhängig davon, ob sie universal oder partikulär sind, d. h.: Keine von ihnen sind Aussagen über Einzeldinge oder Individuen, die Eigennamen enthalten, wie zum Beispiel „Sokrates ist weise“. Selbstverständlich war Aristoteles mit Einzelaussagen vertraut, und eine solche Aussage, „Pittakos ist großzügig“, kommt in einem Beispiel im letzten Kapitel der Ersten Analytik vor (APr. 27. 70a25). Allerdings passt diese Aussage nicht in eine Abhandlung, deren Grundvoraussetzung darin besteht, dass alle Prämissen und Schlussfolgerungen quantifizierte allgemeine Aussagen sind. In der Schrift De Interpretatione werden Einzelaussagen hin und wieder erwähnt, hauptsächlich um den Gegensatz zu allgemeinen Aussagen zu verdeutlichen. So ist es zum Beispiel einfach, die kontradiktorische Aussage zu „Sokrates ist weiß“ anzugeben. Sie lautet: „Sokrates ist nicht weiß.“ (Int. 7. 17b30). Doch um bei Aristoteles eine systematische Behandlung von Einzelaussagen zu finden, müssen wir uns der Kategorienschrift zuwenden. Während die Analytiken mit der Unterscheidung zwischen Aussagen und Ausdrücken operieren, beginnen die Kategorien mit der Unterscheidung dessen, „was ausgesagt wird“, in solches, was in Verknüpfung (kata symploken) oder ohne Verknüpfung (aneu symplokes) ausgesagt wird (Cat. 2. 1a16). Ein Beispiel für etwas, das in Verknüpfung ausgesagt wird, ist „Ein Mann läuft.“ Ohne Verknüpfung werden einfache Nomen und Verben ausgesagt, die in Aussagen vorkommen, in denen Verknüpfungen vorliegen: „Mann“, „Rind“, „läuft“, „siegt“ und so weiter. Wahre oder

Die Schrift De Interpretatione und die Kategorien

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falsche Aussagen ergeben sich nur, wenn etwas in Verknüpfung ausgesagt wird. Aussagen ohne Verknüpfung sind weder wahr noch falsch. Eine ähnliche Unterscheidung kommt in De Interpretatione vor, wo wir erfahren, dass ein Satz (logos) aus Teilen besteht, die für sich etwas bedeuten, während es auf der anderen Seite Zeichen gibt, die aus keinen bedeutungsvollen Teilen bestehen. Es gibt zwei verschiedene Arten dieser einfachen Zeichen: Namen (Int. 2. 16a20–b5) und Verben (Int. 3. 16b6–25). Die beiden sind darin voneinander unterschieden, so erfahren wir, dass das Verb im Gegensatz zum Nomen „zusätzlich die Zeit bedeutet“, d. h. in einer bestimmten Zeitform auftritt. In den Kategorien finden wir jedoch eine wesentlich differenziertere Klassifikation einfacher Ausdrücke. Im vierten Kapitel der Abhandlung sagt Aristoteles hierzu Folgendes: „Das, was nicht in Verbindung gesagt wird, bezeichnet entweder ein Wesen oder ein Wieviel oder ein Wie-beschaffen oder ein In-bezug-auf oder ein Wo oder ein Wann oder ein Liegen oder ein Haben oder ein Tun oder ein Widerfahren. Wesen (ousia) ist, um es im Umriß zu sagen, zum Beispiel: Mensch, Pferd. Ein Wieviel ist zum Beispiel: zwei Ellen lang, drei Ellen lang. Ein Wie-beschaffen ist zum Beispiel: weiß, in der Grammatik kundig. Ein In-bezug-auf ist zum Beispiel: doppelt, halb, größer. Ein Wo ist zum Beispiel: im Lyzeum, auf dem Marktplatz. Ein Wann ist zum Beispiel: gestern, voriges Jahr. Ein Liegen ist zum Beispiel: steht, sitzt. Ein Haben ist zum Beispiel: beschuht, bewaffnet. Ein Tun ist zum Beispiel: schneidet, zündet an. Ein Widerfahren ist zum Beispiel: wird geschnitten, wird angezündet.“ (Cat. 4. 1b25–2a4) 5

Dieser dicht gedrängte und rätselhafte Textabschnitt wurde im Laufe der Jahrhunderte immer wieder kommentiert und hat einen enormen Einfluss gehabt. Diese zehn, durch einfache Ausdrücke bezeichnete Dinge sind die Kategorien, die der Abhandlung ihren Namen geben. Aristoteles bezeichnet die Kategorien in diesem Abschnitt durch einen Satz heterogener Ausdrücke: Nomen (z. B. „Substanz“), Verben (z. B. „Haben“) und Fragepronomen (z. B. „Wo?“ oder „Wie viel?“). Es bürgerte sich ein, sich auf die einzelnen Kategorien mit mehr oder weniger abstrakten Hauptwörtern zu beziehen: Substanz, Quantität, Qualität, Relation, Ort, Zeit, Lage, Haben, Aktivität und Passivität. Doch was sind die Kategorien, und warum listet Aristoteles sie auf? Eines, was er hiermit tut, ist zumindest dies: Er führt zehn verschiedene Arten von Ausdrücken an, die im Prädikat eines Satzes über ein Einzelsubjekt vorkommen können. So können wir beispielsweise über Sokrates sagen, dass er ein Mann, etwa 1,5 m groß, weise, und größer als Platon war und dass er im fünften Jahrhundert v. Chr. in Athen lebte. Bei einer bestimmten Gelegenheit hätten seine Freunde von ihm sagen können, dass er sitzt, einen Mantel trägt, ein Stück Stoff schneidet und von der Sonne gewärmt wird. 5

Zitiert in Anlehnung an: Aristoteles, Die Kategorien, übersetzt und herausgegeben von I. W. Rath (Stuttgart: Reclam, 1998).

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3 Richtiges Argumentieren: Logik

Offensichtlich lässt die Lehre der Kategorien Raum für eine Vielzahl von Aussagen, die wesentlich reichhaltiger sind als die reglementierten Aussagen der Ersten Analytik. Aus dem Text geht jedoch hervor, dass Aristoteles keineswegs nur Ausdrücke oder sprachliche Elemente klassifiziert. Er ging vielmehr davon aus, dass er eine Klassifikation außersprachlicher Entitäten vornahm, von bezeichneten Dingen, im Gegensatz zu Zeichen, die etwas bedeuten. In Kapitel 6 werden wir die metaphysischen Implikationen der Lehre von den Kategorien untersuchen. Auf eine Frage muss jedoch bereits jetzt eingegangen werden. Wenn wir Aristoteles folgen, werden wir die Prädikate in Sätzen wie „Sokrates ist dickbäuchig“ oder „Sokrates ist weiser als Meletos“ problemlos kategorisieren können. Doch was sollen wir über den „Sokrates“ in Sätzen wie diesen sagen? Aristoteles’ Liste scheint eine solche von Prädikaten, nicht von Subjekten zu sein. Die Antwort auf diese Frage wird im nächsten Kapitel der Kategorien gegeben: „Wesen im sehr strengen und ersten und eigentlichen Sinn wird das genannt, was weder über ein Zugrundeliegendes ausgesagt wird noch in einem Zugrundeliegendes ist, wie zum Beispiel dieser bestimmte Mensch, dieses bestimmte Pferd. Wesen im zweiten Sinn werden Formen genannt, in welchen die zuerst genannten Wesen vorkommen, ebenso auch die Gattungen dieser Formen. Zum Beispiel kommt dieser bestimmte Mensch in der Form Mensch vor, die Gattungen dieser Form aber ist Lebewesen. Also werden eben diese Formen Wesen im zweiten Sinn genannt, wie zum Beispiel Mensch und Lebewesen.“ (Cat. 5. 2a11–19) 6

Wenn Aristoteles in diesem Textabschnitt von einem Subjekt spricht, so ist deutlich, dass er damit nicht einen sprachlichen Ausdruck, sondern dasjenige meint, wofür der Ausdruck steht. Erste Substanz ist der Mann Sokrates, nicht das Wort „Sokrates“. Die Substanz, die zu Beginn der Liste der Kategorien genannt wurde, so zeigt sich nun, war zweite Substanz: Der Satz „Sokrates war ein Mensch“ sagt eine zweite Substanz (eine Form oder Art) von einer ersten Substanz (einem Individuum) aus. Wenn Aristoteles in diesem Abschnitt eine erste Substanz den Dingen gegenüberstellt, die in einem Subjekt vorkommen, so denkt er bei diesen Dingen an dasjenige, was durch Prädikate in den anderen Kategorien bezeichnet wird. Wenn zum Beispiel der Satz „Sokrates ist weise“ wahr ist, dann ist die Weisheit des Sokrates eines der Dinge, die an Sokrates vorkommen (vgl. 2. 1a25). Aristoteles geht die Kategorien einzeln durch und erläutert sie der Reihe nach. Einige von ihnen, wie zum Beispiel Substanz, Quantität und Qualität, werden ausführlich besprochen. Auf andere, wie Aktivität und Passivität, geht er nur kurz ein, während wiederum andere, Lage und Haben, in Vergessenheit geraten sind. Um die Unterschiede zwischen den verschiedenen Kategorien zu verdeutlichen, werden de6

Zitiert in Anlehnung an: Aristoteles, Die Kategorien, übersetzt und herausgegeben von I. W. Rath (Stuttgart: Reclam, 1998).

Die Schrift De Interpretatione und die Kategorien

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taillierte logische Beobachtungen dargelegt. So lassen zum Beispiel Qualitäten oft bestimmte Grade zu, während dies bei bestimmten Quantitäten nicht der Fall ist: Ein Ding kann dunkler sein als ein anderes, jedoch nicht vierfüßiger (Cat. 7. 6a19; 8. 10b26). Innerhalb der einzelnen Kategorien werden weitere Unterklassen bestimmt. So gibt es beispielsweise zwei Arten von Quantität (diskrete und kontinuierliche) und vier Arten von Qualität, die Aristoteles anhand der folgenden Beispiele veranschaulicht: Tugend, Gesundheit, Dunkelheit und Gestalt. Die Kriterien, nach denen er diese Arten unterscheidet, sind nicht völlig klar, und der Leser wird im Zweifel darüber gelassen, ob ein bestimmter Gegenstand in mehr als einer dieser Klassen vorkommen kann oder sogar in mehr als einer Kategorie. Im Laufe der Jahrhunderte haben die Kommentatoren des Aristoteles sich bemüht, diese Lücken zu schließen und seine Inkonsistenzen auszugleichen. Die Kategorienschrift enthält mehr als eine Theorie der Kategorien: Sie behandelt außerdem eine bunte Mischung anderer Themen der Logik. Es ist deutlich, dass die uns vorliegende Abhandlung von Aristoteles nicht als ein Ganzes verfasst wurde, obwohl es keinen Grund dafür gibt, infrage zu stellen – wie einige Gelehrte dies getan haben – ob es sich um ein Werk von Aristoteles selbst handelt. 7 Eine Gruppe von Themen behandelt die Phänomene der Homonyme und Synonymie. Bei diesen Ausdrücken handelt es sich um Übernahmen der von Aristoteles verwendeten griechischen Wörter. Während jedoch die englischen Wörter Eigenschaften von Elementen der Sprache bezeichnen, bezeichnen die griechischen Wörter, wie sie von Aristoteles verwendet werden, Eigenschaften von Dingen in der Welt. Man kann die Auffassung von Aristoteles auf folgende Weise umschreiben: Werden A und B mit demselben Namen mit der gleichen Bedeutung bezeichnet, so ist A mit B synonym. Werden A und B mit demselben Namen mit unterschiedlichen Bedeutungen bezeichnet, so ist A mit B homonym. Aufgrund der Besonderheiten der griechischen Sprache müssen wir die Beispiele des Aristoteles im Deutschen etwas anpassen, doch es ist klar, worauf er hinaus will. Eine Perserkatze und eine getigerte Katze sind synonym, da beide Katze genannt werden. Doch sie sind auch homonym mit der neunschwänzigen Peitsche, die ebenfalls als Katze bezeichnet wird. Der Unterschied zwischen homonymen und synonymen Dingen besteht nach Aristoteles darin, dass homonyme Dinge nur den Namen gemeinsam haben, wären synonyme Dinge den Namen und die Definition gemeinsam haben. Aristoteles’ Unterscheidung zwischen homonymen und synonymen Dingen ist eine wichtige Unterscheidung, die sich sehr leicht an die Unterscheidung zwischen homonymen und synonymen Elementen der Sprache anpassen lässt (und von Aristoteles später auch selbst daran angepasst wurde), d. h. zwischen den Ausdrücken, die

7

Mit Ausnahme von Cat. 8. 11a10–18, wobei es sich um eine editorische Einfügung handelt, um zwei disparate Elemente zu verbinden und Lücken in der Behandlung der späteren Kategorien zu erklären.

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3 Richtiges Argumentieren: Logik

nur das Symbol gemeinsam haben, und denjenigen, die auch eine gemeinsame Bedeutung haben. Das Studium der Homonymie war wichtig für die Behandlung von Fehlschlüssen in Argumenten, die auf der Doppeldeutigkeit der verwendeten Ausdrücke beruhten. Aus diesem Grund widmet sich Aristoteles dem Thema in der Topik und nennt Regeln, mit deren Hilfe solche Fehlschlüsse erkannt werden können. So hat beispielsweise das Wort „scharf“ eine Bedeutung, die sich auf Messer bezieht, und eine andere, die sich auf Stimmen bezieht. Die Homonymie wird deutlich, weil im Fall der Messer das Gegenteil von „scharf“ „stumpf“ ist, während das Gegenteil im Falle von Stimmen „schwer“ ist (Top. 1. 15. 106a13–14). 8 Im Laufe seiner weiteren Untersuchungen machte Aristoteles später einen Unterschied zwischen einer bloß zufälligen Homonymie (wie bei dem deutschen Wort „Bank“, das zur Bezeichnung einer Sitzgelegenheit und eines Geldinstituts verwendet werden kann) und einer interessanteren Art von Homonymie, die seine Nachfolger als „Analogie“ bezeichneten (NE 1. 6. 1096a27 V.). Sein Standardbeispiel für einen analogen Ausdruck ist „medizinisch“: Ein Arzt (ein „Mediziner“), ein medizinisches Problem und ein medizinisches Instrument sind nicht alle auf gleiche Weise medizinisch. Dennoch ist die Verwendung dieser Wörter in diesen verschiedenen Kontexten kein bloßes Wortspiel: Die Medizin, die Wissenschaft, die ein Arzt praktiziert, liefert die Grundbedeutung, von der die anderen abgeleitet sind (EE 7. 2. 1236a15–22). Wie wir noch sehen werden, machte Aristoteles von dieser Analogielehre im Zusammenhang mit einer Reihe ethischer und metaphysischer Probleme Gebrauch. In Aristoteles’ logischen Schriften finden wir verschiedene Auffassungen von der Struktur eines Aussagesatzes und vom Wesen seiner Teile. Eine dieser Auffassungen hat einen Vorläufer in Platons Unterscheidung zwischen Nomen und Verben im Dialog Sophistes. Jeder Satz, so behauptet Platon dort, muss aus mindestens einem Verb und einem Nomen bestehen (Sph. 262a–263b). Es ist diese Auffassung eines Satzes, dass er aus zwei ziemlich heterogenen Elementen zusammengesetzt ist, die in der Kategorienschrift und in De Interpretatione im Vordergrund steht. Diese Konzeption der Struktur von Aussagesätzen war seit Gottlob Frege auch in der modernen Logik von vorrangiger Bedeutung. Frege traf eine scharfe Unterscheidung zwischen Worten, die ein Objekt bezeichnen, und Prädikaten, die auf Objekte zutreffen oder nicht. In der Schlusslehre der Ersten Analytik ist die Auffassung von dem, was unter einer Aussage zu verstehen ist, hiervon sehr verschieden. Die Grundelemente, aus denen eine Aussage besteht, sind Ausdrücke: Elemente, die im Gegensatz zu Nomen und Verben nicht heterogen sind, sondern die unterschiedlich auftreten können, ohne ihre Bedeutung zu ändern: entweder als Subjekte oder als Prädikate. 9 Gewiss: 8 9

Vgl. Aristoteles, Topik, übersetzt und kommentiert von T. Wagner und Ch. Rapp (Stuttgart: Reclam, 2004). Vgl. 43a25–31. Statt einer Unterscheidung zwischen Nomen und Verben haben wir es hier mit einer Unterscheidung zwischen Eigennamen (die keine Prädikate sind, von denen

Die Schrift De Interpretatione und die Kategorien

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Zwei aufeinanderfolgende Ausdrücke ergeben noch keinen Aussagesatz. Dazu müssen andere Elemente, ein Quantor und eine Kopula, wie z. B. „ist“, hinzutreten. Nur so erhalten wir eine Aussage, die in einem logischen Schluss vorkommen kann, wie etwa „Jeder Mensch ist ein Tier“. Aristoteles zeigt an der Kopula wenig Interesse und seine Aufmerksamkeit gilt hauptsächlich den Quantoren und den zwischen ihnen bestehenden Beziehungen. Die Merkmale, durch die sich Subjekte von Prädikaten unterscheiden, kommen in seinen Überlegungen nicht vor. 10 Es ist einer der Mängel der Lehre von den Ausdrücken, dass sie der Verwirrung zwischen Zeichen und dem damit Bezeichneten Vorschub leistet. Wenn Platon von Nomen und Verben redet, macht er ziemlich deutlich, dass er über Zeichen spricht. Er unterscheidet deutlich zwischen dem Namen „Theaitetos“ und der Person Theaitetos, die diesen Namen trägt, und er bemüht sich sehr, darauf hinzuweisen, dass der Satz „Theaitetos fliegt“ vorkommen kann, obwohl das, was er uns sagt, eben dass Theaitetos fliegt, nicht zu dem gehört, was in der Welt der Fall ist. Es kostet ihn einige Mühe, den Unterschied zwischen Zeichen und dem damit Bezeichneten herauszuarbeiten, da es im Altgriechischen keine Anführungsstriche gibt. Dieses wertvolle Hilfsmittel moderner Schriftsprachen macht es uns leicht, zwischen zwei Fällen zu unterscheiden: dem Normalfall, in dem wir ein Wort verwenden, um über das damit Bezeichnete zu reden, und dem besonderen Fall, in dem wir ein Wort erwähnen, um über das Wort selbst zu reden, wie in dem Beispielsatz „‚Theaitetos‘ ist ein Name“. Die Lehre von den Ausdrücken macht es andererseits zu leicht, den Gebrauch eines Wortes mit seiner bloßen Erwähnung zu verwechseln. Nehmen wir zum Beispiel einen Syllogismus, dessen Prämissen lauten: „Alle Menschen sind sterblich“ und „Alle Griechen sind Menschen“. Sollen wir sagen, wie die von Aristoteles verwendete Sprache (z. B. EA 1. 4. 25b37–9) manchmal nahelegt, dass hier sterblich von Menschen und Menschen von Griechen ausgesagt wird? Dies scheint nicht ganz zuzutreffen: Was als Prädikat auftritt, ist gewiss ein Element der Sprache, und daher sollten wir vielleicht stattdessen sagen: „Sterblich“ wird von Menschen und „Menschen“ von Griechen ausgesagt. Doch dann scheinen in unserem Syllogismus vier, nicht drei, Ausdrücke vorzukommen, da „‚Menschen‘“ mit „Menschen“ nicht identisch ist. Wir können dieses Problem nicht umgehen, indem wir die erste Prämisse umformulieren zu: „Sterblich“ wird von „Mensch“ ausgesagt. Sterblich sind die Menschen selbst, nicht die Wörter, mit denen sie auf sich selbst Bezug nehmen. Zweifellos hat Aristoteles manchmal den Gebrauch und die Erwähnung von Wörtern durcheinandergebracht. Es ist erstaunlich, dass ihm dies, angesichts der unsicheren Grundlage seiner Lehre von den Ausdrücken, nicht öfter passiert ist. jedoch Dinge ausgesagt werden können) und Ausdrücken (die als Prädikate fungieren können, und von denen etwas ausgesagt werden kann) zu tun. 10 Moderne Bewunderer Freges sehen die Theorie der Ausdrücke verständlicherweise als für die Entwicklung der Logik verhängnisvoll an. Peter Geach schrieb: „Aristoteles war der Adam der Logik; und die Lehre von den Ausdrücken war sein Sündenfall“ (P. Geach, Logic Matters (Oxford: Blackwell, 1972), 290).

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3 Richtiges Argumentieren: Logik

Aristoteles über Zeit und Modalität Es ist eine der in der Kategorienschrift und in De Interpretatione erörterten Eigenschaft von Aussagen, dass sie ihren Wahrheitswert ändern können. Bei der Behandlung der Frage, ob es Substanzen eigentümlich ist, dass sie sich widersprechende Eigenschaften haben können, sagt Aristoteles: „Derselbe Ausdruck scheint wahr und falsch zu sein, zum Beispiel wenn der Ausdruck jemand sitzt wahr wäre, wird derselbe Ausdruck falsch sein, sobald derjenige aufsteht.“ (Cat. 1. 5. 4a24) Nach einer heutzutage verbreiteten Auffassung vom Wesen von Aussagen kann keine Aussage zu einer Zeit wahr und zu einer anderen falsch sein. Ein Satz wie zum Beispiel „Theaitetos sitzt“, der wahr ist, wenn Theaitetos sitzt, und zu einer anderen Zeit falsch, würde nach dieser Auffassung zu verschiedenen Zeiten eine unterschiedliche Aussage machen, sodass er zu einem Zeitpunkt eine wahre Aussage macht und zu einem anderen Zeitpunkt eine falsche; und ein Satz, der behauptet, dass „Theaitetos sitzt“ zur Zeit t wahr war, wird normalerweise so verstanden, als behaupte er, dass die Aussage, die dem Theaitetos zur Zeit t das Sitzen zuschreibt, zeitlos wahr ist. Nach dieser Auffassung ist keine Aussage wesentlich zeitgebunden, sondern jede Aussage, die von einem Satz in einer bestimmten Zeitform ausgedrückt wird, enthält einen impliziten Zeitbezug und ist zeitlos wahr oder falsch. Eine Theorie, nach der Sätze in einer bestimmten Zeitform unvollständig explizite Ausdrücke zeitloser Aussagen sind, wird von Aristoteles nirgendwo vorgetragen. Nach seiner Meinung drücken ausgesprochene Sätze tatsächlich etwas von ihnen selbst Verschiedenes aus, nämlich Gedanken in der Seele; doch ändern Gedanken ihren Wahrheitswert genauso wie Sätze (Cat. 1. 5. 4a26–8). 11 Für Aristoteles ist ein Satz oder eine Aussage wie zum Beispiel „Theaitetos sitzt“ wesentlich zeitgebunden, und sie ist zu bestimmten Zeiten wahr und zu anderen falsch. Sie wird wahr, wenn sich Theaitetos setzt, und sie wird falsch, wenn er nicht mehr sitzt. Es gibt für Aristoteles nichts im Wesen einer Aussage als solcher, was verhindern würde, dass sie ihren Wahrheitswert ändert, aber es kann etwas geben, was mit dem Inhalt einer besonderen Aussage zusammenhängt, das impliziert, dass ihr Wahrheitswert unveränderlich bleiben muss. Logiker späterer Jahrhunderte haben immer wieder Aussagen, die ihren Wahrheitswert ändern, von solchen unterschieden, die ihn nicht ändern können, und Erstere als zufällige, Letztere jedoch als notwendige Aussagen bezeichnet. Die Ursprünge dieser Unterscheidung findet man bei Aristoteles, doch er spricht vorzugsweise über Prädikate oder Eigenschaften, die ihrem Subjekt notwendiger- oder zufälligerweise zukommen. Sowohl in De Interpretatione als auch in der Kategorienschrift diskutiert er Aussagen wie zum Beispiel „A muss B sein“ und „A kann nicht B sein“. Solche Aussagen wurden von Logikern dann später als modale Aussagen bezeichnet. 11 Der Wahrheitswert einer Aussage ist ihre den jeweiligen Umständen entsprechende Wahrheit oder Falschheit.

Aristoteles über Zeit und Modalität

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In De Interpretatione führt er das Thema der Modalaussagen durch folgende Feststellung ein: Während „A ist nicht B“ die Verneinung von „A ist B“ ist, ist „A kann nicht B sein“ nicht die Verneinung von „A kann B sein“. Beispielsweise ist es möglich, dass ein Stück Stoff zerschnitten wird, doch es ist auch möglich, dass es nicht zerschnitten wird. Sich widersprechende Aussagen können jedoch nicht gleichzeitig wahr sein. Daher ist die Verneinung von „A kann B sein“ nicht „A kann nicht B sein“, sondern „A kann nicht B sein“. In einer einfachen kategorischen Behauptung macht es keinen praktischen Unterschied, ob wir die Verneinung als zur Kopula „ist“ oder zum Prädikat „B“ gehörig ansehen. In Modalaussagen macht es hingegen einen großen Unterschied, ob wir die Verneinung als zum Modalverb „können“ oder zum Prädikat „B“ gehörig ansehen. Aristoteles bringt diesen Unterschied gern dadurch zum Ausdruck, dass er „A kann B sein“ umformuliert zu „Es ist für A möglich, B zu sein“, „A kann nicht B sein“ zu „Es ist für A möglich, nicht B zu sein“ und „A kann nicht B sein“ zu „Es ist für A nicht möglich, B zu sein“ (Int. 12. 21a37–b24). Durch diese Umformulierung ist es möglich, das Negationszeichen unmissverständlich zuzuordnen, und sie macht die Beziehung zwischen der Modalaussage und ihrer Verneinung deutlich. Mit anderen modalen Ausdrücken als „möglich“, wie z. B. „unmöglich“ und „notwendig“, ist ähnlich zu verfahren. Die Negation von „Es ist unmöglich für A, B zu sein“ ist nicht „Es ist unmöglich für A, nicht B zu sein“ sondern „Es ist nicht unmöglich für A, B zu sein“. Die Negation von „Es ist notwendig für A, B zu sein” ist nicht „Es ist notwendig für A, nicht B zu sein“, sondern „Es ist nicht notwendig für A, B zu sein“ (Int. 13. 22a2–10). Diese Modalbegriffe hängen miteinander zusammen. „Unmöglich“ ist ganz offensichtlich die Verneinung von „möglich“. Interessanter ist jedoch, dass „notwendig“ und „möglich“ sich gegenseitig definieren können. Notwendig ist das, dessen Nichtsein unmöglich ist, und was möglich ist, ist dasjenige, dessen Nichtsein nicht notwendig ist. Wenn es für A notwendig ist, B zu sein, dann ist es für A nicht möglich, nicht B zu sein, und umgekehrt. Ferner gilt: Wenn etwas notwendig ist, dann ist es erst recht möglich, und wenn es nicht möglich ist, ist es umso weniger notwendig. Aristoteles hat die vier verschiedenen Fälle in einem logischen Quadrat angeordnet, das demjenigen ähnlich ist, das wir weiter oben für kategorische Aussagen dargestellt haben. Es ist für A notwendig, B zu sein. Es ist für A unmöglich, nicht B zu sein.

Es ist für A notwendig, nicht B zu sein. Es ist für A unmöglich, B zu sein.

Es ist für A möglich, B zu sein. Es ist für A nicht notwendig, nicht B zu sein.

Es ist für A möglich, nicht B zu sein. Es ist für A nicht notwendig, B zu sein.

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3 Richtiges Argumentieren: Logik

Die Aussagenpaare in den Ecken dieses Quadrats sind einander äquivalent, wodurch deutlich wird, dass sich die Modalbegriffe wechselseitig definieren können. Die Operatoren „notwendig“, „möglich“ und „unmöglich“ im obigen Schema sind auf eine Weise angeordnet, die den Quantoren „alle“, „einige“ und „keine“ im logischen Quadrat der kategorischen Aussagen analog ist. Im Quadrat der kategorischen Aussagen sind die Aussagen in den oberen Ecken konträr: Sie können nicht beide zugleich wahr sein, obwohl beide zugleich falsch sein können. Die Aussagen in einer Ecke sind kontradiktorisch zu den Aussagen in der diagonal gegenüberliegenden Ecke. Die Aussagenpaare in den oberen Ecken implizieren das Aussagenpaar direkt unter ihnen, jedoch nicht umgekehrt. Die Aussagen in den unteren Ecken sind miteinander kompatibel: Sie können beide zugleich wahr sein, jedoch nicht beide zugleich falsch (Int. 13. 22a14–35). In diesem Schema sind alle notwendigen Aussagen auch möglich, obwohl das Gegenteil nicht zutrifft. Es gibt jedoch, wie Aristoteles erwähnt, noch eine andere Verwendung von „möglich“, in der es einen Gegensatz zu „notwendig“ bildet und der mit der ersten Verwendung inkonsistent ist. Bei dieser Verwendung ist die Aussage „Es ist möglich, dass A nicht B ist“ nicht nur konsistent mit „Es ist möglich, dass A B ist“, sondern folgt sogar daraus (Int. 12. 21b35). Bei dieser Verwendung wäre „möglich“ gleichbedeutend mit „weder notwendig noch unmöglich“. Es gibt ein weiteres Wort, „zufällig“ (endechomenon), das zur Verfügung steht, um „möglich“ in diesem zweiten Sinn zu ersetzen, und Aristoteles verwendet es häufig zu diesem Zweck (z. B. Erste Analytik 1. 13. 32a18–21; 15. 34b25). Die Aussagen können daher in drei Klassen unterteilt werden: die notwendigen, die unmöglichen und, zwischen diesen beiden, die zufälligen (d. h. diejenigen, die weder notwendig noch unmöglich sind). Eine der interessantesten Passagen in Aristoteles’ Organon ist das neunte Kapitel von De Interpretatione, in dem er die Beziehung zwischen der Zeitform und der Modalität von Aussagen erörtert. Er beginnt mit der Feststellung, dass für Gegenwärtiges und Vergangenes eine bejahende oder verneinende Aussage notwendigerweise wahr oder falsch ist (Int. 18a27–8). Dabei zeigt sich, dass er nicht einfach sagt: Wenn „p“ eine Aussage im Präsens oder einer Vergangenheitsform ist, dann ist „Entweder p oder nicht-p“ notwendigerweise wahr. Dies gilt für alle Aussagen, unabhängig von ihrer Zeitform (Int. 19a30). Er sagt auch nicht einfach: Wenn „p“ eine Aussage im Präsens oder einer Vergangenheitsform ist, ist sie entweder wahr oder falsch. Wie sich später zeigt, nimmt er an, dass dies auch für Aussagen in der Zeitform des Futurs gilt. Was er behauptet ist: Wenn „p“ eine Aussage im Präsens oder einer Vergangenheitsform ist, so ist „p“ eine notwendige Aussage. Bei dieser Notwendigkeit handelt es sich offensichtlich nicht um logische Notwendigkeit: Es ist keine Sache der Logik, dass Königin Anne tot ist. Die Notwendigkeit ist von der Art, die durch die Sprichwörter ausgedrückt wird, dass sich, was geschehen ist, nicht rückgängig machen lässt, und dass es sich nicht lohnt, über verschüttete Milch zu weinen (vgl. NE 6. 2. 1139b7–11). Der zentrale Abschnitt von De Interpretatione 9 ist der Untersuchung der Frage gewidmet, ob diese Art von Notwendigkeit, die auf Aussagen im Präsens oder einer

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Vergangenheitsform zutrifft, auch für alle Aussagen im Futur gilt. Zweifellos gibt es allgemeine notwendige Wahrheiten, die für die Zukunft ebenso gelten wie für die Gegenwart und die Vergangenheit, doch ist Aristoteles an Einzelaussagen interessiert, wie zum Beispiel: „Dieser Mantel wird zerschnitten, bevor er aufgetragen ist“, „Morgen wird es eine Seeschlacht geben“. Die Wahrheit oder Falschheit solcher Aussagen scheint auf den ersten Blick nicht die Folge universeller Verallgemeinerungen zu sein. Es ist jedoch möglich, gewichtige Argumente anzuführen, aus denen sich ergibt, dass solche Aussagen über die Zukunft, wenn sie wahr sind, notwendigerweise wahr sind. Wenn A behauptet, dass morgen eine Seeschlacht stattfinden wird, und B behauptet, dass dies nicht geschehen wird, sagt einer von beiden die Wahrheit. Nun gibt es Beziehungen zwischen den Aussagen in verschiedenen Zeitformen. Wenn beispielsweise die Aussage „Sokrates wird weiß sein“ jetzt wahr ist, dann ist die Aussage „Sokrates wird weiß sein“ auch in der Vergangenheit wahr gewesen, und ist sogar zu allen Zeiten der Vergangenheit wahr gewesen. Das Argument lautet nun: „Wenn aber von etwas schon immer wahrheitsgemäß behauptet werden konnte, daß es jetzt eintritt oder daß es in Zukunft eintreten wird, so hätte es nicht jetzt nicht eintreten können bzw. kann es nicht in Zukunft nicht eintreten. Für etwas, das nicht nicht geschehen kann, ist es aber unmöglich, daß es nicht geschieht; und für etwas, für das es unmöglich ist, daß es nicht geschieht, ist es notwendig, daß es geschieht. Das Eintreten aller Ereignisse, die in Zukunft eintreten werden, ist folglich notwendig. Nichts wird sich also je nachdem, wie es sich gerade trifft, ereignen oder als bloßes Ergebnis eines (glücklichen oder unglücklichen) Zufalls eintreten.“ (Int. 9. 18b11–25) 12

Das Argument, das Aristoteles erörtert, begann mit der Annahme, dass jemand zum Beispiel sagt „Morgen wird eine Seeschlacht stattfinden“ und ein anderer „Morgen wird keine Seeschlacht stattfinden“, und mit dem Hinweis, dass einer von beiden die Wahrheit spricht. Doch eine ähnliche Vorhersage, so fährt er fort, hätte schon vor langer Zeit gemacht werden können: „Es wird in zehntausend Jahren eine Seeschlacht stattfinden“, und auch sie, oder die ihr widersprechende Aussage würde wahr sein. Es macht sogar nicht einmal einen Unterschied, ob etwas überhaupt vorausgesagt wurde. Wenn zu jedweder Zeit entweder eine Aussage oder die ihr widersprechende Aussage der Wahrheit entsprach, so war es notwendig, dass das jeweilige Ereignis eintrat. Da von allem, was geschieht, die Aussage „Es wird geschehen“ immer schon vorher wahr gewesen ist, muss alles mit Notwendigkeit geschehen (Int. 9. 18b26–19a5). Hieraus folgt, stellt Aristoteles fest, dass nichts eine Sache bloßen Zufalls ist. Und was noch schlimmer ist: Es wäre sinnlos, Alternativen abzuwägen und zwischen ihnen zu wählen. In Wahrheit, so behauptet Aristoteles, gibt es jedoch zahlreiche offensichtliche Beispiele dafür, dass etwas auf eine bestimmte Weise geschehen ist, 12 Zitiert nach: Aristoteles, Peri hermeneias, übersetzt und erläutert von H. Weidemann, herausgegeben von H. Flashar (Darmstadt: Wiss. Buchgesellschaft, 22002).

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das auch auf eine andere hätte geschehen können. Ein Mantel, der hätte zerschnitten werden können, wurde vorher aufgetragen. „Es ist also klar, dass nicht alles mit Notwendigkeit ist und wird, sondern manches wird teils so, wie es sich gerade trifft, wo also von solchem weder die Bejahung noch die Verneinung mehr wahr ist; teils wird es so, dass zwar in den meisten Fällen das eine mehr wahr ist als das andere; aber es ist dennoch möglich, dass dies andere doch geschieht und jenes nicht.“ (Int. 9. 19a18– 22) 13 Doch wie stellen wir uns dann zu dem Argument, dass alles mit Notwendigkeit geschieht? Da Aristoteles sagt, dass in einigen Fällen „weder die Bejahung noch die Verneinung mehr wahr ist“, haben einige Kommentatoren angenommen, seine Lösung des Problems habe darin bestanden, dass kontingente Aussagen über die Zukunft keinen Wahrheitswert haben: Sie sind nicht nur nicht notwendigerweise wahr oder falsch, sondern überhaupt nicht wahr oder falsch. Dies kann er jedoch schwerlich gemeint haben, denn er sagt an der Stelle 18b17, dass es uns nicht freisteht zu sagen, dass weder „Es wird der Fall sein, dass p“ noch „Es wird nicht der Fall sein, dass p“ wahr ist. Ein Grund, den er hierfür anführt, ist folgender: Es ist offensichtlich unmöglich, dass beide falsch sind. Doch das schließt nicht aus, dass beide irgendeinen dritten Wahrheitswert haben. Das Argument, mit dem er dies ausschließt, ist nicht ganz klar, doch scheint er etwa Folgendes anzunehmen: Wenn heute weder „Morgen wird eine Seeschlacht stattfinden“ noch „Morgen wird keine Seeschlacht stattfinden“ wahr ist, dann wird auch morgen weder „Heute findet eine Seeschlacht statt“ noch „Heute findet keine Seeschlacht statt“ wahr sein. Gegen Ende der Erörterung scheint klar: Aristoteles akzeptiert, dass zufällige Aussagen im Futur wahr sein können. Sie sind jedoch nicht auf dieselbe Weise notwendig, auf die Aussagen im Präsens und in einer Vergangenheitsform notwendig sind. Alles ist notwendig-zu-seiner-Zeit, doch das bedeutet nicht, dass es schlechthin notwendig ist und damit bereits alles gesagt wäre. Es ist notwendig, dass morgen entweder eine Seeschlacht stattfindet oder keine Seeschlacht, doch es ist nicht notwendig, dass morgen eine Seeschlacht stattfindet, und auch nicht notwendig, dass morgen keine Seeschlacht stattfindet (Int. 9. 19a30–2). Weniger klar ist, wie Aristoteles das überzeugende Argument entkräftet, das er zur Verteidigung der anfangs aufgestellten Behauptung, alles geschehe mit Notwendigkeit, vorgebracht hatte. Für sich allein reicht die soeben dargelegte Unterscheidung dafür nicht aus, denn auf die Feststellung, dass zufällige zukünftige Tatsachen bereits in der Vergangenheit wahr sind, auf die sich das Argument beruft, nimmt sie keinerlei Bezug. Weil die Vergangenheit nach seinem eigenen Zugeständnis notwendig ist, müssen vergangene Wahrheiten über zukünftige Ereignisse notwendig sein, und daher müssen auch die zukünftigen Ereignisse selbst notwendig sein. Die Lösung muss auf dem Weg einer Analyse des Begriffs vergangener Wahrheiten gesucht werden: Wir 13 Zitiert nach: Aristoteles, Peri hermeneias, übersetzt und erläutert von H. Weidemann, herausgegeben von H. Flashar (Darmstadt: Wiss. Buchgesellschaft, 22002).

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müssen zwischen Wahrheiten, die in einer Vergangenheitsform ausgesprochen werden, und solchen unterscheiden, die durch Ereignisse in der Vergangenheit wahr gemacht werden. Die Aussage „Es war vor zehntausend Jahren wahr, dass es morgen eine Seeschlacht geben würde“ ist in Wirklichkeit keine Aussage über die Vergangenheit, obwohl sie in der Vergangenheitsform ausgedrückt ist. Doch diese Lösung wird von Aristoteles nirgendwo deutlich ausgesprochen, und das von ihm formulierte Problem kehrte später in der Antike und im Mittelalter in vielen Formen wieder. 14 In der Ersten Analytik untersucht Aristoteles die Möglichkeit, aus modalen Aussagen Schlussfiguren zu konstruieren. Sein mutiger Versuch, eine modale Syllogistik auszuarbeiten, wird heute generell als gescheitert angesehen. Seine Schwächen wurden bereits in der Antike erkannt. Sein Nachfolger Theophrastus hat zwar an Aristoteles’ Darstellung weitergearbeitet und sie verbessert, sie muss jedoch letztlich als unzulänglich bezeichnet werden. Der Grund für den mangelnden Erfolg wurde von Martha Kneale treffend benannt: Es ist Aristoteles’ Unschlüssigkeit in der Frage, welches die beste Methode der Analyse modaler Aussagen ist. „Wenn modale Ausdrücke Prädikate modifizieren, bedarf es keiner speziellen Theorie für modale Syllogismen, denn diese sind lediglich gewöhnliche assertorische Syllogismen, deren Prämissen besondere Prädikate haben. Modifizieren modale Ausdrücke hingegen die gesamte Aussage, der sie hinzugefügt werden, bedarf es keiner speziellen modalen Syllogistik, da die Regeln, die die logischen Beziehungen zwischen modalen Aussagen festlegen, vom Charakter der von modalen Ausdrücken bestimmten Aussagen unabhängig sind.“ 15

Sie gelangt zu dem Schluss, dass die notwendige Basis für eine Modallogik eine Logik unanalysierter Aussagen ist, wie sie von den Stoikern entwickelt wurde. Dies muss präzisiert werden. Es trifft zwar zu, dass die Blüte der Modallogik im 20. Jahrhundert von genau solch einem Aussagenkalkül abhing, doch gab es im Mittelalter, in einem aristotelischen Kontext, außerdem wichtige Entwicklungen in der Modallogik, als man Aristoteles’ eigene modale Syllogistik durch wesentlich besser durchdachte Systeme ersetzte. Ferner können nicht alle Aussagen, in denen Wörter wie „kann“ und „muss“ an der Prädikatsstelle vorkommen, durch Aussagen ersetzt werden, bei denen der modale Ausdruck für eine verschachtelte Aussage in ihrer Gesamtheit gilt. „Ich kann Französisch sprechen“ hat beispielsweise nicht dieselbe Bedeutung wie „Es ist 14 Dieser Abschnitt von De Interpretatione ist auch in der neueren Zeit Gegenstand umfangreicher Diskussionen gewesen. Meine eigene Interpretation hat derjenigen von G. E. M. Anscombe viel zu verdanken. Ihr Aufsatz „Aristotle and the Sea-Battle“ aus dem Jahre 1956 (From Parmenides to Wittgenstein (Oxford: Blackwell, 1981)) ist auch heute noch, 50 Jahre nach seinem Erscheinen, einer der besten Kommentare zu diesem Text. Für eine sorgfältig argumentierende, alternative Darstellung siehe S. Waterlow, Passage and Possibility: A Study of Aristotle’s Modal Concepts (Oxford: Clarendon Press, 1982), 78–109. 15 W. Kneale and M. Kneale, The Development of Logic (Oxford, Clarendon Press, 1962), 91.

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möglich, dass ich Französisch spreche“. Aristoteles unterscheidet zwischen alternativen Möglichkeiten (wie der Fähigkeit eines Mannes, je nach seinem Entschluss, zu gehen, oder nicht zu gehen) und Möglichkeiten ohne eine solche Alternative (in Feuer kann Holz verbrennen, und wenn Holz auf ein Feuer gelegt wird, wird es verbrennen, eine andere Möglichkeit gibt es nicht) (Int. 22b36–23a11). Eine adäquate Formalisierung der in menschlichen Entscheidungen realisierten Logik alternativer Möglichkeiten steht bis heute aus.

Stoische Logik In der Generation nach Aristoteles wurde die Modallogik in der Schule von Megara auf interessante Weise weiterentwickelt. Für Diodoros Cronos ist eine Aussage genau dann möglich, wenn sie entweder wahr ist oder sein wird; sie ist genau dann unmöglich, wenn sie falsch ist und niemals wahr sein wird; und sie ist genau dann notwendig, wenn sie wahr ist und niemals falsch sein wird. Diodoros nahm wie Aristoteles an, dass Aussagen grundsätzlich zeitabhängig sind und dass sie ihren Wahrheitswert ändern können, doch im Gegensatz zu Aristoteles muss er zwischen Wirklichkeit und

Chrysippos, der bedeutendste Logiker der Stoa (drittes Jahrhundert).

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Möglichkeit nicht scharf unterscheiden, da Möglichkeiten in Begriffen des Wirklichen definiert sind. Nach der Definition von Diodoros ändern Aussagen nicht nur ihre Wahrheitswerte, sondern auch ihre Modalität. Die Aussage „Das persische Weltreich wurde zerstört“ war zu Lebzeiten von Sokrates falsch aber möglich, nach den Siegen Alexanders des Großen war sie wahr und notwendig (LS 38E). Für Diodoros hat die Vergangenheit, wie für Aristoteles, eine besondere Art von Notwendigkeit. Es ist eine der Eigenschaften von Diodoros’ Definition der Möglichkeit, dass es keine Möglichkeiten gibt, die niemals realisiert werden: Was immer möglich ist, ist wahr oder wird eines Tages wahr sein. Dies scheint eine Form von Fatalismus zu implizieren: Niemand kann jemals irgendetwas anderes tun als das, was er faktisch tut. Diodoros scheint diese These mit einem Argument verteidigt zu haben, das (man weiß nicht warum) als „Master-Argument“ bezeichnet wurde. Ausgehend von der Prämisse (1), dass Wahrheiten über die Vergangenheit notwendig sind, legte Diodoros einen Beweis dafür vor, dass nichts möglich ist, was nicht entweder wahr ist oder sein wird. Nehmen wir an (indem wir ein Beispiel verwenden, das in antiken Diskussionen dieses Arguments verwendet wurde), dass in flachem Wasser eine Muschel liegt, die wir Nautilus nennen wollen und die tatsächlich von niemandem jemals gesehen wird. Im Ausgang von dieser Prämisse können wir ein Argument formulieren, das zeigt, dass es unmöglich ist, dass die Muschel jemals gesehen wird. (2) Nautilus wird niemals gesehen werden. (3) Es war immer der Fall, dass Nautilus niemals gesehen werden wird. (eine plausible Konsequenz von (2)) (4) Es ist notwendig, dass Nautilus niemals gesehen werden wird. (nach (4) und (1)) (5) Es ist unmöglich, dass Nautilus jemals gesehen wird. (notwendigerweise nicht = unmöglich, dass)

Obwohl wir die genaue Form von Diodoros’ Beweis nicht kennen, ist es relativ einfach, diesem Argument eine allgemeine Form zu geben, um zu zeigen, dass nur das geschehen kann, was tatsächlich geschehen wird. Das Argument gleicht offenbar demjenigen, dem wir bei Aristoteles’ Erörterung zufälliger Sätze über die Zukunft begegnet sind. Eine Schwachstelle von Diodoros’ Argument scheint die Zweideutigkeit der Prämisse zu sein, dass Wahrheiten über die Vergangenheit notwendig sind. Was ist eine Wahrheit über die Vergangenheit? Wenn damit eine wahre Aussage in der Vergangenheitsform gemeint sein soll, ist nicht garantiert, dass sie notwendig ist. Um dies zu erkennen, müssen wir nur an eine verneinende Aussage in der Vergangenheitsform denken, wie zum Beispiel „Das persische Reich ist nicht zerstört worden.“ Diese Aussage war zu Sokrates’ Lebzeiten wahr, sie war jedoch nicht notwendig: Ihr Wahrheitswert sollte sich schon bald von wahr zu falsch ändern. Ist hingegen eine Wahrheit über die Vergangenheit eine Aus-

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sage, die durch ein Ereignis in der Vergangenheit wahr gemacht wird, so sind Wahrheiten über die Vergangenheit in der Tat notwendig. Doch eine Aussage wie (4) ist keine Wahrheit über die Vergangenheit und impliziert daher auch nicht (5). 16 Diodoros’ Schüler Philon verwarf die Modaldefinitionen seines Meisters. Er erklärte Möglichkeit mithilfe intrinsischer Eigenschaften von Aussagen statt durch die Zeitabhängigkeit von Wahrheitswerten. Wir wissen nicht, wie diese Erklärung lautete, doch wir wissen, dass nach seiner Auffassung ein Stück Holz selbst dann verbrannt werden könnte, wenn es niemals verbrannt würde, ja sogar, wenn es sich während seiner gesamten Existenz auf dem Meeresboden befände (LS 38B). Philons wichtigster Beitrag zur Logik war seine Definition des Bedingungssatzes. „Wenn p, dann q“, sagte er, sei nur falsch, wenn p wahr und q falsch ist, und wahr in den drei anderen möglichen Fällen. Nach dieser Auffassung hängt die Wahrheit eines Bedingungssatzes in keinster Weise vom Inhalt des Vordersatzes oder des Nachsatzes, sondern ausschließlich von ihrem Wahrheitswert ab. Daher ist „Wenn es Nacht ist, ist es Tag“ wahr, wann immer es Tag ist, und unter der Voraussetzung, dass die Atomtheorie wahr ist, ist „Wenn es keine Atome gibt, gibt es Atome“ ebenfalls wahr. Indem er mit Bedingungssätzen auf diese Weise umging, antizipierte Philon die in der modernen Aussagenlogik verwendete wahrheitsfunktionale Definition der materialen Implikation. Die Wahrheitswerte, die die Wahrheit oder Falschheit dieser Bedingungssätze festlegen, sind veränderbare Wahrheitswerte. Dies hat Nachteile für die Formulierung der Logik, da „Wenn p, dann q“ kein logisches Gesetz mehr ist: „Wenn ich sitze, sitze ich“ wird – als Bedingungssatz in Philons Logik – falsch, wenn ich zwischen dem Vorder- und dem Nachsatz aufstehe. Dennoch scheint Philons Definition von den Logikern der Stoa, die als erste eine Formalisierung der Aussagenlogik vornahmen, übernommen worden zu sein. Während Aristoteles in seinen logischen Werken als Variablen Buchstaben verwendete, verwendeten die Stoiker Zahlen. Dies ist ein trivialer Unterschied. Wichtiger ist jedoch, dass die Variablen der Stoiker, nicht wie die Variablen von Aristoteles für Ausdrücke, sondern für ganze Sätze standen, oder zumindest für Elemente, die ganze Sätze sein konnten. In dem Bedingungssatz „Wenn die Sterne leuchten, ist es Nacht“ sind weder der Vordersatz „Wenn die Sterne leuchten“ noch der Nachsatz „ist es Nacht“ selbst vollständige Sätze. Dennoch können beide Wortfolgen für sich allein für vollständige Sätze stehen. Die stoische Aussagenlogik war in eine umfassende Theorie der Sprache und Signifikation eingebettet. Die Stoiker unterschieden zwischen Geräusch (phone), Sprache (lexis) und Mitteilung (logos). Das Brüllen eines wilden Tieres oder das Getöse des Meeres sind Geräusche, doch nur artikulierte Geräusche können Sprache genannt werden. Nicht alle Sprache ist jedoch bedeutungsvoll: Menschen können unsinnige Wörter aussprechen wie „Hei Nunnie nee“. Nur 16 Vergleiche hierzu A. N. Prior, Time and Modality (Oxford: Clarendon Press, 1957), 86 f.; J. Barnes in CHHP, 89–92.

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bedeutungsvolle Sprache kann als Mitteilung von etwas angesehen werden (D.L. 7. 57). Das Geräusch und die Sprache eines Griechen können zwar von einem Barbaren, der Griechisch nicht versteht, wahrgenommen, doch kann die Bedeutung des Gesprochenen nur von jemandem verstanden werden, der die Sprache kennt (S.E., M 8. 11 f.). Das Wort logos, das ich mit „Mitteilung“ übersetzt habe, ist ein griechisches Wort mit einer großen Bedeutungsvielfalt: In verschiedenen Kontexten kann es „Wort“, „Satz“, „Sprache“ oder „Vernunft“ bedeuten. Es ist ein Nomen, das mit dem umgangssprachlichen Verb legein zusammenhängt, das die Bedeutung „sagen“ hat. Die Stoiker kreierten ein neues Wort aus diesem Verbstamm: das Wort lekton. Wörtlich bedeutet es: „das Gesagte“, doch werde ich das Wort als unübersetzten terminus technicus verwenden. Das Lekton spielt für die Stoiker eine wichtige Rolle bei der Handhabung des Unterschieds zwischen Zeichen und dem, was sie bezeichnen. Betrachten wir beispielsweise einen Satz wie „Dion geht“, eine Aussage, die wahr oder falsch sein kann. Sextus Empiricus, der einen derartigen Satz erörtert, erklärt uns Folgendes. Die Stoiker sagen, „drei Dinge seien miteinander verbunden, das Bezeichnete, das Bezeichnende und der Gegenstand (tunchanon). Davon sei das Bezeichnende der Laut, z. B. der Laut „Dion“, und das Bezeichnete die Sache (deloumenon), auf die von ihm hingedeutet wird […]. Der Gegenstand sei das äußere Zugrundeliegende, z. B. Dion selbst. Zwei seien Körper, nämlich der Laut und der Gegenstand, eines unkörperlich, nämlich die bezeichnete Sache, d. h. das Sagbare, das wahr oder falsch wird.“ (S.E., M 8.11 f.)17

Das Lekton ist dasjenige, was durch einen Satz ausgesagt wird, nämlich dass Dion geht. Es ist, wie Sextus sagt, keine berührbare Entität wie Dion selbst oder der Name „Dion“ oder der ganze Satz „Dion geht“. Dion, der Mann, ist das Thema des Satzes, d. h. dasjenige, worüber der Satz etwas aussagt. Ob der Satz wahr oder falsch ist, hängt davon ab, ob die dargestellte Sache zutrifft oder nicht, d. h. davon, ob Dion geht oder nicht. 18 Ausgehend von Textabschnitten wie diesem können wir also sagen, dass ein Lekton der Inhalt eine Satzes im Indikativ ist (siehe Seneca, Ep. 117, 13). Diese Definition des Lektons ist jedoch in zweifacher Hinsicht ergänzungsbedürftig. Erstens sagt uns Diogenes Laertius, dass die Stoiker zwischen eigenständigen und unvollständigen Lekta unterschieden haben. Als erläuternde Anmerkung zu „unvollständiges Lekton“ schlägt er „aktive und passive Prädikate“ vor und erklärt, dass ein unvollständiges Lekton ein solches sei, dessen sprachlicher Ausdruck unvollständig 17 Zitiert nach: Sextus Empiricus, Gegen die Dogmatiker, Adversus mathematicos libri 7–11, übersetzt von H. Flückiger, herausgegeben von K. Albert (Sankt Augustin: Academia Verlag, 1998), 87 f. 18 Die übliche Übersetzung von deloumenon als „das, was aufgedeckt wird“ ist unzutreffend, da man nur aufdecken kann, was tatsächlich der Fall ist. Wenn der Satz falsch ist, gibt es nichts, das aufgedeckt werden könnte.

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ist, wie zum Beispiel „schreibt“, das die Frage „Wer?“ aufwirft. Ein unvollständiges Lekton wäre demnach, was von einem Prädikat ausgesagt wird, z. B. können wir über jemanden sagen, dass er schreibt. Ein solches Lekton bleibt unvollständig, bis wir klar machen, über wen wir reden, indem wir ein Thema nennen, wie zum Beispiel Sokrates (D.L. 7. 63). Zweitens sind Sätze im Indikativ nicht die einzigen, deren Inhalt Beispiele für Lekta sind. Es gibt auch Fragesätze, von denen es zwei Arten gibt: die Fragen, die mit „Ja“ oder „Nein“ beantwortet werden können, wie zum Beispiel „Ist es Tag?“, und Fragen, die eine kompliziertere Antwort erforderlich machen, wie etwa „Wo wohnst du?“ Weiterhin gibt es Befehle wie „Nimm ein Bad“ und Ausrufe wie „Wie schön ist doch das Parthenon“ (D.L. 7. 66 f.). Tatsächlich passt die von mir vorgeschlagene Definition des Lektons, dass es der Inhalt eines Satzes im Indikativ ist, nur zu einer besonderen, wenn auch der wichtigsten Form von Lekton. Sie entspricht dem, was die Stoiker als Axioma bezeichneten. Für diesen Begriff werden mehrere Definitionen angeboten. „Ein Axioma ist, was entweder wahr oder falsch ist oder eine vollständige Sache, die an sich entweder bejaht oder verneint werden kann.“ „Ein Axioma ist, was an sich entweder bejaht oder verneint werden kann, z. B. ‚Es ist Tag‘ oder ‚Dion wandelt umher‘“ (D.L. 7. 65). Während ein Axioma eine selbstständige Aussage sein kann, muss dies nicht der Fall sein. Keines der beiden zitierten Axiomata wird in dem Bedingungssatz „Wenn Dion umherwandelt, ist es Tag“ ausgesagt. Daher übersetzen einige Autoren das Wort als „das Behauptbare“. 19 Die Übersetzung ist zwar zutreffend, aber umständlich, und ich werde stattdessen als Übersetzung von axioma „Aussage“ verwenden, da die Bedeutung des griechischen Wortes, wie ich weiter oben erklärt habe, einer der Standardbedeutungen des deutschen 20 Wortes sehr nahe kommt. Es ist jedoch wichtig daran zu erinnern, dass eine Aussage in der stoischen Logik von einer Aussage in der aristotelischen Logik darin unterschieden ist, dass sie selbst keinen Satz darstellt, sondern etwas Abstraktes, das von einem Satz ausgesagt wird, und dass sie von einer Aussage, wie sie von modernen Logikern diskutiert wird, darin unterschieden ist, dass sie ihren Wahrheitswert im Laufe der Zeit ändern kann. Die Stoiker unterschieden zwischen einfachen und nicht-einfachen Aussagen. Als Beispiel für einfache Aussagen werden ständig „Es ist Tag“ und „Es ist Nacht“ angeführt, doch sie umfassen drei Arten von Subjekt-Prädikat-Aussagen, die sich danach unterscheiden, ob ihr Subjekt ein Demonstrativpronomen ist, ein Eigenname oder ein Pronomen, das als Quantor fungiert. „Jener läuft“ bezeichneten sie als definitive Aussage, „Jemand läuft“ als indefinite Aussage und „Sokrates läuft“ als mittlere Aussage. Nicht-einfache Aussagen sind solche, die mithilfe eines Junktors oder mehrerer Junktoren (sundesmoi) aus verschiedenen Aussagen zusammengesetzt sind. Beispiele 19 Z. B. S. Bobzien in CHHP, 93 ff. 20 Anm. d. Übers.: Der Autor spricht hier von der Standardbedeutung des englischen Wortes, doch im Deutschen gilt Entsprechendes.

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hierfür sind „Wenn es Tag ist, so ist Licht“, „Da es Tag ist, ist Licht“, „Es ist entweder Tag oder Nacht“ (D.L. 7. 71 f.). In ihrer Behandlung nicht-einfacher Aussagen kamen die Stoiker dem modernen Aussagenkalkül, der auf wahrheitsfunktionalen Operatoren basiert, am nächsten. 21 Allerdings ist in diesem Zusammenhang auf eine Reihe von Unterschieden hinzuweisen. Im modernen Aussagenkalkül wird das Negationszeichen als wahrheitsfunktionaler Operator behandelt, auf die gleiche Weise wie binäre Junktoren wie zum Beispiel „und“, „oder“ und „wenn“. Die Stoiker klassifizierten demgegenüber negative Aussagen als einfache Aussagen. Sie akzeptierten jedoch die Möglichkeit, eine Aussage dadurch zu verneinen, dass man das Negationszeichen mit der Aussage in ihrer Gesamtheit verbindet, und nicht nur mit ihrem Prädikat, welches Verfahren für die Verwendung des Aussagenkalküls entscheidend wichtig ist. Sie zogen daher „Nicht: Es ist Tag“ der Aussage „Es ist nicht Tag“ vor. Sie erkannten außerdem, dass die Negation auf komplexe ebenso wie auf einfache Aussagen anwendbar ist, und sie erkannten auch, dass in einem solchen Fall Vorsicht geboten ist, um echte von scheinbaren Widersprüchen zu unterscheiden. „Es ist Tag, und es ist hell“ war nicht das kontradiktorische Gegenteil von „Es ist Tag, und es ist nicht hell“, sondern dies musste dadurch gebildet werden, dass man das Negationszeichen so setzt, dass es für die Gesamtaussage gilt. Auf diese Wiese hielt der Begriff des Umfangs Einzug in die Geschichte der Logik (S.E., M. 8. 88–90). Ein weiterer Unterschied zwischen der stoischen Logik und der modernen Aussagenlogik zeigt sich an der Behandlung der einzelnen Junktoren. „Oder“ wird in der modernen Aussagenlogik herkömmlicherweise als inklusiver Junktor behandelt, d. h. „q oder p“ ist wahr, wenn p und q beide wahr sind, und nicht nur, wenn nur eine der beiden Aussagen wahr ist. Die Stoiker haben sich zwischen dieser Sichtweise und dem exklusiven Verständnis von „oder“, wonach „q oder p“ genau dann wahr ist, wenn nur eine der beiden verbundenen Aussagen wahr ist, scheinbar nicht entscheiden können. Außerdem nahmen die Stoiker unter die Junktoren, die komplexe Aussagen bilden, auch einige auf, die nicht wahrheitsfunktional sind. Ob eine Aussage der Form „Da p, daher q“ wahr ist, hängt nicht nur von den Wahrheitswerten der beiden Aussagen ab. Bezüglich des konditionalen Junktors „wenn“ besteht ziemliche Ungewissheit darüber, inwieweit die Stoiker Philons wahrheitsfunktionale Interpretation akzeptiert haben, gemäß der „Wenn p, dann q“ in allen Fällen bis auf denjenigen wahr es, in dem „p“ wahr und „q“ falsch ist. Sextus Empiricus schreibt ihnen diese Ansicht im folgenden Abschnitt ausdrücklich zu. Sie nennen

21 Ein logischer Operator (d. h. ein Symbol, das aus einer oder aus mehreren anderen Aussagen eine neue Aussage macht) ist genau dann wahrheitsfunktional, wenn der Wahrheitswert der neuen Aussage nur vom Wahrheitswert der ursprünglichen Aussage und nicht von ihrem Inhalt abhängt.

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3 Richtiges Argumentieren: Logik

„‚richtige Implikation‘ eine solche, die nicht mit Wahrem beginnt und mit Falschem endet. Denn die Implikation beginnt entweder mit Wahrem und endet mit Wahrem, z. B. ‚Wenn es Tag ist, ist es Licht‘, oder sie beginnt mit Falschem und endet mit Falschem, z. B. ‚Wenn die Erde fliegt, hat die Erde Flügel‘, oder sie beginnt mit Wahrem und endet mit Falschem, wie etwa ‚Wenn die Erde existiert, fliegt die Erde‘, oder sie beginnt mit Falschem und endet mit Wahrem, z. B. ‚Wenn die Erde fliegt, existiert die Erde‘. Von diesen Möglichkeiten, sagen sie, sei nur diejenige unrichtig, die mit Wahrem beginnt und mit Falschem endet, alle übrigen seien richtig.“ (S.E., P. 2. 104–6) 22

Die hier angeführten Beispiele stützen Sextus’ Behauptung, dass die Stoiker Bedingungssätze wahrheitsfunktional interpretiert haben. Charakteristisch für eine solche Interpretation ist, dass es die Wahrheit eines Bedingungssatzes nicht verlangt, dass zwischen dem Inhalt des Vorder- und des Nachsatzes irgendeine Beziehung besteht. Während in dem Satz „Wenn die Erde fliegt, hat die Erde Flügel“ der Inhalt der Teilsätze durch den Gedanken verbunden werden kann, dass alles, was fliegt, Flügel hat, besteht keine solche Verbindung zwischen „Die Erde existiert“ und „Die Erde fliegt“. Natürlich waren die Bedingungssätze, an denen die Stoiker am meisten interessiert waren, solche, bei denen eine solche Verbindung existiert, wie aus dem Beispiel hervorgeht, das Sextus wenig später gibt: „Wenn sie Milch hat, hat sie ein Kind empfangen“. Doch dasselbe würde auch für die meisten Beispiele in einem modernen Lehrbuch gelten, obwohl die darin dargelegte Logik auf einer wahrheitsfunktionalen Interpretation der Grundform des Bedingungssatzes basiert. Andererseits gibt es einige Textabschnitte, die vermuten lassen, dass zumindest einige Stoiker eine andere Ansicht über die Wahrheitsbedingungen von Bedingungssätzen vertraten. Von Chrysippos wird berichtet, er soll gesagt haben, dass in dem Satz „Wenn p, dann q“ der Junktor behauptet, dass q aus p folgt. Dies wurde von ihm selbst oder einem anderen Stoiker folgendermaßen erklärt: „Ein verbundenes Urteil nun ist wahr, wenn das kontradiktorische Gegenteil des Schlußsatzes (Nachsatzes) in Widerspruch steht mit dem Anfangssatz (Vordersatz), z. B. ‚Wenn es Tag ist, ist es hell‘. Das ist wahr, denn das ‚Nicht hell‘ aus dem Nachsatz kontradiktorisch entgegengesetzt ist, steht mit dem Vordersatz ‚Es ist Tag‘ in Widerspruch. Ein verbundenes Urteil aber ist falsch, wenn das Gegenteil des Nachsatzes nicht in Widerspruch steht mit dem Vordersatz, z. B.: ‚Wenn es Tag ist, wandelt Dion umher.‘ Denn der Satz ‚Dion wandelt nicht umher‘ steht nicht in Widerspruch zu dem Satz ‚Es ist Tag‘.“ (D.L. 7. 73)

In diesem Beispiel scheint es klarerweise der Fall zu sein, dass sich die Bedeutung von „in Widerspruch stehen“ auf irgendeine Weise auf die Unvereinbarkeit des Inhalts 22 Zitiert nach: Sextus Empiricus, Grundriß der pyrrhonischen Skepsis, eingeleitet und übersetzt von M. Hossenfelder (Frankfurt: Suhrkamp, 1985), 180.

Stoische Logik

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von Vorder- und Folgesatz bezieht, und nicht lediglich auf den Unterschied im Wahrheitswert. Doch die genaue Art der Unvereinbarkeit (Ist sie logisch? Wird sie empirisch festgestellt?) bleibt unklar. Glücklicherweise ist es nicht erforderlich, diese Ungewissheiten zu beseitigen, um die stoische Theorie des logischen Schließens vorzustellen und zu bewerten. Während Aristoteles jeden seiner Syllogismen angegeben hatte, indem er die ihnen entsprechenden bedingten notwendigen Wahrheiten auflistete, präsentierten die Stoiker ihre Argumente in der Form von Schlussfiguren. Manchmal verwendeten sie Zahlen als Variablen, manchmal standardmäßig Beispiele und auch eine Mischung der beiden, wie in dem Beispiel „Wenn Platon lebt, atmet Platon. Nun aber das Erste, also das Zweite.“ Eine Schlussfolgerung, so sagten die meisten Stoiker, muss aus einer ersten Prämisse (lemma), einer zweiten Prämisse (prolepsis) und einem Schluss (epiphora) bestehen. Dass eine Schlussfolgerung manchmal auch nur eine einzelne Prämisse haben könnte, war die Ansicht einer Minderheit (D.L. 7. 76). Das Kriterium für die Ungültigkeit einer Schlussfolgerung war demjenigen analog, das Chrysippos für den Wahrheitswert eines Bedingungssatzes angab. Eine Schlussfolgerung war gültig (perantikos), wenn das kontradiktorische Gegenteil der Schlussfolgerung mit der Verbindung der Prämissen in Widerspruch stand. Stand es in keinem solchen Widerspruch, war die Schlussfolgerung ungültig. Eine typische ungültige Schlussfolgerung war „Wenn es Tag ist, so ist es hell; es ist aber Tag. Also lebt Dion“ (D.L. 7. 77). Heute sind wir es gewohnt, zwischen gültigen und fehlerfreien Schlussfolgerungen zu unterscheiden. Eine Schlussfolgerung kann gültig, aber dennoch nicht fehlerfrei sein, wenn eine oder mehrere ihrer Prämissen falsch sind. Die Stoiker trafen eine ähnliche Unterscheidung, verwendeten jedoch das griechische Wort für wahr, alethes, als Entsprechung für „fehlerfrei“ und „falsch“ als Entsprechung zu „fehlerhaft“. Eine Schlussfolgerung war fehlerhaft, so erklärten sie, wenn sie entweder ungültig war, oder wenn die Prämissen Fehler enthielten (D.L. 7. 79). Es gab verschiedene Formen von Schlussfolgerungen, die sogenannten „Modi“. Chrysippos listete fünf grundlegende Formen gültigen Schließens bzw. „unbeweisbare Modi“ (D.L. 7. 79) auf. Sie können mithilfe von Kardinal- statt Ordinalzahlen folgendermaßen dargestellt werden: (A) Wenn 1, dann 2; nun aber 1; daher 2. (B) Wenn 1, dann 2; nun aber nicht 2; daher nicht 1. (C) Nicht sowohl 1 als auch 2; nun aber 1; daher nicht 2. (D) Entweder 1 oder 2; nun aber 1; daher nicht 2. (E) Entweder 1 oder 2; nun aber nicht 2; daher 1.

Chrysippos glaubte, dass sich alle gültigen Schlussfolgerungen auf diese einfachen Formen zurückführen ließen, und in seinen zahlreichen verloren gegangenen Werken scheint er zahlreiche Theoreme bewiesen zu haben, die komplexere und abgeleitete Modi auf diese einfachen Muster zurückführten. Betrachten wir folgendes Beispiel:

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3 Richtiges Argumentieren: Logik

(F) Wenn 1, dann: Wenn 1, dann 2; nun aber 1; daher 2.

Es lässt sich zeigen, dass es sich hierbei um eine gültige Schlussfolgerung handelt, indem wir sie gemäß (A) „Wenn 1, dann 2“ von den beiden Prämissen ableiten, und anschließend (A) nochmals verwenden, um aus diesem Schluss und der zweiten Prämisse „2“ abzuleiten (S.E., M 8. 234–6). Auf den ersten Blick bilden Chrysippos’ fünf einfache Schemata weder eine vollständige noch eine nicht weiter reduzible Grundlage für Ableitungen innerhalb des Aussagenkalküls. Es gibt keine einfache Aussage, um die Folgerung von „p“ aus „sowohl p als auch q“ zu rechtfertigen – zweifellos weil es ihm widerstrebte, Schlussfolgerungen aus einer Prämisse zu erwägen. Das vierte einfache Schema ist nur gültig, wenn „oder“ exklusiv interpretiert wird. Wird „oder“ jedoch so verstanden, dann ist es überflüssig, da jede Schlussfolgerung, die das Schema rechtfertigt, bereits durch (C) gerechtfertigt wurde. In der Spätantike sah man die aristotelische und stoische Logik als Rivalen, und während die Schriften der Stoiker nicht überlebt haben, haben wir zahlreiche Hinweise auf polemische Äußerungen über die Anhänger des jeweils anderen Systems. In der Rückschau nach Jahrtausenden können wir erkennen, dass beide Systeme nicht generell miteinander inkompatibel waren, sondern Darstellungen unterschiedlicher Bereiche der Logik. Jedes von ihnen ist der Vorläufer verschiedener, aber komplementärer moderner Entwicklungen in der Aussagen- und Prädikatenlogik.

4

Das Wissen und seine Grenzen: Erkenntnistheorie

Es gibt einen Zweig der Philosophie, der heute als Erkenntnistheorie bezeichnet wird: die Untersuchung der Frage, was erkennbar ist und wie wir es erkennen können. Wir alle haben viele Meinungen zu verschiedensten Themen. Welche von ihnen, wenn es solche überhaupt gibt, können als echtes Wissen gelten? Was ist das Kennzeichen echten Wissens, und wie unterscheidet es sich von bloßer Meinung? Gibt es eine zuverlässige Methode, mit der man zur Erkenntnis der Wahrheit gelangt, um so falsche Meinungen auszuschließen, bei denen es sich um bloßen Schein handelt? Diese Fragen haben die griechischen Denker schon seit den Anfängen der Philosophie beschäftigt.

Vorsokratische Erkenntnistheorie Parmenides könnte mit einigem Recht beanspruchen, die Erkenntnistheorie begründet zu haben: Zumindest ist er der erste Philosoph, der eine systematische Unterscheidung zwischen Wissen und Meinung traf. Zu Beginn seines berühmten Gedichts verspricht ihm eine Göttin, er werde alles erkennen: sowohl die sichere Wahrheit als auch die unzuverlässigen Meinungen der Sterblichen. Das Gedicht hat zwei Teile: den Weg der Wahrheit und den Weg des Scheins. Der Weg der Wahrheit erläutert Parmenides’ Theorie des Seins, auf die wir in Kapitel 6 über Metaphysik noch genauer eingehen werden. Der Weg des Scheins handelt von der Welt der Sinne, der Welt der Veränderungen und Farben, der Welt leerer Namen. Die Sterblichen, die den Weg der Wahrheit nicht akzeptieren, verfügen – in metaphysische Irrtümer versunken – nicht über das geringste Wissen. Taub, benommen und blind wie sie sind, kann man sie, weil ihre Meinungen inkonsistent sind, als „zweiköpfig“ bezeichnen (KRS 293). Auch in den Schriften eines von Parmenides sehr verschiedenen Denkers, des Philosophen Demokrit, wird zwischen Erscheinung und Wirklichkeit scharf unterschieden. Für ihn sind die Atome und das Leere die einzigen beiden Wirklichkeiten. Die von den Sinnen wahrgenommenen Qualitäten sind lediglich Erscheinungen. Um zu zeigen, dass die den Sinnen erscheinende Welt nicht die Wahrheit über die Dinge sein kann, weist er darauf hin, dass sie sich selbst widersprechen. Kranke und Gesunde können sich über den Geschmack von Dingen nicht einigen, Menschen stimmen mit anderen Tieren nicht darin überein, und sinnlich wahrnehmbare Eigenschaften erscheinen sogar derselben Person zu unterschiedlichen Zeiten auf verschiedene Wei-

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4 Das Wissen und seine Grenzen: Erkenntnistheorie

se (Aristoteles, Metaph. C 5. 1009b7). Was den Sinnen erscheint, führt nur zu Meinungen, nicht zur Wahrheit. „Nach allgemeiner Meinung süß“, soll Demokrit gesagt haben, „nach allgemeiner Meinung bitter; nach allgemeiner Meinung heiß, nach allgemeiner Meinung kalt; nach allgemeiner Meinung farblich, doch in Wirklichkeit Atome und das Leere“ (KRS 549). Zu behaupten, dass eine Aussage wie „Der Wind ist kalt“ eine falsche Meinung ausspricht, scheint nicht ganz dasselbe, als wenn man sagt, sie behaupte etwas, das nur nach allgemeiner Meinung wahr ist; doch was immer Demokrit genau gemeint hat: Fest steht, dass er behauptete, die Sinne lieferten keine Wahrheiten über eine unabhängige Wirklichkeit. Stehe ich im selben Wind wie du und erkläre, dass er heiß ist, während du behauptest, er sei kalt, so würde Demokrit sagen, dass keiner von uns die Wahrheit spricht. Der Sophist Protagoras vertrat die entgegengesetzte Position: Er behauptete, dass jeder von uns die Wahrheit sagt (Plato, Theaitetos 151e). „Der Mensch ist das Maß aller Dinge“, so lautet seine berühmte These, „sowohl der seienden Dinge, dass sie sind, als auch der nichtseienden, dass sie nicht sind“ (KRS 551). Was immer einer bestimmten Person wahr zu sein scheint, ist für diese Person wahr. Daher sind alle Überzeugungen wahr: Doch sie haben nur eine relative Wahrheit. So etwas wie die unabhängige, objektive Wahrheit, nach der Demokrit suchte, und die er in der sinnlichen Wahrnehmung nicht fand, gibt es nicht. Dem hielt Demokrit entgegen, dass sich die Lehre des Protagoras selbst widerlegt. Wenn alle Überzeugungen wahr sind, dann gibt es unter den wahren Überzeugungen auch die Überzeugung, dass nicht jede Überzeugung wahr ist (DK 68 A114). Protagoras könnte versucht haben, diesem Gegenargument dadurch zu begegnen, dass er seine Behauptung auf die sinnliche Wahrnehmung einschränkt. Der Ausdruck „Es scheint mir, dass …“ und seine griechischen Entsprechungen können sowohl für Sinneseindrücke als auch für Meinungen verwendet werden, und von dieser Tatsache macht Demokrit in seiner Widerlegung Gebrauch. Tatsächlich wählte Protagoras jedoch nicht diesen Ausweg: Seine Interessen reichten viel weiter als der Bereich der sinnlichen Wahrnehmung. Diogenes Laertius teilt uns mit, Protagoras habe gesagt, es gebe von jeder Angelegenheit zwei gegensätzliche Darstellungen, und Seneca berichtet, Protagoras habe behauptet, dass man in jeder Streitfrage beide Positionen gleich gut verteidigen könne. 1 Wenn A Argumente für p vorbringt, und B Argumente für nicht-p, und beide Argumentationen gleich gut sind, wie kann man zwischen ihnen entscheiden? Protagoras scheint zu raten, dass man sich nicht zwischen ihnen entscheiden, sondern beide akzeptieren sollte. Doch bedeutet dies nicht, dass man beide Seiten eines Widerspruchs akzeptiert? Im Gegenteil: Protagoras bestreitet, dass Widersprüche möglich sind (D.L. 9. 53). Was tatsächlich akzeptiert wird, ist nicht: „p“ und „nicht-p“, sondern „‚p‘ ist wahr für A“ und „‚Nicht-p‘ ist wahr für B“. Für Protagoras ist alle Wahrheit relativ, und nicht nur Wahrheit über offensicht1

D.L. 9. 51; DK 80 A20. Siehe J. Barnes, The Presocratic Philosophers, revised edition (London: Routledge, 1982), ii, 243.

Vorsokratische Erkenntnistheorie

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lich subjektive Fragen wie die, ob sich ein bestimmter Wind warm oder kalt anfühlt. Er hat für diese These, soweit wir wissen, kein Argument vorgebracht, sondern lediglich auf die Analogie zwischen sinnlichen Erscheinungen und Meinungen verwiesen, sowie auf seine persönliche Behauptung, er könne für jedes Argument für eine bestimmte Sache ein ebenso gutes Argument für die gegenteilige Sache aufstellen. Doch diese These verschafft ihm einen Ausweg aus der Falle, die Demokrit ihm gestellt hat. Er kann „Einige Überzeugungen sind falsch“ als wahr akzeptieren – allerdings wahr für Demokrit. Er kann auch weiterhin der Überzeugung sein, dass „Keine Meinung ist falsch“ wahr ist – wahr, natürlich, für ihn selbst, für Protagoras. Es muss irgendeinen anderen Weg geben, den Streit zwischen den beiden auszugleichen – einen Weg, den – wie wir sehen werden – Platon aufzuzeigen versucht hat. Protagoras wird manchmal als Skeptiker beschrieben. In einer Hinsicht ist dies eine merkwürdige Beschreibung. Ein Skeptiker ist jemand, der denkt, dass es schwer, vielleicht sogar unmöglich ist, die Wahrheit zu finden. Für Protagoras ist alles zu einfach: Man muss sich nur eine Meinung bilden und, siehe da, schon ist sie wahr. Doch von dem Standpunkt aus betrachtet, den jemand wie Demokrit vertritt, ist es eine Form tiefer Skepsis, einen universalen, objektiven Wahrheitsbegriff durch einen relativen zu ersetzen. Die einzige Art von Wahrheit, die es sich wirklich lohnt zu suchen, kann für einen Relativisten unmöglich gefunden werden, weil es sie nicht gibt. Allerdings war Demokrit selbst in keiner starken Position, um den Skeptizismus zu verwerfen. Er behauptete, dass es zwei Arten von Erkenntnis gebe: eine durch die Sinne und eine durch den Verstand. Nur Verstandeserkenntnis sei gültige Erkenntnis; die fünf Sinne liefern nur eine unreinen Form des Wissens (S.E., M. 7. 130–9). Es gibt jedoch ein Problem: Die in der Atomtheorie ausgedrückte Verstandeserkenntnis basiert zum Teil auf empirischen Beweisen, und diese stammen aus den trüglichen Sinnen. Galen sagt, nachdem er den Ausspruch über die bloß herkömmliche Gültigkeit der sinnlich wahrgenommenen Eigenschaften zitiert hat, „Nachdem er die Erscheinungen verunglimpft hat, lässt er [Demokrit] die Sinne sich mit folgenden Worten an den Verstand richten: ‚Nimm dich in Acht, du Schurke! Erst nimmst du dein Beweismaterial von uns, und dann stürzt du uns um! Unser Sturz ist auch dein Untergang.‘“ (KRS 552) Logisch betrachtet hätte Demokrit dann möglicherweise nicht Atomist, sondern Skeptiker werden sollen. Von einem seiner Schüler, Metrodoros aus Chios, wissen wir, dass er einen extremen Skeptizismus formuliert hat: „Niemand von uns weiß irgendetwas, noch nicht einmal, ob wir wissen oder nicht wissen, noch was Wissen und was Nichtwissen sind.“ (DK 70 B1) Doch dies stand am Anfang eines Buches über atomistische Physik, sodass es schwer ist abzuschätzen, wie ernst wir dieses Manifest nehmen sollten. Der Sophist Gorgias führte hingegen ein Argument an, um zu zeigen, dass Wissen über die Wirklichkeit unmöglich ist. Es sah folgendermaßen aus: Wenn die Objekte des Denkens (ta phronoumena) keine wirklichen Dinge (onta) sind, ist das, was wirklich ist, kein Gegenstand des Denkens. Doch Gegenstän-

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4 Das Wissen und seine Grenzen: Erkenntnistheorie

de des Denkens sind nicht wirklich; denn wenn irgendwelche von ihnen wirklich sind, so sind es alle, und zwar genau so, wie sie gedacht werden. Doch nur deshalb, weil jemand an einen Mann denkt, der fliegt, oder an Streitwagen, die über das Meer fahren, bedeutet dies nicht, dass es einen Mann gibt, der fliegt, oder Streitwagen, die über das Meer fahren. Daher stimmt es nicht, dass das, woran gedacht wird, wirklich ist; und deshalb ist das Wirkliche kein Gegenstand des Denkens (DK 82 B3). Wir wissen nicht, ob dieses Argument von Gorgias ernst gemeint war oder nicht. Wir müssen die Behauptung „Wenn kein Gegenstand des Denkens wirklich ist, ist nichts Wirkliches jemals Gegenstand des Denkens“ nicht anzweifeln. Die Schwachstelle des Arguments scheint folgende Behauptung zu sein: „Wenn ein Gegenstand des Denkens wirklich ist, dann sind alle Gegenstände des Denkens wirklich.“ Die gewählten Beispiele selbst legen nahe, dass wir zwischen Fällen unterscheiden können, in denen ein Gegenstand des Denkens nicht wirklich ist, und solchen, in denen er wirklich ist (d. h., wenn es eine Wirklichkeit gibt, die dem Gedanken entspricht).

