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German Pages 260 [246] Year 2023
Lars Jaeger
Geniale Frauen in der Wissenschaft Versteckte Beiträge, die die Welt verändert haben
Geniale Frauen in der Wissenschaft
Lars Jaeger
Geniale Frauen in der Wissenschaft Versteckte Beiträge, die die Welt verändert haben
Lars Jaeger Baar, Zug, Schweiz
ISBN 978-3-662-66527-5 ISBN 978-3-662-66528-2 (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-662-66528-2 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Covermotiv: © Photos.com/Getty Images, Umschlaggestaltung: deblik Berlin. Planung/Lektorat: Caroline Strunz Springer ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer-Verlag GmbH, DE und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Heidelberger Platz 3, 14197 Berlin, Germany
Gewidmet meiner Tochter Kira Anh Jaeger
Geleitwort von Professorin für theoretische Physik – Karen Hallberg
Dies ist eines der reichhaltigsten Bücher über die Geschichte der Frauen in der Wissenschaft, die ich je gelesen habe. In einem Zeitrahmen von fast 17 Jahrhunderten, vom Jahr 355 bis in die heutige Zeit, beschreibt Lars Jaeger eloquent die Kämpfe von 18 brillanten Wissenschaftlerinnen in den Bereichen Philosophie, Physik, Medizin, Mathematik, Astronomie, Astrophysik, Informatik, Chemie und Primatologie. In diesem Buch können wir lesen, wie Hypathia von Alexandria im frühen 5. Jahrhundert von der Ellipse fasziniert war und sie zur Erklärung der Planetenbahnen in einem heliozentrischen Weltbild anwandte (acht Jahrhunderte vor Kepler!) und wie ihr undogmatisches, kritisches Denken zu einem gewaltsamen Ausgang führte, der den Wendepunkt zu einer christlich-dogmatischen, bildungs- und wissenschaftsfeindlichen Ära markierte, die über ein Jahrtausend andauerte. Ein großer Zeitsprung führt uns zur mittelalterlichen Arbeit von Hildegard von Bingen und ihren Aufzeichnungen über beobachtende Medizin, menschliche Physiologie, weibliche Sexualität und die Heilkraft von Pflanzen, Kräutern und Mineralien. Obwohl ihre Studien auf einem tiefen religiösen Glauben beruhten, trugen sie dazu bei, die Grundlagen der wissenschaftlichen Methode zu schaffen, die 600 Jahre später von Newton mit den Gesetzen der Mechanik eingeführt wurde. Zu diesem Zeitpunkt gab Émilie du Châtelet der frühen Aufklärung einen wichtigen Impuls, indem sie die mathematische Struktur von Newtons Principia änderte und sie aus dem Lateinischen ins Französische übersetzte, wodurch sie für ein breiteres Publikum in Europa verständlich wurde. Wir können hier nachlesen, wie sie sich mit starker Entschlossenheit und Selbstbewusstsein durchsetzte, um ihre Papiere bei der Académie VII
VIII Geleitwort von Professorin für theoretische Physik – Karen Hallberg
des sciences in Paris einzureichen, und wie ihre Schlussfolgerungen über die Natur des Lichts ebenfalls 170 Jahre ihrer Zeit voraus waren. Im späten 18. Jahrhundert setzte sich die Aufklärung in Italien durch, vor allem dank der wissenschaftlichen Arbeiten der Physikerin Laura Bassi über Elektrizität und Magnetismus, die als erste Frau in die Akademie der Wissenschaften von Bologna (oder in eine andere Akademie oder Universität) gewählt wurde, obwohl sie keine wissenschaftliche Ausbildung an einer öffentlichen Universität erhalten hatte. Wie andere interessierte und begabte Frauen musste sich auch Sophie Germain um eine angemessene wissenschaftliche (in ihrem Fall mathematische) Ausbildung bemühen und profitierte dabei auch von der Unterstützung ihrer Familie. Lars Jaeger führt uns durch ihr herausragendes wissenschaftliches Leben und beschreibt, wie sie sich auch hinter einer männlichen Identität verstecken musste, um sich durchzusetzen. Sophie Germain ist also ein Beispiel für eine relegierte Wissenschaftlerin, der die Menschheit die gebührende Anerkennung schuldet: Trotz ihrer Durchbrüche in der Mathematik erscheint ihr Name nicht auf einer Liste herausragender Wissenschaftler und Ingenieure des 18. und 19. Jahrhunderts an prominenter Stelle in Paris. Und wie Sie vielleicht schon vermutet haben, ist keine andere Frau in dieser Liste enthalten. Das vorliegende Buch befasst sich mit dem Leben, den Errungenschaften und den Kämpfen anderer prominenter Wissenschaftler wie Caroline Herschel, Astronomin, eine der wenigen Wissenschaftlerinnen des 19. Jahrhunderts, deren Arbeit schon zu Lebzeiten gewürdigt wurde, und die erste, die ein Gehalt für ihre Arbeit erhielt; Ada Lovelace, die Pionierin der modernen Informatik, die als „erste Computerprogrammiererin der Geschichte“ oder „Erfinderin der Software“ bezeichnet wird und deren Ideen und Konzepte den modernen Entwicklungen in der Informatik um mindestens ein Jahrhundert vorausgingen; die russische Mathematikerin Sofja Kovalevskaja, die als erste Mathematikprofessorin unabhängig lehrte (an der Schwedischen Universität in Stockholm) und als wichtigste russische Mathematikerin des 19. Jahrhunderts angesehen wird. Marie Skłodowska Curie ist natürlich die große und berühmteste Physikerin, die ich mir während meiner eigenen Karriere zum Vorbild genommen habe. Sie durfte ihre revolutionären Forschungen zur Radioaktivität 1898 in der Académie des sciences in Paris nicht vorstellen, sondern musste sie von ihrem Doktorvater vortragen lassen, weil Frauen nicht Mitglied der Akademie sein durften. Dennoch wurde sie im Jahr 1900 als erstes weibliches Fakultätsmitglied an die École normale supérieure berufen. Ihr Leben und ihre Kämpfe werden in diesem Buch in hervorragender Weise beleuchtet. Lise Meitner hingegen fand keine angemessene Anerkennung
Geleitwort von Professorin für theoretische Physik – Karen Hallberg IX
in der Öffentlichkeit, obwohl sie in enger Zusammenarbeit mit Otto Hahn die Kernspaltung entdeckte und damit den Weg zur Kernenergie ebnete. Es ist kaum zu glauben, dass ihr vor weniger als einem Jahrhundert so harte Bedingungen für ihre Forschung auferlegt wurden, weil sie eine Frau war, und dass sie trotzdem so wichtige Entdeckungen machte! Emmy Noether war eine deutsche Mathematikerin des frühen 20. Jahrhunderts, die eine schöne und starke Verbindung zwischen den Symmetrien der mathematischen Grundgleichungen der Physik und den Erhaltungsgesetzen der Natur fand. Auch sie hatte mit starken Hindernissen zu kämpfen, um ihre Karriere zu verwirklichen. Wie schwer muss es 1915 gewesen sein, wenn in den Fakultätsprotokollen der Universität Göttingen (bezüglich ihrer Habilitation) „Sind wir doch der Meinung, daß ein weiblicher Kopf nur ganz ausnahmsweise in der Mathematik schöpferisch sein kann“ zu lesen war? Ich muss gestehen, dass ich, als ich während meines Bachelorstudiums der Physik das Noether-Theorem lernte, erst einige Jahre später wusste, dass sie eine Frau war! Und ihr Ruhm als „Mutter der modernen Algebra“ ist wohlverdient. Allerdings erhielt sie nie eine reguläre Professur an einer Universität. Bereits im 20. Jahrhundert beschreibt Jaeger das Leben herausragender Wissenschaftlerinnen, wobei wir einige schüchterne und völlig unzureichende Verbesserungen bei der Anerkennung von Frauen feststellen können. Die deutsche Mathematikerin Grete Hermann zum Beispiel fand in den 1930er-Jahren unter Berufung auf ihre tiefe philosophische Einsicht ein grundlegendes Versagen bei der Interpretation der grundlegenden Quantenphysik. Diese und weitere Entwicklungen wurden mehrere Jahrzehnte später von John Clauser, Alain Aspect und Anton Zeilinger nachgewiesen, die dafür erst kürzlich mit dem Nobelpreis für Physik 2022 ausgezeichnet wurden. Die folgenden Kapitel befassen sich mit dem außergewöhnlichen Leben anderer Wissenschaftlerinnen, die bereits zur zeitgenössischen Wissenschaft gehören. Eine davon ist die chinesische Physikerin ChienShiung Wu, die als Migrantin in den USA auch wegen ihrer anderen Kultur diskriminiert wurde. Ihre Beteiligung am Manhattan-Projekt wird ausführlich beschrieben, ebenso wie ihre wichtigen Entdeckungen in der Kern- und Teilchenphysik, aber auch sie wurde, wie andere außergewöhnliche Physikerinnen, vom Nobelpreis ausgeschlossen. Rosalind Franklin ist bereits dafür bekannt, dass auch sie bei der Vergabe des Nobelpreises nicht berücksichtigt wurde, obwohl ihre grundlegende Rolle bei der Entdeckung der Struktur der DNA gut dokumentiert ist. Die Einzelheiten dieses unfairen Verfahrens und wie ihre Entdeckungen unterschätzt wurden,
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werden in diesem Buch gut beschrieben. Sehr gut gefallen haben mir die Ausführungen über die Leistungen der britischen Primatenforscherin Jane Goodall, die für die jüngere Generation ein Vorbild in Sachen Umweltschutz und -pflege ist und die mit Leidenschaft mehrere Schwierigkeiten überwunden hat. Es ist interessant, das Leben der zeitgenössischen Astrophysikerin Jocelyn Bell Burnell, der Entdeckerin von Radiopulsaren, mit dem von Caroline Herschel zu vergleichen, um eine Vorstellung davon zu bekommen, wie sich die Bedingungen für Frauen in der Wissenschaft nach mehr als zwei Jahrhunderten verändert haben. Ich überlasse diese Aufgabe dem Leser, aber man kann sehen, dass die höchste Auszeichnung wieder einmal einer Wissenschaftlerin vorenthalten wurde, die sie durchaus verdient hätte. Allerdings erhielt Jocelyn Bell-Burnell später andere wichtige Auszeichnungen für ihre außergewöhnlichen Entdeckungen. Das Buch endet mit einer angemessenen Würdigung zweier weiterer herausragender Wissenschaftlerinnen: Lisa Randall, der ersten Frau, die auf den Lehrstuhl für theoretische Physik in Princeton berufen wurde (erst 1998!) und die wichtige Beiträge zum Verständnis der kosmologischen Inflation, der Dunklen Materie und der Stringtheorie geleistet hat, sowie Maryam Mirzakhani, einer brillanten iranischen Mathematikerin, die 2014 als erste Frau mit der Fields-Medaille, der höchsten Auszeichnung in der Mathematik, ausgezeichnet wurde für ihre Arbeit über komplexe Geometrie in abstrakten Räumen. Sie sagte einmal, dass es nach wie vor Hindernisse für Mädchen gibt, die sich für Mathematik interessieren, und dass die Vereinbarkeit von Beruf und Familie immer noch eine große Herausforderung ist. Maryam Mirzakhani hatte recht: Obwohl sich die Bedingungen verbessert haben und mehr Frauen eine wissenschaftliche Laufbahn einschlagen, ist die Situation noch lange nicht ideal. In diesem Buch führt uns Lars Jaeger durch die Geschichte der Wissenschaft und konzentriert sich dabei auf das Leben von 18 außergewöhnlichen Frauen, die zu viele Schwierigkeiten, Zumutungen und Diskriminierungen überwinden mussten. Diese Frauen waren stark, und sie haben gekämpft. Ich frage mich, wie viele Frauen zurückgeblieben sind. Möge dieses Buch als Inspiration für künftige Generationen dienen. Prof. Dr. Karen Hallberg
Inhaltsverzeichnis
1
Hypatia von Alexandria (ca. 355–415 oder 416) 1
2
Hildegard von Bingen (ca. 1098–1179) 15
3
Laura Bassi (1711–1778) 29
4
Émilie du Châtelet (1706–1749) 41
5
Sophie Germain (1776–1831) 55
6
Caroline Herschel (1750–1848) 67
7
Ada Lovelace (1815–1852) 79
8
Sofja Kowalewskaja (1850–1891) 93
9
Marie Curie (1867–1934) 107
10 Lise Meitner (1878–1968) 121 11 Emmy Noether (1882–1935) 135 12 Grete Hermann (1901–1984) 147 13 Chien-Shiung Wu (1912–1997) 161 14 Rosalind Franklin (1920–1958) 173 15 Jane Goodall (*1934) 187 16 Jocelyn Bell Burnell (*1943) 201 17 Lisa Randall (*1962) 215 XI
XII Inhaltsverzeichnis
18 Maryam Mirzakhani (1977–2017) 227 Epilog 239 Literatur 243
1 Hypatia von Alexandria (ca. 355–415 oder 416) Ikone der spätantiken Mathematik
Über viele Jahrhunderte war das nordägyptische Alexandria die Stadt des Wissens. Ihre Gründung durch Alexander den Großen 332 v. Chr. fiel in eine Zeit, in der Platon und Aristoteles ihre Athener Denkschulen ins Leben riefen und intellektuelle Vielfalt und diskursfreudige Wissenschaft die Menschen begeisterten. Bald leistete sich die durch Handel reich gewordene Stadt die bedeutendste Büchersammlung der antiken Welt. Der griechische Geschichtsschreiber Strabon berichtet, dass Aristoteles persönlich an der Planung der Bibliothek beteiligt war und bestimmte, auf welche Weise das Wissen in ihr geordnet sein sollte. Innerhalb weniger Jahrzehnte kamen 400.000 bis 500.000 Papyrusrollen zusammen, einige Quellen sprechen sogar von 700.000 oder noch mehr Manuskripten. Die Bibliothek wurde zum Treffpunkt für Gelehrte aus allen Teilen der damals bekannten Welt. Viele der bis heute unvergessen Gelehrten der Antike wirkten zumindest zeitweise in Alexandria, darunter der Arzt Herophilos von Chalkedon, der Ingenieur und Mathematiker Heron von Alexandria sowie der Astronom Aristarchos von Samos. Die beiden bedeutendsten Mathematiker der Antike sind ebenfalls untrennbar mit dieser Stadt verbunden: Archimedes von Syrakus und der Alexandriner Euklid. Auch nach der Eroberung Alexandrias durch die Römer 30 v. Chr. wirkte die Stadt wie ein Magnet auf Mediziner, Philosophen, Philologen, Mathematiker, Geografen und Astronomen. Historiker sprechen für den Zeitraum zwischen etwa 300 v. Chr. bis 300 n. Chr. nicht von der hellenistischen oder römischen, sondern von der alexandrinischen Wissen-
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schaft, denn hier im Norden Afrikas – nicht in Athen oder Rom – kam das wissenschaftliche Denken zu einer ersten Blüte. Doch ab etwa 300 n. Chr. begann der Niedergang der alexandrinischen Kultur. Die Bibliothek schrumpfte bis zur Bedeutungslosigkeit, innerhalb weniger Jahrzehnte ging ein Großteil des antiken Wissens unwiederbringlich verloren. Um 400 n. Chr. war der Traum vom undogmatischen Streben nach Erkenntnis ausgeträumt. Wie hatte es so weit kommen können? Die hellenistische Denktradition, die sich durch Neugier und Toleranz auszeichnete, hatte nahezu unbeschadet die Integration in die Kultur der römischen Eroberer überstanden. Doch nun nahm eine neue spirituelle Ausrichtung ihren Platz ein: das Christentum. Es richtete seinen Fokus mehr auf das Jenseits als auf das Diesseits, das Interesse an einem wissenschaftlichen Verständnis der Welt verschwand. Das vom römischen Kaiser Konstantin I. einberufene Konzil von Nicäa, auf dem das Christentum zur Staatsreligion erhoben wurde, fand 325 n. Chr. statt; andere Religionen durften aber noch ausgeübt werden. 55 Jahre später war es mit der Toleranz endgültig vorbei: Kaiser Theodosius bestimmte im Jahr 380 n. Chr. das Christentum zur alleinigen Staatsreligion. Mit dem Siegeszug des Christentums trat eine überschaubare Anzahl an Dogmen an die Stelle von vielfältigen Erkenntnissen und lebendigem Austausch. Nun gab es kein Interesse mehr daran, umfangreiche Bibliotheken zu unterhalten und zu pflegen. Der gigantische Wissens- und Literaturspeicher in Alexandria erlitt dasselbe Schicksal wie ähnliche Einrichtungen überall in Europa, im Vorderen Orient und in Nordafrika. Von etwa 390 n. Chr. bis zum Untergang des Römischen Reiches 476 n. Chr. – dem Beginn des frühen Mittelalters – sank der Bestand an Titeln von mehr als 1 Mio. auf maximal 1000. Nur jedes 1000. Buch wurde vom Christentum als wertvoll genug eingeschätzt, um weiterhin regelmäßig abgeschrieben und so vor dem Verfall bewahrt zu werden. Dieser Wissensverlust warf die gelehrte Welt um 50 Generationen zurück. Erst über 1000 Jahre später entstand ansatzweise wieder ein wissenschaftliches Denken in Europa; weitere zwei Jahrhunderte mussten vergehen, bis der Wissensstand der Antike erneut erreicht war. Zum Beispiel hatte Eratosthenes etwa 230 v. Chr. in Alexandria den Umfang der Erde erstaunlich präzise ermittelt; je nach Umrechnungsfaktor von griechischen Stadien in heutige Kilometer hatte er eine Genauigkeit von bis zu 99 % erreicht. Sein Werk ging verloren, bis ins 16. Jahrhundert hinein wurde mit dem um 10.000 km zu kleinen Wert gerechnet, den der im Christentum hochverehrte und viel kopierte Ptolemäus 150 n. Chr. berechnet hatte – nur deshalb konnte Kolumbus 1492 glauben, dass er Indien entdeckt hätte.
1 Hypatia von Alexandria (ca. 355–415 oder 416) 3
***
Viele Bücher, an denen sich die erstarkte neue Kirche störte, zerfielen zu Staub. Andere wurden gezielt vernichtet, denn auch die mit religiöser Vielfalt verbundene geistige und intellektuelle Toleranz erodierte. Nach nur elf Jahren des Christentums als Staatsreligion wurden alle heidnischen Tempel im Römischen Reich per Gesetz geschlossen; wahrscheinlich wurden bei dieser Gelegenheit auch alle nichtchristlichen Bücher verbrannt, derer man habhaft werden konnte. Eine weitere Welle der Vernichtung löste das Gesetz aus, das Theodosius’ Nachfolger Honorius 408 n. Chr. erließ: „Wenn irgendwelche Bildnisse noch in Tempeln oder Schreinen stehen, und wenn sie heute oder jemals zuvor Verehrung von Heiden irgendwo erhielten, so sollen sie heruntergerissen werden.“ Codex Theodosianus 438 n. Chr., 16,10,19.
Im darauffolgenden Jahr, 409 n. Chr., verpflichtete ein weiteres kaiserliches Gesetz alle Mathematiker, ihre Bücher vor den Augen ihrer Bischöfe zu verbrennen. Andernfalls seien sie aus dem Römischen Reich zu vertreiben. Für die Anhänger der alten Kultur und des alten Wissens wurde es immer enger, der Besitz missliebiger Bücher konnte ihr Leben kosten. Auch kleinste Nischen, in denen sich Reste der alexandrinischen Denktraditionen noch hielten, wurden nach und nach ausgeräumt. Vom Exodus der Gelehrten, die sich nicht unter das Dach der alleinseligmachenden Kirche begeben wollten, profitierte allein die arabische Kultur. Dass sie 300 Jahre später zu einem unvergleichlichen Höhenflug ansetzen konnte, verdankte sie nicht zuletzt der Wissenschaft und Philosophie der Geflüchteten. ***
In dieser Zeit des Umbruchs lebte in Alexandria die Mathematikerin, Astronomin und Philosophin Hypatia. In dem in der zweiten Hälfte des 4. Jahrhunderts bereits vom Christentum dominierten Umfeld gehörte sie vermutlich der nichtchristlichen Minderheit an. Sicher ist dagegen, dass sie 415 oder 416 ermordet wurde. Leider war nach ihrem Tod die Auslöschung der Zeugnisse ihres Wirkens so umfassend, dass nur sekundäre Quellen Rückschlüsse auf ihre Person und ihre Arbeit zulassen: • Die Briefe des Synesios von Kyrene an Hypatia stellen die wohl ergiebigsten Quellen dar; er erwähnt sie auch in zahlreichen weiteren Briefen an andere Personen. Synesios machte als Christ Karriere und
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wurde Bischof von Ptolemais, dem heutigen Akkon in Israel. Als Schüler und Freund der von Hypatia hatte er aber auch Unvoreingenommenheit und Toleranz verinnerlicht. Seine schriftlichen Zeugnisse zeichnen sich daher durch eine erstaunliche Überparteilichkeit aus. In seiner kurzen Abhandlung „Über das Geschenk“ („Pros Paiónion perí tou dṓrou“) stellt er Hypatia als „verehrungswürdigste Lehrerin“ dar. In einem um 395 geschriebenen Brief an seinen guten Freund Herculianus beschreibt Synesios Hypatia als „[...] eine so berühmte Person, ihr Ruf schien buchstäblich unglaublich“ (Synesios, 395 n.Chr.)1.
Immer wieder lobt er ihre philosophische Unerschütterlichkeit in herausfordernden Zeiten. • Sokrates Scholastikos war ebenfalls ein Zeitgenosse Hypatias; ob er Christ war oder nicht, ist unbekannt. In seinem Hauptwerk, der aus sieben Büchern bestehenden Kirchengeschichte Historia ecclesiastica, schreibt er: „In Alexandria lebte eine Frau mit Namen Hypatia […] Sie verfügte über eine so herausragende Bildung, dass sie sämtliche Philosophen ihrer Zeit ausstach. Ihre Lehrtätigkeit brachte sie an die Spitze der platonischen Schule […] Den Behörden gegenüber trat sie freimütig und mit dem Selbstbewusstsein auf, das ihre Bildung ihr verlieh, und sie zeigte auch keine Scheu, sich in der Gesellschaft von Männern zu bewegen. Wegen ihrer außergewöhnlichen Intelligenz und Charakterstärke begegnete ihr nämlich jeder mit Ehrfurcht und Bewunderung.“2
Er stellt ausdrücklich fest, Hypatia habe der Schule angehört, die Plotin gegründet hatte und die die vorherrschende neuplatonische Philosophie vertrat. Die Ermordung Hypatias verurteilt Sokrates Scholastikos explizit als unchristliche Tat: „Sicher kann nichts weiter vom Geist des Christentums entfernt sein als die Genehmigung von Massakern, Kämpfen und Transaktionen dieser Art.“3
1 Joseph Vogt, Begegnung mit Synesios, dem Philosophen, Priester und Feldherrn. Gesammelte Beiträge, Darmstadt (1985). 2 Günther Christian Hansen (Hg.), Sokrates – Kirchengeschichte. Band 1: Die griechischen christlichen Schriftsteller der ersten Jahrhunderte, Akademie-Verlag, Berlin (1995). 3 Ralph Novak, Christianity and the Roman Empire, Trinity Press International Harrisburg, PA (2001).
1 Hypatia von Alexandria (ca. 355–415 oder 416) 5
• Ein zu Hypatias Lebzeiten gedichtetes Epigramm des alexandrinischen Dichters Palladas lautet: „Wann ich dich seh’, dein Wort vernehm’, bet’ ich dich an, der hehren Jungfrau sternbedecktes Haus erblickend; denn auf den Himmel nur erstreckt sich all’ dein Tun, du jeder Rede Zier und Schmuck, Hypatia, der höchsten Weisheit reiner, unbefleckter Stern!“4
• Der Neuplatoniker Damaskios (geb. 480, gestorben nach 538) war das letzte Oberhaupt der neuplatonischen Schule in Alexandria. Seine fragmentarisch erhaltenen Werke Philosophische Geschichte und Das Leben des Philosophen Isidoros, die etwa 100 Jahre nach Hypatias Tod entstanden, sind einige Aussagen über ihr Leben enthalten, darunter: „Die ganze Stadt liebte sie mit Recht und verehrte sie in bemerkenswerter Weise, aber die Herrscher der Stadt beneideten sie von Anfang.“5
Er schreibt auch, dass sie ein größeres Genie als ihr Vater besaß, der sie anfänglich unterrichtete. • In der Suda, einer byzantinischen Enzyklopädie des 10. Jahrhunderts, ist Hypatia ein ganzer Artikel gewidmet.6 Es handelt sich um eine Aneinanderreihung verschiedener Quellen, unter anderem auch der des Damaskios. 500 Jahre nach Hypatias Tod wurden die Ereignisse meist so tendenziös dargestellt, dass der Wahrheitsgehalt der Beiträge sehr fraglich ist. Aus dem Menschen Hypatia war eine Legende geworden. ***
Welches Bild ergibt sich von der legendären Hypatia? Fast alle Quellen erwähnen, dass sie eine herausragende Mathematikerin und Philosophin war. In Mathematik und Astronomie wurde sie von ihrem Vater Theon von Alexandria ausgebildet. Dieser war selbst ein berühmter Gelehrter. In seiner Neuausgabe von Euklids Werk Elemente korrigierte er all die Schreib- und Übertragungsfehler, die sich im Laufe von fast 700 Jahren
4 Georg Grützmacher, Synesios von Cyrene: ein Charakterbild aus dem Untergang des Hellenentums, A. Deichert’sche Verlagsbuchhandlung, Leipzig (1913), S. 23 5 Johann Rudolf Asmus (Hg.), Das Leben des Philosophen Isidoros von Damaskios aus Damaskos, Meiner, Leipzig (1911). Das Original des Historikers Damaskos ist verschollen. 6 ebd.
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ununterbrochenen Kopierens eingeschlichen hatten. Diese Bearbeitung der Elemente verdrängte fast vollständig alle anderen Versionen und ist die bis in die heutige Zeit am häufigsten verwendete Ausgabe von Euklids Lehrbuch der Mathematik – zugleich war es das letzte Werk eines namentlich bekannten Wissenschaftlers, das in die Bibliothek von Alexandria aufgenommen wurde. Wer Hypatias Lehrer in Philosophie war, ist nicht bekannt. Wahrscheinlich besuchte sie die neuplatonische Schule von Alexandria. Es wird aber auch berichtet, dass sie mit einem sogenannten Philosophenmantel, mit dem sich insbesondere die Anhänger der kynischen Philosophie kleideten, in der Stadt unterwegs gewesen sei. Vermutlich lehrte sie also eine an den Neuplatonismus angelehnte Philosophie, die sie mit kynischem Gedankengut anreicherte. Kyniker waren eine Herausforderung für die Gesellschaft, denn sie widersetzten sich konfrontativ den gesellschaftlichen Zwängen und stellten durch ihre materielle Bedürfnislosigkeit die Lebensweise anderer infrage. Dazu kam, dass Hypatia ihr ganzes Leben unverheiratet und laut fast aller Überlieferungen auch jungfräulich blieb; gleichzeitig erwähnen verschiedene Quellen ihre außergewöhnliche Schönheit – Damaskios beschreibt Hypatia als außerordentlich gut aussehend und schön von Gestalt. Es ist also wahrscheinlich, dass ihre Erscheinung und ihr Verhalten von den Menschen, die nicht zu ihren Anhängern zählten, als schamlos und störend interpretiert wurden. Dies brachte sie besonders mit den Christen in Konflikte, die bereits in der Frühphase ihrer Macht Kritik und Provokationen stark ablehnten. Hypatias Aufruf zu Toleranz erreichte sie nicht, denn nach ihrer Auffassung war die Welt nach Gottes Regeln aufgebaut, die nicht hinterfragt werden durften. Auch unter den Philosophen Alexandrias hatte Hypatia Feinde. Für jene, die sich als geistige Elite sahen, war es eine Zumutung, dass sie philosophische Themen nicht in gelehrten Zirkeln besprach, sondern in den Straßen Alexandrias lehrte. Mit Charisma und Charme legte sie die berühmten Lehren Platons, Aristoteles’ und auch jedes anderen Philosophen aus; zu beliebigen mathematischen Fragen lieferte sie Antworten und machte ihren Zuhörern komplizierte Konzepte verständlich. Mehrere Quellen beschreiben ihre Vorträge als exzellent und sie selbst als äußerst beliebt bei ihren Zuhörern. Sie hatte kein offizielles Lehramt, für das sie entlohnt wurde, sondern bestritt ihr Auskommen wohl durch direkt eingenommene Beiträge ihrer Zuhörerschaft. ***
1 Hypatia von Alexandria (ca. 355–415 oder 416) 7
Hypatias erklärtes Ziel war es, das philosophische und mathematische Erbe Alexandrias zu bewahren, zu erläutern und fortzuführen. In der Mathematik beschäftigte sich Hypatia vor allem mit den Werken von Euklid und Archimedes. Leider ist keine konkrete mathematische Aussage überliefert, die Hypatia mit absoluter Sicherheit zugeschrieben werden kann, doch zahlreiche Quellen bescheinigen ihr zahlreiche Erkenntnisse mit großer Bedeutung für die Mathematik der späten Antike. Ein Beispiel dafür, dass manche ihrer Arbeiten die Zeiten wohl nur deshalb überdauerten, weil ihr Name nicht genannt wurde, ist der Kommentar zum Hauptwerk des Ptolemaios, dem im 2. Jahrhundert n. Chr. entstandenen Almagest – der Name dieser Zusammenfassung stammt vom arabischen Begriff al-maǧisṭī, der „die große Synthese“ bedeutet. Hypatias Vater Theon überarbeitete auch dieses Standardwerk der Antike, der alle astronomischen Kenntnisse zusammenfasst. In der ältesten Ausgabe des von ihm verfassten Kommentars merkt er in der Überschrift zum dritten Buch an, es handle sich um eine „von der Philosophin Hypatia, meiner Tochter“ durchgesehene Fassung. Lange Zeit nahm man an, Hypatia habe nur die Korrekturen ihres Vaters noch einmal durchgesehen. Doch heute geht man davon aus, dass Hypatia nicht den Kommentar ihres Vaters korrigierte, sondern vielmehr den Text des Almagest selbst. Darüber hinaus verbesserte sie die Methode für die langen, für astronomische Berechnungen benötigten Divisionsalgorithmen. Manche Historiker gehen sogar davon aus, dass Hypatia nicht nur Buch III, sondern alle neun erhaltenen Bücher des Almagest bearbeitet und neu herausgegeben hat. Die byzantinische Suda schreibt Hypatia weitere bedeutende mathematische Arbeiten zu: • Ein wichtiger Kommentar zur Arithmetik und Algebra des Diophantos: Diophantos von Alexandria, der vermutlich mehr als 100 Jahre vor Hypatia lebte, gilt heute als „Vater der Algebra“ und beschäftigte sich in seinem 13-bändigen Hauptwerk Arithmetica ausgiebig mit linearen und quadratischen, teils sogar kubischen Gleichungen. Vermutlich sind in den über die Jahrhunderte immer wieder kopierten Büchern des Diophantos Hypatias umfassende Kommentare enthalten, weil sie irgendwann als Originaltext eingeschätzt wurden. Fachleute halten dies für wahrscheinlich, weil die arabischen Bücher im Vergleich zum originalen Buch des Diophantos deutlich umfangreicher sind – wobei diese natürlich auch neue Ideen zur Algebra enthalten; so kommt das Wort „Algebra“ auch vom Titel cIlm al-jabr wa l-muqābala („The Science of Restoring and Balancing“) eines Buches des großen persischen Mathematikers al-
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Khwarizmi. Die historische Forschung des 19. Jahrhunderts nennt Hypatia als eine der wesentlichen Quellen des zusätzlichen Materials, über das die Araber im Vergleich zum Ursprungstext des Diophantos verfügten. Neben ihr ist kein anderer Mathematiker bekannt, der einen Kommentar zur Arithmetica verfasst hätte. Zudem weisen die Ergänzungen ihre methodische Handschrift auf. • Ein wichtiger Kommentar zu Apollonius von Pergas Werk über Kegelschnitte: Laut Überlieferungen war Hypatia fasziniert von der Ellipse – einer Figur, die sich ergibt, wenn eine Ebene durch einen Kegel gelegt wird. 1200 Jahre vor Johannes Kepler versuchte sie, die unregelmäßigen Planetenumlaufbahnen mit dieser geometrischen Figur zu erklären. • Ihr wird auch die – ebenfalls verloren gegangene – Schrift Zum astronomischen Kanon zugeschrieben, die eine mathematische Beschreibung der Planetenbewegung liefert. Mit hoher Wahrscheinlichkeit handelte es sich um eine Neuausgabe der astronomischen Tabellen des Ptolemäus oder den bereits erwähnten Kommentar zu seinem Almagest. Hypatia arbeitete in dieser Schrift nicht nur mit Ptolemäus’ geozentrischem Weltbild, der im Abend- und auch im Morgenland bis ins 16. Jahrhundert einzig akzeptierten Lehrmeinung, sondern auch mit dem heliozentrischen Weltbild des griechischen Mathematikers Aristarchos. • Der anonyme Text Vermessung des Kreises über isometrische Figuren, in dem unter anderem die Zahl π mathematisch sehr genau eingegrenzt wird, wird meist dem Archimedes zugesprochen. Doch möglicherweise war es Hypatia, die dieses Buch mehr als 200 Jahre später herausgegeben hat. Für all diese Leistungen ist ein sehr hohes Maß an mathematischem Wissen und sogar Genialität erforderlich. Die meisten Wissenschaftler, die sich mit diesem Thema befassen, erkennen heute an, dass Hypatia zu den führenden Mathematikern nicht nur der Antike, sondern aller Zeiten gehört haben muss. Diese Auffassung lässt sich nicht zweifelsfrei belegen, ist jedoch sehr wahrscheinlich. Der Briefwechsel mit dem bereits erwähnten Synesios von Kyrene zeigt, dass Hypatia sich auch für Mechanik interessierte. Es sind zahlreiche Zeichnungen für verschiedene Instrumente erhalten, unter anderem für ein Astrolabium. Mit dieser Apparatur lassen sich Datum und Uhrzeit anhand der Positionen von Sternen und Planeten bestimmen; auch die Positionen der Himmelskörper zu jedem bestimmten Datum in der Zukunft sind ablesbar. Zwar waren Geräte dieser Art zu Hypatias Zeiten im Prinzip bereits
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seit mindestens 500 Jahren bekannt, aber mit der möglicherweise von ihr stammenden Weiterentwicklung, die aus zwei drehbaren Scheiben besteht, lassen sich Aufgaben der sphärischen Astronomie besser bearbeiten. In einem anderen Brief fordert Synesios Hypatia auf, ihm ein Hydroskop zu bauen. Das heute als Aräometer bekannte Gerät bestimmt die Dichte oder das spezifische Gewicht von Flüssigkeiten. Es gab solche Instrumente bereits im 2. Jahrhundert v. Chr.; vermutlich hat Hypatia auch diese Apparatur mit eigenen Ideen verbessert. ***
Im frühen 5. Jahrhundert, Hypatia war etwa 60 Jahre alt, steuerte die Spannung zwischen frei denkenden Philosophen und Anhängern der christlichen Religion auf einen Höhepunkt zu. Es ging um mehr als die Auseinandersetzung zwischen nach Erkenntnis strebenden Menschen und jenen, die meinten, durch Gott schon alles zu wissen. Es ging in erster Linie um politische Macht. Seit Oktober 412 herrschte Kyrill als christlicher Patriarch in Alexandria. Im Gegensatz zu seinem vergleichsweise toleranten Vorgänger Theophilus (und Onkel, Kyrill war der Sohn der Schwester von ihm; Theophilus ließ allerdings auch nichtchristliche Tempel zerstören), der sogar ein Anhänger von Hypatias Schule war, hetzte Kyrill als Hardliner systematisch gegen Juden sowie Philosophen und Wissenschaftler, die sich nicht den orthodoxen Lehren der christlichen Kirche angeschlossen hatten. Sein Gegenspieler war Orestes, der römische Statthalter in Ägypten und damit ranghöchster Staatsvertreter. Seine Aufgabe war es, die öffentliche Ordnung aufrechtzuerhalten. Der Christ Orestes war Schüler Hypatias und mit ihr freundschaftlich verbunden. Dank seiner weltoffenen Haltung verkehrte er ganz selbstverständlich in nichtchristlichen Kreisen. Mit Mühe wehrte er die ständigen Versuche Kyrills ab, sich in die politische Ordnung und damit in weltliche Belange einzumischen. In dem erbitterten Machtkampf zwischen Kyrill und Orestes, also zwischen spiritueller und staatlicher Macht, geriet Hypatia zwischen die Fronten. Auch wenn von ihr keine Aussagen gegen das Christentum überliefert sind, war diese unabhängige, gebildete, eigenständig denkende und handelnde Frau, die sich ohne Scheu in der Öffentlichkeit und unter Männern bewegte und mit ihrer Philosophie und Wissenschaft „heidnische Propaganda“ betrieb, für den Fanatiker Kyrill eine unerträgliche Provokation. Dazu war sie in der Bevölkerung beliebt und besaß politischen
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Einfluss, da sich Orestes von ihr in politischen und juristischen Fragen beraten ließ. Dass sie sich als Anhängerin des wissenschaftlichen Rationalismus mit einiger Wahrscheinlichkeit geweigert hat, ihre Ideale aufzugeben und Christin zu werden, mag noch dazugekommen sein. Kyrill wählte Hypatia als Angriffsziel, um über sie dem eigentlich unantastbaren Orestes zu schaden. Damaskios nennt in seinem etwa 100 Jahre nach Hypatias Tod entstandenen Werk Das Leben des Philosophen Isidoros einen weiteren Grund: „So geschah es eines Tages, dass Kyrill, der Bischof der oppositionellen Sekte [des Christentums], am Haus der Hypatia vorbeikam und eine große Menge von Menschen und Pferden vor ihrer Tür sah. Einige kamen an, andere gingen weg, und wieder andere standen herum. Als er nach dem Grund für die Menschenmenge und dem Grund für die Aufregung fragte, sagten ihm ihre Anhänger, dass es sich um das Haus der Philosophin Hypatia handele und sie sie gerade begrüßen wolle. Als Kyrill dies erfuhr, war er so von Neid erfüllt, dass er sofort begann, einen Mord an ihr zu planen, und zwar die abscheulichste Form eines Mordes.“7
Der erste Schritt zur Beseitigung Hypatias war Diffamierung. Nach Aussage des Zeitzeugen Sokrates Scholastikos wurde in einer Verkehrung der Tatsachen verbreitet, dass Hypatia als Beraterin des Orestes die Versöhnung zwischen geistlicher und weltlicher Gewalt in Alexandria hintertreibe. Zwei Jahrhunderte später hegt einer der Nachfolger Kyrills auf dem ägyptischen Bischofsstuhl, Johannes von Nikiu, keinen Zweifel mehr am Wahrheitsgehalt dieses Gerüchtes. Im 7. Jahrhundert, als das Christentum längst auf ganzer Linie gesiegt hatte, schreibt er, kurz bevor er ausführlich davon berichtet, wie Juden ein kleines Kind gekreuzigt hätten: „Und damals erschien in Alexandria eine Philosophin, eine Heidin namens Hypatia, die sich zu allen Zeiten der Magie, den Astrolabien und den Musikinstrumenten verschrieben hatte und viele Menschen durch ihre satanische List betörte. Und der Statthalter der Stadt ehrte sie überaus; denn sie hatte ihn durch ihre Magie betört. Und er hörte auf, die Kirche zu besuchen, wie es seine Gewohnheit gewesen war [...] Und er tat nicht nur dies, sondern zog viele Gläubige zu ihr, und er selbst empfing die Ungläubigen in seinem Haus.“8
7 Damaskios 8 Robert
(ca. 515) (zit. nach Carlin, 2023). Henry Charles, The Chronicle of John, Bishop of Nikiu, London (1916), Kapitel 84, 87.