Sokrates, Wissen und Nichtwissen Sokrates und Gorgias waren Sophisten, und es war ein häufiger Vorwurf gegen die Sophisten, dass sie dem Skeptizismus Vorschub leisteten. Manche glaubten, dass Sokrates mit den Sophisten in einen Topf geworfen wurde. Nun entlarvte Sokrates allerdings die Wissensansprüche vieler Leute als unberechtigt, und er war stolz darauf zu wissen, dass er nichts wusste. Doch die Ansprüche auf Wissen, die Handwerker und Fachleute in ihren jeweiligen Feldern erhoben, bestritt er nie. Tatsächlich wird in Platons sokratischen Dialogen immer wieder ein halbes Dutzend Gewerbe und Wissensgebiete durchgegangen – das Schuhmacherhandwerk, der Schiffbau, die Schifffahrtskunde sowie die Koch- und Heilkunst –, um Beispiele für Wissen anzuführen, im Vergleich zu dem die angemaßte Expertise derjenigen, die behaupten in moralischen und politischen Dingen über Wissen zu verfügen, geprüft und als unzureichend erkannt wird. Wenn Sokrates ein Skeptiker war, so war seine Skepsis begrenzt und nicht prinzipieller Natur. Nur in bestimmten wichtigen Fragen war kein Wissen verfügbar. Es war jedoch nicht für Menschen prinzipiell unerreichbar, sondern lediglich im Athen seiner Zeit nicht zu finden. Um Sokrates’ Erkenntnistheorie bewerten und um darüber hinaus die erkenntnistheoretischen Thesen verstehen zu können, die Platon in seinen Dialogen Sokrates in den Mund legt, ist es erforderlich, die verschiedenen griechischen Wörter zu erörtern, die dem deutschen Wort „Wissen“ mehr oder weniger entsprechen. Das englische Wort für Erkenntnistheorie, „epistemology“, ist selbst von dem griechischen Wort episteme abgeleitet. Dieses Wort wird häufig verwendet, um Wissen einer höheren Art zu bezeichnen, sodass eines seiner deutschen Äquivalente „Wissenschaft“ ist. Außer dem Verb „epistamai“, das zu diesem Nomen gehört, gibt es noch einfachere Worte für alltäglicheres Wissen über und Vertrautsein mit etwas. Daher ist jemand,

Sokrates, Wissen und Nichtwissen

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Sokrates in einem Wandgemälde aus Ephesos, durch römische Augen gesehen.

der die Möglichkeit bestreitet, in einem bestimmten Bereich episteme zu erlangen, nicht notwendigerweise ein Skeptiker, der die Möglichkeit von Wissen prinzipiell leugnet. Das Delphische Orakel verkündete, dass niemand weiser sei als Sokrates. Nach-

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dem er diejenigen ausgefragt hatte, die den Ruf hatten, Weisheit (sophia) zu besitzen, gelangte Sokrates zu dem Schluss, dass er weiser als jene sei, da er nicht fälschlicherweise annahm, er wisse etwas über Dinge, über die er nichts wusste. Nachdem er die Politiker und Dichter befragt hatte, kam er dem Ergebnis, dass sie auf den Gebieten, auf denen sie sich ihren Ruf erworben hatten, über kein wirkliches Wissen verfügten. Als er sich zu den Handwerkern wandte, stellte er hingegen fest, dass sie über viele Dinge, über die er nichts wusste, ein Wissen (episteme) besaßen, und in dem Maße waren sie weiser als er. Das Problem war jedoch, dass sie – ausgehend von ihren besonderen Fachkenntnissen – törichterweise annahmen, sie seien auch weise in völlig anderen und wichtigeren Fragen. Sokrates meinte, dass er, dem ihre Weisheit und Unwissenheit fehlte, besser dastehe (Apol. 22d–e). In Platons sokratischen Dialogen tritt stets jemand auf, der Wissen auf einem bestimmten Gebiet beansprucht. Typischerweise behauptet jemand, das Wesen einer bestimmten Tugend oder Handwerkskunst zu kennen. Euthyphron beansprucht beispielsweise Wissen über Frömmigkeit und Mangel an Frömmigkeit zu besitzen (Euthphr. 4e–5a), Menon ist bereit zuzugeben, dass er weiß, was Tugend ist (Men. 71d–e), und selbst der bescheidene Charmides glaubte zu wissen, was Bescheidenheit ist. Sokrates befragt daraufhin einen solchen Gesprächspartner, um dieses Wissen in Form einer Definition zu erhalten. Jede neu aufgestellte Definition erklärt er für mangelhaft, entweder indem er ein Gegenbeispiel anführt, oder indem er Widersprüche zwischen den zur Definition verwendeten Ausdrücken aufdeckt. Es gibt zwei Arten von Gegenbeispielen: Sie können entweder zeigen, dass die Definition weiter gefasst ist, als sie sein sollte, oder dass sie nicht alles erfasst, was sie erfassen sollte. Wenn zum Beispiel Kephalos im ersten Buch der Politeia sagt, Gerechtigkeit bestehe darin, die Wahrheit zu sagen und zurückzugeben, was man ausgeliehen hat, beanstandet Sokrates, dass es nicht gerecht sei, wenn man eine ausgeliehene Waffe einem verrückten Freund zurückgibt (Pol. 331c–d). Wenn andererseits Laches in dem nach ihm benannten Dialog behauptet, dass Mut darin bestehe, auf seinem Posten zu bleiben, ohne davonzulaufen, weist Sokrates daraufhin, dass auch ein taktischer Rückzug ein Ausdruck von Mut sein kann (La. 191c). Früher oder später muss der angebliche Fachmann zugeben, dass seine Definition unhaltbar geworden ist, und diese Unfähigkeit, eine angemessene Definition zu geben, wird als Beweis dafür angesehen, dass der Anspruch auf Wissen zu Unrecht erhoben wurde. Der Fragen stellende Sokrates in Platons Dialogen ist niemals damit zufrieden, wenn man ihm eine Liste von Dingen nennt, die unter einen bestimmten Begriff fallen, zum Beispiel Tugend oder Wissen. Menon sagte ihm, dass es viele verschiedene Arten von Tugend gebe: eine für Männer, eine für Frauen, eine für Kinder; eine für Sklaven und eine für Freie; eine für die Jungen und eine für die Alten. Sokrates erwidert, dass dies nicht weiterhelfe. Dies sei so, als sagte man jemandem, der wissen möchte, was eine Biene ist, dass es viele verschiedene Arten von Bienen gibt. Bienen verschiedener Arten, so sagt Sokrates, unterscheiden sich voneinander nicht, sofern es Bienen sind; und was wir finden wollen, ist genau das, worin sie alle gleich sind und

Das Wissen in Platons Dialog Theaitetos

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sich nicht voneinander unterscheiden (Men. 72c). Ebenso verhält es sich mit der Tugend. Sokrates suchte, so könnte man sagen, nach dem Wesen der Tugend. Wesenserkenntnis ist offensichtlich eine sehr besondere Art von Wissen; und seit Platons Sokrates ist es für viele Philosophen ein Musterbeispiel für Wissen gewesen. Andere Philosophen haben in neuerer Zeit das sokratische Insistieren auf Wesenserkenntnis kritisiert. Wittgenstein hat darauf hingewiesen, dass von den Dingen, die die Philosophen am meisten interessieren, einige möglicherweise über gar kein Wesen verfügen. So bestritt er zum Beispiel, dass alles, was wir eine Sprache nennen, über ein einziges, allen gemeinsames Merkmal verfügt, aufgrund dessen wir für alle dasselbe Wort verwenden. Es ist eher so, dass diese Phänomene zueinander auf unterschiedliche Weise in Beziehung stehen, genauso wie die verschiedenen Mitglieder derselben Familie einander in verschiedenen Merkmalen, wie zum Beispiel im Körperbau, dem Gang, der Hautfarbe, dem Temperament usw., ähnlich sein werden. 2 Selbst wenn X ein Wesen hat, ist die Fähigkeit, dieses Wesen zu definieren oder ein Kriterium anzugeben, mit dem sich ausnahmslos entscheiden lässt, ob etwas ein X ist oder nicht, keine notwendige Bedingung dafür, tatsächlich in der Lage zu sein, ein X zu erkennen, wenn man ihm begegnet. So kann ich beispielsweise auch dann wissen, dass ein Computer nicht lebt, wenn ich kein hieb- und stichfestes Kriterium anführen kann, mit dem sich Lebendes von Nichtlebendem unterscheiden lässt. 3 Man wird daher sicherlich behaupten dürfen, dass Wissen in der alltäglichen Bedeutung dieses Wortes, auch dann vorliegen kann, wenn ein Begriff nicht definiert und eingegrenzt werden kann. Dennoch kann man es als die besondere Aufgabe des Philosophen ansehen, nach dem Wesen von Dingen zu forschen, beziehungsweise – je nach den entsprechenden philosophischen Grundüberzeugungen – die Familienähnlichkeiten zwischen den verschiedenen Verwendungen eines Begriffes aufzudecken. Das Ziel dieser besonderen Aufgabe besteht darin, eine Stufe der Erkenntnis, oder zumindest des Verstehens, zu erreichen, die derjenigen überlegen ist, auf der sich die alltägliche, informelle Verwendung des Begriffs vollzieht. Es ist diese Stufe höherer Einsicht, der Platon in seinen reifen Dialogen das griechische Wort episteme vorbehält.

Das Wissen in Platons Dialog Theaitetos Einer der reichhaltigsten Dialoge Platons, der Theaitetos, ist der Frage gewidmet: Was ist Wissen (episteme) (Tht. 145e)? Dieser Dialog, obwohl er nicht zu den frühen Dialogen zählt, hat den für einen sokratischen Dialog typischen Aufbau: Der Protagonist (in diesem Falle ein brillanter junger Mathematiker) schlägt eine Reihe von 2 3

L. Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen (Frankfurt: Suhrkamp, 1980), Teil 1, 66 f. Dies zu bestreiten wird von Peter Geach als „sokratischer Fehlschluss“ bezeichnet. Vgl. P. Geach, God and the Soul (London: Routledge, 1969), 40.

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Definitionen vor, die von Sokrates der Reihe nach verworfen werden, und das Gespräch endet mit dem Eingeständnis des Nichtwissens. Der junge Theaitetos geht am Anfang des Dialogs schwanger mit einer Antwort auf die Frage „Was ist Wissen?“ Sokrates bietet sich als Hebamme an, um ihm zu helfen, die Antwort zu gebären (Tht. 149a–151d); doch es zeigt sich, dass die Schwangerschaft eine Scheinschwangerschaft war, und dass im Laufe des Gesprächs nur Trugbilder des Wissens zur Welt gebracht wurden. Theaitetos erster Vorschlag lautet, dass Wissen einerseits aus Dingen besteht wie Geometrie und Astronomie, und andererseits solchen wie dem Schuhmacher- und Schreinerhandwerk und anderen Handwerken (Tht. 146d). Diese Antwort ist unzureichend. Sokrates stellt sich mit einer Liste niemals zufrieden. Er weist darauf hin, dass das Wort Wissen in unserer Definition vorkommen würde, wenn wir versuchten, die Geometrie und das Schreinerhandwerk zu definieren. Als nächstes schlägt Theaitetos vor, Wissen sei Wahrnehmung: Erkenntnis von etwas zu haben bedeute, es mit den Sinnen wahrzunehmen (Tht. 151e). Hierzu bemerkt Sokrates Folgendes: Da es Wissen nur von dem geben kann, was wahr ist, lässt sich Wissen nur dann mit sinnlicher Wahrnehmung gleichsetzten, wenn sie untrüglich ist. Doch dies könne nur dann der Fall sein, wenn wir Protagoras’ These akzeptieren, nach der, was immer einer bestimmten Person der Fall zu sein scheint, für sie wahr ist. Bezüglich der Wahrnehmung in einem bestimmten Augenblick lässt sich Protagoras’ These durch die These Heraklits, dass sich alles in der Welt in ständigem Fluss befindet, plausibel machen. Die Farben, die wir wahrnehmen, sind keine stabilen Gegenstände: Wenn mein Auge ein Stück Marmor sieht, sind die Weiße des Marmors und mein Sehen dieser weißen Farbe zwei momentane Größen, Zwillinge, die durch die Begegnung der Eltern Auge und Marmor empfangen wurden (Tht. 156c–d). Wenn ich daher bei einer bestimmten Gelegenheit sage „Dies ist weiß“, kann ich mich nicht irren: Niemand kann mir widersprechen. Dasselbe gilt für andere Arten sinnlicher Wahrnehmung (Tht. 157a). Nehmen wir an, wir gestehen Protagoras zu, dass in einem solchen Fall gilt, was immer der Wahrnehmende sagt. Dennoch gibt es, darauf besteht Sokrates, viele andersartige Fälle, in denen es absurd wäre, solch eine Behauptung aufzustellen. Wir haben Träume, in denen wir zu fliegen glauben. Ein Mann kann verrückt werden und meinen, er sei ein Gott. Zweifellos handelt es sich hierbei um Fälle, in denen das, was einer Person der Fall zu sein scheint, nicht der Wahrheit entspricht; und selbst in gewöhnlichen Fällen, in denen die Wahrnehmung uns nicht trügt, kann es sich nicht um echtes Wissen handeln. Denn wie können wir sicher sein, dass wir nicht träumen? Die Hälfte unseres Lebens verbringen wir im Bett, und es sei ein Gemeinplatz, dass es unmöglich ist zu beweisen, dass man wach ist und nicht schläft (Tht. 158c–e). An diesem Punkt des Dialogs gibt Sokrates Theaitetos (und Protagoras) eine Antwort, bei der es sich allerdings um eine eher schwache Replik handelt, da sie nicht auf den Fall von Träumenden und Verrückten eingeht, sondern auf Kranke, deren Sinne durch ihre Krankheit in Mitleidenschaft gezogen sind. Angenommen, Sokrates

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wird krank, und süßer Wein beginnt ihm sauer zu schmecken. Nach der heraklitischen Auffassung ist der Geschmack des Weins der „Sprössling“ des Weins und dessen, der ihn kostet. Der kranke Sokrates ist ein anderer Kostender als der gesunde Sokrates, und mit einem anderen Elternteil ergibt sich natürlich auch ein anderer Sprössling. Es trifft möglicherweise nicht zu, dass der Wein sauer ist, doch er ist, während seiner Krankheit, für Sokrates sauer. Wir haben es hier also nicht mit einem Fall von trügerischer Wahrnehmung zu tun, und die Gleichsetzung von Wissen und Wahrnehmung ist noch nicht widerlegt. Im Dialog begibt sich Sokrates nun auf ein anderes Terrain. Es gibt Fälle von Wahrnehmung ohne Wissen: Wir können hören, wie eine Fremdsprache gesprochen wird, und die Sprache dennoch nicht verstehen (Tht. 163b). Es gibt Fälle von Wissen ohne Wahrnehmung: Wenn wir unsere Augen schließen und uns an etwas erinnern, das wir gesehen haben, wissen wir, wie es aussieht, aber wir sehen es nicht mehr (Tht. 164a). Wenn jedoch Wissen und Wahrnehmung gleichgesetzt werden können, muss es sich hierbei um Fälle handeln, in denen etwas gleichzeitig gewusst und nicht gewusst wird, und ist dies nicht absurd? Doch selbst jetzt ist Sokrates noch bereit, Protagoras einen Ausweg zu erlauben. Fälle von gleichzeitiger Wahrnehmung und Nichtwahrnehmung lassen sich leicht herbeiführen: Wenn man eine Augenklappe trägt, sieht man etwas mit einem Auge, jedoch nicht mit dem anderen. Wenn also Wahrnehmung und Wissen gleichgesetzt werden, ist es nicht weiter erstaunlich, dass man etwas gleichzeitig wissen und nicht wissen kann (Tht. 165c). Bei der Diskussion von Theaitetos’ Gleichsetzung von Wissen und Wahrnehmung lässt Platons Sokrates Protagoras erstaunlich freie Hand. Doch er ist letztlich zuversichtlich, dass er sich in Demokrits Schlinge verfangen wird. Es scheint allen Menschen, dass einige Menschen besseres Wissen haben als andere: Wenn dies zutrifft, muss dies – nach Protagoras – wahr für alle Menschen sein. Es scheint den meisten Menschen, dass Protagoras’ These falsch ist. Wenn dies so ist, muss diese These, nach ihrer eigenen Aussage, mehr falsch als wahr sein, da die Zahl der Menschen, die sie bezweifeln, größer ist als die Zahl derjenigen, die sie als wahr akzeptieren. (Tht. 170b–171d). Doch seine These kann noch direkter angegriffen werden. Wie plausibel sie auch erscheinen mag, wenn man sie auf die sinnliche Wahrnehmung anwendet: Sie kann nicht auf ärztliche Diagnosen oder politische Vorhersagen angewendet werden. Selbst wenn jeder für das, was er im gegenwärtigen Moment wahrnimmt, höchste Autorität hat, ist er nicht das Maß dessen, was er in Zukunft fühlen oder wahrnehmen wird: Ein Arzt weiß besser als ein Patient, ob der Patient zu einem späteren Zeitpunkt Hitze oder Kälte empfinden wird, und ein Winzer weiß besser als ein Trinker, ob ein bestimmter Wein ein Jahr später süß oder trocken schmecken wird (Tht. 178c). Das letzte Argument, mit dem Sokrates Theaitetos dazu bringt, seinen Vorschlag, dass Wissen Wahrnehmung ist, aufzugeben, ist das folgende. Die Objekte der sinnlichen Wahrnehmung werden uns durch verschiedene Kanäle vermittelt: Wir sehen mit unseren Augen und hören mit unseren Ohren. Farben sind nicht dasselbe wie

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Geräusche. Wir können keine Farben hören und keine Geräusche sehen. Doch wie verhält es sich mit dem Urteil „Farben sind nicht dasselbe wie Geräusche“? Woher stammt dieser Teil des Wissens? Es kann nicht von den Augen stammen, da sie keine Geräusche sehen können. Es kann nicht von den Ohren stammen, da sie keine Farben hören können. Ferner gibt es keine Organe zur Wahrnehmung von Gleichheit, wie es Organe für das Sehen und Hören gibt. Die Seele selbst erwägt die allgemeinen Ausdrücke, die auf die von den einzelnen Sinnen gelieferten Daten angewendet werden (Tht. 184b–185d). Als Antwort auf dieses Argument schlägt Theaitetos eine zweite Definition für Wissen vor. Wissen ist nicht Wahrnehmung (aisthesis), sondern Meinung (doxa), und Meinen ist eine Eigenaktivität der Seele. Wenn die Seele denkt, so ist es, als befände sie sich in einem Selbstgespräch, wobei sie sich Fragen stellt und beantwortet und sich im Stillen eine Meinung bildet. Wissen kann nicht einfach mit Meinung gleichgesetzt werden, denn es gibt falsche Meinungen. Aber vielleicht kann man sagen, dass Wissen dasselbe ist wie wahre Meinung (Tht. 187a5). Nach einem interessanten Umweg, auf dem er darauf hinweist, dass der Begriff der „falschen Meinung“ nicht unproblematisch ist, bringt Sokrates einen Einwand gegen diese Definition vor. Es gibt Fälle, in denen Menschen wahre Ansichten haben und sich wahre Meinungen bilden, ohne dass sie über tatsächliches Wissen verfügen. Wenn Geschworene von einem geschickten Anwalt davon überzeugt werden, ihr Votum für ein bestimmtes Urteil abzugeben, dann haben die Geschworenen, wenn das Urteil den Tatsachen entspricht, sich eine wahre Meinung gebildet. Doch lässt sich von ihrer wahren Meinung behaupten, dass es sich dabei um Wissen handelt? Nicht wirklich, sagt Sokrates: Nur ein Augenzeuge kann wirklich wissen, was bei einem mutmaßlichen Überfall oder Diebstahl tatsächlich passiert ist. Wissen kann daher nicht als wahre Meinung definiert werden. Sokrates hatte vorher gezeigt, dass Wissen nicht Wahrnehmung ist, indem er ein Beispiel für Wissen anführte, für das Wahrnehmung nicht ausreicht. Er hat nunmehr gezeigt, dass Wissen nicht wahre Meinung ist, indem er ein Beispiel für Wissen anführt, für das Wahrnehmung notwendig ist. Man könnte erwarten, dass Theaitetos hierauf reagiert, indem er eine Definition des Wissens vorschlägt, die Wahrnehmen und vermeinendes Denken in irgendeiner wechselseitigen Beziehung zusammenumfasst. Stattdessen schlägt er eine erweiterte Fassung seiner zweiten Definition vor. Wissen, so schlägt er nun vor, ist wahre Meinung mit einem logos, und er schlägt drei Arten vor, wie dies verstanden werden könnte (Tht. 206c). Das Wort „logos“ ist, wie bereits erwähnt, schwer zu übersetzen, da seine Bedeutung mehreren Wörtern entspricht: dem Wort „Wort“ selbst, „Satz“, „Rede“ und „Erklärung“. Im gegenwärtigen Kontext ist klar, dass eine wahre Meinung mit einem logos ein Gedanke ist, der so artikuliert ist, wie es bei einem Gedanken ohne logos nicht der Fall ist: Doch ich werde das Wort unübersetzt lassen, während ich die verschiedenen Arten der Artikulation erläutere, die Theaitetos anführt. Eine Art, auf die man einen Gedanken mit einem logos versehen kann, besteht

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darin, dass man ihn in Worte fasst. Doch die Fähigkeit, einen Gedanken auf diese Weise zu artikulieren, kann nicht dasjenige sein, was den Unterschied zwischen wahrer Meinung und Wissen ausmacht, da jeder, dem es nicht an der nötigen Intelligenz fehlt, dazu in der Lage ist (Tht. 206d–e). Plausibler ist hingegen die Annahme, dass es sich bei einem logos um eine Art von Analyse handelt. Zu wissen, was X ist, heißt fähig sein, es in seine Elemente zu zerlegen. So kann man zum Beispiel unter Beweis stellen, dass man ein Wort kennt, indem man es buchstabiert. Wenn es dies ist, was Wissen seinem Wesen nach ist, dann muss Wissen über die Wirklichkeit sich darin bewähren, dass man es in seine letzten Elemente, aus denen es sich zusammensetzt, zerlegen kann. Doch die Analogie mit dem Buchstabieren eines Wortes führt uns auf ein Problem. Das Wort „Sokrates“ kann in seine Elemente, wie z. B. den Buchstaben S, zerlegt werden. Doch der Buchstabe S kann nicht weiter analysiert werden. Im Gegensatz zum Wort „Sokrates“ kann der Buchstabe S selbst nicht buchstabiert werden. Wenn Wissen daher mit einer Zergliederung verbunden ist, können die letzten, nicht weiter analysierbaren Elemente des Universums nicht Gegenstände des Wissens sein; und wenn die Elemente eines komplexen Ganzen nicht erkennbar sind, wie kann dann dieses Ganze selbst erkannt und Wissen darüber gewonnen werden? Außerdem reicht eine bloße Auflistung der Elemente eines Ganzen für Wissen nicht aus, es sei denn, die Elemente werden auf die richtige Weise zusammengesetzt (Tht. 207b). Theaitetos unternimmt einen letzten Versuch zu erklären, was es bedeuten könnte, den logos eines Gegenstandes anzugeben. Die Angabe eines logos bestehe darin, den Gegenstand auf eindeutige Weise zu beschreiben. So könnte man etwa einen logos der Sonne angeben, indem man sagt, dass sie der hellste Himmelskörper ist. Doch kommt dies einem echten Wissen über die Sonne gleich? Sicherlich ist eine notwendige Bedingung dafür, irgendwelche Gedanken über X haben zu können, dass man X auf eindeutige Weise beschreiben kann; es reicht nicht aus, einen wahren Gedanken über X in ein Stück echtes Wissen zu verwandeln. An diesem Punkt gibt Theaitetos auf. Die Gedanken, die er mithilfe von Sokrates’ Hebammenkunst zur Welt gebracht hat, haben sich als bloße Windeier erwiesen. Wir sind weit davon entfernt, eine Definition des Wissens gefunden zu haben. Daher waren alle Verwendungen von Wörtern wie „wissen“ und „nicht wissen“ im Verlauf des gesamten Dialogs unerlaubt (Tht. 196e). Vielleicht hat Theaitetos zu früh aufgegeben. Wenn er eine vierte Erklärung für logos gegeben hätte, nach der das Wort soviel bedeutet wie „Rechtfertigung“, „Grund“ oder „Beweis“, dann hätte seine Definition des Wissens als wahre Meinung mit einem logos die Zustimmung vieler Philosophen der nächsten 2000 Jahre der Philosophie gefunden. Doch Platons Sokrates war nur schwer zufrieden zu stellen, und Platon selbst lässt seinen Sokrates im sechsten und siebten Buch des Dialogs Politeia eine ganz andere Erkenntnistheorie in einem ganz anderen Stil vortragen.

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Das Wissen und die Ideen Die Darstellung in den beiden Dialogen unterscheidet sich vor allem deshalb, weil die Politeia, im Gegensatz zum Theaitetos, sich auf Platons Ideenlehre bezieht. Beide Dialoge setzen eine prinzipielle Annahme voraus: Das Gewusste muss wahr sein. Erkenntnis kann es nur von dem geben, was ist. Die Ideen spielen in der Politeia eine Rolle, da Platon der These verpflichtet ist, dass nur die Ideen im eigentlichen Sinne sind, d. h.: Alles von einer Idee verschiedene existiert nur in einem eingeschränkten Sinn. Schöne Dinge neben der Idee des Schönen sind zum Beispiel nur zu einer bestimmten Zeit schön und nicht zu einer anderen, oder nur ein Teil von ihnen ist schön, ein anderer jedoch nicht. Nichts außer der Idee des Schönen ist nur schön, und nichts sonst (Smp. 211a). Die Ideen tauchen in der Politeia erstmals im fünften Buch auf, wo Platon den Philosophen beschreibt. Er beschreibt ihn als den Liebhaber der Weisheit und unterscheidet ihn vom stümperhaften Amateur, dem Liebhaber optischer und akustischer Reize. Der Nichtphilosoph kennt den Unterschied zwischen schönen Gegenständen und dem Schönen selbst nicht: Er lebt in einem Traum und hält ein Abbild für die Sache selbst (Pol. 476c–d). Für den Geisteszustand (dianoia) einer solchen Person verwendet Platon das Wort doxa, das im Theaitetos für Gedanke oder Meinung verwendet wurde. Er stellt es dem Wissen des Philosophen gegenüber, das hier gnome genannt wird. Wenn es Wissen nur von dem geben kann, was existiert, und wenn nur eine Idee wahrhaft existiert, dann muss Wissen ein Wissen von Ideen sein. Wenn es etwas gibt, das den Ideen als von ihnen verschieden diametral gegenübersteht, etwas, das auf keine Weise existiert, ist dies völlig unerkennbar. Doch die meisten Dinge, die F sind, sind teilweise F und teilweise nicht-F, F in einer Hinsicht und in einer anderen nicht. Sie existieren zwischen dem, was vollkommen F und dem, was vollkommen nicht-F ist. Dies sind die Gegenstände der doxa. An diesem Punkt wird ein grundsätzlicher Unterschied zwischen der Politeia und dem Theaitetos deutlich. Im Theaitetos versuchten wir, das wesentliche Merkmal des Wissens als eine Eigenschaft des geistigen Zustands des Wissenden zu bestimmen: Ist es eine Sache der sinnlichen Wahrnehmung? Muss es einen logos enthalten? Im Dialog Politeia ist der Unterschied zwischen Wissen und Meinung ein Unterschied zwischen Objekten: zwischen dem, was gewusst wird, und dem, was gedacht wird. Dieser Unterschied wird ausdrücklich hervorgehoben. Wissen und Meinung, so sagt Platon, sind Vermögen (dynameis), genauso wie das Seh- und das Hörvermögen Vermögen sind. Vermögen haben keine Farben und keine Form, anhand derer wir sie unterscheiden könnten. „Bei einem Vermögen aber sehe ich lediglich danach, worauf es sich bezieht und was es bewirkt, und danach pflege ich ein jedes Vermögen als ein einzelnes zu benennen.“ (Pol. 477d) Der Gesichtssinn ist ein Vermögen zur Unterscheidung von Farben, und das Gehör ein Vermögen zur Unterscheidung von Geräuschen: Was diese beiden Vermögen voneinander unterscheidet, ist der Unterschied ihrer Objekte, zwischen Farben und Geräuschen. Auf analoge Weise, so schlägt Platon

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vor, muss auch der Unterschied zwischen Wissen und Meinung bestimmt werden, indem man auf die Unterschiede zwischen den beiden Objekten achtet, mit denen sie es zu tun haben (Pol. 478b6 ff.). Im sechsten Buch setzt Platon dieses Argument fort und unterteilt gnome und doxa weiter. Doxa, oder Meinung, hat als ihr Reich die sichtbare Welt, doch es gibt zwei verschiedene Formen von ihr, die unterschiedliche Objekte haben. Eine Form ist die Einbildungskraft (eikasia), deren Objekte Schatten und Spiegelungen sind, eine andere Form ist das Vertrauen (pistis) in die sinnliche Wahrnehmung, deren Objekte die uns umgebenden Lebewesen und die Werke der Natur oder der Hände des Menschen sind. Das Reich der gnosis, des Wissens, ist ebenfalls zweigeteilt. Das Wissen im eigentlichen Sinne ist noesis, oder Verstehen, deren Objekte die Ideen sind, mit denen sich der Philosoph befasst. Doch es gibt auch noch eine andere Art von Wissen, die für den Mathematiker typisch ist, die Platon als dianoia bezeichnet (Pol. 509c5 ff.). Die abstrakten Objekte des Mathematikers teilen mit den Ideen die Eigenschaften, ewig und unveränderlich zu sein: Sie gehören zur Welt des Seins, nicht des Werdens. Doch sie teilen auch eine Eigenschaft mit den alltäglichen Gegenständen unserer Erfahrung, nämlich dass sie nicht einzig sind, sondern mehrfach existieren. Die Kreise des Geometers können sich, im Gegensatz zur Idee des Kreises, überschneiden; und die Zweien des Arithmetikers können, im Gegensatz zur einfachen Idee der Zweiheit, zueinander hinzuaddiert werden und die Anzahl vier ergeben (vgl. Pol. 525c–526a). Platon unterscheidet zwischen dem Mathematiker und dem Philosophen nicht nur anhand der verschiedenen Objekte ihrer Disziplinen, sondern auch aufgrund ihrer unterschiedlichen Forschungsmethoden. Mathematiker, so beklagte er, fangen mit Hypothesen an, die sie als evident ansehen, und von denen sie nicht glauben, sie müssten sie rechtfertigen. Der Philosoph hingegen, obwohl auch er mit Hypothesen den Anfang macht, geht nicht – wie der Mathematiker – sofort von Hypothesen zu Schlussfolgerungen über, sondern er steigt zunächst zu einem selbst nicht mehr hypothetischen Prinzip auf, und steigt erst dann von Prämissen wieder zu Schlussfolgerungen herab. Die philosophische Methode bezeichnet Platon als „Dialektik“; und die Dialektik, so erklärte er, „macht die Voraussetzungen nicht zu ersten Prinzipien, sondern wahrhaft zu Voraussetzungen, gleichsam als Zugang und Anlauf, damit sie bis zum Nichtvoraussetzungshaften an den Anfang von allem gelangt“. Und nachdem dieses Prinzip erfasst ist, kehrt die Dialektik ihre Richtung um und „sich an alles haltend, was mit jenem zusammenhängt, steigt sie zu einer Schlussfolgerung hinab“ (Pol. 511b). Der aufsteigende Weg der Dialektik wird im siebten Buch erneut als ein Weg beschrieben, der „aufnimmt, was zugrunde gelegt war, und zum ersten Prinzip von allem weiterschreitet“. Aufnehmen, „was zugrunde gelegt war“, geschieht dadurch, dass der hypothetische Einschlag der Hypothesen überwunden wird, was in einem bestimmten Fall entweder bedeuten kann, eine Hypothese aufzugeben, oder sie auf eine selbst nicht mehr hypothetische Grundlage zu stellen (Pol. 533c). Man hat in der Forschung keine Einigkeit darüber erzielen können, worin genau das Wesen der Dialektik, wie sie Platon verstanden hat, besteht, doch soviel lässt sich

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Nach Platon gleicht das menschliche Wissen dem von Gefangenen, die in einer Höhle angekettet sind, wo sie nichts als Schatten sehen können, die von Figuren auf einer Bühne am Eingang der Höhle auf ihre Wand geworfen werden. Nur der Mathematiker und der Philosoph können aus der Höhle in die wirkliche Welt des Tageslichts entkommen (Flämische Schule, 16. Jahrhundert).

über die Vorgehensweise des Dialektikers in Form eines groben Überblicks wohl sagen. Er geht von einer Hypothese aus, einer fraglichen Annahme, und versucht zu zeigen, dass sie zu einem Widerspruch führt. Wenn er auf einen Widerspruch trifft, gibt er die Hypothese auf, und prüft die andere Prämisse, mit deren Hilfe der Widerspruch herbeigeführt wurde, und geht so immer weiter, bis er eine Prämisse erreicht, die nicht mehr infrage gestellt werden kann. Das Verfahren lässt sich anhand der Argumentation in der Politeia selbst veranschaulichen. Im ersten Buch schlagen alle drei Charaktere in diesem Dialog, Cephalos, Polemarchos, und Thrasymachos, jeweils eine Definition der Gerechtigkeit vor, die von Sokrates allesamt als unzureichend erwiesen werden. Cephalos’ Vorschlag, das Gerechtigkeit darin bestehe, die Wahrheit zu sagen und zurückzugeben, was man ausgeliehen hat, wird von Sokrates dadurch widerlegt, dass er behauptet, es sei nicht gerecht, einem verrückt gewordenen Freund eine Waffe zurückzugeben (Pol. 331c).

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Doch diese Widerlegung hängt von einer impliziten Definition der Gerechtigkeit ab, nach der sie darin besteht, seinen Freunden Gutes zu tun und seinen Feinden zu schaden. Als diese Definition von Polemarchos (Pol. 332b ff.) explizit gemacht wird, wird sie mit dem Argument widerlegt, dass es niemals gerecht ist, irgendeinem Menschen Schaden zuzufügen. Diese Widerlegung hängt ihrerseits von der Prämisse ab, dass Gerechtigkeit in menschlichem Gutsein besteht: Es wäre offensichtlich grotesk, wenn man annehmen wollte, dass ein guter Mann sein Gutsein dadurch zum Ausdruck bringen könnte, dass er andere weniger gut macht. Doch nun tritt Thrasymachos auf den Plan und stellt diese Prämisse infrage: Gerechtigkeit ist nicht menschliches Gutsein, sondern Schwäche und Torheit (Pol. 338c). Schließlich wird auch Thrasymachos widerlegt, wenn er gezwungen ist zuzugeben, dass der gerechte Mann ein besseres Leben haben wird als der ungerechte (354a). Dass er sich geschlagen gibt, wird durch eine Reihe von Hypothesen erzwungen, die selbst fragwürdig sind, und von denen die meisten an anderer Stelle der Politeia infrage gestellt werden. So lautet beispielsweise eine der Hypothesen, die gegen Thrasymachos angenommen wird, dass es die Funktion der Seele ist, die Person, der sie gehört, zu führen. Diese Hypothese wird erneut geprüft, wenn Sokrates im vierten Buch die Seele in drei Teile unterteilt: Diese Leitungsfunktion gehört nicht der ganzen Seele, sondern nur der Vernunft. Zur Begründung dieser Dreiteiligkeit beruft sich Sokrates auf folgendes Prinzip: Es sei nicht der Fall, dass „etwas dasselbe bleibend zugleich in demselben Sinne und in Bezug auf dasselbe Entgegengesetztes erleiden oder sein oder auch tun könne“ (Pol. 437a). Dieses Prinzip, das auf den ersten Blick wie ein harmloses Prinzip des verbotenen Widerspruchs aussieht, erweist sich nach Platons Meinung als eine Hypothese, die ausschließlich von den Ideen und von nichts sonst Gültigkeit hat. Der Dialektiker muss daher auf seinem nach oben zu den Gründen gerichteten Weg das Reich der Ideen betreten. Der Weg zu einem umfassenden Verständnis des Wesens der Gerechtigkeit führt über die verschiedenen Stufen der Erkenntnis, die Platon im sechsten Buch benannt hat. Die erste Stufe entspricht dem, was Platon als Einbildungskraft bezeichnet. Jemand, der die Dichter liest und sich die Aufführung von Dramen anschaut (vorausgesetzt, die Texte sind akzeptabel) wird den Sieg der Gerechtigkeit auf der Bühne gesehen und gelernt haben, dass die Götter unveränderlich, gut und wahrhaftig sind (Pol. 382c). Von diesem Anfangspunkt schreitet er zu wahren Überzeugungen über die Gerechtigkeit fort: Dies ist gleichbedeutend mit einem Sachwissen über menschliche Gerechtigkeit, wie sie in den Gerichtshöfen praktiziert wird. Doch zu erkennen, was wirkliche Gerechtigkeit ist, und zu verstehen, wie sie ihre Stelle im System der Ideen einnimmt, an dessen Spitze die höchste Idee, die Idee des Guten, steht: Das ist Aufgabe der Dialektik. Leider entschwindet der Sokrates der Politeia, während er sich dem Ende des nach oben gerichteten Pfades der Dialektik nähert, um vom Guten selbst zu erfahren, welches die ersten Prinzipien von Gesetz und Moral sind, wie Moses auf dem Berge Sinai, in einer Wolke. Er kann nur in Metaphern reden und uns noch nicht einmal eine vorläufige Beschreibung des Guten selbst geben (Pol. 506d).

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Die Dunkelheit der Ideenlehre, und insbesondere der Idee des Guten, hat zur Folge, dass im Zentrum der in der Politeia entwickelten Erkenntnistheorie eine Lücke klafft. Was es bedeutet, Wissen über eine Idee zu besitzen, und wie man solches Wissen erlangt, wird uns dort nicht erklärt. Andere Dialoge – Phaidon, Menon – machen einen überraschenden Vorschlag, wie man diese Lücke füllen könnte. Die Erkenntnis der Ideen ist im Wesentlichen Wiedererinnerung: eine Wiedererinnerung an eine Vertrautheit mit den Ideen in einem früheren, geistigeren Leben. Mit diesem Vorschlag, der seinem Wesen nach eher metaphysisch als erkenntnistheoretisch ist, werden wir uns in einem späteren Kapitel beschäftigen.

Aristoteles über Wissenschaft und Illusion In der Erkenntnistheorie wurde Aristoteles, wie in anderen philosophischen Disziplinen, der Themenplan durch Platon vorgegeben. Er akzeptierte Platons Unterscheidung zwischen den Sinnen und dem Verstand und maß ihr große Bedeutung bei, wobei er häufig frühere Denker, wie zum Beispiel Empedokles und Demokrit, dafür angriff, dass sie den Unterschied zwischen Wahrnehmen und Denken nicht genügend beachtet hätten (z. B. Metaph. G 5.1009b14 ff.). Mit dem Theaitetos im Hinterkopf wandte er sich erneut Protagoras’ Frage nach der Zuverlässigkeit bzw. Fehlbarkeit der sinnlichen Erkenntnis zu; und schließlich übernahm er Platons Klassifikation der verschiedenen Stufen der Erkenntnis und entwickelte sie weiter, indem er Bedingungen für das Erreichen der höchsten Erkenntnisstufe angab: des wissenschaftlichen Wissens. Platon hatte häufig betont, wie unbeständig und verwirrend die sinnliche Erfahrung ist. So schreibt er zum Beispiel im zehnten Buch der Politeia: „Dasselbe erscheint uns als krumm und gerade, je nachdem, ob wir es im Wasser sehen oder außerhalb, und als konkav oder konvex wegen der Täuschungen, die dem Auge durch die Farben entstehen. Und so ist dies insgesamt eine große Verwirrung in unserer Seele“ (Pol. 602c–d). Er wies auf den Gegensatz zwischen dieser Verwirrung und der Zuverlässigkeit der Ergebnisse von Berechnungen und Messungen hin, die der vernünftige Teil der Seele vornahm. Aristoteles erörtert den erkenntnistheoretischen Status der Sinne in der Metaphysik G (Metaph. 5. 1009b1 ff.) im Rahmen seiner Verteidigung des Prinzips vom verbotenen Widerspruch gegen Protagoras’ Argumente. Das Problematische der sinnlichen Wahrnehmung beruht darauf, dass wir manchmal widersprüchliche sinnliche Eindrücke haben. Wir haben es mit folgenden vier Aussagen zu tun: (1) Die Sinne sagen, dass p. (2) Die Sinne sagen, dass nicht-p. (3) Was die Sinne sagen, ist wahr. (4) Nicht: p und nicht-p.

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Diese vier Aussagen sind miteinander nicht vereinbar: Jeweils drei von ihnen können verwendet werden, um zu beweisen, dass die vierte falsch ist. Diese Möglichkeit machen sich die verschiedenen Protagonisten in dem Streit, auf den Aristoteles eingeht, zunutze. Demokrit und Platon, denen sich antike und moderne Skeptiker anschlossen, akzeptieren (1), (2) und (4) und nehmen an, sie beweisen, dass (3) falsch ist. Aristoteles’ Protagoreer akzeptieren (1), (2) und (3) und nehmen an, sie beweisen, dass (4) falsch ist. In neuerer Zeit haben einige Philosophen (3) und (4) zu verteidigen versucht, indem sie (1) und (2) durch die Einführung des Begriffs von Sinnesdaten (sense data) relativieren. Die Sinne, so meinen diese Philosophen, teilen nicht wirklich mit, dass der Stock gerade und dass er nicht gerade ist. Sie sagen, dass hier und jetzt ein visuelles „Nicht-gerade-Aussehen“-Sinnesdatum existiert, und dass hier und jetzt ein haptisches „Gerade-Anfühlen“-Sinnesdatum existiert. Aristoteles geht mit der Inkonsistenz der vier Aussagen, wie die Verteidiger der Theorie der sense data, so um, dass er (1) und (2) relativiert. Er ändert hierzu jedoch nicht den Inhalt von p. Die Sinne teilen uns etwas über die extramentale Wirklichkeit mit, und nicht nur etwas über angeblich rein mentale Entitäten wie Sinnesdaten. Er löst das Problem, indem er auf die Sinne genauer eingeht. Wann immer wir einen Fall vor uns haben, in dem die Sinne sagen, dass p und dass nicht-p, haben wir es in Wahrheit mit einem Fall zu tun, in dem ein Sinn S1 sagt, dass p, und ein anderer Sinn S2, dass nicht-p. Nicht alles, was uns die Sinne mitteilen, ist wahr, und wenn uns S1 und S2 Unterschiedliches mitteilen, können wir Gründe anführen, warum wir uns dazwischen entscheiden. Es ist ein wesentlicher Teil der protagoreischen Behauptung, dass es in Fällen, in denen zwei Wahrnehmungsurteile Widersprüchliches mitteilen, keinen Grund geben sollte, das eine dem anderen hinsichtlich seiner Wahrheit vorzuziehen. Doch jemand könnte sagen, dass wir im Falle widersprüchlicher Geschmacksempfindungen von Gesunden und Kranken dem Urteil der Gesunden den Vorrang geben sollten, weil es sich hierbei um die Meinung der Mehrheit handelt. Die Antwort, die Aristoteles Protagoras hierauf gibt, lautet, dass wir die Meinung der Mehrheit nicht als Kriterium der Wahrheit zulassen dürfen. Wenn eine weltweite Epidemie ausbrechen würde, könnte es sein, dass sich diejenigen, die jetzt als die Gesunden bezeichnet werden, in der Minderheit befänden, und es gäbe keinen Grund mehr, ihr Urteil, das Honig süß ist, als wahr zu akzeptieren (Metaph. G. 5. 1009a1–5). Aristoteles kann zwar der Auffassung zustimmen, dass der Grund, warum wir die gesunde Wahrnehmung der kranken vorziehen, ein anderer als ein statistischer Grund sein muss. Doch er wendet gegen die protagoreische Schlussfolgerung ein, dass im Alltag jeder die Zeugnisse der Sinne unterschiedlich gewichtet und dass niemand sie als in gleicher Weise vertrauenswürdig behandelt. Wenn jemand in Libyen einschläft und träumt, er sei in Athen, macht er sich nach dem Aufwachen ja nicht auf den Weg ins Athener Theater (Metaph. G. 5. 1010b11). Aristoteles nennt eine Reihe von Kriterien zur Beurteilung von sinnlichen Erscheinungen, wenn es erforderlich ist,

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zwischen ihnen zu wählen. Das wichtigste von ihnen ist, dass ein Sinn Priorität hat, wenn er ein ihm eigentümliches Objekt beurteilt. Das einem Sinn eigentümliche Objekt ist in De Anima (De An. 2. 6. 418a12) als dasjenige definiert, was durch keinen anderen Sinn wahrgenommen werden kann und bezüglich dessen es unmöglich ist, getäuscht zu werden: Farben sind das eigentümliche Objekt des Sehvermögens, Geräusche des Hörvermögens und Geschmacksrichtungen des Geschmackssinns. Aristoteles’ erstes Argument ist eindeutig genug: Wir können eine Farbe nicht schmecken, einen Geschmack nicht hören oder ein Geräusch nicht sehen. Doch was meint er, wenn er sagt, dass ein Sinn bezüglich des ihm eigentümlichen Objekts nicht getäuscht werden kann? Aristoteles liefert uns die Erklärung schnell nach: Wenn ich etwas Weißes sehe, kann ich mich darin täuschen, ob es sich um einen Mann oder etwas anderes handelt, jedoch nicht darüber, ob es weiß ist oder nicht (De An. 3. 6. 430b29). Dies erweckt den Anschein, er wolle einfach Folgendes behaupten: Wenn man von seinen Augen Gebrauch macht und sich darauf beschränkt, Urteile darüber zu fällen, wie etwas hier und jetzt aussieht, kann man sich nicht irren. Doch dies kann nicht seine Meinung sein, denn er hält es ausdrücklich für möglich, dass es widersprüchliche Wahrnehmungen ein und desselben Sinnes geben kann, und er schlägt Regeln vor, nach denen man in solchen Fällen verfahren soll: Im Falle des Sehvermögens ist beispielsweise eine genaue Betrachtung aus der Nähe vertrauenswürdiger als ein flüchtiger Blick aus größerem Abstand. Die Untrüglichkeit der Sinne bezüglich der ihnen eigentümlichen Objekte bedeutet für Aristoteles also nicht, dass wahr ist, was immer einem bestimmten Sinn innerhalb des Bereichs, für den er zuständig ist, erscheint. Nicht jedes Urteil über Farbe, zu dem wir auf unseren Gesichtssinn gestützt gelangen, ist wahr: Was rot zu sein scheint, muss nicht rot sein. Urteile wie „Das ist rot“, die auf der Grundlage optischer Wahrnehmung gefällt werden, sind nicht unfehlbar. Das Besondere an ihnen ist, dass sie nur durch einen weiteren Einsatz desselben Sinnes korrigiert werden können. Wenn wir uns nicht sicher sind, ob ein Gegenstand wirklich die Farbe hat, die er aus einer bestimmten Entfernung zu einem bestimmten Zeitpunkt zu haben scheint, überprüfen wir dies, indem wir uns ihn genauer anschauen: entweder aus größerer Nähe oder bei besserem Licht. Gegen das Urteil jedes sinnlichen Eindrucks kann zwar Berufung eingelegt werden; doch wenn es um Farben geht, lässt sich an kein höheres Gericht appellieren als das Sehvermögens. Bei den Qualitäten, die den anderen Sinnesorganen eigentümlich sind, oder bei Eindrücken, die von mehr als einem Sinn wahrgenommen werden können (den koina, den von mehreren Sinnen wahrnehmbaren Eigenschaften), hat der Gesichtssinn nicht das letzte Wort (Metaph. G. 5. 1010b15– 18). Zusammenfassend kann man daher sagen: Jeder Sinn hat das letzte Wort in Fragen, die ihm eigentümliche Gegenstände betreffen, doch muss er sich, um urteilen zu können, im richtigen Zustand und der richtigen Position befinden. Wenn uns S1 und S2 widersprüchliche Dinge über sinnliche Eigenschaften mitteilen, ist S1 S2 vorzuziehen, wenn S1 der für diese Frage zuständige Sinn ist und wenn S2 für die fragliche Eigenschaft nicht der eigentümliche Sinn ist. Zwischen zwei Urteilen des zustän-

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digen Sinnes ist dasjenige zu wählen, das unter optimalen Bedingungen gefällt wurde: aus der Nähe, nicht der Ferne; im gesunden, nicht im kranken Zustand; im wachen, nicht in schlafendem Zustand usw. Auf diese Weise versucht Aristoteles, sowohl Protagoras’ Phänomenalismus als auch Platons Intellektualismus zu vermeiden. Er besteht darauf, dass unser Wissen von den Sinnen abhängt: sowohl bezüglich der Begriffe, die wir verwenden, als auch der unbewiesenen Prämissen, mit denen wir anfangen. Begriffe bilden wir auf folgende Weise: Zuerst liegt eine Empfindung vor, und dann kommt es zu einer Erinnerung. Erinnerungen bauen sich zur Erfahrung auf und aus einzelnen Erfahrungen gewinnen wir allgemeine Begriffe, die sowohl die Grundlage praktischer Fertigkeiten (techne) als auch theoretischen Wissens (episteme) sind (APo. 19. 100a3). Es ist Sache der Erfahrung, so sagt Aristoteles in der Ersten Analytik (APr. 30 46a17–22), die Prinzipien eines beliebigen Wissensgebiets zu liefern. Astronomen beginnen mit ihren Beobachtungen der Himmelserscheinungen, und erst nachdem sie sich mit astronomischen Phänomenen auskennen, beginnen sie, nach Ursachen zu forschen und Beweise aufzustellen. Eine ähnliche Methode sollte in den Lebenswissenschaften befolgt werden (APr. 1. 639b7–10, 640b14–18). Die Wissenschaft beginnt, doch sie endet nicht mit der Erfahrung. Wie Platon verfügt Aristoteles über eine ausgearbeitete Klassifikation kognitiver und intellektueller Zustände. Beide Philosophen betrachten moralische Tugend und intellektuelle Brillanz als zwei Arten desselben Genus. Doch während Platon (zweifellos unter dem Einfluss von Sokrates) dazu tendiert, die Tugend so zu behandeln, als sei sie eine bestimmte Art von Wissenschaft, behandelt Aristoteles die Wissenschaft als eine bestimmte Art der Tugend. Das aristotelische Gegenstück zu Platons Analyse des Wissensbegriffs findet sich in einem der in seinen beiden Ethiken (NE 6, EE 5) enthaltenen Bücher, in dem er sich mit den intellektuellen Tugenden beschäftigt. Das griechische Wort arete hat sowohl die Bedeutung von „Tugend“ als auch von „Vortrefflichkeit“. Ich werde es daher im gegenwärtigen Kontext unübersetzt lassen. Das Wesen der arete von etwas hängt von seinem ergon, d. h. von seiner Aufgabe oder dem für ihn typischen Produkt ab. Das ergon des Geistes und all seiner Fähigkeiten ist das Hervorbringen wahrer und falscher Urteile (NE 6. 2. 1139a29). Zumindest ist dies sein ergon oder Ergebnis im Sinne seiner charakteristischen Tätigkeit, unabhängig davon, ob er seine Tätigkeit gut oder schlecht ausführt. Seine Aktivität, wenn er seine Tätigkeit gut ausführt, und daher sein ergon im strengen Sinne, ist allein die Wahrheit (NE 6. 2. 1139b12). Die aretai des Geistes sind demnach Vortrefflichkeiten, die den intellektuellen Teil der Seele befähigen, die Wahrheit zu finden. Es gibt fünf Verfassungen des Geistes, die dies zur Folge haben – techne, episteme, phronesis, sophia, und nous –, die wir als Kunst, Wissenschaft, Klugheit, Weisheit und Einsicht übersetzen können (NE 6. 3. 1139b16 f.). Kunst und Klugheit sind beides Formen praktischen Wissens: Wissen darüber, was zu tun ist, und wie Dinge realisiert werden können. Künste, wie zum Beispiel Architektur und Medizin, werden in der Herbeiführung oder Herstellung (poiesis)

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von etwas ausgeübt, das von der Ausübung verschieden ist, unabhängig davon, ob ihr Produkt ein konkreter Gegenstand ist, wie ein Haus, oder etwas Abstraktes, wie Gesundheit. Der Klugheit geht es demgegenüber um die menschliche Aktivität (praxis) selbst, statt um ihre Ergebnisse. Sie ist definiert als „ein mit richtiger Vernunft verbundenes handelndes Verhalten […] im Bezug auf das, was für den Menschen gut oder schlecht ist“ (NE 6. 4. 1140b5, b21). Es ist eine charakteristische Eigenschaft des klugen Mannes, dass er über die durch Handlungen erreichbaren Dinge gründlich nachdenkt: Er ist nicht an den Dingen interessiert, die nicht anders sein können, als sie sind (NE 6. 7. 1141b9–13). Klugheit ist daher von Wissenschaft und Weisheit, die es mit unveränderlichen und ewigen Dingen zu tun haben, zu unterscheiden. Der rationale Teil der Seele hat zwei Teile: das logistikon, welches Abwägungen trifft, und das epistemonikon, dem es um ewige Wahrheiten geht. Jeder dieser Teile verfügt über die ihm eigene arete: Klugheit ist die arete des ersten und Weisheit die des zweiten Teils. Die anderen intellektuellen Tugenden erweisen sich als Teile entweder der phronesis oder der sophia: So besteht sophia beispielsweise aus nous und episteme (NE 6. 7. 1141b3 f.). Gegenstand der sophia, so sagt uns Aristoteles, sind die göttlichen, ehrbaren und nutzlosen Dinge: Berühmte Philosophen wie Thales und Anaxagoras haben sich ihr gewidmet. Was unter nous zu verstehen ist, ist nicht unmittelbar einsichtig: Es ist ein Wort, das häufig für die geistige Gesamtausstattung des Menschen verwendet wird, für die kognitiven im Gegensatz zu den affektiven Seelenanteilen (vgl. NE 6. 1. 1139a17, NE 6. 2. 1139b5). Hier erscheint es jedoch soviel wie Einsicht in die ersten Prinzipien der theoretischen Wissenschaft zu bedeuten: das Verständnis unbewiesener notwendiger Wahrheiten, welches Grundlage der episteme ist (NE 6. 6. 1140b31– 41b9). Dies ist es, was – mit episteme verbunden – sophia ausmacht, die höchste Form geistige Errungenschaft des Menschen. In der Ethik wird nicht angegeben, was mit episteme oder Wissenschaft im Einzelnen zusammenhängt. Dies wird, explizit und ausführlich, in den ersten sechs Kapiteln des ersten Buches der Zweiten Analytik erläutert. Hier legt Aristoteles Folgendes dar: Zu wissen, dass ein bestimmter Sachverhalt besteht, bedeutet, dass man mit der Erklärung dafür, warum dies der Fall ist, wahrhaft vertraut ist, und dass man weiß, warum es nicht anders sein kann. Wenn Wissen so verstanden werden muss, sagt Aristoteles, „so ist es notwendig, dass auch das beweisende Wissen aus wahren Annahmen und aus ersten, unmittelbaren, bekannteren und früheren als der Schlusssatz folgt, und dass diese auch die Ursache für ihn sind“ (APo 2. 71b20–2). Ein Gebäude wissenschaftlicher Erkenntnisse wird durch Beweisführungen errichtet. Eine Beweisführung ist eine besondere Art von Syllogismus: ein solcher, dessen Prämissen auf Prinzipien zurückgeführt werden können, die wahr, notwendig und allgemeingültig sind und die unmittelbar angeschaut werden können. Diese ersten, evidenten Prinzipien verhalten sich zu den Schlussfolgerungen einer Wissenschaft wie Axiome zu Theoremen. Bezüglich der in der Zweiten Analytik gegebenen Darstellung dessen, was Wissen-

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schaft ist, gibt es ein ungelöstes Problem: Sie steht in keiner Beziehung zu den umfangreichen wissenschaftlichen Arbeiten, die Aristoteles selbst verfasst hat. Generationen von Forschern haben vergeblich versucht, in seinen Schriften auch nur ein einziges Beispiel für einen beweisenden Syllogismus zu finden. Nun ist zwar die Zweite Analytik keine Abhandlung über die Methode der Wissenschaft, sondern eine Sammlung von Richtlinien für das wissenschaftliche Erklären. Doch die Abhandlungen des Aristoteles sind selbst erklärend und nicht methodologisch, und ihre Darstellungsweise entspricht dem in der Zweiten Analytik angegebenen Muster nicht einmal annähernd. 4 Nicht nur dem Corpus Aristotelicum fehlt es an einer aristotelischen Wissenschaft: In der gesamten Geschichte der wissenschaftlichen Bemühungen gibt es kein einziges perfektes Beispiel für eine solche Wissenschaft. Viele der von Aristoteles gegebenen Beispiele entstammen der Arithmetik und Geometrie, und sein Denken wurde zweifellos von den Mathematikern seiner Zeit beeinflusst. Als Euklid nach Aristoteles’ Tod seine axiomatisierte Geometrie vorstellte, sah es so aus, als sei das wissenschaftliche Ideal der Zweiten Analytik erreicht worden: Doch nach mehr als zwei Jahrtausenden stellte sich heraus, dass einem von Euklids Axiomen die erforderliche Evidenz fehlte. Ein ähnliches Schicksal ereilte im 20. Jahrhundert Gottlob Freges Projekt, Logik und Arithmetik mit einer axiomatischen Grundlage zu versehen. Spinozas im 17. Jahrhundert unternommener Versuch, die Philosophie selbst zu axiomatisieren, diente lediglich dem Beweis dafür, dass es sich bei dem in der Zweiten Analytik aufgestellten Ideal um ein Trugbild handelt.

Die epikureische Erkenntnistheorie In der hellenistischen Epoche spielte die Erkenntnistheorie eine grundsätzlichere Rolle in der Philosophie als bei Platon oder Aristoteles. Es war Epikur, der ihr als einem eigenen Zweig der Philosophie erstmals einen Namen gab. Er nannte sie „kanonisch“, was von dem griechischen Wort kanonion abgeleitet ist und soviel bedeutet wie Stange oder Messstab. Häufiger als das Wort kanonion verwendeten Epikur und andere hellenistische Philosophen das Wort kriterion. Nach Epikur sind die drei Kriterien der Wahrheit Empfindungen, Begriffe (prolepseis) und Gefühle. Die sinnliche Wahrnehmung ist für Epikur die Grundlage des Wissens und er vertrat eine extreme Variante der These, dass die Sinne in Bezug auf die ihnen entsprechenden Objekte unfehlbar sind. Lukrez hat dies auf elegante Weise ausgedrückt:

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Siehe J. Barnes, „Aristotle’s Theory of Demonstration“, in: J. Barnes, M. Schofield, and R. Sorabji (eds.), Articles on Aristotle: Science (London: Duckworth, 1975).

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„Du wirst folgendes finden: die Sinne verschaffen vor allem Uns die Erkenntnis des Wahren, die Sinne sind unwiderleglich. Denn viel größres Vertrauen muß immer erwecken, was selber Unabhängig von andrem den Irrtum schlägt mit der Wahrheit. Was kann also vertrauenerweckender sein als die Sinne? Oder wie darf ein falsch aus der Sinnesempfindung gezogner Schluß, der doch ganz aus den Sinnen geboren ist, gegen sie gelten? Sind die Sinne nicht wahr, dann täuschen auch sämtliche Schlüsse. Oder vermöchte das Auge den Fehler des Ohrs zu bekritteln, Oder das Ohr des Gefühls?“ (RN 4. 478–487) 5

Lukrez weist wie Aristoteles darauf hin, dass ein Sinn, was das ihm eigentümliche Objekt betrifft, durch keinen anderen korrigiert werden kann. Doch die Epikureer gehen weiter als Aristoteles, indem sie behaupten, dass ein Sinn noch nicht einmal seine eigenen Eindrücke korrigieren kann: Jeder sinnliche Eindruck ist gleich zuverlässig, daher ist wahr, was immer einem Sinn zu einem bestimmten Zeitpunkt als wahr erscheint (Lukrez, RN 4. 497–9; D.L. 10. 31). Indem alle Erscheinungen der Sinne als gleichberechtigt behandelt werden, statt sie nach ihrer Zuverlässigkeit abzustufen, verwerfen die Epikureer Aristoteles’ Methode des Umgangs mit widersprüchlichen Sinneseindrücken, wie in dem Fall, dass uns ein Turm aus größerer Entfernung rund, aus der Nähe jedoch rechteckig erscheint. Stattdessen behaupten sie, dass wir es in einem solchen Fall mit zwei gleichermaßen gültigen Eindrücken zu tun haben, jedoch mit Eindrücken verschiedener Objekte. Sextus Empiricus erläutert, wie Epikur mit diesem Problem umgehen würde, indem er sich auf seine atomistische Erklärung des Seevorgangs als einer Begegnung mit einem Strom von Bildern, die von einem Objekt ausgehen, berufen würde. „[…] so kann ich nicht sagen, das Gesicht täusche, weil es aus großer Entfernung den Turm klein und rund sieht, aus der Nähe aber groß und viereckig, sondern vielmehr (sage ich), es sage die Wahrheit, weil das Wahrgenommene auch wirklich klein und sogestaltet erscheint. Denn die Ränder an den Bildern brechen wegen der Bewegung durch die Luft ab. Und wenn es im Gegenteil groß und andersgestaltet erscheint, ist es im Gegenteil gleichermaßen groß und andersgestaltet, ohne daß aber nun dasselbe beides (d. h. groß und klein) ist. Es ist dann nämlich Sache einer verkehrten Meinung, zu glauben, das Vorgestellte, das aus der Ferne und aus der Nähe angesehen wird, sei derselbe Gegenstand.“ (M. 7. 208 ff.) 6

5 6

Zitiert nach: Lukrez, De rerum natura, übersetzt von H. Diels (Düsseldorf: Artemis & Winkler, 1994). Zitiert nach: Sextus Empiricus, Gegen die Dogmatiker, Adversus mathematicos libri 7–11, übersetzt von H. Flückiger, herausgegeben von K. Albert (Sankt Augustin: Academia Verlag, 1998), 48 f.

Die epikureische Erkenntnistheorie

Der Anfang von Lukrez’ Buch De rerum natura in einer illuminierten Handschrift aus dem Britischen Museum.

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4 Das Wissen und seine Grenzen: Erkenntnistheorie

Unser gewöhnlicher Eindruck, dass es sich hier um zwei Ansichten desselben Gegenstandes handelt, beruht nach Epikur nicht auf der Wahrnehmung, sondern auf einer „verkehrten Überzeugung“. Mit anderen Einwänden gegen die Unfehlbarkeit der sinnlichen Wahrnehmung, wie zum Beispiel Träume und Täuschungen, geht er auf ähnliche Weise um. Als Orest die Furien zu sehen glaubte, wurde sein Sehvermögen nicht getäuscht, weil wirkliche Bilder tatsächlich vorhanden waren; es war sein Verstand, der sich täuschte, indem er sie für feste Körper hielt (S.E., M. 8. 63). Wir müssen streng unterscheiden zwischen einer sinnlichen Wahrnehmung (phantastike epibole) und der dazugehörigen, aber davon verschiedenen, gedanklichen Überzeugung (D.L. 10. 51). Sinnesempfindungen, die ersten Kriterien der Wahrheit, bieten daher trotz ihrer Unfehlbarkeit nur eine schmale Basis für die Struktur unseres Wissens. Wir müssen uns dem zweiten Satz von Kriterien, nämlich den Begriffen zuwenden. Epikurs Wort prolepsis wird häufig als „Vorurteil“ übersetzt, doch ist dies irreführend: zum einen, weil es eine vorgefasste Meinung suggeriert, und zum anderen, weil es etwas nahelegt, was durch einen vollständigen Satz ausgedrückt würde, während die meisten Beispiele, die uns gegeben werden, durch einzelne Wörter ausgedrückt werden, wie etwa „Körper“, „Mann“, „Rind“, „rot“. Ein Begriff ist eine allgemeine Vorstellung davon, was für eine Art von Ding durch solch ein Wort (das natürlich durch einen umschreibenden Satz ausgedrückt werden kann, wie etwa „Ein Rind ist ein Tier von der und der Art“) bezeichnet wird. Das „pro“ in prolepsis soll anzeigen, dass ein Begriff von X nicht aus einer Reihe von Informationen über X besteht, die aus der Erfahrung abgeleitet sind, sondern stattdessen eher so etwas wie eine Schablone ist, mit deren Hilfe wir im Voraus erkennen, ob es sich bei einem uns in der Erfahrung begegnenden Einzelding um ein X handelt oder nicht. Begriffe sind nichts, was man beweisen müsste: Sie werden selbst in jedwedem Beweis verwendet (D.L. 10. 33, 38). Dunkel bleibt jedoch, sowohl bei Epikur als auch bei seinen Nachfolgern, wie Begriffe entstehen. Sie können nicht das Ergebnis von Erfahrung sein, da sie uns die Möglichkeit verschaffen, unsere Sinneseindrücke zu ordnen, die selbst die Grundlage der Erfahrung sind. Einige von ihnen scheinen jedoch das Ergebnis der Erfahrung zu sein – möglicherweise von missverstandener Erfahrung, wie der Begriff von Gott (Lukrez, RN 5. 1169–71). Sinnliche Eindrücke und Begriffe sind für Epikur beide „evident“ (ebenso wie Gefühle, doch die werden wir in einem anderen Kontext erörtern). Auf diese evidenten Elemente müssen wir unsere Überzeugungen über das gründen, was nicht evident ist. Wir beginnen, so lehrte Epikur, mit den Sinnen und müssen dann, was selbst nicht evident ist, auf der Grundlage des Zeugnisses der Sinne durch den Verstandesgebrauch erschließen (D.L. 10. 39). Vermutungen und Theorien sind falsch, wenn die Sinne Gegenteiliges bezeugen (D.L. 10. 50 f.). Eine Vermutung ist wahr, wenn sie von den Sinnen bestätigt wird; eine Theorie ist wahr, wenn sie durch das Zeugnis der Sinne nicht angefochten wird (S.E., M. 213). Die letzte Behauptung scheint erstaunlich: Könnten nicht mehrere untereinander nicht vereinbare Theorien trotzdem mit

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demselben Erfahrungsmaterial übereinstimmen? Die Epikureer ließen diese Möglichkeit zu. So hält es Lukrez beispielsweise für möglich, dass es verschiedene Erklärungen der Bewegung der Sterne gibt, ebenso wie es verschiedene Hypothesen darüber geben kann, was den Tod einer bestimmten Leiche auf einer Steinplatte verursacht hat (RN 6. 703–11). In einem solchen Fall sollten sie alle akzeptiert werden: Jede von ihnen ist wahrscheinlich in der einen oder anderen der zahlreichen Welten im Universum wahr, selbst wenn wir nicht wissen, welche von ihnen in unserer Welt wahr ist (RN 5. 526–33).

Die Erkenntnistheorie der Stoiker Die frühen Stoiker teilten mit den Epikureern eine Reihe von Annahmen über das Wesen der Erkenntnis. Auch sie waren der Überzeugung, dass sie eine doppelte Grundlage hat, die aus untrüglichen Sinneseindrücken sowie ursprünglichen und erworbenen Begriffen besteht. Was das Thema der Begriffe betrifft, so finden wir bei ihnen umfassendere Ausführungen als bei den Epikureern, und ihre Erläuterung des Ursprungs der Begriffe kommt derjenigen des Aristoteles nahe. Bei seiner Geburt gleich der Verstand eines Menschen einem leeren Blatt Papier, und in dem Maße, in dem er im Gebrauch seines Verstandes voranschreitet, werden Begriffe auf dieses Papier geschrieben. Die frühesten Begriffe stammen aus den Sinnen: Einzelne Erfahrungen lassen Erinnerungsspuren zurück, und aus Erinnerungen baut sich Erfahrung auf. Manche Begriffe werden durch Unterricht erworben oder zu einem bestimmten Zweck erdacht, während andere auf natürliche Weise spontan entstehen. Dies sind die Begriffe, die die Bezeichnung prolepsis (LS 39E) verdienen. Begriffe dieser Art sind allen Menschen gemein: Meinungsverschiedenheiten entstehen nur, wenn sie auf bestimmte Fälle angewendet werden, zum Beispiel wenn dieselbe Handlung von einem Mann als mutig und von einem anderen als wahnsinnig bezeichnet wird (Epiktet 1. 22. 3). Die Stoiker entwickelten eine umfangreichere Klassifikation geistiger Zustände als die Epikureer jemals vorgelegt haben. Sie wollten eine Erkenntnistheorie darlegen, die skeptischen Angriffen gewachsen war. Zusätzlich zu den beiden Zuständen des Wissens (episteme) und der Meinung (doxa), die man seit Platon unterschied, führten sie einen dritten Zustand ein: die Erfassung (katalepsis). Die Stoiker, so überliefert uns Sextus Empiricus, „sagen nämlich, es gebe drei [Dinge], die miteinander verbunden sind: Wissenschaft, Meinung und Erfassung, die in der Mitte zwischen ihnen gesetzt ist. Davon sei Wissenschaft unerschütterliche, sichere und durch Argumentation unveränderliche Erfassung; die Meinung sei schwache und falsche Zustimmung, und die Erfassung, die Zustimmung zu einer erfassenden Vorstellung ist, sei zwischen ihnen. Eine erfassende Vorstellung ist

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nach ihnen die wahre Vorstellung, und zwar eine solche, die nicht falsch werden kann.“ (M 7. 151–152)

Hier wird der Definition des Wissens ein neues Element hinzugefügt: Wissen lässt sich durch Argumente nicht verändern. Dies scheint eine zutreffende Einsicht. Wenn ich zu wissen behaupte, dass p, so behaupte ich unter anderem, dass mich niemand mit Argumenten (zu Recht) davon überzeugen wird, meine Überzeugung, dass p der Fall ist, aufzugeben. Dies ist verschieden von Fällen, in denen ich glaube, dass p, jedoch offen dafür bin, vom Gegenteil (nicht-p) überzeugt zu werden. Dieses Letztere ist es, was damit gemeint ist, dass Meinung (bzw. bloßer Glaube) eine schwache Form der Zustimmung ist. Das Geglaubte kann auch (vielleicht) falsch sein: Es ist nicht unsinnig zu sagen „X glaubt, dass p, aber es ist nicht der Fall, dass p“, im Gegensatz zu der Feststellung „X weiß, dass p, aber es ist nicht der Fall, dass p“. Doch der interessanteste Aspekt dieser Textpassage ist die Definition von Erkenntnis in Begriffen erfassender Vorstellung (phantasia kataleptike). „Vorstellung“ ist ein Wort mit vielen Bedeutungen. Es umfasst nicht nur die Eindrücke der Sinne, sondern auch andere mögliche Gegenstände von Überzeugungen anderer Art. Eine Erfassung kann ebenfalls von den Sinnen oder sie kann vom Verstand ausgehen (D.L. 7. 52). Eine Vorstellung ist nicht dasselbe wie eine Meinung oder Überzeugung: Zu einer Überzeugung gehört noch ein weiteres Element, nämlich die Zustimmung. Zustimmung hängt, im Gegensatz zu einer Vorstellung, vom Willen ab. Eine Vorstellung ist erfassend, wenn sie es wert ist, dass man ihr zustimmt. Eine Erfassung liegt zwischen Wissen und Meinung insofern sie, im Gegensatz zur Meinung, niemals falsch ist, und im Gegensatz zum Wissen impliziert sie nicht den Entschluss, niemals seine Auffassung zu ändern. 7 Eine erfassende Vorstellung, so wird uns gesagt, ist „diejenige, die sich aus dem, was zugrunde liegt, bildet, indem sie sich, genau entsprechen dieser Grundlage, in uns abdrückt und ausprägt“ (D.L. 7. 46; Cicero, Acad. 2. 77). Soweit, so gut: Offensichtlich verdient ein solcher Eindruck (wie wir ihn nennen können) Zustimmung. Ein weiser Mann wird nicht nur bloße Meinungen haben, sagte Zenon (Cicero, Acad. 2. 77); und dies lässt sich zweifellos erreichen, wenn der weise Mann nur erfassenden Vorstellungen zustimmt. Doch woran erkenne ich, ob eine Vorstellung erfassend ist oder nicht? Handelt es sich hierbei darum, dass eine Vorstellung so klar und deutlich ist, dass sie meine Zustimmung erzwingt, sodass ich nicht anders kann, als überzeugt zu sein? Oder hat sie bestimmte Merkmale, die ich als ein Kriterium verwenden kann, anhand dessen ich entscheide, meine Zustimmung zu geben, die ich auch hätte zurückhalten können? Die Textzeugnisse sind in diesem Punkt nicht völlig eindeutig, doch die überlieferten Beispiele geben uns einige Hinweise. Zuerst wird uns gesagt, dass die Eindrücke der Wahnsinnigen nicht erfassend sind. (Manchmal haben die Stoiker sogar bezweifelt, dass es sich überhaupt um wirk7

Siehe M. Frede in: CHHP, 296 ff.

Die Erkenntnistheorie der Stoiker

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liche Eindrücke handelt, und sie stattdessen als „Phantasmen“ bezeichnet; D.L. 7. 49.) Sie treten „von außen und zufällig“ ein. „Deshalb behaupten sie sie oft weder mit Sicherheit, noch stimmen sie ihr zu.“ (S.E., M. 7. 247) Doch angenommen, sie stimmen ihnen zu: Offensichtlich macht sie das nicht zu kognitiven Erscheinungen, denn sie sind nicht wahr, und nur eine wahre Erscheinung kann kognitiv sein. Doch welche erkenntnistheoretische Regel haben die Wahnsinnigen verletzt? Nun, vielleicht haben sie den Genauigkeitsgrad ihrer Eindrücke nicht geprüft: Denn ein zweites Stück Information, das uns gegeben wird, besagt, dass ein kognitiver Eindruck höchst umfassend sein muss, sodass alle charakteristischen Eigenschaften seines Originals reproduziert werden. „Ebenso wie die Siegel auf Ringen ihre Formen jedes Mal genau in das Wachs drücken, so sollten diejenigen Eindrücke, die zur Erfassung von Objekten führen, sämtliche ihrer Eigentümlichkeiten umfassen“ (S.E., M. 2. 750). Wenn jedoch kognitive Eindrücke solche sind, die bis in alle Einzelheiten vollständig sind, so kann es sie nur sehr selten und nur wenige von ihnen geben. Vielleicht, so könnten wir vermuten, haben kognitive Eindrücke einen besonders überzeugenden Charakter, der sie auszeichnet. Tatsächlich haben die Stoiker Eindrücke nach dem Maß ihrer Überzeugungskraft in vier Klassen eingeteilt: (1) Überzeugend; z. B. „Es ist Tag“, „Ich spreche gerade“. (2) Nicht überzeugend; z. B. „Wenn es dunkel ist, ist es Tag“. (3) Überzeugend und nicht überzeugend; z. B. philosophische Paradoxa. (4) Weder überzeugend noch nicht überzeugend; z. B. „Die Anzahl aller Sterne ist eine ungerade Zahl“. Dass eine Aussage überzeugend ist, garantiert jedoch nicht ihre Wahrheit: Die Krümmung des Ruders im Wasser sieht überzeugend genug aus, doch es ist trotzdem eine Täuschung. Ein weiser Mann wird zweifellos der Versuchung widerstehen, alle überzeugenden Vorstellungen als wahr zu akzeptieren, und wird seine Zustimmung nur denjenigen geben, die nicht nur überzeugend, sondern auch vernünftig sind. So berichtet uns beispielsweise Posidonios, dass einige ältere Stoiker zusätzlich zum Kriterium der erfassenden Vorstellungen als weiteres Kriterium das der rechten Vernunft anführten (D.L. 7. 54). Die Sache ist jedoch noch komplizierter. Zusätzlich zu erfassenden Vorstellungen gibt es vernünftige Vorstellungen. Ein Stoiker, dem König Ptolemäus Philopator Granatäpfel aus Wachs gab und der dadurch getäuscht wurde, erwiderte, er habe seine Zustimmung nicht dem Satz gegeben, dass es sich um Granatäpfel handle, sondern dem, dass es vernünftig (eulogon) sei zu glauben, dass es sich um solche handle. Dass eine Vorstellung vernünftig sei, sagte er, bedeute nicht, dass sie nicht falsch sein könne (D.L. 7. 177). Wenn dies zutrifft, so scheint es, kann die Bewertung einer Vorstellung als erfassend oder nicht erfassend keine Sache der Vernunft sein. Die frühen Stoiker geben uns keine weitere Hilfe bei der Ermittlung des Erkennungsmerkmals erfassender Vorstellungen. Die Schwäche der stoischen Position wurde von Arkesilaos aufgedeckt, dem Leiter der Neuen Akademie in der zweiten Hälfte des dritten Jahrhunderts. Er stellte die

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stoische Definition einer erfassenden Vorstellung als derjenigen „die sich aus dem, was zugrunde liegt, bildet, indem sie sich, genau entsprechend dieser Grundlage, in uns abdrückt und ausprägt“ infrage. Könnte es nicht, so fragte er, eine falsche Vorstellung gegeben, der von einer wahren nicht zu unterscheiden ist? Zenon stimmte ihm zu: Wenn eine Vorstellung von solcher Art sei, dass es eine falsche geben könnte, die ihr exakt gleicht, dann könne dies (selbst wenn sie wahr ist) keine erfassende Vorstellung sein. Er änderte die Definition entsprechend und fügte hinzu: „wie sie von Nichtexistierendem nicht ausgehen kann“ (Cicero, Acad. 2. 77; S.E., M. 7. 251). Es ist jedoch nicht klar, wie die Stoiker begründen würden, in welchen Fällen solch unverwechselbare Erkennungsmerkmale gefunden werden könnten, oder wie sie auf die skeptische Behauptung antworten würden, dass sich zu jeder wahren Erscheinung eine falsche denken lasse, die von ihr nicht zu unterscheiden ist.

Der Skeptizismus der Akademie Dass die stoische Erkenntnistheorie von einer skeptischen Position aus angegriffen wurde, war nicht verwunderlich. Es war jedoch überraschend, dass dieser Angriff ausgerechnet von der Akademie, von den Erben Platons kommen sollte, denn das Werk Platons enthielt einige der dogmatischsten Lehren, die je aufgestellt wurden. Die Leiter der späteren Akademie, Arkesilaos und sein Nachfolger Karneades, besannen sich jedoch auf noch tiefere Wurzeln. Sie beriefen sich auf Sokrates, dessen Gesprächsstil von Frage und Antwort dafür berühmt war, falsche Wissensansprüche bloßzustellen (Cicero, Fin. 2. 2). Sokrates selbst behauptete nicht, über philosophisches Wissen zu verfügen und er hinterließ keine philosophischen Schriften. Arkesilaos und Karneades folgten in Beidem seinem Beispiel. Sie gingen jedoch weiter als Sokrates, indem sie einen wesentlich radikaleren Skeptizismus empfahlen: eine Zurückhaltung nicht nur bei philosophischen Überzeugungen, sondern auch in den alltäglichsten Fragen. Obwohl Arkesilaos und Karneades keine Schriften hinterließen, sind wir durch Cicero, der von Karneades’ Schüler Philon unterrichtet worden war, relativ gut über ihre philosophischen Lehren informiert, denn der Skeptizismus der Akademie übte auf ihn eine starke Anziehungskraft aus. In seiner Schrift Academica hinterließ er uns eine lebhafte Darstellung des Hin und Her der Diskussionen um die Skepsis. Durch Cicero und andere Quellen wissen wir, dass die Akademiker eine ganze Reihe von Argumenten vorbrachten, um zu zeigen, dass es keine unfehlbaren Eindrücke geben könne. Es gibt keinen von den Sinnen ausgehenden, wahren Eindruck, dem sich kein anderer nicht-kognitiver, der von ihm nicht zu unterscheiden ist, an die Seite stellen ließe. Doch wenn zwei Eindrücke ununterscheidbar sind, ist es unmöglich, dass der eine von ihnen kognitiv ist, und der andere nicht. Daher ist kein Eindruck, selbst wenn er wahr ist, kognitiv. Man kann sich dieses Argument anhand des Beispiels

Der Skeptizismus der Akademie

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von Publius Geminus und Quintus Geminus, eineiigen Zwillingen, veranschaulichen. Wenn jemand Publius anschaut und meint, er schaue Quintus an, so hat er einen Eindruck, der in allen Einzelheiten demjenigen entspricht, den er haben würde, wenn er Quintus tatsächlich anschauen würde. Demzufolge ist sein Eindruck kein kognitiver: Er wird der letzten Bestimmung von Zenons Definition, „und von solcher Art, dass er nicht von etwas ausgehen könnte, das nicht ist“, nicht gerecht (Cicero, Acad. 2. 83–5). Als Antwort auf dieses Argument scheinen die Stoiker bestritten zu haben, dass es für zwei Objekte möglich ist, sich in jeder Hinsicht zu gleichen. Sie stellten die These auf, die später als die der Identität des Nichtzuunterscheidenden bekannt wurde: Keine zwei Sandkörner, keine zwei Haarsträhnen gleichen sich jemals vollständig. Die Akademiker beanstandeten, dass diese These grundlos sei. Sie ist jedoch gewiss nicht grundloser als ihre eigene Behauptung, dass wahre Eindrücke immer mit falschen Kopien verwechselt werden können. Tatsächlich scheint die Antwort der Stoiker entweder nicht erforderlich oder unzureichend zu sein, je nachdem, wie man die skeptische Herausforderung interpretiert. Wenn nur die reale Möglichkeit einer Täuschung verhindert, dass ein Eindruck kognitiv ist, dann muss der Stoiker, um kognitive Eindrücke zu verteidigen, nicht behaupten, dass ein wahrer Eindruck niemals durch einen falschen ersetzt werden kann: Er muss lediglich behaupten, dass es einige Fälle gibt, in denen dies so ist. Genügt andererseits die bloße Vorstellbarkeit einer täuschenden Kopie, um die Kognitivität eines Eindrucks zu untergraben, so kann sie durch die Identität des Nichtzuunterscheidenden nicht wiederhergestellt werden. Ich kann mir so sicher sein wie nur irgendetwas, dass ich mit dir spreche: Aber ist es nicht vorstellbar, dass du einen eineiigen Zwilling hast, von dem ich nichts weiß, und dass er es ist, mit dem ich spreche? Es gibt verschiedene Grade des Skeptizismus. Ein Skeptiker kann einfach jemand sein, der bestreitet, dass es (auf einem, oder allen Feldern möglicher Forschung) kein wirkliches Wissen geben kann. Ein solcher Skeptiker muss keine Einwände dagegen erheben, dass jemand Überzeugungen bezüglich verschiedener Fragen hat, vorausgesetzt die Person mit diesen Überzeugungen behauptet nicht, dass sie den Status von Wissen haben. Er kann sehr wohl eine Reihe eigener Überzeugungen haben, einschließlich der Überzeugung, dass es so etwas wie Wissen nicht gibt. In diesem Fall liegt kein Widerspruch vor, vorausgesetzt er behauptet nicht, zu wissen, dass es kein Wissen gibt. Arkesilaos ging sogar so weit, dass er es Sokrates zum Vorwurf machte, behauptet zu haben, er wisse, dass er nichts weiß (Cicero, Acad. 1. 45). Ein noch radikalerer Skeptiker könnte jedoch nicht nur die Möglichkeit von Wissen, sondern sogar die Angemessenheit von Überzeugungen infrage stellen. Er könnte empfehlen, sich nicht nur der resoluten Zustimmung zu enthalten, die für Gewissheit charakteristisch ist, sondern sogar der für bloße Meinung typischen, vorläufigen Zustimmung. Arkesilaos scheint ein Skeptiker dieser Art gewesen zu sein: Er behauptete, so berichtet uns Cicero (Acad. 1. 44; LS 68A), dass „niemand irgendetwas

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behaupten oder bestätigen oder seine Zustimmung geben sollte; stattdessen sollten wir unsere Unbesonnenheit in Zucht nehmen und uns vor jeglichen Fehlern hüten. Es wäre in der Tat unbesonnen, etwas Falschem oder Unbekanntem zuzustimmen, und nichts ist beschämender, als wenn man Dingen zustimmt oder sie bestätigt, die über das Wissbare hinausgehen“. Arkesilaos hatte die Angewohnheit, Argumente für beide Seiten einer These vorzubringen, um so die von ihm empfohlene Enthaltung der Zustimmung zu ermöglichen (Fin. 5. 10). In der Forschung ist man sich nicht sicher, ob seine Argumente reine ad hominem Argumente waren, oder ob er (inkonsistenterweise) seine eigene skeptische philosophische Position als wahr behauptete. 8 Einigen überlieferten antiken Quellen zufolge war Karneades ein weniger radikaler Skeptiker, der – obwohl er die Möglichkeit von Wissen bestritt – akzeptierte, dass ein weiser Mann berechtigterweise bloße Überzeugungen haben konnte. Die beiden Akademiker richteten ihre Angriffe an verschiedenen Punkten auf Zenon. Zenon hatte die Auffassung vertreten, dass kein weiser Mann lediglich Überzeugungen haben könnte, doch wenn er sich nur auf kognitive Eindrücke stützte, würden seine Zustimmungen sämtlich für Wissen gelten. Arkesilaos und Karneades sind sich einig, dass es keine kognitiven Eindrücke und somit auch kein Wissen gibt, doch Ersterer schlussfolgert hieraus, dass der weise Mann sich jeglichen Urteils enthält, während Letzterer daraus schließt, dass der weise Mann lediglich Überzeugungen hat, jedoch kein Wissen beansprucht (Cicero, Acad. 2. 148). Nach einer anderen Interpretation müssen wir jedoch bei der Bewertung von Karneades’ Position eine differenzierte Analyse der vom Erkenntnistheoretiker studierten geistigen Phänomene vornehmen. Statt einfach zwischen einer Erscheinung und der Zustimmung zu dieser Erscheinung zu unterscheiden, müssen wir den neuen Begriff des Impulses (horme) einführen. Während die Zustimmung vom Willen abhängt und verweigert werden kann, sind Erscheinungen, wie wir wissen, von uns nicht kontrollierbar. Doch auf eine Erscheinung folgt unweigerlich ein Impuls, und man kann ihm auch ohne die geistige Zustimmung folgen, durch die Wahrheit gefunden und Irrtum vermieden werden kann (Plutarch, adversus Coloten 1122 LS 69A; Cicero, Acad. 2. 103 f. LS 69I). Diese Unterscheidung erscheint eingeführt worden zu sein, um auf einen häufigen Einwand gegen die radikale Skepsis antworten zu können: Wenn der Skeptiker sich jeglichen Urteils enthällt, wie kann er dann ein normales Leben leben? Wie kann er in ein Bad steigen, wenn es – nach allem, was er weiß – in Wahrheit ein Abgrund ist? Die Antwort lautet, dass er nicht überstürzt urteilt, es handle sich wirklich um ein Bad; doch er wird von seinem Impuls, in das Bad steigen zu wollen, sozusagen mitgenommen. In nichtphilosophischen Diskussionen kann ein weiser Mann sogar seinen Impulsen so weit folgen, dass er Fragen mit „Ja“ oder „Nein“ beantwortet.