1 Hypatia von Alexandria (ca. 355–415 oder 416) 11
Unter der Führung eines gewissen Petros, der in der Kirche den Rang eines Lektors innehatte, lauerte eine Schar aufgestachelter christlicher Fanatiker Hypatia auf. Der Mob bemächtigte sich der etwa 60-jährigen Philosophin, brachten sie in die Kirche Kaisarion, zog sie dort nackt aus und tötete sie mit ostraka, also Scherben oder Dachziegeln. Dann rissen sie den Leichnam in Stücke und verbrannten ihn. Die brutale Tat blieb ohne juristische Folgen, denn die Klage gegen die Mörder wurde niedergeschlagen. In den zeitgenössischen Aufzeichnungen des Damaskios liest sich das so: „Denn als Hypatia aus ihrem Haus trat, wie sie es gewohnt war, griff eine Schar unbarmherziger und grausamer Männer, die weder göttliche Strafe noch menschliche Rache fürchteten, sie an und schlugen sie nieder, womit sie eine ungeheuerliche und schändliche Tat gegen ihr Vaterland begingen. Der Kaiser war zornig, und er hätte sie wohl gerächt, wenn nicht Aedesius [vermutlich der untersuchende Beamte] bestochen worden wäre. So erließ der Kaiser die Strafe von den Mördern und zog sie auf sich und sein Familie. Sein Enkel bezahlte den Preis. Die Erinnerung an diese Ereignisse ist bei den Alexandrinern noch lebendig.“9
Der ungesühnte Tod Hypatias bedeutete für den Statthalter Orestes und alle, die den christlichen Milizen noch Widerstand leisteten, eine empfindliche Niederlage. Für Kyrill war nun der Weg frei, aufs Ganze zu gehen. Auf seinen Befehl wurden alle Bildungseinrichtungen geplündert und die Bücher verbrannt. Auch die große Bibliothek von Alexandria – das, was von ihr zu jener Zeit noch übrig war – wurde endgültig vernichtet. Es folgte ein Exodus von hellenistisch geprägten Intellektuellen und Künstlern aus der Stadt, die 700 Jahre lang das Zentrum der gelehrten Welt gewesen war. Wer blieb, bekannte sich zu den Lehren der christlichen Kirche oder schwieg. Nach der Vernichtung der Bibliothek von Alexandria gab es nur noch einen einzigen bedeutenden Speicher antiken Wissens: die Palastbibliothek von Konstantinopel (bis 337 n. Chr. Byzanz genannt) mit etwa 120.000 Schriftrollen. Ein Brand zerstörte 475 n. Chr. die letzten der im christlichen Kulturkreis gelagerten Exemplare antiker Schriften. Nun gab es keine größeren Buchbestände in Europa mehr. Die Zeit der großen Wissensspeicher und Wissensvermittler war vorbei. *** 9 ebd.,
Kapitel 88 f.
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Hypatias Ermordung sandte Schockwellen durch das gesamte Römische Reich. Seit Menschengedenken hatten Philosophen als praktisch unantastbar gegolten, die Ermordung einer Philosophin durch einen Mob wurde also als „zutiefst gefährlich und destabilisierend“10 angesehen. Auch dass die christliche Kirche offiziell verlautbaren ließ, dass Hypatias Tod gerechtfertigt war, traf auf Unverständnis. Der Zeitzeuge Synesios beschreibt in zahlreichen Briefen an seinen Religionsbruder und späteren „Kirchenvater“ Cyril den Jüngeren den fast namensgleichen Bischof Kyrill als unerfahren und fehlgeleitet. Sokrates Scholastikos, ebenfalls ein Zeitgenosse Hypatias, schrieb in seiner Kirchengeschichte: „Diese Frau wurde nun damals das Opfer von gewissen Machenschaften […] Die Tat trug Kyrill und auch der Kirche von Alexandria große Schande ein.“11
Während sich der Christ Orestes noch in beiden Welten bewegt hatte, vertiefte der Mord an Hypatia den Graben zwischen Christen und Nichtchristen. Die Chronik des Johannes von Nikiu billigt explizit Hypatias Ermordung; sein Vorgänger auf dem alexandrinischen Bischofsstuhl, der Anstifter zum Mord, Kyrill, wurde zum Heiligen erklärt. Auf der anderen Seite opponierten einige der zukünftigen Neuplatoniker, darunter Damaskios, immer leidenschaftlicher gegen das Christentum. Trotzdem unternahmen einige spätantike Denker den Versuch, in guter philosophischer Tradition die Verschiedenheiten der Weltanschauungen – darunter das Christentum – durch eine stimmige Synthese zu verbinden. Doch auch dieses Anliegen scheiterte. 529 n. Chr. wurden die philosophischen Schulen Griechenlands per Gesetz geschlossen, darunter auch die von Platon gegründete Akademie in Athen. Im selben Jahr wurde mit dem Benediktinerorden der erste Klosterorden gegründet. Die Klöster übernahmen nun bis weit ins Mittelalter hinein das Monopol auf die geistige Ausbildung in Europa. Nun kursierten nur noch wenige Texte; was erlaubt war und wie man es zu interpretieren hatte, oblag allein der Kirche. Es folgten das Lehrverbot für Nichtchristen und die Verfolgung heidnischer „Grammatiker, Rhetoren, Ärzte und Juristen“. Immer wieder loderten die Scheiterhaufen, auf denen nichtchristliche Bücher und zuweilen auch
10 Edward J. Watts, Hypatia – The Life and Legend of an Ancient philosopher, Oxford University Press (2017) 11 Zitiert in: Arnulf Zitelmann, Hypatia, Beltz & Gelberg, Weinheim, Basel (1988), S. 269 f.
1 Hypatia von Alexandria (ca. 355–415 oder 416) 13
Gelehrte verbrannt wurden. Mangels schriftlicher Zeugnisse wurde es für gläubige Christen unmöglich, sich intensiv mit dem Gedankengut der meisten antiken Autoren auseinanderzusetzen. Es war das endgültige Ende des freien Denkens und der unvoreingenommenen Beschäftigung mit Wissenschaft. Fast 1000 Jahre Dogmatik folgten. ***
Hypatia war eine Ausnahmeerscheinung, nicht nur als Wissenschaftlerin höchsten Ranges, sondern auch als Frau, die sich in einer von Männern dominierten Welt durch ihre Leistungen großes Ansehen erkämpft hatte. Heutige Historiker sehen ihren Tod als einen Wendepunkt, der den Übergang vom antiken zum christlichen Zeitalter markierte – und damit den Beginn eines Jahrtausends bildungsfeindlichen und antiwissenschaftlichen Denkens. Die Erinnerung an Hypatia ging fast vollständig verloren. Doch ihre Mathematik wurde unerkannt und anonym über die Jahrhunderte immer wieder kopiert und weitergetragen. Am Ende wurde auch die Person, die hinter dieser Mathematik steht, durch Forschung wieder sichtbar. Was wir heute von Hypatia wissen, ist lückenhaft, doch es genügt, um in ihr eine der wohl einflussreichsten Mathematikerinnen der Weltgeschichte zu erkennen, die es verdient hat, bekannter zu sein.
2 Hildegard von Bingen (ca. 1098–1179) Die Brückenbauerin zwischen Mystik und Wissenschaft
Ab dem Niedergang der Wissenskultur Alexandrias bis ins frühe 12. Jahrhundert hinein herrschte in Europa ein dogmatisch geprägter, wissenschaftsfeindlicher Geist, der kritischen Diskussionen und der Überprüfung von Lehrmeinungen durch Ausprobieren keinen Raum ließ. Wissen diente allein dem Zweck, die heiligen Lehren der katholischen Kirche zu untermauern. Dass die Aussagen der kirchlichen Autoritäten teilweise widersprüchlich waren, wurde geflissentlich übersehen. Anders standen die Dinge im arabischen Kulturkreis. Er blieb aristotelisch geprägt und erreichte zwischen etwa 800 und 1250 eine wissenschaftliche Blüte. Mit Peter Abaelard (1079–1142) näherte sich die christliche Theologie erstmals wieder dem rationalen Denken an. Der französische Theologe definierte Wissen ganz entgegen dem damaligen Zeitgeist als etwas, das einen Sinn und Zweck aus sich selbst heraus haben sollte. Genau in dieser „Eigensinnigkeit“ des Denkens liegt der Schlüssel der modernen Wissenschaften: Unser Wissen über die Welt soll keiner externen Instanz dienen, sondern nur sich selbst und unserem ureigenen Wunsch, echte Erkenntnis zu erlangen. Abaelard wagte als Erster, die offenkundigen Widersprüche in der christlichen Welterklärung aufzuzeigen und ihnen rational zu begegnen. Er sagte, dass es normal sei, beim Denken Fehler zu begehen, und dass auch vermeintlich ewig gültige Wahrheiten überprüft werden müssen. Damit formulierte Abaelard als Erster das Ideal des modernen wissenschaftlichen Denkens: Wahrheit wird nicht mehr vorgefunden, sie muss gesucht werden.
© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 L. Jaeger, Geniale Frauen in der Wissenschaft, https://doi.org/10.1007/978-3-662-66528-2_2
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Mit dieser Einstellung machte er den Theologen – also den im Christentum verankerten Philosophen – eine Facette des Denkens zugänglich, die so viele Jahrhunderte verschüttet gewesen war: den Zweifel. Er schreibt: „Durch Zweifeln nämlich gelangen wir zur Untersuchung; in der Untersuchung erfassen wir die Wahrheit.“1
Als Abaelard begann, wissenschaftlich über Gott zu sprechen, zog dies eine neue Betonung menschlicher Individualität im Denken wie im Handeln nach sich. Für manche Historiker hat dies die „humanistische Renaissance des 12. Jahrhunderts“ ausgelöst. In dieser Frühphase der neuen europäischen Wissenschaft spielte neben Peter Abaelard eine Frau eine weitere entscheidende Rolle: Hildegard von Bingen. Während ihr Zeitgenosse Abaelard sehr provokant auftrat und schließlich in einen für ihn fatalen Konflikt mit dem hochangesehenen und einflussreichen Abt Bernhard von Clairvaux geriet, suchte Hildegard von Bingen den Konsens mit der Kirche. Nichts lag ihr ferner, als sich gegen Kirchenoberhäupter aufzulehnen. Und doch war sie auf ihre ganz eigene Art eigensinnig. ***
Hildegard wird 1098 in der Nähe von Bad Kreuznach geboren. Als zehntes Kind ihrer adligen Eltern ist ihr Lebensweg vorgezeichnet: Sie soll „als Zehnte“ ihr Leben der Kirche widmen. Mit acht Jahren wird sie der zwölf Jahre älteren Jutta von Sponheim anvertraut. Im Jahr 1112 beziehen Jutta, die etwa 14-jährige Hildegard und ein weiteres adeliges Mädchen eine Klause auf dem nahen Disibodenberg, wo benediktinische Mönche vier Jahre zuvor ein Kloster gegründet haben. Das Wort „Klause“ ist wahrscheinlich wörtlich zu nehmen: Klausner und Klausnerinnen wurden in jener Zeit tatsächlich eingemauert. Hildegard verbringt die nächsten Jahre mit Jutta und dem zweiten Kind in dem abgeschlossenen Raum auf dem Disibodenberg. Die Zeit wird mit Beten – achtmal am Tag und in der Nacht –, Lateinstunden und Handarbeiten gefüllt. Durch ein Fenster hindurch nehmen die drei am Gottesdienst teil, durch ein anderes wird ihnen Essen gereicht. Nur diese Maueröffnungen ermöglichen ihnen den Kontakt mit der Außenwelt.
1 Peter
Abaelard, Sic et non (Ja und nein), Neuausgabe, Minerva, Frankfurt (1981).
2 Hildegard von Bingen (ca. 1098–1179) 17
Mit ungefähr 15 Jahren legt Hildegard das benediktinische Ordensgelübde ab. Die Asketinnen genießen hohes Ansehen; immer mehr Besucher kommen zur Klause, um sich spirituellen Rat zu holen. Einige Frauen bleiben und schließen sich der Gruppe an. Die Entstehung eines eigenen Frauenkonvents geht nicht reibungslos vonstatten – einerseits profitiert das Kloster von den Geschenken der Besucher, andererseits darf man vermuten, dass der spirituelle Erfolg den Frauen ein wachsendes Selbstvertrauen schenkt. Aus den drei Frauen, deren Leben buchstäblich von den Zuwendungen der Mönche abhängig gewesen war, wird ein Konvent von etwa 20 Frauen, der bestimmte Ansprüche stellt. 1136 stirbt Jutta von Sponheim; fast ein Vierteljahrhundert hat Hildegard mit ihrer Lehrerin in der Klause verbracht. Hildegard übernimmt die Leitung des Konvents und lockert einige der für ihre Begriffe viel zu strengen, von Jutta aufgestellten Askeseregeln. Dies verstärkt noch einmal die Auseinandersetzung mit den Benediktinern auf dem Disibodenberg. Einige Jahre später bereitet Hildegard den Umzug des Konvents vom Disibodenberg auf den Rupertsberg bei Bingen vor, wo ein neues Kloster gebaut wird. Die Benediktiner wollen die Trennung verhindern, denn wenn Hildegard und ihre Frauen die Klosteranlage verlassen, wird es wieder still auf dem Disibodenberg werden – und sie müssten sich von einigen der angehäuften Schätze trennen. Hildegard setzt sich durch und siedelt 1151 nach Bingen über. Die Frau, die einen großen Teil ihres Lebens eingeschlossen gewesen war, unternimmt vier Missionsreisen, von Köln bis zur Schwäbischen Alb, von Lothringen bis Würzburg. ***
Hildegard von Bingens langes und wechselvolles Leben war von halluzinatorischen Phänomenen begleitet. Schon in ihrer Kindheit hatte sie starke Visionen, die zu ihren Lebzeiten als Intervention höherer Mächte verstanden wurden. Der britische Neurologe Oliver Sacks vermutete dagegen, dass sie durch ein Skotom hervorgerufen wurden. Diese Krankheit geht mit einer partiellen Einschränkung des Gesichtsfeldes einher, oft kombiniert mit der Wahrnehmung von Lichtblitzen, veränderten Farben und wandernden schwarzen Flecken. Im Jahr 1141, Hildegard ist noch Priorin des Frauenkonvents auf dem Disibodenberg, verstärken sich ihre Visionen. Sie vermutet in ihnen einen Auftrag Gottes, ihre Erfahrungen aufzuzeichnen und weiterzugeben. Um sicherzugehen, den richtigen Schluss zu ziehen, wendet sie sich an Bernhard von Clairvaux. Dieser hatte im selben Jahr dafür gesorgt, dass Peter Abaelard
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kaltgestellt und seine Lehren verboten wurden; einige Jahre später würde er zum ersten Kreuzzug der Geschichte aufrufen. Bernhard von Clairvaux antwortet: „Wir freuen uns mit dir über die Gnade Gottes, die in dir ist. Und was uns angeht, so ermahnen und beschwören wir dich, sie als Gnade zu erachten und ihr mit der ganzen Liebeskraft der Demut und Hingabe zu entsprechen.“2
Auch ein Gremium von Theologen bestätigt die Echtheit von Hildegards Visionen. Die überaus positive Antwort der mächtigen Kirchenvertreter verstärkt noch einmal Hildegards Berühmtheit. Ein Mönch wird beauftragt, ihr bei der Niederschrift ihrer Visionen zu helfen. In ihrem ersten Werk Scivias („Wisse die Wege“) beschreibt Hildegard 26 prophetische Visionen. Die Originalhandschrift mit 35 von ihr selbst gezeichneten Miniaturen geht im Zweiten Weltkrieg verloren. Auf der Synode in Trier 1147 erkennt Papst Eugen III. Hildegards Visionen offiziell an und erlaubt, dass Scivias vervielfältigt wird. Ihr Buch findet Eingang in viele Bibliotheken, bald wechselt sie Briefe mit den mächtigsten Männern ihrer Zeit; von dieser Korrespondenz sind etwa 300 Schriftstücke erhalten geblieben. Die Echtheit des Briefes von Kaiser Barbarossa an sie, aus dem hervorgeht, dass sie sich als Beraterin persönlich mit ihm getroffen hat, ist allerdings umstritten. Auch im Volk genießt Hildegard hohes Ansehen. Ihre eindringlichen Aufrufe, in denen sie sich auf ihre Visionen beruft, erlangen große Popularität. Insgesamt veröffentlicht Hildegard drei Werke, in denen sie ihre oft rätselhaften Visionen erläutert: • Scivias entstand 1141 bis 1151. In diesem Buch nimmt Hildegard ihre Visionen als Grundlage für eine theologische Gesamtschau, die in allen wesentlichen Punkten mit der Kirchenlehre konform geht. • Das Liber vitae meritorum („Buch der Verdienste des Lebens“) ist eine visionäre Ethik, in der Hildegard 35 Laster und Tugenden einander gegenüberstellt. Es entsteht etwa 1158 bis 1163. • Das Liber divinorum operum („Buch der göttlichen Werke“, auch bekannt als De operatione Dei, „Über Gottes Wirken“), schreibt sie in den Jahren 1163/64 bis 1173/74. Bei seiner Fertigstellung ist sie bereits über 75 Jahre
2 Hildegard
von Bingen, Im Feuer der Taube: Die Briefe, übersetzt und herausgegeben von Walburga Storch, Pattloch, Augsburg (1997).
2 Hildegard von Bingen (ca. 1098–1179) 19
alt. In zehn Visionen vermittelt sie die Summe ihrer Erfahrungen und beschreibt, dass Leib und Seele, Welt und Kirche, Natur und Gnade in die Verantwortung des Menschen gestellt sind. ***
Schon in diesen theologischen Auseinandersetzungen beweist Hildegard eine ungewöhnliche Unabhängigkeit im Denken. In ihren anderen Schriften, in denen sie sich detailliert mit Medizin, Physiologie, Botanik und Naturgeschichte befasst, geht sie noch einen Schritt weiter. Zu ihrer Zeit gab es noch keine eigene Kategorie „Wissenschaft“; die anerkannten Theorien über den menschlichen Körper, die Bewegung der Himmelskörper und den Platz des Menschen im Universum waren Kombinationen aus theologischen und naturphilosophischen Ideen, angereichert mit magischem oder mystischem Denken. Auch Hildegard von Bingen war zweifellos eine Mystikerin, doch wie Peter Abaelard wagte sie sich in einen Bereich vor, der in Europa über Jahrhunderte verwaist gewesen war: in die Rationalität. Deshalb finden sich in ihrem Werk neben Prophezeiungen und allegorischen Abhandlungen auch konkrete Beobachtungen zu Pflanzen und Tieren sowie zu Menschen und deren Krankheiten. An diesen Stellen scheint erstmals seit der Spätantike echte Wissenschaft durch. Während ihre gelehrten Zeitgenossen nichts anderes taten, als die von der Kirche für wahr befundenen Aussagen wieder und wieder neu zu formulieren und auszuwalzen, verlässt sich Hildegard an diesen Stellen auf ihre eigene Wahrnehmung: „Alles, was passiert, untersuche ich auf das genaueste. Ich bin mein eigener Zeuge dafür, wenn ich nach meinen Richtlinien alle Dinge aufs beste zusammenfasse. Was ich so in den Blick und zu wissen bekomme, warum sollte ich nicht das mir selber zur Ehre gereichen lassen?“3
In Hildegards wissenschaftlichen und medizinischen Werken spielt zwar auch eine höhere Macht eine Rolle, denn ihrer Auffassung nach wurde alles, was auf der Erde ist, von Gott erschaffen und dient dem Menschen, und wenn Gott seine Hilfe verweigert, kann auch das beste Heilmittel den Patienten nicht retten. Doch ihr Wissen entspringt ihrer konkreten Erfahrung. Als Leiterin des Kräutergartens und der Krankenstation des
3 André
Rademacher (Hg.), Hildegard von Bingen, Der Mensch in der Verantwortung – Das Buch der Lebensverdienste (Liber vitae meritorum), Otto Müller Verlag, Salzburg (1986).
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Klosters kombiniert sie die Spiritualität des „geistiges Heilens“ mit der physischen Behandlung körperlicher Krankheiten. Dieses Zusammenspiel prägt Hildegards ganzheitliche Methode. Für die lebenswichtige Verbindung zwischen der Gesundheit der natürlichen Welt und der ganzheitlichen Gesundheit der menschlichen Person prägte sie das Wort „viriditas“. Mit diesem Begriff der „grünen Kraft“ bezeichnete sie eine geheimnisvolle, „grüne“ Lebenskraft in Pflanzen, die für den Menschen lebensnotwendig ist und die Grundlage jeder Heilung bildet. ***
In dem Zeitraum, der zwischen ihren religiös-visionären Büchern Scivias (bis 1151) und Liber vitae meritorum (ab 1158) klafft, fasst Hildegard von Bingen ihr natur- und heilkundliches Wissen in zwei Werken zusammen: Physica und Causae et curae. Im Gegensatz zu ihren anderen Schriften gingen diese beiden Bücher schon früh verloren. Historiker gehen heute davon aus, dass sie ursprünglich als einziges naturkundliches Werk konzipiert waren, das den Titel Liber subtilitatum diversarum naturarum creaturarum („Das Buch von den Geheimnissen der verschiedenen Naturen der Geschöpfe“) trug. Kurz nach Hildegards Tod wurde es in zwei Werke aufgeteilt; bestimmte Passagen finden sich in beiden Werken wieder. Dass die heute bekannten Texte aus der Zeit über 100 Jahre nach ihrem Tod stammen, war einer der Gründe dafür, dass Hildegards Urheberschaft lange Zeit infrage gestellt wurde. Doch seit dem 19. Jahrhundert gibt es keine Zweifel mehr daran, dass beide Bücher von ihr stammen. Aus verschiedenen Quellen trug sie bekannte Behandlungsmethoden zusammen und bewertete und ordnete sie neu; eigene medizinische Verfahren entwickelte sie nicht. Da die Heilkunde in jener Zeit die in erster Linie in den Händen der Frauen lag, diese aber mangels klassischer Ausbildung keine Schriften hinterließen, schenkt uns Hildegard von Bingens Werk einen historisch einzigartigen Blick auf die praktische mittelalterliche Heilkunde, denn in beiden Büchern beschreibt sie konkrete medizinische Anwendungen, die im Alltag breite Anwendung fanden. Wie können Blutungen gestillt werden? Welche Kräuter helfen gegen Erbrechen und Durchfall? Was hilft bei Verbrennungen, Knochenbrüchen, Verrenkungen und Schnittwunden? Auch mögliche Anwendungen für Tiere diskutiert sie im Detail.
2 Hildegard von Bingen (ca. 1098–1179) 21
Das erste Werk, die Physica (auch Liber simplicis medicinae, „Buch der einfachen Medizin“)4, enthält neun Bände – ursprünglich waren es wohl neun einzelne Schriftrollen –, in denen sie die medizinischen Eigenschaften von Pflanzen, Tieren, Mineralien und anderen Stoffen beschreibt: • Im ersten Band De Plantis („Über die Pflanzen“) und im dritten Band De Arboribus („Über die Bäume“) präsentiert Hildegard insgesamt etwa 300 Kräuter und Bäume, also den Großteil der damals bekannten Flora. Sie beschreibt die medizinische Verwendbarkeit, aber auch Pflanzen, denen sie keinerlei Wirkung auf Mensch und Tier zuschreibt, stellt sie vor. Sie alle haben ihren Platz in Gottes Universum. • Der zweite Band De Elementis („Über die Elemente“) stimmt weitgehend mit der Elementenlehre in ihrem zweiten Werk Causae et Curae überein. • Der vierte Band De Lapidibus („Über die Steine“) behandelt die Edelsteine, die neben ihrer metaphorischen Bedeutung für Hildegard auch medizinische Heilkraft besitzen. • Im fünften Band De Piscibus („Über die Fische“) beginnt sie mit der Beschreibung der Tierwelt. Im sechsten Band De avibus („Über die Vögel“) folgen die Vögel, im siebten Band De animalibus („Über die Tiere“) die vierfüßigen Tiere und im achten Band De Reptilibus („Über die Reptilien“) die kriechenden Tiere. • Der letzte Band De Metallis („Über die Metalle“) schließt das Werk mit der Beschreibung von acht Metallen ab. Das Wissen, das Hildegard allein schon in ihren Physica zusammengetragen hat, beweist die beeindruckende Bildung Hildegards. Es ist eine Mischung aus „[…] eigenen Beobachtungen, […] heilsgeschichtlich orientierten Symbolen, tradierten Hausmitteln, überlieferten germanischen Riten, gebetsartigen Zauber- und Beschwörungsformeln und vertrauten Rezepten der Klostermedizin“5.
Das zweite Werk, Causae et Curae („Ursachen und Heilungen“), auch als Liber compositae medicinae („Buch der verbindenden Medizin“) bekannt, 4 Hildegard
von Bingen, Physica, ins Englische übersetzt von Priscilla Throop, Healing Arts Press Rochester (1998). 5 Änne Bäumer-Schleinkofer, Wisse die Wege. Leben und Werk Hildegards von Bingen. Eine Monographie zur ihrem 900. Geburtstag, Peter Lang GmbH, Internationaler Verlag der Wissenschaften (1998).
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erforscht in fast 300 Kapiteln die Ursachen von Krankheiten, die entsprechenden Heilmittel sowie die menschliche Physiologie und Psychologie.6 Da zu Hildegards Zeiten viele der antiken medizinischen Schriften mangels Interesse seitens der Kirche nicht in Latein vorlagen und in Zentraleuropa vergessen waren – darunter Aufzeichnungen von Hippokrates, Dioskurides und Galen – war Hildegards Buch eines von nur sehr wenigen, die gebildeten Heilkundigen zur Verfügung standen: • In den ersten beiden Sektionen gibt Hildegard spezifische Anweisungen für Aderlässe. Neben der angemessenen Menge des zu entnehmenden Blutes soll der Heilkundige weitere Faktoren berücksichtigen, darunter das Geschlecht des Patienten, die Mondphase (vorzugsweise sollen Aderlässe bei abnehmendem Mond durchgeführt werden) und den Ort der Krankheit (es sollen Venen nahe des erkrankten Organs oder Körperteils genutzt werden). Hildegard beschreibt auch Aderlässe bei Tieren. • Die zweite Sektion des Buches beschreibt ausführlich die Physiologie und Pathologie des Menschen. Hier finden sich Beschreibungen der menschlichen Organe, der unterschiedliche Beschaffenheit von Mann und Frau sowie ihrer Krankheiten. Auch die Temperamentenlehre, die von einer Einteilung der Menschen in vier Grundcharaktere ausgeht, findet hier einen Platz. • Im dritten und vierten Teil des Werkes beschreibt sie die Behandlung von Beschwerden und Krankheiten bei Mensch und Tier durch die Wiederherstellung des Gleichgewichts zwischen den Körpersäften. • Der fünfte Abschnitt befasst sich mit Diagnose und Prognose und enthält Anweisungen zur Überprüfung von Blut, Puls, Urin und Stuhlgang eines Patienten. • Der sechste Abschnitt dokumentiert ein Mondhoroskop, um ein zusätzliches Mittel zur Prognose sowohl von Krankheiten als auch von anderen medizinischen Zuständen wie Empfängnis und Ausgang einer Schwangerschaft zu bieten. In diesem sechsten Teil betont Hildegard zum Beispiel, wie wichtig das Abkochen von Trinkwasser ist, um Infektionen zu verhindern. Auch andere konkrete Anweisungen begründet sie, womit sie ihren Ausführungen eine wissenschaftliche Note verleiht:
6 Abtei St. Hildegard (Hg.), Hildegard von Bingen, Ursprung und Behandlung von Krankheiten – Causae et Curae, neu übersetzt und eingeleitet von Ortrun Riha, Beuroner Kunstverlag (2011).
2 Hildegard von Bingen (ca. 1098–1179) 23
„Leidet jemand am weißen Flecken an den Augen, so nehme er, wenn der weiße Fleck noch frisch ist, frische Ochsengalle, lege diese, so frisch wie sie ist, nachts auf seine Augen, befestige sie mit einer Binde, damit sie nicht hinuntergleitet, und verfahre so drei Tage lang, weil die Bitterkeit dieser Galle den Schmerz zerteilt und beseitigt.“7
Mit den weißen Flecken dürften sogenannte Gerstenkörner gemeint sein, also Infektionen des Lidrandes. Eine im Mittelalter gebräuchliche Augensalbe, die neben der Ochsengalle auch Zwiebeln und Knoblauch enthielt, wurde in heutiger Zeit mit überraschendem Erfolg getestet: Sie hielt sogar multiresistente Bakterienstämme in Schach. Zwei Seiten weiter beschreibt Hildegard das Vorgehen bei Zahnschmerzen: „Vom Zahnschmerz: Wer an fauligem Blut oder durch die Ausscheidung des Gehirns an den Zähnen leidet, nehme gleiche Gewichtsmengen Wermut und Eisenkraut, koche sie in einem neuen Gefäß mit reinem, gutem Wein, seihe den gekochten Wein durch ein Tuch und trinke ihn nach Zusatz von etwas Zucker. Die noch warmen und, wie eben angegeben, gekochten Kräuter lege er beim Schlafengehen auf den Kiefer, da wo ihm die Zähne wehtun, und befestige sie durch ein aufgelegtes Tuch […] Der mit den genannten Kräutern temperierte und dann getrunkene Wein reinigt nämlich die kleinen Gefäße, welche sich von der Gehirnhaut bis zum Zahnfleisch hinziehen.“8
Auch wenn die angesprochene Anatomie nicht ganz den Tatsachen entspricht, besitzen doch beide Kräuter eine starke entzündungshemmende Wirkung. Hildegard ging davon aus, dass Gott ihr in visionärer Schau die Vorgehensweisen eingegeben hat, doch aus heutiger Perspektive dürfte sie ihr Wissen über umfangreiche Studien und vor allem direkt in ihrer praktischen Tätigkeit erworben haben. Hildegard von Bingens Heilkunde, für die der Gedanke der Einheit und Ganzheit eine zentrale Bedeutung besitzt, ist auch nach 1000 Jahren noch weithin verbreitet. Dass sie sich als vermutlich erster Mensch mit Details der weiblichen Sexualität auseinandersetzte, ist dagegen nahezu unbekannt. Sie stimmt zwar dem Rollenbild der Kirche zu, dass Frauen den Männern untergeordnet sind, schenkt den Frauen aber auch eine nie dagewesene Auf-
7 Hildegard
(2013). 8 ebd.
von Bingen, Ursachen und Behandlung der Krankheiten, Edition Lempertz, Königswinter
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merksamkeit. So beschreibt sie im zweiten Teil von Causae et Curae den weiblichen Orgasmus mit wissenschaftlicher Akribie: „Wenn eine Frau mit einem Mann Liebe macht, vermittelt ein Hitzegefühl in ihrem Gehirn, das sinnliches Vergnügen mit sich bringt, den Geschmack dieses Vergnügens während des Aktes und ruft die Emission des Samens des Mannes hervor. Und wenn der Samen an seinen Platz gefallen ist, zieht diese heftige Hitze, die von ihrem Gehirn ausgeht, den Samen an sich und hält ihn fest, und bald ziehen sich die Geschlechtsorgane der Frau zusammen, und alle Teile, die bereit sind, sich während der Zeit der Menstruation zu öffnen, schließen sich jetzt, so wie ein starker Mann etwas in seiner Faust halten kann.“9
Dass ihr intensives Studium der weiblichen Sexualität im Mittelalter geflissentlich überlesen wurde, ist keine Überraschung. Ihre Beschreibungen fanden aber auch in der Moderne keine Beachtung. Erst seit Ende des 20. Jahrhunderts werden ihre Erörterungen zu diesem Thema in der Forschung über ihre Person berücksichtigt. ***
Die grundlegende Theorie in Hildegards Wissenschaft ist eine eigenständige Mischung aus griechisch-lateinischer Tradition und christlichem Denken in der Volksmedizin. Basis ist die Verschmelzung verschiedener Vierermuster: • Die Viersäftelehre geht davon aus, dass im Menschen Blut, Schleim, schwarze und gelbe Galle im Gleichgewicht sein müssen. Bedeutende Vertreter dieser Anschauung waren der Grieche Hippokrates sowie der römische Arzt Galen, der anhand des jeweils vorherrschenden Saftes vier Temperamente unterschied: von schwarzer Gallenflüssigkeit bestimmte Melancholiker, durch rotes Blut geprägte Sanguiniker, Phlegmatiker mit einem Übermaß an weißem Schleim und die aufgrund ihrer gelben Gallenflüssigkeit aufbrausenden Choleriker. Während bei den antiken Ärzten alle vier Körpersäfte gleichberechtigt nebeneinanderstehen, trennt
9 Hildegard von Bingen, Causae et Curae, ins Englische übersetzt von Manfred Pawlik und Patrick Madigan, herausgegeben von Mary Palmquist und John Kulas, Liturgical Press, Inc (1994), zweites Kapitel.