8

Siehe M. Schofield in CHHP, 334.

Pyrrhonische Skepsis

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Pyrrhonische Skepsis Im ersten Jahrhundert vor Christus entstand eine neue radikale Schule des Skeptizismus, die glaubte, die Akademiker hätten den Skeptizismus auf unakzeptable Weise verwässert. Der Gründer dieser Schule war Aenesidemus, doch er und seine Nachfolger bezeichneten ihre Version des Skeptizismus, nach Pyrrhon von Elis, einem Soldaten in der Armee Alexander des Großen, den sie als ihren Gründungsvater betrachteten, als Pyrrhonismus. Aenesidemus schrieb ein verloren gegangenes Buch pyrrhonischer Abhandlungen, in dem er darlegte, worin er sich vom Skeptizismus der Akademie unterschied. Er stellt eine Sammlung skeptischer Argumente von der Art zusammen, die wir in diesem Kapitel kennengelernt haben, und fasste sie in zehn Gruppen zusammen, die als die „Zehn Tropen“ des Aenesidemus berühmt wurden. Was wir darüber wissen, stammt – wie so vieles andere über den antiken Skeptizismus – aus den Schriften von Sextus Empiricus, einem pyrrhonischen Skeptiker des zweiten Jahrhunderts v. Chr. Sextus hinterließ uns drei Bücher über die Grundzüge der pyrrhonischen Skepsis und elf Bücher Gegen die Wissenschaftler. In diesen Büchern tauchen fast sämtliche skeptischen Argumente, die sich auf Täuschungen stützen, auf, die in der späteren Literatur vorkommen, sowie viele, die niemand wieder verwenden wollte. Erwähnt werden die Gelbsichtigkeit aufgrund einer Geldsucht, das Nachbild auf dem Buch, die verzerrte Sicht durch Druck auf den Augapfel, konkave und konvexe Spiegel, Wein, der – nachdem man Feigen gegessen hat – sauer, und – nachdem man Nüsse gegessen hat – süß schmeckt, Schiffe, die am Horizont scheinbar stillstehen, Ruder, die im Wasser gekrümmt erscheinen, Gerüche, die im Bad schärfer sind, die flüchtigen Farbenspiele am Hals von Tauben und natürlich unser alter Freund, der Turm der aus der Ferne rund und aus der Nähe rechteckig erscheint. Sextus’ eigene Version des Skeptizismus ist am Ende weniger verschieden von der Skepsis der Akademiker, als er uns glauben machen will. Nach seiner Meinung können Skeptiker, ohne irgendeiner Sache zuzustimmen, dennoch Überzeugungen haben, und zwar nicht nur bezüglich bestimmter Wahrnehmungen im Alltag, sondern auch in philosophischen Fragen. Der Wert von Sextus’ Schriften besteht für uns nicht darin, dass er die skeptische Diskussion um einen neuen Aspekt bereichert hat, sondern darin, dass sie eine Schatzkammer für Informationen über die Argumente früherer und originellerer Skeptiker sind. Er steht am Ende der skeptischen Tradition, deren Chronist er war. Durch das Studium der antiken Erkenntnistheorie können wir viel über das Wesen der Erkenntnis und die Grenzen des Skeptizismus lernen. Mehrere Einsichten wurden zum Erbgut allen künftigen Philosophierens: Wissen kann es nur von dem geben, was wahr ist; Wissen verdient nur dann Wissen genannt zu werden, wenn es sich implizit oder explizit auf irgendetwas stützen kann, sei dies Erfahrung, logisches Denken oder eine andere Quelle; außerdem muss, wer Wissen beansprucht, dies auf

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entschiedene Weise tun, indem er die Möglichkeit ausschließt, zu einem späteren Zeitpunkt mit guten Gründen von einer anderen Ansicht überzeugt zu werden. Dennoch wird die antike Erkenntnistheorie von zwei verwandten Fehlschlüssen geplagt. Beide von ihnen kommen durch ein Missverständnis der Wahrheit zustande, dass, was immer Wissen ist, wahr sein muss. Einer der Fehlschlüsse verfolgt die klassische Erkenntnistheorie bis zur Zeit von Aristoteles, der andere verfolgt die Erkenntnistheorie der hellenistischen Epoche und der Kaiserzeit. Der erste Fehlschluss ist folgender. „Was immer Wissen ist, muss wahr sein“ kann auf zwei Weisen interpretiert werden. (1) Notwendigerweise: Wenn p gewusst wird, ist p wahr oder (2) Wenn p gewusst wird, ist p notwendigerweise wahr. (1) ist wahr und (2) ist falsch. Es ist eine notwendige Wahrheit, dass du sitzt, wenn ich weiß, dass du sitzt. Doch wenn ich weiß, dass du sitzt, ist es keine notwendige Wahrheit, dass du sitzt: Du könntest jeden Moment aufstehen. Platon und Aristoteles scheinen, immer und immer wieder, zu glauben, (2) sei von (1) nicht zu unterscheiden. Da zwischen Wissen und Wahrheit eine notwendige Beziehung besteht, scheinen sie zu glauben, dass nur gewusst werden kann, was notwendig ist. Auf der Annahme von (2) basiert die Konstruktion der Theorie ewiger und unveränderlicher Ideen sowie das unmögliche Ideal der aristotelischen Wissenschaft. Wenn etwas, um als Wissen bezeichnet werden zu können, wahr sein muss, dann kann es so scheinen, als müsste Wissen die Ausübung einer Fähigkeit sein, die nicht irren kann. Dies ist die Form, die der Trugschluss in der hellenistischen Epoche annimmt. Die Epikureer und Stoiker sind, im Gegensatz zu Platon und Aristoteles, bereit, Wissen nicht nur von ewigen Wahrheiten, sondern auch von alltäglichen Zufälligkeiten zuzugestehen, wie etwa der, dass Dion jetzt gerade geht. Doch dies, behaupten sie, ist nur möglich, weil wir über Fähigkeiten verfügen – seien es sinnliche oder intellektuelle –, die ihre Funktion fehlerfrei erfüllen können. Der hellenistische ist das Spiegelbild des klassischen Fehlschlusses. Angenommen, F ist eine bestimmte Fähigkeit. Dann ist Folgendes wahr: Es ist unmöglich, wenn F weiß, dass p, dass F einen Fehler gemacht hat. Doch das ist weder dasselbe wie, noch ist es wahr dass: Wenn F weiß, dass p, dann war es für F unmöglich, einen Fehler zu machen. Der erkenntnistheoretische Fehlschluss, sowohl in seiner klassischen wie in seiner hellenistischen Form, sollte während der gesamten Geschichte der Philosophie noch lange Schatten werfen.

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Wie Dinge geschehen: Physik

Bereits in vorigen Kapiteln sahen wir, dass die griechischen Denker von Thales bis Platon komplizierte Vorstellungen vom Aufbau unseres Universums entwickelt haben. Obwohl sie von großem historischem Interesse sind, wurden ihre physikalischen Theorien durch den Fortschritt der Wissenschaft überholt. Sie bieten uns keine Einsichten mehr in den Aufbau der Welt. Dasselbe gilt zwar auch für das Weltbild des Aristoteles, doch bietet er uns – zusätzlich zu seinen physikalischen Spekulationen und in viel größerem Umfang als irgendeiner seiner Vorgänger – eine philosophische Untersuchung der Grundbegriffe, die für physikalische Erklärungen der verschiedensten Art unerlässlich sind. Seine Naturphilosophie enthält, im Gegensatz zu seinem physikalischen Weltbild, vieles von bleibendem Interesse. Die zweite von Aristoteles’ Kategorien ist die Kategorie der Quantität. Sie antwortet auf die Frage: „Wie groß?“, und Aristoteles denkt hier an Antworten wie „einen Meter lang“, „zwei Meter hoch“ (Cat. 4. 1b28). Seiner Auffassung nach gibt es zwei Arten von Quantitäten: diskrete und kontinuierliche. Eine diskrete Größe wäre beispielsweise eine aus tausend Soldaten bestehende Armee (vgl. Metaph. D 13. 1020a7). Als Beispiele für kontinuierliche Größen führt er Linien, Oberflächen, Körper, Zeit und Ort an (Cat. 6. 4b20 ff.). Aristoteles’ Behandlung des Kontinuums und kontinuierlicher Quantitäten ist eine der Grundlagen, auf denen seine Naturphilosophie aufbaut. Im ersten Teil dieses Kapitels werden wir uns daher diesen Themen zuwenden.

Das Kontinuum Zu Beginn von Buch 6 der Physik führt Aristoteles drei Ausdrücke ein, die unterschiedliche Merkmale größenbestimmter Dingen angeben: Sie können entweder aufeinanderfolgend (ephexes), angrenzend (hama) oder zusammenhängend (syneches) sein. Zwei Dinge sind aufeinanderfolgend oder sukzessiv, wenn sich zwischen ihnen nichts befindet, was von derselben Art ist, wie sie selbst. So sind beispielsweise zwei Inseln in einer Inselgruppe aufeinanderfolgend, wenn sich zwischen ihnen nur das Meer befindet; zwei Tage sind aufeinanderfolgend, wenn sich zwischen ihnen kein weiterer Tag, sondern nur eine Nacht befindet. Zwei Dinge sind angrenzend, sagt Aristoteles, wenn sie zwei Grenzen haben, die sich gegenseitig berühren, und sie sind zusammenhängend, wenn sich zwischen ihnen nur eine gemeinsame Grenze befindet

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(Ph. 231a18–25). Anhand dieser Definitionen entwickelt er ein Argument für die These, dass ein Kontinuum nicht aus unteilbaren Atomen bestehen kann. Eine Linie kann beispielsweise nicht aus Punkten zusammengesetzt sein, die keine Größe haben. Da ein Punkt keine Teile hat, kann er keine von ihm selbst verschiedene Grenze haben: Zwei Punkte können daher weder angrenzend noch zusammenhängend sein. Wenn man sagt, dass die Grenze eines Punktes mit dem Punkt selbst identisch ist, würde es sich bei zwei zusammenhängenden Punkten um ein und denselben Punkt handeln. Außerdem können Punkte nicht aufeinanderfolgen: Zwischen zwei beliebigen Punkten einer zusammenhängenden Linie gibt es immer noch weitere Punkte auf derselben Linie (Ph. 231a29–b15). Ähnliche Argumente treffen nach Aristoteles auch auf räumliche Größen, die Zeit und auf Bewegungen zu: Alle drei sind Kontinua derselben Art. Die Zeit kann nicht aus unteilbaren Momenten zusammengesetzt sein, da zwischen zwei beliebigen Momenten immer eine Zeitspanne liegt; und ein „Atom der Bewegung“ müsste in Wirklichkeit ein Moment der Ruhe sein. Unteilbarkeit ist tatsächlich eines der wesentlichen Merkmale der Quantität oder Größe, und sie wird als solche in Aristoteles’ Lexikon philosophischer Begriffe in Metaphysik D aufgeführt (Metaph. 1020a7): „Quantität nennt man dasjenige, was in zwei oder mehr inwohnende Teile teilbar ist, deren jeder seiner Natur nach Eins und ein bestimmtes Etwas ist.“ Wir werden später noch untersuchen müssen, wie die Bestimmung „seiner Natur nach Eins und ein bestimmtes Etwas“ zu verstehen ist. Punkte und Momente, die unteilbar sind, haben daher keine bestimmte Größe, und eine Größe von null würde, wie oft man sie auch aufaddiert, niemals eine Größe ergeben. Auf einem anderen Wege gelangen wir daher zu der Schlussfolgerung, dass eine zusammenhängende, kontinuierliche Größe nicht aus unteilbaren Elementen zusammengesetzt ist. Wenn eine Größe nur in andere Größen unterteilt werden kann, und jede Größe teilbar sein muss, so folgt, dass jede Größe bis ins Unendliche teilbar ist. Aristoteles’ Vorstellung von unendlicher Teilbarkeit ist nicht leicht zu verstehen, und er selbst war sich dessen bewusst. In seiner Abhandlung De generatione et corruptione geht er ausführlich auf einen Einwand gegen seine These ein und vermutet, dass dieses Argument der Grund gewesen sei, warum Demokrit den Atomismus vertreten habe. Das Argument lautet folgendermaßen: Wenn die Materie unendlich teilbar ist, wollen wir annehmen, diese Teilung sei durchgeführt worden – denn wenn die Materie wirklich auf diese Weise teilbar ist, ist nichts Widersprüchliches an dieser Vorstellung. Wie groß sind die Bruchstücke, die das Endergebnis dieser Teilung sind? Wenn sie irgendeine Größe haben, wäre es möglich – gemäß der Hypothese der unendlichen Teilbarkeit – sie weiter zu teilen. Es müssen daher Bruchstücke sein, die, wie geometrische Punkte, keine Ausdehnung haben. Doch was immer geteilt werden kann, lässt sich auch wieder zusammensetzen. Wenn wir einen Baumstamm in viele Stücke zersägen, selbst in Stücke, die so klein sind wie Sägemehl, können wir sie wieder zu einem Baumstamm der ursprünglichen Größe zusammensetzen. Haben die Bruchstücke jedoch keine Größe, wie konnten sie jemals das ausgedehnte Stück Materie ausmachen, das am Anfang stand? Die Materie

Das Kontinuum

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kann nicht aus bloßen geometrischen Punkten bestehen, noch nicht einmal einer unendlichen Anzahl von ihnen. Wir müssen daher schlussfolgern, dass die Teilbarkeit an ein Ende kommt, und die kleinstmöglichen Bruchstücke müssen Körper einer bestimmten Größe und Form sein (GC 1. 2. 316a14–317a3). Aristoteles geht auf diese Schwierigkeit mehrfach ein (Ph. 3. 6. 206a18–25; 7. 207b14). „Unendlich teilbar“, darauf besteht er, bedeutet „teilbar ohne Ende“, nicht „teilbar in unendlich viele Teile“. Wie oft man eine Größe auch geteilt haben mag: Sie kann stets noch weiter geteilt werden. Sie ist unendlich teilbar in dem Sinne, dass ihre Teilbarkeit kein Ende hat. Das Kontinuum besteht aus keiner unendlichen Anzahl von Teilen. Tatsächlich hielt Aristoteles die Idee des Aktual-Unendlichen, einer unendlich großen Zahl, für selbstwidersprüchlich. Das Unendliche, so behauptete er, habe nur mögliche Existenz (Ph. 3. 6. 206a18). Dies ist eine stichhaltige Antwort auf Demokrits Argument, doch Aristoteles tut nun des Guten zu viel: Er nimmt eine Unterscheidung zwischen verschiedenen Arten der Möglichkeit vor. Es ist möglich, dass aus einem Marmorblock eine Statue wird. Wenn diese Möglichkeit verwirklicht wird, existiert die Statue, jeder Teil von ihr zur gleichen Zeit. Die Teile, in die ein Zeitabschnitt oder eine Zeitfolge geteilt werden kann, haben eine andere Art von Möglichkeit. Sie können nicht alle gleichzeitig vorhanden sein: Wenn ich aufwache, enthält der vor mir liegende Tag einen Morgen und eine Mittagsstunde, doch können sie nicht gleichzeitig existieren. Dies scheint aus mehreren Gründen ein unkluger Argumentationsschritt zu sein. Erstens verteidigt Aristoteles eine These über das Kontinuum im Allgemeinen: Es scheint verfehlt, sie unter Berufung auf eine Eigenschaft zu verteidigen, die nur einer bestimmten Form des Kontinuums, der Zeit, eigentümlich sein mag. Zweitens geht es dem Argument für die unendliche Teilbarkeit des Kontinuums nicht um den Vorgang der Teilung. In dem Argument, auf das Aristoteles eingeht, sagt Demokrit Folgendes: Wenn etwas ins Unendliche teilbar ist, dann ist es unerheblich, ob die Teilung gleichzeitig durchführbar ist. Es geht stattdessen darum, ob das Ergebnis der Teilung widerspruchlos gedacht werden kann (GC 1. 2. 316a18). Drittens ist die Gegenüberstellung mit der Möglichkeit der Herstellung einer Statue irreführend. In einem seiner Sonette beschwört Michelangelo auf eindrückliche Weise die in einem Marmorblock enthaltenen Möglichkeiten: „Es gibt keine Idee im Geist eines Künstlers, die nicht in einem Marmorblock verborgen läge, Darauf wartend, dass jemand, dessen Geist seine Hand führen kann, sie ans Licht des Tages bringt.“ 1

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„Non ha l’ottimo artista alcun concetto Ch’un marmo solo in se’ non circoscriva Col suo soverchio, e solo a quello arriva La man che ubbidisce all’intelletto“

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Die gleichzeitige Realisierung sämtlicher Ideen der größten Künstler aus einem einzigen Marmorblock wäre ebenso unmöglich wie die gleichzeitige Realisierung aller Teile des Kontinuums. Grundsätzlich ist es ein Fehlschluss, wenn man von (1) Es ist möglich, dass p und möglich dass q auf (2) Es ist möglich, dass sowohl p als auch q schließt, und um dies zu erkennen, muss man nur den Fall betrachten, in dem „q“ mit „nicht-p“ identisch ist. Um auf Demokrit zu antworten, muss Aristoteles daher seine Unterscheidung zwischen verschiedenen Möglichkeiten nicht treffen, d. h. zwischen solchen, die gleichzeitig, und solchen, die nicht gleichzeitig aktualisiert werden können. Es reicht aus, wenn man darauf hinweist (wie er es in GC 1. 2. 317a8 tut), dass es einen Unterschied gibt zwischen der Behauptung, dass jedes Kontinuum an jedem Punkt geteilt werden kann, und dass es jederzeit geteilt werden kann. Doch wir sollten uns das Sonett etwas genauer ansehen. Während die Hände und der Geist Michelangelos unübertroffen sind, wenn es darum geht, in Marmor enthaltene Möglichkeiten zu realisieren, darf bezweifelt werden, ob sein Gedicht ein angemessenes philosophisches Verständnis des Wesens der Möglichkeit enthält. Offenbar stellt er sich mögliche Statuen als schattenhafte Wirklichkeiten vor, die auf geheimnisvolle Weise im noch unbehauenen Marmor enthalten sind. Stellt man sich Möglichkeiten als schattenhafte Wirklichkeiten vor, dann scheint es so, als könne man sie zählen und von ihrer Anzahl reden. Was immer unendlich teilbar ist, würde in diesem Falle aus einer unendlichen Anzahl von Teilen bestehen. Doch man muss der Versuchung, sich Möglichkeiten auf diese Weise vorzustellen, widerstehen, auch wenn Michelangelo oder Demokrit ihr erlegen sind.

Aristoteles über Ort und Raum Die fünfte von Aristoteles’ Kategorien ist der Ort, die Antwort auf die Frage „Wo?“, auf die die typische Antwort „im Lyzeum“ lautet (Cat. 4. 2a1). In der Kategorienschrift erfahren wir über diese Kategorie weiter nichts, doch das vierte Buch der Physik enthält sechs Kapitel über diese Kategorie (ein schwieriges Thema, wie er uns sagt, zu dem er bei seinen Vorgängern keine Hilfe gefunden habe; Ph. 4. 1. 208a32 f.). Jeder Körper befindet sich, zumindest dem ersten Anschein nach, an einem Ort und kann sich vom diesem zu einem anderen Ort bewegen. Am selben Ort können sich zu verschiedenen Zeiten verschiedene Körper befinden, sowie eine Flasche zuerst Wasser und dann Luft enthalten kann. Daher kann ein Ort nicht mit dem Körper, der ihn einnimmt, identisch sein (Ph. 4. 1. 208b29–209a8). Was also ist er dann? Die von Aristoteles schließlich erreichte Antwort lautet, dass der Ort eines Dinges die unmittelbare, nicht in Bewegung begriffene Angrenzungsfläche des ihn umschließenden Körpers ist. Daher ist der Ort eines halben Liter Weins die innere Oberfläche der Flasche, die ihn enthält – vorausgesetzt, die Flasche befindet sich in Ruhe. Doch

Aristoteles über Ort und Raum

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Die mittelalterliche Fantasie zeigt hier Alexander den Großen als Aristoteles’ Forschungsassistenten, der den Meeresboden in einer Taucherglocke erforscht.

angenommen, die Flasche befindet sich in Bewegung, auf einem Kahn, der den Fluss hinabtreibt. Dann bewegt sich auch der Wein von einem Ort zum anderen, und sein Ort muss durch die Angabe seiner relativen Position zum bewegungslosen Ufer bestimmt werden (Ph. 4. 5. 212b15). Dasselbe gilt für einen von strömendem Wasser umgebenen Baum in einem Fluss: Sein Ort wird durch das unbewegte Flussbett bezeichnet, in dem er wurzelt. 2 Wie aus diesen Beispielen hervorgeht, befindet sich für Aristoteles ein Ding nicht nur an dem Ort, der durch seinen unmittelbaren Behälter festgelegt ist, sondern auch an dem, an dem sich dieser Behälter befindet. Wie ein Kind seine Adresse angeben könnte als: 1 High Street, Oxford, England, Europa, Planet Erde, Universum, so sagt auch Aristoteles „Du bist in der Welt, weil du in der Luft bist, die Luft aber in der Welt ist; und du bist in der Luft, weil du auf der Erde bist: du bist auf der Erde, weil Du an diesem bestimmten Ort hier bist, der nur dich allein enthält.“ (Ph., 4. 2. 209a34 ff.) 3 Das Universum ist der allem gemeinsame Ort. Wenn sich an einem Ort zu befinden bedeutete, sich in einem Behälter zu befinden, so folgt daraus, dass das Universum selbst sich an keinem Ort befindet: Dies ist eine Schlussfolgerung, die Aristoteles selbst zieht. „[D]as All ist nicht an einem Ort. Denn (dazu gehören immer zwei:) eines ist der Ort selbst und neben diesem Ort 2 3

Siehe W. D. Ross, Aristotle (London: Methuen, 1923), 86; sowie Aristotle’s Physics (Oxford: Clarendon Press, 1936), 575. Zitiert nach Aristoteles, Physikvorlesung, übersetzt von H. Wagner, herausgegeben von H. Flashar (Darmstadt: Wiss. Buchgesellschaft, 1979), 84 f.

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muss es ein anderes geben, dass er in sich enthält. Aber neben dem Weltall ist außerhalb seiner nichts mehr da.“ (Ph. 4. 5. 212b14–17) 4 Und wenn sich das Universum an keinem Ort befindet, kann es sich auch zu keinem anderen bewegen. Es ist offensichtlich, dass der Ort, wie er von Aristoteles beschrieben wird, sehr verschieden von dem Raum ist, der seit Newton oft als eine unendliche Ausdehnung oder als kosmisches Raster vorgestellt wird. Der Raum Newtons würde unabhängig davon existieren, ob das materielle Universum jemals erschaffen worden wäre oder nicht. Für Aristoteles würde es keine Orte geben, wenn es keine Körper gäbe. Es kann jedoch ein Vakuum geben, ein Ort, an dem sich keine Körper befinden, doch nur dann, wenn dieser Ort von Körpern umgeben ist (Ph. 4. 1. 208b26). Sein Begriff des Ortes kann daher die Schwierigkeiten vermeiden, die Philosophen wie Kant dazu gebracht haben, die Wirklichkeit des Raums zu bestreiten. Allerdings fügt er seinem Grundbegriff ein bedeutsames Element hinzu, das hoffnungslos anachronistisch ist: den Begriff des natürlichen Ortes. In einem geordneten Kosmos, so glaubte Aristoteles, habe jedes der vier Elemente, Erde, Luft, Feuer und Wasser, seinen natürlichen Ort, der einen kausalen Einfluss ausübt: Luft und Feuer wurden ihrer Natur gemäß nach oben getragen, Wasser und Erde nach unten. Jede derartige Bewegung sei ihrem Element natürlich. Andere Bewegungen waren möglich, doch „gewaltsam“. Im Universum, wie wir es vorfinden, werden diese natürlichen Bewegungen durch eine Reihe von Faktoren verhindert, sodass sich nur wenige Dinge wirklich am ihrem natürlichen Ort befinden. Die tatsächliche Verteilung der Elemente muss jedoch unter anderem durch ihre Tendenz erklärt werden, ihrem natürlichen Ort zuzustreben, demjenigen, an dem sich zu befinden für sie am besten ist (Ph. 4. 1. 208b9–22). Wir bewahren einen Rest von Aristoteles’ Unterscheidung zwischen natürlichen und gewaltsamen Bewegungen, indem wir einen natürlichen von einem gewaltsamen Tod unterscheiden. Doch keiner von Aristoteles’ modernen Bewunderern verteidigt diese eher „klassengebundene“ Sicht des Universums, in der jedes Element seinen Platz kennt und sich an dem Ort am wohlsten fühlt, den ihm die Natur zugewiesen hat.

Aristoteles’ Theorie der Bewegung Aristoteles’ Theorie der Bewegung wird jedoch durch die antiquierte Theorie, mit der sie verbunden ist, nicht beeinträchtigt: Sie war sogar eines der scharfsinnigsten Elemente seiner Naturphilosophie. „Bewegung“ (kinesis) war für ihn ein weiter Begriff, der Änderungen in mehreren anderen Kategorien umfasste, wie Größenwachstum oder Farbänderungen (Ph. 3. 1. 200b32). Die Bewegung von einem Ort zu einem

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Zitiert nach Aristoteles, Physikvorlesung, übersetzt von H. Wagner, herausgegeben von H. Flashar (Darmstadt: Wiss. Buchgesellschaft, 1979), 84 f.

Aristoteles’ Theorie der Bewegung

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anderen, d. h. Ortsveränderung, kann als Musterbeispiel dienen, anhand dessen sich seine Theorie darstellen lässt. Die Definition der Bewegung, die Aristoteles im dritten Buch der Physik vorlegt, ist auf den ersten Blick nicht besonders aufschlussreich. „Bewegung“, sagt er, „ist die Verwirklichung des Möglichkeitsmoments an einem Gegenstand“. Wir wollen dies erläutern. Wenn sich ein Körper X von Punkt A nach Punkt B bewegen soll, so muss er hierzu in der Lage sein: Wenn er sich bei A befindet, befindet er sich nur der Möglichkeit nach bei B. Wenn diese Möglichkeit aktualisiert wurde, befindet sich X bei B. Doch befindet er sich dann in Ruhe und nicht in Bewegung. Bewegung von A nach B ist demnach nicht einfach die Aktualisierung der Möglichkeit bei A, sich am Punkt B zu befinden. Sollen wir sagen, dass es sich um eine teilweise Aktualisierung dieser Möglichkeit handelt? Auch das reicht nicht ganz aus, da sich von einem in Ruhe befindlichen Körper in der Mitte zwischen A und B sagen ließe, er habe diese Möglichkeit teilweise aktualisiert. Wir müssen sagen, dass es sich um eine Aktualisierung einer Möglichkeit handelt, die noch weiterhin aktualisiert wird: Und das ist es, worauf Aristoteles’ Definition hinausläuft. Während er sich bei A befindet, verfügt der Körper tatsächlich über zwei verschiedene Möglichkeiten: eine Möglichkeit, sich bei B zu befinden, und eine Möglichkeit, sich nach B zu bewegen. Aristoteles erläutert dies anhand anderer Beispiele für Bewegung: die allmähliche Erwärmung eines Körpers, das Schnitzen einer Statue, die Heilung eines Patienten und das Bauen eines Hauses (Ph. 3. 1. 201a10–15). Bewegung, sagt Aristoteles, sei ein nur schwer zu fassender Begriff, und zwar deshalb, weil er sich auf halbem Wege zwischen reiner Möglichkeit und reiner Wirklichkeit befinde. Er fasst seine Theorie in einer Sentenz zusammen: Bewegung sei eine unvollständige oder unvollendete Wirklichkeit einer unvollendeten Möglichkeit (Ph. 3. 2. 201b31). Sich bei B zu befinden, wäre die vollendete Wirklichkeit; sich nach B zu bewegen, ist die unvollendete Wirklichkeit. Die Möglichkeit, sich bei B zu befinden, ist die vollendete Möglichkeit; die Möglichkeit, sich nach B zu bewegen, ist die unvollendete Möglichkeit. Bewegung ist ein Kontinuum: Eine bloße Reihe von Positionen zwischen A und B ist keine Bewegung von A nach B. Soll sich X von A nach B bewegen, muss es sich durch jeden Punkt zwischen A und B bewegen. Sich durch einen Punkt bewegen ist jedoch nicht dasselbe, wie sich an einem Punkt befinden. Aristoteles behauptet: Was immer sich bewegt, hat sich bereits vorher bewegt. Wenn sich X, auf dem Weg von A nach B, durch den in der Mitte zwischen ihnen liegende Punkt K bewegt, muss es sich bereits vorher durch den früheren Punkt J in der Mitte zwischen A und K bewegt haben. Wie klein der Abstand zwischen A und J auch sein mag: Auch er ist teilbar und so weiter bis ins Unendliche. Vor jedem Punkt, an dem sich nichts bewegt, liegt ein früherer Punkt, an dem es sich bereits bewegte (vgl. Ph. 6. 5. 236b33–5). Hieraus folgt, dass es so etwas wie den ersten Moment einer Bewegung nicht gibt. Aristoteles’ Theorie der Bewegung ist in eine sorgfältige Analyse der semantischen Merkmale griechischer Verben eingebettet. Im Deutschen gibt es, im Gegensatz

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zum Griechischen, in jedem Tempus eine besondere Verlaufsform. Der Unterschied zwischen „Er läuft“ und „Er ist laufend“ ist im Deutschen deutlich genug. Ebenso deutlich ist der Unterschied zwischen „Was immer sich bewegt, hat sich vorher bewegt“ (was problematisch ist) und „Was immer gerade in Bewegung ist, befand sich vorher in Bewegung“ (was wahr ist). Im Griechischen kostet es Aristoteles einige Mühe, klarzumachen, dass er nicht von dem spricht, was sich bewegt, sondern von dem, was „sich in Bewegung befindet“. Er behauptet jedoch nicht nur, dass, was immer sich in Bewegung befindet, sich schon vorher in Bewegung befand, sondern, dass, was immer sich bewegt, sich vorher bewegt hat (Ph. 5. 6. 237b5). Für Aristoteles gibt es einige Verben, die kineseis (Bewegungen) bezeichnen, und andere, die energeiai (Wirklichkeiten) bezeichnen (Metaph. Q 6. 1048b18–36). Kinesis umfasst, wie bereits erwähnt, nicht nur Bewegung, sondern verschiedene Arten von Veränderung und Erzeugung: Als Beispiele führt Aristoteles das Lernen von etwas an, das Bauen eines bestimmten Hauses, das Gehen an einen bestimmten Ort. Als Beispiel für energeiai nennt er Sehen, Wissen und Glücklichsein. Er unterscheidet seine zwei Klassen von Verben anhand subtiler sprachlicher Beobachtungen. Verben der ersten Art bezeichnen Aktivitäten, die in folgendem Sinne unvollkommen sind: Wenn ich gerade die Aktivität y ausführe, liegt das Ergebnis dieser Tätigkeit noch nicht vor (ich baue dieses Haus, ich habe es noch nicht gebaut usw.). Die von diesen Verben bezeichneten Aktivitäten sind solche, die Zeit beanspruchen (NE 10. 4. 1174b8). Aktivitäten oder Leistungen der zweiten Art kosten jedoch keine Zeit, sondern dauern eine bestimmte Zeit lang an oder werden für eine bestimmte Zeit fortgesetzt. Eine kinesis kann schneller oder langsamer erfolgen, oder vollendet oder unterbrochen werden, bei einer energeia ist das nicht möglich. Ich kann etwas schnell lernen, jedoch nicht schnell wissen. Ich kann während des Lernens unterbrochen werden, nicht jedoch während des Wissens (NE 10. 4. 1173a33; Metaph. Q 6. 1048a19). Energeiai, wie zum Beispiel Wissen, sind Zustände. Außer Zuständen wie Wissen gibt es sekundäre energeiai oder Wirklichkeiten, die der Ausübung dieser Zustände entsprechen. So ergibt sich demnach eine triadische Sequenz: Ich lerne Griechisch, ich beherrsche Griechisch, ich spreche Griechisch. Sekundäre Wirklichkeiten haben einige der Merkmale von Bewegungen und einige der Merkmale von Aktivitäten: Griechisch sprechen ist keine unvollendete Bewegung auf einen Endzustand hin, wie dies über das Lernen des Griechischen gesagt werden kann. Andererseits kann es auf eine Weise unterbrochen werden, auf die die Kenntnis des Griechischen nicht unterbrochen werden kann. Man kann Aristoteles’ Klassifikationen als eine Untersuchung dessen betrachten, was Grammatiker als die Aspekte des Verbs bezeichnen, die – im Griechischen häufiger als im Deutschen – oft mit der Zeitstufe des Verbs vermischt werden. Wir verwenden nach wie vor Aristoteles’ Terminologie, um beispielsweise zwischen dem Imperfekt (das uns sagt, was geschehen ist) und dem Perfekt (das uns sagt, was getan worden ist) zu unterscheiden. Aristoteles’ Behandlung der Zeitstufen sind wir bereits

Aristoteles’ Zeitauffassung

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in Kapitel 3 begegnet, als wir uns ansahen, wie er in De Interpretatione mit Sätzen in den Vergangenheitsformen und im Futur umgeht. Wir wollen uns daher im Folgenden Aristoteles’ formale Behandlung der Zeit in der Physik genauer ansehen (Ph. 4. 10–14).

Aristoteles’ Zeitauffassung Für Aristoteles sind Ausdehnung, Bewegung und Zeit drei grundlegende Kontinua, zwischen denen eine enge und geordnete Beziehung besteht. Sein Musterbeispiel für Veränderung ist Ortsveränderung, die Bewegung über eine bestimmte Distanz: Sie erhält ihre Kontinuität vom Kontinuum der räumlichen Ausdehnung. Die Zeit leitet ihre Kontinuität von der Kontinuität der Bewegung ab (Ph. 4. 11. 219a10–14). Aristoteles’ Zeitauffassung ist daher von seiner Theorie der Bewegung abhängig. Seine formale Definition der Zeit ist folgende: Zeit ist die Anzahl für die Bewegung bezüglich des Früheren und Späteren (Ph. 4. 11. 219b1). Bewegung und Zeit stehen offensichtlich in einem engen Verhältnis zueinander. Doch lässt sich die Priorität, die Aristoteles der Bewegung auf diese Weise einräumt, nicht infrage stellen? Bewegung und Veränderungen jeglicher Art sind ohne Zeit klarerweise unmöglich. Wenn X sich von A nach B bewegen soll, muss es sich zunächst bei A und dann bei B befinden, und bei jeder Änderung muss es einen früheren und einen späteren Zustand geben. Doch ist Zeit ohne Bewegung unmöglich? Können wir uns nicht ein statisches oder sogar leeres Universum vorstellen, das während eines längeren oder kürzeren Zeitraums existiert? Aristoteles war der Auffassung, dies sei unmöglich: Es gebe keine Zeit ohne Bewegung (Ph. 4. 11. 219a1). Nicht, dass Zeit und Bewegung identisch sind: Bewegungen sind Bewegungen bestimmter Dinge, und verschiedene Arten von Veränderungen sind Bewegungen verschiedener Art, doch die Zeit ist universal und gleichförmig. Ferner können Bewegungen schneller oder langsamer erfolgen, nicht jedoch die Zeit. Tatsächlich ist es die benötigte Zeit, die die Geschwindigkeit der Bewegungen festlegt (Ph. 4. 10. 218b9; 14. 223b4). Gleichwohl sagt Aristoteles: „Sind wir uns der Bewegung und der Zeit zugleich bewusst“ (Ph. 4. 11. 219a4). Wir messen, wie viel Zeit verstrichen ist, indem wir den Fortgang einer Veränderung beobachten. Heutzutage stellen wir fest, wie spät es ist, indem wir nachschauen, an welchem Punkt sich die Zeiger einer Uhr auf ihrer Reise um ein Ziffernblatt befinden. Entsprechendes gilt für die anderen Veränderungen, die in Sand- oder Wasseruhren zur Zeitmessung verwendet werden. Noch wichtiger war für Aristoteles, dass wir den Verlauf der Tage, Monate und Jahre anhand der Bewegung der Sonne, des Mondes und der Sterne auf ihrer Reise am Firmament beobachten. Der Teil einer Reise, der ihrem Anfangspunkt näher liegt, liegt zeitlich vor demjenigen Teil, der sich näher bei ihrem Endpunkt findet. Dieses räumliche Verhältnis der geringeren oder größeren Entfernung liegt der Beziehung des Früher und Später

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einer Bewegung zugrunde, und dies ist dasjenige „Früher“ und „Später“, das in Aristoteles’ Definition der Zeit vorkommt. Es ist das Früher und Später der Bewegung, aus dem sich das Früher und Später der Zeit ergibt. Daher ist die zeitliche Ordnung nach Aristoteles letztlich von der räumlichen Anordnung von Bewegungsabschnitten abgeleitet. Wenn Aristoteles sagt, die Zeit sei die Anzahl der Bewegung, so hat er dabei zweifellos diese Anordnung vor Augen: Wir können Teile der Bewegung als ersten, zweiten, dritten Teil usw. auflisten. Doch er mag hierbei nicht nur an Ordinal- sondern auch an Kardinalzahlen denken, da die Zeit sowohl ein metrisches als auch ein topologisches Element hat. Wir können häufig nicht nur angeben, dass sich A vor B ereignete, sondern auch, wie lange vorher. Dies scheint gemeint zu sein, wenn Aristoteles erklärt, dass er, wenn er von „Anzahl“ spricht, dasjenige meint, was gezählt wird, nicht die Einheit des Zählens (Ph. 4. 11. 219a9). Um dies zu verdeutlichen, hätte er seiner Definition hinzufügen können, dass die Zeit nicht nur die Anzahl bezüglich des Früher und Später, sondern auch in Bezug auf schneller und langsamer ist. Als Beweis für die Universalität der Zeit führt er an, dass jegliche Änderung unter Bezug auf Geschwindigkeitsbegriffe gemessen werden kann (Ph. 4. 13. 222b30). Welches ist die Beziehung zwischen der Zeit, wie sie in Aristoteles’ Definition (der Reihe des Früheren und Späteren) vorkommt, und der Zeit, die in den verschiedenen Zeitstufen (Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft) ausgedrückt wird? Aristoteles verbindet diese beiden Zeitbegriffe mithilfe seines Begriffs des „Jetzt“ (to nun). „Früher und Später sind Angaben des Abstands vom Jetztpunkt, der Jetztpunkt aber ist die Grenze zwischen der Vergangenheit und der Zukunft […]. Der Ausdruck ‚Früher‘ hat übrigens für die Vergangenheit eine Bedeutung, die derjenigen, die er für die Zukunft hat, entgegengesetzt ist. In der Vergangenheit heißt ‚Früher‘ das vom Jetztpunkt weiter Entfernte, ‚später‘ das dem Jetztpunkt Näherliegende; in der Zukunft aber ist das Näherliegende das Frühere, das Spätere aber ist das Fernere.“ (Ph. 4. 14. 223a5–14) 5

Aristoteles spricht häufig über das „Jetzt“. Er scheint es für zwei unterschiedliche Zwecke zu verwenden: einmal zur Bezeichnung der Gegenwart, den natürlichsten Zweck; aber auch für einen anderen, technischeren Zweck, wobei es dann soviel wie „Augenblick“ oder „Moment“ bedeutet. Im zweiten Sinn kann man von früheren oder späteren Jetztpunkten reden (Ph. 4. 10. 218b24; 11. 220a21). In der soeben zitierten Passage scheint er diese beiden Verwendungen zu vermischen, um damit „den gegenwärtigen Jetztpunkt“ zu bezeichnen. Dies ist bedauerlich, denn der Begriff des gegenwärtigen Jetztpunktes ist inkohärent. „Gegenwärtig“ ist ein Adjektiv, das nur

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Zitiert nach: Aristoteles, Physikvorlesung, übersetzt von H. Wagner, herausgegeben von H. Flashar (Darmstadt: Wiss. Buchgesellschaft, 1979), 84 f.

Aristoteles’ Zeitauffassung

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für Zeiträume verwendet werden kann, wie zum Beispiel das gegenwärtige Jahr oder das gegenwärtige Jahrhundert. Momente sind die Grenzen von Zeiträumen, und zukünftige Zeiträume werden von zukünftigen Momenten und vergangene Zeiträume von vergangenen Momenten begrenzt. Doch gegenwärtige Zeiträume werden nicht von gegenwärtigen Momenten, sondern von zwei Momenten umschlossen, von denen einer in der Vergangenheit und der andere in der Zukunft liegt. Es gibt keine momentane Gegenwart. 6 Die These, dass es sich bei der Gegenwart um einen Augenblick handelt, passt schlecht zu einer anderen These, der Aristoteles große Bedeutung beimisst, nämlich seiner Behauptung, dass es in einem Augenblick keine Bewegung geben kann. Wenn das Jetzt ein Augenblick ist und es in einem Augenblick keine Bewegung geben kann: Dann befindet sich jetzt nichts in Bewegung. Das Argument kann für jede beliebige Zeit wiederholt werden, sodass es scheint, dass Bewegung für immer unwirklich sein muss. Doch wie immer es um die Verträglichkeit beider Thesen stehen mag: Was sollen wir zu der zweiten These, als einer eigenständigen und von der ersten unabhängigen Behauptung, sagen? Der These, dass sich in einem einzigen Augenblick kein Objekt bewegen kann, lässt sich ohne Weiteres zustimmen. Zwischen t und t kann ebenso wenig eine Bewegung erfolgen wie von A nach A. Doch daraus folgt nicht, dass sich kein Objekt zu einem bestimmten Zeitpunkt in Bewegung befinden kann, ebenso wenig wie die Behauptung, dass sich kein Objekt an einem bestimmten Punkt in Bewegung befinden kann. Aristoteles begeht jedoch nicht nur eine ungültige Schlussfolgerung von der Annahme einer griechischen Gegenwartsform zu einer anderen. Wie wir bereits gesehen haben, ist er sehr wohl in der Lage, derartige semantische Klippen sicher zu umschiffen. Er legt, basierend auf der Prämisse, der wir bereits begegnet sind, ein Argument für eine umfassendere Schlussfolgerung vor: dass alles, was sich in Bewegung befindet, sich bereits in Bewegung befand. Die korrekte Schlussfolgerung aus diesem Argument lautet jedoch nicht, dass sich in einem einzigen Moment nichts in Bewegung befinden kann, sondern dass sich nichts nur für einen einzigen Moment bewegen kann. Die Wahrheit, die sich hinter Aristoteles’ Behauptung verbirgt, ist folgende: Wir können nur davon sprechen, dass sich X zum Zeitpunkt t bewegt, wenn t ein Moment in einer Zeitspanne, von t’ bis t’’, ist, während der sich X in Bewegung befindet, ebenso wie wir nur dann behaupten, dass sich X am Punkt p in Bewegung befindet, wenn p ein Punkt auf einer Strecke zwischen p’ und p’’ ist, entlang der sich X bewegt. Der Begriff der Geschwindigkeit an einem bestimmten Punkt ist dann eine Ableitung (eine einfache oder komplexe, je nachdem, ob die Bewegung gleichmäßig erfolgt 6

G. E. L. Owen („Aristotle on Time“, in: J. Barnes, M. Schofield, and R. Sorabji (eds.), Articles on Aristotle, iii: Metaphysics (London: Duckworth, 1975), 151) vermutet, dass diese Verwirrung auf Platons Parmenides (152a–e) zurückgeht und erst von Chrysippos aufgeklärt wurde.

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5 Wie Dinge geschehen: Physik

oder nicht) aus der Länge der Zeit, t’ bis t’’, die X benötigt, um von p’ nach p’’ zu gelangen.

Aristoteles über Kausalität und Veränderung In seinem philosophischen Lexikon in der Metaphysik D und ebenso im dritten Kapitel des zweiten Buches der Physik (Ph. 194b16–195b30) unterscheidet Aristoteles vier Ursachentypen oder Erklärungen. Erstens, sagt er, gebe es dasjenige, von dem und aus dem ein Ding gemacht sei, wie beispielsweise die Bronze einer Statue und die Buchstaben einer Silbe. Dies wird als die Stoffursache bezeichnet. Zweitens gebe es die Form und Struktur eines Dings, die in seiner Definition ausgedrückt werden kann. Sein Beispiel ist das Längenverhältnis von zwei Saiten einer Leier, das der Grund dafür ist, dass der eine Ton eine Oktave höher liegt als der andere. Der dritte Ursachentype sei der Ursprung einer Änderung oder die Ursache der Ruhelage von etwas. Aristoteles’ Nachfolger haben dies häufig als die Wirkursache bezeichnet. Als Beispiele führt Aristoteles eine Person an, die zu einem Entschluss gelangt, einen Vater, der ein Kind zeugt, einen Bildhauer, der eine Statue anfertigt, einen Arzt, der einen Patienten heilt und generell jeden, der ein Ding herstellt oder verändert. Der vierte und letzte Ursachentyp sei der Zweck oder das Ziel, das, um dessen willen etwas getan werde. Dies sei die Art der Erklärung, die wir jemandem geben, der uns fragt, warum wir einen Spaziergang machen, indem wir antworten: „Um gesund zu bleiben“. Dieser letzte Ursachentyp wurde als „Zweckursache“ bezeichnet. In der modernen Philosophie wird Kausalität normalerweise als eine Beziehung zwischen zwei Ereignissen angesehen, von denen eines die Ursache und das andere die Wirkung ist. Offensichtlich hat Aristoteles ein anderes Verständnis von Kausalität. Er spricht zwar gelegentlich davon, dass Ereignisse andere Ereignisse verursachen (die Expedition der Athener nach Sardis führte zum Krieg mit Persien; Zweite Analytik 2. 11. 94a36), doch bei keiner der Ursachen in dieser kanonischen Liste handelt es sich um ein episodenhaftes Geschehen. Die meisten von ihnen sind substanzielle Einheiten, wie beispielsweise menschliche Wesen oder Bronzestücke. Einige sind dauerhafte Zustände, wie zum Beispiel das Längenverhältnis zwischen den Saiten der Leier oder die Fertigkeit des Bildhauers (der die unmittelbarere Ursache der Statue ist; Ph. 2. 3. 195a6). Auch die von Aristoteles beschriebenen Wirkungen können verschiedenen Kategorien angehören: Zuständen, Handlungen und Endergebnissen oder Produkten. Als Wirkungen des dritten Ursachentyps, der Wirkursache, werden Substanzen (ein Kind), Artefakte (eine Statue) und Ereignisse (die Heilung eines Patienten) angegeben. Doch es würde Aristoteles’ Begriff keine Gewalt antun, wenn man sagte, dass dasjenige, was sich im Fall der Wirkursache ergibt, immer ein Ereignis ist: entweder eine Änderung von etwas (die Genesung des Patienten) oder die Entstehung von etwas (die Zeugung eines Kindes, die Herstellung einer Statue). Der Unterschied zwischen dem aristotelischen und dem modernen Begriff der

Aristoteles über Kausalität und Veränderung

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Ursache ist so groß, dass einige Forscher die herkömmliche Übersetzung von aitia = Ursache ablehnen. Sie ziehen andere Wörter vor, wie zum Beispiel „Erklärung“, oder sie sprechen von den vier Gründen statt von vier Ursachen.7 Aristoteles selbst sagt uns, dass es sich um vier verschiedene Arten einer Antwort auf die Frage „Warum?“ handelt. „Entweder nämlich führt die Warumfrage abschließend (a) auf die wesentliche Bestimmtheit zurück, nämlich bei den unveränderlichen Gegenständen – z. B. in den reinen Wissenschaften; hier wird zuletzt auf die Definition zurückgegangen, des Begriffs der Geraden oder des Kommensurablen oder eines Ähnlichen –, oder aber (b) auf den Ausgangspunkt, der die Veränderung in Bewegung setzte – etwa in der Frage: Warum kam es zum Krieg? Weil ein Raubüberfall geschehen war –, oder (c) auf den beabsichtigten Zweck – um Macht zu gewinnen –, oder aber (d), bei den Prozessen des Werdens, auf den Stoff.“ (Ph. 2. 7. 198a14–21) 8

Hier begegnen wir denselben vier Ursachen, jedoch in der Reihenfolge: Formal-, Wirk-, End- und Stoffursache. Bei der Aufzählung seiner vier Ursachen führt Aristoteles für die Formursachen mathematische Beispiel an. Doch die Formen, deren Kausalität ihn am meisten interessiert, sind die Formen oder Naturen lebender Wesen: Sie sind es, die die interne Erklärung für den Lebenszyklus und die charakteristischen Aktivitäten von Pflanzen und Tieren darstellen. In diesen Fällen fallen die Form- und die Endursache zusammen: Die reife Aktualisierung der natürlichen Form ist der Zweck, auf den die Aktivitäten des Organismus gerichtet sind. Doch er war ebenso an der Erklärung der Verwandlungen von nichtlebenden Substanzen interessiert, als deren Beispiel er den Übergang von Wasser in Dampf anführt. In diesen Fällen verwendet er die FormStoffursachen als Erklärungsprinzipien. Veränderung kann für Aristoteles in vielen verschiedenen Kategorien auftreten: So ist Wachstum zum Beispiel eine Veränderung in der Kategorie Quantität, und eine Änderung der Qualität (z. B. der Farbe) wird als Wandlung bezeichnet (GC 1. 5. 320a13). Räumliche Bewegung ist, wie wir bereits gesehen haben, eine Veränderung in der Kategorie des Ortes. Doch Veränderung in der Kategorie der Substanz, bei der ein Wechsel von einer Art von Ding zu einem anderen stattfindet, war eine sehr besondere Art von Veränderung. Wenn eine Substanz eine Veränderung hinsichtlich ihrer Quantität oder Qualität erfährt, bleibt dieselbe Substanz, samt ihrer substanziellen Form, während des gesamten Vorgangs erhalten. Doch wenn eine Art

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Anm. d. Übers.: Der Autor verwendet hier ein Wortspiel, das sich im Deutschen nicht wiedergeben lässt: „the four becauses rather than the four causes“. Zitiert in Anlehnung an: Aristoteles, Physikvorlesung, übersetzt von H. Wagner, herausgegeben von H. Flashar (Darmstadt: Wiss. Buchgesellschaft, 1979), 84 f.

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5 Wie Dinge geschehen: Physik

von Ding sich in ein anderes verwandelt: Bleibt auch dann etwas während dieses Vorgangs erhalten? Aristoteles’ Antwort lautet: die Materie. Es handelt sich um Veränderung, „wenn bei Permanenz des Zugrundeliegenden als ein wahrnehmbares Ding ein Wandel in seinen Beschaffenheiten vor sich geht: […] wie z. B. der Körper gesund und wiederum krank wird, während er doch als derselbe weiterbesteht, und das Erz rund, bald aber auch eckig wird, während es doch dasselbe ist. Wenn aber etwas als ein Ganzes sich wandelt ohne Fortbestehen irgendeines Wahrnehmbaren als dasselbe Zugrundeliegende – wenn z. B. aus dem Keim insgesamt Blut oder aus Wasser Luft oder aus Luft zur Gänze Wasser wird – dann ist so etwas bereits ein Werden, vom anderen hingegen Vergehen […] Materie aber ist vor allem und hauptsächlich dasjenige Zugrundeliegende, das aufnahmefähig für Werden und Vergehen ist.“ (GC 1.4. 319b8–320a2) 9

Was ist das Wesen dieser Materie, die Änderungen der Substanz zugrunde liegt? Aristoteles erklärt die Beziehung zwischen Materie und Form bei Lebewesen (z. B. bei der Entstehung eines Fötus, wie er es oben gemäß der im Altertum herrschenden Auffassung beschreibt) in Analogie zu von Menschen geschaffenen Produkten. „So wie sich die Bronze zum Standbild, das Holz zum Bettgestell, […] und das noch Gestaltlose zum geformten Objekt verhält, so verhält sich diese zugrunde liegende Wesenheit zur Substanz“ (Ph. 1. 7. 191a9–12). Die Analogie ist nicht unmittelbar einsichtig. Was ist die zugrunde liegende Wesenheit, die während der Änderung der Substanz auf dieselbe Weise die gleiche bleibt, wie Holz Holz bleibt, bevor und nachdem es zu einem Bett verarbeitet geworden ist? Bei der Formänderung von Holz oder Bronze handelt es sich doch sicherlich um zufällige, nicht um substanzielle Veränderungen. Die Sache wird nicht unbedingt klarer, wenn Aristoteles uns sagt: „Ich nenne aber Materie das, was an sich weder als etwas noch als ein irgendwie großes noch durch irgendein anderes der Prädikate bezeichnet wird, durch welche das Seiende bestimmt ist. Es gibt nämlich etwas, von dem ein jedes dieser Prädikate ausgesagt wird und dessen Sein verschieden ist von dem eines jeden der Prädikate. Denn die anderen Prädikate werden von der Wesenheit ausgesagt, diese aber von der Materie. Daher denn das Letzte an sich weder ein bestimmtes Was, noch ein Quantum noch sonst irgend etwas ist.“ (Metaph. Z 3. 1029a21–25)

Dasjenige, was von keiner bestimmten Art oder Größe oder Gestalt ist, und von dem überhaupt nichts ausgesagt werden kann, scheint etwas höchst Mysteriöses zu sein.

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Zitiert nach: Aristoteles, Über Werden und Vergehen, übersetzt und mit einer Einleitung und Anmerkungen herausgegeben von T. Buchheim (Hamburg: Felix Meiner Verlag, 2011), 35 f.

Die Kausalitätsauffassung der Stoiker

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Doch davon will Aristoteles uns nicht überzeugen. Sein allem zugrunde liegender Urstoff (den er manchmal auch als Erste Materie bezeichnet) weist an und für sich keinerlei Artbestimmtheit auf. Er hat an sich keine bestimmte Größe, da er wachsen oder schrumpfen kann; er ist für sich kein Wasser und kein Dampf, weil er beides im Wechsel ist. Dies bedeutet nicht, dass es einen Zeitpunkt gibt, zu dem er keine bestimmte Größe hat, oder irgendeine Zeit, zu der er weder Wasser noch Dampf noch sonst irgendetwas ist. Doch wie soll ein Stück Materie dann charakterisiert werden? Nun, im Alltag sind wir mit der Vorstellung vertraut, dass ein und dieselbe Stoffansammlung zuerst eine bestimmte Art von Ding, und später eine andere Art von Ding ausmacht. Wenn man eine Flasche, die einen halben Liter Sahne enthält, eine Zeit lang kräftig schüttelt, wird man feststellen, dass sie anschließend keine Sahne, sondern Butter enthält. Der Stoff, der aus der Flasche kommt, ist derselbe, der in die Flasche gefüllt wurde: Nichts wurde ihm hinzugefügt oder entzogen. Doch was aus der Flasche kommt, ist von anderer Art als dasjenige, was hineingefüllt wurde. Der aristotelische Begriff der Materie ist aus solchen und ähnlichen Fällen abgeleitet.

Die Kausalitätsauffassung der Stoiker Die Kausalitätsauffassung der Stoiker ist sowohl einfacher als auch komplexer als diejenige von Aristoteles. Sie ist einfacher, sofern die Stoiker die materialen, formalen und Endursachen nicht zu den Ursachen im eigentlichen Sinne zählen. Sie machen sich über das „Ursachengedränge“ (Seneca, Ep. 65. 4) bei Aristoteles’ Nachfolgern lustig. Ihre Behandlung der Wirkursachen ist jedoch differenzierter, insofern sie für die Beschreibung von Kausalbeziehungen eine kanonische Form einführen. Außerdem erarbeiten sie eine reiche Klassifikation der verschiedenen Ursachentypen. Und was am wichtigsten ist: Im Gegensatz zu Aristoteles stellen sie ein allgemeines Kausalgesetz auf, das formuliert und verteidigt werden muss. Üblicherweise analysieren die Stoiker die Kausalbeziehung auf folgende Weise: A bewirkt, dass B F ist. A, die Ursache, muss ein Körper sein, ebenso wie B; doch die Wirkung, dass B F ist, ist kein Körper, sondern eine abstrakte Entität, ein Lekton. Sextus Empiricus erklärt dies folgendermaßen. „Die Stoiker sagen, jede Ursache erweise sich qua Körper für einen Körper als Ursache von etwas Unkörperlichem. Z. B.: erweist sich das Skalpell (qua Körper) für das Fleisch (für einen Körper) als Ursache vom Prädikat geschnitten werden (von Unkörperlichem), ferner das Feuer (qua Körper) für das Holz (für einen Körper) als Ursache vom Prädikat brennen (von Unkörperlichem).“ (M. 9. 211)

Obwohl A und B beides materielle Entitäten sind, verwendeten die Stoiker den Ausdruck „Materie“ besonders zur Bezeichnung von B, dem passiven Element im Kausal-

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5 Wie Dinge geschehen: Physik

verhältnis (Seneca, Ep. 65. 2 LS 55E). In der stoisch verstandenen Kausalbeziehung haben wir es mit einer Triade aus Ursache, Materie und Wirkung zu tun. Die Stoiker führten die Begriffe der gemeinsamen Ursachen (sunaitia) und der mitwirkenden Ursachen (sunerga) ein. Zwei Ochsen sind die gemeinsamen Ursachen der Bewegung des Pfluges, wenn keiner von beiden ihn allein ziehen könnte. Ich bin eine mitwirkende Ursache, wenn ich dir helfe, eine Last zu heben, die du zur Not alleine heben könntest (LS 55I). Die Anerkennung gemeinsamer und mitwirkender Ursachen war eine wichtige Einsicht, denn sie zeigt, dass es häufig irreführend ist, von der Ursache eines bestimmten Zustands oder Ereignisses zu reden. Ursachen bilden keine Kette, sondern ein Geflecht. Für die Stoiker erfordern nicht nur Veränderungen und der Beginn der Existenz von etwas Ursachen: Es gibt auch erhaltende Ursachen (aitiai synektikai), die die fortgesetzte Existenz von Dingen bewirken. So werden beispielsweise Körper jeglicher Art durch eine aktive und dünne Flüssigkeit, das sogenannte pneuma – wörtlich „Atem“ – zusammengehalten. Es ist für den Zusammenhalt des gesamten Universums verantwortlich. Was lebende Körper lebendig hält, ist die Seele, die ihre erhaltende Ursache ist. Es ist ein wesentliches Merkmal solcher Ursachen, dass ihre Wirkungen, wenn sie nicht mehr als Ursache wirken, nicht länger bestehen. Zenon hat diese Eigenschaft sogar als ein Merkmal aller Ursachen behauptet (LS 55A), doch andere Stoiker scheinen eine weitere Kategorie vorhergehender (prokatarktikai) Ursachen zugelassen zu haben, deren Wirkung fortbesteht, nachdem sie selbst entfernt wurden (LS 55I). Es scheint offensichtlich genug, dass ein Haus fortbestehen kann, lange nachdem der Baumeister seine Arbeit beendet hat. Was Zenon hierbei im Sinn gehabt zu haben scheint, waren erhaltende Ursachen, die etwas anderes als die Existenz oder das Leben von etwas erhalten. Beispielsweise ist es Klugheit, die bewirkt, dass ein Mann klug ist, und er ist nur so lange klug, wie seine Klugheit fortbesteht. Wir müssen uns in diesem Zusammenhang daran erinnern, dass die Klugheit für stoische Materialisten ein physischer Bestandteil einer Person war (LS 55A). Wie die Existenz vorausgehender Ursachen mit Zenons Theorie der erhaltenden Ursachen in Einklang zu bringen ist, scheint man sich folgendermaßen gedacht zu haben: Eine vorausgehende Ursache bewirkt, dass ein Objekt über eine interne Eigenschaft verfügt, die selbst eine erhaltende Ursache ist, die gleichzeitig zur erklärenden Wirkung existiert. Mit Sicherheit war dies die Form der Theorie, mit der man ärztliches Handeln rechtfertigte: Wenn ein Patient sich erkältet, ist die Kälte der Luft eine vorausgehende Ursache, und das Fieber des Patienten ist der interne, anhaltende Zustand, der die erhaltende Ursache seiner Symptome ist. 10 Zu Chrysippos’ bekannteren Beispielen gehören eine Gartenwalze und ein Spielzeugkreisel. Der Kreisel bewegt sich nur, wenn das Kind ihn mit der Peitsche antreibt:

10 Siehe die Texte in R. J. Hankinson in CHHP, 487–91.

Kausalität und Determinismus

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Wenn er jedoch in Bewegung versetzt wurde, dreht er sich selbstständig weiter „nach seiner eigenen Kraft und Natur“ (Cicero, Fat. 43). Der Peitschenschlag ist die vorausgehende Ursache, doch die interne Kraft des Kreisels die Hauptursache. Auch die Walze bewegt sich, wenn sie angeschoben wurde, von selbst weiter. Anhand dieser Beispiele versuchte man, die stoische Theorie der Kausalität mit der Möglichkeit der moralischen Verantwortung des Menschen zu vereinbaren.

Kausalität und Determinismus Die Stoiker glaubten nicht nur an ein universales Kausalprinzip, also daran, dass alles eine Ursache hat, sondern auch an einen allgemeinen kausalen Determinismus, d. h., dass alles eine Ursache hat, durch die es determiniert wird. Alexander berichtet Folgendes über sie: „Denn nichts in der Welt sei oder werde ohne Ursache, weil nichts in ihr von allem zuvor Gewordenen abgelöst und getrennt sei. Denn die Welt würde auseinandergerissen und geteilt und bliebe nicht mehr immerwährend eine einzige, nach einer Ordnung und Organisation regiert, wenn irgendeine Bewegung ohne Ursache eingeführt würde; diese würde eingeführt, wenn nicht alles Seiende und Werdende vorher gewordene Ursachen hätte, denen es aus Notwendigkeit nachfolgte.“ (Alexander von Aphrodisias, Fat. 191. 30 LS 55N) 11

Wir sollten beachten, wie extrem die Position der Stoiker ist. Sie behaupten nicht nur, dass jeder Anfang der Existenz von etwas eine Ursache hat, sondern dass alles, was geschieht, eine Ursache hat. Weiterhin behaupten sie, dass jede Ursache ihre Wirkung mit Notwendigkeit herbeiführt: Wenn die Ursache gegeben ist, muss die Wirkung eintreten. Sie behaupten daher nicht nur ein universales Kausalgesetz, sondern auch einen durchgehenden Determinismus. Diese Lehre, die in der Folge ungeheuer einflussreich sein sollte, wurde erstmals von den Stoikern aufgestellt. Zweifellos ist sie im antiken Atomismus angelegt (Cicero, Fat. 23), doch wird sie von Demokrit nicht annähernd so klar und deutlich ausgesprochen, wie von den Stoikern. Keine der beiden Behauptungen über die Kausalität wurde von Aristoteles akzeptiert, und die Epikureer, obwohl sie ein universales Kausalprinzip annahmen, gingen nicht von einer allgemeinen Notwendigkeit aus. Die einheitliche, sukzessive Kette notwendiger Ursachen, der nicht zu entkommen ist, wurde von den Stoikern und ihren Kritikern Schicksal genannt (LS 55F). Die Lehre vom Schicksal wurde sogleich von mehreren Seiten philosophischer Kritik un-

11 Zitiert nach: Alexander von Aphrodisias, Über das Schicksal, übersetzt und kommentiert von A. Zierl (Berlin: Akademie Verlag, 1995), 95.

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5 Wie Dinge geschehen: Physik

terworfen, und Ciceros Schrift Über das Schicksal gibt eine lebhafte Darstellung der Argumente, die dagegen vorgebracht wurden, sowie der Antworten der Stoiker auf diese Einwände. Ein berühmtes Argument wurde das faule Argument (argos logos) genannt. Es sollte damit gezeigt werden, dass es – wenn der Determinismus wahr wäre – sinnlos sei, irgendetwas zu tun. Das Argument basiert auf einem Gedankenexperiment, in dem jemand einem stoischen Patienten auf dem Krankenbett Folgendes sagt: „Wenn es vom Schicksal so bestimmt ist, dass du dich von dieser Krankheit erholst, dann wirst du genesen, unabhängig davon, ob du einen Arzt rufst oder nicht. Desgleichen wirst du dich von dieser Krankheit nicht erholen, wenn es vom Schicksal so bestimmt es. Du wirst dann trotz der Hilfe eines Arztes nicht genesen. Eines von beidem ist dein Schicksal: Es hat also keinen Zweck, einen Arzt herbeizurufen.“ (Fat. 29 LS 55O, S) Ein Argument dieser Art kann offensichtlich auf jede normale Handlung des Lebens angewendet werden. Ein anderer Quellentext stellt sich vor, wie man das Argument dazu verwenden kann, einen Boxer davon zu überzeugen, dass es zwecklos ist, wenn er seinen Schutz anlegt. Chrysippos antwortet auf dieses Argument durch die Unterscheidung von einfachen und komplexen Tatsachen. „Sokrates wird an dem und dem Tag sterben“ mag wahr sein, unabhängig von allem, was er tut; aber „Laios zeugt Ödipus“ kann nur wahr sein, wenn Laios mit seiner Frau schläft. Wenn die Heilung des Patienten eine komplexe Tatsache ist, die mit dem Herbeirufen eines Arztes verbunden ist, dann wird das Herbeirufen des Arztes ebenso vom Schicksal bestimmt sein wie der glückliche Ausgang der Krankheit. Wenn die Geschichte der Welt ein einziges Geflecht wechselseitig verbundener Ereignisse ist, dann ist nicht klar, inwieweit Chrysippos berechtigt ist, die Unterscheidung zwischen einfachen und komplexen Tatsachen vorzunehmen: Vielleicht ist Sokrates’ Tod vom Schicksal mit mehreren seiner Handlungen kodeterminiert (um Chrysippos’ Ausdruck zu verwenden), zum Beispiel mit seinem Verhalten während des gegen ihn angestrengten Prozesses. Vielleicht ist sogar alles mit allem anderen kodeterminiert. Wie dem auch sei, Chrysippos ist berechtigt, das faule Argument zurückzuweisen. Betrachten wir die folgenden Aussagen: (1) Wenn ich einen Arzt herbeirufe, werde ich wieder gesund. (2) Wenn ich keinen Arzt herbeirufe, werde ich wieder gesund. Wenn es vom Schicksal vorherbestimmt ist, dass ich wieder gesund werde, ist der Folgesatz beider Aussagen wahr, und wenn wir jede dieser Aussagen wahrheitsfunktional interpretieren, nach der Art Philons, ist jeder von ihnen unter dieser Voraussetzung wahr. In diesem Sinne wird es wahr sein, dass ich wieder gesund werde, unabhängig davon, ob ich einen Arzt herbeirufe oder nicht. Doch da diese Aussagen für gewöhnlich zur Bestimmung der Handlungsweise verwendet werden, dürfen sie nicht einfach wahrheitsfunktional, sondern müssen sie auch so verstanden werden, dass sie die entsprechenden kontrafaktischen Schlüsse untermauern:

Determinismus und Freiheit

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(3) Wenn ich einen Arzt herbeiriefe, würde ich wieder gesund werden. (4) Wenn ich keinen Arzt herbeiriefe, würde ich wieder gesund werden. Doch ein Stoiker hat keinen Grund (4) zu akzeptieren.12

Determinismus und Freiheit Ernster zu nehmen war das Argument, dass menschliche Verantwortung verschwindet und Lob und Tadel gegenstandslos werden, wenn der Determinismus wahr ist. Dieses Argument wurde von den Epikureern und den Akademikern vorgebracht. Der Notwendigkeit ist niemand verantwortlich, sagte Epikur, und was von uns selbst abhängt, was Lob und sein Gegenteil auf sich zieht, muss von der Herrschaft des Schicksals unabhängig sein (LS 20A). Um diese Freiheit mit ihrem eigenen atomistischen Systemen zusammendenken zu können, stellten die Epikureer die These auf, dass die Atome manchmal spontan und unvorhersehbar von ihren natürlichen Bewegungen abweichen. Lukrez beschreibt dies in den folgenden Zeilen: „doch daß den Geist in uns selber Nicht ein innerer Zwang bei allen Geschäften behindert, […] Dies ist der Lotabweichung der Urelemente zu danken, Die, so klein sie auch ist, durch den Ort und die Zeit nicht beschränkt wird.“ 13

Weder in der Antike noch in der Neuzeit war es klar, wie solch ein zufälliger Quantensprung eine hinreichende Bedingung für menschliche Freiheit sein sollte, und nicht nur Stoiker, sondern auch Akademiker hielten diese Abweichung nicht nur für unzureichend, sondern auch für nicht erforderlich. Karneades, so berichtet Cicero, bewies mehr Scharfsinn, weil er „nachzuweisen versuchte, daß die Epikureer ihre Stellung auch ohne diese fragwürdige Bahnabweichung (der Atome) verteidigen könnten. Da sie nämlich lehrten, es könne eine Art von willentlicher Seelenbewegung geben, wäre es besser gewesen, diese Lehre zu verteidigen als eine Bahnabweichung der Atome einzuführen, zumal sie keine Ursache dafür benennen könnten: Wenn sie jedoch jene willentliche Seelenbewegung verteidigten, könnten sie leicht gegen Chrysipp bestehen. Denn wenn sie einräumten, es gebe keine ursachenlose Bewegung, bräuchten sie noch lange nicht zugestehen, daß

12 Das faule Argument taucht im Laufe der Jahrhunderte in vielen verschiedenen Zusammenhängen auf, z. B. in John Miltons De Doctrina Christiana in einem Argument gegen die Prädestinationslehre Calvins. 13 Zitiert nach: Lukrez, De rerum natura, übersetzt von H. Diels (Düsseldorf: Artemis & Winkler, 1994).

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5 Wie Dinge geschehen: Physik

alles Geschehen auf Grund vorausgehender Ursachen erfolge: denn für den menschlichen Willen gebe es keine außerhalb seiner selbst liegenden vorausgehenden Ursachen.“ (Fat. 33) 14

Willkürliche Bewegungen liegen, ihrem eigentlichen Wesen nach, in unserer Macht und unterliegen unserer Kontrolle, und diese intrinsische Natur ist die Ursache willkürlicher Bewegungen. Karneades gibt hier den Epikureern eine Antwort auf Chrysippos. Von Chrysippos heißt es jedoch, er habe seine eigene Position auf eine Weise dargelegt, die derjenigen von Karneades sehr ähnlich ist. Wie ich bereits erwähnte, verwendete Chrysippos zur Erläuterung seiner Kausalitätsauffassung gern die Beispiele des Kreisels und der Gartenwalze, und zwar um für verantwortliches Handeln Platz zu schaffen. Die Zustimmung zu irgendeiner Aussage oder einem Vorschlag wird durch externe Reize ausgelöst, wie sich der Kreisel nur zu drehen beginnt, wenn ihn das Kind mit der Peitsche antreibt. Doch die eigentliche Zustimmung liegt in unserer Macht, und dies gibt der Verantwortung Raum, ohne die Macht des Schicksals zu brechen. „Denn wenn auch nur eine Folge ohne vorangehende Ursache einträte, wäre der Satz falsch, daß alles aufgrund des Fatums geschieht. Wenn aber wahrscheinlich ist, daß allem Geschehen eine Ursache vorangeht, was wird man dann als Argument dagegen vorbringen können, daß alles aufgrund des Fatums geschieht?“ (Cicero, Fat. 43) 15 Der Unterschied scheint folgender zu sein: Karneades bestreitet, dass willkürliche Handlungen eine externe, vorausgehende Ursache haben. Chrysippos behauptet, dass sie eine solche haben, doch scheint er zu leugnen, dass Handlungen von ihr mit Notwendigkeit herbeigeführt werden. Wie ist das mit dem universalen Determinismus zu vereinbaren, für den die Stoiker an anderen Stellen eintreten? Um diese Frage zu beantworten, müssen wir uns die Analogie mit dem Kreisel genau anschauen. Der Kreisel wird durch die Peitsche in Bewegung versetzt, doch bewegt er sich auf seine eigentümliche Weise (die sich beispielsweise von der einer Gartenwalze unterscheidet) aufgrund seiner Eigennatur. Auf ähnliche Weise erfolgt die Zustimmung des Geistes, wenn er einem Reiz begegnet, aufgrund seines eigenen Wesens. Die Zustimmung fällt unter die übergreifende Herrschaft des Schicksals, wenn sie der einzig mögliche Ausgang verbundener Ursachen ist: des äußeren Reizes und der eigenen Natur des Handelnden. Doch wird sie nicht durch die äußere, vorausgehende Ursache mit Notwendigkeit herbeigeführt, und in diesem Sinne kann Chrysippos bestreiten, dass sie notwendig ist. Viele Philosophen haben in späteren Jahrhunderten behauptet, dass ein Mensch für eine Handlung X nur dann verantwortlich sein kann, wenn es ihm oder ihr im Augenblick der Handlung möglich ist, X zu tun oder nicht zu tun. Einer solchen 14 Zitiert nach: Cicero, Über das Fatum, übersetzt und herausgegeben von K. Bayer (München: Heimeran-Verlag, 1963), 49. 15 Ebd.

Determinismus und Freiheit

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Freiheit, zwischen alternativen Optionen zu wählen, wurde später die technische Bezeichnung „Freiheit der Indifferenz“ gegeben. Chrysippos behauptet nicht, dass Freiheit der Indifferenz mit dem Schicksal vereinbar ist: Er ist eher an dem interessiert, was Philosophen später als „Freiheit der Spontaneität“ bezeichneten. Ein Handelnder hat Freiheit der Spontaneität, wenn er X tut, weil er X tun will. Nach Chrysippos verfügen Mensch über Freiheit der Spontaneität, denn sie tun X, weil sie X zustimmen, und sie stimmen X aufgrund ihres eigenen Wesens und Charakters zu. Die Verantwortung, die er verteidigt, ist die Autonomie des Handelnden, d. h., nicht nach äußeren Ursachen und Reizen handeln zu müssen. Seit den Zeiten Chrysippos’ bis in unsere Gegenwart haben Philosophen darüber gestritten, inwieweit es möglich ist, Determinismus und Freiheit zu vereinbaren. Einer der interessantesten antiken Beiträge zu dieser Debatte findet sich in Augustinus’ Schrift über die Freiheit des Willens, die er ein Jahr nach seiner Bekehrung zum Christentum verfasste. Da er seine Erörterung jedoch innerhalb eines ethischen und theologischen Kontextes durchführt, werden wir uns ihr erst in Kapitel 8 zuwenden.

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Was es gibt: Metaphysik

Das zentrale Thema der Metaphysik ist die Ontologie: die Untersuchung des Seins. Das Wort Ontologie leitet sich von dem griechischen Wort on (im plural onta) ab, dem Partizip Präsens von einai, dem Verb „sein“. Im Griechischen kann, wie im Deutschen, ein bestimmter Artikel vor ein Partizip gesetzt werden, um eine bestimmte Klasse von Personen oder Dingen zu bezeichnen, z. B. wenn wir von den Lebenden oder den Sterbenden sprechen und damit alle Menschen meinen, die jetzt leben, oder alle Menschen, die jetzt sterben. Der Gründer der Ontologie war Parmenides und er definierte ihr Thema, indem er den bestimmten Artikel to vor das Partizip on setzte. To on, wörtlich „das Seiende“, bedeutet nach Analogie „der Lebenden“: alles, was ist. Oft spricht man statt der Lehre vom Seienden auch einfach von der Seinslehre. Im Englischen hat das Wort „being“ (seiend) zwei Verwendungen in der Philosophie, von denen eine dem griechischen Partizip und die andere dem griechischen Infinitiv entspricht. Ein „being“ (Seiendes), so können wir bei Verwendung des Partizips sagen, ist ein Individuum, das existiert; während „being“ als nominalisiertes Verb („das Sein“) dasjenige ist, womit jedes individuelle Seiende sozusagen beschäftigt ist (eben zu sein). Die Gesamtheit alles Seiende entspricht dem Sein. Diese eher langweiligen grammatischen Unterscheidungen müssen getroffen werden, weil durch ihre Vernachlässigung selbst bedeutende Philosophen in Verwirrung gestürzt werden können und geführt worden sind. Um Parmenides verstehen zu können, muss eine weitere wichtige Unterscheidung vorgenommen werden: diejenige zwischen Sein und Existenz. „To be“ (sein) kann im Englisch, ebenso wie sein Gegenstück im Griechischen, sicherlich „existieren“ bedeuten. Wordsworth sagt uns beispielsweise „Sie lebte unbekannt, und wenige konnten wissen, wann Lucy aufhörte zu sein.“ 1 Im Englischen ist die Verwendung von „sein“ größtenteils poetisch, und es ist eine unnatürliche Redeweise, wenn man sagt: „Die Pyramiden sind, aber der Koloss von Rhodos ist nicht“, wenn man sagen möchte, dass die Pyramiden noch existieren, der Koloss von Rhodos jedoch nicht mehr. Im Altgriechischen wären entsprechende Aussagen hingegen völlig normal gewesen, und dieser Sinn von „sein“ spielt bei Parmenides’ Rede vom Sein gewiss eine Rolle. Alles, was es gibt, alles, was existiert, gehört zum Sein. Das griechische Verb „sein“ kommt jedoch nicht nur in Sätzen vor wie „Troja ist nicht mehr“, sondern auch in Sätzen sehr unterschiedlicher Art, wie zum Beispiel 1

„She lived unknown, and few could know when Lucy ceased to be.“

Die Ontologie des Parmenides

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„Helena ist schön“, „Aphrodite ist eine Göttin“, „Achilles ist mutig“ usw. durch alle verschiedenen Modi, denen Aristoteles die Würde von Kategorien verlieh. Für Parmenides ist Sein nicht nur das, was existiert, sondern dasjenige, von dem ein beliebiger Satz, der „ist“ enthält, wahr ist. Ebenso bedeutet seiend nicht schlechthin existierend, sondern irgendetwas zu sein: heiß oder kalt sein, Erde oder Wasser sein usw. Versteht man das Sein auf solche Weise, umfasst es mehr und ist zugleich rätselhafter als die Gesamtheit dessen, was existiert.

Die Ontologie des Parmenides Schauen wir uns nun einige der mysteriösen, in schroffen Versen zum Ausdruck gebrachten Behauptungen von Parmenides genauer an. Ich habe mich bemüht, die Unbeholfenheit des Originals in meiner Übersetzung wiederzugeben. „Was du aussagen und denken kannst, muss Sein sein Denn Sein kann, und Nichts kann nicht, sein.“ DK 28 B6 2

Die erste Zeile (wörtlich übertragen: „Was für das Sagen und Denken ist, muss sein“) drückt die Universalität des Seins aus: Was immer sich mit einem Namen benennen lässt, woran immer gedacht werden kann, muss sein. Warum ist das so? Vermutlich aus folgendem Grund: Wenn ich einen Namen ausspreche oder einen Gedanken denke, muss ich die Frage „Was ist das, worüber du spricht oder woran du denkst?“ beantworten können. Die Mitteilung der zweiten Zeile (wörtlich übertragen: „Es ist für Sein [zu] sein, aber das Nichts ist nicht“) lautet: Alles, was überhaupt sein kann, muss irgendetwas sein; es kann nicht einfach nichts sein. Die Sache wird klarer, wenn Parmenides, in einem späteren Fragment, einen negativen Begriff einführt, der dem Sein korrespondieren soll. „Niemals soll dies gelten: dass Nichtsein ist; Halte deinen Geist von jeglichen Gedanken dieser Art fern.“ (DK 28 B7, 1 f.) 3

Mein Wort „Nichtsein“ 4 steht für die Negation von Parmenides’ Partizip (me eonta). Ich verwende dieses Wort anstelle einer Formel wie „Nicht-Sein“, da der Kontext klar macht, dass Parmenides’ griechischer Ausdruck, obwohl er ein völlig natürlicher ist, dazu bestimmt ist, das diametrale Gegenteil von Sein zu bezeichnen.