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Hildegard das Quartett in die höheren Körpersäfte helle Galle und Blut sowie die niedrigeren Körpersäfte dunkle Galle und Schleim. • Auch die Theorie der vier Elemente – Feuer, Luft, Wasser und Erde – entstammt der Antike. Diese Anschauung entwickelt Hildegard weiter, indem sie zwischen den höheren, nicht greifbaren, himmlischen Elementen Feuer und Luft sowie den niedrigeren, greifbaren, irdischen Elementen Wasser und Erde unterscheidet. • Bei ihrer Lehre von den vier Kontinenten folgt Hildegard dem antiken Philosophen Krates von Mallo. Dieser ging im 2. Jahrhundert v. Chr. von einer Kugelgestalt der Erde aus und beschrieb den für die Menschen zu kalten Norden, den für die Menschen ebenfalls unbewohnbaren heißen Süden und als dritten Kontinent die bewohnten Länder Asiens, Afrikas und Europas. Als vierten Kontinent hielt er eine über den Atlantik erreichbare Landmasse, die er Periökumene („um die Erde herum“) nannte, für möglich. Als weitere Vierergruppen waren im Mittelalter auch Zusammenstellungen wie Morgen–Mittag–Abend–Nacht, Kindheit–Jugend–Erwachsenenalter– Greisenalter und Frühling–Sommer–Herbst–Winter bekannt. Alles schien auf geheimnisvolle Weise ineinanderzugreifen. Mithilfe dieser Quartette arbeitet Hildegard von Bingen eine ganz eigene, geradezu wissenschaftliche Erklärung dafür heraus, wie der menschliche Kosmos und das Universum miteinander verbunden sind. Gestützt auf ihre Visionen vereinigt sie die vier Säfte und die vier Elemente zu den Paaren helle Galle/Feuer, Schleim/Wasser, dunkle Galle/Erde und Blut/Luft, die als entscheidende Faktoren für Gesundheit und Krankheit im menschlichen Körper verantwortlich sind: • Dass aus der Balance geratene Säfte Krankheiten zur Folge haben, hatte schon Hippokrates gelehrt; er nannte dieses Ungleichgewicht Dyskrasie. Bei Hildegard entstehen Krankheiten aus der unzulässigen Dominanz untergeordneter Körpersäfte. • Sind die Elemente und Säfte ausbalanciert (Eukrasie), ist der Mensch gesund. Wichtigstes Mittel der Einflussnahme war der Aderlass. Die buchstäblich mittelalterliche Auffassung von „Säften, die im Gleichgewicht sein müssen“, wurde von Medizinern bis ins frühe 19. Jahrhundert getragen. US-Präsident George Washington starb 1799 an einem übermäßigen Aderlass, bei dem ihm innerhalb kurzer Zeit knappe zwei Liter Blut entnommen wurden.
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Während Aderlässe in der heutigen Medizin nur eine sehr untergeordnete Rolle spielen, mutet eine andere Auffassung Hildegard von Bingens sehr modern an: Das Ziel der Medizin ist für sie nicht nur die Heilung von Krankheit, sondern auch die Ermöglichung einer gesunden Lebensführung. Die Vorbeugung ruht auf fünf Säulen: 1. Nahrungsmittel und Arzneimittel: Für Hildegard gibt es keine Trennung, beides sind Lebens- und Heilmittel. Sie sind in der Schöpfung zu finden, unter Pflanzen, Fischen, Tieren und Edelsteinen. 2. Ruhe und Aktivität: Bewegung und Ruhe (in Form von Gebet und Meditation) sollen in einem gesunden Gleichgewicht stehen. Die bekannte Regel der Benediktinermönche ora et labora – bete und arbeite – findet hier einen tieferen Sinn. 3. Wachsein und Schlafen: Zur gesundheitsfördernden Regeneration des Organismus gehört die Einhaltung gewisser Regeln und Rhythmen in Bezug auf Wach- und Schlafphasen. 4. Ausführungen aus dem Körper: Ausleitungsverfahren wie der Aderlass befreien den Körper durch die Entnahme von „schlechtem Blut“ von Giften, die durch übermäßiges Essen, Diätfehler, Stress, Sorgen, Angst und Enttäuschungen entstanden sind. 5. Stärkung seelischer Abwehrkräfte: Ständige Selbstreflexion sorgen für Gesundheit und Wohlbefinden auf allen Ebenen. Zu dieser Arbeit an sich selbst gehört die Aufgabe, sich die eigenen Stärken und Schwächen bewusst zu machen, sowie den Zusammenhängen zwischen Gefühlen, Gedanken und körperlichem Empfinden auf den Grund zu gehen. ***
Hildegard von Bingen war einerseits fest verwurzelt in den drei benediktinischen Tugenden Demut, Gehorsam und rechtes Maß, andererseits war sie auch eine starke Persönlichkeit, die ganz neue Ideen entwickelte und die nötige Souveränität besaß, ihre Argumente gegebenenfalls kontrovers vorzubringen. In der mittelalterlichen Gesellschaft war in der Regel kein Platz für selbstbewusste Frauen wie sie, doch Hildegard schaffte es, sich innerhalb der Kirche – also in einer damals ausschließlich von Männern geprägten Branche – die Verehrung deren Stellvertreter zu sichern. Gegen Ende ihres Lebens kam es jedoch noch zu einer tiefgehenden und schmerzhaften Auseinandersetzung mit ihrer Kirche. In Hildegards Kloster war ein exkommunizierter Adliger gepflegt worden; als er starb, wurde er auf dem Klosterfriedhof beerdigt. Das Mainzer Domkapitel erkannte
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jedoch nicht an, dass er nach einer Beichte die Sterbesakramente erhalten hatte, und verlangte, dass sein Körper in ungeweihter Erde beigesetzt werden sollte. Weil Hildegard sich weigerte, dieser Aufforderung Folge zu leisten, wurde dem Kloster untersagt, Gottesdienste zu feiern. Die Kirchentüren mussten geschlossen bleiben, es durften keine Glocken geläutet werden, und auch Gesang war verboten. Erst nach einigen Monaten hob der Mainzer Erzbischof das Interdikt wieder auf. Kurze Zeit später stirbt Hildegard mit 81 Jahren. Auch nach ihrem Tod wurde Hildegard verehrt. So wie zu ihren Lebzeiten, als sie sowohl treueste Dienerin der Kirche als auch eigensinnige Vordenkerin war, die deren Grenzen sprengte, ist sie heute Heilige und Nichtheilige zugleich. 1228 wurde ein Verfahren zur Heiligsprechung eröffnet, das bis heute nicht abgeschlossen ist. Knapp 800 Jahre später, im Mai 2012, wurde sie dennoch in den Heiligenkalender aufgenommen. Im Oktober desselben Jahres hat Papst Benedikt XVI. sie sogar in den Rang einer Kirchenlehrerin erhoben. Dieser Ehrentitel stellt sie auf eine Stufe mit Augustinus und Thomas von Aquin. Hildegard von Bingen hat sich zeit ihres Lebens nicht mit Mathematik beschäftigt. Ihre Ausführungen sind von einem tiefen religiösen Glauben durchwirkt. Zudem war sie eine frühe Mystikerin, deren Methoden das genaue Gegenteil der modernen Wissenschaften sind. Dass sie trotzdem in diesem Buch Aufnahme findet, hat einen besonderen Grund: So wie Peter Abaelard vermittelte sie allererste Gedanken, die der Rationalität verpflichtet waren. Sie öffnete die Tür zu einer Dynamik, aus der heraus sich zunächst sehr langsam und ab dem 17. Jahrhundert immer schneller die moderne wissenschaftliche Methodik entwickelte. Vielen Historikern gilt sie neben Peter Abaelard als Begründerin der wissenschaftlichen Geschichte Europas.
3 Laura Bassi (1711–1778) Die erste Universitätsprofessorin der Welt
Nach Hypatias Tod hatte es sieben Jahrhunderte gedauert, bis sich mit Hildegard von Bingen eine weitere Frau in der von Männern beherrschten Domäne der Gelehrsamkeit behaupten konnte. Nach ihrem Tod mussten weitere 600 Jahre vergehen, bis die nächsten bedeutenden Forscherinnen die Bühne der wissenschaftlichen Welt betraten, denn auch wenn in dieser Zeit die Geltung der Universitäten und des in ihnen gehüteten Wissens wuchs, waren Frauen im akademischen Betrieb strikt verboten. Nur sehr wenige konnten sich einen Platz in den Hörsälen und wissenschaftlichen Zirkeln erkämpfen: • Das Fachgebiet von Bettisia Gozzadini war die Rechtslehre; sie war also keine Wissenschaftlerin. Dennoch findet sie einen Platz in dieser Liste, denn sie hat 1237 in Bologna, der ältesten Universität der Welt, vermutlich als erste Frau in der Geschichte einen akademischen Abschluss erworben. Bis sie ab 1239 an der Universität lehren durfte, unterrichtete sie privat in ihrem Haus. • Ebenfalls in Bologna soll es Ende des 14. Jahrhunderts mit Dorotea Bucca eine Medizinprofessorin gegeben haben; die Quellen hierzu sind allerdings umstritten. • Zu Beginn der Aufklärung, in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts, durfte Anna Maria van Schurman mit offizieller Erlaubnis an der Utrechter Universität Vorlesungen hören. Sie musste allerdings hinter einem Vorhang sitzen, damit sie für männliche Studenten nicht zu sehen war. © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 L. Jaeger, Geniale Frauen in der Wissenschaft, https://doi.org/10.1007/978-3-662-66528-2_3
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• Zu dieser Zeit machten sich in Deutschland Maria Kunitz, Elisabetha Hevelius und etwas später auch Maria Winkelmann als Astronominnen einen Namen. • Eine der berühmtesten Frauen des 17. Jahrhunderts war die britische Naturphilosophin Margaret Cavendish. Unter anderem konnte sie der rein mechanistischen Welterklärung Newtons nicht viel abgewinnen, aber auch das biblische Erklärungsmuster leuchtete ihr nicht ein. Vielmehr entwickelte sie mit der Annahme einer „animierten“ Materie, die sich aus sich selbst heraus an- und umordnen kann, eine ganz eigene Erklärung für die Phänomene der Natur. Trotz der zum Teil sehr harschen Kritik sowohl von Newtonianern als auch von Klerikern wurde sie als erste Frau zu Sitzungen der 1660 gegründeten Royal Academy eingeladen. • Elena Lucrezia Cornaro Piscopia war 1678 die weltweit erste Frau, die einen Doktorgrad erlangte. Eigentlich war eine Promotion zu einem theologischen Thema geplant, doch kirchliche Würdenträger stellten sich quer. Da Piscopia in Philosophie ebenso bewandert war wie in Theologie, promovierte sie kurzerhand über aristotelische Logik. Leider lebte sie nicht lang genug, um die akademische Welt mit neuen Ideen zu prägen; sechs Jahre nach ihrer Promotion starb sie mit nur 38 Jahren. • Sybilla Merian erforschte ohne jede wissenschaftliche Ausbildung systematisch die Insektenwelt und unternahm 1699 bis 1701 eine Forschungsreise in die niederländische Kolonie Surinam. Das strikte Rollenverständnis in den europäischen Gesellschaften verhinderte, dass die genannten Persönlichkeiten den Geistesgrößen ihrer Zeit auf Augenhöhe begegneten und größeren Einfluss auf ihre Fachbereiche nehmen konnten. Erst Anfang des 18. Jahrhunderts kam ein wenig Bewegung in die festgefahrenen Konventionen. Im Zuge der Aufklärung rollte die wissenschaftliche Revolution wie eine mächtige Welle über Europa hinweg. Die Naturphilosophie war nicht mehr Sache einzelner Wissenschaftler, schlagartig stieg die Anzahl an Privatgelehrten und Universitätsprofessoren an. Auch das gebildete Bürgertum nahm an den Forschungsfortschritten in Physik und Mathematik großen Anteil und diskutierte in Salons und Cafés leidenschaftlich über philosophische und naturkundliche Fragestellungen. Doch immer noch war nur die Hälfte der Bevölkerung Europas an der Entwicklung beteiligt. Obwohl ein naturwissenschaftliches Studium für Frauen nicht infrage kam, gelang es in dieser Zeit gleich zwei von ihnen, ihre Talente zu entfalten und zu bedeutenden Vertreterinnen ihrer Fachgebiete zu werden: der Französin Émilie du Châtelet, der das folgende Kapitel gewidmet ist,
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und der Italienerin Laura Bassi. Während Émilie du Châtelet zeit ihres Lebens vergeblich darauf wartete, in die Pariser Académie des sciences aufgenommen zu werden, hatte Bassi mehr Glück: Sie lebte im Einzugsbereich der vergleichsweise fortschrittlichen Universität Bologna, die ihr ermöglichte, als weltweit erste Naturwissenschaftlerin einen Doktortitel zu erwerben und schon bald darauf als Professorin eigene Studenten auszubilden. Neben ihrem fundierten theoretischen und mathematischen Verständnis der Physik besaß sie ein herausragendes Talent für experimentalphysikalische Forschungen. Als einer der ersten Menschen ging sie systematisch auf die Phänomene von Elektrizität und Magnetismus ein. ***
Laura Bassi wurde 1711 in Bologna als Tochter des wohlhabenden Juristen Giuseppe Bassi und seiner Frau Rosa Marie Cesarei geboren. Als sie fünf Jahre alt war, begann ihr Cousin Pater Lorenzo Stegani sie in Latein, Französisch und Mathematik zu unterrichten. Von ihrem 13. Lebensjahr an war Gaetano Tacconi, der Arzt der Familie und angesehener Medizinprofessor an der Universität Bologna, ihr Hauslehrer in Philosophie, Metaphysik, Logik und Naturphilosophie. Nach sieben Jahren entzweiten sich die beiden, denn Tacconi bestand darauf, sich mit Bassi auf die Physik Descartes’, also die kartesianischen Lehren, zu konzentrieren. Doch die inzwischen 20-jährige Bassi interessierte sich mehr für Newtons Wissenschaft. Dieser Streit zwischen Lehrer und Schülerin spiegelte die Auseinandersetzung zwischen zwei Lagern wider, die damals die wissenschaftliche Welt spaltete: • Descartes hatte eine aufwendige und komplizierte Theorie zu den kosmischen Phänomenen entwickelt: Von Gott geschaffene Materiewirbel sollten alle Himmelserscheinungen, einschließlich der Entstehung von Sonne und Planeten, die Planetenbahnen und auch die Schwerkraft erklären. Mit den Wirbeln als Medium konnten zwei voneinander entfernte Objekte, zum Beispiel Erde und Sonne, auf direktem Wege Kräfte austauschen. • Newtons universelle Gravitationstheorie brauchte dagegen keine direkten Kontakte mehr zwischen den Himmelskörpern – und auch nicht zwischen Apfel und Erdboden. Mit seiner Formel ließ sich die Gravitation sogar in mathematischer Form vorhersagen und berechnen. Welche Anschauung die „richtige“ war, wurde von Gelehrten und auch den gebildeten Bürgern heiß diskutiert, oft ging die Auseinandersetzung ins
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Persönliche. Der Streit ist in etwa vergleichbar mit dem im Kalten Krieg des 20. Jahrhunderts darüber, ob der Kapitalismus oder der Kommunismus den Menschen zum Glück führen würde. 1731, zur Zeit des Bruchs mit Tacconi, arbeitete Bassi bereits an ihrem ersten naturphilosophischen Werk. 1732 erschienen ihre Philosophica studia, in denen sie 49 Thesen zur Logik, Metaphysik und Physik sowie zur Natur des Menschen präsentierte. Zuvor war bereits der einflussreiche Erzbischof von Bologna, Prospero Lorenzini Lambertini, auf Bassi und ihren hohen Grad an Bildung und Intellekt aufmerksam geworden. Als ihr Förderer arrangierte er eine zweistündige Debatte, die am 17. April 1732 zwischen Bassi und vier Professoren stattfand und zugleich ihre Doktorprüfung war. Diese öffentliche Veranstaltung im Rathaus von Bologna wurde zu einem großen Spektakel, denn eine sensationshungrige Menge fand sich ein, um die gelehrte Frau zu sehen. Selbstbewusst vertrat Bassi ihre 49 Thesen und beeindruckte mit ihrem Wissen die ihr gegenübersitzenden Professoren, manche Antwort ließ das Auditorium lautstark aufjubeln. Nach diesem Erfolg ging alles ganz schnell: Am 12. Mai 1732 verlieh ihr die Universität Bologna den Doktortitel für Philosophie (die damals auch die Naturwissenschaften umfasste). Darüber hinaus wurde die gerade einmal 21-Jährige in die Bologneser Akademie der Wissenschaften gewählt. Nie zuvor war einer Frau diese Ehre zuteilgeworden, weder in Bologna noch an einer anderen Universität. Die Begeisterung über ihre Leistungen fand ihren Ausdruck in öffentlichen Feierlichkeiten und der Veröffentlichung von Gedichtbänden zu ihren Ehren. Bassi nutzte die Gunst der Stunde und reichte an den Senat der Universität Bologna ein Gesuch um einen Lehrauftrag – also eine Professur – ein. Nur sechs Wochen nachdem man ihr den Doktortitel zuerkannt hatte, verteidigte sie im Palazzo dell’Archiginnasio, dem zentralen Gebäude der Universität, in einer Art Habilitationsvortrag zwölf weitere Thesen, die nun ein breites Themenspektrum aus Chemie, Physik, Hydraulik, Mathematik, Mechanik und Technik umfassten. Am 29. Oktober 1732 bewilligten der Senat und die Universität Bologna die Kandidatur Bassis und ernannten sie im Dezember zur Professorin für Philosophie. So machte Laura Bassi innerhalb eines einzigen Jahres eine Karriere von der Privatschülerin zur ersten festangestellten und auch bezahlten Universitätsdozentin der Geschichte. Weit über Bologna hinaus wurde sie als „Minerva“ und damit als Symbol der Wissenschaften verehrt. All diese außergewöhnlichen Erfolge waren in einem Überschwang einer allgemeinen Begeisterung erfolgt, die auch die etablierten Stellen mitgerissen hatte. Nun kamen die Bedenkenträger zum Zuge. So fortschrittlich
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und bedeutend die Universität Bologna auch im Vergleich zu den anderen europäischen Universitäten war, herrschte dort ebenfalls die Ansicht vor, dass Frauen im universitären Umfeld nicht erwünscht seien. Anders als ihre männlichen Kollegen gleichen Ranges musste Bassi jede ihrer Vorlesungen vom Magistrat ausdrücklich genehmigen lassen. Dies war keine reine Formsache, denn die Erlaubnis wurde ihr zu ihrem großen Unmut allzu oft verweigert. Während ihre Rechte beschnitten waren, sollte sie alle Pflichten eines Professors vollumfänglich erfüllen. Unter anderem erwartete der Senat ihre Teilnahme an verschiedenen öffentlichen Veranstaltungen, um von ihrem enormen Renommee zu profitieren. Diese Forderung erfüllte Bassi zum Teil sehr gerne. Zum Beispiel saß sie ab 1734 anlässlich der jährlich stattfindenden „Karnevalsanatomien“, bei der Leichen im Teatro anatomico der Universität Bologna öffentlich seziert wurden, mit großem Interesse im Auditorium. ***
Laura Bassi war das einzige überlebende Kind ihrer Eltern und verfügte nach dem Tod ihres Vaters über genügend Mittel, um unabhängige Entscheidungen zu treffen. Als Ehemann kam für sie nur jemand infrage, der sie nicht in ihren Freiheiten einschränkte oder gar dazu zwang, ihre akademische Karriere aufzugeben. Zum Erstaunen und Missfallen der Bologneser, die überaus stolz auf ihr Aushängeschild der Gelehrsamkeit waren, heiratete sie 1738 den nicht sehr begüterten Giuseppe Veratti, seines Zeichens Doktor der Medizin und Dozent für Anatomie an der Universität Bologna. Über ihre Erwartung schieb sie in jenem Jahr in einem Brief: „[…] und deshalb wählte ich einen Menschen, der wie ich auf dem Weg der Wissenschaft voranschreitet und bei dem ich durch langjährige Erfahrung sicher sein konnte, dass er mich nicht davon abbringen würde.“1
Im Verlauf der nächsten 14 Jahre bekam das Paar acht Kinder, von denen fünf das Erwachsenenalter erreichten. Dies hielt Laura Bassi – die nun eigentlich Veratti hieß, doch weiter unter ihrem Namen unter Bassi bekannt blieb – nicht davon ab, Vorlesungen zu halten. Ihr Ehemann, der als Arzt eher praktisch veranlagt war, inspirierte sie, sich mehr mit experimenteller Physik zu beschäftigen. Gemeinsam richteten sie ein Privatlabor ein und führten dort zahlreiche Experimente durch.
1 Frize,
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Außerhalb ihres Privatlebens erwiesen sich ihre Bemühungen um Akzeptanz und Gleichstellung jedoch als ein ständiger Kampf gegen Windmühlen. Daran änderte auch die Riege ihrer mächtigen Freunde und Förderer nichts. 1739 wurde ihre Bitte, ihr Lehramt mit allen Rechten zu versehen, erneut verweigert, trotz der expliziten Unterstützung prominenter Gönner wie Erzbischof Lambertini und Flamino Scarselli, des Sekretärs des bolognesischen Botschafters am päpstlichen Hof. Einen Teilerfolg konnte sie 1740 verbuchen: Sie durfte nun Privatunterricht in ihrem Haus erteilen. Diese Erlaubnis schenkte ihr die Gelegenheit, außerhalb des Lehrplans der Universität eigene Themen in den Mittelpunkt zu stellen. Ein weiteres Beispiel für ihre mit Zurücksetzungen durchwirkten Erfolge ist ihre Aufnahme in die Gruppe der sogenannten Benedettini. 1745 reorganisierte ihr inzwischen als Papst Benedikt XIV amtierender Förderer Lambertini die Akademie der Wissenschaften von Bologna und initiierte die Gründung einer erlesenen Runde von 25 Wissenschaftlern. Bologna war eine der berühmtesten und besten Universitäten, damit gehörten diese Benedettini zu den bedeutendsten Gelehrten Europas. Mindestens einmal im Jahr sollten sie ihre Forschungsergebnisse präsentierten und so einen Querschnitt durch die aktuellen Themen der Wissenschaften liefern. Laura Bassi setzte alles daran, in diese ausgewählte Schar aufgenommen zu werden, stieß aber auf den kategorischen Widerstand der meisten der bereits ausgewählten männlichen Kollegen. Benedikt XIV., einer der mächtigsten Männer der Christenheit, konnte nichts gegen die auf ihre Privilegien beharrenden Gelehrten ausrichten und musste einen Kompromiss anbieten: Bassi wurde das 25. Mitglied der Gruppe, allerdings ohne dieselben Stimmrechte wie ihre Kollegen. ***
Laura Bassi interessierte sich vor allem für die Newton’sche Physik. Während in der Universität Bologna noch die in mancher Hinsicht altbackenen Lehren Descartes’ und Galileis auf dem Lehrplan standen, wendete sie sich den brandaktuellen Themen der Gravitationskraft, der Dynamik von Flüssigkeiten und Luft zu. Auch die Geheimnisse von Elektrizität und Magnetismus, die damals noch nicht als zusammenhängende Phänomene erkannt worden waren, faszinierten sie. Sie war eine großartige Theoretikerin, kannte sich in der Mathematik sehr gut aus und wurde mit der Zeit zu einer ausgezeichneten Praktikerin, die in ihrem Privatlabor zahlreiche neuartige Experimente durchführte. Neugierig und mutig löste sie sich von alten Erklärungsmustern, wenn sie Theorien für das Beobachtete entwarf. Bald kamen Studenten aus ganz Italien und sogar aus anderen Teilen Europas nach Bologna, um Bassis Vorlesungen zu hören und Zeugen
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ihrer Experimente zu werden. Ihre jeweils achtmonatigen Kurse boten den Teilnehmern einen weit umfassenderen Unterricht als die Veranstaltungen der Universität – weder die Newton’sche Physik noch die Franklin’sche Elektrizität standen in Bologna auf dem offiziellen Lehrplan. 1755 gründete Bassi eine Schule und Diskussionsstätte für Experimentalphysik. Einer ihrer Studenten war der junge Alessandro Volta, der später revolutionäre Entdeckungen auf dem Gebiet der Elektrizität machte und die erste stromproduzierende Maschine konstruierte. Auch etablierte Naturwissenschaftler fanden sich im Hause von Laura Bassi ein, darunter Abbé Nollet, der einige Jahre darauf sein umfangreiches Werk zur Experimentalphysik schrieb und der erste Professor dieses Fachs in Frankreich wurde, und Lazzaro Spallanzani, der den Zusammenhang zwischen dem Durchmesser von Blutgefäßen und der Blutflussgeschwindigkeit erfasste. Letzterer, der später wichtige experimentelle Beiträge zu Körperfunktion und Fortpflanzung von Tieren leistete und ein angesehenes Mitglied vieler wissenschaftlicher Gesellschaften und Akademien wurde, erklärte einmal, er wäre ohne sein Studium bei Laura Bassi nie Experimentator geworden. Die praktische Seite der Physik barg allerdings einen großen Nachteil: Bassi bezog zwar eines der höchsten Gehälter der Universität, doch war das Experimentieren eine sehr kostspielige Angelegenheit. Anders als viele ihrer Kollegen musste sie Geräte und Materialien aus eigener Tasche bezahlen. Am 16. Juli 1755 schrieb sie in einem Brief an Scarselli: „Was meine physikalischen Experimente betrifft, so bin ich angesichts der Tatsache, dass die ständigen Kosten, die mir entstehen, irgendeine Form der Unterstützung erfordern, wenn ich sie vorantreiben und vervollkommnen will, fast verzweifelt.“2
Es sollte noch etwa 20 Jahre dauern, bis die Universität ihr einige Mittel für ihre Experimente bewilligte. ***
Laura Bassi war fasziniert davon, wie sich Luft und Flüssigkeiten unter Druck und in Bewegung verhalten. Schon der Titel ihrer ersten Vorlesung, mit der sie 1732 den Doktorgrad erlangt hatte, weist auf dieses Thema hin: „De aqua corpore naturali elemento aliorum corporum parte universi“ („Über Wasserkörper als natürliches Element aller anderen Körper im Universum“). Später, in der zweiten Hälfte der 1740er-Jahre, folgten Betrachtungen wie 2 Frize,
2013, S. 53.
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„Über die Kompression der Luft“, „Über die in frei fließenden Flüssigkeiten beobachteten Blasen“ und „Über Luftblasen, die aus Flüssigkeiten entweichen“. Viele ihrer Experimente führte Bassi zum Boyle-Mariotte-Gesetz durch, das die Konstanz des Produktes von Druck und Volumen für ideale Gase beschreibt; unter anderem erforschte sie den Einfluss der Temperatur auf die Gaseigenschaften. Ihre Erkenntnisse fanden teilweise Anwendung in der Praxis. Sie entwickelte zum Beispiel ein mathematisches Verfahren, mit dem Wasserbauingenieure unter idealen Bedingungen die optimale Größe und Lage von Rohröffnungen unter Wasser berechnen können; der Einfluss von Turbulenzen konnte jedoch erst später mathematisch bewältigt werden. Auch die Elektrizität begeisterte sie, denn so wie bei der Gravitation wirken auch hier unsichtbare Kräfte. Das damals noch kaum erforschte Phänomen war einem breiten Publikum als Spektakel bekannt: In öffentlichen Shows wurden Versuchspersonen mit Elektrizität aufgeladen, sodass sie Schießpulver und Alkohol entzünden, Funken erzeugen oder den Zuschauern kleine elektrische Schläge versetzen konnten. Doch Bassi wollte der Sache auf den Grund gehen. Niemand zuvor hatte sich systematisch mit dem Wesen von Elektrizität und Magnetismus beschäftigt. Diese Phänomene waren zwar bereits seit der Antike bekannt, doch die Gelehrten hatten mit ihnen nicht viel anzufangen gewusst. Auch Newton hatte sie in seiner Physik nur am Rande erwähnt. Jahrzehnte bevor Luigi Galvani seine berühmten Versuche mit Froschschenkeln unternahm, entwickelte das Ehepaar Bassi/Veratti fundamentale wissenschaftliche Experimente zur Elektrizität. Während Veratti über therapeutische Anwendungsmöglichkeiten gegen Kopfschmerz, Arthritis, Rheuma, tränende Augen und sogar Herpesinfektionen forschte, wollte Bassi mehr über das Phänomen an sich erfahren. Bereits 1752 war auf ihre Initiative hin auf dem Dach der Akademie der Wissenschaften von Bologna der erste Blitzableiter der Welt installiert worden – in jenem Jahr hatte Benjamin Franklin seine Theorie veröffentlicht, dass ein Blitz nichts anderes als Elektrizität sei, die sich gezielt ableiten lässt. Der Blitzableiter hatte allerdings schon nach kurzer Zeit wieder abgebaut werden müssen, denn die Bevölkerung hatte Angst gehabt, er würde Blitze anziehen. Bassis Experimente der 1760er-Jahre bestärkten ihre Ansicht, dass Elektrizität ein Fluidum sei – die Existenz der „fließenden“ Elektronen wurde erst 150 Jahre später nachgewiesen. ***
Aufgrund ihrer Verwaltungsaufgaben, familiären Pflichten als Mutter von acht Kindern sowie häufiger, meist mit Schwangerschaft und Geburt in Verbindung stehender Erkrankungen veröffentlichte Bassi nur wenig Schriftliches.
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Sie hat nie ein Buch geschrieben, in dem sie ihr breites Wissen zusammenfasst, und von den insgesamt 28 Abhandlungen, meist über Physik und Hydraulik, die sie bei der Akademie anlässlich ihrer jährlichen Vorlesungen eingereicht hatte, sind die wenigsten erhalten.3 Neben ihrer Doktorarbeit von 1732 wurden nur vier ihrer Arbeiten in höherer Auflage gedruckt: 1. De aeris compressione („Über den Luftdruck“, 1745) 2. De problemate quodam hydrometrico („Über bestimmte Probleme der Hydrometrie“, 1757) 3. De problemate quodam mechanico („Über bestimmte Probleme der Mechanik“, 1757) 4. De immixto fluidis aere („Über die Vermischung von Flüssigkeiten aus der Luft“, posthum veröffentlicht 1792) Es ist vor allem ihre mit den bedeutendsten europäischen Persönlichkeiten geführte Korrespondenz, die ihren Einfluss auf die Wissenschaft bezeugt. Zu ihren Briefpartnern gehörten der Genfer Naturwissenschaftler, Philosoph und Anwalt Charles Bonnet, der Physiker Alessandro Volta und der italienische Universalgelehrte Paolo Frisi. Auch Voltaire stand mit ihr in regelmäßigem Kontakt. Als er so wie Bassi in die Akademie der Wissenschaften in Bologna aufgenommen werden wollte, schrieb er ihr: „Es gibt keinen Bassi in London, und ich wäre viel glücklicher, in Ihre Akademie von Bologna aufgenommen zu werden als in die der Engländer, auch wenn sie einen Newton hervorgebracht hat.“4
Vielleicht hat diese Schmeichelei dazu beigetragen, dass er später tatsächlich Mitglied der Akademie wurde. Im Verlauf ihrer viele Jahre währenden wissenschaftlichen Karriere musste Laura Bassi darauf achten, dass sie nicht zwischen den Polen der großen Anerkennung, die sie in der wissenschaftlichen Gemeinschaft besaß, und den ständigen Zurücksetzungen innerhalb derselben Gemeinschaft zerrissen 3 Einen
Überblick über ihre wissenschaftlichen Arbeiten liefert Domenico Piani in Catalogo dei lavori dell’Antica Accademia, raccolti sotto i singoli autori (1852). In neueren Versionen in: Alberto Elena, In lode della filosofessa di Bologna: An Introduction to Laura Bassi, Isis, Vol. 82, Nummer 3 (1991) p. 510– 18 (https://www.journals.uchicago.edu/doi/10.1086/355839); und auch Beate Ceranski, Und sie fürchtet sich vor niemandem. Die Physikerin Laura Bassi (1711–1778), Campus-Verlag, Frankfurt a. M. (1996). 4 Paula Findlen, Wissenschaft als Karriere in der Aufklärung Italiens: Die Strategien von Laura Bassi, Isis, Vol. 84, Nummer 3 (1993) S. 441–469. https://www.journals.uchicago.edu/doi/10.1086/356547.
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wurde. Besonders schmerzhaft muss es für sie gewesen sein, dass ihre Alma Mater, die hochberühmte und fortschrittliche Universität Bologna, sich lange nicht dazu durchringen konnte, sie allein nach ihren wissenschaftlichen Verdiensten zu bewerten. Ihr hohes Gehalt konnte nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie kein gleichberechtigtes Mitglied der Professorenschaft war. Erst 1776, zwei Jahre vor ihrem Tod, wurden ihre Leistungen endlich mit der Übertragung des naturwissenschaftlichen Lehrstuhls Bolognas gewürdigt. Allerdings war dieser Chefposten für Experimentalphysik zuerst ihrem Ehemann angeboten worden. Veratti, der Mediziner und nicht Naturwissenschaftler war, hatte die Stelle aber zugunsten seiner Frau abgelehnt. Nach ihrer Ernennung arbeitete er als ihr Assistent. Ihre massive Förderung der Wissenschaften und nicht zuletzt der Ausbildung des Nachwuchses in ihrem Haus sowie die Reputation ihrer eigenen wissenschaftlichen Arbeiten hatten den Entscheidern kaum eine andere Wahl gelassen. Endlich konnte sie ihre Studenten unabhängig von den veralteten Vorstellungen, denen viele ihrer Kollegen und Vorgesetzten noch anhingen, an einer der berühmtesten Universitäten des Abendlandes unterrichten. ***
Laura Bassi war hochgebildet und kannte sich im Kanon von Philosophie und Physik bestens aus. Über diese wissenschaftlichen Kenntnisse hinaus war sie mit der klassischen Literatur sowie der modernen Literatur Frankreichs und Italiens vertraut. In vielen literarischen Zirkeln war sie ein beliebtes Mitglied. In der Wissenschaft folgte sie nicht blind einer Denkschule, sondern machte sich zu jedem Thema ihre eigenen Gedanken. Bis an ihr Lebensende blieb sie geistig beweglich: • Die 49 Thesen, die sie mit 20 Jahren der Universität Bologna präsentierte, waren in metaphysischer Hinsicht, also bezüglich der Grundprinzipien und Ursachen alles Seienden, noch stark von Aristoteles beeinflusst. Zum Beispiel bezieht sie sich diesem antiken Denker entsprechend auf die vier Ursachen, die beim Werden eines Gegenstandes zusammentreffen: die causa materialis, das Material, die causa efficiens, der Arbeiter, der auf dieses Material einwirkt, die causa formalis, die Form, die der Gegenstand erhält, und die causa finalis, der Verwendungszweck, für den der Gegenstand vorgesehen ist.