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Die Diels/Kranz-Übersetzung lautet: „Man soll es aussagen und erkennen, dass es Seiendes ist; denn es ist [der Fall], daß es ist, nicht aber, daß Nichts [ist].“ Die Diels/Kranz-Übersetzung lautet: „Denn das kann niemals erwiesen werden, daß das Nichtseiende ist. Du aber halte von diesem Weg der Forschung dein Denken fern!“ Kenny übersetzt: „Unbeing“.

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6 Was es gibt: Metaphysik

Wenn das Sein dasjenige ist, von dem irgendetwas, was immer es sei, wahr ist, dann ist Nichtsein das, von dem überhaupt nichts wahr ist. Und das ist, zweifellos, Unsinn: Es kann nicht nur nicht existieren, man kann es noch nicht einmal denken. „Nichtsein wirst du nicht erfassen – das ist undurchführbar – Noch aussprechen können; Gedachtwerden und Sein sind dasselbe.“ 5

Verstehen wir „Nichtsein“ als dasjenige, von dem kein Prädikat ausgesagt werden kann, dann lässt sich sicherlich sagen, dass es etwas Undenkbares ist. Wenn ich als Antwort auf deine Frage „An was für eine Art von Ding denkst du?“ erwidere, dass es keine bestimmte Art von Ding ist, wirst du ratlos sein. Wenn ich dir darüber hinaus nicht sagen kann, wie es beschaffen ist, oder unfähig bin, dir irgendetwas darüber zu sagen, wirst du berechtigt schließen dürfen, dass ich an gar nichts, ja sogar überhaupt nicht wirklich denke. Wenn wir Parmenides so verstehen, können wir ihm zustimmen, dass Gedachtwerden und Sein zusammengehören. Doch selbst wenn wir dies zugestehen, werden wir vielleicht dennoch gegen die umfassende These protestieren wollen, dass Gedachtwerden und Sein dasselbe sind. Es mag zutreffen, dass ich, um an X denken zu können, in der Lage sein muss, X in Gedanken irgendein Prädikat beizulegen. Doch es ist nicht der Fall, dass jeder meiner Gedanken über X wahr sein muss: Ich kann denken, dass X P ist, wenn X nicht P ist. Wenn wir den Spruch auf diese Weise verstehen, ist er falsch: Gedacht werden und wahr sein sind zwei sehr verschiedene Dinge. Ferner können wir der These zustimmen, dass Nichtsein nicht gedacht werden kann, ohne uns der Auffassung anzuschließen, dass nicht gedacht werden kann, was nicht existiert. Wir können an fiktive Helden und Chimären denken, die nie existiert haben. Wenn es zuträfe, dass dasjenige, was nicht existiert, nicht gedacht werden kann, könnten wir die Existenz von Dingen beweisen, indem wir einfach an sie denken. Glaubte Parmenides, dass wir dies können? Angesichts der Verrenkungen seiner Sprache, ist es schwer, sich der korrekten Antwort sicher zu sein. Manche Forscher vertreten die These, er habe das „ist“ der Prädikation (das in der wahren Behauptung vorkommt, dass Nichtsein nicht gedacht werden kann) mit dem „ist“ der Existenz (das in der falschen Behauptung vorkommt, dass Nichtexistierendes nicht gedacht werden kann) verwechselt. Meines Erachtens ist es jedoch hilfreicher, man sagt, dass Parmenides „sein“ – in jeder seiner Verwendungen – immer als Vollverb verwendet. Dies bedeutet, dass er das Verhältnis zwischen den Ausdrücken „Wasser seiend“ oder „Luft seiend“ zu „seiend“ auf die gleiche Weise versteht wie das Verhältnis von „schnell laufend“ und „langsam laufend“ zu „laufend“. In einem Satz der Form „S ist P“ versteht Parmenides, statt „ist“ als Kopula und „P“ als Prädikat anzusehen, das 5

Die Diels/Kranz Übersetzung lautet: „[…] denn es ist ausgeschlossen, daß du etwas erkenntst, was nicht ist, oder etwas darüber aussagst: denn solches läßt sich nicht durchführen; denn daß man es erkennt, ist dasselbe, wie daß es ist.“

Die Ontologie des Parmenides

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„ist“ als ein Verb und „P“ in Analogie zu einem Adverb. Ein Mensch, der zunächst schnell und dann langsam läuft, läuft die ganze Zeit. Auf die gleiche Weise „ist“ für Parmenides der Stoff, der zuerst Wasser und dann Luft ist, während der gesamten Zeit. Eine Änderung erfolgt niemals vom Nicht-Sein zum Sein, oder umgekehrt. Was allein möglich ist, ist eine Variation des Seins. Wenn wir Parmenides auf diese Weise interpretieren, können wir leichter verstehen, wie er im Ausgang von seinen Thesen zur Universalität des Seins und der Undenkbarkeit des Nichtseins zu einigen höchst bemerkenswerten Schlussfolgerungen gelangt. „So bleibt nur noch Kunde von einem Wege, daß [das Seiende] existiert. Darauf stehn gar viele Merkzeichen; weil ungeboren, ist es unvergänglich, ganz, eingeboren, unerschütterlich und ohne Ende. Es war nie und wird nicht sein, weil es zusammen nur im Jetzt vorhanden ist als Ganzes, Einheitliches, Zusammenhängendes [Kontinuierliches]. Denn was für einen Ursprung willst Du für das Seiende ausfindig machen? Wie und woher sein Wachstum? [Weder aus dem Seienden kann es hervorgegangen sein; sonst gäbe es ja ein anderes Sein vorher], noch kann ich Dir gestatten [seinen Ursprung] aus dem Nichtseienden auszusprechen oder zu denken. Denn unaussprechbar und unausdenkbar ist es, wie es nicht vorhanden sein könnte. Welche Verpflichtung hätte es denn auch antreiben sollen, früher oder später mit dem Nichts zu beginnen und zu wachsen? So muß es also entweder auf alle Fälle oder überhaupt nicht vorhanden sein.“ (DK 28 B 8. 1–11) 6

Aus dem Prinzip „Aus nichts kann nichts entstehen“ haben zahlreiche Philosophen unterschiedlicher Denkrichtungen den Schluss gezogen, dass es die Welt immer gegeben haben muss. Andere Philosophen haben als diese These stützendes Argument zusätzlich vorgebracht, dass es keinen zureichenden Grund dafür geben könne, warum eine Welt zu einem bestimmten Zeitpunkt statt zu einem anderen, früheren oder späteren, angefangen haben sollte zu existieren. Doch Parmenides’ These, dass das Sein keinen Anfang und kein Ende hat, behauptet etwas sehr viel Weitreichenderes. Das Sein ist nicht nur ewig, es unterliegt auch keiner Veränderung („unvergänglich“, „unerschütterlich“) oder dem Fortgang der Zeit (es existiert in seiner Gesamtheit jetzt und hat keine Vergangenheit oder Zukunft). Was könnte die Vergangenheit von Gegenwart und Zukunft unterscheiden? Wenn es keine Art von Sein ist, ist die Zeit unwirklich; ist es hingegen eine Art von Sein, dann gehört es insgesamt als ein Teil zum Sein. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sind allesamt ein Sein. Durch

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Zitiert nach: H. Diels, Die Fragmente der Vorsokratiker, herausgegeben von H. Kranz (Berlin: Weidmann, 1952).

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6 Was es gibt: Metaphysik

ähnliche Argumente versucht Parmenides zu zeigen, dass das Sein ungeteilt ist. Was könnte Sein vom Sein trennen? Das Sein? In diesem Fall gibt es keine Teilung, sondern nur zusammenhängendes Sein. Das Nichtsein? In diesem Fall wäre alle Teilung unwirklich (DK 28 B8. 22–5). Man könnte erwarten, dass er auf analoge Weise für die These argumentiert, dass das Sein unbegrenzt ist. Was könnte das Sein begrenzen? Das Nichtsein kann auf keine Weise auf irgendetwas einwirken; und wenn wir uns vorzustellen versuchen, dass das Sein vom Sein begrenzt wird, dann hat das Sein seine Grenzen noch nicht erreicht. Einige von Parmenides’ Anhängern haben so argumentiert (Aristoteles, GC 1.8. 325a15), doch hat Parmenides selbst die Sache anders gesehen. Wenn es darum geht, seine Lehren – ausgehend von mittlerweile vertrauten Prämissen – zusammenzufassen, gelangt er zu einer ziemlich verblüffenden Schlussfolgerung: „Denken und des Gedankens Ziel ist ein und dasselbe; Denn nicht ohne das Seiende, in dem es sich ausgesprochen findet, Kannst Du das Denken antreffen. Es gibt ja nichts und wird nichts anderes geben Außerhalb des Seienden, da es ja das Schicksal An das unzerstückelte und unbewegliche Wesen gebunden hat. Darum muß alles leerer Schall sein, was die Sterblichen [in ihrer Sprache] Festgelegt haben, überzeugt, es sei wahr: Werden sowohl als Vergehen, Sein sowohl als Nichtsein, Veränderung des Ortes und Wechsel der leuchtenden Farbe. Aber da eine letzte Grenze vorhanden, so ist [das Seiende] abgeschlossen nach allen Seiten hin, Vergleichbar der Masse einer wohlgerundeten Kugel.“ (DK 28 B8, 34 ff.) 7

Es ist völlig unklar, ob die Vorstellung des Universums als wohlgerundeter Kugel in sich stimmig oder mit den übrigen Lehren des Parmenides vereinbar ist. Wie immer es darum stehen mag: Es gibt noch eine dringlichere Frage. Wenn das Wesen des Sein einheitlich, unveränderlich, unbeweglich und zeitlos ist: Wie sollen wir dann die Vielfalt der sich ändernden Eigenschaften verstehen, die wir den Gegenständen der Welt aufgrund der sinnlichen Wahrnehmung zuschreiben? Diese gehören für Parmenides der Welt des Scheins an. Wenn wir dem Weg der Wahrheit folgen wollen, müssen wir unseren Blick auf das Sein gerichtet halten. Während Parmenides und seine Schüler in der griechischen Kolonie in Italien betonten, dass wirklich nur das sein könne, was vollkommen unveränderlich ist, bestand Heraklit, auf der anderen Seite des Mittelmeeres im griechischen Teil Kleinasiens darauf, dass sich die Wirklichkeit in ständigem Fluss befindet. Heraklit liebte es, in Rätseln zu sprechen: Um seine Lehre der universalen Veränderung auszudrü7

Zitiert nach: H. Diels, Die Fragmente der Vorsokratiker, herausgegeben von H. Kranz (Berlin: Weidmann, 1952).

Die Ontologie des Parmenides

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Parmenides und Heraklit, Nachbarn in Raphaels Schule von Athen.

cken, bediente er sich Metaphern, in denen Wasser und Feuer eine Rolle spielen. Die Welt ist ein ewiges Feuer, das einmal auflodert und dann wieder in sich zusammenfällt. Feuer ist die Währung, in die alles eingetauscht werden kann, ebenso wie Gold und Waren gegeneinander eingetauscht werden (DK 22 B30, B90). Doch die Welt ist auch ein ewig strömender Fluss: Man kann nicht zweimal in dasselbe Wasser steigen.

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6 Was es gibt: Metaphysik

Von seiner eigenen Metapher mitgerissen, sagte Heraklit sogar – wenn Platon uns seine Auffassung wahrheitsgemäß berichtet –, dass man nicht zweimal in denselben Fluss steigen kann (Cra. 402a). Dies mag stimmen oder nicht: Fest steht, dass er behauptet hat, dass sich alle Dinge in einem Zustand ständiger Veränderung befinden (Aristoteles, Ph. 8. 3. 253b9). Wenn wir dies nicht bemerken, so liegt das an der Mangelhaftigkeit unserer Sinne. Für Heraklit ist Wandel der Weg der Wahrheit, und Stabilität der Weg des Scheins.

Platons Ideenlehre und ihre Probleme Parmenides und Heraklit haben ein Schlachtfeld für Jahrhunderte anhaltende philosophische Streitigkeiten vorgezeichnet. Ein großer Teil von Platons intensivsten philosophischen Bemühungen galt der Aufgabe, diese beiden Positionen miteinander auszugleichen oder sie zu entwaffnen. Einer seiner Protagonisten sagt uns, der wahre Philosoph müsse sich sowohl weigern anzuerkennen, dass alle Wirklichkeit unveränderlich ist, als auch, dass jeder Aspekt der Wirklichkeit sich verändert: „Wie die Kinder zu begehren pflegen, muß er beides von dem Seienden und All, daß es unbewegt und daß es bewegt sei, sagen.“ (Sph. 249c–d) Aristoteles berichtet, dass Platon in seiner Jugend unter dem Einfluss der Ideen von Heraklit zu philosophieren begann und dass er ihnen auch später noch anhing (Metaph. A 6. 987a31 ff.). In seinem Dialog Theaitetos entwickelt Platon eine Theorie der Wahrnehmung, die versucht, der Wahrheit von Heraklits Einsichten Rechnung zu tragen, ohne die These des universalen Flusses zu übernehmen. Wir werden uns ihr in Kapitel 7 zuwenden und in diesem Kapitel ansehen, wie er auf die Probleme der Lehren des Parmenides eingeht. Im Laufe seines Lebens unternahm Platon drei systematische Versuche, mit den metaphysischen Problemen fertig zu werden, die diese beiden Riesen aufgeworfen hatten. Der erste entspricht der Ideenlehre, wie sie in den Dialogen Symposion, Phaidon und Politeia dargelegt ist. Stark vereinfachend kann man sagen, dass Platons Sokrates in dieser Phase das Reich der Philosophie zweigeteilt hat: Er übergab das erkennbare Universum den Ideen des Parmenides und die mit den Sinnen wahrnehmbare Hälfte Heraklit. In der zweiten Phase tritt Parmenides in einem nach ihm benannten Dialog selbst auf und weist Sokrates auf einige unakzeptable Konsequenzen der Ideenlehre hin. In der letzten Phase, im Dialog Sophistes, führt uns ein dritter Protagonist, ein Fremder aus Elea, dessen Namen wir nicht erfahren, nicht nur zur Ablehnung der Theorien von Parmenides und Heraklit, sondern auch von Platons Ideenlehre weg, und zwar zugunsten einer komplizierten Lösung, die alle drei Auffassungen überwindet und die es uns erlaubt, auf zwei metaphysischen Hochzeiten gleichzeitig zu tanzen. Wie wir gesehen haben, gehören die Ideen, wie sie in den mittleren Dialogen vorgestellt werden, einer ewigen Welt an, die so unveränderlich wie das Sein ist, das

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Eine idealisierte Büste von Platon, im Vatikan. Platon besaß die unter Philosophen beinahe einmalige Gabe, die ihm liebsten Ideen zu kritisieren und zu revidieren.

uns von Parmenides im Weg der Wahrheit offenbart wird. Die Objekte der Erfahrungswelt unterliegen hingegen dem ständigen Veränderungsfluss Heraklits und schwanken ständig zwischen Sein und Nicht-Sein. Beide Protagonisten werden jedoch von Platon nicht gleichbehandelt: Die parmenideische Welt ist der heraklitischen weit überlegen. Die unveränderliche Welt der Ideen ist wirklicher und enthält mehr Wahrheit als die flimmernde Welt der Erfahrung. Wirkliche Erkenntnis liefert allein das geistige Erfassen von Ideen, die Sinne können uns bestenfalls zu wahren Meinungen führen. Während jedoch das Reich der Ideen unveränderlich ist, ist es nicht gleichförmig oder homogen wie das Sein des Parmenides. Das Sein ist undifferenziert und eines, während es viele verschiedene Ideen gibt, die in einer bestimmten Beziehung zuei-

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6 Was es gibt: Metaphysik

nander stehen. Sie scheinen, unter der Idee des Guten, die über das Sein noch hinausragt (Pol. 6. 509b), hierarchisch geordnet zu sein. Zweifellos verdanken es die anderen Ideen der Idee des Guten, dass sie überhaupt Ideen sind: Ein Bett ist ein vollkommenes oder ideales Bild, da es an der Vollkommenheit teilhat und das beste mögliche Bett ist. Die Beziehungen zwischen den verschiedenen untergeordneten Ideen sind im Einzelnen nicht genau angegeben, doch soviel steht fest: Es gibt nicht den geringsten Hinweis darauf, dass sie in einer hehren parmenideischen Kugel alle eins und einander gleich sind. Es ist daher nicht erstaunlich, dass das Eine, die Idee der Einheit, im Mittelpunkt der Diskussion steht, die Platon bei einer kritischen Bewertung der Ideenlehre Parmenides in den Mund legt. Der Parmenides ist der am schwersten zu interpretierende Dialog Platons, und viele Forscher haben eingestanden, dass sie ihm ratlos gegenüberstehen. Er zerfällt in zwei Teile. Der erste Teil ähnelt einem der frühen sokratischen Dialoge. In ihnen zeigt Sokrates einem selbst ernannten Experten, dass er nicht qualifiziert ist, andere über den Gegenstand seines angemaßten Fachwissens zu belehren. Erstaunlicherweise sind die üblichen Rollen vertauscht. Statt dass ein bohrende Fragen stellender Sokrates das beanspruchte Wissen irgendeines berühmten Sophisten zum Einsturz bringt, ist es der junge Sokrates selbst, der Rede und Antwort stehen muss, und das Thema der Unterredung, aus der er gedemütigt hervorgeht, ist ausgerechnet die Ideenlehre. Parmenides, der erfolgreiche Inquisitor, sagt Sokrates, er sei in der Dialektik unzureichend geschult und benötige weitere Übung. Der zweite Teil des Dialogs zeigt angeblich, an welcher Art Übung es Sokrates fehlt. Im Ausgang von einem Hypothesenpaar über das Eine und das Sein, das sämtliche Möglichkeiten zu umfassen scheint, zeigt Parmenides in einer Reihe straffer, kurzer, aber häufig nicht überzeugender Argumente, dass wir unabhängig davon, welcher Seite des Widerspruchs wir zustimmen, zu völlig unakzeptablen Schlussfolgerungen gelangen. Die Kommentatoren sind sich weder über den wesentlichen Inhalt der beiden Teile noch über ihre Beziehung zueinander einig. Nimmt Platon die Kritik an den Ideen im ersten Teil so ernst, dass sie die Ideenlehre in Gefahr bringt? Und wenn dies zutrifft: Hat er einen Vorschlag zu machen, wie die Kritik zu entkräften ist, oder haben wir ein ehrliches Eingeständnis seiner Ratlosigkeit vor uns? Werden die Beweise im zweiten Teil nur zum Spaß vorgetragen, oder haben wird es mit gewichtigen Argumenten zu tun? Wenn Letzteres der Fall ist: Wollte Platon, dass wir Fehler in ihnen entdecken, oder betrachtete er selbst die Argumente als schlüssig? In beiden Fällen stellt sich die Frage nach der Relevanz des zweiten Teils für den Angriff auf die Ideenlehre im ersten Teil. 8

8

Die folgende Darstellung verdankt Constance C. Meinwalds Buch Plato’s Parmenides (New York: Oxford University Press, 1991) viele Einsichten, obwohl ich in wichtigen Interpretationsfragen eine andere Auffassung vertrete.

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Bevor ich eine Übersicht über die Hauptschwierigkeiten der Ideenlehre gebe, die im ersten Teil des Parmenides dargelegt werden, sollen an dieser Stelle zunächst die sechs Prinzipien wiederholt werden, die wir in Kapitel 1 als konstitutiv für die klassische Lehre von den Ideen aufgestellt haben. (1) Das Prinzip der Gemeinschaft. Wann immer mehrere Dinge F sind, ist der Grund hierfür, dass sie an einer einzigen Idee F teilhaben oder sie nachahmen (Pol. 5. 476a). (2) Das Prinzip der Verschiedenheit. Die Idee F ist von allen Dingen, die F sind, verschieden (Phd. 74c). (3) Das Prinzip der Selbstprädikation. Die Idee F ist selbst F. (4) Das Prinzip der Reinheit. Die Idee F ist nichts als F (Phd. 74c). (5) Das Prinzip der Einzigkeit. Nichts außer der Idee F ist wirklich, wahrhaft und ausschließlich F (Phd. 74c; Pol. 5. 476a–d). (6) Das Prinzip der höheren Seinsweise. Ideen sind ewig, sie haben keine Teile und unterliegen keinen Veränderungen, und sie können mit den Sinnen nicht wahrgenommen werden (Phd. 78d). Im ersten Teil des Dialogs werden die folgenden Probleme behandelt. 1. Einzelne Fs sind nach der Ideenlehre F, weil sie an der Idee F teilhaben. Doch was bedeutet „Teilhabe“? Hat ein einzelnes F nur an einem Teil der Idee teil, oder enthält es die gesamte Idee? In beiden Fällen ergeben sich Schwierigkeiten. Wenn ein einzelnes großes Ding G die gesamte Idee des Großen enthält, dann erscheint die Idee verteilt und es scheint ihr die Einheit zu fehlen, die für eine Idee charakteristisch ist. Nimmt G hingegen nur an einem Teil der Idee des Großen teil, dann ist es groß aufgrund von etwas, das selbst klein ist, denn da es nur ein Teil ist, muss es kleiner als das Große sein (Prm. 131a ff.). 2. Es ist eine wesentliche Annahme der Ideenlehre, dass, wann immer mehrere Dinge F sind, sie dies einer anderen Entität verdanken, bei der es sich um die Idee von F handelt. Mehrere große Dinge verdanken ihr Großsein der Idee des Großen. Doch wenn wir die ursprüngliche Menge großer Dinge zusammenfassen und die Idee des Großen hinzunehmen, so haben wir eine neue Menge großer Dinge, die ihre Größe einer anderen Entität verdanken. „Noch ein anderer Begriff der Größe wird dir also zum Vorschein kommen außer jener ersten Größe und den diese an sich habenden Dingen, und wiederum über allen diesen zusammen noch ein anderer“ – sodaß wir am Beginn eines unendlichen Regresses stehen (Prm. 132b). Dieses Argument beeindruckte Aristoteles sehr. Er ersetzte in der ersten Prämisse „groß“ für F durch „Mann“ und nannte es das „Argument des dritten Mannes“, nach dem Mann, der als eine Über-Idee auftauchen würde zu (a) den Männern in der Welt und (b) der Idee des Mannes. 3. Eine besondere Schwierigkeit ergibt sich bei relationalen Prädikaten. Nehmen wir an, ich bin ein Sklave. Gemäß der Ideenlehre muss dies der Fall sein, weil ich dem idealen Sklaven ähnlich bin. Doch wer ist der Besitzer des idealen Sklaven? Doch gewiss der ideale Besitzer. Doch ich bin nicht der Sklave des idealen Besitzers,

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sondern dessen, wer auch immer mein irdischer Sklavenbesitzer sein mag. Daher können die Beziehungen zwischen Entitäten in der Welt nicht durch Beziehungen zwischen den Ideen erklärt werden (Prm. 133e). Diese Schwierigkeiten sind echte Probleme für die Ideenlehre, und sicher wollte Platon, dass wir dies erkennen. Zumindest machen sie eine grundsätzliche Überarbeitung der Lehre erforderlich, und in anderen Dialogen nimmt Platon diese Überarbeitung vor. Im Parmenides werden die notwendigen Änderungen jedoch nicht explizit vorgestellt. Man könnte jedoch erwarten, dass die zweite Hälfte des Dialogs einige Hinweise darauf gibt, welche Art von Änderungen vorgenommen werden müssen. Ein Hauptproblem bezüglich der zweiten Hälfte des Dialogs besteht darin, dass nicht klar ist, welches genau die beiden Hypothesen sind, von denen das Argument des Parmenides seinen Ausgang nimmt (Prm. 137b). Er beschreibt die Hypothesen als Hypothesen über das Eine selbst, doch das Griechisch, in dem sie ausgedrückt sind, kann unterschiedlich interpretiert werden. Die beiden folgenden Hypothesenpaare sind die vielversprechendsten Übersetzungen: (1) Wenn das Eine ist vs. Wenn das Eine nicht ist. (2) Wenn es eines ist vs. Wenn es nicht eines ist. (2) entspricht der Lesart, die dem Griechisch des uns überlieferten Textes dieser Passage des Dialogs, in der vor dem Wort „Eines“ (hen) kein bestimmter Artikel steht, am nächsten kommt. Tatsächlich geben selbst die enthusiastischsten Verfechter dieser Lesart zu, dass sie nur vertreten werden kann, wenn man den Text an dieser Stelle ergänzt. Andererseits scheint (1) nicht nur zum unmittelbar vorausgehenden Text, sondern zur Gesamtreihe der sich anschließenden Argumente besser zu passen, in deren Verlauf ziemlich oft eindeutig auf das Eine Bezug genommen wird, und zwar mit bestimmtem Artikel. Hinzu kommt, dass jeder, der die Lesart (2) favorisiert, die Frage beantworten muss, wofür das „es“ steht. Nach meiner Ansicht muss der Text nicht ergänzt werden. Die zweite Lesart, die der natürlichsten Übersetzung entspricht, lässt sich mit dem anschließenden Argumentationsgang leicht vereinbaren. Man kann dies auf zweierlei Weise tun. Die erste Lesart besteht darin, das fragliche „es“ als dasselbe „es“ anzusehen, welches das Thema des Wegs der Wahrheit im Gedicht des historischen Parmenides ist, nämlich: das Sein. Die Bezugnahmen auf das Eine in den sich anschließenden Argumentationsgängen lassen sich leicht erklären. Sie treten auf, während den Implikationen der Hypothese „Es (d. h. das Sein) ist eines“ nachgegangen wird. Wenn diese Hypothese wahr ist, dann gibt es ein herausragendes Subjekt, für das das Prädikat „Eines“ zutrifft, nämlich das Sein selbst. Auf dieses Subjekt kann man sich auf ganz natürliche Weise als „das Eine“ beziehen, und Parmenides tut dies auf proleptische Weise an der Stelle 137b3. Diese Interpretation aufrechtzuerhalten, wird allerdings schwerer, wenn Parmenides in der Folge die negative Hypothese untersucht, die nach dieser Auffassung „Dass das Sein nicht eines ist“ lauten würde. Eine zweite Interpretation ist daher vorzuziehen. Das „es“ sollte als „das Eine“ gelesen werden. In diesem Fall erhalten wird die beiden Hypothesen „Das Eine ist

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eines“ und „Das Eine ist nicht eines“. Dies mag zunächst eine sehr unplausible Lesart sein: Schließt sich die zweite Hypothese nicht allein schon dadurch aus, dass sie sich selbst widerspricht? Wenn wir darüber nachdenken, erkennen wir jedoch, dass dies nicht der Fall ist. Einige der im ersten Teil des Dialogs aufgezeigten Hauptschwierigkeiten der Ideenlehre stehen mit dem Prinzip der Selbstprädikation in Zusammenhang, d. h., dass die Idee von F selbst F ist (siehe Seite 221 oben). Es ist also von der verhandelten Sache her angemessen, dass der zweite Teil des Dialogs das Prinzip der Selbstprädikation nicht als selbstverständlich voraussetzt, sondern – für den Fall einer Idee von zentraler Bedeutung – die Konsequenzen untersucht, die sich ergeben, wenn man es bestreitet und wenn man es verteidigt. Das dialektische Streitgespräch beginnt damit, dass der Protagonist Parmenides danach fragt, welche Prädikate dem Einen zukommen, und welche anderen Dingen hinzukommen, wenn die erste Hypothese als wahr angenommen wird. Wenn das Eine eines ist, dann ist das Eine kein Ganzes mit Teilen (Prm. 137d). Es ist ohne Grenze und Ort (Prm. 138b). Es ist unveränderlich, doch es befindet sich auch nicht im Zustand der Ruhe (Prm. 139b). Es ist weder verschieden von, noch identisch mit sich selbst oder etwas anderem (Prm. 139e), und es ist sich selbst oder einem anderen weder ähnlich noch unähnlich (Prm. 140b). Es ist weder größer noch kleiner als es selbst oder etwas anderes (Prm. 140d). Es hat keine Stelle in der Zeit, und da es weder zu Vergangenheit, Gegenwart oder Zukunft gehört, kann es auf keine Weise am Sein teilhaben. Folgende Schlussfolgerung wird erreicht: „Also hat das Eine auf keine Art ein Sein? Auf keine Weise also ist das Eine. Es ist also auch nicht so, daß es Eines ist. Denn alsdann wäre es doch seiend und ein Sein an sich habend. Sondern, wie es scheint, ist das Eine weder Eines noch ist es, wenn man einer solchen Rede glauben darf. Was aber nicht ist, kann wohl für dieses Nichtseiende etwas sein oder von ihm? Also ist auch kein Wort für es, keine Erklärung davon, noch auch irgendeine Erkenntnis, Wahrnehmung oder Vorstellung.“ (Prm. 142a)

Es ist ziemlich offensichtlich, dass wir diese Schlussfolgerung nicht als wahre Aussage über das Eine akzeptieren sollen. Parmenides’ Gesprächspartner in diesem Dialog, Aristoteles (kein Bezug zur historischen Person), der normalerweise mit allem einverstanden ist, beantwortet die Frage, ob diese Schlussfolgerung möglich sei, indem er einen – für ihn untypischen – Widerspruch einlegt. Wenn sie wahr wäre, würde sie den Argumenten, die zu ihr geführt haben, die Grundlage entziehen, denn sie alle geben vor, über das Eine zu reden, was nach dieser Schlussfolgerung unmöglich ist. Die Dialektik bis zu diesem Punkt muss als reductio ad absurdum angelegt sein: doch eine reductio von was? Gewiss doch der Hypothese, dass das Eine Eines ist und nichts als Eines. Nun war aber das Prinzip der Reinheit ein wichtiger Teil der Ideenlehre. Es besagt, dass die Idee von F nur F ist und nichts sonst. Die Dialektik hat an diesem Punkt also dazu geführt, dass ein wichtiges Element der Ideenlehre widerrufen wird. An dieser Stelle macht Parmenides einen neuen Anfang mit der Hypothese, dass

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das Eine Eines ist, und er beweist, dass das Eine ein Ganzes mit zahllosen Teilen ist (Prm. 142b, 143a), begrenzt und von bestimmter Form (Prm. 145b), in sich selbst und anderswo, in Bewegung und in Ruhe, sowohl identisch mit als auch verschieden von sich selbst (Prm. 146b), sich selbst und anderen Dingen sowohl ähnlich als auch unähnlich (Prm. 148c), gleichzeitig sich selbst gleich und anderen Dingen gleich, größer und kleiner als es selbst und andere Dinge (Prm. 151b). Es ist und wird älter und jünger als es selbst und andere Dinge, doch ebenso ist es weder noch wird es älter oder jünger als es selbst oder andere Dinge (Prm. 155c). Es gehört der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft an und nimmt am Sein teil, obwohl Sein und Einheit nicht dasselbe sind (wären sie identisch, so argumentiert Platon, würden „ist Eines“ und „Eines Eines“ dasselbe bedeuten) (Prm. 142c). Demnach stellt es kein Problem dar, es zu benennen, über es zu sprechen und darüber ein Streitgespräch zu führen (Prm. 155e). Es besteht offensichtlich eine enge Parallele zwischen diesen ersten beiden Abschnitten des dialektischen Argumentationsgangs. In jedem Stadium jedes Arguments wird uns ein Paar gegensätzlicher Prädikate vorgestellt (z. B. in Bewegung, in Ruhe). Im ersten Abschnitt argumentiert Parmenides, dass keines dieser Prädikate auf das Eine zutrifft. Im zweiten Abschnitt argumentiert er, dass beide Prädikate auf das Eine zutreffen. Hält man sie zusammen, lassen beide Abschnitte die Ideenlehre in einem kritischen Licht erscheinen. Der erste Abschnitt zeigt die Ungereimtheit der Annahme, dass die Idee von F nichts als F ist (das Prinzip der Reinheit). Der zweite Abschnitt zeigt, dass die Annahme, nichts als die Idee von F sei F, falsch ist (das Prinzip der Einzigkeit). Doch die beiden Abschnitte sollen nicht völlig miteinander harmonieren. Die Schlussfolgerung des ersten Abschnitts widerspricht, wie wir gesehen haben, ihrer eigenen Grundlage, und das gesamte Argument kann nur als reductio ad absurdum ernst genommen werden. Der zweite Abschnitt führt jedoch auf eine Schlussfolgerung, die – obwohl sie überraschen mag – auf eine Weise verstanden werden kann, die in keinerlei Hinsicht selbstwidersprüchlich ist. In seiner Zusammenfassung der Ergebnisse dieses Abschnitts sagt Parmenides, dass das Eine manchmal am Sein teilhat und manchmal nicht. Seine Worte erinnern an die in der Politeia vorgebrachte Klage, dass die gewöhnlichen Objekte der sinnlichen Wahrnehmung zwischen Sein und Nicht-Sein schwanken. Doch jetzt ist es eine Idee, von der Ähnliches gesagt wird, während dasjenige, was – auf dem Höhepunkt der Ideenlehre – die Ideen von den gewöhnlichen Erfahrungsgegenständen unterschied, eben dieses war, dass sie nicht auf eine solche Weise schwanken. Die Idee von F war weder manchmal F und manchmal nicht F, noch war sie F in einer Beziehung und nicht-F in einer anderen. Was jetzt über das Eine gesagt wird, markiert eine bedeutende Abkehr von der Ideenlehre in ihrer ursprünglichen Form. Bei sinnlich wahrnehmbaren Einzeldingen können wir – ohne das Prinzip vom verbotenen Widerspruch zu verletzen – die Zeiten, Hinsichten, Beziehungen usw. angeben, zu denen bzw. in denen sie sowohl F als auch nicht-F sind. Was wir nun

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tun müssen, ist Folgendes: geeignete Unterscheidungen treffen, um sehen zu können, wie ein Prädikat und sein Gegenteil in verschiedenen Hinsichten vom Einem, und damit auch von anderen Ideen, wahr sein kann. Es ist darauf hinzuweisen, dass die Subjekte aller Prädikationen des Parmenides Ideen sind. Zumindest sind sie ausnahmslos Entitäten, auf die man sich durch einen Allgemeinbegriff bezieht, keine Einzelnamen: Die Ausdrücke für diese Entitäten sind Worte wie „das Selbe“, „das Andere“, und nicht „Kallias“ oder „Dion“. Um einige der im Zusammenhang mit den Ideen auftauchenden Probleme zu lösen, führt Platon eine Unterscheidung zwischen zwei Arten von Prädikation ein. In der Terminologie, die einer späteren Epoche der Philosophie angehört, können wir sagen, dass er einen Unterschied zwischen einer Prädikation per se und einer Prädikation per accidens macht. Was die beiden unterscheidet, lässt sich auf folgende Weise verdeutlichen: S ist per se P, wenn P zu sein Teil dessen ist, was es bedeutet, S zu sein. Eine Eiche ist demnach per se ein Baum. (Wenn wir unechte und echte Teile dessen zulassen, was es bedeutet, S zu sein, dann ist eine Eiche per se eine Eiche.) Andererseits ist S per accidens P, wenn S zwar de facto P ist, es jedoch nicht Teil dessen ist, was es bedeutet S zu sein, auch P zu sein. Wenn daher zum Beispiel in einem bestimmten Gebiet tatsächlich zahlreiche Eichen vorhanden sind, wird „zahlreich“ nur per accidens ausgesagt. 9 Wir haben gesehen, dass Platon im Parmenides die Prinzipien der Reinheit und Einzigkeit aufgegeben hat. Bezüglich des Prinzips der Selbstprädikation macht er von seiner Unterscheidung zwischen den Arten der Prädikate Gebrauch. Das Große ist tatsächlich groß: Groß zu sein ist ein unechter Teil dessen, was es bedeutet, groß zu sein. Doch andere Dinge sind nicht per se groß. Wenn mein Haus groß ist, dann nicht deshalb, weil groß zu sein ein Teil dessen ist, was es bedeutet, mein Haus zu sein. Daher wird „groß“ nicht auf die gleiche Weise von großen Dingen und dem Großen ausgesagt. Folglich können das Große und die anderen großen Dinge nicht zu einer Menge zusammengefasst werden, wie es geschehen muss, um den Regress entstehen zu lassen, auf den sich das Argument des dritten Mannes stützt. Auf ähnliche Weise gehört die Idee des Sklaven zur Idee des Besitzers: Denn einem Besitzer zu gehören ist Teil dessen, was es bedeutet, ein Sklave zu sein. Doch die Beziehungen zwischen menschlichen Sklaven und menschlichen Besitzern, und die Beziehungen zwischen beiden und der Idee des Sklaven und der Idee des Besitzers bestehen nicht per se, sondern per accidens. Beide Beziehungsverhältnisse, Beziehungen zwischen Einzeldingen und zwischen Ideen, können nebeneinander existieren, ohne miteinander in Konflikt zu geraten. Schließlich können wir auch noch einmal auf den Begriff der Teilhabe eingehen. Eine Hauptschwierigkeit für das Verständnis dessen, wie zahlreiche Dinge an einer 9

Die lateinischen Ausdrücke sollen Platons griechischen Ausdrücken pros heauto (in Bezug auf sich selbst) und pros alla (in Bezug auf anderes) entsprechen, obwohl sie nicht die Übersetzungen dieser Ausdrücke sind.

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einzelnen Idee teilhaben können, bestand darin, dass die Idee hierdurch scheinbar in Teile zerlegt wurde. Wir können nunmehr sagen, dass eine Idee per se eine ist, wenn es ein Teil dessen ist, was es heißt, eine Idee zu sein, dass sie einzig und eindeutig ist: Ansonsten erfüllt sie nicht den Zweck, für den sie eingeführt wurde, d. h., dasjenige zu benennen, was mehreren Dingen, die auf gleiche Weise bezeichnet werden, gemeinsam ist. Wenn es hingegen zahlreiche Einzeldinge gibt, die die Idee instanziieren, so sind sie per accidens zahlreich. Durch die dialektischen Argumente zieht sich ein gemeinsamer Faden, und die Lösungen für die Schwierigkeiten, die der Ideenlehre von Parmenides entgegengehalten wurden, sind folgende: Nichts kann auf die gleiche Weise von Einzeldingen und den Ideen, an denen sie teilhaben, ausgesagt werden. Ein modernes Analogon der platonischen Vorstellung der Teilhabe ist das der Zugehörigkeit zu einer Klasse: Wenn X an der Idee F teilhat, gehört X zur Klasse der Fs. Auf gleiche Weise ist es ein modernes Analogon zum Ergebnis des Parmenides, dass man von Klassen nicht einfach dasjenige prädizieren kann, was man von Einzeldingen aussagt. Das Paradoxon, das sich ergibt, wenn wir von der Klasse aller Klassen reden, die sich nicht selbst angehören, ist der direkte Nachfolger der Paradoxa des Parmenides. Die Angleichung der Ideenlehre an eine Theorie der Universalien wird im Dialog Sophistes fortgeführt. Der erklärte Zweck des Dialogs besteht darin, eine Definition des Sophisten zu finden. Die Definition, die schließlich erreicht wird, ist offensichtlich nicht ernst, sondern als Witz gemeint. Was die Suche nach der Definition veranschaulichen soll, ist eine Definitionsmethode, die in Gesellschaftsspielen bis heute beliebt ist. Bei diesen Spielen denkt der Befragte an einen Gegenstand, den der Frager herausfinden muss, indem er eine Reihe von Fragen stellt, die jeweils eine Zweiteilung anbieten: Ist das Ding lebend oder nicht-lebend? Wenn es lebend ist: Ist es ein Tier oder eine Pflanze? Wenn es ein Tier ist: Ist es menschlich oder nicht-menschlich? Und so weiter. Im Verlauf des Dialogs untersucht Platon die metaphysischen Voraussetzungen einer solchen Definitionsmethode. Was die Bemühung um eine Definition durch fortgesetzte Unterteilung zeigt, wenn sie konsequent durchgeführt wird, ist eine Baumstruktur, in der Arten unterhalb von Gattungen erscheinen und engere Oberbegriffe unter umfassenderen: Mensch unter Tier, Tier unter Lebewesen usw. Diese Baumstruktur steht mit der Prädikation per se in Beziehung, die wir als wichtigen Aspekt des Parmenides erkannt haben; denn alles, was oberhalb von F in einer Gattung-Art-Struktur auftaucht, ist etwas, das ausgesagt wird. So ist etwa ein Tier zu sein Teil dessen, was es bedeutet, ein Mensch zu sein. Ein Lebewesen zu sein ist Teil dessen, was es heißt, ein Tier zu sein. Auf dem Weg zur Definition des Sophisten müssen wir uns mit dem Problem der falschen Meinung und falschen Rede beschäftigen. Man kann den betrügerischen Sophisten vom wahren Philosophen nicht unterschieden, ohne das Wesen der Falschheit zu erörtern. Doch wie können wir über die Falschheit reden, ohne in die Fallen zu geraten, die der historische Parmenides in seinem Gedicht beschrieben hat (Sph. 237a)? Zu sagen, was falsch ist, ist zu sagen, was nicht ist. Doch was nicht ist, ist

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gewiss das Nichtsein, und Nichtsein ist – aus Gründen, die Parmenides anführt – Unsinn (Sph. 238e). Es scheint daher unmöglich zu sagen, was falsch ist, ohne Unsinn zu reden. Sollen wir unsere Darstellung dann revidieren und Folgendes behaupten: Zu sagen, was falsch ist, besteht darin zu sagen, dass das, was ist, nicht ist, oder dass das, was nicht ist, ist? Kann man Parmenides’ Tadel auf diese Weise entgehen? Um mit diesem Problem fertig zu werden, müssen wir Parmenides entwaffnen, indem wir ihn zu dem Zugeständnis bringen, dass das, was nicht ist, in gewisser Hinsicht ist, und das, was ist, in gewisser Hinsicht nicht ist (Sph. 241d). Bewegung ist beispielsweise nicht Ruhe, doch das bedeutet nicht, dass Bewegung überhaupt nichts ist (Sph. 250b). Es gibt Vieles, was noch nicht einmal das Sein ist: So ist Sein zum Beispiel nicht Bewegung, und Sein ist nicht Ruhe (Sph. 250c–e). Im Dialog Sophistes ist Platon wie im Parmenides an der Beziehung zwischen verschiedenen Ideen interessiert. Hier beschreibt er dieses Thema als „gegenseitige Verflechtung der Begriffe“, von der er behauptet, sie liege der Möglichkeit von Sprache zugrunde (Sph. 259e). Wir geraten in zunehmend größere Schwierigkeiten, wenn wir entweder annehmen, dass keine Ideen oder dass alle Ideen sich miteinander verbinden können (251e–Sph. 252e). Einige können es offensichtlich und andere können es nicht, und wir müssen untersuchen, welche Ideen sich mit welchen anderen verbinden können. Das Sein (to on) nimmt hier diejenige zentrale Stellung in der Untersuchung ein, die das Eine (to hen) im Parmenides innehatte. Doch zusätzlich zum Sein wird vier weiteren Ideen – Bewegung, Ruhe, Gleichheit und Unterschied – und ihren wechselseitigen Beziehungen nachgegangen. Es zeigt sich, dass der Unterschied eine wesentliche Beziehung zum Sein hat (Sph. 256d–e). Wenn wir von dem reden, was nicht ist, reden wir vom Nichtsein, dem Gegenteil des Seins: Wir reden einfach von etwas, das verschieden von einem der Dinge ist, die es gibt (Sph. 257b). Das Nicht-Schöne unterscheidet sich vom Schönen und das Ungerechte vom Gerechten. Doch das Nicht-Schöne und das Ungerechte sind nicht weniger wirklich als das Schöne und Gerechte (257e–258a). Wenn wir alle Dinge zusammenwerfen, die von etwas verschieden sind, erhalten wir die Kategorie des Nicht-Seins, die ebenso wirklich ist wie die Kategorie des Seins. Wir haben also das Gefängnis, in das uns Parmenides einschlossen hatte, aufgebrochen (Sph. 258c). Wir sind nunmehr in der Lage, zu erklären, was Falschheit im Denken und Reden ist. Das Problem bestand darin, dass es nicht möglich war, zu denken oder zu sagen, was nicht ist, weil Nichtsein Unsinn war. Doch jetzt, da wir festgestellt haben, dass Nicht-Sein vollkommen real ist, können wir mit seiner Hilfe falsche Gedanken und Sätze erklären. Ein typischer Satz besteht aus einem Nomen und einem Verb, und der sagt etwas über etwas. „Theaitetos sitzt“ und „Theaitetos fliegt“ sind beides Sätze über Theaitetos, doch ist einer von ihnen wahr und der andere falsch (Sph. 263b). Sie behaupten unterschiedliche Dinge über Theaitetos, und der wahre Satz sagt etwas über ihn, das zu den Dingen zählt, die auf ihn zutreffen, während der falsche Satz etwas über ihn sagt, das zu den Dingen gehört, die nicht auf ihn zutreffen. Fliegen ist nicht Nicht-

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sein, es ist ein etwas, das ist – es kommt sehr häufig vor –, doch es ist etwas, das von den Dingen verschieden ist, die Theaitetos ist, die in Wahrheit über Theaitetos ausgesagt werden können (Sph. 263b). Hin und wieder beschreibt Platon im Sophistes die Auseinandersetzung über das Wesen des Seins als Kampf zwischen Gruppen philosophischer Gegner. An einer Stelle ist es eine Schlacht zwischen Riesen und Göttern, wobei die Riesen Materialisten sind, die denken, es gebe nichts als Körper, und die Götter Idealisten, die die Existenz nicht-körperlicher Allgemeinbegriffe akzeptieren, wie sie in der Ideenlehre beschrieben werden (Sph. 246a ff.). An deren Stelle erscheinen die Materialisten, unter der Führung von Heraklit, als die Verteidiger der These eines universalen Flusses aller Dinge (da alle Körper sich ständig ändern), während der Anführer der Freunde der Ideen Parmenides zu sein scheint, mit seiner Theorie, dass alle Wirklichkeit unveränderlich ist. Letztlich wird uns gesagt, dass der wahre Philosoph Heraklit kein Gehör schenken darf und dass er auch die Theorie, dass alle wahre Wirklichkeit unveränderlich ist, verwerfen muss, ob sie nun vom Befürworter einer einzigen Idee (Parmenides) oder desjenigen einer Vielzahl von Ideen (Platon der Ideenlehre) vorgebracht wird. Der Sophistes zeigt uns, wie wir auf zwei Hochzeiten tanzen können, und sagt uns, dass das Sein alles umfasst, was unveränderlich ist, und alles, was dem Wandel unterliegt (Sph. 271d).

Aristotelische Universalien Aristoteles ging mit der Ideenlehre hart ins Gericht. Manchmal kritisiert er sie respektvoll (z. B. NE 1. 6. 1096a11 ff.: Platon ist mein Freund, aber die Freundschaft zur Wahrheit ist wichtiger) und manchmal mit Verachtung (z. B. Zweite Analytik, 22. 83a28: Abschied von solchem „Zikadengezirpe“). Seine Kritik, in ihrer unsanften oder zivilen Form, scheint stets gegen die Version gerichtet zu sein, die in den mittleren Dialogen vorgestellt wird, und nicht gegen die Entwicklungen der Lehre im Parmenides und Sophistes. Er macht allerdings in seinen eigenen Schriften häufig stillschweigend von Platons späteren Gedanken Gebrauch, besonders bei der Darlegung seiner eigenen Ideenlehre in Metaphysik Z. Er behandelt dort Schwierigkeiten von Platons Lehre und solche seiner eigenen als gleichrangig. Die Argumente dieses Buches sind dicht gedrängt und kompliziert, und die Darstellung, die ich von ihnen im Folgenden geben werde, kann lediglich beanspruchen, eine von mehreren möglichen Hilfestellungen zu sein, die uns durch sein Labyrinth führen. Der Unterschied zwischen aristotelischen und platonischen Ideen besteht darin, dass Ideen für Aristoteles keine getrennte (chorista) Seinsweise haben: Jede Idee ist die Idee eines realen Einzeldings. Wie wir bei unserer Darstellung der aristotelischen Physik gesehen haben, gehören Form und Materie zusammen, und die Musterbeispiele von Formen sind die wesentlichen und zufälligen Formen materieller Substan-

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Ob Aristoteles den Platonismus widerlegt hat oder nicht mag eine offene Frage sein, Filippino Lippi hat zumindest keinen Zweifel daran, dass Thomas von Aquin dies gelungen ist.

zen. Die Fragen, auf die Platon in seiner Lehre eine Antwort gesucht hat, kann Aristoteles in seiner eigenen Theorie jedoch nicht vermeiden. So muss er beispielsweise jemandem, der ihn fragt, was dem Vielen, das mit demselben Begriff bezeichnet wird oder unter dasselbe Prädikat fällt, gemeinsam ist, seine eigene Antwort geben. Mit anderen Worten: Er ist eine Theorie der Allgemeinbegriffe schuldig. In Metaphysik Z erörtert Aristoteles die Beziehung zwischen Sein, Substanz, Materie und Form. Er arbeitet in diesem Text an der Vermittlung der Substanz- und Prädikationslehre der Kategorienschrift mit den Lehren seiner Physik über Materie und Form, und er vereinigt die beiden, mit Änderungen und Erweiterungen, zu einer Lehre vom Sein. „Und die Frage, welche von alters her so gut wie jetzt und immer aufgeworfen und Gegenstand des Zweifels ist, die Frage, was das Seiende ist, bedeutet nichts anderes als, was die Wesenheit ist.“ (Metaph. Z 1. 1028b2–4) 10 10 Anm. d. Übers.: Sämtliche Zitate aus der Metaphysik des Aristoteles stammen aus: Aristo-

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Den Grund, den er dafür anführt, dass er die beiden Fragen zusammenführt, erinnert an die Kategorienschrift. Was immer ein Seiendes ist, muss entweder eine Substanz oder etwas sein, das zu einer Substanz gehört, wie etwa eine Quantität oder eine Qualität der Substanz. Wenn wir dasjenige auflisten, was es gibt, könnten wir Gesundheit und Freundlichkeit mit anführen. Doch jede konkrete Gesundheit ist die Gesundheit eines bestimmten Lebewesens und jede tatsächliche Freundlichkeit die Freundlichkeit einer bestimmten Person. Wenn wir in solchen Fällen fragen, was wirklich und wahrhaftig existiert, so wird die Antwort lauten: dieser gesunde Hund, diese freundliche Person (Metaph. Z 1. 1028a24–30). Aristoteles kann es demnach als selbstverständlich ansehen, dass materielle Entitäten wie Tiere und Pflanzen und Erde und Wasser und die Sonne und die Sterne Substanzen sind (Metaph. D 8. 1017b8; Z 3. 1028b8). Eine Reihe anderer Fragen, denen wir hier, um die Darstellung nicht zu weitläufig werden zu lassen, nicht nachgehen können, werden von ihm zur späteren Behandlung zurückgestellt: Sind Oberflächen, Linien und Punkte Substanzen? Sind Zahlen Substanzen? Doch auf die wichtige platonische Frage „Gibt es getrennte Substanzen irgendwelcher Art, unabhängig von denen, die wir mir unseren Sinnen wahrnehmen können?“ (Metaph. Z 3. 1028b8–32) geht er sofort ein, wenn auch auf umständliche Weise.

Wesen und Quiddität Wir sahen, dass Platon im Parmenides eine Form der Prädikation per se einführte: S ist per se P, wenn P zu sein Teil dessen ist, was es heißt, S zu sein. Aristoteles ist an dieser Form der Prädikation besonders interessiert. In den Kategorien ist es die Prädikation in der Kategorie der (zweiten) Substanz. In der Metaphysik ist es die Prädikation, die auf die Frage antwortet, was für eine Art von Ding etwas ist (ti esti). Manchmal spricht Aristoteles vom „Was-ist-es?“ eines Dinges, und im Kontext der gegenwärtigen Erörterung verwendet er häufig einen nahezu unübersetzbaren Ausdruck, to ti en einai, zusammengesetzt aus dem bestimmten Artikel, der Frage „Waswar-es?“ und dem Infinitiv des Verbs „sein“. Die wörtliche Übersetzung dieses Ausdrucks lautet: „das-Was-es–war-zu-Sein“ eines Dinges, d. h. die Art von Sein, die die Frage beantwortet „Was ist es?“. Lateinische Kommentatoren des Aristoteles verwendeten manchmal das Wort „quidditas“ als Entsprechung für diesen griechischen Ausdruck. Die lateinische Frage „quid est?“ entspricht der griechischen Frage ti esti?. Viele englischsprachige Gelehrte verwenden „essence“. Dies ist eine mögliche Übersetzung, doch werde ich mich an die lateinische Version halten und das Wort „Quiddität“ (quiddity) verwenden. „Essence“ ist natürlich selbst ein Latinismus, der sich vom lateinischen Verb für sein, „esse“ teles, Metaphysik, übersetzt von H. Bonitz, herausgegeben von U. Wolf (Hamburg: Rowohlt, 2002).

Wesen und Quiddität

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ableitet, ebenso wie das griechische ousia sich vom griechischen Wort für „sein“ ableitet. Es gibt jedoch gute Gründe bei der traditionellen Übersetzung „Substanz“ für ousia zu bleiben. Wir können dann das Wort „essence“ (Wesen) dazu verwenden, um mit einer anderen unglücklichen aristotelischen Konstruktion fertig zu werden. Wir können dann zum Beispiel vom Wesen des Goldes reden, wo Aristoteles von „dem für-Gold-Sein“ spricht. Er verwendet hier den Infinitiv nach dem griechischen Dativ, was wörtlich bedeutet „was es für Gold ist, Gold zu sein“. Auch diese letzte Konstruktion leitet sich wieder von Platons Beschäftigung mit Fragen darüber ab, was Teil dessen ist bzw. nicht ist, was es bedeutet, Gold zu sein. In den meisten Fällen können „Quiddität“ und „Wesen“ (essence) synonym verwendet werden. Nach diesen vorbereitenden Hinweisen können wir das Programm umreißen, das sich Aristoteles zu Beginn des zentralen Abschnitts von Metaphysik Z vornimmt. ‚Substanz‘, so führt er aus, hat vier Grundbedeutungen: die Quiddität, das Allgemeine, die Art und das Substrat. Jede dieser vier Bedeutungen behandelt er in späteren Kapiteln: das Substrat in Kapitel 3, die Quiddität in Kapitel 4 und 5, die Art erst ab Kapitel 12 und das Allgemeine schließlich in Kapitel 14. Das Substrat (to hypokeimenon) erweist sich als identisch mit der Ersten Substanz der Kategorien: Es ist dasjenige, von dem alles andere ausgesagt wird und was selbst von nichts ausgesagt wird. Derartige Erste Substanzen, so wird uns gesagt, sind aus Form und Materie zusammengesetzt, so wie eine Statue sich zu ihrer Bronze und ihrer Gestalt verhält (Metaph. 1029a3–5): So viel ist uns aus der Physik bereits vertraut. Aber Materie ist nicht Substanz (weil reine Materie für sich nicht existieren kann; Metaph. 1029a27), und wenn wir herausfinden sollen, ob Form mit Substanz gleichgesetzt werden darf, müssen wir ihre Beziehung zur Quiddität untersuchen. Bei seiner Behandlung der Quiddität verwendet Aristoteles eine Unterscheidung, die er in seinem Lexikon in Metaphysik D (1017a7) zwischen per se sein (kath’ auto) und per accidens sein (kata sumbebekos) trifft. Ich habe diese Ausdrücke bereits bei der Erläuterung von Platons Dialog Parmenides verwendet, obwohl Platons griechische Ausdrücke nicht ganz dasselbe bedeuten. Die lateinischen Ausdrücke sind einfach wörtliche Übertragungen der griechischen Ausdrücke des Aristoteles. Der Versuch, sie ins Deutsche zu übertragen, wäre vergeblich, da die Bedeutung jeglicher deutscher Äquivalente, wie im Fall der lateinischen und griechischen Ausdrücke, dem Kontext entnommen werden müsste, in dem sie vorkommen. Die Ausdrücke tauchen in verschiedenen Kontexten auf, zum Beispiel im Zusammenhang mit der Kausalität. Ein Baumeister ist eine per se Ursache eines Hauses: Er baut es als Baumeister. Doch wenn der Baumeister zufälligerweise blind ist, dann gibt die Schlagzeile „Blinder Mann baut ein Haus“ nicht die per se, sondern die per accidens Ursache des Hauses an. Die Unterscheidung wird auf das Sein in folgender Weise angewendet. Entitäten in allen zehn Kategorien, so sagt uns Aristoteles, sind Beispiele für per se Seiendes: Die Farbe oder Form eines Dinges ist ebenso ein per se Seiendes wie das Ding selbst (Metaph. D 7. 1017a22). Die Unterscheidung zwischen per se und per accidens ist

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klarerweise nicht dieselbe wie die zwischen Substanz und Akzidenz. Akzidenzien sind, so verwirrend es klingt, per se Seiendes. Es ist eine Substanz-qualifiziert-durchein-Akzidenz, was ein per accidens Seiendes ist. Während also die Weisheit von Sokrates ein per se Seiendes ist, ist es der weise Sokrates nicht; er ist ein per accidens Seiendes. Aristoteles verwendet seine Definition zur Definition der Quiddität: Eine Quiddität ist dasjenige, was man einem Ding per se zuschreibt. Jemand mag ein Gelehrter sein, er ist jedoch nicht ein Gelehrter per se wie er eine Person per se ist (Metaph. Z 4. 1029b15). „Der Gelehrte Theophrast“ bezeichnet ein per accidens Seiendes. „Der Mann Theophrast“ bezeichnet hingegen ein per se Seiendes und „Theophrast ist ein Mann“ ist eine per se Prädikation. Ein Mann zu sein, ist die Quiddität oder das Wesen von Theophrast. Eine Quiddität, so wird uns ferner gesagt, ist dasjenige, was durch eine Definition angegeben wird. Dies verblüfft, denn gewiss hat nicht nur per se Seiendes eine Definition. Zweifellos wäre ein Postbote für Aristoteles ein per accidens Seiendes: Doch können wir „Postbote“ nicht definieren als „der Mann, der die Post bringt“ (vgl. Metaph. 1029b27)? Aristoteles’ Antwort hierauf ist, dass wir nicht immer im Besitz einer Definition von X sind, wenn wir eine Reihe von Wörtern vor uns haben, die „X“ entsprechen: Ansonsten wäre das gesamte Epos eine Definition des Wortes „Ilias“ (Metaph. Z 4. 1030a9). Eine Definition muss eine Art und einen Gattungsbegriff verwenden, und nur eine solche Definition liefert eine Quiddität (Metaph. Z 4. 1030a12). Auf diese Weise können Akzidenzien und Substanzen definiert werden: Wir können nach der Bedeutung von „dreieckig“ ebenso fragen wie danach, was ein Pferd ist. Um diese Möglichkeit zuzugestehen, ist Aristoteles bereit, seine ursprüngliche, strenge Definition abzuschwächen. „Definition“, sagt er, ist ein analoger Begriff, wie „Sein“, „Quiddität“ und „Wesen“: Alle vier gehören primär zu Substanzen, ebenso wie „Gesundheit“ primär von Patienten ausgesagt wird und nur sekundär von Medikamenten und anderen der Gesundheit förderlichen Dingen. Sekundär können diese Ausdrücke auch auf Akzidenzien angewendet werden, und tertiär sogar auf per accidens Seiendes (Metaph. Z 4. 1030b1; Z 5. 1031a9). Als nächstes fragt Aristoteles: Welches Verhältnis besteht zwischen einem Ding und seiner Quiddität? Seine Antwort lautet, dass sie identisch sind, und dies überrascht uns, denn ein Ding ist gewiss ein konkretes Etwas und eine Quiddität sicherlich etwas Abstraktes. Seine erste Rechtfertigung dieser erstaunlichen Behauptung besagt, dass ein Ding doch bestimmt dieselbe Substanz ist wie es selbst, und die Quiddität eines Dinges wird seine Substanz genannt. Die Kategorienschrift scheint an dieser Stelle eine einfache Lösung für dieses Rätsel bereitzustellen: Sokrates ist beispielsweise identisch mit einer Ersten Substanz, und seine Quiddität ist seine Zweite Substanz. Doch hier in Metaphysik Z sucht Aristoteles nach der Antwort auf die Frage, was mit „Zweiter Substanz“ in Wirklichkeit gemeint ist. Wofür steht „Mensch“ in dem Satz „Sokrates ist Mensch“? Die erste Antwort, die Aristoteles erwägt, ist diejenige Platons: Das Wort steht für

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eine von Sokrates verschiedene Idee des Menschen. Aristoteles verwendet eine Variante des Arguments des Dritten Mannes, um zu zeigen, dass diese Antwort nicht akzeptabel ist. Wenn ein Pferd von seiner Quiddität verschieden wäre, so hätte die Quiddität des Pferdes ihre eigene Quiddität, und so weiter bis ins Unendliche. Das Kapitel endet mit folgendem Hinweis: „Daß bei demjenigen, was als ein Erstes und ein an sich Seiendes bezeichnet wird, die Wesenheit des Einzelnen mit dem Einzelnen selbst ein und dasselbe ist, das ist offenbar.“ (Metaph. Z 6. 1032a8) Dies scheint Folgendes zu bedeuten: In einem Satz wie „Sokrates ist weise“ bezeichnet das Wort „weise“ ein Akzidens, die Weisheit des Sokrates, die von Sokrates verschieden ist. In dem Satz „Sokrates ist Mensch“ bezeichnet das Wort „Mensch“ jedoch nichts, was von Sokrates selbst verschieden wäre. Wir müssen zwischen Sokrates und seiner Weisheit unterscheiden, denn sie haben zwei verschiedene Geschichten: Während Sokrates älter wird, kann Sokrates’ Weisheit zunehmen oder ihn vielleicht verlassen. Sokrates und sein Menschsein haben keine zwei verschiedenen Geschichten: Sokrates zu sein heißt Mensch zu sein, und wenn Sokrates aufhört ein Mensch zu sein, hört er auf zu existieren. Aber bleibt nicht immer noch etwas zu dem Unterschied zwischen konkret und abstrakt zu sagen? Aristoteles hilft uns in dieser Sache durch seine Erörterung des Werdens in Kapitel 7 und 8 weiter, wo er folgendermaßen argumentiert: Wenn ein Ding entsteht, beginnt weder seine Form noch seine Quiddität zu existieren. Mithilfe der ständig von ihm verwendeten Analogie einer Bronzekugel führt er aus, dass man bei ihrer Herstellung weder die Bronze noch die kugelförmige Gestalt erschafft. Verallgemeinernd fährt er fort: „denn alles, was entsteht, muß teilbar sein, und es muß das eine dies, das andere das sein, ich meine das eine Stoff, das andere Form. […] Aus dem Gesagten erhellt also, daß dasjenige, was wir als Form oder Wesenheit bezeichnen, nicht wird, wohl aber die nach ihr benannte Vereinigung.“ (Metaph. Z 8. 1033b16–19)

Anschließend zieht er eine anti-platonische Schlussfolgerung: Wenn alltägliche, materialisierte Formen überhaupt nicht entstehen, so ist es nicht erforderlich, getrennt existierende ideale Formen einzuführen, um erklären zu können, wie Formen entstehen (Metaph. Z 8. 1033b26). Ideen müssen noch nicht einmal bemüht werden, um zu erklären, wie eine einzelne Substanz ihre Form erhält. Menschliche Wesen erhalten ihre Form nicht von einer Idee des Menschen, sondern von ihren Eltern (Metaph. Z 8. 1033b32). Der Vater (und die Mutter, obwohl Aristoteles dies noch nicht wusste) ist dafür verantwortlich, dass die entsprechende Materie mit Form versehen wird. „Das konkrete Ganze nun, die so und so beschaffene Form in diesem Fleisch und diesen Knochen, ist Kallias und Sokrates. Und verschieden ist es durch den Stoff, denn dieser ist ein verschiedener, identisch durch die Form, denn die Form ist unteilbar.“ (Metaph. Z 8. 1034a8) In dieser Passage stellt Aristoteles eine Behauptung auf, die eine lange Geschichte haben

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sollte, nämlich die These, dass die Materie das Prinzip der Individuation ist. Diese These behauptet, dass dasjenige, was zwei Dinge, sie mögen so verschieden voneinander sein, wie sie wollen, voneinander unterscheidet, nicht der Unterschied ihrer Eigenschaften und Merkmale ist. Denn es ist möglich, dass zwei Dinge einander vollkommen ähnlich sind, ohne miteinander identisch zu sein. Zwei Erbsen, sie mögen sich noch so gleichen, sind beispielsweise zwei Erbsen und nicht eine, weil sie zwei verschiedene Ansammlungen von Materie sind. An einigen Stellen setzt Aristoteles Form und Quiddität einander gleich (z. B. Metaph. Z 7. 1032a33), und er sagt weiterhin, dass im Falle von Menschen und anderen Tieren die Form und die Quiddität mit der Seele gleichzusetzen sind (Metaph. Z 10. 1035b14). Dies stellt ein Problem dar: Wenn die Seele die Quiddität ist, und die Quiddität dasselbe wie dasjenige ist, was die Quiddität hat, bedeutet dies, dass Sokrates identisch ist mit der Seele von Sokrates? Aristoteles scheint für kurze Zeit bereit, diese Möglichkeit zu bedenken (Metaph. Z 11. 1037a8), doch ist es nicht seine reife Auffassung. Er präzisiert seine Gleichsetzung von Seele, Form und Quiddität auf folgende Weise: „Der Mensch aber im allgemeinen und das Pferd und das übrige dieser Art, was zwar von dem Einzelnen, aber als Allgemeines ausgesagt wird, ist nicht Wesenheit, sondern etwas aus diesem bestimmten Begriff und diesem Stoff als Allgemeinen Zusammengefaßtes.“ (Metaph. Z 10. 1035b27) Dies bedeutet, dass Fleisch und Blut zu haben, in der Tat Teil dessen ist, was es heißt, Mensch zu sein, doch dieses besondere Fleisch und Blut zu haben, ist nicht Teil dessen, was es heißt, Mensch zu sein. Es ist jedoch Teil dessen, was es heißt, Sokrates zu sein. Man mag sich fragen, welche Beziehung zwischen dem Paar Materie und Form und dem Paar Körper und Seele besteht. An der Stelle Metaph. Z 11. 1037a5 sagt Aristoteles, dass ein Tier aus Körper und Seele zusammengesetzt ist, und er setzt den Körper ausdrücklich der Materie gleich, doch er sagt an dieser Stelle nicht, dass die Seele Form ist, sondern dass sie Erste Substanz ist. Wenig später führt er aus, dass die primäre Substanz die in einem Ding inhärente Form ist und dass Substanz (einer anderen Art) hieraus und aus der Materie zusammengesetzt ist (Metaph. Z 11. 1037a29). Um dies mit seinen früheren Lehren in Einklang zu bringen, müssen wir annehmen, dass dasjenige, was er hier „Erste Substanz“ nennt, in den Kategorien als „Zweite Substanz“ bezeichnet wurde! Ein ernstes Problem bleibt jedoch bestehen. Beim Studium einer früheren Passage der Metaphysik hatten wir gute Gründe für die Schlussfolgerung, dass Aristoteles lehrte, in dem Satz „Sokrates ist Mensch“ bedeute das Prädikat „Mensch“ nichts anderes als Sokrates. Nun scheint nahegelegt zu werden, dass es Sokrates’ Form oder Seele bedeutet: Es ist dasjenige, was die Definition von Sokrates liefert, und es wird hier von Sokrates’ Materie unterschieden. Sokrates’ Körper ist offensichtlich Teil von Sokrates: Doch ist er Teil von Sokrates’ Definition oder Quiddität? Aristoteles’ Behandlung der Definition wirft etwas Licht auf diese Sache. Definitionen haben Teile, und die von ihnen definierten Substanzen ebenfalls: Aristoteles widmet der Erläuterung, dass – wenn A Teil von X ist – dies nicht immer bedeutet,

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dass die Definition von A Teil der Definition von X sein muss, ein eigenes Kapitel. (Man muss bei der Definition eines rechten Winkels einen spitzen nicht erwähnen. Tatsächlich trifft nur das umgekehrte zu; Z 11. 1035b6.) Die Definition muss Teile der Form anführen, jedoch nicht Teile der Materie. Teile der Form müssen durch die Definitionsmethode der Teilung, in Gattung und Art, bestimmt werden, der wir in Platons späteren Dialogen begegnet sind. Wir können jetzt verstehen, warum es irrig ist zu fragen, ob Sokrates’ Körper Teil seiner Quiddität ist. Körper und Seele sind Teile von Sokrates (Teile sehr besonderer Art, wie im nächsten Kapitel erläutert wird). Rational zu sein und ein Tier zu sein, sind Teile dessen, was es heißt, Sokrates zu sein. Einen Körper zu haben (einen organischen Körper einer bestimmten Art) gehört zu dem, was es heißt, ein Tier zu sein. Einen Körper haben ist jedoch in keinster Weise dasselbe wie ein Körper. Zu fragen, ob Sokrates’ Körper Teil seiner Quiddität ist, bedeutet, der Verwechslung von Konkretem und Abstraktem zu erliegen, die wir versucht waren, Aristoteles selbst vorzuwerfen. Andererseits müssen wir über die Seele etwas Ähnliches sagen. Die Seele kann nicht einfach mit der Quiddität gleichgesetzt werden, wie Aristoteles manchmal unvorsichtigerweise vorschlägt: Mensch zu sein bedeutet, eine Seele der entsprechenden Art zu haben, die in einem organischen Körper inkarniert ist. Ich habe mich nach Kräften bemüht, die Substanzlehre der Metaphysik zu erklären. Das Thema wurde von Aristoteles als Methode zur Beantwortung der grundsätzlichen Frage eingeführt: Was ist Sein? Es ist nunmehr an der Zeit, dass wir uns dieser Frage direkt stellen.

Sein und Existenz Es ist offensichtlich, dass Aristoteles den Ausdruck to on auf dieselbe Weise verwendet wie Parmenides: Sein ist, was immer auf irgendeine Weise irgendetwas ist. Wenn Aristoteles seine Bedeutung erklärt, so tut er dies, indem er die Bedeutungen des griechischen Verbs „sein“ erklärt (z. B. Metaph. D 7. 1017a6 ff., Metaph. Z 2. 1028a19 ff.). Zum Sein gehört alles, was Subjekt wahrer Sätze sein kann, in denen das Wort „ist“ vorkommt, unabhängig davon, ob auf „ist“ ein Prädikat folgt oder nicht. Sowohl der Satz „Sokrates ist“ als auch der Satz „Sokrates ist weise“ sagt uns etwas über das Sein. Die Prädikate aller Kategorien, so sagt uns Aristoteles, bezeichnen ein Sein, denn jedes Verb kann durch ein Prädikat ersetzt werden, das die Kopula „ist“ enthält: „Sokrates läuft“ kann beispielsweise durch „Sokrates ist ein Läufer“ ersetzt werden. Jedes Sein in jeder Kategorie außer der Kategorie der Substanz ist eine Eigenschaft oder Modifikation der Substanz. Dies ist der Grund dafür, warum das Studium der Substanz der Weg zum Verständnis der Natur des Seins ist. Es wäre bei Aristoteles ebenso falsch wie bei Parmenides, Sein mit Existenz gleichzusetzen. Im Eintrag für „Sein“ im Lexikon philosophischer Begriffe in Metaphysik D ist Existenz als Bedeutung von Sein noch nicht einmal erwähnt. Dies ist

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erstaunlich, denn in seinen Werken zur Logik scheint Aristoteles Existenz als eine spezielle Bedeutung von Sein angeführt zu haben. In den Sophistischen Überlegungen findet sich die Bemerkung: „[E]s ist nicht dasselbe, etwas sein und schlechthin sein“, 11 d. h. zu sein und F zu sein sind nicht dasselbe (SE 5. 167a2). Er verwendet dieses Prinzip, um ungültige Schlussfolgerungen aufzudecken: „Was nicht ist, ist, denn was nicht ist, wird gedacht“ oder „X ist nicht, weil X kein Mann ist“. Auf ähnliche Weise argumentiert er in Verbindung mit dem F-Sein dessen, was aufgehört hat zu sein. So folgt zum Beispiel aus dem Satz „Homer ist ein Dichter“ nicht, dass er ist (Int. 11. 21a25). In einer berühmten Passage der Zweiten Analytik (APo. 11. 7. 92b14) sagt Aristoteles: „‚sein‘ ist für nichts das Wesensmerkmal; denn ‚seiend‘ ist kein Seins-Geschlecht“. 12 Man kann dies so verstehen, dass damit behauptet wird, die Existenz sei nicht Teil des Wesens von irgendetwas, d. h., dass es so-und-so-etwas gibt, ist nicht Teil dessen, was es ist. Wenn dies die richtige Lesart ist, verdient die Stelle das Kompliment, das Schopenhauer ihr gemacht hat, als er sagte, Aristoteles sei in prophetischer Einsicht dem ontologischen Argument zuvorgekommen. 13 Es ist jedoch nicht klar, ob dies die einzig mögliche Interpretation dieser Textstelle ist. Die Prämisse, dass to on kein Gattungsbegriff ist, muss nicht bedeuten, dass es so ein etwas, wie die Dinge, die sind, nicht gibt, so wahr dies auch sein mag. Aristoteles argumentiert an anderer Stelle, dass Sein keine Gattung ist, denn eine Gattung werde durch Unterschiede, die von ihr verschieden sind, in Arten unterteilt, während jeder Unterschied ein Sein irgendwelcher Art sei (Metaph. B 3. 998b21). Der deutlichste Fall, in dem „sein“ die Bedeutung von „existiert“ haben muss, liegt vor, wenn es von „entia per accidens“ ausgesagt wird: Wenn Aristoteles sagt „Der weise Sokrates ist“ und dies von „Sokrates ist weise“ unterscheidet, wird er kaum etwas anderes meinen können als dies, dass der weise Sokrates existiert und zu den Dingen gehört, die es gibt. Es ist wesentlich schwieriger zu entscheiden, ob Aristoteles, wenn er einfach schreibt „Sokrates ist“, meint, dass Sokrates existiert oder dass er ein Subjekt der Prädikation ist: Wir können ihn nicht auf den Unterschied zwischen der Kopula „ist“ und dem „ist“ der Existenz festlegen, die für uns so klar scheint. Wenn „ist“ als Kopula auftritt und ein Subjekt mit einem Prädikat verbindet, können wir fragen, was es bedeutet. Zwei mögliche Interpretationen werden durch die aristotelischen Texte nahegelegt. Die eine besagt, dass es keine Bedeutung hat: Es ist ein unvollständiges Symbol, das für sich selbst nicht konstruiert werden darf, sondern mit dem Prädikatausdruck, der ihm folgt, zusammengenommen werden muss, sodass „… ist weiß“ als die akzidentielle Form „weiß“-Sein zu verstehen ist. Es gibt dann keine allgemeine 11 Zitiert nach: Aristoteles, Sophistische Widerlegungen, übersetzt von E. Rolfes (Hamburg: Felix Meiner Verlag, 1968). 12 Zitiert nach: Aristoteles, Erste Analytik, Zweite Analytik, übersetzt und herausgegeben von H. G. Zekl (Hamburg: Felix Meiner Verlag, 1998). 13 Siehe G. E. M. Anscombe, in: G. E. M. Anscombe and P. T. Geach, Three Philosophers (Oxford: Blackwell, 1961), 20 f.

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Antwort auf die Frage, was „ist“ bedeutet, sondern es gibt im Allgemeinen eine Antwort auf die Frage, was „… ist P“ bedeutet, nämlich eine Entität in einer der zehn Kategorien. Die andere Interpretation, die mit den Texten leichter in Einklang zu bringen ist, besagt, dass „ist“ für Sein steht, wobei „Sein“ als ein substantiviertes Verb wie „Laufen“ zu verstehen ist. Wenn wir dies behaupten, scheinen wir hinzufügen zu müssen, dass es mehrere unterschiedliche Arten von Sein gibt: Das Sein, das durch das „ist“ des substanziellen Prädikats „… ist ein Pferd“ bezeichnet wird, ist das Sein einer Substanz, während das Sein, das durch das „ist“ in dem akzidentiellen Prädikat „… ist weiß“ das Sein eines Akzidens bezeichnet und der Art entspricht, die in die Kategorie der Qualität fällt. Zwischen den verschiedenen Arten von Sein, und daher zwischen den verschiedenen Bedeutungen von „ist“, können noch weitere, detailliertere Unterscheidungen getroffen werden. Eine Passage, die diese Interpretation unterstützt, ist das zweite Kapitel von Metaphysik H (Eta). Aristoteles erläutert dort, dass es viele Hinsichten gibt, in denen Dinge voneinander unterschieden sind. Manchmal sind sie deshalb voneinander unterschieden, weil ihre Elemente auf unterschiedliche Art verbunden sind: Manchmal sind sie vermischt, wie in einem Punsch, manchmal sind sie zusammengebunden, wie in einer Garbe, und manchmal sind sie zusammengeklebt, wie in einem Buch. Es kommt auch vor, dass der Unterschied derjenige einer anderen Position ist: Ein rechteckiger Stein kann eine Schwelle oder ein Türsturz sein, je nachdem, ob er sich unter oder über einer Tür befindet. Die Zeit begründet den Unterschied zwischen Frühstück und Abendessen, und die Richtung zwischen einem Wind und einem anderen. Aristoteles stellt dann die Behauptung auf, dass „ist“ mit ebenso vielen unterschiedlichen Bedeutungen verwendet wird. Eine Schwelle ist, weil sie in eine bestimmte Position gebracht wurde, sodass ihr Sein darin besteht, auf diese Weise positioniert zu sein. Für Eis bedeutet zu sein auf eine bestimmte Weise fest geworden zu sein (Metaph. H 3. 1043b15 ff.). Während es falsch wäre, in Aristoteles’ Behandlung des Seins nach einer Erläuterung der Existenz zu suchen, wäre es ebenso falsch, wenn man annehmen würde, er wäre sich der Fragen, mit denen sich Philosophen im Zusammenhang damit beschäftigt haben, nicht bewusst. Wenn sich Philosophen fragen, welche Dinge wirklich existieren und welche nicht, geht es ihnen möglicherweise um den Gegensatz zwischen konkreten und abstrakten Dingen (z. B. zwischen Sokrates und der Weisheit, Sokrates und der Idee des Menschen), oder um den Gegensatz zwischen erdichteten und tatsächlichen Dingen (z. B. zwischen Pegasus und Bucephalus), oder aber um den Gegensatz zwischen noch oder nicht mehr vorhandenen Dingen (der Großen Pyramide und des Leuchtturms von Alexandria). Alle drei Probleme werden von Aristoteles in unterschiedlichen Zusammenhängen behandelt. Wir haben uns genauer angesehen, wie Aristoteles – durch die Einführung der Kategorien – mit abstrakten Begriffen fertig wird. Akzidenzien sind Modifikationen der Substanz, sodass Aussagen über abstrakte Begriffe, wie zum Beispiel Farben,

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Handlungen und Änderungen, als Aussagen über Erste Substanzen analysiert werden können. Prädikate in der Kategorie der Substanz implizieren andererseits nicht die Existenz irgendeiner Entität – wie zum Beispiel einer Idee der Menschheit –, die von der einzelnen Substanz einer bestimmten Art verschieden ist. Die Probleme, die sich im Zusammenhang mit Fiktionen ergeben, können von Aristoteles dadurch behandelt werden, dass er einen Sinn von „ist“ einführt, in dem es „ist wahr“ bedeutet (Metaph. D 7. 1017a31). Eine Fiktion ist ein wirklicher Gedanke, aber sie ist nicht, d. h., sie ist nicht wahr. Probleme, die sich aus dem Gegensatz zwischen dem Noch- und dem Nicht-mehr-Vorhandenen ergeben, behandelt Aristoteles so, dass er Probleme, die mit Dingen in Zusammenhang stehen, die zu existieren beginnen oder aufhören, mithilfe seiner Lehre über Stoff und Form löst. Zu existieren bedeutet, Stoff einer bestimmten Form zu sein, ein Ding einer bestimmten Art zu sein. Sokrates hört auf zu existieren, wenn er nicht länger seine Form besitzt, d. h., wenn er aufhört, ein menschliches Wesen zu sein. Aristoteles’ wichtigsten Beitrag zur Metaphysik, d. h. seine Lehre über Wirklichkeit und Möglichkeit, haben wir bislang noch gar nicht ausdrücklich erwähnt. Wenn wir ein beliebiges Ding betrachten, von einem Liter Milch bis zu einem Polizisten, werden wir feststellen, dass eine Reihe von Aussagen darüber wahr ist, und dass eine Reihe weiterer Aussagen, obwohl sie zurzeit nicht wahr ist, zu einem anderen Zeitpunkt wahr sein könnte. So ist der Liter Milch beispielsweise flüssig, doch er kann in Butter verwandelt werden. Der Polizist ist dick, liegt auf dem Bauch und spricht nur Englisch, doch wenn er will, kann er dünner werden, anfangen, den Rasen zu mähen, und Französisch lernen. Das, was etwas gegenwärtig ist oder tut, nennt Aristoteles seine Aktualitäten (energeiai), dasjenige, was etwas sein oder tun kann, seine Möglichkeiten (dynameis). Die Flüssigkeit ist daher in Wirklichkeit flüssig, aber der Möglichkeit nach Butter. Der Polizist ist in Wirklichkeit dick, der Möglichkeit nach aber dünn usw. Möglichkeit besteht im Gegensatz zur Wirklichkeit in der Fähigkeit, eine Veränderung irgendeiner Art zu erfahren, sei es durch eigene Tätigkeit oder durch die Einwirkung anderer Ursachen auf einen selbst. Eine Veränderung vom Dick- zum Dünnsein ist eine akzidentielle Veränderung: In einem solchen Fall hat eine Substanz die Möglichkeit, jetzt F, und später nicht-F zu sein. Eine Veränderung von Milch zu Butter würde für Aristoteles eine Änderung der Substanz sein. Was die Möglichkeit hat, eine andere substanzielle Form anzunehmen, ist nicht die Substanz, sondern der Stoff. Bei der Betrachtung der Gegensatzpaare Stoff und Form bzw. Substanz und Akzidens sind wir bestimmten Arten von Möglichkeit und Wirklichkeit bereits begegnet. Die Bedeutung der Analyse in der Geschichte der Metaphysik besteht darin, dass Aristoteles sie als eine Möglichkeit ansah, auf die durch Parmenides, Heraklit und Platon vorgegebenen Herausforderungen einzugehen. Die früheren Metaphysiker hatten die Paradoxa formuliert, die sich daraus ergeben, dass man entweder behauptet, das Sein stamme aus dem Sein oder aus dem Nichtsein. Aristoteles versucht sie dadurch zu umgehen, dass er sagt, tatsächliches Sein entstehe aus möglichem Sein.

Sein und Existenz

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Natürlich ist dies keine Zauberformel, mit der sich alle philosophischen Rätsel lösen lassen: Doch es ist ein angemessener Rahmen, in den detailliertere Analysen verschiedener Arten möglicher Änderungen eingefügt werden können. Aristoteles bezeichnete seine eigenen Untersuchungen nicht als „Metaphysik“. Der Name bezeichnete anfänglich lediglich dasjenige, was „nach der Physik“ kommt, und wurde den Texten dieses Namens von seinen Herausgebern beigelegt, die damit deren Platz innerhalb des aristotelischen Corpus anzeigten. Allerdings sagt er, dass es eine Wissenschaft gibt, die sich mit dem Sein als Seiendem beschäftigt sowie mit dem, was dem Sein an sich zukommt (Metaph. G 1. 1003a21). Diese Wissenschaft heißt „Erste Philosophie“ und sie beschäftigt sich mit den ersten Prinzipien und den höchsten Ursachen. Aristoteles scheint uns zwei sich widersprechende Beschreibungen für dieses Thema zu geben: Die eine erklärt, dass sie sich, im Gegensatz zu den besonderen Wissenschaften, mit dem Sein als Ganzem, die andere, dass sie sich mit einer besonderen Art von Sein, nämlich der göttlichen, unabhängigen und unveränderlichen Substanz beschäftigt (weshalb er sie manchmal auch als „Theologie“ bezeichnet). Sollen wir sagen, dass es zwei unterschiedliche Erklärungen des Seins als Seiendem gibt? Nein: So etwas wie Sein als Seiendes gibt es nicht. Es gibt lediglich unterschiedliche Methoden, das Sein zu untersuchen. Man kann das Sein als Seiendes studieren, doch handelt es sich dabei nicht um die Untersuchung eines mysteriösen Objekts, sondern darum, eine Untersuchung einer besonderen Art durchzuführen. Diese Untersuchung ist, wie alle aristotelischen Wissenschaften, eine Erforschung der Ursachen: Und wenn wir das Sein als Seiendes erforschen, suchen wir nach den allgemeinsten und ursprünglichsten Ursachen. Vergleichen wir dies mit den anderen Wissenschaften: Wenn wir die Physiologie des Menschen studieren, studieren wir Menschen als Tiere, d. h., wir studieren die Strukturen und Funktionen, die Menschen und Tieren gemeinsam sind. Aber es gibt natürlich nicht so ein Etwas wie einen Menschen als Tier. Etwas als ein Seiendes zu untersuchen bedeutet, es hinsichtlich dessen zu studieren, was es mit allen anderen Dingen gemeinsam hat. (Wenig genug, werden Sie vielleicht denken, und Aristoteles selbst behauptet, wie wir gesehen haben, dass nichts Sein als sein Wesen oder seine Natur haben kann.) Doch eine Untersuchung des Universums als Seiendem ist die Untersuchung eines einzigen umfassenden Systems, dass alle Ursachen der entstehenden und existent bleibenden Dinge umfasst. Am höchsten Punkt der Hierarchie der aristotelischen Ursachen – wie wir in Kapitel 9 noch genauer sehen werden – stehen die himmlischen bewegten und unbewegten Beweger, bei denen es sich um die letzten Ursachen alles Entstehens und Vergehens handelt. Wenn Aristoteles sagt, die Erste Philosophie studiere das Ganze des Seins, so weist er ihr das Feld dessen zu, was sie erklären soll. Sagt er, sie sei die Wissenschaft vom Göttlichen, so weist er ihr die letzten Prinzipien ihrer Erklärung zu. Dies ist er Grund dafür, dass Aristoteles’ Erste Philosophie sowohl die Wissenschaft vom Sein als Seiendem als auch Theologie ist.

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6 Was es gibt: Metaphysik

Die Epikureer und Stoiker haben den ontologischen Fragen, die Platon und Aristoteles so anhaltend beschäftigten, wenig Aufmerksamkeit gewidmet. Eine Entwicklung verdient es jedoch, dass kurz auf sie eingegangen wird. In einem seiner Briefe schreibt Seneca einem Freund, um ihm zu erklären, wie Dinge nach Arten und Gattungen klassifiziert werden: Der Mensch ist eine Tierart, doch über der Gattung Tier gibt es die Gattung Körper, da einige Körper belebt sind, andere (wie zum Beispiel Felsen) hingegen nicht. Gibt es eine Gattung oberhalb von Körper? Ja: Es gibt eine Gattung dessen, was ist (quod est), denn von den Dingen, die sind, sind einige körperlich und andere nicht. Nach Seneca ist dies die höchste Gattung. „Die Stoiker wollten über diese Gattung noch eine weitere, ursprünglichere Gattung setzen. Für diese Stoiker schien die höchste Gattung ‚etwas‘ zu sein – lass mich erklären warum. In der Natur, so lehren sie, sind einige Dinge, und andere Dinge nicht, und die Natur umfaßt sogar jene Dinge, die nicht sind – Dinge, die einem in den Sinn kommen, wie zum Beispiel Zentauren, Riesen und welch andere täuschenden Fiktionen ein Bild annehmen, obwohl es ihnen an Substanz fehlt.“ (Ep. 58. 11–15) 14

Hier sehen wir eine klare Verwendung des Verbs „sein“ im Sinne von „existieren“ ohne irgendwelche der Komplikationen, die auf Parmenides zurückgehen.15 Dies ist ein beträchtlicher Fortschritt. Durch die Behandlung des Existierenden und Nichtexistierenden als zwei Arten einer obersten ontologischen Gattung, nämlich „etwas“ (ti, quid) bereiteten die Stoiker jedoch den Boden für eine Jahrhunderte andauernde philosophische Verwirrung. Den Früchten dieser Verwirrung werden wir in späteren Bänden dieser Geschichte der Philosophie wiederbegegnen. Ihr am weitesten ausgearbeitetes Ergebnis ist das ontologische Argument für die Existenz Gottes, ihr modernster Sprössling die Unterscheidung zwischen wirklichen und möglichen Welten. Trotz der Bedeutung dieser stoischen Entwicklung wird die Metaphysik ihre Bedeutung als zentrale philosophische Disziplin der Antike erst bei den Neuplatonikern wiedererlangen. Doch bei einem Autor wie Plotin hat die Metaphysik eine so deutliche theologische Wende genommen, dass man seine Lehren am besten in Kapitel 9 behandelt, in dem wir uns der Philosophie der Religion zuwenden.

14 Zitiert nach: L. Annaeus Seneca, Philosophische Schriften, Band IV, übersetzt und herausgegeben von M. Rosenbach (Darmstadt: Wiss. Buchgesellschaft, 1984). 15 Siehe LS i, 163.

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Seele und Geist

Die Seele ist viel älter als die Philosophie. In vielen Gegenden der Welt und zahlreichen Kulturen haben Menschen sich vorgestellt, dass sie den Tod überleben werden, und die antiken Äquivalente des Wortes „Seele“ tauchen zuerst zur Bezeichnung dessen auf, was an uns unsterblich ist. Schon zu Beginn der Philosophie gehörten die Möglichkeit eines Lebens nach dem Tod und das Wesen der Seele zu ihren zentralsten Fragen im Grenzbereich zwischen Religion und Wissenschaft.

Pythagoras’ Seelenwanderungslehre Pythagoras, der oft als der erste Philosoph verehrt wird, war auch für seine Lehre bekannt, dass die Seele den Tod des Körpers überlebt. Er glaubte jedoch nicht wie viele andere, dass die Seele mit dem Tod in eine andere, schattenhafte Welt eintritt. Er war der Überzeugung, dass sie in die Welt zurückkehrt, in der wir alle leben, jedoch als Seele eines anderen Körpers. Er selbst behauptete, seine Seele von einer Reihe bedeutender spiritueller Ahnen geerbt zu haben, und er erklärte, er könne sich daran erinnern, einige Jahrhunderte früher als Held bei der Belagerung von Troja gekämpft zu haben. Eine derartige Wanderung (die durchaus nicht ewig andauern musste) war sehr verschieden von der seligen Unsterblichkeit der Götter, obwohl sie vom Tode ausgenommen war (D.L. 8. 45). Pythagoras zufolge konnten Seelen auf diese Weise nicht nur zwischen einem Menschen und einem anderen wandern, sondern auch über die Grenzen von Tierarten hinweg. Er griff einmal ein, als ein Mann einen kleinen Hund mit einer Peitsche schlug, weil er behauptete, in seinem Winseln die Stimme eines toten Freundes wiedererkannt zu haben (D.L. 8. 36). Shakespeare war von dieser Lehre tief beeindruckt und er bezieht sich mehrfach darauf. Malvolo, der in Was ihr wollt in den Lehren des Pythagoras unterwiesen wird, sagt uns, er habe geglaubt „[d]aß die Seele unsrer Großmutter vielleicht in einem Vogel wohnen kann.“ (iv. ii. 50 f.)

Und wenn Shylock im Kaufmann von Venedig misshandelt wird, wird die Möglichkeit der Seelenwanderung in umgekehrter Richtung erwähnt: „Du machst mich irre fast in meinem Glauben, Daß ich es halte mit Pythagoras,

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7 Seele und Geist

Wie Tieresseelen in die Leiber sich Von Menschen stecken“ (iv. i. 130–3) 1

Pythagoras trug keine philosophischen Argumente für ein Leben nach dem Tod und die Seelenwanderung vor. Stattdessen behauptete er, sie in seinem eigenen Fall dadurch zu beweisen, dass er seine Besitztümer aus einer früheren Inkarnation wiedererkannte. Er war daher der erste einer langen Reihe von Philosophen, die das Gedächtnis als Kriterium für personale Identität gelten lassen (Diodoros 10. 6. 2). Sein Zeitgenosse Alkmaion scheint der erste gewesen zu sein, der auf diesem Gebiet ein philosophisches Argument vorträgt, indem er behauptet, durch eine zweifelhafte Schlussfolgerung aus einer dunklen Prämisse, die Seele müsse unsterblich sein, da sie sich wie die göttlichen Körper des Himmels in ewiger Bewegung befindet (Aristoteles, De An.1. 2. 405a29–b31). Empedokles nahm eine kunstvolle Version der pythagoreischen Seelenwanderungslehre in seine zyklische Geschichtskonzeption auf. Als Ergebnis eines urzeitlichen Sündenfalls überleben Sünder, wie etwa Mörder und Verräter, als rastlose Geister ihren Tod für dreimal zehntausend Jahre und werden in zahlreichen Inkarnationen wiedergeboren, indem sie ein schweres Leben nach dem anderen erdulden müssen (DK 31 B115). Da die Körper von Tieren auf solche Weise zum Wohnort bestrafter Seelen werden, wies Empedokles seine Anhängern an, kein Fleisch lebender Wesen zu essen. Wer ein Tier schlachte, könne auf diese Weise sogar den eigenen Sohn oder die eigene Mutter angreifen (DK 31 B137). Außerdem kann die Seele nicht nur in Tiere, sondern auch in Pflanzen wandern, sodass selbst Vegetarier ihre Nahrung vorsichtig auswählen und es insbesondere vermeiden sollten, Bohnen und Lorbeer zu essen (DK 31 B141). Wenn man nach dem Tod als Tier wiedergeboren werden musste, sei es am besten, ein Löwe zu werden; müsse man zu einer Pflanze werden, am besten ein Lorbeerbaum. Empedokles selbst behauptete, die Seelenwanderung nicht nur in einen anderen Mensch, sondern auch in das Pflanzen- und Tierreich erlebt zu haben. „Ich war ja einst schon Knabe, Mädchen, Strauch, und aus dem Meer emportauchender stummer Fisch.“ (DK 31, B 117; 243)

Die Erforschung der Natur der Seele in diesem Leben scheint in dieser Anfangsphase erst nach den Spekulationen über ihren Aufenthalt in einem Leben nach dem Tod begonnen zu haben. Die frühesten Denker scheinen ausnahmslos eine materialistische Position vertreten zu haben: Die Seele bestand entweder aus Luft (Anaximenes und Anaximander) oder Feuer (Parmenides und Heraklit). Es dauerte allerdings einige Zeit, bis man auf die Frage einging: Wie übernimmt ein materielles Element, wie 1

Zitiert nach: W. Shakespeare, Sämtliche Werke in vier Bänden, übersetzt von D. Tieck und A. W. Schlegel u. a., herausgegeben von A. Schlösser (Berlin: Aufbau-Verlag, 1975).

Pythagoras’ Seelenwanderungslehre

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Pythagoras berechnet für seine Schüler die Größe des schon längst verstorbenen Herkules (aus einem Manuskript des 15. Jahrhunderts von Aulus Gellius).

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7 Seele und Geist

feinkörnig und flüssig es auch sein mag, die für die Seele charakteristischen Funktionen des Fühlens und Denkens? Heraklit bietet lediglich einen großartigen Vergleich: „Wie die Spinne, die in der Mitte ihres Gewebes sitzt, es merkt, sobald eine Fliege einen Faden [ihres Gewebes] zerstört und daher schnell dorthin läuft, als wenn sie sich über die Zerstörung des Fadens grämte, so eilt die Seele des Menschen, wenn ein Teil seines Körpers verletzt ist, schnell dorthin, als ob sie durch die Verletzung des Körpers gekränkt sei, mit dem sie fest und in einem bestimmten Verhältnis verbunden ist.“ (DK 22 B 67a; 147 f.)

Dieser Absatz ist der Vorläufer zahlreicher philosophischer Versuche, die Fähigkeiten und das Verhalten der Menschen als die Aktivitäten eines winzigen Tieres in seinem Inneren zu erklären – auch wenn spätere Philosophen eher geneigt waren, die Seele als einen inneren Homunkulus statt als inneren Gliederfüßer anzusehen.

Wahrnehmung und Denken Empedokles war der erste Philosoph, der eine detaillierte Erklärung des Wahrnehmungsvorgangs gegeben hat. Wie seine Vorgänger war er Materialist. Die Seele war, wie alles andere im Universum, aus Erde, Luft, Feuer und Wasser zusammengesetzt. Zu einer Empfindung kommt es, wenn sich eine Übereinstimmung zwischen jedem dieser Elemente, wie sie in den Objekten der Wahrnehmung vorkommen, mit ihren Gegenstücken in unseren Sinnesorganen ergibt. Streit und Liebe, die Kräfte, die in Empedokles’ System auf die Elemente einwirken, sind an diesem Übereinstimmungsvorgang, der von dem Prinzip bestimmt wird, dass Gleiches von Gleichem wahrgenommen wird, ebenfalls beteiligt. „Denn mit der Erde [in uns] sehen wir die Erde, mit dem Wasser das Wasser, Mit der Luft die göttliche Luft, aber mit dem Feuer das vernichtende Feuer, Mit der Liebe die Liebe, den Streit mit dem traurigen Streite.“ (DK 31 B109; 236)

Der Vorgang scheint folgendermaßen abzulaufen. Die Gegenstände der Welt sondern einen Stoff ab, der die Poren unserer Augen erreicht. Schall ist eine Absonderung, die in unsere Ohren dringt. Wenn es zur Wahrnehmung kommen soll, müssen die Poren und die abgesonderten Stoffe zueinanderpassen (DK 31 A86). Diese Übereinstimmung muss sich natürlich auf der Ebene der Elemente ergeben, der grundlegenden Erklärungsprinzipien in Empedokles’ System. In manchen Fällen ist dies einfach: Schall wird durch die Luft weitergetragen, der die Luft im Inneren des Ohres entspricht. Im Falle des Sehvermögens liegen die Dinge komplizierter. Hier muss es um die Verhältnisse jedes der einzelnen Elemente gehen, wie es in dem oben zitierten

Wahrnehmung und Denken

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Fragment nahegelegt wird. Die komplizierteste Mischung aller Elemente ist das Blut, und da sich das Blut um das Herz bewegt, führt dies zur Entstehung von Gedanken. Die komplizierte Art der Zusammensetzung des Blutes erklärt das umfassende Wesen des Denkens (DK 31 B105, 107). Die primitive Form von Empedokles’ Materialismus machte ihn zu einer leichten Zielscheibe für spätere Philosophen des Geistes. Aristoteles beanstandete, er habe nicht zwischen Wahrnehmung und Denken unterschieden. Andere wiesen darauf hin, dass außer Augen und Ohren auch andere Dinge Poren haben: Warum also konnten Schwämme und Bimssteine nicht ebenfalls Wahrnehmungen haben? Der Atomist Demokrit schlug eine Antwort auf diese Frage vor. Das gesehene Bild sei das Produkt einer Interaktion zwischen den von dem gesehenen Objekt und der sehenden Person abgegebenen Stoffen: Dieses Bild oder dieser Eindruck entstand in der Luft zwischen Objekt und Betrachter und gelangte dann in die Pupille des Auges (KRS 589). Doch gelang es Demokrit ebenso wenig wie Empedokles, eine auch nur annähernd überzeugende Erklärung des Denkens zu geben, und er zog wie dieser Aristoteles’ Kritik auf sich. Derjenige Vorsokratiker, den die späteren Griechen als Philosophen des Geistes verehrten, war Anaxagoras. Er glaubte, dass das Universum als eine winzige, komplexe Einheit begonnen und sich zu der Welt, die wir kennen, erst entwickelt habe, doch dass in jedem Stadium dieser Entwicklung jedes einzelne Ding ein Teil von allem anderen enthält. Diese Entwicklung wird vom Geist (nous) beherrscht, der selbst außerhalb des evolutionären Prozesses steht. „Die andere Dinge haben an jedem [Stoff] Anteil; der Geist aber ist etwas Unendliches und Selbstherrliches und er ist mit keinem Dinge vermischt; denn wenn er nicht für sich [allein], sondern mit irgend etwas anderem vermischt wäre, dann hätte er an allen Dingen Anteil, wenn er nämlich mit etwas vermischt wäre. […] Und es würden die mit ihm vermischten Stoffe [nur] hindern, so daß er über kein Ding in derselben Weise herrschte, wie wenn er allein für sich selbst wäre. Denn er ist das feinste und reinste von allen Dingen und er besitzt von jedem Dinge jede Erkenntnis, und er hat die größte Kraft. Und alles, was Seele hat, Größeres und Kleineres, über all dies hat der Geist Gewalt.“ (KRS 476; 270)

Anaxagoras unterschied zwischen Seelen, die Teil der materiellen Welt sind, und einem gottähnlichen Geist, der immateriell ist oder zumindest aus einem einzigartigen, himmlischen Stoff besteht. Während für Empedokles Gleiches von Gleichem erkannt wurde, kann der Geist des Anaxagoras alles andere nur erkennen, weil er von allem anderen verschieden ist. Es gibt nicht nur den einen großen kosmischen Geist: Einige andere Dinge (vermutlich Menschen) haben Anteil an diesem Geist, sodass es kleinere und größere Geister gibt (KRS 476, 482).

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7 Seele und Geist

Unsterblichkeit in Platons Phaidon Zu den von Anaxagoras beeinflussten Philosophen gehörte auch Sokrates, doch es ist schwer etwas mit Bestimmtheit darüber zu sagen, was der historische Sokrates über Seele und Geist gedacht hat. Der Sokrates in Platons Apologie scheint bezüglich der Möglichkeit eines Lebens nach dem Tod eine agnostische Position zu beziehen. Er fragt sich, ob der Tod ein traumloser Schlaf ist oder eine Reise in eine andere Welt, um die glorreichen Toten zu treffen? „Jedoch, es ist nun Zeit, daß wir gehen, ich, um zu sterben, und ihr, um zu leben. Wer aber von uns beiden zu dem besseren Geschäft hingehe, das ist allen verborgen außer nur Gott.“ (Apol. 40c–42a) Der platonische Sokrates im Dialog Phaidon ist hingegen der wortgewandteste Vorkämpfer für die These, dass die Seele nicht nur den Tod überlebt, sondern dass es ihr nach dem Tode besser geht (Phd. 63e). Der Ausgangspunkt seiner Diskussion ist die Auffassung des menschlichen Wesens als einer in einem Körper gefangen gehaltenen Seele. Wahren Philosophen bedeuten körperliche Vergnügen wie Essen, Trinken und sexuelle Betätigung nur wenig und sie halten den Körper eher für ein Hindernis als eine Hilfe bei der Verfolgung ihrer philosophischen Ziele (Phd. 64c–65c). „Und sie [die Seele] denkt offenbar am besten, wenn nichts von diesem sie trübt, weder Gehör noch Gesicht noch Schmerz und Lust, sondern sie am meisten ganz für sich ist, den Leib gehen lässt und soviel irgend möglich ohne Gemeinschaft und Verkehr mit ihm dem Seienden nachgeht.“ (Phd. 65c) Die Seelen der Philosophen, die nach der Wahrheit streben, halten daher von ihren Körpern Abstand. Doch der Tod ist die Trennung der Seele vom Körper: Daher hat der echte Philosoph während seines gesamten Lebens in Wirklichkeit den Tod herbeigesehnt (Phd. 67e). Sokrates’ Gesprächspartner Simmias und Kebes finden seine Worte erbaulich: Doch Kebes fühlt sich verpflichtet darauf hinzuweisen, dass die meisten Menschen die Vorstellung, die Seele könne den Körper überleben, verwerfen würden. Sie glauben, dass die Seele im Tod aufhört zu existieren, und sich wie eine Rauchwolke in Nichts auflöst (Phd. 70a). Sokrates stimmt ihm zu, dass er beweisen müsse, dass die Seele den Tod eines Menschen überdauert. Zunächst führt er ein Argument an, das sich auf Gegensätze stützt. Wenn zwei Dinge entgegengesetzt sind, stammt jedes von ihnen vom anderen ab. Um einschlafen zu können, muss man wach gewesen sein; um erwachen zu können, muss man geschlafen haben. Wenn A größer wird als B, muss A kleiner gewesen sein als B; wenn A besser wird als B, muss A schlechter gewesen sein als B. Gegensätze wie größer und kleiner, besser und schlechter, gehen also auseinander hervor. Aber Tod und Leben sind ebenfalls Gegensätze, und in diesem Fall gilt das Gleiche. Wenn der Tod aus dem Leben kommt, muss nicht das Leben seinerseits aus dem Tode kommen? Da das Leben nach dem Tod nicht sichtbar ist, muss es ein Leben in einer anderen Welt sein (Phd. 70c–72e). Sokrates nächstes Argument versucht zu beweisen, dass eine körperlose Seele nicht nach dem Tod, sondern vor ihrem Leben im Körper existiert hat. Er behauptet

Unsterblichkeit in Platons Phaidon

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Der Tod des Sokrates wurde zum Gegenstand zahlreicher Gemälde. Dieses stammt von Claude Dufresnoy (1611–1668).

zunächst, dass Erkenntnis in Wiedererinnerung besteht, und anschließend, dass Wiedererinnerung die Präexistenz der Seele zur Voraussetzung hat. Wir sehen häufig Dinge, die mehr oder weniger gleich groß sind. Doch wir sehen niemals zwei Dinge, die miteinander absolut identisch sind. Unsere Idee der Gleichheit kann daher nicht aus der Erfahrung stammen. Die in etwa gleichen Dinge, denen wir in der Erfahrung begegnen, sind lediglich Erinnerungen an eine absolute Gleichheit, der wir früher begegnet sind.Doch fand diese Begegnung weder im gegenwärtigen Leben statt, noch mithilfe der Sinne: Sie muss in einem früheren Leben stattgefunden haben und mithilfe des reinen Verstandes zustande gekommen sein. Was für die Idee der absoluten Gleichheit gilt, muss ebenso für andere ähnliche Ideen gelten, wie zum Beispiel das absolut Gute und absolut Schöne (Phd. 73a–77d). Sokrates’ drittes Argument stützt sich auf die Begriffe der Auflösbarkeit und ihr Gegenteil. Was immer zerfallen kann, wie der Körper nach dem Tode, muss zusammengesetzt und veränderlich sein. Doch die Ideen, um die es der Seele geht, sind unveränderlich, im Gegensatz zu den sichtbaren und nur vergänglichen Schönheiten, die wir mit unseren Augen wahrnehmen. In der sichtbaren Welt der allumfassenden Veränderung wankt die Seele wie ein Betrunkener. Nur wenn sie in sich selbst zurückkehrt, tritt sie in eine Welt der Reinheit, der Ewigkeit und Unsterblichkeit ein, in der

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sie zuhause ist. Wenn selbst Körper, wie die Mumien in Ägypten, jahrelang überleben können, ist es kaum glaubwürdig, dass die Seele sich mit dem Eintritt des Todes auflöst. Stattdessen wird sie, vorausgesetzt es ist eine durch Philosophie geläuterte Seele, in eine unsichtbare Welt der Glückseligkeit eingehen (Phd. 78b–81a). Als Antwort auf diese Argumente stellt Simmias eine andere Konzeption der Seele vor. Er fordert uns auf, uns eine Leier vorzustellen, die aus Holz und Saiten angefertigt ist und durch die Spannung der Saiten gestimmt wird. Ein lebender menschlicher Körper könne mit einer gestimmten Leier verglichen werden, und ein toter Körper mit einer ungestimmten Leier. Es wäre absurd, die Auffassung zu vertreten, dass die Stimmung, weil sie kein materielles Ding wie Holz oder eine Saite ist, die Zerstörung der Leier überleben könnte. Wenn die Saiten des Körpers durch Verletzung oder Krankheit ihre Stimmung verlieren, muss die Seele genauso vergehen wie die Stimmung einer zerbrochenen Leier (Phd. 84c–86e). Auch Kebes hat einen Einwand vorzubringen. Er stimmt zu, dass die Seele widerstandsfähiger als der Körper ist und nicht aufhören muss zu existieren, wenn der Körper stirbt. Im normalen Ablauf des Lebens erleidet der Körper immer wieder Verletzungen und Verschleiß und muss von der Seele ständig repariert werden. Doch könnte eine Seele in dem Sinne unsterblich sein, dass sie zwar den Tod überdauern kann, ohne in dem Sinne unvergänglich zu sein, dass sie ewig leben wird. Selbst wenn sie von einem Körper zum nächsten wandert, wird sie sich vielleicht eines Tages auflösen, ebenso wie ein Weber, der im Laufe seines Lebens zahlreiche Mäntel hergestellt und aufgetragen hat, eines Tages stirbt, und einen Mantel zurücklässt (Phd. 86e–88b). Sokrates führt mehrere Gründe an, warum Simmias’ Analogie zurückgewiesen werden sollte. Richtig gestimmt sein lässt verschiedene Grade zu, doch keine Seele kann mehr oder weniger eine Seele sein als eine andere. Was die Stimmung der Leier ausmacht, ist die Spannung der Saiten, aber im Fall des Menschen verläuft die Beziehung in die andere Richtung: Es ist die Seele, die den Körper in Ordnung hält (Phd. 92a–95e). Als Antwort auf Kebes führt Sokrates eine Unterscheidung ein, die spätere Philosophen als die zwischen den notwendigen und zufälligen Eigenschaften von Dingen bezeichnen werden. Menschen können groß sein oder nicht: Großsein ist eine kontingente Eigenschaft von Menschen. Die Zahl drei kann hingegen nur ungerade und Schnee muss kalt sein: Diese Eigenschaften sind notwendig und nicht nur kontingent. Kälte kann sich nicht in Wärme verwandeln und daher muss Schnee, der notwendigerweise kalt ist, entweder aus dem Wege gehen oder auflösen, wenn sich ihm Wärme nähert (Phd. 103a–105c). Dies lässt sich verallgemeinern. Es ist nicht nur unmöglich, dass Gegensätze einander aufnehmen: Nichts, was notwendigerweise ein Gegenteil mit sich bringt, lässt das Gegenteil dessen zu, das es mit sich bringt. Nun bringt Seele Leben ebenso mit sich wie Schnee Kälte. Doch der Tod ist das Gegenteil des Lebens, sodass die Seele den Tod ebenso wenig zulassen kann, wie Schnee Wärme. Was jedoch den Tod nicht zulassen kann, ist unsterblich, und somit ist die Seele unsterblich. Im Gegensatz

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zum Schnee löst sie sich nicht auf, sondern zieht sich in eine andere Welt zurück (Phd. 105c–107a). Im Dialog überzeugen Sokrates’ Argumente Simmias und Kebes, doch sicherlich nicht zu Recht. Stimmt es denn, dass Gegensätze immer von Gegensätzen abstammen? Und selbst wenn Gegensätze von Gegensätzen abstammen, muss sich der Zyklus ewig wiederholen? Selbst wenn der Schlaf auf das Wachsein folgen muss: Kann sich an ein letztes Erwachen (wie Sokrates in der Apologie vermutet) nicht ein ewiger Schlaf anschließen? Und wie wahr es auch sein mag, dass die Seele den Tod nicht zulassen kann: Warum muss sie sich an einen anderen Ort zurückziehen, wenn der Körper stirbt, statt sich aufzulösen wie der schmelzende Schnee?

Die Anatomie der Seele Im Phaidon wird die Seele als einzelne, einheitliche Entität behandelt. Anderswo gibt uns Platon Beschreibungen der Seele, in denen sie verschiedene Teile mit unterschiedlichen Funktionen hat. Im Dialog Phaidros, nachdem er einen kurzen, an Alkmaion erinnernden Beweis dafür gegeben hat, dass die Seele unsterblich sein muss, weil sie sich selbst bewegt, geht Platon dazu über, ihre Struktur zu beschreiben. Er fordert uns auf, sie uns als eine Triade vorzustellen: als einen Wagenlenker mit einem Pferdepaar, einem guten und einem schlechten Pferd, auf dem Weg zu einem himmlischen Festmahl (Phdr. 246b). Das gute Pferd strebt nach oben, während das schlechte Pferd den Wagen stets nach unten zieht. Die beiden Pferde sollen offensichtlich zwei verschiedene Teile der Seele darstellen, doch werden ihre genauen Funktionen niemals erklärt. Platon verwendet diese Analogie hauptsächlich im Kontext der Erläuterung des Ideals philosophischer, homoerotischer Liebe. An dem Punkt, an dem sich ein Mann und ein Knabe und vier Pferde gemeinsam in einem Bett befinden, ist dem Autor seine Metapher offensichtlich entglitten (Phdr. 256a). Im Dialog Politeia finden wir eine nüchternere Beschreibung der Anatomie der Seele. In Buch 4 behauptet Sokrates, dass die Seele aus drei Elementen besteht, ebenso wie der vorgestellte Idealstaat aus drei Klassen. „Das ist aber wohl schwer [zu erkennen], ob wir mit demselben [Teil der Seele] alles verrichten, oder von dreien mit jeglichem ein anderes: mit einem von dem, was in uns ist, lernen, mit einem anderen uns mutig erweisen, und mit einem dritten wiederum die mit der Ernährung und Erzeugung verbundene Lust begehren, und was dem verwandt ist, oder ob wir mit der ganzen Seele jegliches von diesen verrichten, wenn wir auf eines gestellt sind?“ (Pol. 436a–b). Er findet seine Antwort, indem er das Phänomen des seelischen Konflikts bedenkt. Ein Mann kann durstig sein und dennoch nicht trinken wollen (vielleicht aufgrund der Anordnung eines Arztes): Dies beweist, dass es einen Teil der Seele gibt, der reflektiert, und einen anderen, der körperliches Verlangen empfindet. Der erste kann als Verstand (to logistikon) und der zweite als Begehrungsvermögen (to epithymetikon) bezeichnet werden. Zorn kann jedoch keinem dieser beiden zu-

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Platons Vision der Seele als Wagenlenker, nach der Darstellung von Donatello in einem Medaillon auf einer Porträtbüste.

geschrieben werden: Nicht dem Begehrungsvermögen, denn unsere eigenen perversen Wünsche können uns abstoßen; und nicht dem Verstand, denn Kinder können Wutanfälle haben, bevor sie das Alter der Besonnenheit erreichen. Da Zorn mit dem Verstand und dem Begehrungsvermögen in Konflikt geraten kann, müssen wir ihn einem dritten Element der Seele zuordnen, das wir als Eifer (to thymoeides; Pol. 441b) bezeichnen können. In der Seele entspricht Gerechtigkeit der Harmonie dieser drei Elemente. Im neunten Buch der Politeia begegnet uns die dreiteilige Seele erneut. Das niedrigste Element der Seele kann als das geldgierige Element bezeichnet werden, da Geld das hauptsächliche Mittel zur Befriedigung der Wünsche des Begehrungsvermögens ist. Der Eifer erstrebt Macht, Erfolg und Ruhm und kann daher als der ehrsüchtige oder ehrgeizige Teil der Seele bezeichnet werden. Der Verstand erstrebt die Erkenntnis der Wahrheit: Seine Liebe gilt dem Studium. In der Seele jedes Menschen kann der eine oder andere Teil dominieren: Er kann dementsprechend als geldgierig, ehrsüchtig oder akademisch eingestuft werden. Jeder Menschentyp wird sein eigenes Leben als das bestmögliche ausgeben: Der geldgierige Mann wird die Geschäftswelt loben, der ehrgeizige Mann eine politische Laufbahn und der akademische Wissen und Verstehen und ein der Forschung gewidmetes Leben. Natürlich gibt Platon dem Philoso-

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phen den Lorbeer des Siegers: Er hat die breiteste Erfahrung und die zuverlässigste Urteilskraft, und die Gegenstände, denen er sein Leben widmet, sind viel wirklicher als die illusionären Vergnügungen, denen sich die Vertreter der beiden anderen Lebensformen ergeben haben (Pol. 587a). Wie sich zeigen wird, gibt es zwischen den Darstellungen der Seele in den Büchern 4 und 9 Unterschiede. Zwischenzeitlich hat Platon die Ideenlehre eingeführt und seinen Lehrplan für die Erziehung des Philosophenkönigs dargelegt. Die Aufgabe des Verstandes besteht nicht mehr allein darin, für den Körper zu sorgen: Sie kommt in der aufsteigenden Reihe geistiger Zustände und Aktivitäten zum Ausdruck, die im Liniengleichnis beschrieben sind: Einbildung, Meinung und Wissen. Am Ende von Buch 9 verabschieden wir uns von der dreiteiligen Seele mit einem eindrücklichen Bild. Das Begehrungsvermögen ist ein vielköpfiges Tier, dem ständig neue Köpfe zahmer und wilder Tiere wachsen. Der Eifer ist wie ein Löwe und der Verstand wie ein Mensch. Das Tier ist größer als die anderen beiden, und alle drei befinden sich im Inneren eines menschlichen Wesens. Seit Heraklits Spinne haben wir einen weiten Weg zurückgelegt. Die dreiteilige Seele ist nicht Platons letztes Wort in der Politeia. Im zehnten Buch stellt er verschiedene Teile des verständigen Teils der Seele einander gegenüber: Einen, der durch optische Täuschungen verwirrt wird, und einen anderen, der misst, zählt und wiegt. Während in den früheren Büchern die Teile der Seele nach ihren Wünschen unterschieden wurden, haben wir es jetzt mit einem Unterschied der geistigen Kraft zu tun, der die Grundlage des Unterschieds der verschiedenen Teile abgibt. Im selben Buch legt Sokrates einen neuen Beweis der Unsterblichkeit der Seele vor. Jedes Ding wird durch die ihm eigene Krankheit zerstört: Augen durch Linsentrübung und Eisen durch Rost. Das Laster ist die charakteristische Krankheit der Seele: Doch es zerstört sie nicht. Wenn noch nicht einmal die der Seele eigentümliche Krankheit sie töten kann, dann kann sie auch durch keine körperliche Krankheit getötet werden und muss daher unsterblich sein (Pol. 609d). Was jedoch unsterblich ist, kann keine auf prekäre Weise zusammengesetzte Einheit sein, wie die dreiteilige Seele. Solch eine Seele ist wie eine Statue im Meer, die mit Muscheln bedeckt ist. Dasjenige Element der Seele, dass die Weisheit liebt und eine Leidenschaft für das Göttliche hat, muss von den unwesentlichen Elementen befreit werden, wenn es in seiner ganzen Schönheit sichtbar werden soll. Die Frage, ob die in ihrem wahren Wesen betrachtete Seele sich als etwas Mannigfaltiges oder Einfaches zeigen würde, wird offen gelassen (Pol. 611b ff., 612a3). Im Timaios taucht die dreiteilige Seele jedoch erneut auf, und ihren Teilen werden räumliche Positionen zugewiesen. Der Kopf ist der Sitz des Verstandes, während die beiden anderen Teile eine Position im Körper einnehmen, wobei der Hals eine Art „Meeresenge“ darstellt, der die göttlichen und sterblichen Elemente der Seele voneinander getrennt hält. Der Ort des Eifers ist die Umgebung des Herzens, der des Begehrungsvermögen der Bauch. Das Zwerchfell trennt die beiden wie eine Trennwand die Gemächer der Frauen und Männer in einem Haus. Das Herz ist die Über-

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wachungsstation, von der aus, durch das zirkulierende Blut, Befehle an den gesamten Körper erteilt werden können, wenn der Verstand zu irgendeinem Zweck befiehlt, eine Gefechtsposition einzunehmen. Der unterste Teil der Seele wird durch die Leber kontrolliert, die für den Einfluss des Geistes besonders anfällig ist. Die Windungen des Dünndarms haben die Funktion zu verhindern, dass irgendwelche Wünsche unersättlich werden (Ti. 69c–73b).

Platon über die sinnliche Wahrnehmung Während der Timaios, wie die frühen Bücher der Politeia, die Seele auf der Grundlage des Begehrungs- statt des Erkenntnisvermögens unterteilt, widmet sich dieser Dialog relativ ausführlich dem Mechanismus der Sinneswahrnehmung. Auf den Status der Sinneswahrnehmung geht Platon auch im Dialog Theaitetos ein, und zwar im Zusammenhang der Diskussion von Protagoras’ These, dass alles, was einer bestimmten Person erscheint, für diese Person wahr ist. Hinter Protagoras’ These erkennt Platon Heraklits Lehre vom Fluss aller Dinge. Wenn sich alles in der Welt in ständiger Veränderung befindet, können die von uns gesehenen Farben und die Eigenschaften, die wir mit unseren anderen Sinnen wahrnehmen, keine dauerhaften, objektiven Wirklichkeiten sein. Stattdessen ist jede von ihnen das Zusammentreffen eines unserer Sinne mit irgendeinem passenden, vergänglichen Element im Strudel aller Dinge. Kommt beispielsweise das Auge mit irgendeinem passenden sichtbaren Gegenstück in Kontakt, beginnt das Auge Weiße zu sehen, und das Objekt beginnt weiß auszusehen. Das Weiße selbst wird durch die Vereinigung dieser beiden Eltern, des Auges und des Objekts, erzeugt. Das Auge und sein Objekt unterliegen selbst beständiger Veränderung, doch ist deren Geschwindigkeit im Vergleich zu derjenigen, mit der die sinnlichen Eindrücke kommen und gehen, nur gering. Das Sehen eines weißen Objekts durch das Auge und das weiße Objekt selbst, sind wie Zwillinge, die gleichzeitig geboren werden und zusammen sterben können (Tht. 156a–157b). Eine ähnliche Beschreibung lässt sich für die Funktion der anderen Sinne geben, aber es ist nicht klar, wie ernst wir nach Platon diese Erklärung der sinnlichen Wahrnehmung nehmen sollen. Schließlich kommt sie im Kontext einer reductio ad absurdum vor, die sich gegen die These Heraklits richtet, dass sich alles in ständiger Veränderung seiner Qualität und seines Ortes befindet. Wenn irgendetwas an seinem Ort bliebe, argumentiert Sokrates, könnten wir beschreiben, wie es aussieht, und wenn es so etwas wie einen Farbklecks mit einer konstanten Farbe gäbe, könnten wir beschreiben, wie er sich von einem an einen anderen Ort bewegt. Doch wenn beide Arten von Veränderung gleichzeitig stattfinden, sind wir zur Sprachlosigkeit verurteilt: Wir können nicht sagen, was sich bewegt, oder was seine Farbe ändert. Jeder Akt des Sehens würde augenblicklich zu einem Akt des Nichtsehens, und sinnliche Wahrnehmung würde unmöglich (Tht. 182b–e).

Die philosophische Psychologie des Aristoteles

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Dennoch trägt Platon das Prinzip, dass es sich bei einem Sehvorgang um eine Begegnung zwischen einem Auge und einem Objekt handelt, im Timaios als seine eigene Auffassung vor. Er gibt uns in diesem Dialog eine Erklärung des dem Sehvorgang zugrunde liegenden Mechanismus. In unseren Köpfen befindet sich ein schwaches Feuer, das dem Tageslicht ähnlich ist: Dieses Feuer strömt durch unsere Augen und ergibt mit dem Licht der Umgebung einen einheitlichen Strahl. Wenn diese Lichtsäule auf ein Objekt trifft, werden Schwingungen entlang der Säule zurück zum Auge und durch das Auge hindurch in den Körper gesendet, wodurch es zu derjenigen Empfindung kommt, die uns als Sehen vertraut ist (Ti. 45d). Farben entsprechen einer Art von Flammen, die sich von Körpern ablösen und aus Partikeln zusammengesetzt sind, die in einem solchen Verhältnis zu unserem Sehvermögen stehen, dass sich eine Lichtempfindung ergibt. Diese Flammen wandern auf das Auge zu und verwenden dabei den ursprünglichen Sehstrahl als eine Art Trägerwelle. Die einzelnen Farben ergeben sich aus unterschiedlichen Mischungen der Partikel von vier Grundtypen: schwarz, weiß, rot und hell (Ti. 67b–68d).

Die philosophische Psychologie des Aristoteles Platons Philosophie des Geistes muss aus Fragmenten zusammengesetzt werden, die über verschiedene Dialoge, in denen es hauptsächlich um ethische und metaphysische Fragen geht, verstreut sind. Bei Aristoteles’ philosophischer Psychologie liegen die Dinge sehr viel anders. Zusätzlich zu dem Material aus seinen ethischen Schriften haben wir von Aristoteles eine systematische Abhandlung über die Natur der Seele (De Anima) sowie eine Reihe von kleineren Monografien über Themen wie Sinneswahrnehmung, Gedächtnis, Schlaf und Träume. Aristoteles übernahm einige von Platons Vorstellungen und entwickelte sie weiter, wie zum Beispiel die Unterteilung der Seele in verschiedene Abschnitte und Fähigkeiten sowie die philosophische Analyse der Empfindung als eine Art von Zusammentreffen. Grundsätzlich unterscheidet sich seine Vorgehensweise jedoch von derjenigen Platons dadurch, dass sie im Studium der Biologie verankert ist. Seine Art und Weise, die Seele und ihre Fähigkeiten zu strukturieren, hat nicht nur die Philosophie, sondern auch die Wissenschaft nahezu 2000 Jahre lang beeinflusst. Für den Biologen Aristoteles stammt die Seele nicht, wie im Phaidon, aus einer besseren Welt. Sie befindet sich in einem gemeinen Körper keineswegs in einem ihr unangemessenen Exil. Das Grundwesen der Seele wird durch ihre Beziehung zu einer organischen Struktur definiert. Nicht nur Menschen, sondern auch Tiere und Pflanzen haben Seelen – und zwar keine fremden Seelen, die auf ihrer Wanderung die Strafe für frühere Vergehen abbüßen, sondern intrinsische Prinzipien des tierischen und pflanzlichen Lebens. Eine Seele, so lehrt Aristoteles, ist „die erste vollendete Wirklichkeit eines natürlichen Körpers, welcher Möglichkeit nach Leben be-

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sitzt“, 2 wobei unter Leben die Fähigkeit der Selbsterhaltung, des Wachstums und Alterns zu verstehen ist. Wenn wir uns eine lebende Substanz als aus Stoff und Form zusammengesetzt denken, so ist die Seele die Form eines natürlichen, oder wie Aristoteles manchmal auch sagt, organischen Körpers (De An. 2.1. 412a20, 412b5 f.). Aristoteles gibt mehrere Definitionen von „Seele“, die nach Ansicht mancher Forscher nicht miteinander in Einklang zu bringen sind. 3 Die Unterschiede zwischen den Definitionen ergeben sich jedoch nicht aus einem widersprüchlichen Begriff der Seele, sondern aus Aristoteles’ doppeldeutiger Verwendung des griechischen Wortes für „Körper“. Manchmal bedeutet das Wort die lebende zusammengesetzte Substanz. In diesem Sinne ist die Seele die Form eines Körpers, der lebt, eines sich selbst bewegenden Körpers (De An. 2.1. 412b17). Manchmal bedeutet das Wort die passende Form des Stoffs, dem eine Seele ihre Form gibt: In diesem Sinne ist die Seele die Form eines Körpers, der der Möglichkeit nach Leben hat (De An. 2. 1. 412a22; 2. 2. 414a15– 29). Die Seele ist die Form eines organischen Körpers, eines Körpers, der Organe hat, d. h. Teile, die eine bestimmte Funktion haben, wie zum Beispiel die Mäuler von Tieren und die Wurzeln von Bäumen. Das griechische Wort organon bedeutet Werkzeug, und Aristoteles veranschaulicht sein Verständnis von Seele durch einen Vergleich mit leblosen Werkzeugen und mit Organen von Körpern. Wenn eine Axt ein lebender Körper wäre, wäre ihre Fähigkeit, etwas zu zerteilen, ihre Seele. Wäre ein Auge ein vollständiges Tier, so wäre seine Sehfähigkeit seine Seele. Eine Seele ist nach Aristoteles eine Wirklichkeit, doch unterscheidet er zwischen einer ersten und einer zweiten Wirklichkeit. Wenn eine Axt tatsächlich schneidet und ein Auge tatsächlich sieht, entspricht dies ihrer zweiten Wirklichkeit. Doch eine Axt, deren Klinge sich in einem Futteral befindet, und das Auge eines Schlafenden behalten eine Fähigkeit, die sie zurzeit nicht ausüben: Diese aktive Kraft ist eine erste Wirklichkeit. Die Wirklichkeit der Seele ist von dieser Art: Sie ist die erste Wirklichkeit eines lebenden Körpers. Die Ausübung dieser Wirklichkeit ist die Gesamtheit der Lebensprozesse eines Organismus (De An. 2. 1. 412b11– 413a3). Die Seele ist nicht einfach die Form oder die Formursache des lebenden Körpers: Sie ist außerdem der Ursprung der Veränderung und Bewegung des Körpers, und vor allem ist sie auch die Endursache, die dem Körper seine teleologische Ausrichtung gibt. Die Fortpflanzung ist einer der grundlegendsten Lebensvollzüge. Alle lebenden Wesen streben danach, „ein anderes hervorzubringen wie sie selbst, das Tier ein Tier, die Pflanze eine Pflanze, damit sie, soweit sie es können, am Immerwährenden und Göttlichen teilhaben“ (De An. 2. 4. 415a26–9, 415b16–20).

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Zitiert nach: Aristoteles, De Anima, übersetzt und herausgegeben von G. Krapinger (Stuttgart: Reclam, 2011). Siehe hierzu J. Barnes, „Aristotle’s Concept of Mind“ (Proceedings of the Aristotelian Society (1972), 101–14) und J. L. Ackrill, „Aristotle’s Definitions of Psyche“ (Proceedings of the Aristotelian Society (1973), 119).

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Die Seelen lebender Wesen können in einer Hierarchie angeordnet werden. Pflanzen verfügen über eine vegetative oder nährende Seele, die über die Kräfte des Wachstums, der Ernährung und der Fortpflanzung verfügt (De An. 2. 4. 415a23–6). Tiere haben darüber hinaus die Fähigkeiten der Wahrnehmung und Ortsveränderung: Sie besitzen eine wahrnehmende Seele und jedes Tier verfügt über mindestens eine Form der Sinneswahrnehmung, wobei der Tastsinn der am weitesten verbreitete ist. Was immer überhaupt fähig ist, etwas zu fühlen, kann Lust empfinden, weshalb Tiere, die über Sinne verfügen, auch sinnliches Verlangen haben. Menschen verfügen zusätzlich über die Kraft des Verstandes und des Denkens (logismos kai dianoia): Sie haben eine vernünftige Seele. Aristoteles’ Theorie der Seele unterscheidet sich von derjenigen Platons vor ihm und derjenigen Descartes’ nach ihm. Eine Seele ist für ihn keine innere, immaterielle Ursache, die auf einen Körper einwirkt. „Wir sollten nicht fragen, ob Körper und Seele ein Ding sind, ebenso wenig wie wir diese Frage über das Wachs und das hineingedrückte Siegel stellen sollten, oder bezüglich des Stoffs von irgendetwas und dessen, wessen Stoff es ist“ (De An. 2. 1. 412b6 f.). Eine Seele muss nicht auf die gleiche Weise aus Teilen bestehen wie ein Körper: Vielleicht sind sie nicht verschiedener voneinander, als das Konkave und Konvexe im Umfang eines Kreises (NE 1. 13. 1102a30 ff.). Wenn wir von den Teilen der Seele sprechen, so reden wir von Fähigkeiten: Und diese sind voneinander durch ihre Funktion und ihre Objekte unterschieden. Die Wachstumsfähigkeit ist von der Wahrnehmungsfähigkeit verschieden, weil Wachsen und Wahrnehmen zwei unterschiedliche Aktivitäten sind, und das Sehvermögen unterscheidet sich vom Hörvermögen nicht deshalb, weil die Augen von den Ohren verschieden sind, sondern weil Farben etwas anderes sind als Klänge (De An. 2. 4. 415a14–24). Es gibt zwei unterschiedliche Arten von Objekten sinnlicher Wahrnehmung: solche, die für bestimmte Sinne spezifisch sind, wie zum Beispiel Farben, Klänge, Geschmacksformen und Gerüche, und solche, die von mehr als einem Sinn wahrgenommen werden können, wie zum Beispiel Bewegung, Anzahl, Gestalt und Größe. Ob sich etwas bewegt, lässt sich durch Beobachtung mit den Augen oder durch den Tastsinn entscheiden, weshalb Bewegung zu den „gemeinsam wahrnehmbaren Dingen“ zählt (De An. 2. 6. 418a7–20). Wir verfügen über kein spezielles Organ zur Wahrnehmung der gemeinsam wahrnehmbaren Dinge, doch sagt Aristoteles, dass wir über eine Fähigkeit verfügen, die von ihm als koine aisthesis, wörtlich „gemeinsamer Sinn“, bezeichnet wird. (De An. 3.1. 425a27). Wenn wir einem Pferd gegenüberstehen, können wir es sehen, hören, fühlen und riechen: Es ist der Allgemeinsinn, der diese Wahrnehmungen zu Wahrnehmungen eines einzelnen Objekts zusammenfasst (obwohl das Wissen, dass dieses Objekt ein Pferd ist, für Aristoteles eine Funktion des Verstandes, nicht der Sinne ist). Der Allgemeinsinn erhält von Aristoteles eine Reihe zusätzlicher Funktionen: So nehmen wir beispielsweise mit seiner Hilfe wahr, dass wir von einem bestimmten Sinn Gebrauch machen (De An. 3. 1. 425b13 ff.), und mit ihm können wir den Unterschied zwischen den verschiedenen Sinnen angemessenen

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Objekten wahrnehmen (d. h. zwischen weiß und süß) (De An. 3. 4. 429b16–19). Diese letzte Funktion scheint zweifelhaft: Den Unterschied zwischen weiß und süß angeben zu können, ist gewiss kein Akt sinnlicher Unterscheidung wie es die Unterscheidung zwischen rot und rosa ist. Kann man sich vorstellen, wie es wäre, weiß mit süß zu verwechseln? Aristoteles interessanteste These über die Funktion der einzelnen Sinne ist die Behauptung, dass die Ausübung einer Sinnesfunktion identisch ist mit einem Sinnenobjekt in Aktion: Die Wirklichkeit des Sinnenobjekts ist ein und dasselbe wie die Wirklichkeit der Sinnesfähigkeit (De An. 3. 2. 425b26–7, 426a16). Aristoteles erläutert diese These anhand des Beispiels von Klang und Gehör. Ich werde das von ihm Gemeinte anhand eines Beispiels zu erläutern versuchen, das dem Geschmackssinn entnommen ist. 4 Die Süße einer Tasse Tee ist ein Objekt der Sinne, etwas, das geschmeckt werden kann. Meine Fähigkeit zu schmecken ist ein Sinnesvermögen. Die Ausübung des Geschmackssinns am Geschmacksobjekt ist dasselbe wie die Aktion des Objekts auf den Sinn. Dies bedeutet, dass die Wirkung des Tees auf mich, die zu meiner Süßempfindung führt, ein und dasselbe Ereignis ist wie mein Schmecken der Süße des Tees. Aristoteles wendet auf die Sinneswahrnehmung sein Schema der Schichten von Möglichkeit und Wirklichkeit an (De An. 2. 5. 417a22–30, 417b28–418a6). Der Tee ist wirklich süß, doch bevor der Zucker hinzugefügt wurde, war er lediglich der Möglichkeit nach süß. Die Süße des Tees in der Tasse ist eine erste Wirklichkeit: Die Wirklichkeit, dass mir der Tee süß schmeckt, ist eine zweite Wirklichkeit. Süße ist nichts anderes als das Vermögen, geeigneten „Kostenden“ süß zu schmecken, und das Geschmacksvermögen ist nichts anderes als die Fähigkeit, solche Dinge wie die Süße süßer Gegenstände zu schmecken. Und wir können daher zustimmen, dass die sinnliche Eigenschaft „in Aktion“ dasselbe ist wie das Vermögen in Aktion, obwohl das Vermögen zu schmecken und das Vermögen geschmeckt zu werden natürlich zwei verschiedene Dinge sind, von denen eine sich in einem Tier und die andere in einer Substanz befindet. Dies scheint eine solide und wichtige philosophische Analyse des Begriffs der Wahrnehmung zu sein. Sie versetzt uns in die Lage, die Vorstellung aufzugeben, die viele Philosophen in die Irre geführt hat: Dass die sinnliche Empfindung eine Art Transaktion zwischen dem Geist und einer Abbildung dessen involviert, was wahrgenommen wird. Aristoteles’ detaillierte Erklärungen der chemischen Überträger der sinnlichen Eigenschaften und des Mechanismus der Sinnesorgane sind eine ganz andere Sache. Es sind spekulative Theorien, die schon lange überholt sind. Obwohl Aristoteles seine Vorgänger auf diesem Gebiet, wie zum Beispiel Demokrit und den Platon des Timaios, scharf kritisiert, sind seine eigenen Ausführungen im Vergleich

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Aristoteles beklagt, dass es im Griechischen kein Wort für die Einwirkung eines Objekts auf uns gibt, wenn wir es schmecken (3. 2. 426a17).

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mit denen dieser beiden Denker von der Wahrheit, die der Fortschritt der Wissenschaft ans Licht gebracht hat, nicht weniger weit entfernt. Außer den fünf Sinnen und dem Allgemeinsinn kennt Aristoteles noch weitere Vermögen, die später zu den „inneren Sinnen“ zusammengefasst wurden: insbesondere die Einbildungskraft (phantasia) (De An. 3. 3. 427b28–429a9) und das Gedächtnis, dem er eine eigenständige kleine Schrift widmete (De Memoria). Entsprechend den Sinnen auf der kognitiven Ebene gibt es einen affektiven Teil der Seele, den Ort der spontan empfundenen Emotionen. Dieser wird in der Nikomachischen Ethik als ein Seelenteil eingeführt, der im Wesentlichen irrational ist, der aber, im Gegensatz zur vegetativen Seele, durch den Verstand kontrolliert werden kann. Es ist derjenige Seelenteil, in dem Begierden und Leidenschaften auftreten, analog zum Begehrungsvermögen und Eifer (thymoeides) in der dreigeteilten Seele Platons. Wird er unter die Herrschaft des Verstandes gebracht, so ist er der Ort der moralischen Tugenden, wie zum Beispiel Mut und Mäßigung (NE 1. 13. 1102a26–1103a3). Für Aristoteles wird – wie bei Platon – der oberste Teil der Seele, der Ort des Denkens und Begreifens, von Geist und Vernunft eingenommen. Denken ist von der sinnlichen Wahrnehmung unterschieden und kommt – zumindest auf der Erde – allein bei menschlichen Wesen vor (De An. 3. 3. 427a18–b8). Das Denken hat es, wie die Wahrnehmung, mit dem Fällen von Urteilen zu tun. Doch hat es die Wahrnehmung mit Einzeldingen zu tun, während das intellektuelle Wissen auf Allgemeinbegriffe gerichtet ist (De An. 2. 5. 417b23). Aristoteles unterscheidet zwischen praktischem und theoretischem Verstand und nimmt eine entsprechende Unterscheidung der geistigen Vermögen vor. Es gibt einen deliberative Teil der rationalen Seele (logistikon), der sich mit praktischen Angelegenheiten beschäftigt, und einen wissenschaftlichen Teil (epistemonikon), dessen Gegenstand ewige Wahrheiten sind (NE 6. 1. 1139a16; 12. 1144a2 f.). Dieser Unterschied ist leicht zu verstehen, doch führt Aristoteles in einer berühmten Passage von De Anima eine andere Unterscheidung zwischen zwei Arten von Geist (nous) ein, die sehr schwer zu verstehen ist. Überall in der Natur, so führt er aus, findet sich ein stoffliches Element, das der Möglichkeit nach jegliches und alles andere sein könnte, und es gibt außerdem ein kreatives Element, das auf den Stoff einwirkt. Mit dem Geist verhält es sich ebenso. „Es gibt also einerseits einen derartigen Geist, dass er alles wird, andererseits aber einen solchen, dass er alles hervorbringt, also eine Eigenschaft vergleichbar mit dem Licht. Denn in gewisser Weise macht auch das Licht mögliche Farben zu wirklichen Farben. Auch dieser Geist ist abgetrennt, leidensunfähig und unvermischt, da er seinem Wesen nach Aktualisierung ist. Denn immer ist das Wirkende höher als das Leidende und das Prinzip höher als die Materie. Das verwirklichte Wissen aber ist der Gegenstand.“ (De An. 3. 5. 430a14–21) 5 5

Zitiert nach: Aristoteles, De Anima, übersetzt und herausgegeben von G. Krapinger (Stuttgart: Reclam, 2011).

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Ein Illustrator seines Kommentars zeigt hier, wie der bedeutendste arabische Ausleger des Aristoteles, Averroes, von dem Philosophen unterrichtet wird (16. Jahrhundert).

In der Antike und im Mittelalter wurde dieser Abschnitt auf völlig unterschiedliche Art interpretiert. Einige – insbesondere unter den arabischen Kommentatoren – setzten das trennbare, aktive Agens, das Licht des Geistes, mit Gott oder einer anderen übermenschlichen Intelligenz gleich. Andere – vor allem unter den lateinischen Kommentatoren – nahmen an, Aristoteles unterscheide hier zwei verschiedene Vermögen innerhalb des menschlichen Geistes: einen aktiven Intellekt, der Begriffe bildet, und einen passiven Intellekt, der als Speicher für Ideen und Überzeugungen dient. Das Theorem von der Identität in Aktualität von Wissen und seinem Objekt – parallel zur entsprechenden Behauptung über die sinnliche Wahrnehmung – wurde gemäß der zweiten Interpretation auf folgende Weise verstanden: Die Objekte, denen wir in unserer Erfahrung begegnen, sind nur der Möglichkeit nach, nicht in Wirklichkeit, denkbar, ebenso wie die Farben im Dunklen nur der Möglichkeit nach, und nicht in Wirklichkeit sichtbar sind. Der aktive Intellekt schafft Begriffe – wirklich denkbarer Objekte –, indem er allgemeine Formen von besonderen Erfahrungen abstrahiert. Diese materielosen Formen existieren nur im Geist: Ihre Wirklichkeit besteht einfach darin, gedacht zu werden. Das Denken selbst besteht in nichts anderem als in der Beschäftigung mit solchen Allgemeinbegriffen. Demnach sind die Verwirk-

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lichung des Objekts des Denkens und die Funktion des Denkers des Gedankens ein und dasselbe. Wenn die zweite Interpretation richtig ist, erkennt Aristoteles hier einen Teil der menschlichen Seele an, der vom Körper trennbar und unsterblich ist. Auf ähnliche Weise sagt Aristoteles in der Schrift De Generatione Animalium (GA 2. 3. 736b27), dass der Geist „von außen“ in den Körper eintritt, da er das einzige göttliche Element in der Seele und mit keiner anderen körperlichen Aktivität verbunden ist. Diese Textpassagen erinnern uns daran, dass sich zusätzlich zum offiziellen, biologischen Begriff der Seele, den wir uns genauer angeschaut haben, bei Aristoteles hin und wieder Reste einer platonischen Auffassung finden lassen, nach der der Intellekt eine vom Körper verschiedene und von ihm trennbare Entität ist. Nirgendwo tritt diese gedankliche Richtung deutlicher hervor als im letzten Buch der Nikomachischen Ethik. Während in der Eudemischen Ethik und in den Büchern, die beide Abhandlungen gemeinsam haben, der theoretische Intellekt eindeutig ein Vermögen der Seele ist und sich kein Hinweis darauf findet, dass er transzendent oder unsterblich ist, wird das Leben des Intellekts in Buch 10 der Nikomachischen Ethik als übermenschlich beschrieben und demjenigen des syntheton, der Zusammensetzung von Körper und Seele, gegenübergestellt. Die moralischen Tugenden und die praktische Weisheit sind Tugenden des Zusammengesetzten, doch die Vortrefflichkeit des Intellekts ist einer abgetrennten Existenz fähig (NE 10. 7. 1177a14, 1177b26–9; 1178a14–20). Der Nikomachischen Ethik zufolge besteht menschliches Glück vor allem in dieser Aktivität des trennbaren Intellekts. Die biologischen und transzendenten Züge in Aristoteles’ Denken miteinander zu vereinbaren, ist nicht einfach. Keiner chronologischen Entwicklungstheorie ist dies gelungen. In De Anima selbst findet sich, wie wir gesehen haben, eine Textpassage, die auf ein unsterbliches Element in der menschlichen Seele deutlich hinzuweisen scheint, und genau in dem Abschnitt des Werkes, in dem sich die deutlichste Darstellung derjenigen Auffassung der Seele findet, nach der sie die Form eines organischen Körpers ist, sagt uns Aristoteles, es sei eine offene Frage, ob sich die Seele im Körper befindet wie ein Seemann auf einem Schiff (2. 1. 413a9). Doch das ist die klassische Formulierung der dualistischen Konzeption der Beziehung zwischen Körper und Seele.

Die hellenistische Philosophie des Geistes Kein antiker Autor zwischen Aristoteles und Augustinus hat eine vergleichbar umfassende Philosophie des Geistes vorgelegt. Die philosophische Psychologie Epikurs geht über diejenige von Demokrit kaum hinaus. Für ihn besteht die Seele, genau wie alles andere, aus Atomen, die sich von anderen Atomen nur darin unterscheiden, dass sie kleiner und feiner sind, sogar noch feiner als diejenigen, aus denen die Winde bestehen. Es ist Unfug zu behaupten, die Seele sei unkörperlich: Außer den Körpern gibt es

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nur das Leere. Der Seele fällt die Hauptrolle bei der Wahrnehmung zu, jedoch nur durch ihre Position in der aus Körper und Seele zusammengesetzten Einheit. Zum Zeitpunkt des Todes werden die Atome zerstreut und können nichts mehr empfinden, da sie sich nicht mehr in der ihnen entsprechenden Position im Körper befinden (LS 14B). Das dritte Buch von Lukrez’ großartigem Gedicht Über die Natur der Dinge ist der Psychologie gewidmet. Er unterscheidet zunächst zwischen animus und anima (RN 34 f.). Der animus, oder der Geist, ist Teil des Körpers, genauso wie eine Hand oder ein Fuß. Dies wird durch die Tatsache belegt, dass ein Körper reglos wird, wenn er aufgehört hat zu atmen. Der Geist ist Teil der anima, oder Seele. Sie ist der dominante Teil und hat ihren Sitz im Herzen. Der Rest der Seele ist über den ganzen Körper verteilt und bewegt sich auf Befehl des Geistes. Geist, Seele und Körper sind eng miteinander verwoben. Wir können dies daran erkennen, dass Angst zu körperlichem Zittern und Wunden des Körpers zur Trauer des Geistes führen. Geist und Seele müssen körperlich sein, denn sie könnten den Körper ansonsten nicht bewegen. Um ihn zu bewegen, müssen sie ihn berühren: Doch wie könnten sie ihn berühren, wenn sie selbst nicht körperlich wären? (RN 160–170) Der Geist ist sehr leicht und hat eine subtile Struktur, wie das Bouquet eines Weins – ein toter Körper wiegt schließlich kaum weniger als ein lebendiger. Der Geist besteht aus Feuer, Luft, Wind und einem vierten namenlosen Element. Der Geist ist wichtiger als die Seele. Wenn er den Körper verlässt, folgt ihm die Seele bald nach, doch kann der Geist eine große Verletzung der Seele überleben (RN 402–405). Manche behaupten, dass der Körper nichts wahrnimmt oder empfindet, sondern nur die Seele, die man sich als inneren Homunkulus vorstellt. Gegen diese primitive Ansicht bringt Lukrez raffinierte Argumente vor. Wenn die Augen selbst nicht sehen, sondern lediglich Türen sind, durch die der Geist sieht, dann sollten wir deutlicher sehen können, wenn man uns die Augen ausgerissen hat, denn ein Mann in einem Haus kann viel besser sehen, wenn man die Türen und Türpfosten entfernt hat (RN 367–9). Das Ziel von Lukrez’ Erörterung von Geist und Seele besteht darin, zu beweisen, dass sie beide sterblich sind, und auf diese Weise die Gründe zu beseitigen, aus denen Menschen den Tod fürchten. Wasser fließt aus einem zerbrochenen Gefäß: Um wie viel schneller muss sich die dünne Flüssigkeit der Seele verflüchtigen, wenn der Körper zerbrochen ist! Der Geist entwickelt sich mit dem Körper und wird mit dem Körper verfallen. Der Geist leidet, wenn der Körper krank ist, und er wird durch physische Medikamente geheilt. All dies sind deutliche Merkmale der Sterblichkeit. „Nichts geht also der Tod uns an, nichts kann er bedeuten, Da ja das Wesen des Geistes nunmehr als sterblich erkannt ist. Wie kein Leid wir litten in jenen vergangenen Zeiten, Als die Punier kamen mit kampfgerüsteten Heeren, Als von dem Lärme des Krieges erschüttert der schaudernde Erdball Unter den hohen Gefilden des himmlischen Äthers erdröhnte,

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Als es noch zweifelhaft war, an welche von beiden Nationen Fiele das Amt zu Wasser und Land ob der Menschheit zu herrschen So wird dann, wenn wir nicht mehr sind, wenn Körper und Seele Reinlich sich schieden, die jetzt sich in uns zur Einheit verbanden, Sicherlich uns, die wir nicht mehr sind, nichts künftig mehr treffen, Nichts auf der Welt mehr unser Gefühl zu erregen imstand sein.“ (RN 830–840)

Wir existieren nur, wie Lukrez gegen Ende der zitierten Zeilen sagt, solange sich Seele und Körper zu einer Einheit verbinden. Die Epikureer erklärten die Sinneswahrnehmung, insbesondere das Sehen, auf atomistische Weise. Die Körper in der Welt sondern ständig dünne Schichten der Atome ab, aus denen sie bestehen. Sie behalten ihre ursprüngliche Form und dienen daher als Abbilder (eidola). Diese fliegen in der Welt mit erstaunlicher Geschwindigkeit umher, und es kommt zur Wahrnehmung, wenn sie mit den Atomen in der Seele in Kontakt geraten. Wenn wir geistige Bilder wahrnehmen, so ist dies das Ergebnis noch dünnerer Filamente, die sich wie Spinnweben oder hauchdünnes Blattgold in der Luft verbinden. So ist zum Beispiel das Bild eines Zentauren das Ergebnis der Verbindung der Bilder eines Menschen und eines Pferdes. Es kann sowohl während des Schlafes als auch im wachen Zustand in den Geist gelangen. Wir sind ständig von zahllosen solcher hauchdünnen Bilder umgeben, doch wir sind uns nur derjenigen bewusst, auf die der Geist den Strahl seiner Aufmerksamkeit richtet (RN 4. 722–785). Auch die Stoiker hatten, wie die Epikureer, eine materialistische Theorie der Seele. Wir leben in dem Maße, in dem wir atmen, behauptete Chrysippos. Die Seele ist dasjenige, was uns leben lässt, und der Atem ist, was uns atmen lässt, also sind Seele und Atem identisch (LS 53G). Das Herz ist der Sitz der Seele. Es ist der Sitz der Seele par excellence, des herrschenden Elements (hegemonikon), das die Sinne ausschickt, um Berichte über die Umgebung zu liefern, die es bewertet. Die sinnliche Wahrnehmung findet ausschließlich im hegemonikon statt (LS 53M). Es ist, wie der Rest der Seele, materieller Natur, doch kann es die Trennung vom Körper, die im Tod erfolgt, zumindest zeitweilig überleben. Es gibt jedoch für die Stoiker keine wirkliche Unsterblichkeit der Person. Die Seelen der Weisen können nach dem Tod bestenfalls in die göttliche Weltseele aufgenommen werden, die das Universum durchdringt und regiert. Manche Stoiker verglichen die menschliche Seele mit einem Tintenfisch: Aus dem hegemonikon wuchsen acht Tentakeln und gingen in den Körper: Fünf von ihnen entsprachen den Sinnen, einer war ein motorisches Agens, das die Bewegung der Gliedmaßen herbeiführte, einer steuerte die Sprechorgane und ein letzter war eine Röhre, die den Samen zu den Organen der Zeugung transportierte. Jeder dieser acht Tentakel bestand aus Atem (LS 53H, L). Wir sehen, dass von den acht Tentakeln fünf vom hegemonikon weg und drei zu ihm hin führen. Diese Unterscheidung entspricht einer wichtigen Klärung, die die philosophische Psychologie den Stoikern verdankt. Platon und Aristoteles waren

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hauptsächlich daran interessiert, die Vermögen der Seele hierarchisch zu unterteilen, gemäß dem kognitiven oder moralischen Wert der Objekte des Vermögens: Auf diese Weise stand der Intellekt höher als die sinnliche Wahrnehmung und die rationale Entscheidung höher als das tierische Verlangen. Die Stoiker waren sich zwar des Unterschieds zwischen den Fähigkeiten eines rationalen, Sprache verwendenden Lebewesens und denen eines stummen Tieres wohl bewusst (LS 53T), doch hielten sie eine Unterscheidung der Fähigkeiten, die vertikal statt horizontal verläuft, für ebenso wichtig. Diese Unterscheidung wird von Cicero, der Panaetius zitiert, folgendermaßen formuliert: „Die Bewegungen der Seele aber sind zwiefach: die einen sind die des Denkens, die anderen die des Begehrens. Das Denkvermögen ist besonders im Ermitteln der Wahrheit tätig, das Begehren drängt aufs Handeln.“ (Off. 1. 132) 6

Der Unterschied zwischen kognitiven und appetitiven Vermögen verläuft quer zum Unterschied zwischen sinnlichen und intellektuellen Vermögen. In der Spätantike und im Mittelalter akzeptierten die Philosophen schließlich folgendes Schema: Intellekt Sinneswahrnehmung

Wille Verlangen

Dieses Schema kombiniert die aristotelische Unterscheidung zwischen einer rationalen und einer animalischen Ebene mit der stoischen Unterscheidung zwischen dem kognitiven und appetitiven Teil der Seele.

Wille, Geist und Seele in der Spätantike Es wird häufig gesagt, dass es in der klassischen Philosophie keinen Begriff des Willens gibt. Einige sind sogar so weit gegangen zu behaupten, dass der Wille in Aristoteles’ Psychologie überhaupt nicht vorkommt, und dass der Begriff erst nach elf weiteren Jahrhunderten philosophischer Reflexion erfunden wurde. Sicherlich lässt sich nicht bestreiten, dass es bei Aristoteles keinen Ausdruck gibt, der exakt das bedeutet, was mit dem Ausdruck „Freiheit des Willens“ gemeint ist, und manche Forscher haben daraus die Schlussfolgerung gezogen, dass er das Problem nicht klar erfasst hat. Diese Kritik an Aristoteles hängt von einer bestimmten Sicht der Natur des Willens ab. In der Moderne haben Philosophen sich den Willen häufig als Phänomen des

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Zitiert nach: Cicero, De officiis, Vom plichtgemäßen Handeln, übersetzt, kommentiert und herausgegeben von H. Gunermann (Stuttgart: Reclam, 2007).

Wille, Geist und Seele in der Spätantike

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introspektiven Bewusstseins vorgestellt. Willensakte oder Willensentscheidungen sind mentale Ereignisse, die bestimmten menschlichen Handlungen vorausgehen und sie verursachen. Ihr Vorhandensein oder Fehlen macht den Unterschied zwischen absichtlichen und unwillkürlichen Handlungen aus. Die Freiheit des Willens muss in der Indeterminiertheit dieser durch Introspektion zugänglichen Willensakte bestehen. Es ist nicht klar, inwieweit die Epikureer und Stoiker diese Auffassung der Verursachung menschlicher Handlung teilten, doch steht fest, dass sich dieser Begriff des Willens bei Aristoteles nicht findet. Doch dies gereicht ihm zur Ehre, denn dieser Begriff ist mit grundsätzlichen Mängeln behaftet, und er wurde in neuerer Zeit diskreditiert. Eine angemessene philosophische Beschreibung des Willens muss menschliche Handlungen mit Fähigkeiten, Wünschen und Überzeugungen in Beziehung setzen und sie muss die Begriffe der Freiwilligkeit, Intentionalität und Rationalität mitbehandeln. Aristoteles’ Abhandlungen enthalten reichlich Material, das für eine so verstandene Untersuchung des Willens relevant ist, obwohl seine Begriffe nicht mit denjenigen zur Deckung gebracht werden können, die man heute normalerweise hierbei verwenden würde. Aristoteles definierte Freiwilligkeit auf folgende Weise: Etwas galt ihm als freiwillig, wenn es von einem Handelnden ausging, der nicht unter Zwang stand und sich nicht im Irrtum befand (NE 3. 1. 1110a1 ff.). In seinem ethischen System spielte außerdem der Begriff der prohairesis, bzw. der absichtlichen Wahl, eine wichtige Rolle: die Wahl einer Handlung als Teil eines umfassenden Lebensplans (NE 3. 2. 1111b4 ff.). Sein Begriff der Freiwilligkeit war zu umständlich und sein Begriff der prohairesis zu eng definiert, um zur Klassifikation unserer alltäglichen ethischen Entscheidungen zu dienen. Die Tatsache, dass es kein deutsches Wort gibt, das dem Wort prohairesis entspricht, ist selbst bereits ein Zeichen für die Umständlichkeit des Begriffs, denn der größte Teil der moralischen Terminologie von Aristoteles wurde in alle europäischen Sprachen übernommen. Obwohl er über eine detaillierte und sensible Beschreibung praktischer Argumentation verfügt, besitzt Aristoteles keinen technischen Begriff, der unserem Begriff der Absicht entspricht, d. h., dass A getan wird, um B herbeizuführen, dass Mittel für einen Zweck ausgewählt werden oder dass Zwecke um ihrer selbst willen verfolgt werden. Freiwilligkeit ist ein weiterer Begriff als Absicht: Er umfasst alles, was wir wissend, aber unabsichtlich als unerwünschte Konsequenz einer Handlung herbeiführen. Prohairesis ist ein engerer Begriff: Er schränkt das Ziel der Absicht auf die Durchführung eines übergreifenden Lebensplans ein. Diese Mängel von Aristoteles’ Behandlung der appetitiven Seite des menschlichen Lebens entsprechen der Wahrheit hinter der übertriebenen Behauptung, er verfüge über keinen Begriff des Willens. Tatsächlich waren es die Reflexionen lateinischer Philosophen, die zur vollen Entwicklung des Begriffs führten, und diesem Nachdenken begegnen wir in umfassender Form in den Schriften des Augustinus. Im zweiten und dritten Jahrhundert kam es zu Entwicklungen, die weitere Än-

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derungen der aristotelischen Philosophie des Geistes erforderlich machten. Der Arzt Galen (129–199) entdeckte, dass für die Funktion der Muskeln Nerven aktiv sein mussten, die vom Gehirn und dem Rückenmark ausgehen. Daher sollte das Gehirn und nicht das Herz als Hauptsitz der Seele angesehen werden. Genau wie die Stoiker unterschied Galen jedoch zwischen einer sensorischen und einer motorischen Seele, von denen er die erste mit den afferenten Nerven in Verbindung brachte, die zum Gehirn führen, und Letztere mit den motorischen Nerven, die vom Rückenmark ausgehen. 7 Der peripatetische Kommentator Alexander von Aphrodisias, dessen Lebensmitte in das erste Jahrzehnt des dritten Jahrhunderts fällt, setzte Aristoteles’ aktiven Intellekt in der Schrift De Anima mit dem unbewegten Beweger aus Metaphysik L gleich. Alexander begann auf diese Weise eine lange Tradition, die sich – in unterschiedlichen Formen – großer Beliebtheit bei späteren Kommentatoren erfreute, besonders in der arabischen Welt. Er behauptete, dass ein menschliches Wesen bei seiner Geburt nur über einen materiellen oder physischen Intellekt verfügt. Wahre Intelligenz wird nur unter dem Einfluss des höchsten göttlichen Geistes erworben. Hieraus ergibt sich, dass die menschliche Seele nicht unsterblich ist: Das Beste, was sie vermag, ist das Denken unsterblicher Gedanken, indem sie über den bewegungslosen Beweger nachsinnt (De An. 90. 11–91. 6). Als Reaktion auf die Sterblichkeitslehren der Epikureer, Stoiker und späten Peripatetiker machte sich Plotinus daran, in den Fußspuren Platons, die Unsterblichkeit der individuellen Einzelseele zu beweisen. Er legte seine Argumente in einer seiner frühesten Schriften dar, den Enneaden 4. 7 (2), Über die Unsterblichkeit der Seele. Wenn die Seele das Prinzip des Lebens lebender Wesen ist, kann sie selbst nicht körperlicher Natur sein. Wenn sie ein Körper ist, muss sie entweder einem der vier Elemente Erde, Luft, Feuer und Wasser entsprechen oder einer Verbindung aus einem oder mehreren von ihnen. Doch die Elemente selbst sind leblos. Wenn eine Zusammensetzung daher Leben hat, so muss dies von einem bestimmten Verhältnis seiner Komponenten herrühren: Doch dies muss von etwas anderem übertragen worden sein, von der Ursache, die die Formel für die Bestandteile der Mischung bereitstellt und sie kombiniert. Dieses andere ist die Seele (Enneade 4. 7. 2. 2). Plotin argumentiert, dass keine der Lebensfunktionen, von der niedrigsten Form der Ernährung und des Wachstums bis zu den höchsten Formen der Einbildungskraft und des Denkens, von etwas ausgeführt werden könnte, das lediglich körperlich ist. Körper unterliegen jederzeit Veränderungen: Wie könnte etwas in derart beständigem Wandel sich von einem Moment zum nächsten an irgendetwas erinnern? Körper zerfallen in Teile und sind über den Raum verteilt: Wie könnte eine auf diese Weise zerstreute Entität den einheitlichen Fokus bereitstellen, dessen wir uns in der Wahr-

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M. R. Bennett and P. M. S. Hacker, Philosophical Foundations of Neuroscience (Oxford: Blackwell, 2003), 20.

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nehmung bewusst sind? Wir können uns abstrakte Dinge vorstellen, wie Schönheit oder Gerechtigkeit: Wie kann, was selbst körperlich ist, Nichtkörperliches erfassen? (Enneade 4. 7. 5–8) Die Seele kann nicht der Welt des Werdens, sondern sie muss der Welt des Seins angehören (Enneade 4. 8. 5). Plotin war sich bewusst, dass von einigen die Auffassung vertreten wird, dass die Seele, obwohl sie selbst nicht körperlich ist, dennoch für ihre Existenz von einem Körper abhängt. Er erinnert an Simmias’ Behauptung im Phaidon, die Seele sei nicht mehr als die Stimmung der Sehnen des Körpers. Er wendet das Argument auf geschickte Weise gegen sich selbst. Wenn ein Musiker die Saiten einer Leier zupft, sagt er, wirkt er auf die Saiten ein, nicht auf die Melodie, doch würden die Saiten nicht gezupft, wenn es die Melodie nicht erforderlich machte (Enneade 3. 6. 4. 49–80; 4. 7. 8). Plotin behauptet klarerweise die persönliche Unsterblichkeit des einzelnen Individuums. Es sei absurd zu behaupten, dass Sokrates aufhört, er selbst zu sein, wenn er von hier in eine bessere Welt nach diesem Leben eingeht. Geister werden in dieser besseren Welt überleben, da nichts, was über wahres Sein verfügt, jemals untergeht (Enneade 4. 3. 5). Die genaue Bedeutung dieser Behauptung ist jedoch unklar, weil Plotin auch erklärt, dass alle Seelen eine Einheit bilden und zu einer höheren Weltseele verbunden sind, von der sie abstammen und zu der sie zurückkehren (Enneade 3. 5. 4). Weitere Einzelheiten dieser Weltseele lernen wir in Kapitel 9 kennen, wenn wir uns mit der Theologie Plotins beschäftigen. Einer von denen, die von den Spekulationen Plotins am meisten gelernt haben, war der junge Augustinus. Seine eigenen originellen Beiträge zur Philosophie des Geistes finden sich jedoch in seinen Schriften über die Freiheit. In seinem Buch De libero arbitrio, das er im Jahr seiner Bekehrung zum Christentum schrieb, verteidigt er eine Form des Libertarianismus, die sich sowohl von dem Kompatibilismus unterscheidet, der uns in einem früheren Kapitel begegnete, in dem wir uns mit Chrysippos beschäftigten, als auch von der Prädestinationslehre, für die der spätere, christliche Augustinus so bekannt ist. Im dritten Buch wird die Frage aufgeworfen, ob die Seele mit Notwendigkeit sündigt. Wir müssen, so wird uns dort gesagt, zwischen drei Bedeutungen von „Notwendigkeit“ unterscheiden: zwischen Natur, Gewissheit und Zwang. Natur und Zwang sind mit Freiwilligkeit unvereinbar, und nur freiwillige Handlungen können moralisch verurteilt werden. Wenn ein Sünder aus Natur oder unter Zwang sündigt, so ist die Sünde nicht freiwillig. Doch Gewissheit ist mit Freiwilligkeit vereinbar: Es mag gewiss sein, dass X sündigen wird, und dennoch sündigt X freiwillig und wird zu Recht moralisch verurteilt. Betrachten wir zuerst die Notwendigkeit der Natur. Die Seele sündigt nicht auf die gleiche Weise mit Notwendigkeit, auf die ein Stein mit natürlicher Notwendigkeit zu Boden fällt: Die Aktivität der Seele, während sie sündigt, ist freiwillig. Sowohl die Seele als auch der Stein haben eine Wirkung, jedoch ist die Seele ein freiwillig handelndes Wesen und keine naturhafte Wirkursache. Der Unterschied besteht hierin:

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„Es steht nicht in der Macht des Steins, seine nach unten gerichtete Bewegung anzuhalten, doch sofern die Seele es nicht will, verhält sie sich nicht so, dass sie dasjenige, was höher ist, demjenigen zuliebe, was niedriger ist, aufgibt.“ (LA iii. 2) Wie wir bei der Betrachtung von Chrysippos bereits gesehen haben, kann Freiwilligkeit in Bezug auf die Möglichkeit definiert werden, sich anders zu verhalten (Freiheit der Indifferenz), oder aber in Bezug auf die Möglichkeit, zu tun was man will (Freiheit der Spontaneität). In De libero arbitrio kombiniert Augustinus beide Vorgehensweisen. Die Bewegungen der Seele sind freiwillig, denn sie tut, was sie will. „Ich weiß nicht, was ich mein eigen nennen darf“, sagt Augustinus, „wenn der Wille, mit dem ich etwas verlange oder verwerfe, nicht mein eigener ist.“ Die Möglichkeit zu wollen ist selbst eine in zwei Richtungen wirkende Kraft. „Die Bewegung, durch die sich der Wille in diese oder jene Richtung wendet, könnte nicht gelobt werden, wenn sie nicht freiwillig und in unsere Macht gelegt worden wäre.“ Ebenso wenig könnte der Sünder verurteilt werden, wenn er das Gelenk (cardo) des Willens in Richtung auf die niederen Regionen dreht. Augustinus legt einen Beweis dafür vor, dass das Wollen in unserer Macht steht. Die genauen Schritte dieses Beweises sind nicht klar. Nach einer Interpretation wird er folgendermaßen geführt: X zu tun, liegt in unserer Macht, wenn wir X tun, wann immer wir wollen. Doch wann immer wir wollen, wollen wir. Daher liegt das Wollen in unserer Macht. Dies scheint zu einfach: Die erste Prämisse ist sicherlich unvollständig. Sie sollte lauten: X zu tun, liegt in unserer Macht, wenn wir X tun, wann immer wir X tun wollen. Die zweite Prämisse müsste dann lauten: Wann immer wir X tun wollen, wollen wir X tun. Dies würde uns Augustinus’ Schlussfolgerung liefern. Was immer X ist: X zu wollen liegt in unserer Macht. Doch man kann die zweite Prämisse infrage stellen. Könnten wir nicht einen Wunsch zweiter Ordnung haben, etwas zu wollen, ohne den Wunsch erster Ordnung selbst zu haben? Wenn Augustinus keusch sein möchte, aber noch nicht sofort: Wollte er wirklich keusch sein, oder wollte er nur keusch sein wollen? Liegt es in meiner Macht, X zu tun, in dem zuvor von Augustinus dargelegten Sinn, dann muss es in meiner Macht liegen, X nicht zu tun. Dies schwächt das Argument, mit dem er zeigen will, dass das Wollen in unserer Macht liegt. Denn wie plausibel die Behauptung auch sein mag, dass ich – wenn ich etwas wollen will – es will, die Behauptung, dass ich – wenn ich etwas nicht wollen will – es nicht will, hat nicht die geringste Plausibilität. Ich kann allen Ernstes aufhören wollen zu rauchen: Das verhindert jedoch nicht, dass ich in diesem Moment ein leidenschaftliches Verlangen nach einer Zigarette verspüre. Zweifellos kann Augustinus hierauf antworten, indem er Unterscheidungen zwischen verschiedenen Arten des Wollens vornimmt, doch würde es sich im gegenwärtigen Kontext nicht lohnen, seine Analyse der Willensregungen weiterzuverfolgen. Derjenige Teil von De libero arbitrio, der für das Problem von Determinismus und Freiheit am relevantesten ist, sind seine Reflexionen über die göttliche Voraussicht der Zukunft. Augustinus glaubte, dass Gott in jedem Moment sämtliche Ereignisse

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Der heilige Augustinus in seinem Studierzimmer.

der Zukunft voraussieht. So kann er das folgende Argument gegen die Möglichkeit freiwilliger Sünde formulieren. (1) Gott sah voraus, dass Adam sündigen würde. (2) Wenn Gott voraussah, dass Adam sündigen würde, würde Adam notwendigerweise sündigen. (3) Wenn Adam notwendigerweise sündigen würde, sündigte Adam mit Notwendigkeit. (4) Wenn Adam mit Notwendigkeit sündigt, sündigte Adam nicht aus eigenem freien Willen. (5) Adam sündigte nicht aus seinem eigenen freien Willen. Dieses Argument beerbt offensichtlich die Diskussion über die Seeschlacht bei Aristoteles und das Master-Argument des Diodoros in einem christlichen Kontext: In jedem Fall wird – auf unterschiedliche Weise – die Notwendigkeit eines Zustands oder Ereignisses der Vergangenheit als Ausgangspunkt verwendet, von dem die Notwendigkeit eines künftigen Ereignisses abgeleitet wird. Bei den Griechen ist die Ausgangsprämisse logisch, hier ist sie theologisch. Augustinus schlägt zur Entkräftung dieses Arguments eine Unterscheidung vor: zwischen Gewissheit auf der einen Seite und natürlicher Verursachung oder Zwang auf der anderen. Ich kann etwas wissen, ohne es zu verursachen (zum Beispiel wenn ich es weiß, weil ich mich daran erinnere). Ich kann mir sicher sein, dass jemand im Begriff ist, etwas zu tun, ohne ihn in irgendeiner Weise dazu zu zwingen, es zu tun.