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• Den Lehren Descartes’ folgte sie, wenn es um die Erklärung unserer Fähigkeit zu Erkenntnis ging. Im Wesentlichen teilte sie dessen Auffassung, dass das Bewusstsein unseres Selbst die Wahrhaftigkeit unserer Sinneswahrnehmungen beweist. Die Trennung von Geist und Materie, wie sie Descartes gelehrt hatte, lehnte sie dagegen ab. • Auf dem Feld der Naturwissenschaften und Naturphilosophie hielt sie sich an Newton, dessen Physik der Bewegungen und der Gravitation sie überzeugt hatte. So wie er ging sie davon aus, dass sich alle Phänomene der Welt mechanistisch erklären lassen – auch die der Biologie und Chemie. Doch auch Newton war nicht sicher vor ihrer Kritik: Seinen Vorstellungen zum Wirken Gottes in der Welt, mit der er die Bewegung der Planenten erklärte, folgte sie nicht. Und auch mit seinen obskuren und irrationalen alchemistischen Experimenten konnte sie nicht viel anfangen. Ihre Eigenständigkeit im Denken machte Laura Bassi zu einer der Schlüsselfiguren der Aufklärung in Italien, einem Land, in dem das wissenschaftliche Denken bis in ihre Zeit hinein noch stark unter dem Einfluss Galileis stand. Sie machte in ihrem Heimatland den Weg frei für die Einführung der mechanistischen Vorstellungen Newtons. Die daraus hervorgehende Neuorientierung der Naturwissenschaften in ihrem Land war einer ihrer wichtigsten Verdienste. 1778 starb Laura Bassi im Alter von 66 Jahren. Ihr Gesundheitszustand hatte unter anderem durch ihre zahlreichen Schwangerschaften und die teils schwierigen Geburten ihrer Kinder gelitten. Als Todesursache wurde ein „Anfall in der Brust“ angegeben, wahrscheinlich war es ein Herzinfarkt.
4 Émilie du Châtelet (1706–1749) Die Vordenkerin der frühen Aufklärung
Als Newton 1687 der Welt seine Gesetze der Mechanik schenkte, war dies die Geburtsstunde der wissenschaftlichen Revolution. Mit ihnen wurde der Weg frei für eine völlig neue Weltanschauung, in der kein göttliches Wesen mehr auf rätselhafte Weise den Flug einer Kanonenkugel oder die Belastungsgrenze eines Ladekrans bestimmte, sondern das Geschehen sich wissenschaftlich erklären und sogar vorausberechnen ließ. In Grundzügen hatten ein halbes Jahrhundert zuvor schon Galilei und Kepler diesen radikal neuen Gedanken beschrieben, dieser hatte aber noch keinen fruchtbaren Boden gefunden. In seinem Heimatland England wurde Newton zum Nationalhelden, doch es dauerte viele Jahrzehnte, bis seine Gedanken den Sprung auf das europäische Festland schafften. Daran, dass sein Werk Philosophiae Naturalis Principia Mathematica (kurz: Principia ) nur wenigen Fachleuten verständlich war, änderten auch die späteren Ausgaben seines Werkes von 1713 und 1726 wenig. Es war eine Frau, die die Principia aus dem Lateinischen ins Französische übersetzte und durch ganz eigenständige Verbesserungen der mathematischen Darstellung einer breiteren Leserschaft verständlich machte. Ihr Name: Émilie du Châtelet. Knapp 60 Jahre nach der Erstausgabe von Newtons Werk ermöglichte sie den Durchbruch und die Weiterentwicklung der neuen Physik auf dem europäischen Festland und befeuerte so die Aufklärung. Dabei folgte sie auch eigenen innovativen wissenschaftlichen Gedanken, die über Newton hinausgingen und sie der Physik teils 100 Jahre vorauslaufen ließ.
© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 L. Jaeger, Geniale Frauen in der Wissenschaft, https://doi.org/10.1007/978-3-662-66528-2_4
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Als große Denkerin und Ausnahme-Gelehrte des 18. Jahrhunderts tauschte sich Émilie du Châtelet mit nahezu allen großen Wissenschaftlern ihrer Zeit aus. Auch Friedrich der Große, unter dessen Herrschaft die Königliche Akademie der Wissenschaften in Berlin ihre erste Blütezeit erlebte, war ihr Bewunderer. In der von 1738 bis 1744 andauernden Korrespondenz zwischen dem preußischen König und der französischen Gelehrten findet sich ein bemerkenswertes Zeugnis des für eine Frau jener Zeit ungewöhnlichen Selbstbewusstseins du Châtelets: „Beurteilen Sie mich nach meinen Meriten oder nach dem Fehlen solcher Meriten; doch betrachten Sie mich nicht bloß als Gefolge etwa dieses großen Generals oder jenes verdienten Gelehrten, dieses Sterns am französischen Hofe oder jenes berühmten Dichters. Ich bin ein eigener Mensch und mir allein verantwortlich für alles, was ich bin oder tue. Es mag Metaphysiker und Philosophen geben, deren Wissen größer ist als das meine; ich habe sie noch nicht kennengelernt. Doch auch sie sind nur schwache, mit Fehlern behaftete Menschen, und wenn ich meine Gaben zusammenzähle, so darf ich wohl sagen, dass ich niemandem unterlegen bin.“1
Émilie du Châtelet wurde am 17. Dezember 1706 geboren, ihr Vater war ein Offizier am französischen Hofe, der sich 1699 einen niederen Adelstitel gekauft hatte. Die Talente seines einzigen Kindes wurden früh erkannt; als es etwa zehn Jahre alt war, kamen Lehrer für Mathematik, Literatur, Sprachen und Naturwissenschaften ins Haus. Mit zwölf Jahren sprach Émilie fließend Latein, Italienisch, Griechisch und Deutsch. Da ihre Eltern gesellschaftlich aktiv waren und den Gepflogenheiten entsprechend in Paris einen Salon führten, kam sie von Kindheit an mit vielen Berühmtheiten der damaligen Zeit in Kontakt, darunter der einflussreiche französische Aufklärer JeanBaptiste Rousseau. Mit 18 Jahren heiratete Émilie in den Hochadel ein. Aus der Ehe mit dem zwölf Jahre älteren Marquis Florent Claude du Chastellet (die Schreibweise dieses Namens wurde später in Châtelet geändert) gingen in den folgenden sieben Jahren drei Kinder hervor. Als die Familiennachfolge gesichert war, akzeptierte ihr Mann wie damals üblich, dass seine Frau während seiner Abwesenheit Affären hatte. Da sich der Marquis als General und Diplomat des Königs nur selten zu Hause aufhielt, hatte Émilie du 1 Hagengruber,
2011, S. 2.
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Châtelet ausgiebig Gelegenheit, ihr Leben selbstbestimmt zu führen. Im Jahr 1733, sie war 26 Jahre alt, nahm sie mathematische Studien auf. Schon bald überflügelte sie ihre Lehrer und machte sich auf die Suche nach einem Mathematiker, von dem sie noch etwas lernen konnte. Ihre Wahl fiel auf den sieben Jahre jüngeren Alexis Clairaut, der als mathematisches Wunderkind galt; er wurde ihr Lehrer und vorübergehend auch ihr Liebhaber. Langfristig gehörte ihr Herz jedoch einem anderen. Kurz nach der Geburt ihres dritten Kindes hatte sie mit dem Philosophen und Literaten FrançoisMarie Arouet l(e) J(eune) – besser bekannt unter dem Anagramm Voltaire – eine leidenschaftliche Affäre begonnen. Beide schätzten den scharfen Verstand des jeweils anderen. Nur ein Jahr nach Beginn ihrer Beziehung führte Voltaires jüngste Veröffentlichung dazu, dass ein Haftbefehl gegen ihn ausgestellt wurde. Er musste Paris verlassen und fand Unterschlupf in einem der Anwesen von du Châtelets Ehemann. Voltaire richtete sich in dem in der Champagne gelegenen Schloss Cirey ein, denn von hier aus hätte er notfalls ins nahe Ausland flüchten können. Du Châtelet gab ihr bisheriges gesellschaftliches Leben auf und folgte ihm nach Cirey, wo sie sich zunehmend der Mathematik und später auch der Physik widmete. Der Marquis hatte keine Einwände, vielmehr freute er sich, dass der unter anderem durch ominöse Investitionsgeschäfte sehr wohlhabende Liebhaber seiner Frau das Schloss auf eigene Kosten renovieren und erweitern ließ. Man störte sich nicht aneinander; regelmäßig waren alle drei gleichzeitig auf Schloss Cirey anwesend. Voltaire und du Châtelet hatten zahlreiche weitere Affären mit anderen Partnern, doch ihre intensive Beziehung hielt 15 Jahre. Das Schloss in der Champagne wurde schnell sehr populär, denn der berühmte Literat Voltaire ließ in dem von ihm gebauten Privattheater seine Stücke aufführen. Cirey entwickelte sich aber auch zu einem Zentrum der Wissenschaften. In einem neuen Gebäudeflügel wurde eine Forschungseinrichtung mit neuesten Laborgeräten aus London untergebracht und die Büchersammlung stand der Bibliothek der Académie des sciences in Paris in nichts nach.
Es war ein Idealbild des aufgeklärten Zeitalters: Gemeinsam diskutierten du Châtelet und Voltaire philosophische Themen, widmeten sich den schönen Künsten und führten physikalische Experimente durch. Doch auch diese Beziehung war offenbar nicht ganz frei von Eitelkeiten. Beide wünschten, den regelmäßig vergebenen Preis der Pariser Académie des sciences, Dreh-
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scheibe der aktuellen Forschungsthemen, zu gewinnen. 1738 waren die Gelehrten aufgefordert, wissenschaftliche Arbeiten zum Thema „Wesen des Feuers“ einzureichen. Du Châtelet wusste, dass Voltaire an einem eigenen Beitrag schrieb, der nicht sehr originell war und sich hauptsächlich auf die Ideen des niederländischen Physikers und Mathematikers Willem’s Gravesande sowie dessen Kollegen Pieter van Musschenbroek stützte. Heimlich arbeitete sie nachts im Labor des Schlosses, um ihrem Geliebten keinen Einblick in ihre Erkenntnisse geben zu müssen. Auch die Abgabe ihrer Arbeit war eine Farce: Du Châtelet, die bereits mit den bedeutendsten Wissenschaftlern ihrer Zeit in regem Austausch stand und sich deren Bewunderung sicher sein konnte, durfte als Frau weder an den Sitzungen der Académie teilnehmen noch dort eine Arbeit einreichen. Eine ähnliche Situation hatte du Châtelet einige Jahre zuvor schon einmal erlebt. Als sie versucht hatte, in Paris das Café Gradot zu betreten, den bedeutendsten Treffpunkt der führenden Mathematiker, war ihr umgehend die Tür gewiesen worden. Eine Woche später erschien sie erneut im Café, dieses Mal als Mann verkleidet. Täuschen wollte und konnte sie mit ihrem Auftritt niemanden, ihr Erscheinen wurde so aufgefasst, wie es gemeint war: als ein Protest gegen die Regel, Frauen vom wissenschaftlichen Betrieb auszuschließen. Die Mathematiker waren amüsiert und ließen sie herein. Als sie ihre Arbeit über das Feuer bei der Académie des sciences einreichte, verkleidete sie sich wieder als Mann – erneut mit Erfolg. Nach Bewältigung dieser Hürde besaß ihr Manuskript die gleichen Chancen wie die Manuskripte ihrer Konkurrenten, denn zu den Regeln der Akademie gehörte, dass die Wettbewerbsmanuskripte anonym ausgewertet wurden. Weder du Châtelet noch Voltaire gewannen den Preis dieses Jahres. Er ging an den Schweizer Mathematiker Leonhard Euler, der ihn übrigens insgesamt zwölfmal gewann, und an zwei weitere Wissenschaftler. Erst jetzt verriet du Châtelet ihrem Freund Voltaire, dass auch sie einen Beitrag eingereicht hatte. Dessen Reaktion ist nicht bekannt, wohl aber die der Académie des sciences: Man war von ihrer „Dissertation sur la nature et la propagation du feu“ („Dissertation über die Natur und die Ausbreitung des Feuers“) so angetan, dass sie auf Kosten der Académie unter ihrem Namen veröffentlicht wurde – damit wurde ihr Beitrag zum ersten wissenschaftlichen Werk einer Frau, das offiziell und mit Unterstützung der zuständigen Institution gedruckt wurde. In ihrer Arbeit kam du Châtelet zu einigen interessanten Erkenntnissen über die Natur des Lichts, die damals noch sehr umstritten war. Unter anderem stellte sie folgende Überlegungen an:
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• Licht hat eine enorm hohe Geschwindigkeit. Wenn es eine Masse hätte und diese auf die Erde trifft, müsste die Folge verheerend sein. Ihr Schluss: Da solche Auswirkungen nicht zu beobachten sind, muss Licht masselos sein. Genau dies bestätigt die heutige Quantentheorie. • Sie brachte die Idee ins Spiel, dass es mehr Farben geben könne als die, die das menschliche Auge erkennt. Infrarotstrahlung und UV-Licht wurden erst 170 Jahre später entdeckt.
Trotz ihrer Erfolge und zunehmenden Vernetzung in der wissenschaftlichen Welt bekam du Châtelet immer wieder Steine in den Weg gelegt. Ende der 1730er-Jahre übersetzte sie Bernard Mandevilles Bienenfabel aus dem Englischen ins Französische. Das recht seltsame Werk über Moral hatte mit seinem Untertitel „Private Laster als öffentliche Vorteile“ in den europäischen Gesellschaften wie eine Bombe eingeschlagen. Du Châtelet übersetzte nicht nur, sie kommentierte und bearbeitete auch den Text, indem sie bestimmte Abschnitte ausließ und an anderen Stellen Material hinzufügte. Wie moderne Wissenschaftler kennzeichnete sie die veränderten Stellen jeweils deutlich. In ihrem Vorwort bezog sie wie so oft deutlich Position zur Benachteiligung der Frauen: „Ich spüre das ganze Gewicht des Vorurteils, das uns so allgemein von den Wissenschaften ausschließt; es ist einer der Widersprüche im Leben, der mich immer erstaunt hat, wenn ich sehe, dass das Gesetz uns erlaubt, das Schicksal großer Nationen zu bestimmen, dass es aber keinen Ort gibt, an dem wir zum Denken ausgebildet werden [...] Der Leser möge darüber nachdenken, warum im Laufe so vieler Jahrhunderte zu keinem Zeitpunkt eine gute Tragödie, ein gutes Gedicht, eine angesehene Erzählung, ein schönes Gemälde, ein gutes Buch über Physik von einer Frau geschaffen wurde. Warum diese Geschöpfe, deren Verstand in jeder Hinsicht dem des Mannes ähnlich zu sein scheint, von einer unwiderstehlichen Kraft aufgehalten werden, aber bis sie es tun, werden die Frauen Grund haben, gegen ihre Bildung zu protestieren. [...] Ich bin überzeugt, dass viele Frauen sich ihrer Talente entweder nicht bewusst sind, weil ihre Erziehung mangelhaft ist, oder dass sie sie aus Mangel an intellektuellem Mut aufgrund von Vorurteilen verbergen. Meine eigene Erfahrung bestätigt dies. Der Zufall machte mich mit Literaten bekannt, die mir die Hand der Freundschaft reichten. [...] Ich begann dann zu glauben, dass ich ein Wesen mit einem Verstand sei […].“2 2 Ehrman,
1986.
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Besonders deutlich wurde ihre Streitbarkeit in dem heftigen Konflikt mit dem einflussreichen Mathematiker, Astronomen und Geophysiker JeanJacques Dortous de Mairan. Die Debatte entzündete sich an du Châtelets Hauptwerk über die Physik, die Institutions de physique, die sie im Frühjahr 1740 mit 34 Jahren veröffentlicht hatte. In ihm gab sie einen Überblick über die Theorien von Descartes, Newton und Leibniz und damit über den damaligen Stand des Wissens über Physik und Astronomie. Im letzten Teil ihres Buches griff sie Mairans Arbeit von 1728 an, in der dieser sich stark an Descartes’ Wirbeltheorie von 1644 hielt: Aller Raum sollte mit einem sich kreisförmig bewegenden Äther gefüllt sein, der alle Materie in das Zentrum der Wirbel drückt – dies war Descartes’ Erklärung für die Gravitation. Du Châtelet konnte dieser Theorie, die in Frankreich die Physik immer noch wesentlich beeinflusste, nicht viel abgewinnen. Die moderneren Ideen Newtons, die ihr der französische Mathematiker Pierre-Louis Moreau de Maupertuis – auch er zeitweise ihr Liebhaber – nahegebracht hatte, fand sie sehr viel plausibler. Doch auch die Newton’sche Physik, die sich nur in Teilen von Descartes’ Ideen gelöst hatte, kommentierte du Châtelet stellenweise sehr kritisch. Der deutsche Mathematiker Samuel König hatte sie auf ihre Bitten hin mit den Theorien des deutschen Universalgelehrten Leibniz bekannt gemacht. Dessen Auffassungen überzeugten sie weit stärker als die von Descartes oder Newton – das erste Kapitel ihres Buches ist bis heute eine der klarsten Darstellungen der Leibniz’schen Lehre in französischer Sprache. Du Châtelets besaß somit das Wissen, in ihrem Buch Institutions de physique die Auffassungen der drei Schwergewichte der europäischen Wissenschaften – Descartes, Newton und Leibniz – zu vergleichen und zu bewerten. Ihr Buch wurde ins Italienische und Deutsche übersetzt (auf Deutsch lautete der Titel Der Frau Marquisinn von Chastellet Naturlehre an Ihren Sohn zur Physik ) und war so erfolgreich, dass ihr Lehrer Samuel König versuchte, sich als dessen Autor auszugeben. Dieser Verrat war nur eine der Enttäuschungen, mit der sich du Châtelet befassen musste, denn nun betritt Dortous de Mairan die Bühne. Dass du Châtelets Buch wie so vieles, was sie schrieb, zu heftigen Debatten unter den Gelehrten Europas führte, war erwünscht – Diskussion ist schließlich eine der tragenden Säulen der Wissenschaft. Doch die Gegenangriffe des überzeugten Cartesianers de Mairan überschritten die Grenzen des Anstands. Er hörte nicht auf seine Kollegen, die ihm rieten, das Buch du Châtelets zu ignorieren, um ihr nicht noch mehr öffentliche Aufmerksamkeit zu schenken. Stattdessen schoss er sich auf du Châtelet ein und
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wurde persönlich. Er fand es unter seiner Würde, mit einer Frau diskutieren zu müssen, und riet ihr, bei ihrem mangelnden Wissen doch zu Hause an ihrem Platz zu bleiben3. Doch du Châtelet dachte nicht daran, klein beizugeben, und veröffentlichte in der folgenden Auflage ihrer Institutions, die 1742 erschien, die jeweiligen Argumente der Debatte, damit sich jeder Leser selbst ein Bild machen konnte4. Rückenwind bekam sie unter anderem von ihrem Newton-Lehrer Maupertuis. Er lobte ihr Werk öffentlich und bezog deutlich Position: „Sie hat in der Sache und in der Form Recht.“ In der dritten Auflage ihres Werkes, die 1744 auf den Markt kam, ließ du Châtelet einen Teil ihrer Antworten wieder streichen und schrieb: „Ich bin nicht Sekretärin der Akademie, aber ich habe Recht, und das ist alle Titel wert.“
Gemeint war natürlich Dortous de Mairan, der Chefsekretär der Académie des Sciences war. Dieses Selbstbewusstsein steigerte ihre Bekanntheit und ihr Ansehen noch einmal beträchtlich. Genau dies hatten de Mairans Kollegen gefürchtet. Einer der vielen Leser ihres Buches war der junge Immanuel Kant. 1747 trat der 23-Jährige mit seinem Werk Gedanken zur wahren Schätzung der lebendigen Kräfte zum ersten Mal ans Licht der Öffentlichkeit; Thema war die Auseinandersetzung zwischen du Châtelet und Dortous de Mairan.
Noch ein Wort zum Streit zwischen du Châtelet und Dortous de Mairan: Zu jener Zeit wurden Kraft und Energie noch als Synonyme verwendet, auch Leibniz und Newton unterschieden noch nicht zwischen diesen physikalischen Größen, die sich grundlegend voneinander unterscheiden. Du Châtelet war die erste Person der Geschichte, die den Begriff der Energie als unabhängig von der Kraft erläuterte. Auf der Grundlage ihrer eigenen empirischen Studien quantifizierte sie den Zusammenhang der Energie mit Kraft, Weg, Masse sowie räumlicher Position und war damit ihrer Zeit um ein Jahrhundert voraus. 3 Lettre
de M. de Mairan à Madame la marquise du Chastellet sur la question des forces vives, en réponse aux objections qu’elle lui fait sur ce sujet dans ses „Institutions de physique“ sur Gallica (1741). 4 Réponse de Madame la marquise Du Chastelet à la lettre que M. de Mairan, secrétaire perpétuel de l’Académie royale des sciences, lui a écrite, le 18 février 1741, sur la question des forces vives [archive] (16 mars 1741).
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Ein besonders strittiger Punkt in der Diskussion um Kräfte und Energien waren die Reibungsphänomene. Newton hatte sich vorgestellt, alle Bewegung in der Welt und damit auch die Energie müsse aufgrund der Reibungskräfte immer weiter abnehmen, allein Gott könne sozusagen die Uhr wieder aufziehen. Er hatte auch die Ansicht vertreten, die Bewegungsenergie sei proportional zu Geschwindigkeit (v ) und Masse (m ). Die von ihm formulierte Gleichung E = mv beschreibt jedoch nach heutigem Wissen weder Kraft noch Energie, sondern den Impuls (p ) eines Systems: p = mv. Leibniz und seine Anhänger waren dagegen der Meinung, dass „Kraft“ (gemeint war Energie) durch Reibung nicht verloren geht, sondern nur umgewandelt werde. Leibniz hatte auch schon Vermutungen darüber geäußert, dass die kinetische Energie (für ihn noch „Kraft“) proportional zum Quadrat der Geschwindigkeit sei, also E = mv2. Er nannte diese „Kraft“ vis viva („lebendige Kraft“). Du Châtelet unterstützte diese Vermutung, indem sie ein mögliches Prinzip der Gleichheit der Energien ins Spiel brachte. Wer hatte recht? Die damaligen Experimente waren widersprüchlich und ließen keine eindeutige Antwort auf diese Themen zu. In ihrem physikalischen Hauptwerk Institutions de physique befasste sich du Châtelet detailliert mit der Vis-Viva-Debatte, bei der es darum ging, wie man die „Kraft“ eines Körpers am besten misst und möglichen Grundsätzen ihrer Umformung und Erhaltung auf die Spur kommt. Einen entscheidenden Beweis für Leibniz’ und ihre Sichtweise fand sie in einem Experiment von Willem ’s Gravesande. Bereits 1722 hatte der Niederländer Messingkugeln gleicher Masse mit verschiedenen Geschwindigkeiten auf einen weichen Lehmboden fallen lassen und ihr seine Resultate später in einem Briefwechsel persönlich mitgeteilt. Wäre die Gleichung Newtons E = mv richtig, müsste eine Kugel, die doppelt so schnell wie eine andere fällt, auch doppelt so tief einsinken. Ein Gewicht, das dreimal so schnell fällt, würde sich dreimal so tief in den Boden bohren. Aber ’s Gravesande hatte etwas anderes gemessen: Eine Messingkugel mit doppelter Geschwindigkeit hinterließ einen viermal tieferen Abdruck im Ton. Wurde sie dreimal so schnell hinabgeschleudert, sank sie neunmal so tief in den Lehm. Diese Ergebnisse sprachen für einen Zusammenhang der Energie mit dem Quadrat der Geschwindigkeit, ganz entsprechend der Auffassung von Leibniz und du Châtelet. Als Anhänger Newtons hatte ’s Gravesande es nicht gewagt, dessen Auffassung zu widersprechen. Doch du Châtelet kombinierte die praktischen Beobachtungen des Niederländers mit eigenen Experimenten und der Leibniz’schen Idee der lebendigen Kräfte und veröffentlichte in ihren Institutions de physique die korrigierte Formel Newtons:
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„Jetzt gab es endlich eine starke Rechtfertigung dafür, mv2 als fruchtbare Definition von Energie in Betracht zu ziehen.“
Insgesamt gibt es in du Châtelets Werk drei Stellen, die sie zu einer wichtigen Wegbereiterin der Relativitätstheorie im 20. Jahrhundert machen: 1. Ihre Formel E = mv2 ist die direkte Vorläuferin von Einsteins E = mc2. 2. Auch ihre Aussage, es gäbe „keine Materie ohne bewegende Kraft und keine bewegende Kraft ohne Materie“, lässt sich als eine Antizipation der Einstein’schen Äquivalenz von Masse und Energie interpretieren5. 3. Eine weitere Festlegung Newtons ohne empirischen Nachweis war die Absolutheit von Raum und Zeit: Er stellte sich den Ablauf der Zeit und das Wesen des Raumes als göttlich vorgegeben und damit als unveränderlich vor. Doch für du Châtelet wie auch für Leibniz war klar: Newtons Lehre von der Absolutheit von Raum und Zeit ist falsch, ebenso seine Auffassung von einer Fernwirkung der Gravitation. 200 Jahre später zeigte Einstein mit seiner Relativitätstheorie, dass sie recht hatten – Raum und Zeit sind nicht absolut. Ein weiterer wichtiger Beitrag zur modernen Physik ist ihr Gedanke, dass die damals bekannten Energien – Bewegungsenergie, Lageenergie und Formänderungsenergie – ineinander übergehen können und ihre Summe gleich bleibt. Mitte des 18. Jahrhunderts steckte diese Idee noch in den Kinderschuhen. Der Erhaltungssatz für die Gesamtenergie in abgeschlossenen mechanischen Systemen wurde erst 100 Jahre später endgültig anerkannt und ausformuliert.
Du Châtelet gelang es, Punkt für Punkt die Argumente des Cartesianers Dortous de Mairan zu widerlegen, sodass dieser sich gezwungen sah, sich mit angeschlagener Reputation aus der Kontroverse zurückzuziehen. Der Konflikt war auch für sie kraftraubend gewesen, doch er motivierte du Châtelet zuletzt dazu, sich noch tiefer mit den Unterschieden zwischen Leibniz und Newton zu befassen. Dies war der Anstoß dazu, Newtons Principia ins Französische zu übersetzen. Diese Übersetzung wurde zu du Châtelets einflussreichster Arbeit. Wie zuvor schon bei ihrer Bearbeitung
5 David
Bodanis, Einsteins Irrtum – Das Drama eines Jahrhundertgenies, Basic Books (2017).
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der Bienenfabel hatte sie den Mut, eigene Gedanken und Verbesserungen einzubringen, denn ihrer Meinung nach waren Newtons Ausführungen, so brillant seine gesamte Theorie auch war, an manchen Stellen zu kurz, zu ungenau und teilweise sogar fehlerhaft. Unbestechlich erkannte sie die Stellen, an denen sich Newton – so wie bei seiner Annahme, dass Raum und Zeit absolut seien – auf nicht geprüfte Voraussetzungen gestützt hatte, und verbesserte diese in ihrer Übersetzung. Das dritte Buch der Principia mit dem Titel Über das Weltsystem, in dem Newton seine mathematischen Ergebnisse mit Eigenschaften der Natur vergleicht und Folgerungen für die Praxis zieht, bearbeitete sie besonders stark. Ihr Mut, einen der größten Physiker aller Zeiten zu berichtigen, betrifft vor allem die Infinitesimalrechnung, die in Newtons Ausführungen eine zentrale Bedeutung einnimmt. Dass das fast 60 Jahre zuvor erschienene Werk Newtons bis dahin nur bei wenigen Kontinentaleuropäern Bekanntheit und Zustimmung gefunden hatte, lag vor allem daran, dass er aus der euklidischen Geometrie heraus sehr unhandliche und teilweise recht abstruse mathematische Wege für die Berechnung von Unendlichkeiten und Grenzwerten entwickelt hatte. Das besondere Verdienst du Châtelets lag darin, dass sie Newtons Schreibweisen, die nur die besten Mathematiker nachvollziehen konnten, durch die auf dem Kontinent üblichen und weitaus praktikableren Notationen des deutschen Universalgelehrten Gottfried Wilhelm Leibniz ersetzte. Dieser hatte zeitgleich mit Newton mathematisch äquivalente Berechnungswege gefunden, die so einfach sind, dass die Differential- und Integralrechnung nur etwas mehr als 100 Jahre später in den Mathematikunterricht der gymnasialen Oberstufe aufgenommen wurde. Indem du Châtelet die Gedanken Newtons mit der Leibniz’schen Infinitesimalrechnung vereinte, trug sie wesentlich dazu bei, dass mit einiger Verspätung auch auf dem Kontinent die epochale Bedeutung des Newton’schen Werks erkannt wurde. Die Bedeutung ihrer Übersetzung und Bearbeitung der Principia lässt sich an der Tatsache festmachen, dass die wissenschaftliche Welt Englands, die noch eine lange Zeit weiter mit der ineffektiven Mathematik ihres Nationalhelden Newton rechnete, nach dessen Tod an Bedeutung verlor und damit dem übrigen Europa lange Zeit um viele Jahrzehnte hinterherhinkte. Erst als auch hier endlich die umständliche Newton’sche Integralrechnung durch die von Leibniz ersetzt wurde, konnten die englischen Naturwissenschaftler nach und nach wieder zu ihren Kollegen auf dem Festland aufschließen.
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Du Châtelets konsequente Auseinandersetzung mit Newtons Werk brachte ihr Ruhm und Ehrungen ein. Auf eine Mitgliedschaft in der Pariser Académie des Sciences wartete sie jedoch ihr Leben lang vergeblich. Einzig die Akademie der Wissenschaften in Bologna trug sie 1746 als Mitglied ein, kein anderes Institut in Europa nahm damals offiziell Frauen in ihre Reihen auf. Du Châtelet war sehr stolz auf diese Anerkennung aus Italien. Durch ihren in Frankreich geläufigen Titel „Apostel Newtons“ fühlte sie sich geehrt, obwohl sie ihn sehr deutlich kritisierte. Auch die Bezeichnungen „Emilia Newtonmania“ und „Venus Newton“ ließ sie sich gern gefallen. Auf ihr Privatleben wirkten sich ihre Unbestechlichkeit und Klarsichtigkeit weniger positiv aus. Voltaire war aus weltanschaulichen Gründen ein unerschütterlicher Bewunderer Newtons, denn dessen mechanische Gesetze waren Wasser auf seine Mühlen der Rationalität. Durch du Châtelet hatte er genügend mathematische Kenntnisse erworben, um Newtons Physik so weit zu verstehen, dass er 1738 das vergleichsweise einfach zu lesende Werk Éléments de la philosophie de Newton veröffentlichen konnte. Doch da er – anders als du Châtelet – der schwierigen Mathematik nicht im Detail folgen konnte, war seine kritiklose Annahme der Ideen Newtons irrational und entsprach nicht seinen eigenen Maßstäben. Voltaire wusste um diese Inkonsistenz in seinem sonst so kompromisslosen Denken, und er wusste auch, dass Émilie du Châtelet diesen Widerspruch erkannte. Er konnte nicht ertragen, dass er sich seiner Geliebten als fehlerhaft im Denken zeigte. Auch wenn sie zeit ihres Lebens freundschaftlich verbunden blieben, wurde dies doch zu einem Hauptgrund für das Ende von Voltaire und du Châtelet als Liebespaar. 16 Jahre lang war sie seine ebenbürtige geistige Gefährtin und ihm in mathematischen und naturwissenschaftlichen Fragen sogar haushoch überlegen gewesen. Von 1745 an arbeitete sie unermüdlich vier Jahre an der Übersetzung von Newtons Principia und ihren Kommentaren. Im Mai 1748 begann Émilie du Châtelet eine Affäre mit dem Dichter Jean François de Saint-Lambert und wurde mit über 40 Jahren noch einmal schwanger. Sie ahnte, dass diese späte Schwangerschaft lebensgefährlich war, und arbeitete umso ruheloser an ihrem Werk. Am 10. September 1749, sechs Tage nach der Geburt ihrer Tochter, stellte sie ihr Manuskript fertig. Genau an diesem Tag verstarb sie an einer durch Schwangerschaft und Geburt hervorgerufenen Lungenembolie. Sie war 42 Jahre alt geworden. Die endgültige Ausgabe ihrer Bearbeitung von Newtons Principia wurde 1759, zehn Jahre nach ihrem Tod, veröffentlicht – ihre Ergänzungen machen ein Viertel des zweibändigen Gesamtumfangs aus. Bis heute handelt es sich um die offizielle Übertragung von Newtons Hauptwerk ins Französische.
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Émilie du Châtelets früher Tod hatte eine direkte Auswirkung auf die Aufklärung in Deutschland: Erst jetzt folgte Voltaire, der sich du Châtelet auch nach ihrer Trennung sehr verbunden gefühlt hatte, der Einladung Friedrichs des Großen nach Potsdam. Er schrieb: „Keine Frau war jemals gelehrter als sie, doch niemand verdiente es weniger als sie, als Blaustrumpf6bezeichnet zu werden. Sie sprach über die Wissenschaft immer nur mit denen, von denen sie glaubte, etwas lernen zu können; niemals diskutierte sie darüber, um die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen […]. Lange Zeit bewegte sie sich in Kreisen, die ihren Wert nicht kannten, und sie schenkte dieser Ignoranz keine Beachtung. […] Eines Tages sah ich sie, wie sie eine neunstellige Zahl durch neun andere Zahlen teilte, in ihrem Kopf, ohne jede Hilfe, in Gegenwart eines Mathematikers, der nicht mit ihr mithalten konnte.“7
Voltaires Würdigung der wissenschaftlichen Leistungen seiner Freundin war eine der letzten für lange Zeit. Du Châtelet hatte intensiv mit berühmten Mathematikern wie Johann II. Bernoulli und Leonhard Euler korrespondiert. Zu ihren Lebzeiten wurden ihre Werke in Paris, London und Amsterdam veröffentlicht und immer wieder neu aufgelegt; sie wurden ins Deutsche und Italienische übersetzt und in den wichtigsten wissenschaftlichen Zeitschriften der Epoche diskutiert. Doch nahezu umgehend nach ihrem Tod begannen missgünstige Zeitgenossen, ihre Arbeit aktiv zu verunglimpfen. Andere verdrängten schlichtweg ihren bedeutenden Anteil an der Entwicklung der wissenschaftlichen Denkweise in Frankreich und ihren Beitrag zur Entwicklung der modernen Wissenschaften. Die Vorstellung, dass eine Frau viele der wichtigsten Gedanken zur Newton’schen Physik, die in den folgenden 150 Jahren die Basis der Wissenschaft bildete, maßgeblich mitentwickelt hatte, wurde als so seltsam empfunden, dass in den meisten Veröffentlichungen der nächsten Zeit ihre Urheberschaft verschwiegen wurde. Ein Beispiel ist die ab 1751 von Denis Diderot und Jean-Baptiste D’Alembert herausgegebene Encyclopédie, die als Sammlung des damaligen Wissens als eines der wichtigsten Werke der französischen Aufklärung gilt: Eine ganze Reihe von Artikeln in diesem Standardwerk wurde du Châtelets
6 Im 18. und 19. Jahrhundert eine Bezeichnung für eine gebildete Frau, die ihre weiblichen Eigenschaften zurückstellte. 7 Voltaire, Vorwort über Marquise du Châtelet, in I. Newton, Principes mathématiques de la philosophie naturelle. Nachdruck der französischen Version (1990).
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Buch Institutions de physique entnommen, ohne dass sie als Quelle genannt wird. Trotz der ab Mitte des 20. Jahrhunderts beginnenden systematischen und quellenkritischen Aufarbeitung von du Châtelets enormer Leistung8 wird der Verdienst, Newtons Physik popularisiert und ihr zum Durchbruch verholfen zu haben, noch heute zu einem großen Teil Voltaire zugeschrieben – dabei verfügte dieser nicht annähernd über das dafür notwendige mathematische Wissen. Fakt ist: Newtons Erfolg auf dem Kontinent ist nahezu ausschließlich Émilie du Châtelet zu verdanken. Ihr Werk Institutions de physique sowie ihre Übersetzung und Kommentare zu Newtons Principia trugen bedeutend zur Akzeptanz von Newtons Mechanik und damit zur Vollendung der wissenschaftlichen Revolution in Frankreich bei. Ihr ist es zu einem großen Teil zu verdanken, dass Physik und Mathematik zu Grundlagen der Aufklärung wurden.9 Die Welt hatte viele Hundert Jahre warten müssen, bis mit Laura Bassi und Émilie du Châtelet erneut große Forscherinnen die Wissenschaften belebten. Doch mit Beginn des 19. Jahrhunderts wurden Frauen zu einer festen Größe im Forschungsbetrieb. Die Zeit von allein durch Männer bestimmten Epochen der Wissenschaftsgeschichte war ein für alle Mal vorbei.