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Auf entsprechende Weise können wir die Bedeutungen von Notwendigkeit im obigen Argument unterscheiden. In der zweiten Prämisse und im Vordersatz der dritten Prämisse muss „notwendigerweise“ als „sicherlich“ verstanden werden. In der vierten Prämisse und im Folgesatz der dritten Prämisse muss „notwendigerweise“ als „unter Zwang“ verstanden werden. Aufgrund der sich daraus ergebenden Doppeldeutigkeit in der dritten Prämisse scheitert das Argument. Augustinus’ Vorschlag kann nicht vollständig überzeugen: Gewiss gibt es keine genaue Analogie zwischen dem mutmaßlichen menschlichen Wissen über die Zukunft und der alle Zeit umfassenden göttlichen Allwissenheit. Die Probleme, die diese Behandlung ungelöst lässt, wurden von vielen künftigen Generationen christlicher Theologen wieder aufgegriffen. Doch können wir die Erörterung des Augustinus als repräsentativ für das letzte Stadium der antiken Reflexion über das Determinusmusproblem ansehen.

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Das rechte Leben: Ethik

Viele der Aussprüche, die den frühesten griechischen Denkern zugeschrieben werden, haben einen moralischen Inhalt. So schreibt man beispielsweise Thales eine frühe Version des folgenden Grundsatzes zu: „Was Du willst, dass man Dir tu’, das füge Du den anderen zu.“Als man ihn fragte, wie wir am besten leben könnten, antwortete er: „Wenn wir selbst dasjenige unterlassen, was wir anderen zum Vorwurf machen.“ In einer etwas zweifelhafteren Äußerung antwortete er, als ihn ein Ehebrecher fragte, ob er schwören solle, er sei unschuldig: „Meineid ist nicht schlimmer als Ehebruch.“ (D.L. 1. 37) Orakelhafte Äußerungen ähnlicher Art findet man auch bei Heraklit: „Es ist nicht gut, wenn Menschen alles bekommen, was sie haben wollen.“ (DK 22 B110) „Der Charakter eines Menschen ist sein Schicksal.“ (DK 22 B117) Andere Philosophen nahmen zu bestimmten ethischen Fragen Stellung. So verurteilte Empedokles zum Beispiel das Essen von Fleisch und Tieropfer (DK 31 B128, 139). Doch erst bei Demokrit begegnen wir einem moralischen System.

Der Moralist Demokrit Demokrit hatte zu ethischen Themen viel zu sagen: Sechzig Seiten seiner Fragmente, wie sie in der Sammlung von Diels und Kranz aufgezeichnet sind, beschäftigen sich mit moralischen Ratschlägen. Viele von ihnen sind eher medioker, im Stil einer Kummerkastentante: Nimm’ dir nichts vor, was deine Kräfte übersteigt. Sei nicht auf die Reichen und Berühmten neidisch, sondern denke an all die Menschen, denen es schlechter geht als dir, und sei mit deinem Los zufrieden (DK 68 B91). Versuche nicht alles zu wissen, weil du sonst schließlich nichts wissen wirst (DK 68 B69). Schiebe es nicht auf dein Pech, wenn etwas aufgrund deines eigenen Versagens misslingt: Du kannst verhindern, dass du ertrinkst, indem du lernst zu schwimmen (DK 68 B119, 172). Nimm’ einen Gefallen nur an, wenn du vorhast, als Dank einen noch größeren Gefallen zu tun (DK 68 B92). Eine Bemerkung, die in vielen Hochzeitsansprachen verballhornt wurde, findet sich in Fragment 272: „Wer mit seinem Schwiegersohn Glück hat, gewinnt einen Sohn, wer mit ihm Pech hat, verliert eine Tochter.“ Manche von Demokrits Empfehlungen sind jedoch kontroverser. Es ist besser, keine Kinder zu haben: Sie gut zu erziehen, bereitet viel Mühe und verlangt große Sorgfalt. Und es gibt nichts Schmerzlicheres, als sie schlecht geraten zu sehen (DK 68 B275). Wenn man unbedingt Kinder haben möchte, sollte man sie von seinen Freunden adoptieren, statt sie selbst zu zeugen. So kann man sich ein Kind aussuchen,

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8 Das rechte Leben: Ethik

während man im Normalfall mit dem zufrieden sein muss, was man bekommt (DK 68 B277). Beginnend mit Platon hat es zahlreiche Moralphilosophen gegeben, die den Körper verachtet haben, weil er die Seele verführe. Demokrit vertrat die entgegengesetzte Auffassung: Wenn ein Körper am Ende des Lebens die Seele wegen der Schmerzen und Übel anklagen würde, die er erlitten hat, würde ein gerechter Richter den Streit für den Körper entscheiden. Wenn irgendein Teil des Körpers durch Vernachlässigung geschädigt oder durch Ausschweifungen ruiniert ist, so ist dies die Schuld der Seele. Man mag denken, der Körper sei nichts anderes als ein von der Seele benutztes Werkzeug. Das mag durchaus so sein: Doch wenn ein Werkzeug sich in schlechtem Zustand befindet, wirft man dies nicht dem Werkzeug, sondern seinem Besitzer vor (DK 68 B159). Demokrits moralische Auffassungen sind uns in einer Reihe von Aphorismen erhalten geblieben, doch es gibt einige Hinweise darauf, dass er ein System der Ethik entwickelt hat, obwohl unklar ist, welche Beziehung es zu seinem Atomismus hatte, sofern eine solche überhaupt bestand. Er schrieb eine Abhandlung über den Zweck des Lebens und stellte Untersuchungen über das Wesen des Glücks (eudaimonia) an. Es bestand seiner Meinung nach nicht in Reichtümern, sondern in den Gütern der Seele, und man sollte keine vergänglichen Dinge genießen (DK 68 B37, 171, 189). Die Hoffnungen der Gebildeten galten ihm mehr als die Reichtümer der Unwissenden (DK 68 B285). Doch scheinen die Güter der Seele, in denen das Glück zu finden war, nicht von besonders erhabener oder mystischer Art gewesen zu sein. Stattdessen scheint sein Lebensideal in Fröhlichkeit und ruhiger Zufriedenheit bestanden zu haben (DK 68 B188). Aus diesem Grunde war er späteren Jahrhunderten als der lachende Philosoph bekannt. Er lobte ein maßvolles Leben, war aber kein Asket. Sparsamkeit und Fasten waren gut, doch ebenso Festessen. Das Problem bestand darin, den rechten Zeitpunkt für beide zu bestimmen. Ein Leben ohne Feste sei wie eine Landstraße ohne Gasthöfe (DK 68 B229, 230). In mancher Hinsicht gab Demokrit die Standardthemen für spätere griechische Denker vor. Darin, dass er das Streben nach Glück ins Zentrum der Moralphilosophie stellte, folgte ihm fast jeder Moralist der Antike. Indem er behauptete: „Die Ursache der Sünde ist Unwissenheit bezüglich dessen, was besser ist“ (DK 68 B83), stellte er eine These auf, die im Zentrum von Sokrates’ Moralphilosophie stand. Auch wenn er feststellte, dass es besser sei, moralische Fehler zu erleiden als selbst zu machen (DK 68 B45), äußerte er einen Gedanken, der von Sokrates zu dem Prinzip weiterentwickelt wurde, dass es besser ist, Unrecht zu erleiden als selbst zu begehen – einem Prinzip, das mit dem einflussreichen Moralsystem, welches uns anhält, Handlungen ausschließlich nach ihren Folgen und nicht nach der Identität ihrer Akteure zu beurteilen, nicht vereinbar ist. Andere seiner lässig vorgetragenen Bemerkungen reichen aus, wenn man mit ihnen Ernst macht, ganze ethische Systeme aus den Angeln zu heben. Wenn er beispielsweise sagt, dass ein guter Mensch sich nicht nur des moralisch Falschen enthält, sondern Falsches noch nicht einmal tun will

Der Moralist Demokrit

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Brabante stellt hier Demokrit als den lachenden und Heraklit als den weinenden Philosophen dar.

(DK 68 B62), wendet er sich gegen die häufig vertretene Auffassung, dass die ethische Gesinnung ihre größte Stärke beweist, wenn sie über andersartige Leidenschaften siegt. Der wichtigste Begriff der antiken Ethik, die arete oder Tugend, wird von Demokrit nicht analysiert. Das griechische Wort ist mit keinem einzelnen deutschen Wort gleichbedeutend, und in der neueren Forschungsliteratur wird die traditionelle Übersetzung „Tugend“ häufig durch „Vortrefflichkeit“ ersetzt. Arete ist das abstrakte Nomen zum Adjektiv agathos, dem allgemeinsten Wort für „gut“. Was immer in seiner besonderen Kategorie als gut bezeichnet wird, verfügt über die entsprechende arete. Heute wirkt es archaisch von der Güte oder Tüchtigkeit eines Pferdes oder eines Messers zu sprechen, was zweifellos einer der Gründe dafür ist, warum die Übersetzung „Vortrefflichkeit“ vorgezogen wird. Und einige der aretai menschlicher Wesen, wie beispielsweise wissenschaftliche Fachkenntnisse, passen nicht recht zur Beschreibung „intellektuelle Tugend“. Doch ist es vielleicht ebenso seltsam, eine Charaktereigenschaft wie Sanftmut als „Vortrefflichkeit“ zu bezeichnen. Daher werde ich im Folgenden die traditionelle Übersetzung von arete verwenden, nachdem ich ausführlich davor gewarnt habe, dass sie alles andere als perfekt ist. Es handelt sich hierbei

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8 Das rechte Leben: Ethik

um mehr als eine bloße Verschiedenheit der Ausdrucksweise: Vielmehr zeigt sich hierin ein Auffassungsunterschied zwischen den Griechen der Antike und den modernen Menschen der westlichen Welt bezüglich der angemessenen Art und Weise, verschiedene wünschenswerte Eigenschaften von Menschen zusammenzufassen. Der Unterschied hinsichtlich dieser begrifflichen Strukturen erklärt sowohl die Schwierigkeit des Studiums der antiken Moralphilosophie als auch seinen hohen Wert.

Sokrates über die Tugend Die systematische Untersuchung des Wesens der Tugend wurde von Sokrates eingeleitet: Er stellte sie ins Zentrum der Moralphilosophie, ja sogar der gesamten Philosophie. Im Dialog Kriton wird seine Annahme des Todesurteils als Martyrium für Gerechtigkeit und Frömmigkeit dargestellt (Kri. 54b). In den sokratischen Dialogen werden verschiedene Tugenden einer detaillierten Analyse unterzogen: Frömmigkeit (hosiotes) im Euthyphron, Mäßigung (sophrosyne) im Charmides, Tapferkeit (andreia) im Laches und Gerechtigkeit im ersten Buch der Politeia (das sehr wahrscheinlich ursprünglich ein eigenständiger Dialog namens Trasymachos war). Jeder dieser Dialoge folgt einem bestimmten Muster: Sokrates sucht eine Definition der jeweiligen Tugend, und die anderen Gesprächsteilnehmer schlagen ihm Definitionen vor. Eine genaue Überprüfung durch Rede und Gegenrede (elenchus) zwingt jedoch jeden einzelnen Dialogpartner zu dem Zugeständnis, dass seine Definition unzureichend war. Allerdings ist Sokrates ebenso wenig wie seine Gegner in der Lage, eine zufriedenstellende Definition zu formulieren, und jeder einzelne Dialog endet aporetisch. Das Muster lässt sich anhand des ersten Buchs der Politeia veranschaulichen, in dem eine Definition der Tugend der Gerechtigkeit gesucht wird. Der ältere Kephalos schlägt vor, dass Gerechtigkeit darin bestehe, die Wahrheit zu sagen und, was man ausgeliehen habe, zurückzugeben. Sokrates widerlegt diese Definition, indem er fragt, ob es gerecht ist, einem Freund, der den Verstand verloren hat, eine geliehene Waffe zurückzugeben. Man ist sich darin einig, dass dies nicht gerecht wäre, denn es kann nicht rechtens sein, einem Freund zu schaden (Pol. 331d). Der nächste Vorschlag, den Kephalos’ Sohn Polemarchos vorbringt, besagt, dass Gerechtigkeit darin besteht, seinen Freunden Gutes zu tun und seinen Feinden zu schaden. Diese Bestimmung wird verworfen, weil es nicht gerecht ist, irgendjemandem zu schaden: Gerechtigkeit ist eine Tugend, und es kann keine Ausübung einer Tugend sein, irgendjemanden, sei er ein Freund oder ein Feind, schlechter statt besser zu machen (Pol. 335d). An diesem Punkt stellt ein anderer Protagonist des Dialogs, Thrasymachos, infrage, ob es sich bei der Gerechtigkeit überhaupt um eine Tugend handelt. Es kann keine Tugend sein, so argumentiert er, denn es ist in niemands Interesse, sie zu besitzen. Im Gegenteil: Gerechtigkeit ist einfach das, was dem Vorteil der Mächtigen dient. Die Gesetze und die Moral sind Systeme, die ihre Interessen schützen. Durch komplizierte – und oft zweifelhafte – Argumente wird Thrasymachos dahin gebracht

Sokrates über die Tugend

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zuzugeben, dass der gerechte Mann ein besseres Leben führen wird, als der ungerechte, sodass die Gerechtigkeit durchaus im Interesse derjenigen Person ist, die sie besitzt (Pol. 353e). Doch endet der Dialog mit einer agnostischen Position: „Das Ergebnis der Diskussion ist in meinem Fall“, sagt Sokrates, „daß ich nichts gelernt habe. Da ich nicht weiß, was Gerechtigkeit ist, werde ich wohl kaum wissen, ob sie eine Tugend ist oder nicht und ob derjenige, der sie besitzt, glücklich oder unglücklich ist“ (Pol. 354c). Das Zugeständnis der Unwissenheit, das Platon Sokrates in diesen Dialoge in den Mund legt, bedeutet nicht, dass Sokrates bezüglich moralischer Tugend keine Überzeugungen hat: Eher bedeutet es, dass ein sehr strenger Maßstab für dasjenige aufgestellt wird, was als Wissen zählt. In diesen Dialogen erzielen Sokrates und seine Gesprächspartner häufig Einigkeit darüber, ob bestimmte Handlungen als Beispiele für die untersuchte Tugend anerkannt werden können oder nicht: Was fehlt, ist eine begriffliche Formel, die sämtliche der relevanten Tugend entsprechenden Handlungen erfasst, und außer diesen keine anderen. Außerdem verteidigt Sokrates im Laufe des Gesprächs sowohl eine Reihe substanzieller Thesen über einzelne Tugenden (z. B. dass es niemals gerecht ist, jemandem Schaden zuzufügen), als auch über die Tugend im Allgemeinen (z. B. dass sie demjenigen, der sie besitzt, von Nutzen sein muss). Bei der Untersuchung des Wesens einer Tugend geht Sokrates regelmäßig so vor, dass er sie mit einer bestimmten technischen Fähigkeit oder handwerklichen Kunst vergleicht, wie zum Beispiel mit der Schreinerei, Navigations- oder Heilkunst, bzw. mit einer Wissenschaft wie der Arithmetik oder Geometrie. Viele Leser in Antike und Gegenwart finden diese Vergleiche seltsam. Wissen und Tugend sind doch gewiss zwei völlig verschiedene Dinge: Das eine ist eine Sache des Intellekts und die andere eine Sache des Willens. Hierauf lässt sich zweierlei antworten. Erstens: Wenn wir eine scharfe Trennung zwischen dem Intellekt und dem Willen vornehmen, so deshalb, weil wir die Erben vieler Generationen philosophischer Reflexion sind, die ihren ursprünglichen Anstoß durch Sokrates und Platon erhielt. Zweitens: Es gibt tatsächlich wichtige Ähnlichkeiten zwischen Tugenden und einzelnen Formen der Fachkenntnis. Beide sind, im Gegensatz zu anderen Eigenschaften und Merkmalen des Menschen, erworben statt angeboren. Beide werden von Menschen geschätzt: Wir bewundern Menschen sowohl für ihre Fähigkeiten als auch für ihre Tugenden. Sokrates behauptet, dass beide demjenigen, der sie besitzt, von Nutzen sind. Je mehr Fähigkeiten wir besitzen und umso tugendhafter wir sind, desto besser geht es uns. Doch in einer wichtigen Hinsicht sind Fähigkeiten und Tugenden voneinander verschiedenen, zumindest auf den ersten Blick. Sokrates ist sich dessen wohl bewusst, und ein Grund dafür, warum er ständig auf die Analogie zwischen den beiden zurückkommt, liegt darin, dass er sie einander gegenübergestellt, und nicht nur vergleicht. Es geht ihm darum, zu untersuchen, wie bedeutsam die Unterschiede sind. Ein Unterschied besteht darin, dass Künste und Wissenschaften durch den Unterricht von Fachleuten tradiert werden, doch scheint es keine Fachleute zu geben, die einen in der Tugend unterweisen könnten. Zumindest gibt es keine wirklichen Fachleute,

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8 Das rechte Leben: Ethik

obwohl sich einige Sophisten fälschlicherweise als solche anpreisen (Prt. 319a–320b; Men. 89e–91b). Ein weiterer Unterschied ist folgender. Angenommen, jemand macht einen Fehler. Wir können fragen, ob er ihn mit Absicht oder unabsichtlich gemacht hat, und wenn wir die Antwort kennen: was schlechter oder besser ist. Wenn der Fehler bei der Ausübung einer Fähigkeit gemacht wurde – beispielsweise durch das Spielen einer falschen Note auf der Flöte oder das Verfehlen des Ziels beim Bogenschießen – so ist es besser, wenn dies absichtlich geschah. Dies bedeutet, dass ein absichtlicher Fehler die eigene Fähigkeit nicht schmälert. Doch liegen die Dinge anders, wenn das Fehlverhalten auf dem Gebiet der Tugend stattfand: Es wäre ungereimt, wenn man sagen wollte, dass jemand, der meine Rechte absichtlich verletzt, weniger ungerecht ist, als jemand, der sie unwissentlich verletzt (Hp. Mi. 373d–376b). Sokrates glaubt, dass er mit diesen beiden Einwänden, die gegen den Vergleich zwischen Tugend und Fachwissen vorgebracht werden, fertig werden kann. Als Antwort auf das zweite Argument bestreitet er einfach, dass es Menschen gibt, die absichtlich gegen die Tugendvorschriften verstoßen (Prt. 358b–c). Wenn jemand einen Fehler dieser Art macht, so tut er es aus Unwissenheit, aufgrund der Unkenntnis dessen, was für ihn das Beste ist. Wir alle wollen, dass es uns gut geht und dass wir glücklich sind. Dies ist der Grund dafür, warum sich Menschen Dinge wie Gesundheit, Reichtum, Macht und Ehre wünschen. Doch diese Dinge sind nur gut, wenn wir damit umzugehen wissen. Ohne dieses Wissen können Sie uns mehr Schaden als Nutzen bringen. Dieses Wissen darüber, wie man den besten Gebrauch von dem macht, was man besitzt, ist Weisheit (phronesis), und sie ist dasjenige, was in Wahrheit gut genannt zu werden verdient (Euthd. 278e–282e). Weisheit ist die Wissenschaft von dem, was gut und was schlecht ist, und sie ist mit der Tugend identisch – mit sämtlichen Tugenden. Der Grund, warum es keine Lehrer der Tugend gibt, besteht nicht darin, dass die Tugend keine Wissenschaft ist, sondern dass sie eine so schwierige Wissenschaft ist, dass man sie unmöglich beherrschen kann. Dies liegt an der Art, auf welche die Tugenden miteinander verwoben sind und eine Einheit bilden. Handlungen, die Tapferkeit unter Beweis stellen, sind natürlich andere, als Handlungen, die Mäßigung zeigen. Doch was sie zum Ausdruck bringen, ist ein einheitlicher, unteilbarer Zustand der Seele. Wenn wir sagen, Mut sei die Wissenschaft von dem, was hinsichtlich künftiger Gefahren gut oder schlecht ist, so müssen wir zugeben, dass eine solche Wissenschaft nur als Teil einer Gesamtwissenschaft vom Guten und Bösen möglich ist (La. 199c). Die einzelnen Tugenden sind Teile dieser Wissenschaft, doch lässt sie sich nur als ganze besitzen. Niemand, noch nicht einmal Sokrates, ist im Besitz dieser Wissenschaft. 1 Wir erhalten jedoch eine Beschreibung dessen, wie diese Wissenschaft aussehen 1

Ich verdanke diese Einsichten einer Reihe von Aufsätzen von Terry Penner, die er in dem Essay „Socrates and the Early Dialogues“, in: R. Kraut (ed.), The Cambridge Companion to Plato (Cambridge: Cambridge University Press, 1992) zusammengefasst hat.

Platon über Gerechtigkeit und Wohlergehen

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würde, und es ist eine ziemlich überraschende Beschreibung. Sokrates fordert Protagoras in dem nach ihm benannten Dialog auf, die Prämisse zu akzeptieren, dass das Gute mit der Lust und das Böse mit dem Schmerz identisch ist. Im Ausgang von dieser Prämisse will er seine Behauptung beweisen, dass niemand absichtlich Böses tut. Häufig wird behauptet, dass Menschen Böses getan haben im Bewusstsein, dass es böse war, weil sie der Versuchung nachgegeben haben und vom Verlangen nach Lust überwältigt wurden. Wenn jedoch „lustvoll“ und „gut“ dasselbe bedeuten, so müssen sie Böses getan haben, weil sie vom Guten überkommen wurden. Sei das nicht absurd (Prt. 354c–5d)? Wissen verleiht Macht, und das Wissen, dass etwas böse ist, kann nicht umhergestoßen werden wie ein Sklave. Unter der Prämisse, die Protagoras akzeptiert hat, muss Wissen darüber, dass eine Handlung böse ist, ein Wissen davon sein, dass eine Handlung zusammen mit ihren Konsequenzen zu mehr Schmerz als Freude führen wird. Niemand mit solchem Wissen wird eine solche Handlung ausführen, weshalb der falsch handelnden Person dieses Wissen fehlen muss. Nahe Objekte erscheinen dem Gesichtssinn größer, als weiter entfernte, und etwas Ähnliches geschieht im Fall des geistigen Sehens. Wer falsch handelt, erliegt der Illusion, dass das gegenwärtige Behagen die künftigen Schmerzen überwiegt. Was benötigt wird, ist eine Wissenschaft, die den relativen Umfang der Lust und des Schmerzes in Gegenwart und Zukunft misst, da „sich nun aber gezeigt hat, dass das Heil unseres Lebens auf der richtigen Auswahl von Lust und Unlust beruht“ (Prt. 356d–357b). Dies ist die Wissenschaft von Gut und Böse, die identisch ist mit jeder der Tugenden: Gerechtigkeit, Mäßigung und Mut (Prt. 361b).

Platon über Gerechtigkeit und Wohlergehen Man ist sich in der Forschung nicht einig, ob Sokrates tatsächlich gedacht hat, dass der hedonistische Kalkül die Antwort auf die Frage „Was ist Tugend?“ bereithält. Ob Sokrates dies gedacht hat oder nicht: Platon hat es mit Sicherheit nicht gedacht, und in der Politeia gibt er uns eine andere Erklärung der Gerechtigkeit – ja, mehr als nur eine. Der Hauptteil des Dialogs beginnt in Buch 2 mit zwei Herausforderungen, die von Platons Brüdern Glaukon und Adeimantos formuliert werden. Glaukon möchte zeigen, dass Gerechtigkeit nicht nur eine Methode zur Vermeidung von Übeln ist, sondern dass ihr Besitz einen Eigenwert hat (Pol. 358b–362c). Adeimantos möchte beweisen, dass die Gerechtigkeit – unabhängig von irgendwelchen damit verbundenen Belohnungen oder Bestrafungen – der Ungerechtigkeit vorzuziehen ist, ebenso wie das Sehvermögen der Blindheit oder Gesundheit der Krankheit (Pol. 362d–367d). Der Sokrates des Dialogs führt seine Antwort dadurch ein, dass er eine Analogie zwischen der Seele und dem Stadtstaat aufstellt. In der von ihm vorgestellten Stadt werden die Tugenden den verschiedenen Klassen des Stadtstaates zugeordnet: Die Weisheit der Stadt ist die Weisheit derer, die sie regieren, ihr Mut ist der Mut ihrer

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Soldaten und ihre Mäßigung ist der Gehorsam, den ihre Handwerker der Klasse der Herrschenden leisten. Gerechtigkeit ist die Harmonie der drei Klassen: Sie besteht darin, dass jeder Bürger in jeder Klasse dasjenige tut, wofür er oder sie am besten geeignet ist. Die drei Teile der Seele entsprechen den drei Klassen im Staat, und die Tugenden in der Seele sind verteilt wie die Tugenden im Staat (Pol. 441c–442d). Mut gehört zum Eifer (thymoeides), Mäßigung ist die Unterwürfigkeit der unteren Elemente, Weisheit befindet sich in der Vernunft, die die gesamte Seele regiert und sich um sie kümmert. Gerechtigkeit ist die Harmonie der psychischen Elemente. „Jeder von uns wird nur dann eine gerechte Person sein, die die ihr angemessene Funktion ordnungsgemäß erfüllt, wenn die verschiedenen Teile unserer Seele ihre Funktion erfüllen.“ (Pol. 441e) Wenn Gerechtigkeit in der hierarchischen Harmonie der Elemente der Seele besteht, so kommt es zu Ungerechtigkeit und jeglichen Formen des Lasters, wenn die unteren Elemente sich gegen diese Hierarchie erheben (Pol. 443b). Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit in der Seele sind wie Gesundheit und Krankheit im Körper. Daher ist es absurd zu fragen, ob es nützlicher ist, gerecht zu leben oder moralisch Falsches zu tun. Aller Reichtum und alle Macht auf Erden können das Leben nicht lebenswert machen, wenn der Körper durch verheerende Krankheiten zerstört wurde. Könnte das Leben wohl lebenswerter sein, wenn die Seele, das Prinzip des Lebens, verwirrt und verdorben ist (Pol. 445b)? Dies ist die erste Erläuterung von Gerechtigkeit und Tugend, die Glaukon und Adeimantos als Antwort auf ihre Herausforderung gegeben wird. Sie ist von der Darstellung im Protagoras in mehrfacher Hinsicht verschieden. Die These von der Einheit der Tugend wurde, als Ergebnis der Dreiteilung der Seele, aufgegeben oder zumindest modifiziert. Lust erscheint nicht als Ziel der Tugend, sondern als Kumpan des untersten Seelenanteils. Die Schlussfolgerung, dass Gerechtigkeit demjenigen nützt, der sie besitzt, gehört jedoch zum gemeinsamen Grundbestand der Politeia und der frühen sokratischen Dialoge. Ferner muss jeder in Wahrheit gerecht sein wollen, wenn Gerechtigkeit seelischer Gesundheit entspricht, denn jeder möchte gesund sein. Dies passt gut zu der sokratischen Behauptung, dass niemand absichtlich das moralisch Falsche tut und dass das Laster im Wesentlichen in Unwissenheit besteht. Die am Ende von Buch 4 der Politeia gezogene Schlussfolgerung ist jedoch nur eine vorübergehend gültige, denn sie nimmt nicht Bezug auf die große platonische Neuerung: die Lehre von den Ideen. Nachdem die Rolle der Ideen in den mittleren Büchern des Dialogs erläutert wurde, erhalten wir eine revidierte Darstellung der Beziehung zwischen Gerechtigkeit und Glück. Der gerechte Mann ist glücklicher als der ungerechte, nicht nur deshalb, weil sich seine Seele in Harmonie befindet, sondern weil es beglückender ist, die Seele mit Einsicht zu füllen, statt die Wünsche des Begehrungsvermögens zu mästen. Die Vernunft ist nicht mehr das Vermögen, das sich um die Person kümmert, sie entspricht ihrem Wesen nach der unveränderlichen und unsterblichen Welt der Wahrheit (Pol. 585c). Menschen können als habsüchtig, ehrgeizig oder akademisch klassifiziert werden,

Aristoteles über Glückseligkeit

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je nachdem ob das dominante Element ihrer Seele das Begehrungsvermögen, der Eifer oder die Vernunft ist. Die Menschen jeden Typs werden behaupten, dass ihre eigene Lebensform die beste ist: Der habgierige Mensch wird das Geschäftsleben preisen, der ehrgeizige Mann eine politische Laufbahn und der akademisch interessierte Mensch wird Wissen und Einsicht loben. Vorzuziehen ist das Urteil des Philosophen, des akademischen Menschen: Er ist den anderen an Erfahrung, Einsicht und Verstandesgebrauch überlegen (Pol. 580d–583b). Außerdem sind die Gegenstände, denen der Philosoph sein Leben widmet, soviel wirklicher als die Ziele, die die anderen verfolgen, dass ihr Vergnügen im Vergleich damit illusorisch zu sein scheint (Pol. 583c–587a). Platon hat den hedonistischen Kalkül nicht völlig verabschiedet: Er errechnet für uns, dass das Leben eines Philosophenkönigs 729-mal angenehmer ist als dasjenige seines bösen Gegenteils (Pol. 587e). In seinem reifen Dialog Philebos nimmt Platon das Thema von Glück und Wohlbefinden (Vergnügen und Lust) noch einmal auf. Einer der Teilnehmer an dem Gespräch, Protarchos, behauptet, dass die Lust das größte Gut ist. Dem hält Sokrates entgegen, dass Weisheit höher zu bewerten sei als Lust, und dass sie dem Glück zuträglicher sei (Phlb. 11a–12b). Der Dialog bietet Gelegenheit für eine umfassende Diskussion der verschiedenen Arten von Vergnügen, die sehr verschieden von Protagoras’ Behandlung der Lust als einzelner Klasse vergleichbarer Dinge ist. Am Ende der Diskussion gewinnt Sokrates sein Argument gegen Protarchos: Wenn wir die verschiedenen Güter sorgfältig abwägen, sind selbst die höchsten Vergnügen unterhalb der Weisheit einzustufen (Phlb. 66b–c). Der interessanteste Teil des Dialoges ist jedoch ein Argument zur Verteidigung der These, dass weder Wohlbefinden noch Weisheit für sich das Wesen eines glücklichen Lebens ausmachen können, sondern dass allein ein Leben, das eine Mischung von Wohlbefinden und Weisheit enthält, gewählt werden sollte. Jemand, der in jedem Moment seines Lebens jede Form von Lust erlebt, jedoch keinen Verstand hat, wäre nicht glücklich, weil er weder fähig wäre, sich an irgendein Vergnügen zu erinnern, noch sich darauf zu freuen, sondern er wäre in die Gegenwart eingeschlossen. Er würde kein menschliches Leben führen, sondern das Leben eines Mollusken (21a–d). Doch ein rein intellektuelles Leben ohne jegliches Vergnügen wäre ebenso unerträglich (Phlb. 21e). Keine der beiden Lebensformen wäre „wünschenswert“, noch würde sie „irgendeinem […] so vorkommen“. Letztlich besteht das gute Leben in einem harmonischen Verhältnis von Wohlbefinden und Weisheit (Phlb. 63c–65a).

Aristoteles über Glückseligkeit Die im Philebos angegebenen Kriterien für ein gutes Leben begegnen uns in Aristoteles’ Beschreibung des guten Lebens wieder. Das Gute, wonach wir streben, so sagt Aristoteles zu Beginn der Nikomachischen Ethik, muss im Vergleich zu allen anderen Zielen perfekt sein, d. h., es muss etwas sein, das um seiner selbst willen erstrebt wird,

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und niemals als bloßes Mittel zu einem anderen Zweck. Außerdem muss es sich selbst genügen, d. h.: Es muss etwas sein, was das Leben für sich allein lebenswert macht, sodass ihm nichts fehlt. Dies sind, so erläutert er weiter, die Eigenschaften der Glückseligkeit (eudaimonia) (NE 1. 7. 1097a15–b21). In sämtlichen ethischen Abhandlungen des Aristoteles spielt der Begriff der Glückseligkeit eine zentrale Rolle. Deutlicher wird dies jedoch in der Eudemischen Ethik, und in meiner Darstellung werde ich damit beginnen, zunächst dieser Schrift zu folgen, statt des vertrauteren Texts der Nikomachischen Ethik. Die Schrift beginnt mit einer Untersuchung: Was ist das gute Leben, und wie kann man es erreichen? (EE 1. 1. 1214a15) Auf die zweite Frage erhalten wir fünf mögliche Antworten (durch die Natur, durch Lernen, durch Disziplin, durch göttliche Gunst oder durch Zufall), auf die erste Frage sieben mögliche Antworten (Weisheit, Tugend, Vergnügen, Ehre, Ansehen, Reichtümer und Kultur) (EE 1. 1. 1214a32, b9). Einige Antworten auf die zweite Frage werden von Aristoteles sofort ausgeschlossen: Wenn Glückseligkeit lediglich durch die Natur oder durch Zufall oder durch Gnade erlangt, so kann sie von den meisten Menschen nicht erreicht werden, und sie können nichts zu ihr beitragen (EE 1. 3. 1215a15). Doch hängt eine vollständige Antwort auf die zweite Frage offensichtlich von der Antwort auf die erste Frage ab, und Aristoteles bemüht sich darum, in dem er die Frage stellt: Wodurch wird das Leben lebenswert? Es gibt einige Vorkommnisse im Leben, wie zum Beispiel Krankheit oder Schmerz, die Menschen dazu bringen, das Leben aufzugeben: Offensichtlich machen diese das Leben nicht lebenswert. Dann gibt es die Ereignisse der Kindheit: Diese können nicht zu demjenigen gehören, was an einem Leben am meisten wert ist, gewählt zu werden, weil niemand, der klar bei Verstand ist, eine Rückkehr in seine Kindheit wählen würde. Im Erwachsenenleben gibt es Dinge, die wir lediglich als Mittel zu einem Zweck tun. Offensichtlich können auch diese, für sich genommen, nicht dasjenige sein, was das Leben lebenswert macht (EE 1. 5. 1215b15–31). Wenn das Leben lebenswert sein soll, so muss es etwas geben, was ein Zweck an sich selbst ist. Ein solcher Zweck ist das Vergnügen. Die Vergnügen des Essens, Trinkens und der sexuellen Betätigung sind, für sich genommen, zu tierisch, um als angemessener Zweck eines menschlichen Lebens infrage zu kommen. Wenn wir sie jedoch mit ästhetischem und intellektuellem Vergnügen verbinden, so haben wir ein Ideal vor uns, das von bedeutenden Personen ernsthaft verfolgt wurde. Andere bevorzugen ein Leben tugendhaften Verhaltens – das Leben eines echten Politikers, nicht das einer Fehlform dieses Lebens, in der es nur um Geld oder Macht geht. Drittens gibt es das Leben der wissenschaftlichen Kontemplation, wie es von Anaxagoras verkörpert wurde, der auf die Frage, warum man wählen sollte, geboren zu werden statt nicht geboren zu werden, antwortete: „Um den Himmel und die Ordnung des Universums zu bewundern.“ Aristoteles hat damit die möglichen Antworten auf die Frage „Was ist ein gutes Leben?“ auf drei reduziert: Weisheit, Tugend und Vergnügen. Jeder, so behauptet er, verbindet das Glück mit der einen oder anderen dieser drei Lebensformen: der phi-

Aristoteles über Glückseligkeit

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losophischen, der politischen und der der Lust ergebenen (EE 1. 4. 1215a27). Diese Triade enthält den Schlüssel zu Aristoteles’ ethischen Nachforschungen. Sowohl die Eudemische als auch die Nikomachische Ethik enthalten detaillierte Analysen der Begriffe der Tugend, der Weisheit (phronesis) und der Lust. Und wenn Aristoteles an den Punkt gelangt, an dem er seine eigene Vorstellung von einem glücklichen Leben darlegt, kann er behaupten, dass sie all dasjenige enthält, was die drei traditionellen Formen des Lebens anziehend macht. Ein entscheidender Schritt, um dies zu erreichen, besteht darin, im Bereich der Ethik die metaphysische Analyse von Möglichkeit und Wirklichkeit anzuwenden. Aristoteles unterscheidet zwischen einem Zustand (hexis) und seiner Verwendung (chresis) oder Ausübung (energeia). 2 Tugend und Weisheit sind beides Zustände, während Glückseligkeit eine Aktivität ist, und deshalb nicht einfach mit einer der beiden gleichgesetzt werden darf (EE 2. 1. 1219a39; NE 1. 1. 1098a16). Die Aktivität, welche Glückseligkeit darstellt, besteht jedoch in einer Verwendung oder Ausübung der Tugend. Weisheit und moralische Tugend werden, obwohl es unterschiedliche hexeis sind, untrennbar in einer einzigen energeia ausgeübt, sodass sie nicht miteinander konkurrieren, sondern durch Kooperation zur Glückseligkeit beitragen (NE 10. 8. 1178a16–18). Darüber hinaus behauptet Aristoteles, dass Lust mit der ungehinderten Ausübung eines angemessenen Zustands identisch ist, sodass Glückseligkeit, als ungehinderte Ausübung dieser beiden Zustände betrachtet, gleichzeitig das Leben der Tugend, der Weisheit und des Vergnügens ist (EE 7. 15. 1249a21; NE 10. 7. 1177a23). Diese Schlussfolgerung wird erst nach einer sich über viele Seiten hinziehenden Analyse und Argumentation erreicht. Zunächst muss Aristoteles zeigen, dass Glückseligkeit in der Aktivität in Übereinstimmung mit der Tugend besteht. Diese These wird durch eine Betrachtung der Funktion oder eigentümlichen Aktivität (ergon) menschlicher Wesen abgeleitet. Der Mensch muss eine Funktion haben, argumentiert die Nikomachische Ethik, weil bestimmte Typen von Menschen (z. B. Bildhauer) eine Funktion haben so wie die Teile und Organe des menschlichen Körpers. Was ist diese Funktion? Es sind weder Wachstum und Ernährung, denn die teilen wir mit Pflanzen, noch das Leben der Sinne, denn das teilen wir mit den Tieren. Es muss ein Leben der Vernunft sein, dem es um Aktivität geht: die Aktivität der Seele in Übereinstimmung mit der Vernunft. Das menschliche Gut wird daher in der guten menschlichen Funktion bestehen, nämlich der Aktivität der Seele in Übereinstimmung mit der Tugend (NE 1. 7. 1098a16). Eine Tugend, die nicht ausgeübt wird, ist nicht Glückseligkeit, denn das wäre mit einem im Schlaf verbrachten Leben vereinbar, was niemand als glücklich bezeichnen würde (NE 1. 8. 1099a1). Zweitens muss Aristoteles den Begriff der Tugend analysieren. Die menschlichen Tugenden werden in Übereinstimmung mit den im vorigen Kapitel dargelegten Tei2

Die EE bevorzugt die Unterscheidung in der Form: Tugend – Verwendung der Tugend, während die NE sie in der Form: Tugend – Aktivität (energeia kat’areten) bevorzugt.

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Dies mag nicht Aristoteles’ Idee eines glücklichen Lebens gewesen sein, doch so schien es zumindest einem Illustrator seines Texts (16. Jahrhundert).

len der Seele klassifiziert. Irgendwelche Tugenden des vegetativen Teils der Seele, wie zum Beispiel eine gute Verdauung, sind für die Ethik irrelevant, da es ihr um die spezifisch menschlichen Tugenden geht. Der Teil der Seele, der mit Begehren und Leidenschaft zu tun hat, ist spezifisch menschlich, insofern er sich unter der Kontrolle der Vernunft befindet: Er hat seine eigenen Tugenden, die moralischen Tugenden des Mutes und der Mäßigung. Der rationale Teil der Seele ist der Sitz der intellektuellen Tugenden.

Aristoteles über moralische und intellektuelle Tugend Die moralischen Tugenden werden im zweiten und fünften Buch der Nikomachischen und im zweiten und dritten Buch der Eudemischen Ethik behandelt. Diese Tugenden sind nicht angeboren, sondern werden durch Übung erworben und gehen bei mangelnder Übung wieder verloren: Darin unterscheiden sie sich von Fähigkeiten wie Intelligenz oder Gedächtnis. Es handelt sich um andauernde Zustände, wodurch sie von momentanen Leidenschaften wie Zorn oder Mitleid unterschieden sind. Was eine Person gut oder schlecht, lobenswert oder kritikwürdig macht, ist weder der einfache Besitz von Fähigkeiten noch das bloße Auftreten von Leidenschaften. Vielmehr ist es ein Zustand des Charakters, der sich in Zwecken (prohairesis) und im Handeln (praxis) ausdrückt (NE 2. 1. 1103a11–b25; 4. 1105a19–1106a13; EE 2. 2. 1220b1–20). Tugend drückt sich in guten Zwecken, d. h. in Handlungsvorsätzen in Übereinstimmung mit einem guten Lebensplan aus. Handlungen, die eine moralische Tugend ausdrücken, vermeiden nach Aristoteles Übermaß und Mangel. Eine maßvolle Person wird es beispielsweise vermeiden, zu viel zu essen oder zu trinken, es jedoch ebenso vermeiden, zu wenig zu essen oder zu trinken. Die Tugend wählt das mittlere Maß oder den Mittelweg zwischen Übermaß und Mangel, indem sie die richtige Menge isst und trinkt. Aristoteles behandelt eine lange Liste von Tugenden, angefan-

Aristoteles über moralische und intellektuelle Tugend

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gen mit den traditionellen Tugenden der Tapferkeit und Mäßigung. Er geht jedoch auch auf andere Tugenden ein, wie zum Beispiel Freizügigkeit, Ernsthaftigkeit, Würde und Geselligkeit, und umreißt in jedem Fall, wie es der jeweiligen Tugend um die Einhaltung des rechten Maßes geht. Die Lehre von der Einhaltung des rechten Maßes ist nicht als Anweisung zur Mittelmäßigkeit oder als Aufforderung gemeint, sich am Durchschnitt „der Vielen“ zu orientieren. Aristoteles warnt uns, dass dasjenige, was das rechte Maß an Trinken, Freizügigkeit oder Gesprächigkeit ausmacht, von Person zu Person unterschiedlich sein kann, wie etwa die für einen olympischen Athleten bemessene Nahrungsmenge für einen Anfänger in der Athletik zu groß sein kann (NE 2. 6. 1106b3 f.). Jeder von uns lernt das rechte Maß durch Erfahrung: durch Beobachtung und Korrektur von Übermaß und Mangel in unserem Verhalten. Die Tugend hat es nicht nur mit dem Handeln, sondern auch mit der Leidenschaft zu tun. Wir können zu viele oder zu wenige Ängste haben: Tapferkeit lässt uns Angst empfinden, wenn dies angemessen ist, und furchtlos sein, wenn Angst nicht angemessen ist. Wir können zu sehr oder zu wenig an Sexualität interessiert sein: Die gemäßigte Person wird das rechte Maß an Interesse besitzen und weder wollüstig noch frigide sein (NE 2. 7. 1107b1–9). Die Tugenden, außer dass es ihnen um das rechte Maß im Handeln und bei den Leidenschaft geht, liegen selbst in der Mitte zwischen zwei entgegengesetzten Lastern. So liegt beispielsweise Tapferkeit in der Mitte zwischen Waghalsigkeit auf der einen und Feigheit auf der anderen Seite. Großzügigkeit wandelt auf dem schmalen Pfad zwischen Geiz und Verschwendung (NE 2. 7. 1107b1–16; EE 2. 3. 1220b36– 1221a12). Doch während es ein rechtes Maß für Handlung und Leidenschaft gibt, gibt es kein rechtes Maß für die Tugend selbst: Es kann kein Übermaß einer Tugend geben, wie es ein Übermaß einer bestimmten Art von Handlung oder Leidenschaft geben kann. Wenn wir sagen wollen, jemand sei zu mutig, wollen wir in Wirklichkeit sagen, dass seine Handlungen die Grenze zwischen der Tugend der Tapferkeit und dem Laster der Waghalsigkeit überschreiten. Und wenn es kein Übermaß einer Tugend geben kann, kann es auch nicht zu wenig eines Lasters geben, sodass es also ein rechtes Maß des Lasters ebenso wenig geben kann wie ein rechtes Maß der Tugend (NE 2. 6. 1107a18–26). Während alle moralischen Tugenden im rechten Maß von Handlung und Leidenschaft bestehen, ist es nicht so, dass es für jede Art von Handlung oder Leidenschaft ein tugendhaftes rechtes Maß gibt. Es gibt einige Handlungen, für die es kein rechtes Maß gibt, weil jedes Maß ein Zuviel bedeutet: Aristoteles führt Mord und Ehebruch als Beispiele an. So etwas wie Ehebruch mit der richtigen Person zur richtigen Zeit auf die richtige Weise gibt es nicht. In ähnlicher Weise gibt es Leidenschaften, auf die sich die Lehre vom rechten Maß nicht anwenden lässt: Es gibt kein rechtes Maß von Neid oder Gehässigkeit (NE 2. 6. 1107a8–17). Aristoteles’ Darstellung der Tugend als rechtes Maß scheint vielen Lesern wie die Darlegung von Binsenweisheiten. Tatsächlich handelt es sich um eine prägnante ethische Theorie, die zu anderen einflussreichen Systemen verschiedener Art im Gegen-

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satz steht. Ethische Systeme wie etwa die traditionelle jüdische oder christliche Morallehre weisen dem Begriff des moralischen Gesetzes (sei dies natürlich oder offenbart) eine zentrale Rolle zu. Dies führt zu einer Betonung des Verbotsaspekts der Moral, einer Auflistung von Handlungen, die grundsätzlich zu vermeiden sind. So beginnen beispielsweise die meisten der Zehn Gebote mit der Anweisung: „Du sollst nicht …“ Aristoteles nimmt an, dass es einige Handlungen gibt, die völlig verboten sind, wie wir soeben gesehen haben. Doch er betont nicht das für moralische Anständigkeit erforderliche Minimum, sondern eher die Bedingungen zur Erreichung moralischer Vortrefflichkeit (das ist es schließlich, was ethike arete bedeutet). Man könnte sagen, er schreibe ein Lehrbuch für einen Leistungs- statt für einen Grundkurs in der Ethik. Doch es sind nicht nur religiöse Systeme, die zu Aristoteles’ Behandlung des rechten Maßes im Gegensatz stehen. Für einen Utilitaristen oder irgendeinen anderen Konsequenzialisten, gibt es keine Klasse von Handlungen, die im Voraus ausgeschlossen sind. Für eine utilitaristische Sichtweise kann es, da die Moral einer Handlung nach ihren Folgen zu beurteilen ist, in einem bestimmten Fall ein rechtes Maß an Ehebruch oder Mord geben. Andererseits haben einige säkulare asketische Systeme eine ganze Klasse von Handlungen ausgeschlossen: Für einen Vegetarier gibt es kein rechtes Maß, wenn es um das Essen von Fleisch geht. Wir könnten sagen, dass Utilitaristen aus Aristoteles’ Sicht die Anwendung des rechten Maßes übertreiben, während Vegetarier in seiner Anwendung hinter dem rechten Maß zurückbleiben. Der Aristotelismus trifft, natürlich, genau das richtige Mittelmaß bei der Anwendung der Lehre. Aristoteles fasst seine Darstellung der moralischen Tugend zusammen, indem er sagt, Tugend sei ein Zustand des Charakters, der sich in Präferenzen ausdrückt, die das rechte Maß einhalten, wie es durch die Vorschrift festgelegt ist, die von einem weisen Menschen gegeben würde. Um diese Darstellung zu vervollständigen, muss er erklären, was Weisheit ist, und wie die Vorschriften des Weisen einzuhalten sind. Diese Aufgabe übernimmt er in einem Buch, das beiden Ethiken gemeinsam ist (NE 6; EE 5) und in dem er die intellektuellen Tugenden behandelt. Wie er zu Beginn des Buches erklärt, ist Weisheit nicht die einzige intellektuelle Tugend. Die Tugend von irgendetwas hängt von seinem ergon ab, seiner Funktion oder Aufgabe. Die Aufgabe der Vernunft besteht darin, wahre und falsche Urteile zu fällen, und wenn sie ihre Aufgabe gut erfüllt, fällt sie wahre Urteile (NE 6. 2. 1139a29). Die intellektuellen Tugenden sind demnach Vortrefflichkeiten, die bewirken, dass die Vernunft wahre Urteile fällt. Nach Aristoteles gibt es fünf Zustände, die hierzu führen: technische Fertigkeit (techne), Wissenschaft (episteme), Klugheit (phronesis), Weisheit (sophia) und Einsicht (nous) (NE 6. 3. 1139b17). Diese Zustände stehen im Gegensatz zu anderen geistigen Zuständen, wie Überzeugung oder Meinung (doxa), die wahr oder falsch sein kann. Es gibt demnach fünf Kandidaten für intellektuelle Tugenden. Die techne, die von Handwerkern und von Fachleuten wie Architekten und Ärzten unter Beweis gestellte Fähigkeit, wird von Aristoteles nicht zu den intellektuellen

Aristoteles über moralische und intellektuelle Tugend

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Tugenden gezählt. Wie wir bereits gesehen haben, verglichen Sokrates und Platon die Tugenden gern mit dem Wissen in einem bestimmten Fach, doch Aristoteles hebt die wichtigen Unterschiede zwischen beiden hervor. Kunstfertigkeiten und Fachwissen haben Produkte, die von ihrer Ausübung verschieden sind, ob es sich dabei um ein konkreteres Produkt wie das von einem Architekten gebaute Haus oder um ein abstraktes Ergebnis handelt, wie die durch den Arzt wiederhergestellte Gesundheit (NE 6. 4. 1140a1–23). Die Ausübung einer Kunstfertigkeit wird anhand der Vortrefflichkeit ihres Ergebnisses beurteilt, nicht nach dem Motiv der die Kunstfertigkeit ausübenden Person: Wenn die Kuren des Arztes erfolgreich und die Häuser des Architekten prachtvoll sind, müssen wir nicht danach fragen, aus welchen Motiven sie ihre Künste ausüben. Bei Tugenden verhält es sich anders. Sie werden in Handlungen ausgeübt, die kein weiteres Ergebnis haben müssen, und eine Handlung ist, wie untadelig sie objektiv betrachtet auch sein mag, nur dann tugendhaft, wenn sie aufgrund des richtigen Motivs ausgeführt wurde, d. h., wenn sie als Teil eines wertvollen Lebenswandels gewählt wurde (NE 2. 4. 1105a26–b8). Es ist keine Kritik an der technischen Fähigkeit einer Person, dass sie sie widerwillig ausübt; doch behauptet Aristoteles, dass eine wahrhaft tugendhafte Person das Gute freudig tun muss und dass sie ihre Pflicht nicht ungern tun darf (NE 2. 3. 1104b4). Und schließlich kann die Ausübung einer bestimmten technischen Fähigkeit – obwohl derjenige, der sie besitzt, wissen muss, wie sie korrekt ausgeführt wird – in einem absichtlichen Fehler bestehen –, zum Beispiel, wenn ein Lehrer einem Schüler zeigt, wie ein bestimmtes Problem nicht gelöst werden sollte. Im Gegensatz dazu könnte sich beispielsweise niemand in der Tugend der Mäßigung üben, indem er sich bis zur Bewusstlosigkeit betrinkt. Es zeigt sich, dass die anderen vier intellektuellen Tugenden auf zwei reduziert werden können. Sophia, das umfassende Begreifen ewiger Wahrheiten, welches das Ziel der Bemühungen des Philosophen ist, erweist sich als Mischung aus Einsicht (nous) und Wissenschaft (episteme) (NE 6. 7. 1141a19 f.). Der Klugheit (phronesis) geht es nicht um unwandelbare, ewige Dinge, sondern um die menschlichen Dinge und Angelegenheiten, die Gegenstand von Überlegungen sein können (NE 6. 7. 1141b9–13). Aufgrund der unterschiedlichen Objekte, um die es ihnen geht, sind Klugheit und Weisheit Tugenden von zwei verschiedenen Teilen der rationalen Seele. Weisheit ist die Tugend des theoretischen Teils (des epistemonikon), dem es um die ewigen Wahrheiten geht. Klugheit ist die Tugend des praktischen Teils (des logistikon), der sich mit den Belangen des menschlichen Lebens beschäftigt. Alle anderen intellektuellen Tugenden sind entweder Teile dieser beiden Tugenden der theoretischen und praktischen Vernunft oder sie lassen sich darauf zurückführen. Die intellektuelle Tugend der praktischen Vernunft ist untrennbar mit den moralischen Tugenden des affektiven Teils der Seele verbunden. Aristoteles sagt uns, es sei unmöglich, ein wahrhaft guter Mensch zu sein, ohne Weisheit zu besitzen oder wirklich weise zu sein, ohne über moralische Tugend zu verfügen (NE 6. 13. 1144b30–2). Dies ergibt sich aus der Natur der Art von Wahrheit, um der es der praktischen Vernunft geht.

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„Was ferner beim Denken Bejahung und Verneinung ist, das ist beim Streben das Suchen und Vermeiden. Wenn nun die ethische Tugend ein Verhalten des Willens ist und der Wille ein überlegendes Streben, so muß also die Einsicht wahr und das Streben richtig sein, wenn die Willensentscheidung gut werden soll, und es muss eines und dasselbe vom Denken bejaht und vom Streben gesucht werden. Dies ist also die praktische Vernunft und Wahrheit.“ (NE 6. 2. 1139a21–27) 3

Tugendhaftes Handeln muss auf tugendhaften Zwecken beruhen. Ein Zweck ist ein vernünftiger Wunsch, sodass – wenn der Zweck ein guter sein soll – sowohl der Vernunftgebrauch als auch der Wunsch gut sein müssen. Was den Vernunftgebrauch gut sein lässt, ist Weisheit, was den Wunsch gut sein lässt, moralische Tugend. Aristoteles lässt die Möglichkeit korrekten Vernunftgebrauchs bei fehlender moralischer Tugend zu: Er nennt dies „Intelligenz“ (deinotes) (NE 6. 12. 1144a23). Er hält es ebenfalls für möglich, dass richtiges Wollen ohne richtigen Vernunftgebrauch vorkommt: Von dieser Art sind die natürlichen tugendhaften Impulse von Kindern (NE 6. 13. 1144b1–6). Doch erst wenn ein richtiger Vernunftgebrauch und ein richtiges Wollen zusammentreffen, kommt es zu wahrhaft tugendhaftem Handeln (NE 10. 8. 1178a16– 18). Die Verbindung der beiden macht Intelligenz zu Weisheit und natürliche zu moralischer Tugend. Praktischer Vernunftgebrauch wird von Aristoteles als ein Prozess verstanden, der von einer allgemeinen Auffassung des menschlichen Wohlergehens seinen Ausgang nimmt, von da aus die konkreten Umstände einer bestimmten Situation bedenkt und mit der Vorschrift einer Handlung endet. 4 In den praktischen Erwägungen einer weisen Person werden alle drei Stadien auf rechte Weise erfolgen und praktische Wahrheit bezeugen (NE 6. 9. 1142b34; NE 13. 1144b28). Für die erste, allgemeine Prämisse ist moralische Tugend unerlässlich. Ohne sie werden wir es mit einer verkehrten und wahnhaften Auffassung der letzten Gründe des Handelns zu tun haben (NE 6. 12. 1144a9, 35). Wir finden bei Aristoteles keine systematische Darstellung des praktischen Vernunftgebrauchs, die mit der Syllogistik, die er für den theoretischen Vernunftgebrauch entwickelt hat, vergleichbar wäre. Es ist schwer, in seinen Schriften einen einzigen, vollständig ausgearbeiteten praktischen Syllogismus zu finden. Seine deutlichsten Beispiele haben es alle mit Überlegungen zu tun, die in irgendeiner Weise moralisch fehlerhaft sind. Auf einen praktischen Vernunftgebrauch kann ein schlechtes Verhalten folgen (a) aufgrund einer falschen allgemeinen Prämisse, (b) aufgrund eines Irrtums, der mit der bzw. den besonderen Prämisse(n) zusammenhängt, (c) aufgrund einer Unfähigkeit, die Schlussfolgerung zu ziehen oder sich ihr entsprechend zu verhalten. Aristoteles veranschaulicht dies am Beispiel der Völlerei. 3 4

Zitiert nach: Aristoteles, Die Nikomachische Ethik, übersetzt und herausgegeben von O. Gigon (München: dtv, 1972). Siehe A. Kenny, Aristotle’s Theory of the Will (London: Duckworth, 1979), 111–54.

Lust und Glück

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Wir stellen uns jemanden vor, dem ein köstliches Dessert angeboten wird, auf das er aus Gründen der Mäßigung (warum genau, wird uns nicht gesagt) verzichten sollte. Die Unfähigkeit zu diesem Verzicht hat ihren Grund in einer fehlerhaften allgemeinen Prämisse, wenn es sich bei dem Genießer um jemanden handelt, der – statt einem Lebensplan der Mäßigung zu folgen – sich die allgemeine Maxime zu eigen gemacht hat, jedem Vergnügen nachzugehen, das sich ihm bietet. Aristoteles bezeichnet eine solche Person als „unmäßig“. Jemand kann jedoch einer allgemeinen Lebensregel der Mäßigung zustimmen und somit über die angemessene allgemeine Prämisse verfügen und dennoch bei dieser Gelegenheit nicht zu dem geforderten Verzicht in der Lage sein, weil er der Macht des Wunsches zu schlemmen nicht widerstehen kann. Aristoteles bezeichnet eine solche Person nicht als „unmäßig“, sondern als „willensschwach“, und er erläutert, welche unterschiedlichen Formen eine solche Willensschwäche (akrasia) annehmen kann. Sie hängen davon ab, in welcher Weise die späteren Stadien des praktischen Vernunftgebrauchs ihr Ziel verfehlen (NE 7. 3. 1147a24–b12). Aristoteles unterbricht seine Diskussion der Beziehung zwischen Weisheit und Tugend hin und wieder, um seine eigene Lehre mit derjenigen von Sokrates zu vergleichen. Sokrates hatte seiner Meinung nach darin Recht, dass er die Weisheit als für die moralische Tugend unerlässlich ansah, doch er hatte Unrecht, sofern er Tugend und Weisheit einfach gleichsetzte (NE 6. 13. 1144b17–21). Ferner hatte Sokrates behauptet, es sei unmöglich, dass jemand wissentlich das Falsche tut, und als Begründung angeführt, Wissen lasse sich nicht wie ein Sklave umherstoßen. Aristoteles stimmt ihm, was die Macht des Wissens betrifft, zu. Er bestreitet jedoch seine Schlussfolgerung, dass Willensschwäche unmöglich ist. Eine Willensschwäche ist das Ergebnis von Fehlern und Irrtümern, die mit den Nebenprämissen oder der Schlussfolgerung des praktischen Vernunftgebrauchs zusammenhängen. Den Status der allgemeinen Hauptprämisse, die es allein verdient, als „Wissen“ bezeichnet zu werden, untergräbt sie jedoch nicht (NE 7. 3. 1147b13–19).

Lust und Glück Die Vergnügen, um die es bei der Mäßigung, Unmäßigkeit und Willensschwäche geht, sind Vergnügen einer bestimmten Art: die vertrauten körperlichen Genüsse des Essens, Trinkens und Beischlafs. Wenn Aristoteles seine geplante Analyse der Beziehung zwischen Vergnügen und Glück durchführen will, schuldet er uns eine allgemeinere Beschreibung der Natur von Vergnügen und Genuss. Er gibt uns eine solche Beschreibung in zwei Textpassagen: in NE 7 = EE 6 (1152b1–1154b31) und in NE 10. 1–5 (1172a16–1176a29). Die beiden Texte unterscheiden sich nach Stil und Methode, sind aber ihrem grundsätzlichen Inhalt nach identisch. 5 In beiden Abhandlungen gibt uns Aristoteles eine fünfteilige Klassifikation des 5

Siehe A. Kenny, The Aristotelian Ethics (Oxford: Clarendon Press, 1978), 233–7.

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Genusses. Da gibt es zunächst die Genüsse derjenigen, die (an Körper oder Seele) krank sind. Hierbei handelt es sich nur um scheinbare Genüsse (EE 1153b33, NE 1173b22). Als nächstes führt er die Genüsse des Essens, Trinkens und der sexuellen Betätigung an, wie sie der Gourmand und der Lüstling erleben (EE 1152b35 ff., NE 1173b8–15). In der Hierarchie folgen als nächstes zwei Klassen des ästhetisch-sinnlichen Vergnügens: die Vergnügen der niederen Tast- und Geschmackssinne auf der einen Seite und die Vergnügen der höheren Sinne des Sehens, Hörens und des Riechens auf der anderen (EE 1153b26, NE 1174b14–1175a10). An oberster Stelle stehen schließlich die geistigen Genüsse (EE 1153a1–20, NE 1173b17). Obwohl diese Vergnügen und Genüsse unterschiedlich sind, lässt sich eine allgemeine Beschreibung des Wesens eines jeden echten Genusses geben. „Lust gibt es bei jeder Wahrnehmung, ebenso bei Überlegen und Denken; am lustvollsten ist das Vollkommenste und am vollkommensten ist die Tätigkeit, wo das eine sich in gutem Zustand befindet und das andere das edelste der zugeordneten Objekte ist. Die Lust macht die Tätigkeit vollkommen. Freilich bringt sie die Vollendung nicht in der Weise zustande, wie es die Vorzüglichkeit des Objekts und des Wahrnehmungsorgans tun, wie ja auch die Gesundheit und der Arzt nicht in derselben Weise Ursache des Gesundseins sind.“ (NE 10. 4. 1174b23–32) 6

Die Lehre, dass Vergnügen oder Lust eine Aktivität vervollkommnet, wird in einem anderen Textabschnitt, in dem Lust als ungehinderte Aktivität einer naturgemäßen Veranlagung definiert wird, in anderen Begriffen dargestellt (NE 7. 12. 1153a14). Um zu verstehen, woran Aristoteles dabei denkt, wollen wir die ästhetischen Vergnügen des Geschmackssinnes betrachten. Sie befinden sich auf einer Weinprobe für erlesene, ausgereifte Weine. Sie haben keine Erkältung und werden durch keine Hintergrundmusik abgelenkt. Wenn Sie den Wein dann nicht genießen können, haben Sie entweder einen schlechten Gaumen („das Organ befindet sich nicht in gutem Zustand“) oder es handelt sich um einen schlechten Wein („der Sinn ist nicht auf die vortrefflichsten seiner Objekte gerichtet“). Eine dritte Möglichkeit gibt es nicht. Der Genuss „vervollkommnet“ eine Aktivität, indem er bewirkt, dass sie – in diesem Fall das Probieren von Wein – eine gute Aktivität ihrer Art ist. Das Organ und das Objekt – der Gaumen und der Wein – sind die Wirkursache der Aktivität. Wenn beide gut sind, sind sie die Wirkursache einer guten Aktivität, und daher werden sie die Aktivität auch „vervollkommnen“, d. h., sie zu einem guten Beispiel für eine solche Aktivität machen. Doch führt Genuss nicht als Wirkursache zu einer Aktivität, sondern als Zweckursache: wie Gesundheit, nicht wie ein Arzt. 7 6 7

Zitiert nach: Aristoteles, Die Nikomachische Ethik, übersetzt und herausgegeben von O. Gigon (München: dtv, 1972). Anm. d. Übers.: Gesundheit kann die Endursache regelmäßiger sportlicher Betätigung sein, ein Arzt die Wirkursache der Gesundheit seiner Patienten.

Lust und Glück

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Nach dieser Analyse ist Aristoteles nunmehr in der Lage, die Beziehung zwischen Genuss und seinem moralischen Wert zu betrachten. Die Frage „Ist Genuss gut oder schlecht?“ ist zu einfach gestellt: Sie kann erst beantwortet werden, nachdem die Genüsse unterschieden und klassifiziert wurden. Genuss an sich kann nicht als etwas Gutes oder Schlechtes angesehen werden. Der für gute Aktivitäten angemessene Genuss ist gut, der für schlechte Aktivitäten angemessene Genuss hingegen schlecht (NE 10. 5. 1175b27). „Nichts hindert, dass eine bestimmte Lust das Beste sei, auch wenn einige Arten von Lust verwerflich sind; so kann auch eine bestimmte Wissenschaft die beste sein, auch wenn einige Wissenschaften verwerflich sind. Vielleicht ist es sogar notwendig, daß, wenn es ungehinderte Tätigkeiten für jedes einzelne Verhalten gibt und wenn die Glückseligkeit in der Tätigkeit aller besteht oder nur eines einzigen unter ihnen, eben diese Tätigkeit die wünschbarste unter allen sei, wenn sie ungehindert ist. Und dies ist eben Lust. Und so wird denn eine bestimmte Lust das Beste sein.“ (NE 7. 14. 1153b7–11)8

Auf diese Weise würde sich ergeben, dass Vergnügen (einer bestimmten Art) das höchste aller menschlichen Güter wäre. Wenn Glück in der Ausübung der höchsten Form der Tugend besteht, und wenn die ungehinderte Ausübung einer Tugend ein Vergnügen bedeutet, dann sind Glück und dieses Vergnügen ein und dasselbe. Platon stellte im Philebos die Frage, ob das beste Leben in Vergnügen oder phronesis besteht. Aristoteles’ Antwort lautet, dass die beiden, wenn man sie richtig versteht, als Kandidaten für Glück nicht miteinander konkurrieren. Die Ausübung der höchsten Form der phronesis ist identisch mit der höchsten Form des Genusses. Beide sind mit dem jeweils anderen und mit der Glückseligkeit identisch. In Platons Verwendung dieses Begriffs deckt phronesis jedoch den gesamten Bereich intellektueller Tugend ab, den Aristoteles in Klugheit (phronesis) und Weisheit (sophia) unterteilt. Wenn wir fragen, ob Glück mit dem Vergnügen der Weisheit oder dem Vergnügen der Klugheit gleichzusetzen ist, erhalten wir von Aristoteles in zwei ethischen Abhandlungen unterschiedliche Antworten. Die Nikomachische Ethik setzt Glück mit der lustvollen Ausübung der Weisheit gleich. Glück, so wurde uns früher gesagt, ist die Aktivität der Seele in Übereinstimmung mit der Tugend, und wenn es mehrere Tugenden gibt, in Übereinstimmung mit der besten und vollkommensten Tugend. Wir haben im Verlauf der Abhandlung gelernt, dass es sowohl moralische als auch intellektuelle Tugenden gibt, und dass die Letzteren höher einzustufen sind. Unter den intellektuellen Tugenden ist Weisheit, die wissenschaftliche Erfassung ewiger Wahrheiten, höher einzustufen als Klugheit, der es um die menschlichen Angelegenheiten geht. Das höchste Glück besteht demnach in der Aktivität in Übereinstimmung mit der Weisheit, einer Aktivität die Aris8

Zitiert nach: Aristoteles, Die Nikomachische Ethik, übersetzt und herausgegeben von O. Gigon (München: dtv, 1972).

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toteles als „Kontemplation“ bezeichnet. Er sagt uns, dass sich Kontemplation zur Philosophie verhält wie Wissen zum Suchen: Auf irgendeine Weise, die unklar bleibt, besteht sie im Genuss der Früchte der philosophischen Nachforschung (NE 10. 7. 1177a12–b26). In der Eudemischen Ethik wird Glück nicht der Ausübung einer dominierenden einzelnen Tugend gleichgesetzt, sondern mit der Ausübung aller Tugenden, einschließlich nicht nur des Verständnisses, sondern auch der mit der Weisheit verbundenen, moralischen Tugenden (EE 2. 1. 1219a35–9). Die Aktivität in Übereinstimmung mit diesen Tugenden ist lustvoll, sodass der wahrhaft glückliche Mann auch das angenehmste Leben führen wird (EE 7. 25. 1249a18–21). Für die tugendhafte Person fallen die Begriffe „gut“ und „angenehm“ in ihrer Anwendung zusammen. Wenn die beiden noch nicht zusammenfallen, ist eine Person nicht tugendhaft, sondern willensschwach (7. 2. 1237a8 f.). Die Herbeiführung dieser Übereinstimmung ist die Aufgabe der Ethik (7. 2. 1237a3). Obwohl die Eudemische Ethik Glück nicht mit philosophischer Kontemplation gleichsetzt, gibt sie ihr, wie die Nikomachische Ethik, eine herausragende Stellung im Leben der glücklichen Person. Die Ausübung der moralischen Tugenden, ebenso wie der intellektuellen, ist in der Eudemischen Ethik im Glück als Teil von ihm enthalten, doch der Maßstab für ihre Ausübung wird durch ihre Beziehung zur Kontemplation vorgegeben – die hier in theologischen statt philosophischen Begriffen definiert ist. „Jene Wahl nun und jene Erwerbung der natürlichen Güter, seien es körperliche oder Geld oder Freunde oder die sonstigen Güter, welche am meisten das betrachtende Verhalten des Gottes ermöglicht, die ist die beste und dieser Maßstab ist der schönste. Jedwede andere Form aber, welche durch Mangel oder Übermaß (in Wahl und Besitz der Güter) daran hindert, dem Gott zu dienen und ein theorischen Betrachtungen gewidmetes Leben zu führen, die ist schlecht.“ (EE 7. 15. 1249b15–20) 9

Das eudemische Ideal des Glücks kann daher, angesichts der Rolle, die es der Kontemplation, den moralischen Tugenden und dem Vergnügen zuweist, beanspruchen, wie Aristoteles es versprochen hatte, die Merkmale der drei traditionellen Lebensformen – des Philosophen, des Politikers und des Lebemanns oder Bonvivants – miteinander zu verbinden. Der glückliche Mann wird Kontemplation über alles schätzen, doch Teil seines glücklichen Lebens wird die Ausübung politischer Tugenden und der maßvolle Genuss natürlicher menschlicher Vergnügen des Körpers und der Seele sein.

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Zitiert in Anlehnung an: Aristoteles, Eudemische Ethik, übersetzt von F. Dirlmeier, herausgegeben von H. Flashar (Darmstadt: Wiss. Buchgesellschaft, 1962).

Der Hedonismus Epikurs

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Der Hedonismus Epikurs Insofern er eine Gleichsetzung des höchsten Gutes und des größten Vergnügens vornimmt, kann Aristoteles als Hedonist bezeichnet werden: Doch ist er ein Hedonist einer sehr ungewöhnlichen Art und zwischen ihm und dem berühmtesten Hedonisten des antiken Griechenland, Epikur, besteht ein großer Unterschied. Epikurs Erörterung des Glücks ist weniger ausgefeilt, dafür aber auch leichter verständlich als die des Aristoteles. Er ist bereit, einer Lust oder einem Vergnügen einen Wert auch unabhängig vom Wert der Aktivität beizumessen, die dieses Vergnügen bereitet: Alles Vergnügen ist als solches wertvoll. Sein ethischer Hedonismus gleicht eher demjenigen von Demokrit oder Protagoras in dem gleichnamigen platonischen Dialog als demjenigen der beiden Ethiken des Aristoteles. Für Epikur ist die Freude das Endziel des Lebens und das Kriterium für den Wert einer Entscheidung. Es ist eine Sicht, die man nach seiner Meinung nicht verteidigen muss: Wir alle „fühlen“ ihre Wahrheit unmittelbar (LS 21A). „Eben darum ist die Lust, wie wir behaupten, Anfang und Ende des glückseligen Lebens. Denn sie ist, wie wir erkannten, unser erstes, angeborenes Gut, sie ist der Ausgangspunkt für alles Wählen und Meiden, und auf sie gehen wir zurück, indem diese Seelenregung uns zur Richtschnur dient für die Beurteilung jeglichen Gutes.“ (D.L. 10. 128 f.)

Dies bedeutet nicht, dass Epikur, wie Aristoteles’ unmäßige Person, es sich zur Maxime macht, jedem Vergnügen nachzugehen, das sich ihm bietet. Wenn Lust das höchste Gut ist, dann ist Schmerz das größte aller Übel, und es ist besser auf ein Vergnügen zu verzichten, das auf lange Sicht Leiden nach sich zieht. Ebenso lohnt es sich, einen Schmerz auf sich zu nehmen, der letztlich zu einem größeren Vergnügen führen wird (D.L. 10. 129). Diese Bedingungen bedeuten, dass Epikurs Hedonismus alles andere als eine Einladung zu einem wollüstigen Leben ist. Was zu einem angenehmen Leben führt, sind Nüchternheit, Ehre, Gerechtigkeit und Weisheit, und nicht Trinkgelage, Tafeln voller Delikatessen oder sexuelle Freizügigkeit mit Knaben und Frauen (D.L. 10. 132). Eine einfache vegetarische Diät und die Gesellschaft von ein paar Freunden in einem bescheidenen Garten genügen für das epikureische Glück. Was es Epikur ermöglicht, einen theoretischen Hedonismus mit praktischer Askese zu verbinden, ist sein Verständnis der Lust, die für ihn ihrem Wesen nach Wunschbefriedigung ist. Der stärkste und grundlegendste unserer Wünsche ist der Wunsch nach der Beseitigung von Schmerz (D.L. 10. 127). Daher ist bereits die bloße Abwesenheit von Schmerz an sich selbst ein wesentliches Vergnügen (LS 21A). Von unseren Wünschen sind einige natürlich und einige nutzlos, und die wichtigsten Vergnügen entsprechen den natürlichen Wünschen. Wir haben natürliche Wünsche nach der Beseitigung der schmerzhaften Zustände von Hungern, Dürsten und Frieren, und die Erfüllung dieser Wünsche ist ein natürliches Vergnügen. Wir haben es

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hier jedoch mit zwei Arten von Vergnügen zu tun, für die Epikur eigene Begriffe einführt: Es gibt das kinetische Vergnügen, das darin besteht, dass wir unseren Durst löschen, sowie das statische Vergnügen, das anhält, nachdem man seinen Durst gelöscht hat (LS 21Q). Beide Arten von Vergnügen sind natürlich: Unter den kinetischen Vergnügen gibt es einige notwendige (das Vergnügen, genug zu essen und zu trinken, um Hunger und Durst zu stillen), und andere, die nicht notwendig sind (wie etwas das Vergnügen des Feinschmeckers) (LS 21I, J). Unnötige natürliche Vergnügen sind nicht größer als notwendige natürliche Vergnügen, sondern lediglich Variationen derselben: Hunger ist der beste Koch, und einfache Nahrung zu sich zu nehmen, wenn man Hunger hat, ist ein größeres Vergnügen, als sich mit Delikatessen vollzustopfen, wenn man satt ist. Doch unter allen natürlichen Vergnügen sind es die statischen, auf die es wirklich ankommt. „Das Fleisch ruft danach, nicht zu hungern, nicht zu dürsten oder zu frieren. Jemand, der nicht hungert, der keinen Hunger hat und nicht friert und zudem die Zuversicht hat, dass es so bleiben wird, könnte in seinem Glück mit Zeus konkurrieren.“ (LS 21G) Sexuelles Verlangen wird von Epikur als nicht notwendig eingestuft, weil seine Nichterfüllung keine Schmerzen verursacht. Dies mag überraschen, da unerwiderte Liebe zu Liebeskummer führen kann. Doch Epikur behauptet, dass die Intensität dieses Verlangens nicht im Wesen der Sexualität, sondern in der romantischen Fantasie des Liebenden ihren Ursprung hat (LS 21E). Epikur ist kein Gegner der Erfüllung unnötiger natürlicher Wünsche, vorausgesetzt sie ziehen keinen Schaden nach sich, der natürlich danach zu beurteilen ist, ob sie Schmerzen verursachen können (LS 21F). Sexuelle Lust konnte nach seiner Meinung auf beliebige Weise genossen werden, vorausgesetzt man beachtete Gesetz und Konvention, verletzte niemanden und man fügte weder seinem Körper Schaden zu, noch vergeudete man sein Vermögen. Diese Bedingungen bedeuteten allerdings eine beträchtliche Einschränkung, und selbst wenn sexuelle Aktivität keinen Schaden nach sich zog, hatte sie auch keine guten Konsequenzen (LS 21G). Epikurs Urteil über die Erfüllung nichtiger Wünsche fällt dagegen kritischer aus. Dies sind unnatürliche Wünsche, und wie bei unnötigen natürlichen Wünschen führt ihre Nichterfüllung nicht zu Schmerzen. Beispiele hierfür sind das Verlangen nach Reichtum und der Wunsch nach bürgerlicher Ehre und öffentlichem Beifall (LS 21G, I). Die Vergnügen der Wissenschaft und Kultur gehören allerdings ebenfalls hierzu. „Aller Bildung, Verehrtester“, sagte er einem Lieblingsschüler, „entfliehe mit vollen Segeln“ (D.L. 10. 5). Aristoteles führt als ein Argument zugunsten der Philosophie an, dass ihre Vergnügen, im Gegensatz zu denen der Sinne, mit Schmerzen unvermischt sind (vgl. NE 10. 7. 1177a25). Epikur führt als Grund zur Herabwürdigung der Philosophie an, dass es keine Schmerzen bereitet, kein Philosoph zu sein. Für Epikur spielt der Geist eine wichtige Rolle im glücklichen Leben: Seine Funktion besteht jedoch darin, die Vergnügen der Sinne zu antizipieren und sich an sie zu erinnern (LS 21L, T). Auf der Grundlage der uns überlieferten Texte können wir sagen, dass der Hedo-

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nismus Epikurs, obwohl kulturlos, alles andere als zügellos ist. Doch hin und wieder drückt er sich – vielleicht absichtlich – in Worten aus, die viele schockiert haben. „Ich wüßte nicht, was ich mir überhaupt noch als ein Gut vorstellen kann, wenn ich mir die Lust am Essen und Trinken wegdenke, wenn ich die Liebesgenüsse verabschiede und wenn ich nicht mehr meine Freude haben soll an dem Anhören von Musik und dem Anschauen schöner Kunstgestalten.“ (D.L. 10. 6) „Das Vergnügen des Magens ist der Anfang und die Wurzel alles Guten.“ (LS 21M). Aussprüche wie diese legten das Fundament für seinen posthumen Ruf als Feinschmecker und Fürsprecher des Libertinismus. Diese Legende wurde bereits zu seinen Lebzeiten durch Timokrates, einen abtrünnigen Schüler, in Umlauf gebracht, der gerne Geschichten über seine mitternächtlichen Orgien erzählte und davon, dass Epikur sich zweimal täglich übergab (D.L. 10. 6 f.). Ernster zu nehmende Kritik richtete sich gegen seine Lehre, dass die Tugenden lediglich Mittel zur Sicherstellung von Vergnügen waren. Der Stoiker Kleanthes forderte seine Studenten häufig auf, sich das Vergnügen als Königin auf einem Thron vorzustellen, umgeben von den Tugenden. Nach der epikureischen Ethikauffassung, so sagte er, waren dies Dienerinnen, die dem Dienst der Königin völlig ergeben waren. Sie flüsterten ihr von Zeit zu Zeit lediglich Warnungen zu, nicht unvorsichtigerweise Ärgernis zu erregen oder Schmerz zu verursachen. Die Epikureer erhoben hiergegen keine Einwände: Diogenes von Oenoanda stimmte den Stoikern darin zu, dass die Tugenden das Glück herbeiführen, doch er bestritt, dass sie selbst ein Teil des Glücks sind. Die Tugenden waren ein Mittel und kein Zweck. „Ich behaupte jetzt und in alle Zukunft, mit lautester Stimme, dass für alle, seien es Griechen oder Barbaren, die Lust das Ziel der besten Art zu leben ist.“ (LS 21P)

Stoische Ethik Als ein Argument zur Verteidigung der zentralen Rolle, die sie der Lust zuwiesen, führten die Epikureer an, dass jedes Tier, sobald es geboren war, der Lust nachstrebte und sie als das größte Gut genoss, den Schmerz hingegen als das größte Übel mied. Demgegenüber wies der Stoiker Chrysippos darauf hin, dass das erste Bestreben eines Tieres nicht die Verfolgung der Lust, sondern die Selbsterhaltung sei. Das Bewusstsein begann für die Stoiker mit dem, was der – von ihnen eingeführte – Begriff des Bewusstseins der Konstitution des eigenen Selbst bezeichnet (LS 57A). Ein Tier nahm in Kauf, was die Entwicklung dieser Konstitution fördert, und vermied, was sie beeinträchtigt. Ein Kleinkind strebe danach, aus eigener Kraft stehen zu können, obwohl dies bedeutet, Zu-Boden-Fallen und Tränen in Kauf zu nehmen (Seneca, Ep. 121, 15 LS 57B). Der Trieb zur Erhaltung und Entwicklung der Konstitution oder Verfassung des Selbst ist ursprünglicher als das Streben nach Lust, da er in Pflanzen und Tieren vorkommt und beim Menschen häufig auch unbewusst verfolgt wird (D.L. 8. 86 LS 57A). Sich um die Verfassung des eigenen Selbst zu kümmern, ist die erste Lektion der Natur.

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Zenon und Epikur (und ein Schwein) auf einem silbernen Becher aus Boscoreale (erstes Jahrhundert n. Chr.).

Die stoische Ethik wies der Natur große Bedeutung zu. Aristoteles hatte zwar häufig von der Natur einzelner Dinge und Arten gesprochen, doch waren es die Stoiker, die den Begriff der „Natur“ im Sinne einer kosmischen Ordnung einführten, die sich in der Struktur und den Aktivitäten der Objekte unterschiedlichster Art manifestierte. Nach Diogenes Laertius (D.L. 7. 87) behauptete Zenon, das Endziel des Menschen sei das „mit der Natur in Einklang stehende Leben“. Die Natur lehrt uns, uns im Laufe des Lebens um uns selbst zu kümmern, während sich unsere Verfassung von der eines Kleinkindes über die eines Erwachsenen zu der eines alten Menschen ändert. Doch ist die Selbstliebe nicht die einzige Lehre der Natur. Ebenso wie es einen natürlichen Fortpflanzungstrieb gibt, gibt es auch einen natürlichen Impuls, sich um die eigenen Nachkommen zu kümmern. Und wie wir eine natürliche Neigung haben, etwas zu lernen, haben wir auch eine natürliche Neigung, das erworbene Wissen mit anderen zu teilen (Cicero, Fin. 3. 65 LS 57E). Die Stoiker lehrten, dass das Streben, den uns am nächsten stehenden Menschen zu helfen, auf die übrige Welt ausgeweitet werden sollte. Nach Heirokles, einem Stoiker aus der Zeit Hadrians, steht jeder von uns im

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Zentrum einer Reihe konzentrischer Kreise. Der erste umgibt mein Einzelbewusstsein und enthält meinen Körper und seine Bedürfnisse. Der zweite enthält meine unmittelbare Familie, und der dritte und vierte enthalten Erweiterungen meiner unmittelbaren Familie. Daran schließen sich, in unterschiedlichen Abständen, Kreise von Nachbarn an sowie der Kreis, der sämtliche Angehörigen meiner Nation enthält. Der äußerste und größte Kreis umfasst die gesamte Menschheit. Wenn ich ein tugendhafter Mensch bin, werde ich versuchen, diese Kreise enger um mich zu ziehen und Cousinen und Cousins so zu behandeln, als wären es Geschwister, und mich ständig bemühen, Menschen aus den äußeren in innere Kreise zu holen (LS 57G). Die Stoiker prägten einen eigenen Ausdruck für diesen auf so bildliche Weise beschriebenen Vorgang: oikeiosis, wörtlich „Zueignung“. Ein Stoiker, der sich der kosmischen Natur angleicht, macht die Welt, in der er lebt, zu seinem Zuhause. Oikeiosis ist das Gegenteil hiervon: Sie besteht darin, andere Menschen mit mir selbst vertraut zu machen und in den eigenen häuslichen Kreis aufzunehmen. Dieser Universalismus ist zwar beeindruckend, aber seine Grenzen wurden bald erkannt. Es ist unrealistisch zu meinen, ein Mensch könne, und sei er auch noch so tugendhaft, dem entferntesten Fremden dieselbe Zuneigung entgegen bringen wie der eigenen Familie. Oikeiosis beginnt Zuhause, und selbst innerhalb des ersten Kreises schmerzt uns der Verlust eines Auges mehr als der eines Fingernagels. Doch wenn das Wohlwollen der oikeiosis nicht für alle gleichartig sein kann, kann es keine Grundlage für die Rechtspflicht sein, alle Menschen gleich zu behandeln (LS 57H). Außerdem glaubten die Stoiker, es sei lobenswert, für das eigene Land zu sterben: Doch zieht man in diesem Fall nicht einen äußeren einem inneren Kreis vor? Ferner ist zu bedenken, dass das Universum der Natur mehr enthält als nur menschliche Wesen, die die konzentrischen Kreise bewohnen. Was ist die richtige Einstellung denjenigen gegenüber, die den Kosmos mit uns teilen? In manchen Stimmungen beschreiben die Stoiker das Universum als eine Stadt oder einen Staat, die bzw. den sich Menschen und Götter teilen, und hierauf stützten sie sich, um das Selbstopfer eines Einzelnen für die Gemeinschaft zu rechtfertigen. In ihren praktischen ethischen Anweisungen findet sich kaum eine Anteilnahme an nichtmenschlichen Wesen. Tiere haben mit Sicherheit keine Rechtsansprüche gegen den Menschen. Chrysippos ließ keinen Zweifel daran, dass Menschen Tiere zur Befriedigung ihrer Bedürfnisse in Dienst nehmen konnten, ohne dadurch die Gerechtigkeit zu verletzen (Cicero, Fin. 3. 67 LS 57G). Die kosmische Ordnung liefert jedoch nicht nur den Kontext für das ethische Verhalten des Menschen, sondern sie liefert auch sein Beispiel. „Lebe in Übereinstimmung mit der Natur“ bedeutet nicht nur „Lebe in Übereinstimmung mit der menschlichen Natur“. Chrysippos sagte, dass wir so leben sollten, wie wir durch die Erfahrung von Naturereignissen belehrt werden, denn unsere individuellen Naturen sind Teil der Natur des Universums. Daher lässt sich die stoische Lehre über das Ziel des Lebens folgendermaßen zusammenfassen:

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„Daher stellt sich als Endziel dar das der Natur gemäße Leben, d. h. das der eigenen Natur wie auch der Natur des Alls gemäße Leben, wo man nichts tut, was die Weltvernunft zu verbieten pflegt; dies aber ist die wahre Vernunft, die alles durchdringt und wesenseins ist mit Zeus, dem Ordner und Leiter des Weltalls.“ (D.L. 7. 87)

Das Leben der tugendhaften Person verläuft still unter der gleichförmigen Bewegung der Himmel, und das moralische Gesetz in ihrem Inneren wird den bestirnten Himmel über ihr widerspiegeln. In Übereinstimmung mit der Natur zu leben war für die Stoiker gleichbedeutend mit einem tugendhaften Leben. Ihr bekanntester und am häufigsten kritisierter moralischer Glaubenssatz besagte, dass die Tugend für sich allein notwendig und auch ausreichend für das Glück sei. Die Tugend war nicht nur der letzte Zweck und das höchste Gut: Sie war zugleich das einzig wirkliche Gut. „Das Seiende, behaupten sie, sei teils gut, teils böse, teils keines von beiden. Gut seien die Tugenden, die Einsicht, Gerechtigkeit, Tapferkeit, Maßhaltung und so weiter, böse das Entgegengesetze: Unverstand, Ungerechtigkeit und so weiter; keines von beiden aber, was weder nützt noch schadet, z. B. Leben, Gesundheit, Lust, Schönheit, Kraft, Reichtum, Ruhm, hohe Geburt und so auch das diesen Entgegensetzte: Tod, Krankheit, Schmerz, Hässlichkeit, Schwäche, Armut, Ruhmlosigkeit, niedrige Geburt und was dem ähnlich.“ (D.L. 7.101 LS 58A)

Die Elemente der langen Liste der Dinge, die weder nützlich sind noch schaden, wurden von den Historikern als „gleichgültige Dinge“ (adiaphora) bezeichnet. Die Stoiker gaben zu, dass sie nicht in dem Sinne gleichgültig waren wie beispielsweise die Tatsache, ob die Anzahl der Haare auf jemandes Kopf gerade oder ungerade ist: Es waren Dinge, die in Menschen großes Verlangen und starke Abneigung hervorriefen. Sie waren jedoch in dem Sinne gleichgültig, dass sie für ein wohlstrukturiertes Leben irrelevant waren: Es war möglich mit oder ohne sie vollkommen glücklich zu sein (D.L. 7. 104–5 LS 58B–C). Wie die Stoiker sah Aristoteles Glück in der Tugend und ihrer Ausübung und er hielt Berühmtheit und Reichtümer nicht für Teile des Glücks einer glücklichen Person. Er war jedoch der Überzeugung, dass es eine notwendige Bedingung für Glück sei, über ein ausreichendes Maß äußerer Güter zu verfügen (NE 1. 10. 1101a14–17; EE 1. 1. 1214b16). Außerdem glaubte er, dass selbst ein tugendhafter Mann aufhören könne, glücklich zu sein, wenn ihn und seine Familie ein Unglück trifft, wie es im Fall von Priamos geschah (NE 1. 10. 1101a8). Im Gegensatz dazu meinten die Stoiker, mit der alleinigen Ausnahme von Chrysippos, dass das Glück, wenn man es einmal besaß, nicht wieder verloren gehen könne, und selbst Chrysippos glaubte, es könne nur durch so etwas wie Wahnsinn beendet werden (D.L. 7. 127). Die Stoiker gaben zu, dass gleichgültige Angelegenheiten nicht alle auf derselben Stufe standen. Einige von ihnen waren beliebt (proegmena), andere hingegen unbe-

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liebt (apoproegmena). Noch wichtiger war, dass einige der Natur entsprachen, und einige ihr entgegenstanden. Die der Natur entsprechenden hatten Wert (axia), während diejenigen, die der Natur widersprachen, keinen Wert (apaxia) hatten. Zu den wertvollen Dingen gehören Talente und Fähigkeiten, Gesundheit, Schönheit und Reichtum. Das Gegenteil von diesen hat keinen Wert (D.L. 7. 105 f.). Es scheint offensichtlich, dass für die Stoiker alle Dinge, die wertvoll sind, auch beliebt sind. Weniger klar ist, ob alles, was beliebt ist, auch Wert hat. Die Tugend selbst gehört nicht zu den beliebten Dingen, ebenso wie der König kein Edelmann in dem Sinne ist, wie es seine Höflinge sind, sondern einem Edelmann überlegen (LS 58E). Chrysippos ist bereit zuzugestehen, dass es im normalen Gebrauch zulässig sei, „gut“ zu nennen, was streng genommen lediglich beliebt ist (LS 58H), und in Fällen praktischer Wahl zwischen gleichgültigen Dingen ermutigten die Stoiker die Menschen faktisch, sich für das zu entscheiden, was beliebt ist (LS 58C). Eine Handlung kann hinter dem Maßstab einer tugendhaften Handlung zurückbleiben (katorthoma), aber dennoch eine anständige Handlung sein (kathekon). Eine Handlung ist anständig oder passend, wenn sie der eigenen Natur und jemandes Lebensumständen entspricht (LS 59B). Es ist anständig, seine Eltern und sein Land zu ehren, und seine Eltern zu vernachlässigen und ein Mangel an Vaterlandsliebe sind etwas Unanständiges. (Manche Dinge, wie das Aufheben eines Zweiges, oder ein Spaziergang auf dem Land, sind weder anständig noch unanständig.) Tugendhafte Handlungen sind umso anständiger: Was die Tugend der bloßen Anständigkeit hinzufügt, ist zunächst die Reinheit des Motivs und zweitens die Verlässlichkeit in der Ausübung (LS 59G, H, I). An diesem Punkt kommt die stoische Lehre Aristoteles’ Auffassung nahe, dass eine Person, soll ihr Verhalten als tugendhaft bezeichnet werden können, nicht nur richtig beurteilen muss, was zu tun ist, sondern sie muss es auch um seiner selbst willen wählen und eine Beständigkeit des Charakters unter Beweis stellen (NE 2. 6. 1105a30–30b1). Nach Ansicht der Stoiker sind einige Handlungen nicht nur unanständig, sondern sündhaft (hamartemata) (LS 59M). Der Unterschied zwischen diesen beiden Arten von Schlechtigkeit wird nicht erläutert. Vielleicht ist ein stoischer Sünder wie der unmäßige Mann des Aristoteles, während bloße Unanständigkeit mit Willensschwäche verglichen werden kann. Denn während die Stoiker unplausiblerweise meinten, alle sündhaften Handlungen seien gleich schlecht, glaubten sie, dass Handlungen, die aus einem harten und unverbesserlichen Charakter hervorgingen, auf besondere Weise schlecht seien (LS 59O). Die stoische Beschreibung der Willensschwäche unterscheidet sich von der des Aristoteles allerdings in einem wichtigen Punkt. Die Stoiker betrachten Willensschwäche nicht als Ergebnis eines Kampfes zwischen verschiedenen Teilen der Seele, sondern eher als Ergebnis eines theoretischen Irrtums. Willensschwäche ist das Ergebnis von Leidenschaft, bei der es sich um eine irrationale und unnatürliche Bewegung der Seele handelt. Es gibt vier verschiedene Arten von Leidenschaften: Ängste, Wünsche, Schmerz und Lust. Chrysippos hielt Leidenschaften einfach für falsche Urteile über das, was gut und schlecht ist. Früheren Stoikern zufolge waren es Ver-

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wirrungen, die sich als Ergebnis solcher falschen Urteile einstellten (LS 65G, K). Doch waren sich alle darin einig, dass der Weg des moralischen Fortschritts in der Korrektur dieser falschen Überzeugung bestand (LS 65A, K). Weil diese Überzeugungen unzutreffend sind, müssen die Leidenschaften beseitigt und nicht nur gemildert werden, wie es Aristoteles’ Modell des rechten Maßes vorsieht. Begehren wurzelt in der falschen Überzeugung, dass sich uns etwas nähert, was gut für uns sein wird. Angst wurzelt in der irrigen Meinung, dass sich uns etwas nähert, was schlecht für uns sein wird. Diese Überzeugungen werden von einer weiteren Meinung bezüglich der Angemessenheit einer emotionalen Reaktionen begleitet, sei es – den Umständen entsprechend – eine Sehnsucht oder eine Abscheu. Da nach stoischer Auffassung nichts außer der Tugend uns gut tun und nichts außer dem Laster uns Schaden kann, sind Meinungen, die in Verlangen und Furcht zum Ausdruck kommen, immer unberechtigt, und das ist der Grund, warum die Leidenschaften beseitigt werden müssen. Es ist nicht so, als wären emotionale Reaktionen immer unangemessen: Es gibt so etwas wie gerechtfertigte Freude und begründete Abneigung. Doch wenn Reaktionen angemessen sind, zählen sie nicht zu den Leidenschaften (LS 65F.). Auch der weise Mann ist von unregelmäßigen körperlichen Erregungen der verschiedensten Art nicht frei, doch solange er ihnen nicht nachgibt, sind es keine Leidenschaften (Seneca, De Ira 2. 3. 1). Wenn Chrysippos sagt, dass die Leidenschaften Überzeugungen sind, so müssen wir ihn nicht so verstehen, als stelle er die Leidenschaften unplausiblerweise als ruhige theoretische Bewertungen dar. Er weist im Gegenteil darauf hin, dass die Zustimmung zu Urteilen, die bestimmten Dingen einen hohen Wert beilegen, selbst aufwühlende Ereignisse sind. Wenn ich einen geliebten Menschen verliere, so scheint es mir, dass mein Leben einen unersetzbaren Wert verloren hat. Die volle Zustimmung zu dieser Aussage involviert eine gewaltige innere Aufwühlung. Doch wenn wir jemals glücklich sein wollen, dürfen wir es uns niemals erlauben, einer Sache, die außerhalb unserer Kontrolle liegt, einen solchen, alles andere überragenden Wert beizumessen.10 Die Schwäche der stoischen Position besteht darin, dass sie sich weigert anzuerkennen, wie zerbrechlich das Glück ist. Eine vergleichbare Versuchung ist uns in der klassischen Erkenntnistheorie begegnet: in der Weigerung, die Fehlbarkeit von Urteilen anzuerkennen. Die erkenntnistheoretische Versuchung drückte sich in folgendem Fehlschluss aus: „Notwendigerweise: Wenn ich weiß, dass p, dann p. Daher: Wenn ich weiß, dass p, dann notwendigerweise p.“ Die entsprechende Versuchung in der Ethik besteht darin, von „Notwendigerweise: Wenn ich glücklich bin, habe ich X“ auf „Ich bin glücklich, also habe ich X notwendigerweise“ zu schließen. Wenn es gültig ist, kann man mit diesem Argument bestreiten, dass Glück durch ein zufälliges, d. h. verlierbares, Gut bedingt sein kann (Cicero, Tusc. 5. 41). Angesichts der Zerbrechlich10 An dieser Stelle bin ich einem unveröffentlichten Aufsatz von Martha Nussbaum dankbar verpflichtet.

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keit und Kontingenz der Natur des Menschen, die wir aus eigener Erfahrung kennen, ist die Leugnung, dass Glück durch kontingente Güter zustande kommen kann, gleichbedeutend mit der Behauptung, dass nur übermenschliche Wesen glücklich sein können. Tatsächlich haben die Stoiker diese Schlussfolgerung akzeptiert, indem sie den Weisen idealisierten. Das Glück liegt in der Tugend und es gibt keine Grade von Tugend, sodass ein Mensch entweder vollkommen oder überhaupt nicht tugendhaft ist. Die vollkommenste Tugend ist Weisheit, und der weise Mann besitzt sämtliche Tugenden, da sie untrennbar sind (LS 61F). Genau wie Sokrates hielten die Stoiker die Tugenden für Wissenschaften, die insgesamt eine einzelne Wissenschaft ausmachen (LS 61H). Ein Stoiker ging sogar so weit zu behaupten, dass einen Unterschied zwischen Tapferkeit und Gerechtigkeit zu machen, dasselbe wäre, als wollte man die Fähigkeit, weiß zu sehen, von der Fähigkeit, schwarz zu sehen, unterscheiden (LS 61B). Der Weise ist vollkommen leidenschaftslos und er besitzt sämtliches Wissen von Wert: Seine Tugend ist identisch mit der eines Gottes (LS 61J, 63F). „Also der – wer es auch immer sei –, der dank seiner Mäßigung und seines Haltes ruhig in seiner Seele ist und mit sich selbst befriedet, derart, daß er nicht unter der Unerquicklichkeit vergeht, nicht von Furcht zerbrochen wird, nicht dürstend etwas erstrebt und vor Sehnsucht erglüht und nicht in läppischer Ausgelassenheit tollend vor Lust zerschmilzt, das ist der Weise, den wir suchen, das ist der Glückliche, dem nichts von den menschlichen Dingen unerträglich erscheinen kann, sodaß man die Seele hängen lassen, oder zu erfreulich, dass man überschäumen müsste. Was könnte auch dem an den menschlichen Dingen groß erscheinen, dem die ganze Ewigkeit und die Größe der ganzen Welt bekannt ist?“ (Cicero, Tusc. 4. 37) 11

Der weise Mann ist reich und er besitzt alle Dinge, denn er allein weiß, wie man Dinge zum Besten nutzen muss. Er allein ist wahrhaft schön, denn das Gesicht des Geistes ist schöner als das des Körpers. Er allein ist frei, selbst wenn er im Gefängnis ist, denn er ist der Sklave keines Verlangens (Cicero, Fin. 3. 75). Es war daher nicht erstaunlich, dass die Stoiker zugaben, dass ein weiser Mann schwerer zu finden sei als ein Phoenix (LS 61N). Sie erkaufen die Unverletzlichkeit des Glücks somit um den Preis seiner Unerreichbarkeit. Da ein weiser Mann nicht gefunden werden kann und es keine Grade der Tugend gibt, besteht die gesamte Menschheit aus Narren. Sollten wir also sagen, dass der Weise ein mythisches Ideal ist, das zu unserer Bewunderung und Nachahmung aufgestellt wird (LS 66A)? Wohl kaum: Denn wie nah wir ihm auch gekommen sein mögen, wir sind der Erlösung damit kein Stück näher gekommen. Jemand, der sich

11 Zitiert nach: Marcus Tullius Cicero, Gespräche in Tusculum, eingeleitet und neu übertragen von K. Büchner (Zürich: Artemis, 1952).

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nur einen halben Meter unter der Meeresoberfläche befindet, ertrinkt genauso wie derjenige, der sich in einer Tiefe von 500 Fäden 12 befindet (LS 61T). Die stoische Lehre über Weisheit und Glück gibt uns also keine Ermutigung, nach dem Glück zu streben. Spätere Stoiker machten jedoch einen Unterschied zwischen Lehren (decreta) und Vorschriften (praecepta), von denen die ersten allgemein und die zweiten konkret waren (Seneca, Ep. 94, 1–4). Während die Lehre streng und olympisch abgehoben war, waren Vorschriften, dank einer liebenswerten Inkonsistenz, häufig freizügig und praktisch. Die Stoiker waren bereit, Ratschläge zur Eheführung, über die geeignetsten Momente für Gesang, die beste Art von Witz und zahlreiche andere Einzelheiten des täglichen Lebens zu geben (Epiktet, Abhandlungen 4. 12. 16). Der Unterscheidung zwischen Lehre und Vorschriften entspricht eine Unterscheidung zwischen Wahl und Auswahl: Allein die Tugend war gut und wert, gewählt zu werden (D.L. 7. 89), doch von den gleichgültigen Dingen konnte einigen der Vorzug vor anderen gegeben werden. Modische Kleidung war an sich wertlos, doch konnte ihre Auswahl etwas Gutes sein (Seneca, Ep. 92, 12). Kritiker hielten dem entgegen, dass eine Auswahl nur dann gut sein konnte, wenn das Ausgewählte selbst gut war (LS 64C). Manchmal sprachen die Stoiker auch so, als bestehe das Ziel des Lebens nicht so sehr darin, tatsächlich glücklich zu werden, als vielmehr darin, das zu tun, was zur Erlangung des Glücks das Beste war. An diesem Punkt beschwerten sich die Kritiker, die Stoiker könnten sich nicht entscheiden, ob der Zweck des Lebens das unerreichbare Ziel selbst oder einfach die ergebnislose Zielstrebigkeit der „Treffübungen“ sei (LS 64F, C). Einer der bekanntesten und umstrittensten Ratschläge der stoischen Ethik lautete, dass die Selbsttötung in bestimmten Situationen erlaubt sei. Die Stoiker lehrten: „Wenn er gute Gründe hat, so wird der Weise […] sich auch selbst das Leben nehmen zur Rettung des Vaterlandes oder der Freunde und wenn er von gar zu hartem Leid heimgesucht wird, sei es von Verstümmelung oder von unheilbarer Krankheit“ (D.L. 7. 130). Es lässt sich schwer erkennen, wie dies mit dem Bild des stoischen Weisen zur Deckung zu bringen ist. Es wurde uns gesagt, dass kein Schmerz und kein Leiden das Glück des glücklichen Mannes beeinträchtigen können; und wenn eine vernünftige Selbsttötung empfohlen wird, sind sich die Stoiker darin einig, dass es die Selbsttötung eines glücklichen Mannes sei (Cicero, Fin. 3. 60). Doch was kann dann das Motiv sein, welches der Grund dafür ist, das Leben zu verlassen, da Tugend und Glück dasjenige sein sollen, um dessen willen alles gewählt wird? Angesichts der Tatsache, dass der stoische Weise eine Idealisierung darstellt, ist es eine müßige Frage, ob seine Selbsttötung eine tugendhafte Handlungsweise wäre. Was für uns normale Sterbliche von praktischer Bedeutung ist, ist die Frage, ob eine Selbsttötung eine anständige Handlung sein kann. In der Antike glaubten viele, die Stoiker hätten dieses Prinzip gelehrt, und einige berühmte Stoiker scheinen es befolgt zu haben. Es ist jedoch seltsamerweise äußerst schwierig, in den Quellen eine deutli12 Anm. d. Übers.: veraltetes Tiefenmaß (1 Faden = 1,80 m).

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Eine römische Statue im Louvre, traditionellerweise als „Der Tod Senecas“ bezeichnet.

che und eindeutige Formulierung dieses Prinzips zu finden. Die berühmteste Selbsttötung eines Stoikers, diejenige Senecas, war keine Sache der freien Entscheidung, sondern die Vollstreckung des Todesurteils eines Tyrannen.

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Gott

Zu den wichtigeren Charakteren, deren Handlungen in Homers Epen beschrieben werden, gehören auch Götter und Göttinnen. Zeus, der König der Götter, lebt mit Hera, seiner Gemahlin, und zehn Mitgliedern ihrer Sippe, einschließlich ihrer Tochter Helena, der Göttin der Liebe Aphrodite und dem Meeresgott Poseidon in einem glückseligen Wohnsitz auf dem Gipfel des Olymp. Sie nehmen ein parteiisches Interesse an den Taten der menschlichen Helden der Ilias und der Odyssee. Diese Götter und Göttinnen sind nichts anderes als größere Versionen menschlicher Wesen, samt ihrer Gefühle und Laster. Sie interagieren mit den sterblichen Menschen auf körperliche und geistige Weise, häufig mit verheerenden Konsequenzen. Der einzige fundamentale Unterschied zwischen Göttern und Menschen ist der, dass die Menschen sterben müssen, während die Götter unsterblich sind.

Xenophanes’ natürliche Theologie Diese Vorstellung von der Welt der Götter wurde von Xenophanes, dem ersten Religionsphilosophen, angegriffen. Er unterwarf die homerische Theologie in satirischen Versen, von denen nur Fragmente überliefert sind, einer vernichtenden Kritik. Er beklagte, dass in Homers Geschichten den Göttern Diebstahl, Ehebruch und Täuschung und all dasjenige zugeschrieben wurde, was unter Menschen als schändlich und tadelnswert galt (KRS 166). Doch selbst wenn sich Homers Götter ehrenhaft verhalten hätten, glichen sie dennoch den Menschen zu sehr, um glaubhaft sein zu können. Die Menschen schufen die Götter nach ihrem eigenen Bild: Die Äthiopier glaubten an schwarze und stupsnasige Götter, während die von den Thrakiern verehrten Götter rote Haare und blaue Augen hatten (KRS 168). „Wenn Kühe und Pferde oder Löwen Hände hätten und zeichnen könnten, würden Pferde die Gestalt der Götter pferdeähnlich zeichnen und Kühe den Kühen ähnlich, indem sie die Gestalt ihrer Körper der eigenen angleichen würden“ (KRS 169). An die Stelle dieses kindischen Anthropomorphismus setzte Xenophanes eine ausgeklügelte Form des Monotheismus. Er glaubte, es herrsche „nur ein einziger Gott, unter Göttern und Menschen der Größte, weder an Ansehen den Sterblichen ähnlich noch an Gedanken.“ (DK 24 B23; 121)

Sokrates und Platon über Frömmigkeit

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Es konnte nur einen Gott geben, denn Gott ist das mächtigste aller Wesen. Gäbe es mehr als einen Gott, könnte keiner von ihnen mächtiger als die anderen sein, und keiner von ihnen könnte tun, was ihm beliebt. Gott muss es immer gegeben haben: Er konnte nicht durch ein Wesen seiner Art geschaffen worden sein (denn es kann nichts geben, dass ihm gleichkommt), noch konnte er durch etwas geschaffen werden, dass ihm unähnlich war (denn das Größere kann nicht durch das Geringere geschaffen werden) (Aristoteles, MXG 976b14–36). Gott ist ein lebendes Wesen, doch kein organisches Wesen wie Menschen und Tiere. Es gibt in Gott keine Teile und „er sieht als Ganzer, er denkt als Ganzer und er hört als Ganzer“ (DK 21 B24). Er steht nicht in körperlichem Kontakt mit irgendetwas in der Welt, sondern „aus der Ferne und mühelos, mit einem Geist allein, regiert er die ganze Welt“ (DK 21 B25). Obwohl er bereit ist, derart substanzielle Behauptungen über Gott aufzustellen und mit Argumenten zu verteidigen, ist Xenophanes’ Theologie weitestgehend negativ. Er findet es ebenso schwierig zu akzeptieren, dass Gott endlich ist, wie dass er unendlich ist. Wenn er fragt, ob Gott veränderlich ist oder unveränderlich, findet er – in ähnlicher Weise – gleichermaßen überzeugende Argumente für beide Annahmen. Einige unserer Quellen lassen es im Dunklen, ob sein Gott tatsächlich transzendent ist, oder ob er auf eine mysteriöse Weise mit dem gesamten eleatischen Universum gleichzusetzen ist. „Die deutliche Wahrheit über die Götter hat kein Mensch je gesehen, noch wird irgendein Mensch je in ihrem Besitz sein“ (DK 21 B34). Xenophanes war natürlich nicht der erste Monotheist. Seine Ideen wurden schon sehr viel früher in Ägypten durch Akhenaten vorweggenommen und erst kurz vor ihm in Israel durch die jüdischen Propheten. Doch stellt er seinen Monotheismus nicht als eine orakelhafte Offenbarung vor, sondern als das Ergebnis rationaler Argumente. Sagt man es in den Begriffen einer Unterscheidung, die erst Jahrhunderte später getroffen werden sollte, so verkündeten die Propheten eine Offenbarungsreligion, während Xenophanes ein natürlicher Theologe war.

Sokrates und Platon über Frömmigkeit In der Politeia schließt sich Platon Xenophanes’ Kritik an den von Homer und Hesiod erzählten, abstoßenden Geschichten über die Götter an. Diese Geschichten müssten aus dem Unterrichtskanon entfernt werden, da sie an sich falsch seien und ihre Leser zu schlechtem Verhalten anregten. Kindern dürften keine Geschichten über Kämpfe zwischen den Göttern erzählt werden, oder Geschichten, in denen Götter ihre Gestalt änderten und diejenigen von Menschen und Tieren annähmen (Pol. 377e–381d). Gott sei gut und füge niemandem Schaden zu. Nur die guten Dinge des Lebens kämen von Gott, und wenn die Götter Menschen straften, so geschehe dies zu ihrem eigenen Besten (Pol. 379c–380b). Außerdem sei Gott unveränderlich und täusche andere weder durch Lüge noch Verkleidung (Pol. 382e). Platons Angriff auf Homer und die Dichter scheint heutigen Lesern oft übertrie-

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ben. Er lässt sich nur verstehen, wenn wir uns in Erinnerung rufen, von welch zentraler Bedeutung die Ilias und die Odyssee in der griechischen Erziehung waren, eine wie wichtige Rolle die Religion im täglichen Leben der Griechen spielte. Es trifft zu, dass die Griechen niemals ein Volk mit einem heiligen Buch waren, und die Gedichte Homers besaßen im griechischen Leben und der griechischen Religion niemals eine Autorität, die mit derjenigen vergleichbar gewesen wäre, die vom Alten Testament, den Evangelien und dem Koran ausging. Dennoch hatten die Geschichten von Homer und Hesiod einen wesentlich größeren Einfluss auf die Erziehung als Märchen und Kinderbücher in unserer heutigen Gesellschaft. In diesem Kontext ist Platons Angriff verständlich. Er muss auch Mut erfordert haben: Schließlich hatte man Sokrates wegen der Anklage, er habe die Jugend gelehrt, nicht an die Götter zu glauben, an die die Stadt glaubt, zum Tode verurteilt (Apol. 26b). Man warf Sokrates auch vor, er habe neue Götter eingeführt. Hierbei muss es sich um eine Anspielung auf seinen daimon handeln, eine innere göttliche Stimme, von der er behauptete, sie warne ihn davor, Falsches zu tun (Apol. 40b). Ansonsten scheint er der herkömmlichen griechischen Religion gegenüber respektvoll gewesen zu sein. Natürlich behauptete er nicht zu wissen, was Frömmigkeit ist, ebenso wie er behauptete nicht zu wissen, was irgendeine andere Tugend ist. Doch der sokratische Dialog Euthyphron enthält eine interessante Diskussion über einen Definitionsvorschlag für die Frömmigkeit oder Heiligkeit. Sie sei das, „was die Götter lieben“. Sokrates stellt folgende Frage: Lieben die Götter, was heilig ist, weil es heilig ist, oder ist es heilig, weil die Götter es lieben? Euthyphron antwortet hierauf, dass das Heilige nicht so genannt wird, weil es die Götter lieben. Es ist eher so, dass die Götter das Heilige lieben, weil es heilig ist. Daraufhin schlägt Sokrates „göttlich“ als Abkürzung für „was von den Göttern geliebt wird“ vor. Daher kann, wenn man „göttlich“ durch „heilig“ ersetzt, Euthyphrons Behauptung folgendermaßen ausgedrückt werden: (A) Das Göttliche wird von den Göttern geliebt, weil es göttlich ist. Andererseits scheint klar, dass: (B) Das Göttliche ist göttlich, weil es von den Göttern geliebt wird weil „göttlich“ als Synonym für „von den Göttern geliebt“ eingeführt wurde. Sokrates behauptet also, Euthyphron der Inkonsistenz überführt zu haben, und er drängt ihn, die Behauptung, das Heilige sei dasjenige, was die Götter lieben, aufzugeben (Euthphr. 10a–11b). Es gibt jedoch keine wirkliche Inkonsistenz zwischen A und B, denn „weil“ wird in den beiden Behauptungen mit unterschiedlicher Bedeutung verwendet. In (A) führt es das Motiv der Götter ein; in (B) ruft es unsere Bedeutungsfestlegung in Erinnerung. Eine parallele Beobachtung lässt sich im Deutschen vornehmen, indem man darauf hinweist, dass beides wahr ist: Sowohl dass (C) ein Richter spricht Recht, weil er ein Richter ist (d. h., er tut es, weil dies sein Beruf ist), als auch dass (D) ein Richter ein Richter ist, weil er Recht spricht (deshalb wird er als Richter bezeichnet).

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Euthyphron gibt jedoch die von ihm vorgeschlagene Definition auf und schlägt eine andere vor: Heiligkeit ist Gerechtigkeit im Dienst der Götter. Auch diese Definition wird verworfen: Welchen Dienst können wir den Göttern erbringen? Sokrates macht sich über die Idee des Opfers als einer Form des Handels mit den Göttern lustig, wenn wir im Gegenzug zu der Gunst, die wir von ihnen erbitten, nichts Wertvolles anzubieten haben (Euthphr. 14e–15a). Wenn uns Platons Euthyphron eine realistische Darstellung von Sokrates’ Methode des Kreuzverhörs gibt, kann man sich vorstellen, warum religiöse Leute in Athen ihn als jemanden gesehen haben, der Unfrömmigkeit unter die Jugend bringt und eine Gefahr darstellt. Ein weiterer sokratischer Dialog (diesmal wahrscheinlich nicht von Platon), der Zweite Alkibides, enthält eine Erörterung der Gebetspraxis, die ihre Bedeutung infrage stellt. Wenn wir für etwas beten, was wir uns wünschen, bitten wir möglicherweise um etwas, das uns schaden wird: Eine Erhörung des Gebets wäre ein Verhängnis. Da wir nicht wissen, was für uns das Beste ist, ist es besser, um überhaupt nichts zu bitten, oder – wie die Spartaner – einfach für dasjenige, was gut und edel ist, ohne es detaillierter zu beschreiben (148c). Was ihre Opferpraxis und ihre Verehrung der Götter betrifft, sind die Athener wesentlich religiöser als die Spartaner, und doch sind die Spartaner ihnen in der Schlacht stets überlegen. Ist dies erstaunlich? „Es wäre eine merkwürdige und deprimierende Sache, wenn die Götter unsere Gaben und Opfer höher bewerteten als unsere Seelen und ob darin Heiligkeit und Gerechtigkeit zu finden sind.“ (150a)

Die Entwicklung von Platons Theologie Platons eigenes Verhältnis zur Religion entwickelte sich zusammen mit seinen anderen metaphysischen Überzeugungen. Im zentralen Teil der Politeia befindet sich am höchsten Punkt des Universums kein persönlicher Gott, sondern die Idee des Guten, die in der idealen Welt des Seins die Rolle übernimmt, die die Sonne in der alltäglichen Welt des Werdens innehat (Pol. 508c–e). Letztlich verdankt alles dieser absoluten Gutheit, die selbst dem Sein gegenüber transzendent und ihm überlegen ist, sein Sein (Pol. 509b). Im Symposion ist die höchste Idee die Idee des Schönen, und die Priesterin Diotima beschreibt Sokrates, in einer Sprache, die zur religiösen Initiation eines Mysterienkults passt, den Aufstieg der Seele bis zu den erhabenen Verzückungen der Vision dieser Idee. Menschen sehnen sich nach Unsterblichkeit: Diese Sehnsucht treibt sie zur Zeugung und zur liebevollen Fürsorge für ihre Kinder, zum Streben nach Heldentaten, die durch die gesamte Geschichte gerühmt werden, und zur Schaffung von Kunstwerken von ewigem Wert. Doch dies sind nur die unteren Mysterien der Liebe. Um die größten Mysterien zu erreichen, sollte sich der Einzuweihende über die Schönheit von Körpern und Seelen, über die Schönheit der Wissenschaften und anderer Errungenschaften erheben, um eine ewige und unwandelbare, absolute Schönheit zu erreichen. Die edelste Form des Lebens

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besteht in der intellektuellen Kontemplation der göttlichen Schönheit in ihrer absoluten und reinsten Form. Diese Riten der Liebe werden den Einzuweihenden so unsterblich machen, wie es ein menschliches Wesen nur sein kann (Symp. 206b– 212a). Trotz des religiösen Kontexts und der religiösen Sprache ist die Idee der Schönheit im Symposion ebenso wenig personal wie die Idee des Guten in der Politeia. Doch im Sophistes wird genau dies als Grund für eine fundamentale Überarbeitung der Ideenlehre angegeben. „Sollen wir uns leichtlich überreden lassen“, fragt der Besucher aus Elea, „daß in der Tat Bewegung und Leben und Seele und Vernunft dem wahrhaft Seienden gar nicht eignen? Daß es weder lebe noch denke, sondern hehr und heilig, der Vernunft entbehrend, unbeweglich stehe?“ (Sph. 248e). Als er den Dialog Timaios schrieb, hatte Platon eine Gottesvorstellung erreicht, die derjenigen der großen monotheistischen Religionen nahe kommt. Das Thema des Dialogs ist der Ursprung der Welt, in der wir leben: Hat es sie schon immer gegeben, oder hatte sie einen Anfang in der Zeit? Da sie sichtbar und materiell ist, muss sie entstanden sein, doch ist es keine leichte Aufgabe, „den Urheber und Vater dieses Weltalls zu finden“ (Ti. 28c). Warum sollte ein solcher es geschaffen haben? „Er war gut; im Guten aber erwächst niemals und in keiner Beziehung Mißgunst. Dieser fern wollte er, dass alles ihm selbst möglichst ähnlich werde.“ (Ti. 29e) 1 Platon versteht Gott nicht als Schöpfer des Universums aus dem Nichts. Stattdessen begründet er den Kosmos, in dem er Ordnung in das Chaos bringt. „Indem nämlich Gott wollte, daß alles gut und, soviel wie möglich, nichts schlecht sei, brachte er, da er alles Sichtbare nicht in Ruhe, sondern in ungehöriger und ordnungsloser Bewegung vorfand, dasselbe aus der Unordnung zur Ordnung, da ihm diese durchaus besser schien als jene.“ (Ti. 30a) Der Dialog führt uns dann durch die verschiedenen Stadien dieses Ordnungsprozesses: Zuerst wurde die Seele und dann die Materie erschaffen, wobei die Seele im sichtbaren Körper der Himmel inkarniert war (Ti. 34e, 36e). Innerhalb des Universums gibt es vier Arten lebender Wesen: Götter, Vögel, Fische und Landtiere (Ti. 40a). Wir erfahren, dass es zwei Arten von Göttern gibt: sichtbare und unsichtbare. Die sichtbaren Götter sind die Fixsterne, die göttliche und ewig lebende Wesen sind. Unsichtbare Götter erscheinen den Menschen von Zeit zu Zeit nach eigenem Ermessen (Ti. 40b, 41a). Der Vater des Universums delegierte an diese geschaffenen, aber unsterblichen Wesen die Aufgabe, die niedrigeren Lebewesen zu schaffen. Im Falle der Menschen schuf er selbst die unsterbliche Seele und überließ es den niedrigeren Göttern sie in einen Schädel einzuschließen und diesem den restlichen Körper darunter hinzuzufügen (Ti. 69c–d). Gegen Ende des Dialogs wird das sichtbare Universum selbst als wahrnehmbarer Gott beschrieben, als Abbild des Gottes, der nur mit dem Geist erkannt werden kann (Ti. 92c). In dem Dialog Nomoi, dem letzten von Platons Dialogen, spielt die Religion eine 1

Vgl. N. Kretzmann, The Metaphysics of Creation (Oxford: Oxford University Press, 1999), 101–4.

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herausragende Rolle: Das gesamte zehnte Buch ist ihr gewidmet. Im idealen Stadtstaat Magnesia stehen auf Atheismus schwere Strafen. Das 58. Gesetz der Stadt weist die Beamten an, jeden Akt der Unfrömmigkeit, von dem sie erfahren, vor ein Gericht zu bringen. Wer der Unfrömmigkeit für schuldig befunden wird, sollte zu fünf Jahren Einzelhaft in einem Gefängnis verurteilt werden. Diejenigen, die nach ihrer Freilassung rückfällig werden, sollen mit dem Tod bestraft werden. Schwere Formen von Unfrömmigkeit, wobei es sich um Atheismus in Verbindung mit betrügerischen Behauptungen über den Besitzes übernatürlicher Kräfte handelt, sind mit lebenslanger Haft zu bestrafen (Nom. 907e–909c). Die Gesetzgeber für Magnesia glauben, dass es zur Gewährleistung der Gesetzeseinhaltung besser ist, Argumente und Überzeugungskraft statt Sanktionen zu verwenden. Daher stellen sie diesen schweren Strafen folgende Präambel voran: „Wer den Gesetzen gemäß glaubt, daß die Götter sind, beging nie weder eine gottlose Handlung freiwillig noch ließ er eine gesetzwidrige Rede vernehmen, sondern nur wenn von den dreien eines ihm begegnete, daß er entweder das, was ich jetzt sagte, nicht glaubt, oder zweitens, daß die Götter sind, aber sich nicht um die Menschen kümmern, oder drittens, sie seien leicht, durch Opfer und Gebete gewonnen, zu beschwichtigen.“ (Nom. 885b)

Die Gesetzgeber akzeptieren ihre Verpflichtung, die Menschen von diesen Irrtümern zu befreien, indem sie Beweise für die drei Wahrheiten anbieten, die diesen Irrtümern widersprechen. Um die Existenz der Götter zu beweisen, genügt es nicht, auf die Wunder des Universums oder die Ordnung der Jahreszeiten hinzuweisen. Atheisten werden sagen, dass die Sonne und der Mond und die Sterne nichts als gefühllose Erde und Steine sind, und dass die Elemente und ihre Verbindungen ihre Existenz der Natur und dem Zufall verdanken (Nom. 886d, 889a). Man kann sich auch nicht auf die allgemeine Übereinstimmung von Griechen und Barbaren bezüglich der Existenz der Götter berufen. Solche Glaubensüberzeugungen, werden die Atheisten behaupten, sind lediglich das Ergebnis der Indoktrination von Kindesbeinen an, und außerdem besteht keine Einmütigkeit bezüglich des Wesens der Götter (Nom. 887c, 889e). Eine Widerlegung des Atheismus muss weiter ausholen. Der Grundirrtum derjenigen, die glauben, dass sich die Weltdinge einer zufälligen Evolution verdanken, besteht darin, dass sie den Primat der Seele vor dem Körper nicht erfasst haben. Seele wurde lange vor irgendwelchen Körpern erschaffen und es ist Seele, was die Entwicklung und Umwandlung materieller Dinge verursacht (Nom. 892a). Der Primat der Seele wird durch eine Analyse der verschiedenen möglichen Arten von Bewegung bewiesen. Es gibt zehn verschiedene Arten, doch die wichtigsten von ihnen sind nur zwei: (a) eine, durch die anderen Dingen Bewegung mitgeteilt wird, wobei diese Bewegung von etwas anderem empfangen wird, und (b) eine, bei der etwas sich selbst und andere Dinge in Bewegung versetzt. Offensichtlich könnte eine Bewegung des

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ersten Typs nicht der Ursprung der Bewegung in der Welt sein: Die Bewegung im Universum muss mit selbsterzeugter Bewegung beginnen. Doch selbsterzeugte Bewegung ist mit Seele identisch, denn „dasjenige, was sich selbst bewegt“ ist eine Definition von „Lebewesen“ (Nom. 894c–896a). Seele hat also einen Primat vor dem Körper, und es ist Seele, bzw. genauer gesprochen: Es sind Seelen, die die Himmel steuern. Wenn wir fragen, wie Seele die Sonne lenkt, scheint es drei mögliche Antworten zu geben: Entweder hat die Sonne selbst eine Seele, die in ihrer Kugel wohnt, wie unsere Seele in unserem Körper, oder es gibt eine Seele, die einen anderen eigenen Körper hat, der mit der Sonne verbunden ist, und sie auf ihrer Bahn vorantreibt, oder die Seele ist völlig immateriell und lenkt die Sonne mit einer geistigen Kraft auf ihrer Bahn. Wie immer sie dies tut: Die Seele ist eindeutig ein Gott irgendeiner Art, und Thales hatte Recht mit seiner Behauptung, die Welt sei voller Götter (Nom. 898e–899b). Es bleibt noch zu beweisen, dass die Götter um die Menschheit besorgt sind und dass sie durch Gebete und Opfer nicht umgestimmt werden können. Der Hauptgrund, aus dem man bezweifeln könnte, dass sich die Götter um die Menschen kümmern, ist folgender: Sie scheinen es Übeltätern, trotz deren Bosheit zu erlauben, ihr Unwesen zu treiben. Doch wir können nicht bezweifeln, dass die Götter, die über das Universum wachen, die Tugenden der Weisheit, Mäßigung und Tapferkeit besitzen. Man kann sie sich nicht als faul oder zügellos vorstellen. Außerdem wissen, sehen und hören sie alles, und sie können alles tun, was in der Macht der Sterblichen oder Unsterblichen steht. Wenn sie unsere Bedürfnisse vernachlässigen, so muss dies entweder den Grund haben, dass sie sie nicht kennen oder sie haben es erlaubt, dass Versuchung sie von diesem Wissen ablenkt. Doch das ist absurd: Denn schließlich ist die Sorge um unsere winzigen Angelegenheiten verglichen mit der Schöpfung des Universums ein Kinderspiel (Nom. 899d–903a). Das Wohlergehen der boshaften Menschen ist nur vorübergehend und scheinbar. Es hat im übergreifenden göttlichen Plan seinen Platz. Niemand wird für begangenes Unrecht für immer der Strafe entgehen, und sei es, er flöge in den Himmel oder versteckte sich in der Hölle (Nom. 905a). Wer behauptet, dass man sich von Strafen durch Gaben und Gebete freikaufen kann, denkt über die Götter, als seien es Hirtenhunde, die der Bestechung von Wölfen erliegen (Nom. 906b).

Aristoteles’ unbewegte Beweger Platons Argument für den Primat der Seele vor dem Körper war der Vorläufer einer langen Reihe von Argumenten für die Existenz Gottes, die sich auf die Analyse von Bewegung und Veränderung stützen. Eines der frühesten und am differenziertesten ausgearbeiteten Argumente ist das Argument für die Existenz eines kosmischen unbewegten Bewegers in den letzten beiden Büchern der Physik des Aristoteles, das in Metaphysik L eine höchst theologische Deutung erfährt.

Aristoteles’ unbewegte Beweger

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Das Grundprinzip von Aristoteles’ Argument besagt, dass alles, was sich bewegt, durch etwas anderes bewegt wird. Zu Beginn von Buch 7 der Physik stellt er eine reductio ad absurdum für die Idee der Selbstbewegung vor. Ein selbstbewegtes Objekt muss (a) Teile haben, um sich überhaupt in Bewegung befinden zu können; (b) es muss sich als Ganzes bewegen, und nicht nur in einem seiner Teile, und (c) es muss seine eigene Bewegung hervorbringen. Doch dies ist unmöglich. Aus (b) folgt, dass, wenn sich irgendein Teil des Körpers in Ruhe befindet, das Ganze des Körpers sich in Ruhe befinden muss. Doch wenn das Sich-in-Ruhe-Befinden des gesamten Körpers davon abhängt, dass sich einer seiner Teile in Ruhe befindet, dann hängt die Bewegung des gesamten Körpers von der Bewegung des Teils ab, und daher bringt er seine eigene Bewegung nicht hervor. Hieraus ergibt sich, dass dasjenige, das durch sich selbst bewegt werden sollte, nicht durch sich selbst bewegt wird (Ph. 8. 241b34– 242a49). 2 Dieses Argument enthält zwei Fehlschlüsse. Der erste kommt in meiner Paraphrase des Arguments durch die Doppeldeutigkeit von „hängt ab von“ zum Ausdruck. Die Bewegung des Ganzen ist logisch abhängig von der Bewegung des Teils, aber sie hängt nicht notwendigerweise kausal davon ab. 3 Außerdem verwechselt das Argument notwendige und hinreichende Bedingungen. Dass sich der Teil in Ruhe befindet, ist eine hinreichende Bedingung dafür, dass sich das Ganze in Ruhe befindet. Doch hieraus folgt lediglich, dass die Bewegung des Teils eine notwendige Bedingung für die Bewegung des Ganzen ist. Es gelingt dem Argument nicht zu beweisen, dass es als hinreichende Kausalbedingung für die Bewegung des vermeintlichen Selbstbewegers etwas anderes geben muss, nämlich die Bewegung des Teils. Von der Prämisse, dass alles, was sich in Bewegung befindet, von etwas anderem bewegt werden muss, leitet Aristoteles dann die Schlussfolgerung ab, dass es einen ersten Beweger geben muss. Statt sofort auf sein Argument gegen einen Rückgang ins Unendliche einzugehen, ist es besser, zunächst das vollständige Argument gegen die Selbstbewegung zu untersuchen, das im folgenden, dem letzten Buch der Physik vorgestellt wird. Hier stellt Aristoteles gleich zu Beginn fest, dass einige Dinge in der Welt scheinbar selbstbewegend sind, nämlich die lebenden Wesen (empsycha). 2

3

Bei der Übersetzung von Aristoteles’ Texten über das Thema Bewegung stellt sich ein Problem. „Bewegen“ kann im Deutschen entweder transitiv oder intransiv verstanden werden. Ich kann jemanden aus meinem Weg bewegen, oder mich aus ihrem Weg bewegen. Das entsprechende griechische Verb hat nur eine transitive Bedeutung, und um den intransiven Sinn auszudrücken, verwendet das Griechische die passive Form des Verbs. Es ist daher häufig schwierig zu erkennen, ob ein bestimmter Satz die Bedeutung von „X bewegt sich“ oder „X wird bewegt“ hat – eine Doppeldeutigkeit, die bei der Erörterung einer unbewegten Bewegung offensichtlich unbedingt zu vermeiden ist. Daher verwende ich in meiner Erörterung „X ist in Bewegung“ für die intransive Bedeutung und reserviere „X bewegt“ für den transitiven Fall, in dem ein Objekt genannt werden könnte. Bei der Übersetzung von „Bewegung“ gehe ich ähnlich vor. Siehe A. Kenny, The Five Ways (London: Routledge, 1969), 8 f. Vgl. D. Ross, Aristotle’s Physics (Oxford: Clarendon Press, 1936), 669.

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„Manchmal vollzieht sich doch in uns gar keine Veränderung. Wir sind vielmehr in völliger Ruhe, und dann mit einem Mal setzen wir uns in Bewegung. Der Anfang dieser Bewegung entspringt aus uns selbst, ohne das irgendetwas von außen her die Bewegung verursacht. An den anorganischen Gebilden können wir dies freilich nicht in gleicher Form beobachten. Hier ist immer etwas vorhanden, was von außen her die Bewegung verursacht. Aber vom Tier sagen wir doch, es bewege sich selbst. Und das besagt doch folgendes: So gewiß es in der einen Zeit völlig im Ruhezustand begriffen ist, entspringt ihm doch inmitten seiner Bewegungslosigkeit aus ihm selbst und nicht von außen her seine Bewegung. Ist Derartiges aber an einem Tier möglich, warum sollte genau dasselbe nicht auch mit Bezug auf das Weltall eintreten können?“ (Ph. 252b18–25) 4

Aristoteles führt nun ein detailliertes und kompliziertes Argument an, um zu zeigen, dass dies unmöglich ist. Er legt einen Beweis vor, der sich auf Fälle stützt, die zeigen, dass alles, was sich in Bewegung befindet, durch etwas anderes bewegt wird. Bewegung kann in Bewegung per accidens und in Bewegung per se unterteilt werden. (Wenn sich etwas in Bewegung befindet, weil es sich in einem anderen befindet, wie ein schlafender Mann auf einem bewegten Schiff, dann handelt es sich um eine Bewegung per accidens. Ein weiterer Fall für Bewegung per accidens liegt vor, wenn sich nur ein Teil eines Dinges bewegt, beispielsweise wenn jemand mit den Händen winkt.) Er scheint es als selbstverständlich anzusehen, dass Bewegung per accidens keine Selbstbewegung ist (Ph. 254b7–11). Dinge, die sich per se in Bewegung befinden, können sich entweder durch sich selbst in Bewegung befinden, oder aufgrund anderer Dinge. Im ersten Fall ist ihre Bewegung natürlich, während sie im Letzteren entweder natürlich (zum Beispiel wie die nach oben gerichtete Bewegung des Feuers) oder erzwungen sein kann (wie die nach oben gerichtete Bewegung eines Steins). Aristoteles ist der Überzeugung, dass eine erzwungene Bewegung von etwas anderem als dem Ding selbst abgeleitet werden muss. Wir können sofort zugeben, dass ein Stein sich nur nach oben bewegt, wenn ihn jemand wirft. Doch es ist nicht offensichtlich, dass er nicht von selbst in Bewegung bleibt, nachdem er geworfen wurde. Aristoteles bestreitet dies: Wer einen Gegenstand wirft, teilt nicht nur dem geworfenen Objekt, sondern auch der umgebenden Luft Bewegung mit; und darüber hinaus teilt er der Luft eine quasi-magnetische Kraft mit, mit der sie das geworfene Objekt weiterbewegt (Ph. 266b28–267a3). Er hält es für offensichtlich, dass nicht nur die erzwungenen, sondern auch die natürlichen Bewegungen unbelebter Körper nicht von diesen Körpern selbst verursacht sein können: Wenn ein fallender Stein die Ursache seiner eigenen Bewegung wäre, könnte er selbst sein Fallen anhalten (Ph. 255a5–8). Es gibt zwei verschiedene Wege, auf die schwere und leichte Körper ihre natürlichen Bewegungen einer bewegenden Ursache verdanken. Erstens steigen sie nach oben 4

Zitiert in Anlehnung an: Aristoteles, Physikvorlesung, übersetzt von H. Wagner, herausgegeben von H. Flashar (Darmstadt: Wiss. Buchgesellschaft, 1979).

Aristoteles’ unbewegte Beweger

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oder fallen sie, weil dies ihrer Natur entspricht, und daher verdanken sie ihre Bewegung demjenigen, was ihnen diese Natur gegeben hat. Sie werden, so sagt Aristoteles, durch ihre Erzeuger bewegt. Wenn daher Feuer Wasser, einen schweren Stoff, erwärmt, so verwandelt es das Wasser in Wasserdampf, der leicht ist, und weil er leicht ist, sich natürlicherweise nach oben bewegt. Auf diese Weise ist das Feuer die Ursache der natürlichen Bewegung des Wasserdampfes, und man kann sagen, dass es ihn bewegt. Der Wasserdampf könnte jedoch an seiner Aufwärtsbewegung durch ein anderes Objekt, zum Beispiel den Deckel eines Kessels, gehindert werden. Jemand, der diesen Deckel anheben würde, wäre eine andere Art von Beweger, ein removens prohibens, den wir als einen „Befreier“ bezeichnen könnten (Ph. 255b31–256a2). Doch wie verhält es sich mit den natürlichen Bewegungen eines Tieres: Sind sie nicht ein Fall von Selbstbewegung? Alle solche Fälle scheinen von Aristoteles als Einwirkung eines Teils des Tieres auf einen anderen erklärt zu werden. Würde ein ganzes Tier sein ganzes Selbst bewegen, so wäre dies seiner Meinung nach ebenso absurd, als wenn jemand sowohl der Lehrer als auch der Schüler derselben Lektion wäre, oder als wäre der Heilende mit der geheilten Person identisch (Ph. 257b5). (Doch dies ist absurd: Kann ein Arzt sich nicht gelegentlich selbst heilen?) „An einem Gegenstand, der selbst der Grund seiner Veränderung ist, muß ein Teil die Veränderung bewirken und ein anderer muß sie erleiden.“ (Ph. 257b13–14) Doch welcher ist bei einem Tier der bewegende und welcher der bewegte Teil? Vermutlich sind es die Seele und der Körper. 5 Nachdem er sich zu seiner Zufriedenheit davon überzeugt hat, dass sich nichts in Bewegung befindet, was nicht von einem anderen bewegt wird, trägt Aristoteles eine Reihe von Argumenten vor, um zu beweisen, dass es keine bis ins Unendliche reichende Reihe bewegender Beweger geben kann: Wir müssen an ein Ende kommen, das in einem unbewegten Beweger besteht, der selbst bewegungslos ist. Wenn es zutrifft, dass es, wenn A sich in Bewegung befindet, irgendein B geben muss, das A bewegt, dann muss es, wenn B selbst sich in Bewegung befindet, irgendein C geben, das B bewegt, usw. Diese Reihe kann sich nicht ins Unendliche fortsetzen, weshalb es ein X geben muss, das anderes bewegt, ohne sich selbst in Bewegung zu befinden (Ph. 242a54–b54, 256a4–29). Die Einzelheiten von Aristoteles’ langer Argumentation sind dunkel, und man kann ihnen nur mit Mühe folgen, doch das größte Problem seines Argumentationsgangs besteht darin, festzustellen, an welche Art von Reihe er denkt. Das von ihm am häufigsten verwendete Beispiel – ein Mann, der seine Hände verwendet, um einen Spaten zu bewegen, der einen Stein umdreht – legt die Vermutung nahe, es handele sich um eine Reihe von gleichzeitigen Bewegern und bewegten Dingen. Wir können ihm darin zustimmen, dass es ein erstes Element einer jeden derartigen Reihe geben muss, wenn Bewegung jemals stattfinden können soll: Doch es ist nur schwer zu 5

Siehe S. Waterlow, Nature, Change, and Agency in Aristotle’s Physics (Oxford: Clarendon Press, 1982), 66.

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sehen, warum uns dies auf einen einzelnen kosmischen unbewegten Beweger führen sollte, statt auf eine Mehrzahl menschlicher Akteure. 6 Doch Aristoteles könnte, nehme ich an, antworten, dass eine grabende Person sich selbst in Bewegung befindet und daher von etwas anderem bewegt werden muss. Doch seine früheren Argumente beweisen nicht, dass, was immer sich in Bewegung befindet, gleichzeitig von etwas anderem bewegt wird: Die Erzeuger und Befreier von Bewegung, die als Ursachen für Bewegung zugelassen wurden, haben vielleicht schon seit Langem ihre Wirkung eingestellt oder aufgehört zu existieren, während die von ihnen verursachte Bewegung noch anhält. Soll das Argument für die Unmöglichkeit eines Rückgangs ins Unendliche nun auf eine Reihe von Bewegungsursachen angewendet werden, die sich in die Vergangenheit erstrecken? Es ist nur schwer zu sehen, wie Aristoteles, der glaubte, die Welt habe keinen Anfang in der Zeit, die Unmöglichkeit einer unendlichen Reihe von Bewegungsursachen in einem ewigen, sich ständig verändernden Universum behaupten kann. Von welcher Art von Reihe wir auch unseren Ausgang nehmen: Wir gelangen nicht zu irgendeinem unveränderlichen, völlig einfachen kosmischen Beweger, wie einem solchen, der nach Aristoteles dem großen Geist des Anaxagoras gleicht (Ph. 256b28). Was Aristoteles in Metaphysik L in theologischen Begriffen beschreibt, ist ein solches Wesen. Es muss, so behauptet er dort, eine ewige, bewegungslose Substanz geben, die die Ursache ewiger Bewegung ist. Sie darf keine Materie enthalten – sie kann nicht zu sein anfangen oder aufhören, indem sie zu etwas anderem wird – und sie kann keine Potenzialität enthalten – denn das bloße Vermögen, Änderungen herbeizuführen, würde die Ewigkeit der Bewegung nicht sicherstellen. Es muss allein in Wirklichkeit (energeia) (Metaph. 1071b3–22) bestehen. Den sich in einer Kreisbewegung befindenden Himmelssphären fehlt nach Aristoteles die Möglichkeit einer substanziellen Veränderung, doch verfügen sie über Potenzialität, denn jeder Punkt der Himmelssphären hat die Kraft, sich in seinem täglichen Kreislauf an eine andere Stelle zu bewegen. Da sie sich in Bewegung befinden, benötigen sie einen Beweger, und dies ist ein unbewegter Beweger. Ein solcher Beweger könnte nicht als Wirkursache handeln, denn das würde eine Veränderung in ihm selbst bedeuten, doch kann er als Endursache wirken, als Gegenstand der Liebe, denn geliebt zu werden beinhaltet keine Veränderung in dem Geliebten, und auf solche Weise kann der Beweger bewegungslos bleiben. Damit dies so sein kann, müssen die Himmelskörper natürlich Seelen haben, die Liebe für den unbewegten Beweger empfinden können. „Auf einem solchen Prinzip“, erklärt Aristoteles, „beruhen die Himmel und die Welt der Natur“ (Metaph. 1072b). Was ist das Wesen des unbewegten Bewegers? Sein Leben muss den besten Aspekten unseres Lebens ähnlich sein: Und der beste Aspekt unseres Lebens ist intellektuelle 6

Aristoteles scheint diesem Einwand an einer Stelle Recht zu geben und eine Person, die gräbt, als Selbstbeweger zu behandeln (Ph. 256a8).

Aristoteles’ unbewegte Beweger

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Die konzentrischen Sphären der Planeten des aristotelischen Kosmos (unter dem Einfluss des unbewegten Bewegers), wie sie von Giovanni di Paolo in seiner Illustration von Dantes Paradies dargestellt sind.

Einsicht. Das Glück, dass wir in Momenten höchster Kontemplation erreichen, ist für den unbewegten Beweger – den Aristoteles jetzt bereit ist, als Gottheit zu bezeichnen – ein ewiger Zustand (Metaph. 1072b15–25). „Und Leben wohnt in ihr; der Vernunft wirkliche Tätigkeit ist das Leben, die Gottheit aber ist die Tätigkeit; ihre Tätigkeit an sich ist ihr bestes und ewiges Leben. Die Gottheit sagen wir, ist das ewige, beste lebendige Wesen, also Leben und stetige, ewige Fortdauer wohnet in der Gottheit; denn sie ist Leben und Ewigkeit.“ (Metaph. 1072b27–30) Aristoteles ist erstaunlich unbekümmert um die Frage, wie viele göttliche Wesen es gibt. Manchmal (wie im obigen Zitat) spricht er so, als gäbe es nur einen einzigen Gott. An anderen Stellen spricht er von Göttern in der Mehrzahl und häufig auch von „dem Göttlichen“ als einem Neutrum im Singular. Aufgrund der denkbar engen Verbindung zwischen den himmlischen Bewegungen und dem (bzw. den) unbewegten Beweger(n), der oder die zu ihrer Erklärung postuliert wird oder werden, scheint er die Frage nach der Anzahl der Beweger als eine Sache der Astronomie statt der Theologie angesehen zu haben und scheint bereit gewesen zu sein, die Möglichkeit anzuerkennen, dass es bis zu 47 unbewegte Beweger gibt (Metaph. 1074a13). Von dem auf Vernunftgründen basierenden Monotheismus Xenophanes’ ist dies meilenweit entfernt. Ebenso wie Xenophanes war Aristoteles jedoch an der Natur des göttlichen Geistes interessiert. Ein berühmtes Kapitel (L 9) ist der Frage gewidmet: Woran denkt Gott? Er muss an irgendetwas denken, denn sonst wäre er nicht besser als ein schlafender Mensch, und an das, woran immer er denkt, muss er ständig denken, weil er ansonsten einer Veränderung unterliegen und Potenzialität enthalten würde, während wir wissen, dass er reine Wirklichkeit ist. Entweder er denkt an sich selbst, oder er denkt an etwas anderes. Nun ist aber der Wert eines Gedankens durch den Wert des Gegenstands dieses Gedankens bestimmt. Würde Gott also an etwas anderes als sich selbst denken, würde er auf die Ebene dessen herabgezogen, woran er denkt. Er muss

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daher an sich selbst denken, das höchste Wesen, und dieses Denken ist ein Denken des Denkens (noesis noeseos) (Metaph. 1074b). Diese Schussfolgerung ist ausgiebig diskutiert worden. Einige sahen in ihr eine erhabene Wahrheit über das göttliche Wesen, während andere sie für ein Beispiel exquisiten Unsinns hielten. Unter denjenigen, die die zweite Ansicht vertraten, hielten es einige für die höchste Absurdität von Aristoteles’ Theologie, während andere dachten, Aristoteles selbst sehe es als reductio ad absurdum eines ungültigen Arguments, als Vorbereitung des Beweises, dass das Objekt des göttlichen Denkens etwas sehr Verschiedenes ist. 7 Ist es Unsinn? Wenn jeder Gedanke ein Gedanke von etwas sein muss, und Gott nur an Denken denken kann, dann müsste ein Denken an ein Denken ein Denken an ein Denken von sein, und das müsste ein Denken an ein Denken an ein Denken von … ad infinitum sein. Dies führt gewiss auf einen noch schlimmeren Regress als irgendeiner von denen, die Aristoteles veranlassten, überhaupt einen unbewegten Beweger zu postulieren. Aber vielleicht ist es unfair, das griechische Wort noesis als „Denken an“ zu übersetzen. Es kann ebenso wohl „Denken, dass“ bedeuten. Sicherlich ist nichts Unsinniges an dem Gedanken „Ich denke“. Descartes baute seine gesamte Philosophie darauf auf. Warum also sollte Gott nicht denken, dass er denkt? Nur: Wenn dies sein einziger Gedanke ist, dann scheint er nichts besonders Großartiges zu sein, um es in den Worten zu sagen, mit denen Aristoteles den hypothetischen Gott beschreibt, der an nichts denkt. Wie immer es sich mit den Gegenständen des Denkens des unbewegten Bewegers in Wahrheit verhält: Gewiss gehören dazu nicht die kontingenten Angelegenheiten von Wesen, wie wir es sind. Auf der Grundlage dieses Kapitels scheint es demnach, dass Aristoteles, hätte er in Platons Magnesia gelebt, als Vertreter der zweiten Klasse der Atheisten verurteilt worden wäre, als einer von denen, die zwar glauben, dass die Götter existieren, jedoch bestreiten, dass sie um die Menschen auf irgendeine Weise bekümmert sind.

Die Götter Epikurs und der Stoiker Einer, der mit Sicherheit in diese Klasse gehörte, war Epikur. Im Brief an Menoikos schreibt er: „Erstens halte ich Gott für ein unvergängliches und glückseliges Wesen, entsprechend der gemeinhin gültigen Gottesvorstellung, und dichte ihm nichts an, was entweder mit seiner Unvergänglichkeit unverträglich ist oder mit seiner Glückseligkeit nicht in Einklang steht. Daher halte in deiner Vorstellung von ihm an allem fest, was danach ange7

Siehe G. E. M. Anscombe, in: G. E. M. Anscombe and P. T. Geach, Three Philosophers (Oxford: Blackwell, 1961), 59.

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tan ist, seine Glückseligkeit im Bunde mit seiner Unvergänglichkeit zu bekräftigen. Denn es gibt Götter, eine Tatsache, deren Erkenntnis einleuchtend ist; doch sind sie nicht von der Art, wie die große Menge sie sich vorstellt; denn diese bleibt sich nicht konsequent in ihrer Vorstellungsweise von ihnen. Gottlos aber ist nicht der, welcher mit den Göttern des gemeinen Volkes aufräumt, sondern der, welcher den Göttern die Vorstellungen des gemeinen Volkes andichtet.“ (D.L. 123; LS 23b)

Der Glaube, der die unvergängliche Glückseligkeit der Götter in Gefahr bringt, ist genau der Glaube, dass ihnen an den menschlichen Angelegenheiten irgendetwas gelegen ist. Einige Menschen zu begünstigen, sich über andere zu ärgern: Dies würde die glückliche Ruhe des Lebens der Götter unterbrechen (Brief an Herodot, D.L. 10. 76; Cicero, ND 1. 45). Es ist aberwitzig zu denken, die Götter hätten die Welt um der Menschen willen geschaffen. Welchen Gewinn könnten sie aus unserer Dankbarkeit ziehen? Welcher Drang nach Neuem könnte sie nach Äonen glücklicher Ruhe dazu verleiten, etwas zu erschaffen (Cicero, ND 1. 21–3; Lukrez, RN 5. 165–9)? Sieht die Welt so aus, fragt der Epikureer Lukrez, als wäre sie zum Nutzen der Menschen erschaffen? Die meisten Teile der Welt haben ein so unwirtliches Klima, dass sie unbewohnbar sind, und die bewohnbaren Teile liefern Früchte und Ernten nur, weil Menschen sie hart erarbeiten. Krankheit und Tod setzen vielen Menschen ein frühes Ende. Kein Wunder, dass ein neugeborenes Kind beim Eintritt in diese furchtbare Welt, in der wilde Tiere mehr zuhause sind als menschliche Wesen, lautstark jammert. „Wie der Schiffer, den wütende Wellen ans Ufer Werfen, so liegt am Boden der Säugling, nackt und zum Leben Jeglicher Hilfe entbehrend. Sobald die Natur aus der Mutter Wehenerschüttertem Schoß ihn bringt in des Lichtes Gefilde, Füllt er mit kläglichem Wimmern den Raum; das ist ja natürlich: Hat er doch soviel Leids in dem Leben dereinst zu erwarten. Anders hingegen das bunte Geschlecht der Schafe und Rinder Und das wilde Getier. Sie wachsen und brauchen nicht Klappern Noch auch der nährenden Amme gebrochenes Lallen und Kosen, Brauchen kein Wechselgewand je nach der verschiedenen Jahrzeit. Endlich der Waffen bedürfen sie nicht noch der ragenden Mauern, Um den Besitz zu beschützen: Denn allen erzeuget ja alles Reichlich die Erde von selbst und der findige Trieb der Naturkraft.“ 8

Das beklagenswerte Los der Menschen wird durch die gängigen Glaubensannahmen über die Götter nicht besser, sondern noch verschlechtert. Beeindruckt durch die unendlichen Räume des Kosmos und die Pracht der himmlischen Gestirne, verängs8

Zitiert nach: Lukrez, De rerum natura, übersetzt von H. Diels (Düsseldorf: Artemis & Winkler, 1994).

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tigt durch Blitze und Erdbeben, bilden wir uns ein, die Natur werde von rachsüchtigen himmlischen Wesen gelenkt, die uns für unsere Untaten bestrafen wollen. Entsetzt kauern wir uns nieder, leben in Angst vor dem Tod und entwürdigen uns durch Gebete, Kniefälle und Opfer (RN 1194–1225). Epikur akzeptierte die Existenz der Götter aufgrund des Konsenses aller Menschen: Ein so weitverbreiteter und so grundsätzlicher Glaube muss von der Natur eingepflanzt und daher wahr sein. Die Substanz dieser allgemeinen Übereinstimmung bestand seiner Meinung nach darin, dass die Götter selig und unsterblich waren und daher frei von Mühe, Zorn oder Gunst. Dieses Wissen reicht aus, um den Menschen zu ermöglichen, die Götter fromm und ohne Aberglauben zu verehren. Die menschliche Neugier möchte jedoch weitergehen und herausfinden, wie die Götter beschaffen sind, was sie denken und wie sie leben (Cicero, ND 1. 43–5). Nach Epikur kommt die Vorstellung von Göttern auf natürlichem Wege folgendermaßen zustande. Mensch haben Träume und manchmal auch Visionen, in denen stattliche, schöne und mächtige Wesen in menschlicher Gestalt erscheinen. Diese würden dann idealisiert, mit Empfindung ausgestattet und als unsterblich, glückselig und sorgenfrei vorgestellt (Lukrez, RN 1161–1182). Doch selbst in ihrer idealisierten Form behalten die Götter menschliche Gestalt, denn das ist die schönste aller belebten Gestalten und die einzige, die mit Vernunft ausgestattet ist. Die Götter sind jedoch keine Wesen aus Fleisch und Blut wie wir. Sie bestehen aus feinen, Fleisch und Blut bloß ähnlichen Elementen. Sie sind nicht materiell oder sichtbar, sondern können nur mit dem Geist wahrgenommen werden, und sie leben in keiner Region unserer Welt. Dennoch gibt es genau so viele unsterbliche wie es sterbliche Wesen gibt (Cicero, ND 1. 46–9; Lukrez, RN 5. 146–55). Sämtliche Aspekte von Epikurs Theologie miteinander in Einklang zu bringen, ist nicht einfach. Eine Untersuchung aus neuerer Zeit unternimmt diesen Versuch, indem sie Epikurs Götter als gedankliche Konstrukte behandelt, als Produkte eines Bilderstroms, der durch Konvergenz in unserem Geist zu unseren Göttern wurde. Die daraus resultierenden idealisierten Begriffe liefern Beispiele für die ethische Nachahmung. Doch es gibt nirgendwo im Universum biologisch unsterbliche Wesen. Nach dieser Interpretation wäre Epikur ein antiker Vorvater von Denkern des 19. Jahrhunderts wie George Eliot und Matthew Arnold, deren erklärter Theismus sich bei einer genauen Untersuchung im Wesentlichen als eine Moraltheorie erweist. 9 So geistreich und attraktiv diese Interpretation auch sein mag: Sie entspricht gewiss nicht der Sichtweise von Lukrez’ oder Epikurs Fürsprechern in Ciceros Schrift Über das Wesen der Götter, und es sind diese beiden Autoren, denen wir die meisten Informationen über seine Theologie verdanken. Diese Bewunderer nahmen Epikurs Zurückweisung des Atheismus beim Wort. Zweifellos gab es jedoch in klassischer Zeit Denker, die das epikureische System als dem Atheismus gleichbedeutend ansahen, vor allem die Stoiker (Cicero, ND 2. 9

Siehe LS i, 145–9.

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25). Die stoische Frömmigkeit war ebenso wie die epikureische Frömmigkeit meilenweit von der volkstümlichen, polytheistischen Religion entfernt. Aus der Perspektive der großen monotheistischen Religionen ist die Theologie der Epikureer und Stoiker im Irrtum: Die Epikureer bringen den Gott zur realen Welt auf zu große Distanz, während die Stoiker ihn der Welt zu nahe bringen. Denn der zentrale Gedanke der stoischen Theologie ist die Gleichsetzung Gottes mit der Vorsehung, d. h. mit der Rationalität der natürlichen Abläufe. Dies entspricht einer Vorwegnahme von Spinozas Deus sive Natura. Wie die Epikureer begannen auch die Stoiker damit, dass sie sich auf die allgemeine Überzeugung der Menschen beriefen, dass Götter existieren. Beide Schulen sind sich auch darin einig, dass ein Ursprung des Volksglaubens an Götter die Angst vor den Naturgewalten ist. Von da an gehen die beiden Theologien jedoch getrennte Wege. Im Gegensatz zu den Epikureern lieferten die Stoiker Beweise für die Existenz Gottes, und manchmal sind die Ausgangspunkte dieser Beweise identisch mit denjenigen der epikureischen Argumente gegen das Walten göttlicher Vorsehung. So sagt Kleanthes beispielsweise, es sei der Nutzen gewesen, den wir aus dem gemäßigten Klima und der Fruchtbarkeit der Erde ziehen, durch den den Menschen die Vorstellung von Gott in den Sinn kam (Cicero, ND 2. 12 f.); und Chrysippos geht von der Prämisse aus, dass die Früchte der Erde um der Tiere willen existieren und die Tiere um des Menschen willen (ND 2. 37). Das beliebteste Argument der Stoiker war dasjenige, was später als das teleologische Argument bezeichnet wurde. Die Himmelssphären führen gesetzmäßige Bewegungen aus, und der Mond und die Sonne sind nicht nur nützlich, sondern auch schön. Kleanthes meinte, dass jeder, der ein Haus, eine Sportstätte oder einen Marktplatz betritt und sieht, dass dort alles in bester Ordnung ist, wisse, dass jemand dafür verantwortlich sei. Erst recht müsse die geordnete Bewegung so vieler und großer Himmelskörper von einem Geist regiert werden (ND 2. 15). Die Stoiker antizipierten Paleys Vergleich der Welt mit einer Uhr, deren Erklärung einen Uhrmacher verlangt. Der Stoiker Posidonios hatte erst vor Kurzem eine bewundernswerte Armillarsphäre konstruiert, ein Weltmodell, das die Bewegung der Sonne, des Mondes und der Planeten darstellte. Wäre es in das noch unzivilisierte Britannien gebracht worden, hätte niemand dort bezweifeln können, dass dieses Modell ein Werk der Vernunft sei. Gewiss verkündete das diesem zugrunde liegende Original noch lauter, dass es das Produkt eines göttlichen Geistes ist. Jeder, der glaubt, dass die Welt ein Produkt des Zufalls ist, könne ebenso gut glauben, es sei möglich, wenn man genug Buchstaben des Alphabets in eine Urne warf und sie dann auf den Boden schüttete, dass sich auf diese Weise eine Kopie der Annalen des Ennius herstellen lasse. Dies sind die Worte von Balbus, Ciceros Fürsprecher der Stoiker, Jahrhunderte, bevor irgendjemand an die Möglichkeit gedacht hatte, dass die Werke Shakespeares von Bataillonen von Affen auf Schreibmaschinen hervorgebracht worden sein könnten (ND 2. 88). Zenon, der Gründer der Stoa, war bei der Aufstellung von Argumenten für die Existenz Gottes, oder zumindest für die Vernünftigkeit der Welt, besonders produk-

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tiv. „Das Vernünftige ist dem Unvernünftigen überlegen. Doch nichts ist der Welt überlegen. Daher ist die Welt vernünftig.“ „Nichts Unbelebtes kann etwas Lebendiges hervorbringen. Doch die Welt bringt belebte Dinge hervor. Daher ist die Welt lebendig.“ Wenn auf einem Olivenbaum Flöten wachsen würden, die gemeinsam ein Stück spielten, sagte er, würde man dem Baum musikalische Kenntnisse zuschreiben müssen: Warum sollte man dann dem Universum nicht Weisheit zuschreiben, da es Wesen hervorbringt, die Weisheit besitzen? (ND 2. 22) Eines von Zenons originellsten, wenn auch am wenigsten überzeugenden Argumenten war das folgende: „Man kann die Götter auf vernünftige Weise ehren. Doch man kann auf vernünftige Weise nichts ehren, was nicht existiert. Daher existieren die Götter.“ Dies erinnert mich an ein Argument, dem ich einmal in einer Diskussion über die Logik von Imperativen begegnet bin: „Gehe in die Kirche. Wenn Gott nicht existiert, gehe nicht in die Kirche. Daher existiert Gott.“ Wir sind es gewohnt zu hören, dass es unzulässig ist, ein Sollen aus dem Sein abzuleiten. Es kommt seltener vor, das man Philosophen trifft, die ein Sein aus dem Sollen abzuleiten versuchen. Im Laufe der Jahrhunderte waren Philosophen jedoch immer darauf erpicht, ein „ist nicht“ aus einem „soll nicht“ abzuleiten. Diejenigen Philosophen, die das Problem des Bösen erörtert haben, haben eigentlich behauptet, dass die Welt nicht so sein sollte, wie sie ist, und dass daher kein Gott existiert. Von besonderem Interesse war dieses Problem für die Stoiker. Einerseits spielte die Lehre von der göttlichen Voraussicht eine wichtige Rolle in ihrem System, und Vorsehung kann mit der Existenz des Bösen unvereinbar erscheinen. Andererseits scheint der Umfang des Problems für sie geringer gewesen zu sein als für Theisten und andere Schulen, da für sie das Laster das einzige wirkliche Übel war. Doch selbst in dieser eingeschränkten Form verlangt das Problem nach einer Lösung, und Chrysippos fand sie, in dem er sich auf ein Prinzip berief, nach dem Gegensätze nur gemeinsam existieren können: Gerechtigkeit mit Ungerechtigkeit, Tapferkeit mit Feigheit, Mäßigung mit Zügellosigkeit und Weisheit mit Torheit (LS 54Q). Das Prinzip (welches sich an ein Argument für die Unsterblichkeit in Platons Phaidon anlehnt) scheint ungültig zu sein: Der Begriff einer einzelnen Tugend mag zweifellos vom Begriff des entsprechenden Lasters nicht zu trennen sein, doch das beweist nicht, dass beide Begriffe realisiert sein müssen. Die Stoiker haben auf das Problem des Bösen noch mit anderen, weniger metaphysischen Argumenten reagiert. Da sie Deterministen waren, stand den Stoikern das sich auf die Freiheit des Willens berufende Argument, das eine der Hauptstützen der christlichen Behandlung des Themas war, nicht zur Verfügung. Stattdessen übernahmen sie zwei grundsätzliche Argumentationslinien: Entweder waren die angeblichen Übel keine wirklichen Übel (selbst aus nicht-stoischer Sicht), oder es handelte sich dabei um unabsichtliche aber unvermeidliche Konsequenzen wohlwollenden Handelns der Vorsehung. In einem Argument aus der ersten Kategorie wies Chrysippos darauf hin, dass Bettläuse insofern nützlich seien, als sie uns dazu bringen, früh aufzustehen, und Mäuse helfen uns, Ordnung zu halten. Als ein Argument der zweiten

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Kategorie führte er (ebenfalls in Anlehnung an Platon) an, dass der Schädel des Menschen dünn sein musste, um ein angemessenes Gefäß für die Vernunft sein zu können. Dies hatte jedoch unvermeidlich zur Folge, dass er zerbrechlich und empfindlich ist (LS 54O, P). Manchmal greift Chrysippos auf das Argument zurück, dass sich selbst in den ordentlichsten Haushalten ein bestimmtes Maß an Dreck ansammelt (LS 54S). Welche Schmerzen und Unannehmlichkeiten wir auch erleiden mögen: Chrysippos behauptet, dass die Welt um des Menschen willen existiert. Die Götter schufen uns um unserer selbst willen und für einander, und die Tiere um unseretwegen. Pferde helfen uns im Krieg und Hunde bei der Jagd, während Bären und Löwen uns Gelegenheit geben, unseren Mut zu beweisen. Andere Tiere existieren als Nahrungsmittel für uns. Der Zweck des Schweins besteht darin, Fleisch für uns zu produzieren. Einige Tiere existieren einfach deshalb, damit wir ihre Schönheit bewundern können. Der Pfau wurde beispielsweise um seiner schönen Schwanzfedern willen geschaffen (LS 54O, P). Die göttliche Vorsehung besingt Kleanthes in seiner majestätischen Hymne an Zeus. „Heil dir, erhabenster Gott, Nichts vollzieht sich auf Erden ohne dein Eingreifen, weder am göttlichen Himmelsgewölbe noch in den Fluten, lediglich das, was die Bösewichter aus Torheit verüben. Du verstehst, das Übermäßige sinnvoll zu stutzen, gleichzeitig Wirres zu ordnen, und schenkst auch dem Unlieben Liebe. Derart verschmolzest du sämtliches Gute mit Bösem zu Einem, dass sich ein ewiger Sinn im All zu entwickeln vermochte.“ 10

Kleanthes spricht Zeus mit Worten an, die für einen frommen Juden oder einen Christen, der zu Gott dem Herrn betet, nicht unpassend wären, doch ist das zugrunde liegende stoische Gottesbild von demjenigen der monotheistischen Religionen sehr verschieden. Für die Stoiker ist Gott materiell und selbst Bestandteil des Kosmos, der ihn als „ordnendes Feuer“ von innen antreibt und strukturiert. Das Leben Gottes ist mit der Geschichte des sich entwickelnden Universums identisch. Die Lehre von Chrysippos wird von Cicero folgendermaßen beschrieben: „Er behauptet nämlich, die göttliche Kraft liege in der Vernunft und in der Seele und dem Geist der gesamten Natur, und erklärt weiter, die Welt selbst und die alles durchdringende Weltseele sei Gott, denn die Urkraft dieser Welt, die sich in Verstand und in

10 Zitiert nach: Dichtung der Antike von Homer bis Nonnos, Digitale Bibliothek, Band 30, übersetzt von D. Ebener (Berlin: Directmedia, 2000).