8 Siehe
auch J.P. Zinssers (Herausgeberin) über du Châtelet, Selected Philosophical and Scientific Writings, University of Chicago Press (2009); hier insbesondere der Abschnitt: „Du Châtelet’s Contemporary and Subsequent Reputation“ (S. 16–22). 9 Ruth Hagengruber, Hartmut Hecht, Émilie du Châtelet und die deutsche Aufklärung, Springer Verlag (2019).
5 Sophie Germain (1776–1831) Die größte Mathematikerin Frankreichs
Das 19. Jahrhundert war das Jahrhundert der Wissenschaften und der rasanten technologischen Fortschritte – im Jahr 1900 konnten die meisten Waren hundertfach schneller produziert werden als noch im Jahr 1800. Nie zuvor hatte es zeitgleich so viele bedeutende Physiker, Chemiker und Mathematiker gegeben. Doch der Anteil der Frauen an dieser Entwicklung war immer noch bescheiden. Sophie Germain war eine der ersten Frauen, die im 19. Jahrhundert ihr Fach prägten. Wie Émilie du Châtelet und Laura Bassi hatte auch sie keine Chance auf eine reguläre wissenschaftliche Ausbildung an einer öffentlichen Einrichtung gehabt, geschweige denn an einer Universität. Doch anders als ihre Vorgängerinnen, die beide von Kind an im Hause ihrer Familie von ausgewählten, teils berühmten Lehrern unterrichtet wurden, hatte Germain eine weitere Hürde zu überwinden: Sie musste sich ihr Wissen selbst aneignen. Ihr Vater, ein reicher Pariser Kaufmann, verfügte über eine umfassende Bibliothek, in deren kostbaren Bänden auch seine drei Töchter lesen durften. Als Mann der Aufklärung stand er dem Wissensdrang seiner Kinder nicht im Wege, für sie einen Privatlehrer zu engagieren, kam ihm allerdings nicht in den Sinn. Die Bücher ihres Vaters eröffneten Sophie Germain eine neue Welt. Schon als kleines Kind faszinierte sie die Geschichte vom Tod des Archimedes. Der größte Mathematiker der Antike wurde 212 v. Chr. bei der Eroberung seiner Heimatstadt Syrakus von einem römischen Soldaten getötet, da er lieber weiter geometrische Figuren in den Sand zeichnete, als sich in Sicherheit zu bringen – seine letzten Worte „Störe meine Kreise © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 L. Jaeger, Geniale Frauen in der Wissenschaft, https://doi.org/10.1007/978-3-662-66528-2_5
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nicht!“, die er seinem Mörder zurief, gingen in die Geschichte ein. Sophie Germain staunte über diese Hingabe zur Mathematik und wollte mehr über diese Wissenschaft erfahren. Ihre Eltern waren zwar liberal gesinnt, doch die frühe Leidenschaft ihrer Tochter für Mathematik wurde ihnen unheimlich. In der Hoffnung, deren nächtliche Lesestunden zu verhindern, verweigerten sie ihr die benötigten Kerzen und ließen ihr Zimmer nicht mehr heizen. Erst als sie ihr Kind eines Wintermorgens schlafend auf einem Stuhl in ihrem Zimmer vorfanden, zusammengekauert unter einer Decke und bis auf die Knochen durchgefroren, neben ihr ein Mathematikbuch, eine heruntergebrannte Kerze aus einem Versteck und ein Tintenfass mit gefrorenem Inhalt, gaben sie ihren Widerstand auf. Ihre exzentrische Tochter durfte von nun an so viel Zeit mit ihren Studien verbringen, wie sie wollte. Mit 13 Jahren begann Sophie Germain, sich mit höherer Mathematik zu beschäftigen, wobei die Abhandlungen Leonhard Eulers sie besonders begeisterten. In diesem Alter lernte sie auch aus dem Mathematiklehrbuch Traité d’arithmétique von Étienne Bezout komplizierte Divisionen, Multiplikationen und Logarithmen, und dies schon mit komplexen Zahlen, wie zum Beispiel die Wurzel aus −1 eine ist. Als Nächstes brachte sie sich die Infinitesimalrechnung bei – und zwar sowohl in Form der modernen Darstellung Leibniz’ und du Châtelets als auch in der sehr komplizierten Formulierung Isaac Newtons, die schon Voltaire überfordert hatte. Auch das Lateinische eignete sich Germain im Selbststudium an, denn Newtons, Leibniz’ und Eulers Werke waren in dieser Sprache verfasst. 1794, im fünften Jahr der Französischen Revolution, wurde Sophie Germain 18 Jahre alt. In diesem Jahr wurde in Paris mit der École centrale des travaux public, aus der später die École Polytechnique hervorging, eine neue Hochschule eröffnet, die explizit Mathematiker und Wissenschaftler für das Land ausbilden sollte – unabhängig davon, ob die Studenten von Adel waren oder nicht. Wie aufregend muss diese Gründung für die bürgerliche Sophie Germain gewesen sein! Doch auch wenn der Wahlspruch der Französischen Revolution „Liberté, fraternité, égalité ou la mort“ („Freiheit, Brüderlichkeit, Gleichheit oder Tod“) lautete, war einer Personengruppe der Zugang zu dieser neuen Akademie immer noch verwehrt: den Frauen. Zu Germains Glück waren die Vorlesungsmitschriften der neuen Universität auch Nichtstudenten zugänglich. Sie besorgte sich die Unterlagen und bekam so die Möglichkeit, von vielen prominenten Mathematikern der damaligen Zeit zu lernen. Besonders interessierten sie die Vorlesungen des großen Mathematikers Joseph-Louis Lagrange zur Infinitesimalrechnung.
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Sophie Germain hatte ihr Studium bisher allein bewältigt; niemand in ihrem Umfeld hätte ihr ein Feedback zu ihren Gedanken geben können. Entsprechend unsicher war sie sich, wie ihre Kenntnisse der Mathematik zu bewerten seien. Sie sehnte sich auch nach einem direkten Austausch mit einem ihrer Vorbilder. Als der Student Auguste LeBlanc, der sie mit Unterrichtsmaterial aus den Vorlesungen Lagranges versorgt hatte, in den Wirren der Französischen Revolution ums Leben kam, sah Germain eine Chance: Sie sandte ihre eigenen Arbeiten unter dessen Namen an Professor Lagrange. Dieser war beeindruckt und wollte bald den Studenten, der so erstaunliche mathematische Gedanken formulierte, persönlich treffen. Germain nahm all ihren Mut zusammen und erschien zur Verabredung. Lagrange fiel aus allen Wolken, als er sah, dass „Monsieur LeBlanc“ eine Frau war, aber in Anerkennung ihrer Fähigkeiten wurde er ihr Mentor. Dank seiner Unterstützung wurde Germains Name in den gebildeten Kreisen von Paris schnell bekannt und respektiert. Dieser Erfolg ermutigte sie, in Korrespondenz mit weiteren bedeutenden Mathematikern zu treten. In diesen Briefwechseln verwendete sie anfangs ihr Pseudonym „Monsieur LeBlanc“, später jedoch diskutierte sie offen als Frau mit nahezu allen großen Mathematikern ihrer Zeit. Germain hatte das Glück, Zeuge und Teil einer der aufregendsten Phasen der Mathematikgeschichte zu werden: Mit der Zahlentheorie, die sich mit den Eigenschaften der ganzen Zahlen beschäftigt – die ursprünglichste Disziplin der Mathematik und auch heute noch eine ihrer zentralen Themen –, wurde erstmals als Basis der gesamten Mathematik systematisch erforscht. 1798 veröffentlichte Adrien-Marie Legendre, einer der bekanntesten Mathematiker jener Zeit, seinen „Aufsatz über die Zahlentheorie“ („Essai sur la théorie des nombres“, kurz: „Théorie des nombres“). 1801 folgte das größte Werk zu diesem Thema, das je geschrieben wurde: die Disquisitiones Arithmeticae von Carl Friedrich Gauß, durch das nach heutiger Auffassung die Zahlentheorie erst zu einer selbstständigen und wissenschaftlich geordneten Disziplin wurde. Nur wenige Mathematiker jener Zeit konnten das Gauß’sche Monumentalwerk überhaupt verstehen – Sophie Germain gehörte zu diesem erlesenen Kreis. Dank der Inspiration durch Legendre und Gauß erreichten ihre eigenen Gedanken zur Zahlentheorie neue Höhen. Mit Legendre tauschte sie zahlreiche Briefe aus. 1804 begann dann auch die Korrespondenz mit Carl Friedrich Gauß, von dessen Arbeiten zur Zahlentheorie sie fasziniert war. In beiden Fällen benutzte sie ihr Pseudonym, um ihre weibliche Identität zu verschleiern. Auch wenn Gauß oft erst nach Monaten auf Germains Briefe antwortete, war er doch von „Monsieur LeBlancs“ Arbeit so beeindruckt, dass er den
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„unbekannten Franzosen“ in Briefen an andere Mathematiker lobte. Da er sich so gut wie nie lobend über Berufskollegen äußerte, war dies eine besondere Ehrung. Erst 1806 fand Gauß heraus, wer Monsieur LeBlanc wirklich war. Zu dieser Zeit tobten die Napoleonischen Kriege, und Franzosen besetzten Gauß’ Heimatstadt Braunschweig. Sophie Germain fürchtete, dass ihrem geschätzten Briefpartner das Schicksal des Archimedes widerfahren und er getötet werden könnte. Also schrieb sie an General Pernety, einen Freund ihrer Familie, und bat ihn, für die Sicherheit des Mathematikgenies zu sorgen. Dieser schickte den Chef eines Bataillons zu Gauß. Die Sorge war unbegründet gewesen, aber die Antwort auf Gauß’ Frage, wem er diese Sonderbehandlung zu verdanken habe, sorgte für Verwirrung. Eine Sophie Germain war ihm unbekannt. Nach einigem Hin und Her wurde die Identität seines vermeintlichen Kommunikationspartners offenbar. So wie schon Lagrange reagierte auch Gauß auf die Entdeckung, dass „Monsieur LeBlanc“ eine Frau war, nicht mit Verärgerung und Ablehnung, sondern mit großer Bewunderung. Er war begeistert von der außergewöhnlichen Begabung seiner Briefpartnerin und dem Mut, mit dem sie sich an die schwierigen Probleme der Zahlentheorie herangewagt hatte. In einem Brief an sie schrieb Gauß im selben Jahr: „Aber wie kann ich mein Erstaunen und meine Bewunderung beschreiben, als ich meinen geschätzten Korrespondenten Monsieur LeBlanc verwandelt sah. […] Aber wenn eine Frau aufgrund ihres Geschlechts, unserer Gewohnheiten und Vorurteile auf unendlich mehr Hindernisse stößt als ein Mann, wenn sie sich mit ihren kniffligen Problemen vertraut macht und dennoch diese Fesseln überwindet und in das Verborgenste eindringt, hat sie zweifellos den edelsten Mut, ein außergewöhnliches Talent und ein überlegenes Genie.“1
Leider endete kurz darauf der Austausch zwischen Sophie Germain und Carl Friedrich Gauß über die Zahlentheorie. Als Germain 1808 in einem Brief einige ihrer weiteren Ideen zu diesem Bereich der Mathematik beschrieb, erhielt sie keine Antwort mehr. Gauß hatte eine Stelle als Professor für Astronomie an der Universität Göttingen angenommen und mit der Zahlentheorie abgeschlossen. Auch Germain wandte sich nun einem anderen Thema zu.
1 Mackinnon,
1990.
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1808 zeigte der deutsche Physiker und Astronom Ernst Chladni einem faszinierten Publikum von Pariser Gelehrten, wie ein in Schwingung gebrachter Geigenbogen sichtbare Muster in einer Sandschicht erzeugte, die auf einer flachen Glasplatte ausgebreitet worden war. Nur bestimmte Bereiche der Platte vibrierten, und der Sand häufte sich dort an, wo die Platte unbewegt war. Es war längst bekannt, dass Musiknoten und Klänge durch Schwingungen verursacht werden, insbesondere die Schwingungen von Saiteninstrumenten ließen sich mithilfe von Differentialgleichungen berechnen. Leonhard Euler hatte mit diesem mathematischen Instrument bereits die Mathematik eines schwingenden Stabes beschrieben. Im Eindimensionalen war die Sache also klar. Doch das Experiment mit dem Geigenbogen und der mit Sand bestreuten Platte stieß in mathematisch weitaus anspruchsvollere Bereiche vor. Wie ließ sich das Schwingungsverhalten im zweidimensionalen Raum mathematisch bewältigen? Chladnis Experiment forderte die Gelehrten heraus. 1809 setzte Kaiser Napoleon höchstselbst einen Preis für die Entwicklung einer mathematischen Theorie elastischer Oberflächen aus. Dieser Preis weckte auch Germains Interesse, denn mit Differentialgleichungen kannte sie sich aus. Doch wie sich herausstellen sollte, erfordert die Betrachtung von Schwingungen im zweidimensionalen Raum eine weitaus kompliziertere Analysis als die der Schwingungen im eindimensionalen Raum. Durch die zusätzliche Dimension explodiert die Anzahl der möglichen Konvergenzmuster geradezu und damit auch die Komplexität der benötigten Differentialgleichungen. Germains Freund und Förderer Lagrange riet ihr und anderen Mathematikern davon ab, sich an der Lösung dieses Problems zu versuchen. Er wusste, dass hierzu ein ganz neues Analysesystem erforderlich war, das ein einzelner Mathematiker unmöglich allein entwickeln könne. Doch Germain ließ sich nicht entmutigen. Ihr Ansatz bestand darin, ein neues Verfahren Lagranges, die sogenannte Variationsrechnung, auf Eulers frühere Ergebnisse anzuwenden. Ihre Idee war gut, doch nun kamen die Versäumnisse ihres bisherigen Lebensweges zum Tragen. Sie hatte nie eine abgeschlossene Ausbildung erhalten, entsprechend fragmentiert waren ihre mathematischen Kenntnisse. Während sie sich in einzelnen Bereichen mit den besten Mathematikern zu beiderseitigem Gewinn austauschen konnte, sie teilweise sogar überflügelte, zeigten sich auf anderen Gebieten deutliche Lücken. Außerdem machten gesellschaftliche Konventionen es ihr als alleinstehende Frau schwer, mit anderen Mathematikern unbefangen zu kommunizieren. In den Briefwechseln zeigte sich zum Beispiel, dass die meisten Korrespondenzpartner Hemmungen hatten, die Gefühle einer jungen Frau durch Kritik an ihrer Arbeit zu verletzen.
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Germain beherrschte die Variationsrechnung nicht perfekt, und so schlichen sich Fehler in ihre Berechnungen ein. Mithilfe ihres Mentors Legendre, der ihre Ideen trotzdem beeindruckend fand, erarbeitete sie eine Lösung und reichte sie im September 1811 ein – als einzige Teilnehmerin; kein anderer Mathematiker hatte einen auch nur halbwegs passablen Berechnungsweg gefunden. Die Jury entschied jedoch, dass Germains Beitrag nicht den Anforderungen entsprach, und verlängerte den Wettbewerb um weitere zwei Jahre. Germain versuchte es erneut und erhielt 1813 für ihren nächsten Beitrag, der wieder einige Fehler aufwies, nicht mehr als eine lobende Erwähnung. In diesem Jahr starb ihr väterlicher Freund Lagrange, sie musste also ohne dessen Hilfe weiterarbeiten. Doch Germain gab nicht auf. In der Zwischenzeit hatte sich ein Konkurrent zu Wort gemeldet: Siméon Denis Poisson, ein 33-jähriger Physiker und Mathematiker aus dem Umfeld Lagranges, der in der akademischen Welt schnell Karriere gemacht hatte. Im August 1814 behauptete er, die Lösung gefunden zu haben, und versuchte, die neue Ausgabe des Preises aussetzen zu lassen, um ihn später selbst in Empfang nehmen zu können. Doch es zeigte sich schnell, dass seine Formeln nicht mehr als ein Neuaufguss von Germains zweitem Versuch waren und ebenfalls Fehler enthielten. Das Rennen war also wieder offen. 1815 reichte Sophie Germain ein drittes Mal eine Arbeit zu den Schwingungen elastischer Oberflächen ein. Die „Recherches sur la théorie de surfaces élastiques“ („Recherchen zur Theorie elastischer Oberflächen“) war die Essenz ihrer jahrelangen Forschung; das Manuskript besaß nur den halben Umfang ihrer früheren Versuche, enthielt aber bedeutende neue Rechenwege. Ihre Lösungen gingen sogar über das geforderte Problem hinaus: Sie beschränkten sich nicht auf die Untersuchung streng zweidimensionaler Ebenen, sondern ließen gekrümmte Oberflächen zu. Mit dieser Erweiterung der bislang von ihr und Poisson eingereichten Arbeiten setzte sie sich noch einmal deutlich von ihrem Konkurrenten ab. Dieser hatte nach seinem Versuch von 1814 keine neue Arbeit mehr eingegeben. Nach sieben Jahren unermüdlicher Arbeit wurde die inzwischen 39-jährige Sophie Germain am 8. Januar 1816 endlich zur Preisträgerin der Pariser Académie des sciences, eine Ehrung, an der 80 Jahre zuvor Émilie du Châtelet und Voltaire gescheitert waren. Seit 1720 waren die prestigeträchtigen Preise ausgelobt worden, Sophie Germain war die erste Frau, die einen von ihnen gewann. Doch in den Triumph mischte sich manch bitterer Beigeschmack. Ihr Konkurrent Poisson erwies sich als schlechter Verlierer und erschien nicht zur Preisverleihung; so wie er erkannten auch einige andere Mathematiker die Preisvergabe nicht an. Und auch die Preis-
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richter, die durchaus die hohe Qualität der Arbeit lobten, konnten es nicht lassen, auf einige Mängel in Germains Arbeit hinzuweisen. Es dauerte noch Jahrzehnte, bis Mathematiker einer neuen Generation es schafften, die verbliebenen Unzulänglichkeiten zu beheben. Die größte Demütigung war jedoch, dass Sophie Germain absurderweise an ihrer eigenen Preisverleihung nicht teilnehmen durfte, denn zu den Sitzungen der Akademie waren allein Frauen zugelassen, die Ehefrauen der Mitglieder waren. Erst sieben Jahren später wurde ihr als erster Frau das Recht eingeräumt, an den Sitzungen der Académie teilzunehmen. Eine feste Stelle wurde ihr bis an ihr Lebensende verweigert. Nach ihrem Triumph setzte Sophie ihre Arbeit an der Elastizitätstheorie fort und verfasste mehrere Aufsätze über das Phänomen schwingender Ebenen. In den folgenden Jahren wurden von mehreren anderen Mathematikern Arbeiten herausgegeben. Unter ihnen waren Augustin-Louis Cauchy, bekannt durch die nach ihm benannte Zahlenfolge, und Henri Navier, der später entscheidende Ansätze der Navier-Stokes-Gleichung für Flüssigkeiten entwickelte. Letzterer wies fairerweise darauf hin, dass Germains Arbeit seine eigene stark inspiriert hatte. Siméon Denis Poisson dagegen, der ebenfalls die Mathematik der schwingenden Ebenen sowie die Fluiddynamik weiterentwickelte, verschwieg in seinen Veröffentlichungen die grundlegende Rolle von Sophie Germain. 1821 war das Manuskript Germains zur Elastizität der Flächen immer noch unveröffentlicht. Um das Feld nicht anderen zu überlassen und vergessen zu werden, musste sie ihre Arbeit im Selbstverlag herausgeben. Heute ist Germains Arbeit zu schwingenden Ebenen von grundlegender Relevanz für Physik und Ingenieurwesen. Vom Schwingungsverhalten von Tragflächen im Flugzeugbau bis zum Schalldruck von Lautsprechermembranen lässt sich mit den entsprechenden Differentialgleichungen das Geschehen beschreiben und berechnen. Die größte Leistung Germains bezieht sich allerdings auf ein ganz anderes Gebiet der Mathematik.
Im Jahr 1637, also etwa 180 Jahre zuvor, hatte der große und ziemlich rätselhafte Mathematiker Pierre de Fermat eine Gleichung aufgestellt, die er sich bei der Lektüre des antiken Lehrwerkes Arithmetica des Diophantos von Alexandria auf den Rand einer Seite dieses Buches notiert hatte: x n + yn = z n
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Für diese Gleichung ergibt sich bei n = 2 der Satz des Pythagoras, der unendlich viele ganzzahlige Lösungen hat. Die Tripletts x = 3, y = 4, z = 5 (9 + 16 = 25) und x = 10, y = 24, z = 26 (100 + 576 = 676) sind nur zwei Beispiele aus der unendlich großen Menge der möglichen Dreierkombinationen. Fermat behauptete in seiner Randnotiz, dass diese Gleichung für n > 2 keine Lösungen für ganzzahlige x, y und z hat. Er schrieb: „Es ist jedoch nicht möglich, einen Kubus in 2 Kuben, oder ein Biquadrat in 2 Biquadrate und allgemein eine Potenz, höher als die zweite, in 2 Potenzen mit ebendemselben Exponenten zu zerlegen: Ich habe hierfür einen wahrhaft wunderbaren Beweis entdeckt, doch ist dieser Rand hier zu schmal, um ihn zu fassen.“2
Die Vermutung Fermats, dass xn + yn = zn für natürliche Zahlen x, y und z nur Lösungen für n = 2 hat, ist heute als „Fermats letzter Satz“ bekannt. Fermats Lösung wurde nirgendwo in seinen Unterlagen gefunden. In den folgenden Jahrhunderten trieb die Suche nach diesem „wahrhaft wunderbaren“ Beweis so manchen Mathematiker fast in den Wahnsinn. Es war so, als hätte Fermat eine Schatzkarte hinterlassen, nur ohne Hinweis darauf, an welchem Ort auf der Welt sich der Schatz tatsächlich befindet. Mathematiker können damit leben, wenn sich ein bestimmter Beweis prinzipiell nicht führen lässt. Aber zu wissen, dass offenbar ein Beweis existiert, der fast auf einen Seitenrand gepasst hatte, aber nicht darauf zu kommen, wie er funktioniert, war für sie eine nicht endende Qual.3 Etwa ein Jahrhundert später lieferte Leonhard Euler unter Verwendung von komplexen Zahlen einen Beweis dafür, dass die Fermat’sche Vermutung für n = 3 und auch für n = 4 gültig ist. Später erwies sich dieser Beweis als unvollständig; es gelang jedoch Carl Friedrich Gauß, ihn zu vervollständigen. Für n > 4 ließen sich seine Argumente allerdings nicht mehr anwenden. Klar war auch, dass der Satz nur für n bewiesen werden musste, die Primzahlen waren. Denn wenn sich n in Multiplikanden zerlegen lässt, reicht es aus, wenn Fermats Vermutung nur für einen dieser Multiplikanden 2 Leider
ist Fermats Originalschrift verloren gegangen. Doch man findet seine Vermutung sekundär in zahlreichen Werken, am prominentesten wohl in der Ausgabe Arithmetica von Diophant mit Notizen, die Fermats Sohn herausgab; siehe Pail Tannery, Ch. Henry (Hrsg.): Œuvres de Fermat. Tome premier. Gauthier-Villars, Paris 1891, S. 291; siehe auch: https://gallica.bnf.fr/ark:/12148/bpt6k6213144d. texteImage). 3 Heute geht man davon aus, dass Fermat keinen Beweis für alle Werte von n gefunden hatte, sondern „nur“ den für n = 4.
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bewiesen wird. Gauß hatte also bewiesen, dass Fermats Vermutung für alle n gilt, die ein Vielfaches von 3 oder 4 sind. Dies war der Stand der Forschung, als Fermats Vermutung Sophie Germains Interesse an der Zahlentheorie weckte. 1819, nach fast zehnjähriger Pause in ihrer Korrespondenz, kontaktierte sie wieder ihr großes Vorbild auf diesem Gebiet, Carl Friedrich Gauß. Sie schrieb ihm, dass es ihr gelungen war, mit einer ganz eigenen Methode zu zeigen, dass es für n = 5 keine Lösungen für die Fermat’sche Vermutung gebe, es sei denn, x, y und z seien enorm große Zahlen. Selbstkritisch fügte sie hinzu, dass „enorm“ natürlich keine geeignete mathematische Kategorie sei; ein mathematischer Beweis müsse für alle Zahlen gelten. Später zeigte Germain in einem unveröffentlichten Manuskript mit dem Titel „Remarque sur l’impossibilité de satisfaire en nombres entiers a l’équation xp + yp = zp“, dass für p > 5 alle potenziellen Gegenbeispiele zum Fermat’schen Satz so große Zahlen sein müssen, dass ihre „Größe die Vorstellungskraft erschreckt“4 – sie war mit ihren Berechnungen in einen Bereich vorgedrungen, in denen Zahlen aus etwa 40 Ziffern bestehen (also ca. 1040). In ihrem Brief an Gauß skizzierte Germain auch eine Strategie für einen allgemeinen Beweis von Fermats letztem Satz. Der Brief enthielt ebenfalls wesentliche Fortschritte auf dem Weg zu einem Beweis von Spezialfällen, insbesondere eines wichtigen Spezialfalls, den sie später auch tatsächlich lösen konnte. Auf ihre Frage, ob es sich lohne, ihren Ansatz weiterzuverfolgen, erhielt sie von Gauß keine Antwort; er hatte mit der Zahlentheorie abgeschlossen. Auch ohne die Unterstützung des mathematischen Genies gelangen Germain wesentliche Beiträge zum Beweis von Fermats Vermutung. Entscheidend war, dass sie nur wenig Sinn in dem Versuch sah, das Problem für einzelne Zahlen anzugehen, wie dies viele Mathematiker taten. Nach und nach gelang es ihnen, Fermats Vermutung für bestimmte Zahlen zu bestätigen. Für die Zahl 5 führte Legendre 1825 – und nahezu gleichzeitig der deutsche Mathematiker Johann Peter Gustav Lejeune Dirichlet – den Beweis. Kurz darauf war die Sache auch für n = 7, 11 und 13 klar. Doch dann stockte die Suche aufgrund der Komplexität der benötigten Beweise. Erst 1943 gelang dem 19-jährigen kanadischen Mathematiker James Fell der Beweis für n = 17 und n = 23.5 4 Andrea
Del Centina, Unpublished manuscripts of Sophie Germain and a revaluation of her work on Fermat’s Last Theorem, Archive for History of Exact Sciences, 62 (4), (2008), S. 349–392; https://link. springer.com/article/10.1007/s00407-007-0016-4. 5 James Fell, Elementare Beweise des großen Fermat’schen Satzes für einige besondere Fälle, Deutsche Mathematik, 7 (1943).
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Germain ging einen anderen Weg. Sie sah den einzig fruchtbaren Ansatz darin, Fermats Vermutung gleich für ganze Klassen von Zahlen zu beweisen. Tatsächlich lieferte sie bereits zwischen 1819 und 1821 den Beleg dafür, dass für alle Primzahlen p, bei denen auch 2p + 1 eine Primzahl ist, Fermats Vermutung richtig ist – dies ist das heute nach ihr benannte Sophie Germain’sche Theorem. Die Zahl 5 ist ein Beispiel für eine solche Primzahl, denn 2*5 + 1 = 11, und 11 ist eine weitere Primzahl. Primzahlen, die diese Bedingung erfüllen, werden heute ihr zu Ehren Sophie-GermainPrimzahlen genannt. Da Germain diesen Beweis – so wie auch ihre anderen Beiträge zum Beweis von Fermats Vermutung – nicht veröffentlichte, fand ihr recht spektakuläres Theorem zunächst kaum Verbreitung. Nur Legendre verwies bei einigen Gelegenheiten explizit auf Germaines Primzahlenbeweis für die Fermat’sche Vermutung: „Diese Demonstration, die man zweifellos für sehr genial halten wird, stammt von Miss Sophie Germain, die erfolgreich die physikalischen und mathematischen Wissenschaften pflegt, wie der Preis beweist, den sie an der Akademie über die Schwingungen elastischer Platten gewonnen hat (sur les vibrations des lames élastiques).“6
Sowohl Legendre als auch Dirichlet verwendeten Germains Theorem, das die benötigten Grundlagen liefert, um die Fermat’sche Vermutung für n = 5 vollständig zu verifizieren. Neuere Untersuchungen einiger unveröffentlichter Manuskripte und Briefe von Sophie Germain zeigen, dass ihr Theorem über spezielle Primzahlen nur einer von zahlreichen Schritten in ihrem großen Plan war, Fermats Vermutung insgesamt zu beweisen.7 Als erster Mensch definierte sie einen zusammenhängenden Plan für den Beweis von Fermats Vermutung. Jahrelang arbeitete sie unermüdlich mithilfe ihrer modularen Arithmetik an diesem Plan, doch es sollte noch 175 Jahre dauern, bis er vollendet werden konnte.
6 Adrien-Marie
Legendre, Recherches sur quelques objets d’analyse indéterminée et particulièrement sur le théorème de Fermat, in Mémoires de l’Académie royale des sciences de l’Institut de france, Vol. 6 (1823). 7 Eine Zusammenfassung ihrer tatsächlichen Leistungen findet sich in: Hanna Kagele, Sophie Germain, The Princess of Mathematics and Fermat’s Last Theorem. https://www.gcsu.edu/sites/files/page-assets/ node-808/attachments/kagele.pdf.
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Sophie Germains Entdeckung der heute nach ihr benannten Primzahlen war der größte Fortschritt auf dem Weg zum endgültigen Beweis der Fermat’schen Vermutung. Zum ersten Mal hatte diese Vermutung für eine sehr große, vermutlich sogar unendlich große Anzahl (ob die Menge der Sophie-Germain-Primzahlen unendlich groß ist, konnte bislang nicht abschließend beantwortet werden) von Exponenten bewiesen werden können, und nicht nur für einzelne natürliche Zahlen. Leider fallen viele Primzahlen nicht in die Klasse der Germain’schen Primzahlen; zu ihnen gehören zum Beispiel 17 und 19. (1915 konnte bewiesen werden, dass es unendlich viele Primzahlen gibt, die keine Sophie-Germain-Primzahlen sind.) Ein weiterer wichtiger Beitrag Germains war, dass sie durch Handrechnung ihr eigenes Theorem verwendete, um Fermats letzten Satz für p < 100 und die Bedingung, dass x, y und z Primzahlen sind, zu überprüfen – so gab es eine beschränkte Menge an Gleichungen, die sie durchrechnen musste. Legendre wiederholte und verifizierte ihre Berechnungen. 1920, also knapp 100 Jahre später, verwendete der amerikanische Mathematiker Leonard Dickson Germains Theorem, um die Fermat’sche Vermutung für p < 1700 zu beweisen. Mathematiker beschäftigten sich noch viele, viele Jahre mit diesem Thema, und für alle waren Germains Erkenntnisse eine wichtige Grundlage. Erst 1995, mehr als 350 Jahre nachdem Fermat seine folgenreiche Bemerkung auf einen Seitenrand geschrieben hatte, konnte der britische Mathematiker Andrew Wiley beweisen, dass Fermats Vermutung tatsächlich für alle natürlichen Zahlen richtig ist. So wurde aus Fermats Vermutung endlich Fermats Satz, denn in der Mathematik wird erst dann von einem „Satz“ gesprochen, wenn es einen Beweis für ihn gibt. Der Beweis von Fermats Satz wurde durch allerhöchste Mathematik ermöglicht, die den Mathematikern des 19. Jahrhunderts noch völlig unbekannt gewesen war – sowie durch die Vorarbeit von Sophie Germain.
Aufgrund der nach wie vor massiven Vorurteile gegenüber Frauen war Sophie Germain eine akademische Karriere verwehrt. Auch wenn sie in den 1820er-Jahren mit Legendre auf Augenhöhe zusammen an der Zahlentheorie arbeitete, wurde ihr nie eine Anstellung an einer Universität angeboten. Ihr Leben lang arbeitete sie in privatem Rahmen. Die finanziellen Mittel für ihr der Mathematik gewidmetes Leben erhielt sie zunächst von ihrem Vater. Als dieser 1821 starb, wurde sie von ihren Schwestern unterstützt, die wohlhabende Männer geheiratet hatten. Ihre Familie verzichtete darauf, sie zur Heirat mit einem wohlsituierten Mann
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zu drängen, was für die damalige Zeit sehr tolerant war. Über einen Liebhaber Germains ist nichts bekannt. Auch über ihr Leben zwischen 1826 und 1829 weiß man kaum etwas. 1829 reiste ein Schüler des deutschen Mathematikers Bader nach Paris und berichtet ihr, dass Gauß 1827 seine Disquisitiones generales circa superficies curvas („Allgemeine Untersuchungen über gekrümmte Oberflächen“) veröffentlicht hatte. In diesem Werk hatte er sein Theorema egregium („bemerkenswertes Theorem“) formuliert, von dem sie Kenntnis erhalten sollte. Dieses Theorem bietet eine allgemeinere Lösung für das Problem der Krümmungen, das Germain viele Jahre beschäftigt hatte. So nahm Sophie Germain noch einmal den Kontakt zu Gauß auf: „Ich bedaure, dass ich Ihrem Urteil nicht eine Vielzahl von Ideen unterbreiten kann, die ich nicht veröffentlicht habe und deren Niederschrift zu viel Zeit in Anspruch nehmen würde.“8
Im selben Jahr stellte Germain fest, dass sie an Brustkrebs erkrankt war, an dem sie zwei Jahre später, am 27. Juni 1831, starb. Der große Gauß hatte sich zu dieser Zeit bei der Universität Göttingen dafür ausgesprochen, ihr die Ehrendoktorwürde und eine Professur zu verleihen. Doch dieser Einsatz kam zu spät. Auf ihrem Totenschein wird Germain als Rentnerin und Gebäudebesitzerin bezeichnet. Dass sie die bedeutendste Mathematikerin ihrer Zeit war, wurde nicht berücksichtigt – wohl weil sie nie eine formale Ausbildung genossen hatte. Auch heute noch fällt ihre Bedeutung für die Mathematik durchs Raster: Unter den Namen der 72 bedeutendsten Wissenschaftler und Ingenieure des 18. und 19. Jahrhunderts, die in goldenen Lettern außen an der ersten Etage des Eiffelturms angebracht sind, sucht man ihren Namen vergebens. Auch keine andere Frau hat Aufnahme in diese Liste gefunden. In Mathematikerkreisen ist sie dagegen unvergessen, nicht nur, weil ein mathematischer Satz und eine Klasse von Primzahlen nach ihr benannt wurden. Der größte Mathematiker seiner Zeit, Gauß, zollte Germain ihr 1837, sechs Jahre nach ihrem Tod, Respekt: „Sie hat der Welt bewiesen, dass auch eine Frau in den strengsten und abstraktesten Wissenschaften etwas Sinnvolles leisten kann, und hätte deshalb einen Ehrentitel verdient.“9
8 Del
Centina & Fiocca, 2012. Mackinnon, Sophie Germain, or „Was Gauss a feminist?“, The Mathematical Gazette, 74 (470) (1990) S. 346–351; https://www.cambridge.org/core/journals/mathematical-gazette/article/abs/sophiegermain-or-was-gauss-a-feminist/6176F6C98067333F574636CD4A40D22C. 9 Nick
6 Caroline Herschel (1750–1848) Die große Astronomin im Schatten ihres Bruders
Caroline Herschel wurde fast ein Vierteljahrhundert vor Sophie Germain geboren, die als Mathematikerin das 18. Jahrhundert prägte. Dass Herschel hier als Wissenschaftlerin des 19. Jahrhunderts betrachtet wird, liegt an dem hohen Alter, das sie erreichte: Sie starb 1848 mit 97 Jahren. Ihr Bruder Wilhelm Herschel war von Hannover nach England gezogen und wurde später als Entdecker des Planeten Uranus und Erforscher des Sternenhimmels weltberühmt. Die fast 70 Traktate, die er unter seinem Namen mit der Royal Society veröffentlichte, waren bedeutende Beiträge zur Himmelskunde und zementieren seinen Status als einen der größten Astronomen aller Zeiten. Dass die zwölf Jahre jüngere Caroline Herschel, die Wilhelm zu sich nach England geholt hatte, an diesen Arbeiten wesentlich beteiligt war, blieb lange Zeit unbekannt. Sie schreibt später in ihren Memoiren: „Sie besagt, ich hätte alle Arbeiten Deines Vaters [Kommentar LJ: gemeint ist ihr Bruder] publiziert. Natürlich wird das Niemand glauben.“1
Obwohl ihr von Kind an ein demütiges und zurückhaltendes Verhalten abverlangt wurde, gelang es ihr, aus dem Schatten ihres geliebten Bruders zu treten. Mit der Zeit wuchs sie über ihre ursprüngliche Rolle als Haushälterin und Assistentin hinaus und sicherte sich mit eigenen Himmelsbeobachtungen den Respekt ihrer Zeitgenossen. Als wahre Pionierin war sie die erste Frau, die an der Königlichen Sternwarte Englands angestellt war,
1 Herschel,
2013, S. 223.
© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 L. Jaeger, Geniale Frauen in der Wissenschaft, https://doi.org/10.1007/978-3-662-66528-2_6
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und damit die erste Astronomin der Moderne, der für ihre Tätigkeit ein Gehalt zugesprochen wurde. Auch die Hochachtung, die ihr entgegengebracht wurde, war beispiellos. Keine Frau vor ihr war mit einer Goldmedaille der Royal Astronomical Society ausgezeichnet worden, geschweige denn zum Ehrenmitglied ernannt worden. Noch in hohem Alter wurde Caroline Herschel mit Ehrungen überhäuft. 1835, sie war Mitte 80, wurde sie als erste Frau Ehrenmitglied der Royal Astronomical Society. Drei Jahre später nahm die Königlich Irische Akademie der Wissenschaften die inzwischen 88-Jährige in ihre Reihen auf, und 1846 erhielt sie im Auftrag des Königs von Preußen die goldene Medaille der Preußischen Akademie der Wissenschaften. Der große Naturforscher Alexander von Humboldt ließ es sich nicht nehmen, der 96-Jährigen diese außerordentliche Auszeichnung persönlich zu überbringen.
Caroline Herschel war das achte von zehn Kindern des hannoverschen Militärmusikers Issak Herschel und seiner Gattin Anna Ilse Moritzen. Vier ihrer Geschwister starben im Kindesalter. Auch Carolines Leben war in Gefahr. Mit drei Jahren infizierte sie sich mit den Pocken; jedes zehnte Kind starb damals an dieser Krankheit. Mit elf steckte sie sich mit einer weiteren der damals gefürchteten Infektionen an: Typhus, auch Fleckfieber genannt. Sie überstand zwar auch diese Krankheit, doch ihr Körper war so geschwächt, dass er das Wachstum einstellte. So kam es, dass sie als Erwachsene mit nur etwa 140 cm eine auffallend kleine Person war. Ihre geringe Körpergröße, die fehlende Aussteuer und die als hässlich empfundenen Narben, die die Pocken hinterlassen hatten, machten jede Hoffnung zunichte, durch Heirat einen eigenen Hausstand zu gründen. Damit war nach damaliger Auffassung ihre Zukunft vorgezeichnet: Caroline Herschel würde ihr Leben lang den Eltern und Geschwistern als bessere Hausangestellte zur Verfügung stehen und mit Handarbeiten zur Familienkasse beitragen. Eine über das Nötigste hinausgehende Ausbildung war nach Ansicht der Mutter, die selbst kaum lesen und schreiben konnte, für diesen Lebensweg nicht notwendig. Zum Glück Carolines war ihr Vater anderer Meinung. Isaak Herschel war ehrgeizig und musisch begabt. In seiner Familie hatte das Geld für seine Ausbildung gefehlt, doch er schaffte es, sich unter schwierigsten Bedingungen emporzuarbeiten. Er brachte sich das Oboespielen selbst bei und fand als Musiker beim Militär eine sichere
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Stellung. Diese Erfahrung mag dazu beigetragen haben, dass er besonderen Wert auf eine gute Ausbildung seiner Kinder legte. Er erlaubte sogar, dass seine Tochter Caroline zusammen mit ihren Brüdern die Garnisonsschule besuchen durfte. Alle seine Söhne fanden später als Musiker ihr Auskommen; die älteste Tochter, die eher der Mutter nachschlug, heiratete einen Geiger. Musik war also allgegenwärtig im Hause Herschel. Doch man beschäftigte sich auch mit philosophischen Fragen – und mit Astronomie. Herschel senior zeigte seinen Kindern oft am nächtlichen Himmel die Sterne und Planenten und erklärte ihnen deren Bewegungen. Für die Söhne wurde besonderer Unterricht in Mathematik und Französisch organisiert, von dem Caroline indirekt profitierte, denn das Gelernte wurde in abendlicher Runde diskutiert, sehr zum Unwillen der Mutter, der es nicht recht war, dass Carolines Wissenshunger Nahrung fand. So war Carolines Vater ein Lichtblick in ihrem Leben, der ihr die Hoffnung auf ein Leben schenkte, das über die für Frauen vorgesehenen engen Grenzen hinausging.
1767, Caroline Herschel war 17 Jahre alt, rückten ihre Zukunftsträume in weite Ferne. Ihr Vater, dessen Gesundheit durch das Soldatenleben gelitten hatte, starb. Nun hatten ihre Mutter und ihr ältester Bruder Jacob, der ebenfalls meinte, Frauen gehörten ins Haus, das Sagen. Die nächsten fünf Jahre müssen für Caroline schwer gewesen sein, denn für sie stand nun nur noch die Hausarbeit auf dem Programm. Ihr Lieblingsbruder Wilhelm war schon vor vielen Jahren nach England gegangen. Heimliche Lesestunden und das Nachsingen von Arien wurden zu den wenigen Möglichkeiten, etwas zu lernen. Später schrieb sie in ihren Memoiren über ihre Mutter: „Sie hatte beschlossen, dass ich ein roher Klotz sei und auch bleiben sollte, allerdings ein nützlicher.“2
1772 kam es zu einer weiteren entscheidenden Wende in ihrem Leben. Carolines Bruder Alexander erwähnte in einem Brief an Wilhelm, der sich im englischen Badeort Bath als Musiker, Musiklehrer und Komponist etabliert hatte, dass Caroline talentiert Geige spielte und eine schöne Singstimme hätte. Wilhelm kam nach Hannover zu Besuch und überzeugte sich vom Talent seiner 22-jährigen Schwester. Er schlug vor, sie mit nach Bath zu nehmen und dort zur Sängerin ausbilden zu lassen. Carolines Mutter 2 Herschel,
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und ihr ältester Bruder Jacob, der nach dem Tod des Vaters Oberhaupt der Familie war, hatten für diesen Plan nur wenig übrig. Sie ließen Caroline erst gehen, nachdem Wilhelm zugesagt hatte, Geld für die Anstellung einer neuen Haushaltshilfe zur Verfügung zu stellen. Später erzählte Caroline Herschel, dass sie während der langwierigen Verhandlungen über ihr weiteres Schicksal der Familie Strümpfe für zwei Jahre gestrickt hatte. Für Caroline wurde dieser Handel zum Befreiungsschlag. Mit Freuden ging sie mit ihrem geliebten Bruder in ein fremdes Land, dessen Sprache sie nicht kannte. In Bath wohnte sie im Haus ihres Bruders Wilhelm, hier William genannt, und erhielt eine Gesangsausbildung. Ihr Debut 1777 als Hauptstimme in einem Oratorium von Georg Friedrich Händel wurde ein Erfolg, weitere Auftritte folgten. Das Angebot, ins 175 km entfernte Birmingham zu ziehen und sich dort ganz ihrem Beruf als Sängerin zu widmen, lehnte sie jedoch ab. Sie trat weiterhin in Bath und der näheren Umgebung als Sängerin auf und führte ihrem Bruder den Haushalt.
So wie sein Vater Isaak Herschel entwickelte auch der angesehene Musiker und Komponist William Herschel eine Leidenschaft: für die Astronomie. Seine Schwester war zunächst nicht sehr angetan von dieser Begeisterung; Haushaltsführung sowie ihre Übungsstunden und Auftritte als Sängerin bedeuteten schon eine Mehrfachbelastung. Je obsessiver sich William Herschel mit den Sternen beschäftigte, desto mehr Mühe hatte Caroline – teilweise musste sie ihren Bruder mit kleinen Bissen füttern, während er seine nächtlichen Beobachtungen machte. Meist saß sie im Haus und notierte die Beobachtungen, die William ihr durch ein Fenster zurief. Wenn William seine Beobachtungen selbst hätte aufschreiben müssen, hätte er seine Augen immer wieder dem Kerzenlicht aussetzen müssen, und es wäre viel Zeit verloren gegangen, bis sie sich wieder an die Dunkelheit gewöhnt hätten. Für Caroline Herschel bedeutete dieser Hilfsdienst, dass sie so wie ihr Bruder kaum Schlaf fand. Sie profitierte aber auch von der Zusammenarbeit, denn William brachte ihr die für die komplizierten Positionsbestimmungen benötigte Mathematik bei. In ihren Memoiren schrieb sie über diese Zeit: „Ich war ein blosses Werkzeug, das zu schleifen er sich Mühe gab“.3 3 Herschel,
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1774 begann William Herschel mit dem Bau eigener Teleskope, denn die auf dem Markt erhältlichen besaßen entweder eine für seine Ansprüche zu geringe Vergrößerung, oder sie waren ungenau oder zu teuer. Der Bau von Fernrohren, in denen Glaslinsen hintereinander angeordnet sind, kam aus verschiedenen Gründen nicht infrage. Unter anderem hätten die Glaslinsen für die zuvor nie dagewesenen Vergrößerungen, die er erreichen wollte, nach damaligem Kenntnisstand viel zu groß und schwer sein müssen – da das Licht sie ungehindert passieren muss, konnten sie auch nicht durch Halterungen gestützt werden. William entschied sich für den Bau von Spiegelteleskopen; bei dieser Bauweise sammelt ein am unteren Ende der Teleskopröhre angebrachter konkaver Metallspiegel das einfallende Licht und reflektiert es, vereinfacht gesagt, zum Auge des Beobachters. Die Fertigung der Spiegel erforderte viel Geduld und Konzentration, denn ihre Oberfläche musste nicht nur extrem glatt, sondern auch in der berechneten Wölbung absolut exakt bearbeitet sein: Um optische Verzerrungen auszuschließen, darf die Abweichung von der Idealform nur ein Achtel der beobachteten Wellenlänge betragen. Für sichtbares Licht bedeutet das eine Größenordnung von 50 nm, also 0,00005 mm. Als treu ergebene Schwester ließ Caroline nicht nur zu, dass sich das von ihr geführte Haus in eine Werkstatt verwandelte, in der Metalllegierungen geschmolzen und gegossen wurden, sie ließ sich auch in die enorm zeitaufwendige und mühsame Arbeit des Spiegelpolierens einspannen – eine endlose Arbeit, denn da das Metall mit der Zeit anlief, mussten die Spiegel immer wieder aus den Teleskopen ausgebaut, poliert und wieder eingebaut werden. Ihre reibungslose Zusammenarbeit machte Caroline und William Herschel zu einem der effektivsten Teams, das die Wissenschaft je gesehen hatte. Caroline zeichnete die Beobachtungen auf, führte die notwendigen Berechnungen durch, um sie mit Faktoren wie der jeweiligen Zeit zu standardisieren, und stellte dann die Daten für die Veröffentlichung in Fachzeitschriften zusammen. Mit der Zeit erwarb William Herschel einen guten Ruf unter den Astronomen der Umgebung. Caroline und ein weiterer Bruder, Alexander, der ebenfalls eine unverzichtbare Hilfe beim Schleifen der Spiegel war, wirkten im Hintergrund.
1781 kam der große Durchbruch: William entdecke bei seiner Durchmusterung des nächtlichen Himmels einen neuen Planeten! Seit Menschengedenken waren die mit bloßem Auge sichtbaren Planeten Merkur, Venus, Mars, Jupiter und Saturn bekannt, zusammen mit Sonne und Mond
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betrug die Zahl der sich bewegenden Himmelkörper sieben – eine in vielen Kulturen magische Zahl. Mit den sieben Himmelskörpern erklärt sich auch die Woche, die in vielen Kulturen sieben Tage hat: Jeder von ihnen ist einem Himmelskörper beziehungsweise dem Gott, der ihn verkörpert, zugeordnet. Die Entdeckung eines neuen Planeten war ein einzigartiger Moment in der Geschichte der Menschheit, denn sie durchbrach das vermeintlich göttliche Muster. Nun fragten sich die Astronomen: Warum war ein Planet, der unter günstigsten Bedingungen mit bloßem Auge zu sehen ist, unentdeckt geblieben? Und wenn ein Planet seit Urzeiten unerkannt geblieben war, was könnte es da draußen noch geben? Später stellte sich heraus, dass mehrere Astronomen den Lichtfleck zuvor an verschiedenen Stellen des Firmaments entdeckt und katalogisiert, aber nicht als Planet erkannt hatten. Auch William Herschel, der genauer und geduldiger als alle anderen Menschen vor ihm hingeschaut hatte, dachte bei dem neuen Objekt, das seine Position in kurzer Zeit merklich veränderte, zunächst nicht an einen neuen Planeten. Seine Annahme, es müsse sich um einen Kometen handeln, musste er allerdings schnell wieder revidieren. Er war in Astronomenkreisen gut vernetzt, also fragte er einige von ihnen um Rat. Der königliche Astronom Nevil Maskelyne überprüfte seine Entdeckung und bestätigte, dass es sich um einen bisher unbekannten Planeten handeln müsse. Andere Kollegen waren skeptisch: Konnte ein Laie so etwas Bedeutendes entdeckt haben? Einige Monate nach Herschels Entdeckung hatte der skandinavische Astronom Anders Johan Lexell die Bahn des Objekts zweifelsfrei als annähernd kreisförmig um die Sonne berechnet und damit nachgewiesen, dass es ein Planet sein musste. Damit war William Herschel der Held der wissenschaftlichen Welt. König George III., selbst begeisterter Hobbyastronom mit eigener Sternwarte, ließ im Mai 1782 William Herschel zu sich kommen. Nach einigen Fachsimpeleien war er von den Kenntnissen seines Gegenübers überzeugt und ernannte ihn zum königlichen Astronomen. Herschels Entscheidung, seinen neuen Planeten „Georgsstern“ zu nennen – der Name Uranus setzte sich erst später durch –, mag zu dieser Ernennung beigetragen haben. Mit seiner neuen Stellung als Hofastronom und dem vom König gewährten jährlichen Gehalt von 200 Pfund – nach heutiger Kaufkraft etwa 45.000 Pfund – konnte sich William Herschel endlich ganz der Astronomie widmen.
Williams Erfolg hatte eine direkte Auswirkung auf das Leben seiner Schwester. In seiner neuen Stellung brauchte er ihre Unterstützung rund um
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die Uhr, deshalb bat er sie, ihren Beruf als Sängerin aufzugeben. Tatsächlich folgte sie ihm vom mondänen Bath, wo die upper class Englands regelmäßig zusammenkam, in ein kleines Dorf in der Nähe von Windsor. Hier waren die Bedingungen für nächtliche Sternenbeobachtungen günstiger, und die Mitglieder der Königsfamilie, die bei den Herschels ein und aus gingen, mussten keine lange Strecke zurücklegen. Caroline Herschel war nun 32 Jahre alt, und wieder einmal waren ihre eigenen Interessen zurückgestellt. Doch statt vor einem Leben zu kapitulieren, das es nicht gut mit Frauen meinte, trat sie die Flucht nach vorn an. Mit steigender Begeisterung begann sie, eigenständig das Firmament nach Himmelsobjekten abzusuchen. Kurz zuvor hatte der französische Astronom Charles Messier einen Katalog von 103 geheimnisvollen Himmelskörpern veröffentlicht, die im Teleskop flächig sichtbar sind – Fixsterne erscheinen dagegen auch bei großen Vergrößerungen punktförmig. Die Geschwister begannen, sich für diese unregelmäßig geformten, Sternnebel genannten Objekte zu interessieren. Sie entdeckten als Erste, dass manche der Sternnebel ungewöhnlich dicht beieinanderstehende Fixsterne, sogenannte Sternhaufen, sind. 1786 reichte Wilhelm Herschel an der Royal Society of London eine Liste mit Sternnebeln ein, die er und Caroline bei der systematischen Erforschung des Firmaments gefunden hatten. Im Lauf der Jahre ergänzten die beiden mehrmals diese Zusammenstellung, sodass buchstäblich Tausende Himmelskörper zusammenkamen. Heute sind die Sternnebel als Sternhaufen, interstellare Nebel und Galaxien identifiziert. William nahm seine Schwester zunehmend als eigenständige Forscherin wahr und überließ ihr ein neues, besseres Beobachtungsinstrument. Auch der Hofastronom Nevil Maskelyne brachte ihr Wertschätzung entgegen und vervollständigte ihre Ausbildung zur Astronomin. Doch immer noch war ihre Arbeit nur einem kleinen Kreis von Fachleuten bekannt.
Im Jahr 1786 machte Caroline Herschel eine Entdeckung, die sie auch der breiten Öffentlichkeit bekannt machte. William war im Hochsommer für einige Wochen im Auftrag des Königs unterwegs, und Caroline konnte dessen Teleskop verwenden. Am 1. August gelang Caroline etwas, was für Astronomen schon immer der heilige Gral gewesen war: Sie entdeckte einen neuen Kometen. Einen Tag später schrieb sie dem Sekretär der Royal Society einen Brief, in dem sie von ihrem Fund berichtete, beginnend mit den Worten:
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„In Anbetracht der Freundschaft, welche zwischen Ihnen und meinem Bruder besteht, wage ich, Sie mit dem folgenden, noch unvollständigen Bericht über einen Kometen zu belästigen.“4
Nach der Bekanntgabe ihrer Entdeckung trafen unzählige Glückwunschbriefe ein, ihr Lehrer Nevil Maskelyne bezeichnete ihre Beobachtung enthusiastisch als einen „Triumph für die britische Astronomie“. Prominente Besucher gaben sich im Haus der Herschels die Klinke in die Hand. Viele Frauen freuten sich darüber, dass eine Geschlechtsgenossin eine so bedeutende Entdeckung gemacht hatte. Ein großer Erfolg war auch, dass ein Jahr später Caroline Herschels Brief in den Philosophical Transactions erschien, der damals einflussreichsten Zeitschrift der Royal Society of London. So wurde sie zur ersten Frau in England, deren wissenschaftliche Arbeit über Astronomie unter ihrem eigenen Namen veröffentlicht wurde. In diesem Jahr 1787 zeigte sich König George III. erneut großzügig: Er sprach Caroline Herschel eine Stellung auf Lebenszeit zu, verbunden mit einem jährlichen Salär von 50 Pfund. Und wieder hatte Caroline Herschel eine gläserne Wand durchbrochen: Mit dieser Anstellung wurde sie zur ersten Frau Englands, die als Astronomin ein reguläres Gehalt bezog. Sie hatte es geschafft: Statt sich Stickereien nah vor die Augen halten zu müssen, so wie es die Mutter für sie geplant hatte, ging ihr Blick in die endlosen Weiten des Weltraums. Beflügelt von der Anerkennung suchte Caroline Herschel mit immer besser konstruierten Teleskopen das Firmament nach weiteren Kometen ab. Bereits 1788 erspähte sie ein zweites Exemplar, doch ein Konkurrent kam ihr mit der Erstbeschreibung knapp zuvor. Noch im Dezember desselben Jahres erblickte sie ihren dritten Kometen. Weitere Kometensichtungen folgten im Dezember 1791, Oktober 1793, November 1795 und August 1797. Insgesamt fand Caroline Herschel neun Kometen, von denen fünf zweifelsfrei von ihr erstmals entdeckt und beschrieben wurden. Einer Anekdote zufolge konnte die teilweise so fügsame und demütige Caroline Herschel auch sehr durchsetzungsfähig sein: Der achte von ihr entdeckte Komet war vergleichsweise hell, es war also wahrscheinlich, dass auch andere Astronomen ihn bemerken würden. Damit ihr kein Konkurrent den Erfolg streitig machen konnte, ritt sie am folgenden Tag 30 Meilen nach Greenwich – für eine Frau eine unerhörte Aktion – und machte dort die Position des neuen Kometen öffentlich.
4 Herschel,
2013, S. 81.
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Durch ihre Kometenentdeckungen erwarb sich Caroline Herschel nicht nur in der Fachwelt wachsende Anerkennung. Auch im Bürgertum wurde ihre Bekanntheit so groß, dass jeder wusste, wer in der Karikatur „Der weibliche Philosoph beim Kometenschnüffeln“5 gemeint war. Zu sehen ist eine vor einem Teleskop kniende Frau, die entzückt über den schweflig-gelben Strahl ist, der sich aus dem Allerwertesten der den Kometen darstellenden Figur am Himmel über sie ergießt. Obwohl es Usus war, einen Kometen nach seinem Entdecker zu benennen, wurde keiner der von Caroline Herschel erstmals beschriebenen Kometen zu ihren Lebzeiten nach ihr benannt. Der von ihr 1788 entdeckte Komet wurde 1939 vom französischen Astronomen Roger Rigollet wiederentdeckt und trägt seither den Namen 35P/Herschel-Rigollet. Vermutlich wird er im Jahr 2092 wieder von der Erde aus sichtbar werden. Nicht nur nach Kometen hielt Caroline Herschel Ausschau. Ein dreiviertel Jahrhundert zuvor, 1712, war das Sternenverzeichnis des englischen Astronomen John Flamsteed veröffentlicht worden, in dem er etwa 2800 Sterne mit ihrer genauen Position katalogisiert hatte. Nach Flamsteeds Tod 1719 wurde sein Werk mehrfach ergänzt, unter anderem von Edmond Halley. Bei ihren systematischen Erkundungen des Himmels fand Caroline Herschel insgesamt 561 Sterne, die ihren Vorgängern entgangen waren. 1798 legte sie der Royal Society einen Ergänzungskatalog zu dem damals noch nicht veröffentlichten British Catalogue vor. Angefügt war eine Liste von Fehlern in der bis dahin gültigen Zusammenstellung6. In ihre Erfolge mischte sich auch eine schmerzlich empfundene Veränderung. Im Mai 1788 heiratete ihr inzwischen 50-jähriger Bruder die Witwe Mary Pitt. Das Ehepaar zog in das nahe Upton, Caroline blieb zurück. Der Verlust ihrer Rolle als über das Wohl ihres Bruders wachende Hausfrau muss für sie ein Schlag gewesen sein, auch wenn sie nun mehr Zeit für ihre Studien hatte. Aber auch Mary Pitt musste eine sehr bittere Pille schlucken: In sternklaren Nächten eilte William zurück zu Caroline und seinen astronomischen Geräten. Vor allem die frischgebackene Ehefrau war
5 The
Female Philosopher: Smelling out the Comet, 1790s; Draper Hill Collection, The Ohio State University Billy Ireland Cartoon Library & Museum. Siehe auch: https://www.researchgate.net/ figure/The-Female-Philosopher-Smelling-out-the-Comet-1790s-Draper-Hill-Collection-The-Ohio_ fig2_273323994. 6 Caroline Herschel, Catalogue of stars taken from Mr. Flamsteed’s observations contained in the second volume of the Historia cœlestis, and not inserted in the British catalogue. With an index, to Point out Every Observation in that Volume Belonging to the Stars of the British Catalogue. To which is added, a collection of errata that should be noticed in the same volume. Published by Order, and at the Expense, of the Royal Society, London (1798).
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von diesem Arrangement nicht sehr angetan; erst viele Jahre später fanden die beiden Schwägerinnen zu einem freundschaftlichen Verhältnis.
Nach vielen Jahren fruchtbarer Zusammenarbeit starb William 1822 im Alter von 84 Jahren. Obwohl Caroline Herschel 50 Jahre in England verbracht hatte, hielt sie nicht mehr viel in diesem Land. Wenige Wochen nach seinem Tod zog sie wieder in ihre Heimatstadt Hannover. Ihr Ruf war ihr vorausgeeilt, sodass auch hier die bedeutendsten Gelehrten sie in ihrem einfachen Haus in der Marktstraße, in dem sie mit ihrem jüngeren Bruder Dietrich und seiner Familie lebte, aufsuchten. Auch mit über 70 Jahren blieb sie weiterhin in der astronomischen Forschung aktiv. Eines ihrer Hauptwerke dieser Zeit war die Bearbeitung des damals gültigen Sternenatlas, dessen Anfänge auf den bereits erwähnten Flamsteed zurückgingen. Trotz ihres hohen Alters wurde Caroline Herschel ausgewählt, dieses Standardwerk, das mittlerweile Historia coelestis Britannica hieß, auf Fehler zu prüfen. Mit gewaltigem Aufwand kontrollierte sie die im Himmelsatlas gemachten Angaben, korrigierte die Fehler und integrierte die 1798 von ihr entdeckten und beschriebenen 561 Gestirne. Für diese umfangreiche Arbeit erhielt Caroline Herschel viel Anerkennung, darunter auch von Carl Friedrich Gauß, der einer der vielen berühmten Besucher in ihrem Haus in Hannover war.7 Eine weitere Arbeit aus dieser Zeit war eine Familienangelegenheit. Der einzige Sohn William Herschels, John Frederick William Herschel, war in die Fußstapfen seines Vaters und seiner Tante getreten und ebenfalls ein großer Astronom geworden – seine Bedeutung lässt sich daran erkennen, dass er nach seinem Tod 1871 in einem Staatsakt in der Westminster Abbey neben den Gräbern von Charles Darwin und Sir Isaac Newton beigesetzt wurde. Caroline Herschel hatte zu diesem Neffen ein denkbar inniges Verhältnis. Als John beabsichtigte, den Katalog der Sternnebel zu aktualisieren, den sie und ihr Bruder William einst zusammengestellt hatten, sagte sie ihm ihre Unterstützung zu. In dem neuen Katalog sollten die Sternnebel nicht mehr nach dem von ihr und William ersonnenen Klassensystem geordnet sein, sondern nach ihrer Himmelsposition. Wieder einmal stellte Caroline Herschel äußerste Präzision, Geduld und Hingabe unter Beweis. Für die effiziente Katalogisierung Tausender Sternnebel verlieh ihr die Royal
7 Brief
von Carl Friedrich Gauß an Caroline Herschel 1825.
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Astronomical Society im Jahr 1828 – Caroline Herschel war 77 Jahre alt – eine goldene Medaille. Die Arbeit der Herschels wurde zur Grundlage des heute gültigen New General Catalogue of Nebulae and Clusters of Stars (NGC), der alle bekannten galaktischen Nebel, Sternhaufen und Galaxien enthält – die sogenannten Deep-Sky-Objekte. Wie bereits erwähnt hatte William Herschel 1786 den ersten Vorläufer veröffentlicht. Schon damals war Caroline Herschel federführend beteiligt gewesen, auch wenn ihr Name nicht genannt wurde. Die Geschwister ergänzten die Liste mehrmals und erfassten und beschrieben insgesamt an die 2500 Objekte – jedes einzelne mit akribisch berechneter Positionsbestimmung. Carolines Neffe John Herschel erweiterte den Katalog bis zum Ende des 19. Jahrhunderts noch einmal um weitere 1700 Sternnebel. Über die Hälfte der heute etwa 7600 bekannten Deep-Sky-Objekte wurde also von einem Mitglied der Familie Herschel gefunden und katalogisiert. Auch in ihren Achtzigern war Herschel noch sehr umtriebig. Ihr Neffe John schrieb 1832 seiner Frau: „Sie läuft mit mir in der Stadt herum und hüpft ihre zwei Treppen hinauf, so wunderbar frisch wie einige Leute, die ich nennen könnte, die nicht einmal ein Viertel so alt sind wie sie [...] Morgens bis elf oder zwölf ist sie dumpf und müde, aber je weiter der Tag fortschreitet, desto lebendiger wird sie, und um zehn oder elf Uhr abends ist sie ganz frisch und lustig und singt alte Reime, ja, tanzt sogar zur großen Freude aller, die sie sehen.“8
Es folgten die zu Anfang dieses Kapitels genannten weiteren Ehrungen. Bis ins hohe Alter blieb Caroline Herschel geistig hellwach. Schon in England war sie den Umgang mit Mitgliedern des Königshauses gewohnt; der von der Astronomie begeisterte König George III. war oft bei Caroline und William Herschel zu Gast gewesen und hatte sie auch im nahen Windsor empfangen. 1837 wurde Victoria Königin, doch in Hannover galt das Gesetz, dass nur ein männlicher Nachfolger den Thron besteigen kann. Hannover spaltete sich von England ab, und einer der Söhne König Georgs III. wurde in Hannover zum König ausgerufen. Auch dieser Linie stand Caroline Herschel nahe:
8 Herschel,
2013, S. 280.
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„Sie stand im 96. Jahr, als der Kronprinz von Hannover geboren ward, und äußerte ihr Bedauern, daß sie, die alle gleichzeitig lebenden Glieder des britisch-hannoverischen Königshauses gesehen, diesen jungen Prinzen nicht mehr sehen werde, da sie zu schwach sei, ihre Wohnung zu verlassen. Der König Ernst-August, der davon hörte, gab sogleich Befehl, seinen Enkel zu ihr ins Haus zu bringen, damit auch dieser letzte Wunsch der verehrten Greisin in Erfüllung gehe.“9
An ihrem 97. Geburtstag gab das Kronprinzenpaar ihr die Ehre und kam zu einem mehrstündigen Besuch in ihr Haus. Die Stimmung scheint entspannt gewesen zu sein, denn es ist überliefert, dass Caroline Herschel ihrem hohen Besuch ein Lied vorsang, das Wilhelm Herschel viele Jahrzehnte zuvor komponiert hatte – eine Reminiszenz an das frühere, der Musik gewidmete Leben der Geschwister. Am 9. Januar 1848, zwei Monate vor ihrem 98. Geburtstag, starb Caroline Herschel. Die Inschrift auf ihrem Grabstein in Hannover hat sie selbst verfasst. Ihr Beginn lautet: „Der Blick der Verklärten war hienieden dem gestirnten Himmel zugewandt die eigenen Cometen Entdeckungen und die Theilnahme an den unsterblichen Arbeiten ihres Bruders, Wilhelm Herschel, zeugen davon bis in die späte Nachwelt. […].“
Caroline Herschel ist eine der sehr wenigen Frauen vergangener Jahrhunderte, deren Wirken schon zu ihren Lebzeiten anerkannt und geschätzt wurde. Auch wenn sie teilweise im Schatten ihres großen Bruders stehen mag, hat sie sich doch einen Platz unter den großen Wissenschaftlern erkämpft. Noch heute sind die englische Royal Astronomical Society und die deutsche Astronomische Gesellschaft eng verbunden. 2021 stifteten beide Vereinigungen gemeinsam eine Medaille, die an herausragende Astronominnen abwechselnd aus Großbritannien und Deutschland verliehen wird. Das mit dieser Ehrung verbundene Preisgeld von 10.000 Pfund soll direkt für die Forschung oder auch für die mit der Arbeit in Zusammenhang stehenden Kosten verwendet werden – explizit auch für Kinderbetreuung. Der Name dieses Preises lautet: Caroline-Herschel-Medaille.
9 Johann
Heinrich Mädler, Geschichte der Himmelskunde (1873).
7 Ada Lovelace (1815–1852) Die Erfinderin der Computer algorithmen
Seit der Antike streben Menschen danach, das Rechnen zu vereinfachen und zu beschleunigen. Wie die Ladung eines im Jahr 1900 vor der ägäischen Küste entdeckten römischen Schiffswracks zeigt, kamen neben Zählbrettern und Abakussen auch weit kunstvollere Maschinen zum Einsatz. Neben den geborgenen spektakulären Kunstschätzen blieb ein korrodierter Metallklumpen lange Zeit unbeachtet. Erst Mitte des 20. Jahrhunderts wurde offenbar, dass es sich um eine 82-teilige Maschine aus Zahnrädern, Achsen und weiteren mechanischen Bauteilen handelt. Durch bestimmte Voreinstellungen und das Drehen einer Handkurbel führte die um das Jahr 120 v. Chr. gebaute Maschine komplizierteste astronomische Berechnungen durch. Der Fund dieser Maschine war ein Glücksfall; niemand weiß, welche erstaunliche Maschinen in der Antike noch erfunden wurden und für immer verloren gingen. Doch eines ist gewiss: Ab dem Niedergang der alexandrinischen Wissenskultur und das gesamte Mittelalter hindurch gab es kein nennenswertes Interesse mehr an Methoden, zeitraubende Kalkulationen maschinell ausführen zu lassen. Erst im 17. Jahrhundert, als die Wissenschaften einen neuen Aufschwung nahmen, begann auch wieder die eingehende Beschäftigung mit mechanischen Rechenhilfen. Dies hatte auch ganz praktische Gründe: Die Fortschritte in Industrie, Schifffahrt, Bankwesen und Kriegstechnik erforderten immer aufwendigere Berechnungen, und mit der Anzahl der Rechenschritte häufte sich die Wahrscheinlichkeit von Rechenfehlern, die fatale Folgen haben konnten.
© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 L. Jaeger, Geniale Frauen in der Wissenschaft, https://doi.org/10.1007/978-3-662-66528-2_7
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Einer der Gelehrten, die sich mit Rechenmaschinen befassten, war Gottfried Wilhelm Leibniz (1746–1716). Als einer der Erfinder der Integralrechnung litt er unter den endlosen Zahlenkolonnen: „Es ist unwürdig, die Zeit von hervorragenden Leuten mit knechtischen Rechenarbeiten zu verschwenden, weil bei Einsatz einer Maschine auch der Einfältigste die Ergebnisse sicher hinschreiben kann.“1
Die von Leibniz konstruierte Staffelwalzenmaschine war das erste Gerät, das alle vier Grundrechenarten bewältigte. Im Lauf der Jahre gab es weitere Verbesserungen und Neuerungen. Die ersten modernen, auf elektronischen Bauteilen beruhenden Computer wurden in der 1940er-Jahren für das Militär entwickelt. Es hat eine gewisse Berechtigung, dass der Wendepunkt von der Rechenmaschine zum Computer mit der Einführung elektronischer Bauteile verbunden wird. Was aber leicht übersehen wird, ist die grundlegende Veränderung der Zielsetzung. Der entscheidende Schritt war weniger das Funktionsprinzip der Bauteile, sondern vielmehr die Idee, eine Maschine nicht nur Ziffern addieren, subtrahieren, multiplizieren und dividieren zu lassen, sondern auch Daten allgemeinerer Art zu verarbeiten. Die Zusammenarbeit von Ada Lovelace und Charles Babbage spiegelt genau diesen Sprung von mechanischer Rechenmaschine zum Computer wider: • Babbage (1791–1871) hatte, als er Lovelace kennenlernte, bereits über zehn Jahre an seiner Analytical Engine gearbeitet, mit dem Ziel, sie endlose Zahlenkolonnen für mathematische Tafeln berechnen zu lassen. • Lovelace erkannte, dass Babbages Maschine auch für nichtnumerische Aufgaben eingesetzt werden könnte. Sie war der erste Mensch, der einen konkreten Algorithmus erdachte und veröffentlichte.
Ada Augusta Lovelace wurde in einer dysfunktionalen Familie groß. Ihr Vater war der als Lord Byron bekannte Dichter George Gordon Byron. 1813 hatte der 25-jährige Byron eine leidenschaftliche Affäre mit seiner Halbschwester Augusta begonnen. Zwei Jahre später heiratete er, um einen
1 Zitiert nach Karl Popp und Erwin Stein (Hrsg), Gottfried Wilhelm Leibniz. Das Wirken des großen Universalgelehrten als Philosoph, Mathematiker, Physiker, Techniker. Hannover: Schlütersche (2000), S. 84
7 Ada Lovelace (1815–1852) 81
Skandal zu vermeiden, die Baronesse Anne Isabella Milbanke, setzte aber das Verhältnis mit seiner Halbschwester fort. Die offizielle Lady Byron hatte in ihrem Elternhaus eine hervorragende Ausbildung erhalten; da sie einen Sinn für logische Zusammenhänge hatte, interessierte sie sich besonders für Mathematik und Astronomie. Die Ehe zwischen der kühl-rational denkenden Frau und dem hochemotionalen, abenteuerlustigen Poeten war von heftigen, wohl auch physischen Streitigkeiten gekennzeichnet. Am 10. Dezember 1815 wurde Ada als erstes und einziges Kind des Paares geboren. Lord Byron war enttäuscht, er hatte einen glorious boy erwartet. Einen Monat nach Adas Geburt scheiterte die Ehe endgültig. Die Trennung von seiner Frau ruinierte Lord Byrons Ruf vollends, und er verließ England. Nach Stationen in der Schweiz und in Italien kämpfte er als hochrangiger Befehlshaber im griechischen Unabhängigkeitskrieg gegen die Türken und verlor dort mit nur 36 Jahren sein Leben: Ein mehrfacher Aderlass zur Behandlung eines Fiebers hatte ihm die letzten Widerstandskräfte geraubt. Als ihr Vater starb, war Ada acht Jahre alt, und dass sie bereits damals einige Last zu tragen hatte, lag nicht nur an ihrer schwachen Gesundheit. Schon ihr erster Vorname war ein Affront: Nach der Halbschwester ihres Vaters, mit der er eine inzestuöse Beziehung gehabt hatte, war sie Augusta getauft worden. Ihren Vater hatte sie nie bewusst gesehen, und ihre Mutter verhinderte mit größter Entschlossenheit jeden möglichen Kontakt zu ihm. Während Lord Byrons Gedichte sich überall in Europa größter Beliebtheit erfreuten, durfte Ada weder seine Bücher lesen noch Porträts von ihm anschauen. Ihr Leben lang sehnte sie sich nach ihrem Vater (ihre beiden Söhne nannte sie später Byron und Gordon). Doch war ihr Wunsch einseitig. Lord Byron scheint nicht viele Gedanken an sein einziges legitimes Kind verschwendet zu haben. Er hatte ihr zwar in einem ein Gedicht, das seine Fahrt ins Exil beschreibt, einige Zeilen gewidmet, doch die eigenartige Interpunktion der ersten beiden Zeilen macht die Aussage zumindest fragwürdig. Wären Ausrufezeichen und Fragezeichen vertauscht, könnte man einen liebevollen Text vermuten. „Ist dein Gesicht wie das deiner Mutter, mein schönes Kind! ADA! einzige Tochter meines Hauses und Herzens? Als ich zuletzt deine jungen blauen Augen sah, lächelten sie, Und dann trennten wir uns, nicht wie wir uns jetzt trennen, Aber mit Hoffnung.“2
2 Byron,
1899.
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Adas Mutter gab ihr Kind in die Obhut ihrer eigenen Mutter und ließ sich von weiteren Verwandten und Bekannten – von Ada „die Furien“ genannt – über die Entwicklung ihrer Tochter regelmäßig berichten. Ada erhielt sechs Tage die Woche von sechs Uhr morgens bis zum Abendessen Privatunterricht. Geradezu besessen davon, jeden Kontakt Adas zu ihrem Vater und jede Neigung zur Poesie zu unterbinden, ließ ihre Mutter nach Kräften das Interesse Adas an Mathematik und Logik fördern. Schon mit vier Jahren begann ihr Mathematikunterricht, später kamen Geografie, Astronomie, technisches Zeichnen, mehrere Sprachen und Musik hinzu. Lyrik war komplett aus dem Lehrplan gestrichen. Ada war also in einem Netz an Manipulationen gefangen; trotzdem ergriff sie die ihr angebotenen Möglichkeiten und lernte mit großem Interesse die naturwissenschaftlichen Fächer. 1833 ist für Ada ein schicksalsträchtiges Jahr. Wie für adelige junge Frauen üblich, wird sie mit siebzehn Jahren am Hofe vorgestellt. Ihr brillanter Geist macht großen Eindruck und bringt sie in Kontakt mit bedeutenden Männern ihrer Zeit, darunter Charles Dickens, der schon damals zu den bekanntesten und angesehensten Schriftstellern gehört, und Michael Faraday, mit dem sie sich ausführlich über den Elektromagnetismus und die entsprechenden Experimente austauscht. Dies waren Kontakte, die sie für ihre weitere Ausbildung und wissenschaftliche Tätigkeit sehr gut zu nutzen wusste. So diskutierte sie beispielsweise sehr häufig mit Michael Faraday, um über wissenschaftliche Methoden zu korrespondieren. Doch es war die Begegnung mit einer Frau, die ihr Leben entscheidend verändern sollte.
Mary Somerville (1780–1872), deren Porträt heute auf der 10-Pfund-Note der Royal Bank of Scotland abgebildet ist, war eine der großen Wissenschaftlerinnen des 19. Jahrhunderts. Ihr Wissen hatte sie sich selbst aneignen müssen, denn ihre Familie sah Bildung für Mädchen als schädlich an. Somerville entwickelte sich zu einer Newton-Expertin, die sich so wie Émilie du Châtelet kritisch zu dessen mathematischer Darstellung der Infinitesimalrechnung äußerte. 1826 veröffentlichte Somerville erstmals die Ergebnisse ihrer Experimente zur Beziehung zwischen Licht und Magnetismus.3 Statt weiter ihr wissenschaftliches Talent zu entfalten, beschloss sie, durch die Übersetzung der Werke anderer Gelehrter in allgemeinverständliche Sprache ihren Leserkreis – und damit ihre Einnahmen – zu vergrößern. 3 Mary Somerville, The Magnetic Properties of the Violet Rays of the Solar Spectrum, Proceedings of the Royal Society (1826).
7 Ada Lovelace (1815–1852) 83
1831 erschien unter dem Titel The Mechanism of the Heavens ihre freie Übersetzung von Pierre-Simon Laplace’ fünfbändigem Werk Mécanique céleste. Die Popularisierung der neusten wissenschaftlichen Ergebnisse erwies sich als lukrativ, Somervilles Buch On the Connexion of the Physical Sciences verkaufte sich 15.000-mal. Es wurde ins Deutsche und Italienische übersetzt und kam auch in den Vereinigten Staaten auf den Markt. Allein in England erlebte es zehn Auflagen und war über ein Vierteljahrhundert das erfolgreichste wissenschaftliche Buch seines Verlegers; erst 1859 lief ihm The Origin of Species von Charles Darwin diesen Rang ab. Somerville schrieb weiter allgemeinverständliche Wissenschaftsbücher, korrespondierte mit führenden Gelehrten und beteiligte sich an aktuellen wissenschaftlichen Debatten. Als sie und Caroline Herschel 1835 gemeinsam zu den ersten weiblichen Ehrenmitgliedern der Royal Astronomical Society gewählt wurden, war dies einer der Höhepunkte ihres an Auszeichnungen reichen Lebens. Trotz aller Ehrungen darf man davon ausgehen, dass die wissenschaftlichen Leistungen Somervilles hinter ihren Möglichkeiten zurückblieben. Am Ende ihres Lebens bereute sie, ihre eigenen Forschungen vernachlässigt zu haben.
Mary Somerville wurde für Ada Byron nicht nur ein Vorbild, sondern auch eine zuverlässige Freundin und kenntnisreiche Gesprächspartnerin. Sie war es auch, die Ada im Juni 1833 mit Charles Babbage bekannt machte. Der Mathematiker, Philosoph und Maschinenbauer war damals 42 Jahre alt und hatte bereits über zehn Jahre an einer aus Tausenden Präzisionszahnrädern zusammengesetzten mechanischen Rechenmaschine gearbeitet. Zu Babbages großer Freude war Ada Byron eine der wenigen Personen, die die Funktionsweise seiner Rechenmaschine sofort begriff. Doch bevor ihre Zusammenarbeit Fahrt aufnehmen konnte, mussten in Adas Leben einige Klippen umschifft werden. Dass sie zeit ihres Lebens gesundheitlich angeschlagen ist, regelmäßig das damals als gängiges Medikament eingesetzte Opium konsumiert und von dieser Substanz abhängig ist, dürfte in ihrer gesellschaftlichen Schicht nicht ungewöhnlich gewesen sein. Dass sie aber trotz aller Vorsichtsmaßnahmen ihrer Mutter 1833 ein Verhältnis mit einem ihrer Hauslehrer beginnt, hätte für sie katastrophale Folgen haben können. Kurz bevor das Liebespaar miteinander durchbrennen will, wird die Familie aktiv und beendet die Beziehung. 1835 wird Ada mit dem zehn Jahre älteren Baron William King verheiratet; als Lady King steht sie zwar nicht mehr unter der Fuchtel ihrer
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Mutter, hat aber gesellschaftliche Pflichten zu erfüllen und kaum noch Zeit für ihre Studien und ihre Korrespondenz mit Wissenschaftlern. Es ist für sie auch nicht einfach, an die neuesten Bücher heranzukommen. Als Mitglied der Royal Society hätte sie Zugriff auf deren umfangreiche Bibliothek, doch Frauen sind dort erst ab 1945 zugelassen. Also bittet sie ihren Mann, dieser Institution beizutreten und für sie interessante Passagen aus Büchern abzuschreiben. Trotz seiner Unterstützung empfindet Ada King ihre Ehe als unglücklich. Als 19-Jährige schreibt sie in ihrem Tagebuch: „Ich glaube, dass nichts anderes als genaue und intensive Beschäftigung mit Themen wissenschaftlicher Natur meine Fantasie am Durchdrehen hindern und die Leere ausfüllen kann, die der Erlebnishunger in meinem Geist zurückgelassen hat.“4
In den vier Jahren von 1836 bis 1839 bekommt Ada King drei Kinder. In dieser Zeit wird ihr Mann zum Earl ernannt, ein Rang, der dem eines Grafen entspricht. Als Name der neuen Peerage wird Lovelace gewählt, denn Ada ist eine Nachfahrin der Lovelace-Barone, deren Linie 100 Jahre zuvor ausgestorben ist. So wird aus Lady King Lady Lovelace. Nach der Geburt ihres dritten Kindes wendet sich Ada Lovelace wieder der Wissenschaft und vor allem der Zusammenarbeit mit Charles Babbage zu, mit dem sie in Kontakt geblieben war. Ada wird zur wichtigsten Vertrauten des Erfinders, und mit der Zeit wird aus Babbages Vorhaben, eine Rechenmaschine zu bauen, das gemeinsame Projekt von Babbage und Lovelace. Er bewundert sie als „die Zauberin der Zahlen“, und sie verehrt ihn als bahnbrechenden Erfinder der ersten dampfbetriebenen Rechenmaschine. Auch mit Augustus De Morgan tauscht sich Ada Lovelace aus, einem guten Freund Babbages und Mathematikprofessor am University College in London. In der formalen Logik – und damit auch in der heutigen Computerprogrammierung – spielen dessen beiden De Morgan’schen Gesetze eine zentrale Rolle. In den frühen 1840er-Jahren motiviert De Morgan Ada Lovelace, sich mit komplexer Analysis und Zahlentheorie zu beschäftigen. Auf dieser Basis lassen sich analytische Ergebnisse jenseits der reinen numerischen Mathematik und der vier Grundrechenarten beschreiben. Diese Möglichkeit markiert einen Meilenstein in der Informationstechnologie, denn er markiert den Sprung von der bloßen Zahlenverarbeitung zur Berechnung komplizierter Formeln mithilfe von Symbolen. 4 Schmid,
2022.
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Die Maschine, an der Charles Babbage seit den frühen 1820er-Jahren arbeitete, war die Difference Engine. Ihre Funktionsweise machte sich den mathematischen Satz zunutze, dass die n-ten Differenzen einer Funktion n-ten Grades konstant sind. Ist diese n-te Differenz einer Funktion bekannt, können durch wiederholtes Aufaddieren alle weiteren Funktionswerte berechnet werden. Babbages Maschine sollte diese Additionen automatisch in vielen Schleifen bewältigen. Doch 1832 nach insgesamt zehn Jahren Bauzeit, war gerade einmal ein Bruchteil der Maschine, die mit etwa 25.000 Teilen und einer Größe von 2,6 × 2,3 × 1,0 m geplant war, funktionsfähig. Dem Ingenieur John Clement war es gelungen, ein aus 2000 Elementen bestehendes Teilstück der Maschine fertigzustellen, das quadratische Funktionen berechnen konnte. Ein Jahr später kam es zu einem Streit zwischen ihm und Babbage, und 1834 zog die britische Regierung die Reißleine. Im Lauf der Jahre hatte sie den Bau der Maschine mit der ungeheuren Summe von 17.000 Pfund gefördert – dem Gegenwert von zwei Kriegsschiffen oder 20 Lokomotiven. Bei einem Erfolg Babbages hätte sich diese Investition gelohnt: Ab 1792 hatte zum Beispiel der französische Mathematiker und Wasserbauingenieur Gaspard de Prony zusammen mit etwa 80 Mathematikern und Assistenten neun Jahre lang an Logarithmentafeln und trigonometrischen Tabellen gearbeitet. Am Ende konnten nur Teile des geplanten 18-bändigen Tabellenwerks veröffentlicht werden, da die Kosten ins Uferlose gestiegen waren. Auch in England zerschlugen sich die Hoffnungen, in überschaubarer Zeit das benötigte Zahlenwerk herstellen zu lassen. Die Automation mit Babbages Maschine schien keine Lösung zu sein, zu komplex war der Bau, zu anfällig die Mechanik gegen Verkanten (heute weiß man, dass die Planung fehlerfrei war; die Maschine hätte funktioniert). 1842 wird das Projekt der Difference Engine endgültig zu Grabe getragen. Babbage, der privat ebenfalls hohe Summen in seine Difference Engine investiert hatte, wendet sich 1834 – also ein Jahr nach seiner ersten Begegnung mit Ada – kurzerhand einem ähnlichen Projekt zu, das er bereits seit einiger Zeit im Sinn hat: der Analytical Engine. Diese Rechenmaschine soll mehrere Meter hoch und von einer Dampfmaschine angetrieben werden. Das Besondere: Es ist eine Steuerung über Lochkarten vorgesehen. Lochkarten in Form von hölzernen Plättchen hatte der Franzose Joseph-Marie Jacquard 1805 erfunden, um auf dampfbetriebenen Webmaschinen automatisiert komplizierte Muster weben zu können. Aus der Information „Loch oder Nichtloch“ folgte für die Webmaschine, ob bestimmte Kettfäden angehoben
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wurden oder nicht. Diese Anwendung des 0-oder-1-Prinzips per Lochkarte wurde bis in die 1970er-Jahre hinein als Informationsträger genutzt. Babbage übertrug Jaquards Idee auf seine Analytical Engine. Karten aus Papier sollten seiner Maschine Befehle erteilen, welche Zahnräder sich bei einer Berechnung weiterdrehen und welche stillstehen würden. Ada Lovelace formulierte es so: „Am treffendsten können wir sagen, dass die Analytical Engine algebraische Muster webt, gerade so, wie der Jacquard-Webstuhl Blätter und Blüten.“5
Er schätzte, dass die Rechenmaschine drei Minuten brauchen würde, um zwei 20-stellige Zahlen miteinander zu multiplizieren. Für eine solche Rechenoperation müssen 20 × 20, also 400 Multiplikationen einstelliger Zahlen durchgeführt und abschließend 20 bis zu 40-stellige Zahlen miteinander addiert werden. Es gibt – sehr wenige – Menschen, die diesen Rechenaufwand im Kopf ebenfalls in drei Minuten schaffen. Doch eine Maschine würde dies ohne Pause und auch ohne Fehler leisten können.
Michael Fothe, Professor für die Didaktik der Informatik und Mathematik an der Universität Jena hat ausführlich beschrieben, wie die Analytical Engine von Charles Babbage (und Ada Lovelace) konzipiert war.6 Hier einige ihrer Ausstattungsmerkmale: • Die Maschine verarbeitet Zahlen mit 200 Stellen und mehr. • Es gibt ein „Lager“, in dem Lochkarten mit Zwischenergebnissen gespeichert werden, und eine „Mühle“, in der die eigentlichen Rechenschritte ausgeführt werden. • Die Information wird über Operations-, Zulieferungs- und Empfangslochkarten transportiert. • Die Operationskarten bestimmen, welche der Grundrechenarten angewandt werden soll. Sie bleiben aktiv, solange derselbe Rechenschritt wiederholt werden soll.
5 Frederico
Menabrea, Ada Lovelace, Grundriß der von Charles Babbage erfundenen Analytical Engine, in Bernhard Dotzler (Hrsg.), Babbages Rechen-Automate – Ausgewählte Schriften, Computerkultur Band VI, Springer Wien/New York (1996), S. 335 6 Michael Fothe, Informatik hat Geschichte! in: Heinrich C. Mayr, Martin Pinzger (Hrsg.), Informatik 2016, Lecture Notes in Informatics (LNI), Gesellschaft für Informatik, Bonn (2016) S. 1909–1915
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• Die Zulieferungskarten enthalten variable Informationen, die der Bediener der Maschine zuführt. • Auch die Empfangskarten sind Variablenkarten; sie empfangen ihren Wert aus dem Rechenwerk. • Eine einzige Rechenoperation benötigt zwei Zulieferungskarten, eine Operationskarte und eine Empfangskarte. Die Zulieferungskarten enthalten die Zahlen, die über eine Rechenoperation miteinander verbunden werden sollen. • Ein Rücklaufsystem ermöglicht die Programmierung von Schleifen und Verzweigungen. Auch wenn Babbage nie eine eigene detaillierte Beschreibung seiner Maschine publizierte, wurden seine Arbeiten in Europa doch mit großem Interesse verfolgt. Auf einem naturwissenschaftlichen Kongress in Turin erläuterte er im Jahr 1840 das Konzept seiner Analytical Engine, und einer der Zuhörer, der Mathematiker, Ingenieur und spätere Ministerpräsident Italiens Federico Menabrea (1809–1896), publizierte 1842 einen 20-seitigen Artikel über das von Babbage vorgestellte Thema.7 Damit der in französischer Sprache abgefasste Artikel auch im englischsprachigen Raum Verbreitung finden konnte, übersetzte Lovelace ihn und fügte auf Babbages Anregung unter dem Pseudonym A. A. L. umfassende Ergänzungen hinzu. Letztendlich wurde der Artikel durch ihre sieben erläuternden Anmerkungen dreimal länger als Menabreas ursprünglicher Text und zur umfassendsten zeitgenössischen Darstellung von Babbages Idee in englischer Sprache. Es ist heute nicht mehr nachzuvollziehen, wie weit Lovelace an der Entwicklung der Analytical Engine beteiligt war. Hatte sie die Lochkarten ins Spiel gebracht? Wie umfassend hat sie die Macht der Algorithmen erkannt? Oder war sie nur eine begnadete Selbstdarstellerin, die es sehr gut verstand, Eindruck zu machen? Ihre Ergänzungen zu Menabreas Veröffentlichung belegen jedenfalls eindrucksvoll ihr eigenständiges Denken. Während Babbage den Nutzen seiner Maschine eher darin sah, Zahlen fehlerfrei zu multiplizieren, blickte Ada Lovelace über die rein numerische Leistungsmöglichkeiten dieser Maschine hinaus. Sie erläuterte, wie Babbages analytische Maschine, wenn sie denn konstruiert würde, auch an Buchstaben, Musiknoten und Bildern sequenzielle Operationen durchführen könnte. Mit dieser Vision nahm sie 100 Jahre vor dem Bau des ersten Computers 7 Luigi
Frederico Menabrea, Notions sur la machine analytique de M. Charles Babbage, Bibliothèque universelle de Genève, nouvelle série 41 (1842) S. 352–376.
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durch Konrad Zuse das Konzept der heutigen Informatik vorweg. In Bezug auf die Musik schrieb sie: „Angenommen, die grundlegenden Beziehungen zwischen den Tonhöhen in der Harmonielehre und der musikalischen Komposition ließen sich auf diese Weise ausdrücken und anpassen, so könnte die Maschine ausgefeilte und wissenschaftliche Musikstücke von beliebiger Komplexität und beliebigem Umfang komponieren.“8
Lovelace hatte erkannt, dass das Konzept der Analytical Engine in der Lage wäre, grundsätzlich jede Information zu verarbeiten beziehungsweise das damit verbundene Problem zu lösen, solange sich die Informationen und die benötigten Algorithmen in Mathematik übersetzen ließen. Dass dies für Musiknoten und Sprachen der Fall ist, bewies der englische Informatiker Alan Turing in den 1930er-Jahren. Diese von Lovelace angeregte Übersetzungstätigkeit wird seit dem 20. Jahrhundert Informatik genannt. Im Zentrum dieser Disziplin stehen zwei Komponenten: 1. die Transformation komplexer Informationen wie Sprache oder Musik in Mathematik, 2. der Einsatz von Algorithmen, also endlich vielen, eindeutigen Verarbeitungsinstruktionen für die eingegebene Information. Ein Beispiel für so einen Algorithmus lieferte Lovelace in ihren Ergänzungen gleich mit. Sie wies nach, dass die Analytical Engine die Bernoulli-Zahlenfolge (auf deren Existenz sie durch De Morgan gestoßen war) berechnen kann. Ein entsprechendes Algorithmendiagramm und eine dazugehörige Tabelle erweiterten die hierzu notwendigen Rechenschritte zu einem mathematischen Prinzip, in dem dezimale in binäre Zahlen (aus 0 und 1 bestehende Bits) umgewandelt und elementare Befehle zu einer Kette hintereinandergeschaltet werden. Lovelace’ Ausführung zur automatisierten Berechnung von Bernoulli-Zahlen gilt heute als das erste Computerprogramm der Geschichte und sie selbst als Erfinderin der Software. In ihren Ergänzungen zu Menabreas Artikel schrieb sie: „Der analytische Automat nimmt einen Rang ganz für sich allein ein. Eine ungeheure, neue Sprache ist entstanden.“9 8 Ada Lovelace, Notes to a „Sketch of the Analytical Engine Invented by Charles Babbage, by L.F. Menabrea‟, Scientific Memoirs, Bd. 3, London (1843). 9 Menabrea, 1842.
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Lovelace zeigte aber auch die Grenzen der Maschine auf: Sie würde niemals kreativ etwas aus sich selbst hervorbringen können. Eine Maschine könne immer nur das ausführen, was Menschen von ihr verlangen. Gemessen am Wissensstand der damaligen Zeit waren Lovelace’ Ideen und Argumente visionär und eine der aufregendsten intellektuellen Leistungen des 19. Jahrhunderts. Doch obwohl die Idee des modernen Computers in der Fachwelt eine gewisse Anerkennung fand, wurde sie nicht weiterverfolgt. Das hatte im Wesentlichen zwei Gründe: 1. Babbage fand nach dem Ende seiner Difference Engine, das gemeinhin als Scheitern aufgefasst worden war, keine Geldgeber mehr, die eine Fertigstellung der Analytical Engine ermöglicht hätten. Von dieser Maschine existiert nur ein Konzept, sie wurde nie gebaut. 2. Lovelace stirbt am 27. November 1852 im Alter von nur 36 Jahren an Krebs. Ada Lovelace wurde auf ihren Wunsch neben ihrem Vater, der ebenfalls mit 36 Jahren verstorben war, in der Kirche St. Mary Magdalene in Hucknall, Nottinghamshire, beigesetzt.
Man kann nur spekulieren, wie weit heute die Computertechnologie wäre, wenn Lovelace noch einige Jahrzehnte länger gelebt hätte. Dass ihre Notizen nach ihrem Tod schnell in Vergessenheit gerieten, könnte an ihrem Hang zur Metaphysik liegen. Sie war zum Beispiel eine Anhängerin der Pseudowissenschaften der Phrenologie, die durch die Vermessung des Schädels auf geistige Eigenschaften schließt, sowie des Mesmerismus, nach dem es einen Lebensmagnetismus mit direkter Auswirkung auf Lebewesen gibt. In der damaligen wissenschaftlichen Gemeinschaft, die sich ohnehin schwer damit tat, die Gedanken einer Frau ernst zu nehmen, war dies wohl ein Anlass, die Bedeutung von Lovelace’ Ausarbeitung zu den Möglichkeiten von Rechenmaschinen als Unsinn abzutun. Doch genau in der Mischung aus unbegrenzter Fantasie und streng-rationalem Denken, das sie von ihren beiden Elternteilen geerbt hatte, lag der Schlüssel zu ihrer außerordentlichen Perspektive auf Babbages Analytical Engine. Dass Ada Lovelace in beiden Welten zu Hause war, spiegelt ein häufig (allerdings ohne Quellenangabe) zitierter Ausspruch von ihr wider: „Diejenigen, die gelernt haben, auf der Schwelle zu den unbekannten Welten zu wandeln, mit dem, was gemeinhin als die exakten Wissenschaften schlechthin bezeichnet wird, können dann mit den schönen weißen Flügeln der Ein-
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bildungskraft hoffen, weiter in das Unerforschte zu gelangen, in dessen Mitte wir leben.“
Ada Lovelace war mit Sicherheit kein einfacher Mensch. Gewisse manische Verhaltensweisen scheinen über die vergangenen zwei Jahrhunderte sichtbar zu sein. Sie strapazierte die Geduld ihres Ehemannes durch mehrere Affären und einen auch für ihre Kreise außerordentlich aufwendigen Lebensstil. Ihre ständige Geldnot versuchte sie durch Pferdewetten auszugleichen – was ihre Schulden nur noch mehr anwachsen ließ. Zu einem Teil wird ihr Interesse an Babbages Maschine seinen Grund auch darin gehabt haben, dass sie hoffte, ein automatisiertes System könne ihr Wettgewinne garantieren. Zudem litt sie wohl auch an einer für Spielernaturen fatalen Selbstüberschätzung: „Ich bin als Prophetin in die Welt geboren worden und diese Überzeugung erfüllt mich mit Demut, Zittern und Beben.“10
Am Ende wurde sie von denen verlassen, mit denen sie die meiste Zeit verbracht hatte. Charles Babbage lehnte jede weitere Zusammenarbeit mit ihr ab, als sie die Verhältnisse umkehren und ihn, der Jahrzehnte unermüdlich an der Planung von Rechenmaschinen gearbeitet hatte, quasi zu ihrem Assistenten machen wollte. Und kurz vor ihrem Tod, sie war schon bettlägerig, brach auch ihr Ehemann den Kontakt zu ihr ab. Sie hatte ihm etwas gebeichtet – es ist nicht bekannt, um welche „Sünde“ es sich gehandelt hatte –, das ihn dazu brachte, umgehend den Raum zu verlassen und nie mehr zu ihr zurückzukehren.
100 Jahre nach Lovelace’ Tod wurde das grundlegende Prinzip des Computers ein zweites Mal entwickelt. Das Konzept war dasselbe geblieben, nur die technischen Möglichkeiten waren nun besser geworden, und die Zeitgenossen zeigten sich aufgeschlossener. Auch die politischen Voraussetzungen zum Bau von kostspieligen Computern waren günstig: Der erste bedeutende Einsatz von Computern diente der Berechnung von Abläufen in Atom- und Wasserstoffbomben.
10 Ada Lovelace, November 1844; hier nach Agnes Imhof, Die geniale Rebellin: Ada Lovelace – Sie stürzte sich ins Leben und revolutionierte die Mathematik, Piper Taschenbuch (2022).
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1953 wurden die Notizen von Lovelace in einem Buch über digitale Datenverarbeitung erstmals wieder publiziert.11 Dies war der Startschuss dafür, dass sie als Vordenkerin der modernen Informatik wahrgenommen wird. Heute wird sie oft als „Prophetin des Computerzeitalters“ bezeichnet. Folgerichtig wurde in den 1970er-Jahren die damals bedeutende, von dem französischen Informatiker Jean Ichbiah entworfene Computersprache ADA nach ihr benannt. Ihre schillernde Persönlichkeit macht es möglich, die verschiedensten Auffassungen auf sie zu projizieren. Doch unabhängig davon, wie ihre Leistung bewertet wird, war sie unbestreitbar ein Kind ihrer Zeit: fasziniert von den Möglichkeiten des technologischen Zeitalters, von Mechanisierung und Dampfmaschinen, und dazu mitreißend kreativ und voller Neugier auf die Verheißungen der Moderne.
11 Bertram V. Bowden (Hrsg.), Faster than Thought – A Symposium on Digital Computing Maschines, Pitman (1953).
8 Sofja Kowalewskaja (1850–1891) Die unbändige russische Mathematikerin
Bis weit ins 20. Jahrhundert hinein mussten Frauen um ihr Recht auf Bildung kämpfen. Die wenigen, die es schafften, in dem Fach ihres Interesses Bedeutendes zu leisten, hatten sich entweder unter größten Mühen autodidaktisch ausbilden müssen oder genossen das seltene Glück, finanzkräftige und gleichzeitig weltoffene Eltern zu haben, die auch ihren Töchtern Privatunterricht zugestanden. Im Falle von Sofja Kowalewskaja traf beides zu. Ihre Eltern ermöglichten ihr eine gute Ausbildung durch Privatlehrer, die allerdings in erster Linie für ihren jüngeren Bruder angestellt wurden. Aber es gibt auch die Anekdote, dass die etwa elfjährige Sofja stundenlang auf ihre Kinderzimmerwände starrt und versucht, den Sinn hinter den auf ihnen sichtbaren Ziffern und Formeln zu ergründen – als das elterliche Gut renoviert wurde, hatte man zu wenige Tapeten bestellt und im unwichtigsten Raum des Hauses kurzerhand Vorlesungsmitschriften ihres Vaters über Differential- und Integralrechnung an die Wände gekleistert. Kowalewskaja schrieb später: „Ich muss gestehen, daß ich damals geradezu nichts davon verstand, aber es war, als ziehe mich eine unwiderstehliche Macht zu dieser Beschäftigung. Infolge meines beharrlichen Anschauens lernte ich viele Stellen auswendig, und einige Formeln gruben sich so fest in mein Gedächtniß ein, daß sie tiefe Spuren darin hinterließen.“1
1 Sofja
Kowalewskaja, Autobiographische Skizze, Deutsche Rundschau, 108 (1901), S. 152–160.
© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 L. Jaeger, Geniale Frauen in der Wissenschaft, https://doi.org/10.1007/978-3-662-66528-2_8
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Dieses Sowohl-als-auch kennzeichnet das gesamte Leben Sofja Kowalewskajas. Sie war eine begnadete Mathematikerin und gleichzeitig Unternehmerin, Schriftstellerin, enthusiastische Nihilistin, leidenschaftliche Liebhaberin und engagierte Verfechterin der Frauenrechte. Sie war das Kind reicher Eltern, Bankrotteurin und litt einen Großteil ihres Lebens unter unsicheren finanziellen Verhältnissen. Sie ist zurückhaltend und von Selbstzweifeln gequält und gleichzeitig eine begnadete Netzwerkerin. In einer Zeit, in der der eigenverantwortliche Bewegungsradius von Frauen auf ein Minimum beschränkt war, reiste sie – allein! – jahrelang quer durch Europa. Keiner Frau vor ihr gelang es, sich in den frauenfeindlichen universitären Strukturen den Doktorgrad in Mathematik zu erkämpfen und dann auch noch eine Professur zu erhalten. Was sie erlebte, leistete und durchlitt, reicht im Grunde für mehrere Leben. ***
Sofja Kowalewskaja wurde am 15. Januar 1850 als Sofja Korwin-Krukowski in Moskau geboren. Ihre Eltern hatten sechs Jahre nach der Geburt ihrer älteren Tochter Anna inständig auf einen Sohn gehofft, doch der Wunsch nach einem dritten Kind und Stammhalter sollte für sie erst nach fünf weiteren Jahren in Erfüllung gehen. Oft hörte die kleine Sofja ihre Kinderfrau sagen, dass die Eltern alles für die Geburt eines Jungen vorbereitet hatten und die Tatsache, dass sie ein Mädchen war, eine große Enttäuschung darstellte. In ihren 1897 erschienenen Jugenderinnerungen schreibt sie: „Dank dieser Gespräche nistete sich in mir frühzeitig die Überzeugung ein, daß ich nicht zu den Lieblingen gehörte, und das wirkte auf meinen Charakter zurück, es entwickelten sich bei mir immer mehr und mehr Scheu und Verschlossenheit.“2.
Sofjas Vater war belarussisch-polnischer Abstammung, Generalleutnant der russischen Armee und gehörte dem niederen Adel an. Auf seinem Landsitz Palibino im Norden des heutigen Weißrussland wurde Sofja groß. Sofjas Mutter Elisabeth war die Tochter des recht bekannten deutschen Topografen und Landvermessers Friedrich Schubert und Enkelin des St. Petersburger Astronomen Theodor von Schubert.
2 Sofja Kowalewskaja, Jugenderinnerungen, Ins Deutsche übersetzt von Louise Flachs-Fokschaneanu. Abrufbar unter: Projekt-Gutenberg.org
3 Sofja Kowalewskaja (1850–1891) 95
Die Privatlehrer wurden in erster Linie für Feodor, das Nesthäkchen der Familie, engagiert, doch Sofja durfte am Unterricht teilnehmen. Als sie ihre Liebe zur Mathematik entdeckte, schien dem Vater der Wissensdurst seiner Tochter das schickliche Maß zu überschreiten, und er untersagte ihr die weitere Teilnahme am Unterricht. Hier hätte die mathematische Laufbahn der Sofja Kowalewskaja zu Ende sein können, bevor sie richtig begonnen hatte. Zufällig ist einer der Nachbarn der Familie der Physikprofessor Nikolai Tyrtow. Als er Sofjas Vater sein gerade veröffentlichtes Lehrbuch der elementaren Physik schenkt, versucht Sofja, den Inhalt zu verstehen, scheitert aber zunächst an den für die Optik benötigten trigonometrischen Funktionen. Auf eigene Faust leitet sie die Formeln her und berichtet Tyrtow bei nächster Gelegenheit, dass sie sein Buch mit Interesse gelesen habe. Tyrtow hält dies zunächst für „eitle Prahlerei“, erkennt dann aber die ungewöhnliche Begabung Sofjas. Er überzeugt Sofjas Vater, seiner Tochter weiteren Unterricht zu ermöglichen. Kowalewskaja berichtet später in ihrer Autobiographischen Skizze, dass sie in St. Petersburg, wo ihre Familie üblicherweise die Saison verbrachte, in Infinitesimalrechnung und anderen Themenbereichen unterrichtet wurde. Sofja Kowalewskaja besuchte nie ein Gymnasium, doch dank intensivem Selbststudium und Privatunterricht ließ sie schon als Teenagerin auf dem Gebiet der Mathematik ihre Altersgenossen weit hinter sich. Sofja ist aber auch ein ganz normales junges Mädchen. Bei einem ihrer Aufenthalte in St. Petersburg kommt die Familie mit dem Schriftsteller Fjodor Dostojewski in Kontakt. Unter den aufmerksamen Augen der Eltern entwickelt sich ein kompliziertes Beziehungsgeflecht. Die blutjunge Sofja ist in den berühmten Schriftsteller verliebt, zeigt ihm ihre eigenen Gedichte und spielt für ihn am Piano. Dostojewski scheint sich einige Zeit zwischen den Schwestern nicht entscheiden zu können und macht schließlich Anna einen Antrag, den diese ablehnt – Dostojewskis politische Ansichten waren ihr nicht progressiv genug. ***
Sofja und ihre acht Jahre ältere Schwester Anna, mit der sie als Kind nur wenig Gemeinsamkeiten hatte, werden engste Vertraute. Anna macht Sofja mit den Ideen des russischen Nihilismus vertraut. Der Name dieser Denkströmung ist irreführend, denn ihre Anhänger glauben nicht etwa „an nichts“, sondern ganz im Gegenteil voller Enthusiasmus daran, dass ihr Land gezielt und von Grund auf erneuert werden müsse. Der Nihilismus
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war eine Antwort auf die unhaltbaren sozialen Zustände im Zarenreich und lehnte jegliche Autoritäten und Rollenzwänge ab. Zu seinen wichtigsten Zielen gehörte es, die Rechte der Frauen zu stärken und ihnen Bildungschancen zu ermöglichen. Die Ideen des Nihilismus boten Sofja und Anna einen Weg, ihrem Wunsch nach einem selbstbestimmten Leben ein gutes Stück näher zu kommen. Sofjas Traum war ein Studium im Ausland, denn so wie in fast allen Ländern der Welt waren auch in Russland die Universitäten für Frauen tabu. Doch auch eine Reise erforderte das Einverständnis ihres Vaters. Da eine Frau mit ihrer Hochzeit aus der Obhut des Vaters in die des Ehemanns wechselte, wurde innerhalb der nihilistischen Bewegung häufig das Modell der Scheinehe genutzt. Der Zweck einer solchen Verbindung war es, Frauen eine Carte blanche für eigene Entscheidungen und insbesondere für Reisen ins Ausland zu geben. Auch die 18-jährige Sofja Korwin-Krukowski nutzt diesen Ausweg, um der väterlichen Verfügungsgewalt zu entkommen. 1868 schließt sie mit dem acht Jahre älteren Juristen, Paläontologiestudenten und radikalen Nihilisten Wladimir Kowalewski eine fiktive Ehe. Sofja heißt nun Sofja Kowalewskaja und kann ihre eigenen Pläne verfolgen. Sofja und Wladimir werden gute Freunde, in ihren Briefen reden sich die beiden mit „Bruder“ und „Schwester“ an, aber ein Zusammenleben als Ehepaar kommt für beide zunächst nicht infrage. Gemeinsam verlassen die Kowalewskis 1869 Russland. Für Wladimir Kowalewski öffnen sich in Westeuropa viele Türen. Er untersucht Fossiliensammlungen der deutschen Universitäten und arbeitet in einer Zeit, in der die Theorien Charles Darwins noch sehr umstritten sind, an einem Stammbaum der Unpaarhufer. Als Koryphäe auf diesem Forschungsgebiet lernt er Darwin persönlich kennen und übersetzt später dessen Werke als Erster ins Russische und veröffentlicht sie. Sofja Kowalewskaja muss ihren Weg weitaus mühsamer erkämpfen. Ihr Ziel war es gewesen, zusammen mit Wladimir und ihrer Schwester Anna in Westeuropa freiere Luft zu atmen. Sie will zunächst an der Zürcher Universität, die 1867 als erste Hochschule offiziell Frauen zum Studium zugelassen hat, als Ärztin promovieren und nach Sibirien gehen, um dort Verbannte zu betreuen. Doch ihre erste Station wird Wien, das die drei schon bald aufgrund finanzieller Engpässe verlassen müssen. Als Nächstes reist das Trio nach Heidelberg, wo Sofja nun doch Mathematik studieren möchte. Doch was in Zürich bereits möglich ist, ist an allen anderen europäischen Universitäten immer noch eine geradezu lächerliche Vorstellung: Frauen, die sich offiziell und mit allen Rechten immatrikulieren.