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Vernunft zeige, und die gemeinsame und alles umfassende Natur der Dinge, dann wieder die Macht des Fatums und die Notwendigkeit der Zukunft.“ (ND 1. 39) 11

Gott kann mit den Elementen Erde, Wasser, Luft und Feuer gleichgesetzt werden und in diesen Formen kann er mit den Namen der traditionellen Götter des Olymp bezeichnet werden. Als Erde ist er Demeter, als Wasser und Luft Poseidon, als Feuer oder Äther ist er Zeus, der auch mit dem ewigen Gesetz identisch ist, das der Leitfaden unseres Lebens und der Regent unserer Pflichten ist (ND 1. 40). Wie sie von Cicero beschrieben wird, ist Chrysippos’ Religion weder Monotheismus noch Polytheismus: Es ist ein polymorpher Pantheismus.

Über Weissagung und Astrologie Eine der Lehren der Stoiker, denen Cicero entschieden entgegentrat, war ihr Glaube an Weissagungen. Sein Dialog De Divinatione hat die Form eines Gesprächs zwischen seinem Bruder und ihm selbst, wobei Quintus Cicero die Weissagung verteidigt und behauptet, dass die Religion mit dem Glauben daran stehe oder falle, und Marcus Cicero diese Gleichsetzung bestreitet und die Weissagung als kindlichen Aberglauben verurteilt. Quintus übernimmt einen Teil seines Materials von Chrysippos, der zwei Bücher über Weissagung geschrieben und Listen wahrer Orakel und Träume zusammengestellt hatte (Cicero, D 1. 6). Marcus hingegen verdankt zahlreiche seiner Argumente dem akademischen Skeptiker Karneades. Weissagung – der Versuch, zukünftige Ereignisse vorherzusagen, die scheinbar zufällig sind – wurde in Rom in vielen Formen praktiziert: durch das Studium der Sterne, die Beobachtung des Flugs der Vögel, die Beschau der Eingeweide geopferter Tiere, die Deutung von Träumen und die Befragung von Orakeln. Nicht alle diese Formen der Weissagung erfreuen sich in der modernen Welt noch der Beliebtheit, doch sind Ciceros Betrachtungen über die Astrologie, bedauerlicherweise, noch immer relevant. Quintus listet zahlreiche Anekdoten bemerkenswerter Vorhersagen von Auguren, Wahrsagern und ähnlichen Personen auf, und behauptet, dass sie sich im Prinzip nicht anders verhalten als alle anderen Menschen, die das Wetter aufgrund des Verhaltens von Vögeln und Fröschen oder der Menge der Beeren an bestimmten Büschen vorhersagen. In beiden Fällen sind uns die Gründe, die das Zeichen und das Bezeichnete miteinander verbinden, unbekannt, doch wir wissen, dass eine solche Verbindung besteht, genauso wie wir wissen, dass es sich nicht um reinen Zufall handelt, wenn jemand beim Würfeln hundertmal nacheinander eine doppelte Sechs wirft. Nicht alle Vorhersagen von Wahrsagern gehen in Erfüllung, doch machen auch Ärzte 11 Zitiert nach Marcus Tullius Cicero, De natura deorum, Über das Wesen der Götter, übersetzt und herausgegeben von U. Blank-Sangmeister (Stuttgart: Reclam, 2011).

Über Weissagung und Astrologie

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Marcus Tullius Cicero als fleißiger Schuljunge in einem Fresko von V. Foppa.

von Zeit zu Zeit Fehler. Wir mögen zwar nicht verstehen, wie sie zu diesen Vorhersagen gelangen, doch verstehen wir die Wirkungsweise eines Magneten ebenso wenig (D 1. 86). Quintus bestätigt seine empirischen Beweise mit einem apriorischen Element, das er den Stoikern entlehnt. Wenn die Götter die Zukunft kennen und sie uns nicht mitteilen, dann lieben sie uns nicht, oder sie glauben, dass ein solches Wissen nutzlos ist, oder sie sind unfähig, mit uns zu kommunizieren. Doch jede dieser Annahmen ist absurd. Sie müssen die Zukunft kennen, denn die Zukunft ist das, was Sie selbst festlegen. Sie müssen uns daher die Zukunft wissen lassen und uns die Macht geben, diese Mitteilung zu verstehen: Diese Macht ist die Kunst der Weissagung (D 1. 82 f.). Der Glaube an Weissagung ist kein Aberglaube, sondern wissenschaftlich begründet, denn er geht Hand in Hand mit der Annahme einer einzigen einheitlichen Kette untereinander verbundener Ursachen. Diese Kette ist dasjenige, was die Stoiker als Schicksal bezeichnen (D 1. 125 f.). Marcus Cicero beginnt seine Antwort auf nüchterne Weise. Wenn man wissen will, welche Farbe ein Ding hat, sollte man jemanden fragen, der sehen kann, statt einen blinden Seher wie Teiresias. Wenn man krank ist, ruft man einen Arzt, keinen Weissager. Wenn man etwas über Kosmologie erfahren will, wendet man sich an

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einen Physiker, und wer ethischen Rat will, sucht einen Philosophen auf, keinen Wünschelrutengänger. Wer einen Wetterbericht wünscht, sollte statt eines Propheten einem Lotsen vertrauen. Ist ein Ereignis wirklich eine Sache des Zufalls, so kann es nicht vorhergesagt werden, denn in Fällen von Zufall existiert keine Entsprechung einer Ursachenkette, die es Astronomen ermöglicht, eine Sonnen- oder Mondfinsternis vorherzusagen (D 2. 15). Sind andererseits zukünftige Ereignisse vom Schicksal vorherbestimmt, so wird das Wissen um ein künftiges Unglück einem nicht helfen, es zu vermeiden, und die Götter sind freundlicher, indem sie uns solches Wissen vorenthalten. Julius Cäsar würde sich eines Blicks in die Zukunft, der ihm seinen erdolchten Leib, hingestreckt zu Füßen von Pompeius’ Statue, gezeigt hätte, kaum erfreut haben. Die uns von Wahrsagern angebotenen Vorhersagen widersprechen sich gegenseitig: Wie Cato sagte, ist es ein Wunder, dass zwei Wahrsager, die einander begegnen, überhaupt Ernst bleiben können (D 2. 52). Quintus’ Liste von Prophezeiungen setzt Marcus eine Sammlung von Fällen entgegen, in denen sich die Vorhersage von Wahrsagern als falsch oder unheilvoll erwiesen hat. So wurde beispielsweise Pompeius und Cäsar ein glückliches Lebensende vorhergesagt. Cicero behandelt Omen auf die gleiche Weise wie die Anhänger Humes später Wunder behandeln sollten. „Gegen sämtliche Omen lässt sich anführen, daß alles, was unmöglich geschehen konnte, tatsächlich niemals geschah, und wenn, was geschah, etwas Mögliches war, ist es kein Grund für ein Erstaunen.“ (D 2. 49) Bloße Seltenheit allein macht noch kein Omen aus: Ein weiser Mann ist schwerer zu finden als ein trächtiges Maultier. Cicero weist darauf hin, dass die besten Astronomen astrologische Vorhersagen vermeiden. Der Glaube, dass der Lebenslauf eines Menschen aus der Position der Sterne zum Zeitpunkt seiner Geburt vorhersagbar ist, ist schlimmer als Torheit: Es ist unglaublicher Wahnsinn. Zwillinge haben häufig verschiedene Lebensläufe und Schicksale. Die Beobachtungen, auf die sich Vorhersagen stützen, sind ziemlich wechselhaft: Astrologen haben keine wirkliche Vorstellung von den Abständen zwischen den Himmelskörpern. Der Auf- und Untergang von Sternen ist relativ zum Beobachter: Wie kann er sich also auf gleiche Weise auf all diejenigen auswirken, die zur gleichen Zeit geboren wurden? Die Vorfahren eines Menschen erlauben eine wesentlich bessere Vorhersage seines Charakters als irgendetwas in den Sternen. Wenn die Astrologie eine wohlbegründete Wissenschaft wäre, warum haben dann nicht alle Menschen, die im gleichen Moment wie Homer geboren wurden, eine Ilias geschrieben? Hatten alle Römer, die in der Schlacht bei Cannae gefallen sind, dasselbe Horoskop (Cicero, D 2. 94, 97)? Zum Schluss macht Cicero sich über die Vorstellung lustig, dass Träume die Zukunft vorhersagen können. Wir schlafen jede Nacht und haben fast in jeder Nacht einen Traum: Ist es daher so verwunderlich, dass Träume manchmal wahr werden? Es wäre töricht von den Göttern, Mitteilungen in Träumen zu schicken, selbst wenn sie Zeit hätten, nachts um unsere Betten zu huschen. Die meisten Träume stellen sich als

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falsch heraus, weshalb vernünftige Menschen ihnen keine Aufmerksamkeit schenken. Da wir über keinen Schlüssel zur Deutung von Träumen verfügen, wäre es für die Götter ebenso töricht, uns durch Träume etwas mitzuteilen, als hielte ein Botschafter in einem afrikanischen Dialekt eine Rede vor dem Senat. Mit erstaunlich geringer Beschämung gibt Cicero zu, dass er selbst als Augur aufgetreten ist – doch nur, sagt er, „aus Respekt vor der Meinung der Masse und im Dienste des Staates“. Er hätte die atheistischen Bischöfe im Frankreich der Aufklärung verstehen können. Doch er besteht abschließend darauf, dass er selbst kein Atheist sei. Es ist nicht der Respekt vor der Tradition, sondern die Ordnung des Himmels und die Schönheit des Universums, die ihn bekennen lassen, dass es ein höchstens ewiges Wesen gibt, zu dem die Menschen aufschauen und dass sie bewundern müssen. Der wahren Religion dient man jedoch am besten, indem man die Wurzeln des Aberglaubens ausreißt (Cicero, D 2. 149).

Die Trinität Plotins Die philosophische Theologie der Antike erreicht im System von Plotin ihren Höhepunkt. Es wird von Bertrand Russell auf folgende Weise zusammengefasst: „Die Metaphysik von Plotin beginnt mit einer heiligen Dreifaltigkeit: dem Einen, dem Geist und der Seele. Diese drei sind einander nicht ebenbürtig, wie die drei Personen der christlichen Trinität. Das Eine ist das höchste unter ihnen, dann kommt der Geist und zum Schluss die Seele.“ 12 Der Vergleich mit der christlichen Trinität ist unvermeidlich, und zweifellos hatte Plotin, der starb, bevor die Konzile von Nicäa und Konstantinopel eine definitive Aussage über die Beziehung zwischen den drei göttlichen Personen machten, einen Einfluss auf das Denken einiger Kirchenväter. Doch für ein Verständnis seines eigenen Denkens ist es lohnender, den Blick zurück zu werfen. Mit einigen Einschränkungen lässt sich behaupten, dass das Eine ein platonischer Gott, Intellekt (was eine passendere Übersetzung für nous ist als „Geist“) ein aristotelischer Gott, und Seele ein stoischer Gott ist. Das Eine ist ein Abkömmling des Einen im Dialog Parmenides und der Idee des Guten in der Politeia. Die Paradoxa des Parmenides werden als Vorahnungen einer letztlich unaussprechlichen Wirklichkeit angesehen, die, wie die Idee des Guten, „an Macht und Würde jenseits des Seins“ existiert. „Das Eine“, das sollte betont werden, ist für Platon und Plotin nicht ein Name für die erste in der Reihe der natürlichen Zahlen: Stattdessen bedeutet es dasjenige, was völlig einfach und ungeteilt ist, „aus einem Guss“ und vollkommen einzigartig (Enneade 6, 9. 1 und 6). Indem er sagt, dass das Eine und das Gute (Plotin verwendet beide Bezeichnungen, z. B. Enneade 6. 9. 3) jenseits des Seins ist, will er nicht behaupten, dass es nicht existiert: Es ist im Gegenteil das Wirklichste, was es gibt. Er will vielmehr sagen, dass keine Prädikate darauf 12 B. Russell, A History of Western Philosophy (London: Allen & Unwin, 1961), 292.

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angewendet werden können. Wir können nicht sagen, es sei dies oder das. Der Grund hierfür ist folgender: Wenn irgendein Prädikat darauf zuträfe, dann müsste es in ihm einen Unterschied geben, der demjenigen zwischen dem Subjekt und dem Prädikat eines wahren Satzes entspricht. Doch das würde die erhabene Einfachheit des Einen beeinträchtigen (Enneade 5. 3. 13). „[D]as Seiende hat gleichsam die Gestalt des Seienden, jenes aber ist ohne Gestalt, auch ohne intelligible Gestalt. Denn da die Natur des Einen die Erzeugerin aller Dinge ist, so ist sie nichts von allen. Es ist also weder etwas noch ein Quale noch Quantum noch Intellekt noch Seele; es bewegt sich auch weder noch steht es andererseits, ist nicht im Raum, nicht in der Zeit, sondern das an sich Einzigartige oder vielmehr Gestaltlose vor aller Form, vor aller Bewegung, vor der Ruhe; denn diese Dinge gehören zum Seienden, welche es selbst zu vielem machen.“ (Enneade 6. 9. 3. 38–45) 13

Wenn vom Einen keine Prädikate ausgesagt werden können, dann ist es nicht verwunderlich, dass wir uns in Widersprüche verwickeln, wenn wir dies zu tun versuchen. Das Sein ist für einen Platoniker das Reich desjenigen, was wir in Wahrheit erkennen können – im Gegensatz zum Werden, das lediglich Gegenstand bloßer Meinungen ist. Wenn jedoch das Eine jenseits des Seins ist, ist es auch jenseits des Wissens. „Unser Bewusstsein von ihm beruht nicht auf Wissenschaft oder Verstehen, wie dies bei erkennbaren Gegenständen der Fall ist, sondern auf einer Präsenz, die dem Wissen überlegen ist.“ Solch ein Bewusstsein entspricht einer mystischen Vision, die derjenigen eines Liebenden in der Gegenwart des Geliebten ähnlich ist (Enneade 6. 9. 4. 3 V.). Da das Eine unerkennbar ist, ist es auch unaussprechlich. Doch wie können wir dann davon reden, und wie kommt Plotin dazu, darüber zu schreiben? In Enneade 5, 3.14 stellt Plotin selbst diese Frage und gibt eine ziemlich verwirrende Antwort darauf. „Nun, wir reden wohl von demselben, aber es selbst sagen wir nicht aus, auch haben wir kein Erkennen und kein Denken desselben. Wie reden wir denn von ihm, wenn wir es selbst nicht haben? Nun, wenn wir es durch Erkenntnis nicht haben, so haben wir es doch nicht überhaupt nicht, sondern so haben wir es, dass wir von ihm reden, es selbst aber nicht aussagen.“ 14

Der Unterschied zwischen dem Reden von und dem Aussagen ist verwirrend. Könnte das, was Plotin hier über das Eine sagt, über ein völlig alltägliches Objekt, etwa einen

13 Zitiert nach der Übersetzung von H. F. Müller, Die Enneaden des Plotin (Berlin: Weidmannsche Buchhandlung, 1880). 14 Ebd.

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Kohlkopf, gesagt werden? Ich kann einen Kohlkopf nicht aussagen; ich kann lediglich über ihn reden. Was hier mit „aussagen“ gemeint ist, denke ich, ist so etwas wie „bei einem Namen nennen“ oder „Prädikate davon aussagen“. Dies kann ich im Fall eines Kohlkopfs, jedoch nicht des Einen tun. Hinzu kommt, dass das griechische Wort, das wir mit „von“ wiedergeben, auch „herum“ bedeuten kann. An anderer Stelle sagt Plotin, dass wir das Eine noch nicht einmal als „es“ bezeichnen oder davon sagen können, dass es „ist“. Wir müssen es von außen umkreisen (Enneade 6. 3. 9. 55). Jede Aussage über das Eine ist in Wirklichkeit eine Aussage über seine Geschöpfe. Wir sind uns unserer eigenen Gebrechlichkeit wohl bewusst: unseres Mangels an Selbstgenügsamkeit und unseres Abstands von der Vollkommenheit (Enneade 6. 9. 6. 15–35). Indem wir dies wissen, können wir das Eine auf die Weise erfassen, auf die man die Form eines fehlenden Puzzlestückes angeben kann, indem man die Form der angrenzenden Stücke kennt; oder, um eine Metapher zu verwenden, die derjenigen Plotins näher kommt: Wenn wir das Eine in Gedanken umkreisen, erfassen wir es als unsichtbares Gravitationszentrum. In einer äußerst bildhaften Sprache sagt Plotin: „Und wir sind immer um jenes, doch blicken wir nicht immer auf dasselbe, sondern wie ein singender Chor, obwohl um den Chorführer sich scharend, sich wohl nach außen schauend wendet, wenn er sich aber zum Chorführer hinwendet, schön singt und in Wahrheit um ihn ist: so sind auch wir immer um jenes und wenn nicht, dann werden wir uns gänzlich ablösen und nicht mehr [um es] sein; wir blicken nicht immer auf dasselbe, aber wenn wir auf es blicken, dann winkt uns das Ziel und die Ruhe und wir dissonieren nicht mit ihm, indem wir in Wahrheit einen gottbegeisterten Reigen um es herum aufführen.“ (Enneade 6.9.8.)15

Wir wenden uns vom Einen dem zweiten Element der Trinität Plotins zu: Intellekt (nous). Wie Aristoteles’ Gott ist Intellekt reine Aktivität und kann an nichts anderes außerhalb seiner selbst denken, da hierbei Möglichkeit ins Spiel käme. Doch ist seine Aktivität kein bloßes Denken des Denkens – ob dies nun Aristoteles’ Lehre war oder nicht: Sie ist das Denken sämtlicher platonischer Ideen (Enneade 5. 9. 6). Dies sind keine äußeren Entitäten. Wie es Aristoteles selbst als allgemeines Gesetz formuliert hatte: Die Wirklichkeit des Intellekts und die Wirklichkeit seines Objekts sind ein und dasselbe. Das Leben der Ideen ist demnach nichts anderes als die Aktivität des Intellekts. Der Intellekt ist das gedanklich erfassbare Universum, das nicht nur Ideen von Universalien, sondern auch von Einzeldingen enthält (Enneade 5. 9. 9; 5. 7). Trotz der Identität von Denker und Gedanke bedeutet die Vielfalt der Ideen, dass der Intellekt nicht die völlige Einfachheit besitzt, die zum Einen gehört. Tatsächlich ist es diese Komplexität des Intellekts, die Plotin davon überzeugt sein lässt, dass es etwas geben muss, was im Vergleich zu ihm ursprünglicher und höher ist. Denn er 15 Zitiert nach der Übersetzung von H. F. Müller, Die Enneaden des Plotin (Berlin: Weidmannsche Buchhandlung, 1880).

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war der Überzeugung, jede Art von Komplexität müsse letztlich von etwas Einfachem abhängen.16 Tatsächlich ist der intellektuelle Kosmos von grenzenlosem Reichtum. „[…] da dort keine Armut und kein Mangel herrscht, sondern alles von Leben erfüllt ist und gleichsam siedet. Es fließt aber alles so zu sagen aus einer Quelle, die nicht etwa wie ein Hauch oder ein Wärmestrom zu denken ist, sondern so wie wenn eine Qualität da ist, die alle Qualitäten in sich befasst und bewahrt: süße Wohlgerüche und zugleich die Qualitäten des Weines und aller Flüssigkeiten Kräfte, die Farben und alles, was der Tastsinn erkennt. Dazu mag auch gehören, was der Gehörsinn wahrnimmt, alle Melodien und jeder Rhythmus.“ (Enneade 6. 7. 12.) 17

Dies ist die Welt von Sein, Denken und Leben, und obwohl es die Welt des Intellekts ist, enthält sie auch Verlangen als eines ihrer wesentlichen Elemente. Ja, Denken ist selbst ein Verlangen, wie Schauen ein Verlangen nach Sehen ist (Enneade 5. 6. 5. 8– 10). Auch Erkenntnis ist Verlangen, aber ein gestilltes Verlangen, die Erfüllung einer Suche (Enneade 5. 3. 10. 49 f.). Im Intellekt ist Verlangen „stets verlangend und stets sein Verlangen erfüllend“ (Enneade 3. 8. 11. 23 f.). Welchen Ursprung hat Intellekt? Zweifellos leitet Intellekt sein Sein vom Einen ab: Weder ist das Eine zu neidisch, um sich zu vermehren, noch verliert es etwas, wenn es sich verschenkt. Doch darüber hinaus legt Plotins Text zwei ziemlich unterschiedliche Darstellungen nahe. An einigen Stellen sagt er, dass Intellekt vom Einen auf die gleiche Weise ausströmt, wie süße Gerüche von einem Parfüm, oder das Licht von der Sonne ausstrahlt. Christliche Leser wird dies an die Verkündung des Glaubensbekenntnisses von Nicäa erinnern, dass der Sohn Gottes Licht vom Licht ist (Enneade 4. 8. 6. 10). Doch an anderen Stellen spricht Plotin davon, dass der Intellekt „es wagt, vom Einen abzufallen“ (Enneade 6. 9. 5. 30). Dies lässt den Intellekt weniger wie das Wort der christlichen Trinität erscheinen und eher wie Miltons Luzifer. Aus dem Intellekt geht das dritte Element hervor: Seele. Auch in diesem Zusammenhang spricht Plotin von einer Revolte oder einem Abfall, einem arroganten Verlangen nach Unabhängigkeit, dass die Form einer Sehnsucht nach stofflichem Wechsel annahm (Enneade 5. 1. 1. 3–5). Die Erbsünde der Seele wird daher von A. H. Armstrong auf folgende Weise treffend beschrieben: „Es ist ein Verlangen nach einem Leben, das von demjenigen des Intellekts verschieden ist. Das Leben des Intellekts ist ein ewiges Leben der Ruhe, ein Leben des Denkens in ewigem, unmittelbarem und gleichzeitigem Besitz aller möglichen Objekte. Die einzige 16 Dominic O’Meara, dessen Plotinus: An Introduction to the Enneads (Oxford: Clarendon Press, 1993) ich viel verdanke, nennt dies das „Principle of Prior Simplicity“ (Prinzip der vorgängigen Einfachheit) (45). 17 Zitiert nach der Übersetzung von H. F. Müller, Die Enneaden des Plotin (Berlin: Weidmannsche Buchhandlung, 1880).

Die Trinität Plotins

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Möglichkeit anders zu sein, die der Seele bleibt, besteht also darin, aus dem ewigen Leben in ein Leben überzutreten, in welchem – statt dass alle Dinge gleichzeitig gegenwärtig sind – ein Ding auf ein anderes folgt, und worin es eine Abfolge gibt, eine ständige Reihe von Gedanken und Handlungen.“ 18

Diese kontinuierliche, ruhelose Abfolge ist die Zeit: Zeit ist das Leben der Seele in ihrem flüchtigen Übergang von einer Episode des Lebens zur nächsten (Enneade 3. 7. 11. 43–5). Seele ist das immanente, steuernde Element im Universum der Natur, genauso wie es Gott im stoischen System war, doch im Gegensatz zum stoischen Gott ist Seele unkörperlich. Intellekt war der Erzeuger des Universums, wie der Demiurg im Timaios, doch ist Seele die Bevollmächtigte des Intellekts bei der Steuerung dieser Entwicklung. Seele verbindet die intelligible Welt mit der Welt der Sinne, da sie ein inneres Element besitzt, das zum Intellekt hinaufschaut, und ein externes Element, das auf die Natur herabschaut (Enneade 3. 8. 3). Natur ist das immanente Prinzip der Entwicklung in der materiellen Welt: Die Seele, die dies anschaut, erblickt dort ihr eigenes Spiegelbild. Die physikalische Welt, die auf dem Webstuhl der Natur entsteht, ist etwas Wunderbares und Schönes, obwohl ihre Substanz etwas Traumartiges ist (Enneade 3. 8. 4). Plotins theologisches System ist zweifellos beeindruckend: Doch man darf sich fragen, welche Art von Argumenten er aufbieten kann, um uns von seiner Wahrheit zu überzeugen. Um dies zu verstehen, müssen wir das System von unten nach oben analysieren, statt von oben nach unten zu schauen. Wir müssen nicht mit dem Einen beginnen, sondern mit der Materie, der äußersten Grenze der Wirklichkeit. Plotin macht mit weithin akzeptierten platonischen und aristotelischen Prinzipien den Anfang. Er versteht Aristoteles so, als habe er argumentiert, das letzte Substrat aller Veränderung müsse etwas sein, das keine der Eigenschaften besitzt, die die veränderlichen Dinge haben, die wir sehen und mit denen wir umgehen. Doch eine Materie, die keinerlei materielle Eigenschaften besitzt, ist unbegreiflich. Wenn wir den aristotelischen Stoff aufgeben, so bleiben uns die aristotelischen Formen. Die wichtigsten dieser Formen waren Seelen, und es ist natürlich zu denken, dass es ebenso viele Seelen wie einzelne Menschen gibt. Doch an dieser Stelle beruft sich Plotin auf eine andere aristotelische These: das Prinzip, dass Formen durch Stoff individuiert werden. Wenn wir die Materie aufgeben, so müssen wir schlussfolgern, dass es nur eine einzige Seele gibt. Um zu beweisen, dass diese Seele dem Körper vorausgeht und von ihm unabhängig ist, verwendet Plotin in etwa dieselben Argumente wie Platon im Phaidon. Er dreht das Argument derer, die behaupten, die Seele sei vom Körper abhängig, da sie nichts anderes sei als eine Stimmung der Sehnen des Körpers, auf geschickte Weise

18 A. H. Armstrong (ed.), The Cambridge History of Later Greek and Early Medieval Philosophy (Cambridge: Cambridge University Press, 1970), 251.

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um. Wenn ein Musiker die Saiten einer Leier zupft, sagt er, sind es die Saiten, nicht die Melodie, auf die er einwirkt: Doch würden die Saiten nicht gezupft, wenn es die Melodie nicht erforderte. Wie kann eine unvergängliche Weltseele auf irgendeine Weise einzelnen vergänglichen Körpern gegenwärtig sein? Plotin, der mit dem Meer und der Seefahrt zusammenhängende Metaphern liebte, erklärte dies auf zwei unterschiedliche Weisen. Einmal verglich er die Weltseele mit einem Mann, der aufrecht im Meer steht, wobei sich die eine Hälfte seines Körpers im Wasser und die andere in der Luft befindet. Doch er glaubte, dass wir tatsächlich nicht fragen sollten, wie die Seele im Körper, sondern wie der Körper in der Seele sein kann. Der Körper schwebt in der Seele, wie ein Netz im Meer schwebt (Enneade 4. 3. 9. 36–42). Ohne uns auf eine Metapher zu stützen, können wir sagen, dass sich der Körper insofern in der Seele befindet, als er für seine Struktur und fortgesetzte Existenz von ihr abhängt. Das Regiment der Seele über die Welt ist weise und gut, doch ist die Weisheit, die sie bei der Regierung der Welt zum Einsatz bringt, der Welt nicht eigentümlich, sondern muss von außen kommen. Sie kann nicht aus der materiellen Welt kommen, da sie dasjenige ist, dem sie ihre Form verleiht. Sie muss von etwas kommen, das seiner Natur nach mit den Ideen verbunden ist, die die Modelle und Muster intellektueller Aktivität sind. Dies kann nur ein Weltgeist oder Intellekt sein. Den Argumenten, mit denen Plotin beweist, dass der Intellekt aufgrund der Dualität von Subjekt und Objekt und wegen der Vielfalt der Ideen nicht die letzte Wirklichkeit sein kann, sind wir bereits begegnet. Aber am Ende unserer Reise erreichen wir somit das Eine und einzige Eine. Plotins Theologie wurde, mit einigen Änderungen, gelehrt, bis die heidnische Philosophie des Abendlandes mit der Auflösung der Schule in Athen ihr Ende fand. Sein Einfluss lebte jedoch fort und tut dies – wenn auch uneingestanden – noch immer: und zwar durch die Ideen, die durch seine ersten christlichen Leser aufgenommen und weitergegeben wurden. Der wichtigste von ihnen war Augustinus, der als junger Mann Plotin in der Übersetzung von Marius Victorinus las. Diese Lektüre brachte ihn auf den Weg, der zu seiner Bekehrung zum Christentum führte, und auf vielen Seiten seiner Bekenntnisse (Confessiones) und seiner Schrift De Trinitate sind Nachklänge von Plotin zu hören. In den letzten Tagen seines Lebens, als die Vandalen Hippo belagerten, soll er sich mit einem Zitat aus den Enneaden getröstet haben: „[W]arum sollte er den Verlust von Herrschaften und die Zerstörung seiner Vaterstadt für etwas Großes halten? Wenn er es gar für ein großes Übel oder überhaupt nur für ein Übel hält, so würde er lächerlich sein mit seiner Lehre und nicht mehr tugendhaft, falls er Holz und Steine und, beim Zeus, den Tod von vergänglichen Dingen für etwas Großes hält.“ (Enneade 1. 4. 7. 24 f.). 19

19 A. H. Armstrong (ed.), The Cambridge History of Later Greek and Early Medieval Philosophy (Cambridge: Cambridge University Press, 1970), 251.

Zeittafel 585 v. Chr. 547 530 525 500 470

Thales sagt eine Sonnenfinsternis vorher Anaximander stirbt Pythagoras emigriert nach Italien Anaximenes stirbt Heraklit steht in der Lebensmitte Xenophanes stirbt Demokrit geboren 469 Sokrates geboren 450 Parmenides und Zenon besuchen Athen Empedokles steht in der Lebensmitte 444 Protagoras schreibt eine Verfassung 427 Platon geboren 399 Sokrates hingerichtet 387 Platon gründet seine Akademie 384 Aristoteles geboren 347 Platon stirbt 336 Alexander wird König von Makedonien 322 Aristoteles stirbt 313 Zenon von Kitium kommt nach Athen 306 Epikur gründet seinen Garten 273 Arkesilaos wird Leiter der Akademie 263 Kleanthes wird Leiter der Stoa 232 Chrysippos tritt die Nachfolge als Leiter der Stoa an 155 Karneades leitet die Akademie und besucht Rom 106 Cicero geboren 55 Lukrez’ De rerum natura 44 Attentat auf Julius Cäsar 30 Augustus wird römischer Kaiser 52 n. Chr. Paulus predigt in Athen 65 Selbsttötung Senecas 161 Marcus Aurelius wird römischer Kaiser 205 Plotin geboren 387 Taufe des Augustinus Viele dieser Daten, besonders in den früheren Jahrhunderten, beruhen auf Mutmaßungen und sind Schätzungen.

Siglen und Abkürzungen CHHPK. CHLGPA. DKH.

D.L.

Ep. Fr. KRSG.

LS.

S.E.

Algra, J. Barnes, J. Mansfeld, and M. Schofield (eds.), The Cambridge History of Hellenistic Philosophy (Cambridge: Cambridge University Press, 1999) H. Armstrong (ed.), The Cambridge History of Later Greek and Early Medieval Philosophy (Cambridge: Cambridge University Press, 1967) Diels and W. Kranz (eds.), Die Fragmente der Vorsokratiker, 6th edn., 3 vols. (Berlin: Weidmann, 1951); zitiert als DK, gefolgt von der Nummer des Kapitels, einem Buchstaben und der Nummer des Fragments (z. B. DK 8 B 115). Jedes Kapitel dieses Werkes ist in zwei Abschnitte unterteilt: A (der Hinweise bei antiken Autoren enthält) und B (der Fragmente enthält, die wortgetreu überliefert sind) Diogenes Laertius, Lives of the Philosophers, trans. R. D. Hicks, Loeb Classical Library, 2 vols. (Cambridge, Mass.: Harvard University Press, 1972); zitiert nach Buch und Absatz (z. B. 8. 8) Epistel Fragment S. Kirk, J. E. Raven, and M. Schofield (eds.), The Presocratic Philosophers, 2nd edn. (Cambridge: Cambridge University Press, 1983); zitiert als KRS, gefolgt von der Nummer des Fragments in der Reihenfolge, die sich durch die gesamte Ausgabe zieht (z. B. KRS 433) A. Long and D. N. Sedley (eds.), The Hellenistic Philosophers, 2 vols. (Cambridge: Cambridge University Press, 1987); zitiert als LS, gefolgt von der Kapitelnummer und dem Buchstaben, der dem einzelnen Text entspricht (z. B. LS 30F) Sextus Empiricus

Alexander von Aphrodisias De An. De Anima (Über die Seele) Fat. De Fato (Über das Schicksal) Aristoteles Die standardmäßige Zitierweise nennt das Buch und Kapitel des einzelnen Werkes, gefolgt von Seite, Spalte und Zeile der klassischen Ausgabe von Immanuel Bekker aus dem Jahr 1831 (z. B. Physik 3. 1. 200b32) APo. Posterior Analytics (Zweite Analytik) APr. Prior Analytics (Erste Analytik) Barnes The Complete Works of Aristotle, ed. J. Barnes, Oxford Translation (Princeton: Princeton University Press, 1984) Cael. De Caelo (Über den Himmel) Cat. Kategorien De An. De Anima (Über die Seele) EE Eudemische Ethik GA De generatione animalium (Über die Entstehung der Tiere) GC De generatione et corruptione (Über Entstehen und Vergehen) HA Historia animalium (Geschichte der Tiere) Int. de Interpretatione Metaph. Metaphysik

330

Siglen und Abkürzungen

Mete. MM MXG NE PA Ph. Po. Pol. Prob. Rh. SE Top.

Meteorologica Magna Moralia de Melisso, Xenophane, et Gorgia Nikomachische Ethik De partibus animalium (Über die Teile der Tiere) Physik Poetik Politik Problemata Rhetorik Peri ton sophistikon elenchon (Sophistische Widerlegungen) Topik

Augustinus LA

De libero arbitrio (Über den freien Willen)

Cicero Acad. D. Fat. Fin. Ir. ND OV. Tusc.

Academica (Abhandlung über die Erkenntnislehre der Akademiker) De divinatione (Über die Weissagung) De fato (Über das Schicksal) De finibus bonorum et malorum (Über das höchste Gut und das größte Übel) De ira (Über den Zorn) De natura deorum (Über die Natur der Götter) De officiis (Über die Pflichten) Tusculanae disputationes (Gespräche in Tusculum)

Epiktet Disc.

Unterredungen (Discourses)

Lukrez RN

De rerum natura (Über die Natur der Dinge)

Platon Es ist allgemein üblich, die Werke Platons mit dem Namen des Dialogs, gefolgt von Seite, Abschnitt und Zeile der Stephanus-Ausgabe von 1578 zu zitieren (z. B. Phaidon 64a5). Diese Nummerierung wird in allen Editionen und den meisten Übersetzungen der Werke Platons beibehalten. Apol. Apologie des Sokrates Kra. Kratylus Euthd. Euthydemus Euthphr. Euthyphron Grg. Gorgias Hp. Ma. Hippias Major Hp. Mi. Hippias Minor Kri. Kriton La. Laches Men. Menon Nom. Nomoi Phd. Phaidon Phdr. Phaedros Phlb. Philebos

Siglen und Abkürzungen

Prm. Prt. Pol. Smp. Sph. Tht. Ti.

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Parmenides Protagoras Politeia Symposium Sophistes Theaitetos Timaios

Plotin Plotin wird standardmäßig nach dem von seinem Schüler Porphyrios festgelegten Schema zitiert, der seine Schriften in Enneaden einteilte, d. h. in Gruppen von jeweils neun Schriften. Angegeben wird die Nummer der Enneade, gefolgt von der Nummer des Werkes, des Kapitels und der Zeile (z. B. Enneade 6, 1. 5. 27; oder einfach 6. 1. 5. 27) Sextus Empiricus (S.E.) Sextus Empiricus wird zitiert als S.E., gefolgt von einer Abkürzung des Werkes (z. B. S.E., M.) M. Pros mathematikous (Gegen die Dogmatiker) P. Pyrroneion hypotyposeon (Grundriß der phyrronischen Skepsis) Xenophon Mem.

Memorabilia (Erinnerungen an Sokrates)

Bibliografie Diese Bibliografie enthält weder sämtliche in den Fußnoten zitierten Werke, noch alle Werke, auf die während der Abfassung des Buches Bezug genommen wurde. Es handelt sich um eine Auswahl von Werken, die Leser, welche ihr Interesse an den antiken Philosophen und den von ihnen diskutierten Themen weiterverfolgen möchten, meines Erachtens hilfreich finden werden. Die Auswahl beschränkt sich hauptsächlich auf englische Werke, die in einer allgemein zugänglichen Sprache verfasst sind. Viele von ihnen enthalten selbst wesentlich umfangreichere Bibliografien.

Allgemeine Werke Brunschwig, J. and Lloyd, G. E. R., Greek Thought: A Guide to Classical Knowledge (Cambridge, Mass.: Harvard University Press, 2000). Frede, M., Essays in Ancient Philosophy (Oxford: Clarendon Press, 1987). Gottlieb, A., The Dream of Reason: A History of Western Philosophy from the Greeks to the Renaissance (London: Allen Lane, 2000). Irwin, T., Classical Philosophy, Oxford Readers (Oxford: Oxford University Press, 1999). Owen, G. E. L., Logic, Science, and Dialectic: Collected Papers in Greek Philosophy, ed. M. Nussbaum (London: Duckworth, 1986). Routledge History of Philosophy, i: From the Beginning to Plato, ed. C. C. W. Taylor; ii: From Aristotle to Augustine, ed. D. Furley (London: Routledge, 1997, 1999).

Vorsokratische Philosophen (Kapitel 1) Die deutsche Standardsammlung der Originaltexte der überlieferten Fragmente der vorsokratischen Philosophen ist diejenige von H. Diels und W. Kranz, Die Fragmente der Vorsokratiker, 6. Auflage, 3 Bände (Berlin: Weidmann, 1951). Unsere Hauptquelle für die Biografien der Vorsokratiker sowie vieler anderer antiker Philosophen ist die Schrift Vitae philosophorum von Diogenes Laertius. 1 Eine nützliche, wenn auch weniger vollständige Sammlung, die zusätzlich zu den Originaltexten englische Übersetzungen enthält, bietet: G. S. Kirk, J. E. Raven, and M. Schofield (eds.), The Presocratic Philosophers, 2nd edn. (Cambridge: Cambridge University Press, 1983). Eine hervorragende Sammlung, die nur die übersetzten Texte enthält, ist J. Barnes, Early Greek Philosophy (Harmondsworth: Penguin, 1987). Eine neuere Übersetzung ist R. Waterfield, The First Philosophers: The Presocratics and the Sophists, World’s Classics (Oxford: Oxford University Press, 2000). Barnes, J., The Presocratic Philosophers, revised edition (London: Routledge, 1982). Cornford, F. M., Plato and Parmenides (London: Kegan Paul, 1939). de Romilly, J., The Great Sophists in Periclean Athens (Oxford: Clarendon Press, 1992). Dodds, E. R. (ed.), Plato: Gorgias, text with introd. and comm.(Oxford: Clarendon Press, 1959).

1

Übersetzt von O. Apelt, H. G. Zekl und K. Reich, Diogenes Laertius, Leben und Meinungen berühmter Philosophen (Hamburg: Felix Meiner Verlag, 31998).

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Sokrates und Platon (Kapitel 1) Die Werke Platons sind in deutscher Übersetzung in mehreren Ausgaben deutscher Verlage erhältlich, z. B. von der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft und vom Rowohlt-Verlag. In der Philosophischen Bibliothek des Felix Meiner Verlages sowie in der Universal-Bibliothek des ReclamVerlages sind zahlreiche zweisprachige Ausgaben einzelner Dialoge erschienen. Die in diesem Buch angeführten Platon-Zitate entstammen der von G. Eigler herausgegebenen achtbändigen Ausgabe nach der Übersetzung von Friedrich Schleiermacher (Darmstadt: Wiss. Buchgesellschaft, 62011). Adam, J. (ed.), The Republic of Plato, 2 vols. (Cambridge: Cambridge University Press, 1902). Allen, R. E., Plato’s Euthyphro and the Earlier Theory of Forms (London: Routledge & Kegan Paul, 1970). – (ed.), Studies in Plato’s Metaphysics (London: Routledge & Kegan Paul, 1965). Annas, J., An Introduction to Plato’s Republic (Oxford: Oxford University Press, 1981). Blondell, R., The Play of Character in Plato’s Dialogues (Cambridge: Cambridge University Press, 2002). Brandwood, L., The Chronology of Plato’s Dialogues (Cambridge: Cambridge University Press, 1990). Brickhouse, T. C. and Smith, N. D., Socrates on Trial (Oxford: Oxford University Press, 1989). – Plato’s Socrates (New York: Oxford University Press, 1994). Dover, K. (ed.), Plato: Symposium (Cambridge: Cambridge University Press, 1980). Gosling, J. C. B., Plato (London: Routledge & Kegan Paul, 1973). Hackforth, Plato’s Examination of Pleasure (Cambridge: Cambridge University Press, 1945). Irwin, T., Plato’s Moral Theory: The Early and Middle Dialogues (Oxford: Clarendon Press, 1977). Kahn, C. H., Plato and the Socratic Dialogue (Cambridge: Cambridge University Press, 1996). Kraut, R. (ed.), The Cambridge Companion to Plato (Cambridge: Cambridge University Press, 1992). Ledger, G., Re-counting Plato: A Computer Analysis of Plato’s Style (Oxford: Clarendon Press, 1989). Meinwald, C. C., Plato’s Parmenides (New York: Oxford University Press, 1991). Morrow, G. R., Plato’s Epistles, a trans. with critical essays and notes, 2nd edn. (Indianapolis: Bobbs-Merill, 1962). Robinson, R., Plato’s Earlier Dialectic (Oxford: Clarendon Press, 1953).

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Aristoteles (Kapitel 2) Die Werke von Aristoteles sind in deutscher Übersetzung von mehreren deutschen Verlagen erhältlich, z. B. von der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft und vom Akademie Verlag. In der Philosophischen Bibliothek des Felix Meiner Verlages sowie in der Universal-Bibliothek des ReclamVerlages sind zweisprachige Ausgagen mehrerer seiner wichtigsten Schriften erschienen. Die in diesem Buch angeführten Zitate aus den Hauptschriften entstammen den folgenden Ausgaben: Metaphysik, übersetzt von H. Bonitz; herausgegeben von U. Wolf (Hamburg: Rowohlt Verlag, 62010); Physikvorlesung, übersetzt von H. Wagner, herausgegeben von H. Flashar (Darmstadt: Wiss. Buchgesellschaft, 1979); Erste Analytik, Zweite Analytik, übersetzt und herausgegeben von H. G. Zekl (Hamburg: Felix Meiner Verlag, 1998); Kategorien, übersetzt und herausgegeben von I. W. Rath (Stuttgart: Reclam, 1998); Politik, übersetzt und herausgegeben von O. Gigon (München: Deutscher Taschenbuchverlag, 1984); Rhetorik, übersetzt und herausgegeben von F. G. Krapinger (Stuttgart, Reclam, 1999); Poetik, übersetzt und eingeleitet von O. Gigon (Stuttgart: Reclam, 1961); Peri hermeneias, übersetzt und erläutert von H. Weidemann, herausgegeben von H. Flashar (Darmstadt: Wiss. Buchgesellschaft, 22002; Über Werden und Vergehen, übersetzt und mit einer Einleitung und Anmerkungen herausgegeben von T. Buchheim (Hamburg: Felix Meiner Verlag, 2011); De Anima, übersetzt und herausgegeben von G. Krapinger (Stuttgart: Reclam, 2011); Eudemische Ethik, übersetzt von F. Dirlmeier, herausgegeben von H. Flashar (Darmstadt: Wiss. Buchgesellschaft, 1962). Ackrill, J. L., Aristotle the Philosopher (Oxford: Oxford University Press, 1981). Anscombe, G. E. M. and Geach, P. T., Three Philosophers (Oxford: Blackwell, 1961). Bambrough, R. (ed.), New Essays on Plato and Aristotle (London: Routledge & Kegan Paul, 1965). Barnes, J. (ed.), The Cambridge Companion to Aristotle (Cambridge: Cambridge University Press, 1995). – Aristotle: A Very Short Introduction (Oxford: Oxford University Press, 2000). – Schofield, M., and Sorabji, R. (eds.), Articles on Aristotle, i: Science; ii: Ethics and Politics; iii: Metaphysics; iv: Psychology and Aesthetics (London: Duckworth, 1975). Broadie, S. and Rowe, C., Aristotle: Nicomachean Ethics, trans., introd., and comm. (Oxford: Oxford University Press, 2002). Irwin, T. H., Aristotle’s First Principles (Oxford: Oxford University Press, 1988). Jaeger, W., Aristotle: Fundamentals of the History of his Development, trans. R. Robinson, 2nd edn. (Oxford: Clarendon Press, 1948). Kenny, A., The Aristotelian Ethics (Oxford: Clarendon Press, 1978). – Aristotle on the Perfect Life (Oxford: Clarendon Press, 1992). Kraut, R., Aristotle: Political Philosophy (Oxford: Oxford University Press, 2002). Lear, J., Aristotle and Logical Theory (Cambridge: Cambridge University Press, 1980).

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Hellenistische Philosophie (Kapitel 2) Ein Großteil der Informationen über diese Philosophen verdanken wir späteren Autoren wie Cicero, Lukrez und Sextus Empiricus. Die Werke von Cicero, Lukrez und Sextus Empiricus sind in deutscher Übersetzung von mehreren deutschen Verlagen erhältlich. In der Philosophischen Bibliothek des Felix Meiner Verlages sowie in der Universal-Bibliothek des Reclam-Verlages sind zweisprachige Ausgaben einzelner Werke von Cicero und Lukrez erschienen. Die in diesem Buch angeführten Zitate aus den Schriften von Cicero, Lukrez und Sextus Empiricus entstammen folgenden Ausgaben: Cicero, Über das Fatum, übersetzt und herausgegeben von K. Bayer (München: Heimeran, 1963); De officiis, Vom plichtgemäßen Handeln, übersetzt, kommentiert und herausgegeben von H. Gunermann (Stuttgart: Reclam, 2007); Gespräche in Tusculum, eingeleitet und neu übertragen von K. Büchner (Zürich: Artemis, 1952), De natura deorum, Über das Wesen der Götter, übersetzt und herausgegeben von U. Blank-Sangmeister (Stuttgart 2011). Lukrez, De rerum natura, übersetzt von H. Diels (Düsseldorf: Artemis & Winkler, 1994). Sextus Empiricus, Gegen die Dogmatiker, Adversus mathematicos libri 7–11, übersetzt von H. Flückiger. Texte zur Philosophie, herausgegeben von K. Albert, (Sankt Augustin: Academia Verlag, 1998); Grundriß der pyrrhonischen Skepsis; eingeleitet und übersetzt von M. Hossenfelder (Frankfurt: Suhrkamp, 1985). Die klassische Ausgabe der erhaltenen Texte der Stoiker war lange Zeit J. von Arnim, Stoicorum Veterum Fragmenta, 3 Bände (Leipzig, 1903–5) (SVF). Sie wurde abgelöst von K.-H. Hülser, Die Fragmente zur Dialektik der Stoiker (Stuttgart: frommann-holzboog, 1987). Die wesentliche Sammlung für die epikureische Philosophie ist H. Usener, Epicurea (Leipzig: N.N., 1887). Algra, K., Barnes, J., Mansfeld, J., and Schofield, M., The Cambridge History of Hellenistic Philosophy (Cambridge: Cambridge University Press, 1999). Annas, J. E. and Barnes, J., The Modes of Scepticism: Ancient Texts and Modern Interpretations (Cambridge: Cambridge University Press, 1985). Asmis, E., Epicurus’ Scientific Method (Ithaca, NY: Cornell University Press, 1984). Barnes, J., Brunschwig, J., Burnyeat, M., and Schofield, M., Science and Speculation: Studies in Hellenistic Theory and Practice (Cambridge: Cambridge University Press, 1982). Burnyeat, M., The Sceptical Tradition (Berkeley: University of California Press, 1983). Furley, D. J., Two Studies in the Greek Atomists (Princeton: Princeton University Press, 1967). Long, A. A., Hellenistic Philosophy, 2nd edn. (Berkeley: University of California Press, 1986). Rist, J. M., Stoic Philosophy (Cambridge: Cambridge University Press, 1969). – Epicurus: An Introduction (Cambridge: Cambridge University Press, 1972). Sharples, R. W., Stoics, Epicureans and Sceptics (London: Routledge, 1994).

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Römische Philosophie Einzelne Werke von Epiktet und Marcus Aurelius sind z. B. vom Kröner Verlag und in der Universal-Bibliothek des Reclam-Verlages erhältlich. Die Enneaden Plotins sind in der Philosophischen Bibliothek des Felix Meiner Verlages erschienen. Die in diesem Buch angeführten Zitate aus den Schriften von Epiktet und Plotin entstammen folgenden Ausgaben: Epiktet, Handbüchlein der Moral und Unterredungen, herausgegeben von H. Schmidt (Stuttgart: Kröner, 1966); Plotin, Die Enneaden, übersetzt von H. F. Müller (Berlin: Weidmannsche Buchhandlung, 1880). Armstrong, A. H. (ed.), The Cambridge History of Later Greek and Early Medieval Philosophy (Cambridge: Cambridge University Press, 1970). Bailey, C., Titi Lucreti Cari de Rerum Natura Libri Sex, 3 vols. (Oxford: Oxford University Press, 1947). Barnes, J. and Griffin, M., Philosophia Togata, vols. i and ii (Oxford: Clarendon Press, 1989, 1997). Clark, G. and Rajak, T., Philosophy and Power in the Graeco-Roman World (Oxford: Oxford University Press, 2002). Dillon, J., The Middle Platonists (Ithaca: Cornell University Press, 1977). Dodds, E. R., Proclus: The Elements of Theology, ed., trans., and comm., 2nd edn. (Oxford: Clarendon Press, 1992). Griffin, M. T., Seneca, a Philosopher in Politics (Oxford: Oxford University Press, 1976). Lloyd, A. C., The Antomy of NeoPlatonism (Oxford: Clarendon Press, 1990). O’Brien, D., Plotinus on the Origin of Matter (Naples: Bibliopolis, 1991). O’Meara, D. J., Plotinus: An Introduction to the Enneads (Oxford: Clarendon Press, 1993). Rist, J., Plotinus: The Road to Reality (Cambridge, Cambridge University Press, 1967). Sedley, D., Lucretius and the Transformation of Greek Wisdom (Cambridge: Cambridge University Press, 1998). Stump, E. and Kretzmann, N., The Cambridge Companion to Augustine (Cambridge: Cambridge University Press, 2001).

Logik (Kapitel 3) Kneale, W. C. and Kneale, M., The Development of Logic (Oxford: Clarendon Press, 1962). ukasiewicz, J., Aristotle’s Syllogistic from the Standpoint of Modern Formal Logic, 2nd edn. (Oxford: Clarendon Press, 1957). Mates, B., Stoic Logic, 2nd edn. (Berkeley: University of California Press, 1961). Nuchelmans, G., Theories of the Proposition (Amsterdam: North-Holland, 1973). Patzig, G., Aristotle’s Theory of the Syllogism (Dordrecht: Reidel, 1968). Prior, A. N., Time and Modality (Oxford: Clarendon Press, 1957).

Erkenntnistheorie (Kapitel 4) Bostock, D., Plato’s Theaetetus (Oxford: Clarendon Press, 1988). Hankinson, R. J., The Sceptics (London: Routledge, 1994). McKirahan, R. D., Principles and Proofs: Aristotle’s Theory of Demonstrative Science (Princeton: Princeton University Press, 1992).

338

Bibliografie

Schofield, M., Burnyeat, M., and Barnes, J., Doubt and Dogmatism: Studies in Hellenistic Epistemology (Oxford: Clarendon Press, 1980). White, N. P., Plato on Knowledge and Reality (Indianapolis: Hackett, 1976).

Philosophie der Physik (Kapitel 5) Bobzien, S., Determinism and Freedom in Stoic Philosophy (Oxford: Clarendon Press, 1998). Hankinson, R. J., Cause and Explanation in Ancient Greek Thought (Oxford: Clarendon Press, 1998). Hoenen, P., Cosmologia (Rome: Pontifical Gregorian University, 1949). Sorabji, R., Necessity, Cause, and Blame (London: Duckworth, 1980). – Time, Creation and the Continuum (London: Duckworth, 1983). Waterlow, S., Nature, Change, and Agency in Aristotle’s Physics (Oxford: Clarendon Press, 1982).

Metaphysik (Kapitel 6) Barnes, J. and Mignucci, M. (eds.), Matter and Metaphysics (Naples: Bibliopolis, 1988). Fine, G., On Ideas: Aristotle’s Cricitism of Plato’s Theory of Forms (Oxford: Clarendon Press, 1993). Graham, D. W., Aristotle’s Two Systems (Oxford: Oxford University Press, 1987). Malcolm, J., Plato on the Self-Predication of Forms (Oxford: Clarendon Press, 1991). Scaltsas, T., Substances and Universals in Aristotle’s Metaphysics (Ithaca: Cornell University Press, 1994).

Philosophie des Geistes (Kapitel 7) Annas, J. E., Hellenistic Philosophy of Mind (Berkeley: University of California Press, 1992). Brunschwig, J. and Nussbaum, M. (eds.), Passions and Perceptions: Studies in Hellenistic Philosophy of Mind (Cambridge: Cambridge University Press, 1993). Hicks, R. D. (ed.), Aristotle: De Anima, with trans., introd., and comm. (Cambridge: Cambridge University Press, 1907). Nussbaum, M. C. (ed.), Aristotle: De Motu Animalium, with trans., introd., and essays (Princeton: Princeton University Press, 1978). – and Rorty, A. O. (eds.), Essays on Aristotle’s Philosophy of Mind (Oxford: Oxford University Press, 1992).

Ethik (Kapitel 8) Annas, J., Platonic Ethics Old and New (Ithaca: Cornell University Press, 1999). Broadie, S., Ethics with Aristotle (New York: Oxford University Press, 1991). Gosling, J. C. B. and Taylor, C. C. W., The Greeks on Pleasure (Oxford: Clarendon Press, 1982). Inwood, B., Ethics and Human Action in Early Stoicism (Oxford: Clarendon Press, 1985). Nussbaum, M. C., The Fragility of Goodness (Cambridge: Cambridge University Press, 1986). Price, A., Love and Friendship in Plato and Aristotle (Oxford: Clarendon Press, 1989). Schofield, M. and Striker, G., The Norms of Nature: Studies in Hellenistic Ethics (Cambridge: Cambridge University Press, 1986).

Bibliografie

Philosophie der Religion (Kapitel 9) Festugiere, A. J., Epicurus and his Gods (Oxford: Blackwell, 1955). Kenny, A., The Five Ways (London: Routledge, 1969). Kretzmann, N., The Metaphysics of Theism (Oxford: Oxford University Press, 1999).

339

Liste der Abbildungen S. 26 S. 29 S. 56 S. 65 S. 76 S. 83 S. 87

S. 100 S. 109

S. 113 S. 126 S. 136 S. 150 S. 163 S. 172 S. 181 S. 195 S. 217 S. 219 S. 229

Anaximander mit seiner Sonnenuhr, in einem römischen Mosaik Rheinisches Landesmuseum Trier Pythagoras empfiehlt eine vegetarische Lebensweise, nach Rubens The Royal Collection © 2003, ihre Majestät Königin Elizabeth II Sokrates und Platon. Porträt aus dem 13. Jahrhundert von Matthew Paris The Bodleian Library, Universität Oxford / Ms Ashmole 304 fol 31v Eine Herme von Sokrates, mit einem Zitat aus Platons Dialog Kriton © Soprintendenza Archeologica, Neapel Krates und Hipparchia in einem Fresko aus dem 4. Jahrhundert Archivi Alinari Die Lage der philosophischen Schulen von Athen Candace H Smith Titelblatt eines Manuskripts einer Übersetzung von Aristoteles’ Geschichte der Tiere aus dem 15. Jahrhundert © Biblioteca Apostolica Vaticana (Vat.Lat.2094) Aristoteles, geritten von seiner Frau Phyllis Französische Nationalbibliothek Eine venezianische Darstellung von König Ptolemäus und seiner Bibliothek in Alexandria © Biblioteca Nazionale Marciana, Venedig (cod.Gr.Z. 388 c. VI) Alexander steht Diogenes in der Sonne (Rom, Villa Albani) Archivi Alinari Die Feldzüge von Marcus Aurelius, dargestellt auf einer Säule in Rom Fototeca Unione, Amerikanische Akademie in Rom Kopf des Aristoteles, Lysippos zugeschrieben (4. Jahrhundert v. Chr.) Kunsthistorisches Museum, Wien Chrysippos, Statue im Louvre (3. Jahrhundert) Giraudon/Bridgeman Art Library Sokrates in einem Wandgemälde aus Ephesos Sonia Halliday Photographs Platons Höhle (Flämische Schule, 16. Jahrhundert) Giraudon/Bridgeman Art Library Der Anfang von Lukrez’ Buch De rerum natura in einer illuminierten Handschrift British Library (Add ms 11912 f 2) Alexander der Große und Aristoteles British Library Royal (ms 20Bxx f 77v) Parmenides und Heraklit Archivi Alinari Platon (Museum des Vatikans) Archivi Alinari Von Thomas von Aquin besiegter Platon (Caraffa Chapel, S. Maria sopra Minerva, Rom) Archivi Alinari

Liste der Abbildungen

S. 243

S. 247 S. 250 S. 258

S. 267

S. 271 S. 280

S. 292

S. 299 S. 311

S. 319

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Pythagoras berechnet die Größe von Herkules (aus einem Manuskript von Aulus Gellius, 15. Jahrhundert) © Biblioteca Ambrosiana, Mailand (cod. S/P 10/28, 90v) Der Tod des Sokrates, dargestellt durch Claude Dufresnoy (Uffizien) Archivi Alinari/Giraudon Platons Vision der Seele als Wagenlenker, in der Darstellung von Donatello Archivi Alinari/Giraudon Aristoteles unterrichtet Averroes, in der Darstellung eines Buchmalers aus dem 16. Jahrhundert Pierpont Morgan Library, New York (PML 21194) Der Heilige Augustinus in seinem Studierzimmer (Vittorio Carpaccio, S. Giorgio, Venedig) Archivi Alinari, Florenz Demokrit und Heraklit, nach Bramante Archivi Alinari Details eines Buchgemäldes von Petrus de Abano, Conciliator differentiarum philosophorum et medicorum (Venedig: Herbort, 1483), zugeschrieben dem Meister der Sieben Tugenden Koninklijke Bibliotheek, Den Haag (169 D 3, f, a2r) Zenon und Epikur (und ein Schwein), dargestellt auf einem Silberbecher aus Boscoreale, erstes Jahrhundert n. Chr. Lauros/Giraudon/Bridgeman Art Library Römische Statue im Louvre, traditionell als „Tod des Seneca“ bezeichnet Giraudon/Bridgeman Art Library Aristoteles’ Kosmologie, dargestellt von Giovanni di Paolo in seiner Illustration von Dantes Paradies British Library (Yates-Thompson ms 36 f 169r canto XXII) Marcus Tullius Cicero als Schuljunge, in einem Fresko von V. Foppa Treuhänder der Wallace Collection, London

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Register Aberglaube 112, 314, 318, 319, 321 Abweichung der Atome 111 Achilles 38 Adeimantos 64, 74, 275–276 adiaphora 294 Aenesidemus 189 Akademie 82–86, 116–117, 186–188 akrasia (Willensschwäche) 285 Akzidenz 232 Alexander der Große 90, 103, 106, 113, 195 Alexander von Aphrodisias 128, 207, 264 Alkibiades 53 Allgemeinsinn 255–256 alternative Möglichkeiten 150 Ambrosius, heiliger 130 Analyse und logos 169 Anatomie der Seele 249–252 Anaxagoras 43–45, 51, 53, 60, 84, 245, 278 Anaximander 25–27 Anaximenes 27 Andronikos von Rhodes 110 angeborene Begriffe 11 Anthropomorphismus 300 Anytus 52 apeiron 26 arete 177–178, 271–288 Argument –, faules 208 –, induktives 62 –, Master 151, 267 Aristophanes 48, 52–53 Aristoteles 9, 12, 14, 18, 21–23, 25, 27, 82–108, 128, 131–158, 174–179, 191–205, 228–230, 277–288, 306–312 –, De Anima 176, 253–259 –, De Generatione et Corruptione 104, 192– 193 –, De Interpretatione 131, 137–138 –, Der Staat der Athener 99 –, Erste Analytik (Analytica Priora) 84, 131– 136 –, Eudemische Ethik 96–99, 259, 278–288 –, Eudemus 82

–, –, –, –,

Historia animalium 86, 87 Kategorien 131, 138–141 Magna Moralia 96, 97 Metaphysik 9, 21, 22, 57, 86, 91, 174, 192, 202, 228–240, 310–312 –, Nikomachische Ethik 85, 96–99, 177–179, 257–259, 277–288 –, Organon 85, 146 –, Partibus animalium 86 –, Poetik 92–96 –, Politik 98–104 –, Physik 105, 191–205, 306–310 –, Problemata 105–106 –, Protreptikos 83–84 –, Rhetorik 90, 92 –, Sophistische Widerlegungen 131, 236 –, Topik 84, 131, 142 –, Zweite Analytik (Analytica Posteriora) 85, 131, 179 Arkesilaos 110, 116, 185–188 Arnold, Matthew 42, 124, 314 Askese 289 Aspasius 96, 128 Aspekte des Verbs 198 Assos 86 Astrologie 318–320 Atheismus 59, 305, 314 Athen 51–52, 83, 106, 110 Atomismus 45, 111, 117, 192–193 Augustinus, heiliger 16, 17, 119, 129–130, 211, 265–268, 326 Augustus 120 Ausdrücke (Elemente von Satzaussagen) 142– 143 siehe auch Begriffe Aussage (protasis) 132 Aussagen –, affirmative (behauptende) 132 –, allgemeine 132, 137, 138 –, Einzel- 138 –, notwendige 144–149 –, wahre und falsche 146–147 –, zufällige 144–148 Aussagenlogik 152 axioma 154–155

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Register

Begehrungsvermögen 249–251, 276–277 Begreifen 283 siehe auch Verstehen Begriffe (horoi) 132–133 siehe auch Ausdrücke Begriffe 182–184 Beweger –, ewiger 105 –, unbewegter 306–312 Bewegung 194–199 –, natürliche 104 –, und Zeit 199–202 –, Unmöglichkeit von 38 Bewegungsursachen, unendliche Reihe von 310 Bibliothek, Aristoteles’ 106 Bibliothek, Platos Forschungs- 108 Biologie 86–90 Bolt, Robert 35 Böse(n), Problem des 316 Bruno, Giordano 44 Callisthenes 103 Cantor, Georg 38 Cäsar, Julius 119–120 Case, Thomas 97 Cato der Zensor 116 Celsus 127 Chalcidius 81 Charaktere der Tragödie 94–95 Chor und Chorführer (als Metapher für das Eine und seine Geschöpfe) 323 Christentum 125–127 Chrysippos 115–116, 150, 156–158, 206–211, 265–266, 291–296, 315–318 Cicero 116–120, 262, 318–321 Clemens von Alexandria 127 Coleridge, S. T. 107 Dante 105, 311 Darwin, Charles 41 Definition 67–68, 232, 234–235 delphisches Orakel 60 Demetrios von Phaleron 108 Demiurg 55, 79 Demokratie 52, 76, 99, 101 Demokrit 45–47, 111, 159–161, 193, 245, 269–271 Demosthenes 85 Denken 257 siehe auch Gedachtwerden Denken Gottes 311–312 Descartes, R. 312 Determinismus 207–211

Diagramme 45 Dialektik 171–173, 223 Diodoros Cronos 114, 150–152 Diogenes Laertius 34, 65, 99, 108, 111, 114, 153 Diogenes von Oenoanda 291 Diogenes von Sinope 113 Dion 64 Dionysius II 64 Disziplin 91, 107 doxa (Meinung) 168, 170–171 siehe auch Meinung und Wissen Drama 93–96 dreiteilige Seele 173, 250–252 dritter Mensch/Mann 85, 221, 225 Dryden, John 117 Eco, Umberto 93 Ehe 24, 77–78 Ehebruch 269, 281–282 eidola 261 Eifer (to thymoeides) 257, 276 eindeutige Beschreibung eines Gegenstandes 169 Eine, das 222–224, 321–324 Einzelsatz 132 Einzigkeit, Prinzip der 69–70, 221, 224 Elemente 40–42, 80, 104 elenchus 55, 61, 272 Emotionen 92–93 Empedokles 39–43, 242 energeiai 198 Epiktet 123–125 Epikur 110–112, 117–119, 179–183, 209, 289– 291, 312–314 episteme 162–165, 177–179 Ereignisse 202 Erfahrungsmaterial 182 erfassende Vorstellung 184 Erfassung 183–185 ergon 177, 279, 282 Erinnerungen 177 erkenntnistheoretischer Trugschluss 190 Erscheinung und erfassende Vorstellung 183– 184 siehe auch Erscheinung und Wirklichkeit Erscheinung und Wirklichkeit 159 siehe auch Erscheinung und erfassende Vorstellung Erste Materie 26, 80, 205 Erste Philosophie 92, 239 Erziehung 75, 78 etruskische Folter 84

Register

Eudemos 97 Euklid 179 Evolution 41 Existenz 212, 214, 235–238 Fachkenntnis 273–274 siehe auch Kunstfertigkeit Fähigkeiten 273–274 Falschheit, Wesen der 226–227 Familie 99–100 Fatum 210 siehe auch Schicksal Feuer 33–34, 40 Fiktion 238 Fluss des Universums, ständiger 33 siehe auch Veränderungsfluss der Objekte Form (aristotelische) 234–235 Formursache 21–23 Fortschritt in der Philosophie 9–14 Fossilien 30–31 Frauen 75–76, 78, 94–95, 99–100, 106, 114 Frede, Michael 15 Frege, Gottlob 15–16, 71, 142, 179 freier Wille 127, 267 siehe auch Freiheit des Willens Freiheit der Indifferenz 14, 211 Freiheit der Spontaneität 14, 211 Freiheit des Willens 14, 211, 262, 316 siehe auch freier Wille Freiwilligkeit 263, 265, 266 Frömmigkeit 301–303 Galen 29, 125, 161, 264 Gartenwalze 206, 210 Gedachtwerden 214 siehe auch Denken Gedächtnis als Kriterium für personale Identität 242 Gegensätze 26–27, 34, 246 Gegenstände der Sinne 176 Gehilfen 74–75 Geist 44–45, 241–268 Gemeinschaft, Prinzip der 69, 221 Geminus 187 Genesis 22–23, 79 Geschichtsschreibung vs. Dichtung 95–96 Geschmackssinn 256, 286 Gesetz, göttliches 35 Gewaltenteilung 102 geworfenes Objekt 308 Giovanni di Paolo 311 Glaukon 64, 74, 275 Glück(s), Wesen des 270

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Glückseligkeit (eudaimonia) 81, 258, 266–277 gnome 170 Gorgias 50 Gott 54, 114, 115, 120–121, 300–326 Götter, homerische 80, 300–301 Grammatik 48 Größen 191–193 Gültigkeit 157 Handlung 94–95 Häresie 79 Harmonie, der Rhythmus des Universums ist 33 Hedonismus 289–291 Hegel 9, 32, 34 Helena von Troja 49 Heraklit 31–35, 167, 216–219, 228, 242 Hermias 86 Hippias 47 Hoden 88 höhere(n) Seinsweise, Prinzip der 69, 70–71, 221 Höhle 172 Homer 32, 75, 93, 300–301 Homonymie 142 Homosexualität 79 horme 188 Hypothesen 171–173 Idee des Guten 70–71 Idee des Schönen 170, 303 Ideen (platonische) 226–228, 324–326 Ideenlehre, Platos 22, 57, 63–73, 85–86, 170– 174, 218–228, 304 Identität des Nichtzuunterscheidenden 187 Illusion 174–177 siehe auch Täuschung Impuls(es), Begriff des 188 Individuation 234 inklusives „oder“ 155 Intellekt 258–259, 262, 264, 321, 323–325, 326 –, aktiver 128, 258 –, passiver 258 Intelligenz (deinotes) 284 Jaeger, Werner 97 Jagd 78 Jerome, heiliger 118 Jesus 120–121 Jetzt, das 200 Justin, der Märtyrer 126–127

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Register

Kalkül, hedonistisches 275–277 Kallikles 50 kanonion 179 Kant, Immanuel 136 Karneades 116–117, 120, 186–188, 209–210, 318 katalepsis 183 Kategorien 138–142, 191, 194, 202, 203, 213, 235 katharsis 94 katorthoma 295 kinetisches Vergnügen 290 Klassen 72, 226 Kleanthes 114–115, 121, 291, 315, 317 Kleopatra 110 Klugheit 177–178, 282, 283 siehe auch intellektuelle Tugend der Weisheit Kneale, Martha 149 Knoblauch 106 koine aisthesis 255 kommerzielle Aktivitäten 103 Kommunismus, Platos (der ideale Staat) 75– 76, 100 Kommunismus, Zenos 114 Kompass, Richtungen des 73 Kompatibilismus 265 konkret vs. abstrakt 232–235, 237 konkrete Universalien 72–73 Konsequenzialismus 282 Konstitution des Selbst 291 Kontemplation 98–99, 278, 288, 304, 311 Kontingenz 130–134 Kontinuum 191–194 Konversion 135 Kosmologie 79, 104–106 Krates 76, 113 Kreis 67–69 Kritias 64 Kunstfertigkeit 62 siehe auch Fachkenntnis Laune des Schicksals 49 Lehre vs. Vorschriften 298 Leidenschaften 122–123, 281, 295–296 lekton 153–154, 205 Leukipp 45 Lexikographie 48–49 lexis 152 Liebe 40–41, 42, 49, 244 Lippi, Filippino 229

Logik, Wissenschaft der 84, 131–158 logisches Quadrat 138 logos 33–34, 139, 152–153, 168–170 Lukrez 111, 117–119, 179–183, 209, 260–261, 313–314 Lust 112, 275–279, 285–291 Luzifer 324 Lykeion 28, 83, 90–92 Magnesia 77, 305 Manichäismus 129 Marcus Aurelius 123–125 Maß, rechtes 281–282 materiale Implikation 152 Materie, aristotelischer Begriff der 204–205 Mathematik 11–12, 22 siehe auch mathematisches Wissen mathematisches Wissen 171, 172 siehe auch Mathematik Mazedonien 82, 85 Meinung und Wissen 168–171 Melissos 37 Metaphysik 92, 212–240 Michelangelo 193 Missgunst 304 Mittelbegriff 133–134 Modalität 144–146 Möglichkeit (Potentialität) 104, 193–194, 197, 238, 256 Momente 200–201 Monarchie 76, 99–103 Monotheismus 300 Morgenstern 37 Morus, Thomas 35 Mythos 28, 75 Mytilene 86 Nachahmung 68–69 nächtlicher Rat 77 Namen 138–139, 141 Natur (physis) 105 siehe auch Natur Natur 114, 292 siehe auch Natur (physis) natürlicher Platz/Ort 87, 196 negative Aussage 132–135 Neid 79 Neleos von Skepsis 108 Newton, Isaak 196 Nichts, Ursprung aus dem 215 Nichtsein 36–37, 213–216, 226–227 Nikomachos 82 noesis noeseos 312

Register

Objekte unterschiedlicher Arten sinnlicher Wahrnehmung 255 Objekte/Gegenstände des Denkens (to phronoumena) 50, 79, 161–162 Ödipus 95 oikeiosis 293 Oligarchie 76, 99, 101 Ontologie 212–218 ontologisches Argument 236 Orest 182 organischer Körper, Seele als 254 Origenes 127 Ort und Raum 194–196 Pantheia 42 Pantheismus 318 Paradigmen 72 Parmenides 13, 36–38, 159, 212–218, 222, 226–227 Paulus 32, 114, 121 Peloponnesischer Krieg 51–52 per se vs. per accidens 225–226, 231–232 Perikles 43, 51 Peripatetiker 90 peripeteia 95 Philip II 85 Philon von Alexandria 121, 127 Philon von Larisa 119 Philon von Megara 114, 152–155 Philosophenkönige 77, 251, 277 philosophischer Kanon 12, 14 phronesis 177, 178, 274 Plasmaphysik 40 Platon 10, 12, 13, 18, 22, 24, 53–81, 218–228, 246–253, 275–277, 287 –, Apologie 53 –, Euthyphron 66, 302–303 –, Gorgias 63 –, Hippias Minor 62 –, Ion 61 –, Kriton 63–64 –, Laches 61 –, Menon 63 –, Nomoi 77–79, 304–306 –, Parmenides 71, 82, 220–227 –, Phaedros 249 –, Phaidon 44, 63–64, 82, 246–249 –, Philebos 277, 287 –, Politeia 61–62, 73–77, 93, 100, 170–174, 219–220, 224, 249–251, 272–273, 275–277, 301–303

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–, Protagoras 67 –, siebter Brief 66 –, Sophistes 50, 218, 226–228, 304 –, Symposion 218, 303–304 –, Theaitetos 165–170, 218, 252 –, Timaios 79–81, 251–252, 253, 304 –, Zweiter Alkibiades 303 Plotin 128–130, 264–265, 321–326 Plutarch 127–128 pneuma 115, 206 politische Philosophie 35 Posidonios 119, 185, 315 Prädikat 68–69, 139–140 Prädikation 134, 225–226, 230 siehe auch Satzaussage und Selbstprädikation Prädikatenlogik 158 Praktische Vernunft 283–285 Prämisse 132 praxis 178, 280 Privatbesitz 75, 77, 100 Prodikos 48 prohairesis 124, 263, 280 prolepsis 182, 183 Protagoras 47–48, 160–161, 166–167, 252 Ptolemäus II 108–109 Pyramiden, Bestimmung der Höhe von 23 Pyrrhon von Elis 116, 189 Pythagoras 22–23, 28–30, 241–244 Qualität 140–141, 159, 203 Quantität 140–141, 191, 192, 203 Quiddität 230–235 Quintessenz 105 Raphael 35, 217 Regenbogen 31 Reinheit, Prinzip der 69–70, 221 Religion 117, 301–305, 315, 321 Rhetorik 49 Rubens 29 Russell, Bertrand 38, 72, 321 Ryle, Gilbert 107 Sägemehl 192 Satzaussage 132–133 Schicksal 49, 112, 115, 207–211, 269, 319, 320 Schlussfiguren 134 Schlussfolgerung siehe auch Syllogismus –, fehlerhafte 57 –, Modi der 157

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Register

–, Regeln der 135–136 –, stoische Theorie der 157 Schmerz 38 Schopenhauer 236 Schöpfung 306 Seele 29–30, 34, 82, 84, 105, 111, 115, 118, 122, 125, 127, 168, 173, 234–235, 241–268, 270, 275–276, 279–280, 305–306, 321, 324–326 Seelenwanderung 29–30, 41, 241–244 Seeschlacht (Beispiel für Notwendigkeit in Aussagen im Futur) 147–149 Sein 219–240 Sein(ende) als Seiendes, das 92, 239 Seins-Geschlecht 236 Selbsterhaltung 291 Selbstprädikation 69–70, 71, 72, 221, 223, 225 siehe auch Prädikation Selbsttötung 298 Seneca 121–123, 205–206, 240, 299 Sextus Empiricus 153, 155–156, 180, 183, 189, 205 Sexualität 55, 75, 78–79, 118, 290–291 Sinne 112, 255–257 Sinnesdaten (sense data) 175 sinnliche Wahrnehmung 160, 166–167, 174– 183, 216, 224, 244–245, 252–253, 253–259, 260–262 Sizilien 64 Skeptizismus 116–117, 161, 186–190 Sklaverei 102 Sokrates 32, 44, 51–63, 272–275, 301–303 sokratischer Fehlschluss 165 Sonne 31, 32, 45, 53 Sonnenuhr 25 Sonnenwenden 24 sophia 178, 283 Sophisten 47–51 Spinne (als Vergleich für die Funktion der Seele im Körper) 244 Staat(es), Verfassung des 74–75, 99–104, 275– 276 Standardmeter 72 statisches Vergnügen 290 Stimmung 82, 248, 265, 325–326 stoa poikile 83, 114 Stoffursache 21–22 Stoiker 112–116, 150–158, 183–186, 187, 205–209, 240, 261–262, 291–299, 314–318 Streit (als Grundprinzip der Trennung der Elemente des Universums) 40–41

Substanz 139–140, 203–204, 229–235 siehe auch Wesen –, erste im Gegensatz zur zweiten 140, 231, 234, 238 Syllogismus siehe auch Schlussfolgerung –, Modi des 134–135 –, Oberbegriff des 133 Syllogistik (Lehre vom logischen Schließen) 131–137 –, modale 149 Synonymie 141 Täuschung 189–190 siehe auch Illusion techne 62, 177, 282 Teilhabe 68–72, 221, 225–226 Teleologie 41, 45 teleologisches Argument 315 Thales, 22–25, 269 Theologie 12, 300–326 Theophrast 106–108 Therapie, Philosophie als 13 Thomas von Aquin, heiliger 12, 16, 229 Thompson, D’Arcy 88 Thrasymachos 50, 172–173, 272 Timon 116 Tod 82, 111–112, 118, 124, 260–261 Töne(n), Beziehung von Zahlenverhältnissen und 22, 28 Tragödie 94–95 Träume 166, 320–321 Trinität, Plotins 321–326 Tugend 60, 61, 62–63, 75–76, 98, 115–116, 177–178, 271–285, 287, 294–302 –, intellektuelle 282–285 Tugenden –, Einheit der 274, 297 –, moralische 280–282 Tyrannis 101 Umfang (als Begriff der Logik) 155 unendliche Teilbarkeit 192–194 Universum(s), Ausdehnung des 44 Universum als wohlgerundete Kugel 216 Unmäßigkeit 285 Unsterblichkeit 246–249, 264–265 Unterbegriff 133–134 Untrüglichkeit der Sinne 175–177, 179–182 Urbild 67–68, 79–80 siehe auch Ideen (platonische) Ursachen 21–23, 92, 104, 202–209, 239 Utilitarismus 282

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Vakuum 38, 46, 196 Vegetarismus 29, 242, 282, 289 vegetative Seele 255 Veränderung 238 Veränderungsfluss der Objekte 219 Verben 139, 142, 198, 227 Verehrung, der Götter 49, 79 Vermögen (dynameis) 170 Vermutungen 182 Verschiedenheit, Prinzip der 69–71, 221 Verstand (to logistikon) 249 Verstehen 11, 98, 171, 178 siehe auch Begreifen Vorschriften vs. Lehrsätze 123 Vorsehung, göttliche 115, 315–317

Wirklichkeit (Aktualität) und Möglichkeit 104, 150–151, 197, 238–239, 256, 258–259, 279 Wirkung 202 Wirkursache 21–22, 202 Wissen 159–188 Wissenschaft 10–14, 89–90, 107–108, 177, 178–179 Wissenschaften, hervorbringende, handelnde, betrachtende 91–92 Wittgenstein, Ludwig 10, 17, 165 Wordsworth, W. 211 Wucher 103 Wut 92–93 siehe auch Zorn

Wächter 74–75 Wagenlenker 249–250 Wahnsinn und erfassende Vorstellung 184– 185 Wahrheitsbedingungen 156 wahrheitsfunktionale Operatoren 155 Wahrheitswerte 144, 148, 150–156 wahrnehmende Seele 255 Wandlung 203 Weisheit, intellektuelle Tugend der 98, 282, 283 siehe auch Klugheit Weissagung 318–321 Welten, Vielzahl von/unzählige 44, 46 Weltseele 80, 122, 265, 317, 326, Wesen 139–140, 230–235 siehe auch Substanz Widersprüche 137, 155 Wiedererinnerung 174, 247 Wiedergeburt 42 Wille 262–268 Willensschwäche 285, 295

Xanthippe 53 Xenophanes 30–31, 36, 39, 300–301 Xenophon 53–55 Zeit 192, 193, 199–202 Zeitformen und Aussage 144, 146–149, 197– 198 Zenon von Elea 38 Zenon von Kitium 110, 112–115, 184, 186, 187, 188, 206, 292, 315–316 Zeus 34, 42, 52, 290, 294, 300, 317, 318 Zikadengezirpe 228 Zoologie 29, 86 Zorn 93, 122–123, 249–250 siehe auch Wut Zustimmung 210, 296 Zwang 265 Zweckursache 21–23 Zwillinge der sinnlichen Wahrnehmung 166, 252