3 Sofja Kowalewskaja (1850–1891) 97 ***
In Heidelberg ist es den einzelnen Professoren überlassen, ob sie Frauen in ihren Vorlesungen dulden oder nicht – natürlich ohne dass aus einer solchen Erlaubnis ein Anspruch auf eine weitere Betreuung oder gar eine Prüfung entstehen würde. Kowalewskaja gelingt es, einige der bedeutendsten Wissenschaftler ihrer Zeit zu überzeugen, ihr den Zutritt zu ihren Hörsälen zu erlauben: die Mathematiker Leo Koenigsberger und Emil du BoisReymond, die Physiker Hermann Helmholtz und Gustav Robert Kirchhoff sowie den Chemiker Robert Bunsen. Die Vorlesungen bei Helmholtz und Kirchhoff wecken in Kowalewskaja die Faszination für theoretische Mechanik, in den Semesterferien arbeitet sie sich weiter intensiv in dieses Gebiet ein. Um Kowalewskajas Interesse an dieser Forschungsrichtung zu fördern, rät ihr Koenigsberger, zu seinem Lehrer Karl Weierstraß nach Berlin zu gehen. Im Herbst 1870 trennen sich die drei; Anna geht nach Paris, wo sie als Revolutionärin auf den Pariser Barrikaden kämpft, Sofja und Wladimir Kowalewski ziehen in die preußische Hauptstadt. Doch in Berlin sind die Gepflogenheiten sogar noch restriktiver als in Heidelberg: Frauen ist in Berlin der Zutritt zu den Universitäten strikt verboten. Kowalewskaja sucht Weierstraß in dessen Wohnung persönlich auf, doch der große Mathematiker nimmt ihr Empfehlungsschreiben aus Heidelberg noch nicht einmal zur Kenntnis. Stattdessen gibt er ihr ein paar Übungen für fortgeschrittene Studenten mit auf den Heimweg. Als er eine Woche darauf von Kowalewskaja die Lösungen erhält, erkennt er sofort die außergewöhnliche Begabung dieser jungen Frau. Aber selbst die enthusiastische Fürsprache dieses weltberühmten Mathematikers kann seine Kollegen nicht überzeugen, Sofja Kowalewskaja das Betreten der Berliner Universität zu erlauben; von einer offiziellen Immatrikulation ist erst gar nicht die Rede (Preußen ließ erst 1908 als einer der letzten deutschen Staaten die Immatrikulation von Frauen zu). Weierstraß sieht keine andere Möglichkeit, Sofja Kowalewskaja zu fördern, als ihr Privatunterricht anzubieten. Vier Jahre lang lernt sie bei dem international anerkannten Mathematiker, hilft ihm mit fortschreitendem Können bei dessen eigenen mathematischen Studien und wird seine Vertraute. Die Beziehung zwischen Kowalewskaja und dem 35 Jahre älteren Junggesellen Weierstraß ist einer der großen Glücksfälle in der Geschichte der Mathematik. Weierstraß genießt den gedanklichen Austausch mit der genialen Mathematikerin, und Kowalewskaja erhält durch ihren Mentor die bestmögliche Ausbildung. Entgegen jeder Regel duzen sich die beiden
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sogar. Am 17. Juni 1875, Kowalewskaja hatte Berlin schon wieder verlassen, schreibt Weierstraß in einem Brief an sie: „Niemals habe ich Jemanden gefunden, der mir ein solches Verständniß der höchsten Ziele der Wissenschaft, und ein so freudiges Eingehn auf meine Ansichten und Grundsätze entgegengebracht hätte wie Du!“3
Auch wenn Weierstraß’ Briefe stellenweise romantische Töne anschlagen, gab es nie eine Liebesbeziehung zwischen Kowalewskaja und Weierstraß. Viele Jahre später schreibt Kowalewskaja über ihren Lehrer: „Derselbe hat den allerwichtigsten Einfluß auf meine ganze mathematische Carrière gehabt. Er gab mir die endgültige, unwandelbare Richtung, die ich fortan in meiner wissenschaftlichen Thätigkeit verfolgte, und alle meine Arbeiten sind im Geste der Weierstraß’schen Ideen verfaßt.“4 ***
Weierstraß hat große Mühe, für seine Schülerin eine Universität zu finden, die sie promovieren lassen würde. Seine Berliner Kollegen haben schon abgewunken. Auch die Professoren in anderen Städten fürchten einen Präzedenzfall und lehnen ab. Auch Weierstraß’ Verweis auf Gauß, der 1837 mit Bedauern festgestellt hatte, dass es ein Versäumnis gewesen sei, der Mathematikerin Sophie Germain zu ihren Lebzeiten keinen Doktortitel zu verleihen, fruchtet nicht. Allein die Göttinger Universität zeigt sich aufgeschlossener. Im Sommer 1874 reicht Sofja Kowalewskaja dort gleich drei Abhandlungen ein. Nicht nur Weierstraß meint, dass jede einzelne von ihnen für eine ausgezeichnete Promotion ausgereicht hätte. Auch der Göttinger Gutachter Ernst Schering stellt dies fest. • „Zur Theorie der partiellen Differentialgleichungen“ ist der erste ihrer Beiträge und wird als Kernschrift ihrer Dissertation gesehen. Leonhard Euler (1707–1783) hatte diesen Typ von Differentialgleichungen als Erster entdeckt und in einem Spezialfall gelöst. Nachdem Joseph-Louis 3 Reinhard Bölling, (Hg.), Briefwechsel zwischen Karl Weierstraß und Sofja Kowalewskaja, Akademie Verlag Berlin (1993). 4 Sofja Kowalewskaja, Autobiographische Skizze, Deutsche Rundschau, 108 (1901), S. 152–160
3 Sofja Kowalewskaja (1850–1891) 99
Lagrange (1736–1813) einen weiteren Fall beschrieben hatte, waren die Eigenschaften eines dritten Typs offengeblieben. Bekannt war nur, dass es weitere Fälle innerhalb der Analysis nicht geben würde – Kowalewskaja gelingt die Lösung dieses dritten Falles und setzt so einen Schlusspunkt unter diesen Teil der Mathematik. Heute wird wieder an partiellen Differentialgleichungen geforscht, allerdings handelt es sich bei ihnen um einen neuen Typus, der sich nicht mehr durch eine Taylor-Entwicklung darstellen lässt und deshalb nicht zu den analytischen Gleichungen gehört. Dass Kowalewskajas Arbeit im Journal für die reine und angewandte Mathematik abgedruckt wurde, war eine außerordentliche Ehre.5 • Ihre zweite Arbeit behandelt die Reduktion gewisser abelscher Integrale auf einfachere elliptische Integrale.6 Die Beziehung zwischen abelscher und elliptischer Integrale war ein Hauptschwerpunkt der Analysis des 19. Jahrhunderts; auch ihr Mentor Weierstraß hatte viel Zeit auf dieses Thema verwendet. • Der dritte Beitrag Kowalewskajas beschäftigt sich mit einem astronomischen Thema. In ihm entwickelt sie die von Laplace untersuchte Gestalt der Saturnringe weiter. Er wird erst über ein Jahrzehnt später veröffentlicht.7 Allein schon die erste Arbeit katapultierte Kowalewskaja als 24-Jährige an die Weltspitze der Mathematik. Nun befand sich die Göttinger Professorenschaft in großen Nöten, denn um den Doktorgrad zu erlangen, stand noch die mündliche Prüfung aus. Dass Procedere, sich allen – zumeist reaktionär eingestellten – Professoren persönlich vorzustellen und vor versammelter Mannschaft eine mündliche Prüfung abzulegen, hätte zu einem Eklat führen können. Außerdem sprach Kowalewskaja immer noch nur gebrochen Deutsch, und Weierstraß befürchtete, dass die schüchterne junge Frau einer Examinierung nicht gewachsen sein würde.8 Man einigte sich darauf, dass die junge Frau ihren Doktorgrad im August 1874 ohne persön-
5 Sofja
Kowalewskaja, Zur Theorie der partiellen Differentialgleichungen, Journal für die reine und angewandte Mathematik, 80 (1875), S. 1–32. 6 Sofja Kowalewskaja,Ueber die Reduktion gewisser Abel’scher Functionen auf elliptische Functionen , Acta Mathematica, 4(1884), S. 393–414. 7 Sofja Kowalewskaja,Zusätze und Bemerkungen zu Laplace’s Untersuchung über die Gestalt der Saturnsringe, Astronomische Nachrichten, 111 (1885), S. 37–48. 8 Der Brief von Weierstraß an den Göttinger Professor und ehemaligen Schüler Lazarus Fuchs vom 3. Juli 1874 ist unter histmath-heidelberg.de/txt/Kowalewsky/promotion.htm im Internet abrufbar.
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lichen Auftritt, also in absentia, erhalten würde. Auch wenn der Name Sofja Kowalewskaja untrennbar mit der Göttinger Universität verbunden ist, hat sie doch niemals einen Fuß in diese Stadt gesetzt. Wäre Kowalewskaja ein Mann gewesen, hätten die mathematischen Fakultäten Europas ihr umgehend eine Professur angeboten und sich gegenseitig überboten, um sie an sich zu binden. Doch es zeigte sich, dass für eine Frau eine weitergehende mathematische Karriere weder in Deutschland noch in einem anderen Land denkbar war – schon ihre Promotion war einzigartig in der Geschichte der Mathematik. Hatte Kowalewskaja wirklich geglaubt, dass ihr eine Universität eine Stellung anbieten würde? Die Enttäuschung über ihre fehlende Zukunft in Westeuropa stürzt Sofja Kowalewskaja in eine seelische Krise. ***
Sofja Kowalewskaja kehrt 1874 nach Russland zurück, auch Wladimir ist wieder in seinem Heimatland. Er war den größten Teil von Sofjas Berliner Jahren durch Europa gereist, hatte paläontologische Studien betrieben und in Jena promoviert. Doch seine Hoffnung auf eine Professur scheitert ebenso wie die seiner Frau; bei ihm sind es seine radikalen Überzeugungen, die ihm die Türen verschließen. Noch nicht einmal Kowalewskajas Ausweichplan, in Russland zu unterrichten, lässt sich umsetzen. Es fehlt ein russisches Mathematikdiplom; ihre Göttinger Weltklassepromotion wird als Ersatz nicht anerkannt. Da sie als Frau keinen Zugang zu russischen Universitäten hat, kann sie das geforderte Examen auch nicht nachholen – was ihr mit Sicherheit aus dem Stand gelungen wäre. Das Ehepaar ist also gestrandet und muss sich neue Einkommensquellen erschließen. Sechs Jahre lang tritt die Mathematik für sie in den Hintergrund. Die beiden halten sich mit verschiedenen Projekten über Wasser. Kowalewskaja versucht sich mit gewissem Erfolg als Schriftstellerin und Theaterrezensentin; mehr Aussicht auf Erfolg scheint in einem überhitzten Immobilienmarkt die Tätigkeit des Ehepaares als Investoren zu bieten. „Ueberhaupt habe ich während meines ganzen Aufenthaltes in Russland nicht eine selbständige Arbeit verfaßt. Das Einzige, was mich noch einigermaßen wissenschaftlich anregte, war der Briefwechsel und Gedankenaustausch mit meinem lieben Lehrer Weierstraß.“9
9 Sofja
Kowalewskaja, Autobiographische Skizze, Deutsche Rundschau, 108 (1901), S. 152–160.
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In dieser Zeit beginnen Sofja und Wladimir Kowalewski, als Paar zusammenzuleben; vielleicht hat der Tod von Kowalewskajas Vater zu dieser Veränderung in ihrer Beziehung beigetragen. Kurz nach der Geburt ihrer Tochter Sofja 1878 platzt die Spekulationsblase, und Sofja und Wladimir gehen bankrott. In dieser Krise wendet sich Kowalewskaja wieder der Mathematik zu. Schnell wurde sie wieder in den Bann der Mathematik gezogen. Anfang 1880 trägt sie auf dem Kongress der Naturforscher und Ärzte in St. Petersburg ihre noch unveröffentlichte Dissertationsarbeit über die Klassen abelscher Integrale vor. Obwohl mittlerweile sechs Jahre vergangen sind, ist das Thema noch brandaktuell, und Kowalewskaja erhält viel Aufmerksamkeit. Bei diesem Anlass lernt sie den Schweden Magnus Mittag-Leffler kennen, der wie sie ein Weierstraß-Schüler ist und ihrem Leben einige Jahre später eine bedeutende Wendung geben wird. Sofja Kowalewski ist in ihrem Leben bereits viel unterwegs gewesen, unter anderem hatte sie 1869 in London die englische Schriftstellerin George Eliot kennengelernt, und hatte im Frühjahr 1871 während des Aufstandes der Pariser Kommune an der Seite ihrer Schwester Anna die verletzten Revolutionäre und Revolutionärinnen versorgt. Nach den sechs Jahren in Russland eilt sie nun wieder ruhelos durch Frankreich, Italien und vor allem Deutschland, um alte Bekanntschaften zu erneuern und Anschluss an die aktuelle Forschung zu finden. • Zunächst zieht sie mit Ehemann und Kind nach Moskau, wo sie die Veranstaltungen der Moskauer Mathematischen Gesellschaft besucht. • Im Frühjahr 1881 trennt sich Kowalewskaja endgültig von ihrem Mann und reist allein mit ihrer Tochter nach Berlin. • Sie vertraut ihre Tochter einer guten Freundin an, die sie während des Studiums kennengelernt hat. Die Freundin und die Tochter kehren nach Russland zurück, Sofja Kowalewskaja bleibt in Berlin. • Ab Ende 1881 ist sie in Paris. Im Mai 1882 besucht Gösta MittagLeffler Kowalewskaja in Paris und stellt den Kontakt zu den wichtigsten französischen Mathematikern her. Bereits zwei Monate später wird sie in die Pariser Mathematische Gesellschaft gewählt. Während Kowalewskaja ihr Netzwerk ausweitet, wird ihr in Russland zurückgebliebener Ehemann emotional immer instabiler. Als durch Spekulationen im Ölgeschäft er und auch Freunde und Verwandte große Geldsummen verlieren und er außerdem verdächtigt wird, Firmengelder veruntreut zu haben, begeht er im April 1883 Selbstmord. Sofja ist von der
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Nachricht tief betroffen, doch gerade die Tatsache, dass sie nun Witwe ist, öffnet ihr die Tür zu einem neuen Kapitel in ihrem Leben. ***
1878 wurde die Universität in Stockholm gegründet und Gösta MittagLeffler zu ihrem ersten Mathematikprofessor berufen. Anders als an altehrwürdigen, aber auch in Traditionen erstarrten Universitäten wie Uppsala sollte die neue Universität frischen Wind in die Bildungslandschaft Schwedens bringen. Doch der Wille zu Aufbruch und Erneuerung bedeutete noch lange nicht, dass Frauen dieselben Rechte wie Männern zugestanden wurden. Mittag-Leffler konnte Kowalewskaja nur mit Mühe eine Stelle an der mathematischen Fakultät verschaffen, und dies auch nur, weil ihr nach den gesellschaftlichen Regeln als Witwe einige Freiheiten zugestanden wurden. Als Ehefrau oder getrennt von ihrem Mann lebend wäre es ihr ganz unmöglich gewesen, eine Stelle anzunehmen. Kowalewskaja war bereits recht berühmt und ihre Ankunft in Schweden Ende 1883 eine Sensation – alle Zeitungen Schwedens berichteten. Dass Kowalewskaja allerdings eher als Monstrosität und nicht als Vorkämpferin für Frauenrechte wahrgenommen wurde, zeigt die aus einem Zeitungsartikel von 1884 stammende Einschätzung des Zeitgenossen August Strindberg: „Ein weiblicher Mathematikprofessor ist eine gefährliche und unerfreuliche Erscheinung, man kann ruhig sagen: eine Ungeheuerlichkeit.“10
Auch die Stockholmer Professorenschaft empfing Kowalewskaja mit massivem Widerstand. Zunächst muss sie ohne Gehalt arbeiten, erst ein Jahr später kann Mittag-Leffler die auf fünf Jahre befristete Anstellung als außerordentliche Professorin durchsetzen. Ihr Platz in der Universitätshierarchie entspräche heute einem assisant professor. Dank der Stelle genießt Sofja Kowalewskaja zum ersten Mal seit vielen Jahren finanzielle Sicherheit. Von nun an geht es für sie beruflich bergauf. Sie ist in Europa gut vernetzt und weiß, sich einen Namen zu machen. Dass Mittag-Leffler sie zu einer Redakteurin des von ihm gegründeten Fachmagazins Acta Mathematica macht, trägt zu ihrer Bekanntheit bei. Kowalewskaja treibt ihre Mathematik kreativ voran, und gleichzeitig schafft sie es, schriftstellerisch tätig zu bleiben. Mit Gösta Mittag-Lefflers 10 Audin,
2011, S. 211.
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Schwester, der Schauspielerin, Romanautorin und Dramatikerin Anne Charlotte Edgren-Leffler, mit der sie eine enge Freundschaft verbindet, verfasst sie ein Theaterstück. ***
Seit ihrer Studienzeit hatte sich Kowalewskaja immer wieder mit dem sogenannten Rotationsproblem beschäftigt, das eine der berühmtesten Fragestellungen in der Mathematik ist: „Die bedeutendsten Größen haben sich mit ihr abgemüht, darunter Euler, Lagrange und Poisson. […] In der Geschichte der Mathematik begegnen wir wenig Aufgaben, deren Lösung so sehnlich erwünscht wäre und an die so viel Mühe und Kräfte verwendet worden sind, ohne zu wesentlichen Resultaten zu führen.“11
Als Privatdozentin kann sie sich intensiv mit diesem Problem beschäftigen, und 1888 gelingt ihr mit der finalen Erfassung der komplexen Bewegung eines Kreisels der entscheidende Durchbruch. Die Pariser Akademie der Wissenschaften, mit der sie in engem Kontakt steht, legt ihr nahe, ihre Ergebnisse auszuarbeiten und rechtzeitig für die Vergabe des Prix Bordin einzureichen. Zu Kowalewskajas Zeiten ist dies der international bedeutendste Preis für Mathematiker. Stichtag ist der 1. Juni, doch Kowalewskaja verpasst diesen Termin – aus privaten Gründen. Sofja Kowalewskaja ist nicht nur auf politischem und mathematischem Gebiet eine Revolutionärin, auch was private Beziehungen betrifft, geht sie ihren eigenen Weg. Von der Aufbruchsstimmung der russischen Nihilisten geprägt besteht sie auch in diesem Lebensbereich auf Selbstbestimmung. Ende 1887 hatte sie zum Beispiel den 17 Jahre älteren Alfred Nobel kennengelernt. Der reiche Unternehmer machte ihr den Hof, doch sie wies ihn ab. Es gibt eine Anekdote, dass es keinen Nobelpreis für Mathematik gäbe, weil Kowalewskaja Alfred Nobel für den Mathematiker Mittag-Leffler fallenließ. Nobel und Mittag-Leffler hatten tatsächlich keine allzu gute persönliche Beziehung, doch das Gerücht, Sofja Kowalewskaja sei mit Mittag-Leffler liiert gewesen, entbehrt jeder Grundlage. Mit dem Polarforscher Fridtjof Nansen beginnt sie eine Affäre, und noch bevor sie erfährt, dass er bereits verlobt ist, tritt ein neuer Mann in
11 Sofja
Kowalewskaja, Autobiographische Skizze, Deutsche Rundschau, 108 (1901), S. 152–160.
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ihr Leben: der russische Soziologe Maxim Kowalewski, ein Cousin ihres verstorbenen Mannes. Mit ihm verbringt sie in der ersten Hälfte des Jahres 1888 gemeinsame Wochen in Stockholm und London. Paris will den Bordin-Preis unbedingt an Kowalewskaja vergeben und öffnet ihr eine Hintertür, sodass sie ihre Arbeit auch später abgeben kann. Doch ihre Ausarbeitung des Kreiselproblems lässt auf sich warten. Erst Weierstraß erreicht während eines Sommerurlaubs, den er mit ihr und seinen beiden Schwestern verbringt, dass Kowalewskaja ihre Arbeit endlich fertigstellt. In ihrer Arbeit, die später unter dem Titel „Über einen besonderen Fall des Problems der Rotation eines schweren Körpers um einen festen Punkt“12 veröffentlicht wird, beschreibt Kowalewskaja ihre Entdeckung der heute als Kowalewskaja-Kreisel bezeichneten mathematischen Figur und zeigt, dass dies neben den Kreiseln von Euler und Lagrange der einzige andere Fall der Rotationsbewegung eines starren Körpers ist, deren Lösungsfunktionen eindeutig und vollständig integrierbar sind und sich deshalb innerhalb der Analysis lösen lassen. Die Fachwelt ist begeistert, denn Kowalewskaja hat damit eines der größten damals noch offenen Probleme der Mathematik gelöst. Offiziell werden die Beiträge für den Prix Bordin anonym nach Paris gesendet, doch es ist offensichtlich, welche der 15 Einsendungen von Kowalewskaja stammt. Das Pariser Gremium spricht ihr den Preis zu und erhöht das Preisgeld sogar von 3000 auf 5000 Franc. ***
Der Prix Bordin zwingt die Stockholmer Professoren geradezu, Kowalewskaja endlich eine ordentliche Professur und damit ein lebenslanges Einkommen anzubieten. 1889 gewinnt Kowalewskaja den Preis der Schwedischen Akademie und wird zudem zum korrespondierenden Mitglied der Russischen Akademie der Wissenschaften ernannt – was im konservativen zaristischen Russland erst nach Änderung der Hochschulstatuten möglich ist. Ihr großer Wunsch, eine Professorenstelle in Russland, wird ihr jedoch nicht erfüllt. Sie weiß um die Vorzüge Schwedens als Land, doch sie hat Heimweh nach Russland. Ihre depressiven Phasen mehren sich, daran ändern auch die vielen Ehrungen nichts. Schon zu Beginn ihrer Professur hatte sie an Weierstraß geschrieben:
12 Sofja Kowalewskaja, Sur le problème de la rotation d’un corps solide autour d’un point fixe, in: Acta Mathematica, 12 (1889), S. 177–232.
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„Habe heute meine erste Vorlesung gehalten. Weiß nicht, ob es gut oder schlecht war, weiß bloß, sehr traurig war’s nach Hause zu kommen und sich so einsam in der weiten Welt zu fühlen. In solchen Augenblicken ist das ganz besonders stark zu spüren. Noch eine Lebensetappe hinter mir.“13
Als ihre geliebte Schwester 1887 nach schwerer Krankheit stirbt, versucht sie, ihren Schmerz durch schriftstellerische Tätigkeit zu überwinden (das Schreiben hatte sie nie ganz aufgegeben). 1889 erscheint in Stockholm ihr größter schriftstellerischer Erfolg: Ihre Jugenderinnerungen14 werden in mehrere Sprachen übersetzt. Ein Jahr später schreibt sie: „Ich habe mir mein Leben lang nicht darüber klar werden können, ob mir die Schriftstellerei oder die Mathematik lieber war. Sobald mein Kopf von rein abstrakten Betrachtungen ermüdet ist, fühle ich mich sogleich aufgelegt, Beobachtungen über das Leben anzustellen und Erzählungen zu schreiben. Und ebenso kann es umgekehrt sein, dass alles im Leben mir unbedeutend und gleichgültig erscheint und mich nur die ewigen Gesetze der Wissenschaft anziehen. Es ist möglich, dass ich auf dem einen oder anderen der beiden Gebiete hätte mehr leisten können, wenn ich mich demselben ganz gewidmet hätte. Aber es war mir nicht möglich, eines von beiden ganz aufzugeben.“15 ***
Sofja Kowalewskaja ist ihr Leben lang hin- und hergerissen zwischen vielerlei Ansprüchen und Wünschen. Da ist ihre Sehnsucht nach einem geruhsamen Privatleben mit ihrer Tochter, aber auch die Ambition, mathematische Höchstleistungen zu vollbringen. Genauso wichtig sind ihr aber auch ihre schriftstellerische Tätigkeit und ihr Kampf für Gleichberechtigung von Männern und Frauen. Dies alles gleichzeitig zu bedienen, verzehrt ihre seelischen und körperlichen Kräfte. Auch die vielen Reisen zwischen Russland, Stockholm und Paris strapazierten ihre Gesundheit.
13 Reinhard Bölling, Zum ersten Mal – Blick in einen Brief Kowalewskajas an Weierstraß, Historia Mathematica, 20 (1993), S. 126–150. 14 Kowalewskajas Jugenderinnerungen erschienen 1890 in der russischen Zeitschrift Westnik Jewropy. Der Text ist abrufbar unter: projekt-gutenberg.org/kowalews/jugender/chap https://www.projekt-gutenberg.org/kowalews/jugender/chap001.html. 15 Reinhard Bölling, Sage, was du weißt, tue, was du musst, geschehe, was geschehen soll. Sofja Kowalewskaja – Stationen ihres Lebens; https://www.math.uni-potsdam.de/fileadmin/user_upload/ Institutskolloquium/Boelling/Boelling_Kowalewskaja_alt.pdf.
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Sie hat gerade eine neue, intensive Schaffensphase auf dem Gebiet der Mathematik begonnen, als sie sich auf der Rückkehr von einer Urlaubsreise mit Maxim nach Nizza und Cannes eine Erkältung zuzieht. Das Paar reist über Paris und Berlin, wo sie sich wie so oft mit den bekanntesten Mathematikern trifft, nach Schweden. Die verschleppte Erkältung wird zu einer Lungenentzündung. Am 10. Februar 1891 stirbt sie völlig unerwartet in Stockholm mit nur 41 Jahren. Mit ihren herausragenden Leistungen in Analysis, Funktionentheorie, partieller Differentialgleichung und theoretischer Physik war Sofja Kowalewskaja wegweisend für die Mathematik des 19. Jahrhunderts. Auch die entscheidenden Impulse, die eine Reihe bedeutender russischer Mathematiker in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts setzten, sind letzten Endes auf ihr Wirken zurückzuführen. Heute eröffnet der Sofja-Kovalevskaja-Preis der Alexander von Humboldt-Stiftung jungen ausländischen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern die Möglichkeit, an einer beliebigen deutschen Forschungseinrichtung eine Arbeitsgruppe aufzubauen und fünf Jahre lang ein Forschungsprojekt durchzuführen. Mit bis zu 1,65 Mio. EUR Preisgeld ist er einer der am höchsten dotierten Wissenschaftspreise Deutschlands.
9 Marie Curie (1867–1934) Die Pionierin der frühen Kernphysik
Nur wenige Menschen sind sich dessen bewusst, dass Marie Curie, die bis heute wohl bekannteste Wissenschaftlerin der Welt offiziell Russin und damit eine Landsmännin von Sofja Kowalewskaja war. Sie wurde 1867 als Maria Salomea Skłodowska in Warschau, also im russischen Teil des damals unter Preußen und Russland aufgeteilten ehemaligen Königreichs Polen geboren. Ihre Familie gehörte zum polnischen Landadel und hatte unter der russischen Okkupation Grundbesitz und Vermögen verloren; die fünf Skłodowska-Geschwister – Maria war die jüngste – wuchsen also in bescheidenen Verhältnissen auf. Doch der Nationalstolz der Familienmitglieder blieb ungebrochen. Maria war elf Jahre alt, als eine ihrer Schwestern an Typhus starb und ihre Mutter, die als Schuldirektorin gearbeitet hatte, ihren Kampf gegen die Tuberkulose verlor. Sie wurde in einem Internat untergebracht und besuchte später eine höhere Schule für Mädchen, die sie 1883 als Klassenbeste abschloss. Doch die Belastungen der Vergangenheit holten sie ein und sie erlitt einen Zusammenbruch vermutlich depressiver Art – die Schwermut begleitete sie in Schüben ihr gesamtes Leben hindurch. Es dauerte mehr als ein Jahr, bis Maria zusammen mit ihrer zwei Jahre älteren Schwester Bronisława, genannt Bronya, die illegale „Fliegende Universität“ besuchen konnte. Diese Institution, die erst 1905 legalisiert wurde, ermöglichte in Warschau drei Jahrzehnte lang Frauen den Zugang zu Bildung. In einem nächsten Schritt trafen Maria und Bronya eine Abmachung: Bronya ging zum Studium der Medizin nach Paris – dort konnten sich Frauen seit 1863 immatrikulieren – und wurde von Maria finanziell unter© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 L. Jaeger, Geniale Frauen in der Wissenschaft, https://doi.org/10.1007/978-3-662-66528-2_9
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stützt. Im Gegenzug sollte Bronya zwei Jahre später durch Zuwendungen ihrer Schwester ein Studium ermöglichen. Maria erfüllt ihren Teil der Abmachung, sie arbeitet in verschiedenen Familien als Gouvernante und schickt ihrer Schwester Geld. In dieser Zeit schreibt sie in einem Brief an eine Kusine: „Ein solches Höllenleben wünsche ich nicht meinem ärgsten Feind! (…) man posiert auf Liberalismus, in Wirklichkeit aber herrscht finsterste Dummheit (…) Meine Kenntnis der Gattung Mensch hat sich hier sehr erweitert, ich habe gelernt, dass (…) man mit Leuten, die der Reichtum moralisch heruntergebracht hat, nichts zu tun haben darf.“1
Erst Anfang 1890 schloss Bronya ihr Studium ab, und auch jetzt reichten ihre finanziellen Verhältnisse nicht aus, um Maria wie abgesprochen zu unterstützen. Maria arbeitete weiter in Polen, um die nötigen Mittel für ihr eigenes Studium aufzubringen. Während dieser Zeit nahm sie jede Möglichkeit wahr, sich fortzubilden. Dass der Sohn eines ihrer Arbeitgeber (der später ein bedeutender polnischer Mathematiker wird), und sie sich ineinander verliebten, dessen Eltern jedoch die Beziehung unterbanden, machte diese an sich schon schwierige Zeit noch unerträglicher. ***
Ende 1891 ist es endlich so weit: Mit 24 Jahren geht Maria nach Paris. Marie, wie sie in Frankreich nun genannt wird, findet eine günstige Dachkammer in unmittelbarer Nähe der Sorbonne. Trotz aller Bemühungen ist ihre Ausbildung in Polen so schlecht gewesen, dass die Physik-Veranstaltungen an der Universität sie überfordern. Dazu kommen Schwierigkeiten mit der französischen Sprache. Ihr Leben ist entbehrungsreich; im Sommer ist ihre Dachstube brütend heiß, im Winter muss sie alle Kleidung, die sie besitzt, übereinander tragen, um sich einigermaßen warm zu halten. Und neben ihren Anstrengungen, im Studium mitzukommen, muss sie abends noch Nachhilfe geben, um finanziell über die Runden zu kommen. Nur mit Durchhaltevermögen und intensiver Arbeit überwindet sie alle Hindernisse. Marie Skłodowskas Fleiß zahlt sich aus. Sie erhält ein Stipendium, mit dem sie zusätzlich zu Physik auch Mathematik studieren kann. Im
1 Fritz
Vögtle, Peter Ksoll, Marie Curie, rowohlt (2018), S. 14.
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Sommer 1893 schließt sie ihr Physikstudium als Beste ab. Noch bevor sie im folgenden Jahr den zweiten Platz in Mathematik belegt, erhält sie einen ersten bezahlten Forschungsauftrag: Sie soll die magnetischen Eigenschaften verschiedener Stahlsorten untersuchen. Auf der Suche nach einem Labor, in dem sie diese Arbeit ausführen kann, lernt Marie Skłodowska im Frühjahr 1894 Pierre Curie kennen. Den schüchternen Laborleiter an der Städtischen Schule für Industriephysik und Chemie würde man heute wohl einen Nerd nennen; trotz seiner wissenschaftlichen und technischen Begabung und den vielen Forschungserfolgen arbeitet er an einer zweitrangigen Institution. Er will die 27-jährige Absolventin gerne unterstützen, doch sein Labor ist viel zu klein für einen weiteren Arbeitsplatz. Es findet sich ein winziger Raum, in dem Marie Skłodowska ihre Versuche durchführen kann. Marie Skłodowska und Pierre Curie verbindet bald mehr als die Faszination für die Wissenschaft und der Glaube an soziale Verantwortung. Pierre schreibt im Jahr ihres Kennenlernens an die acht Jahre jüngere Marie: „Es wäre eine schöne Sache, an die ich kaum zu glauben wage, unser Leben nebeneinander zu verbringen, hypnotisiert von unseren Träumen: Ihrem patriotischen Traum, unserem humanitären Traum und unserem wissenschaftlichen Traum.“2
Marie Skłodowska lehnt den Heiratsantrag ab, den Pierre Curie ihr schon nach wenigen Monaten macht, denn sie liebt ihr Heimatland und will dorthin zurückkehren. Curie ist bereit, ihr nach Polen zu folgen, doch er muss dieses Versprechen nicht einlösen. Denn als Marie gleich nach ihrem bestandenem Mathematik-Examen im Sommer 1894 nach Polen reist, muss sie feststellen, dass es dort für sie als Frau nicht möglich ist, als Wissenschaftlerin zu arbeiten. Curie überzeugt Skłodowska, ihren Doktortitel in Paris zu machen. Im Gegenzug motiviert die junge Wissenschaftlerin ihren Freund, endlich seine eigene Dissertation zu Papier zu bringen. Denn Pierre Curie hat zwar schon fünfzehn Jahre geforscht und sich einen sehr guten Ruf erarbeitet, sich jedoch nie die Zeit genommen, zu promovieren. Beide werden also gleichzeitig an ihren Dissertationen arbeiten. Wieder gibt es eine Abmachung zwischen zwei Menschen, und wieder sollte sich zeigen, dass die Karten ungleich verteilt sind.
2 Susan
Quinn, Marie Curie: A life, Addison-Wesley (1996), übersetzt von L.J.
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Im Juli 1895 heiraten Marie Skłodowska und Pierre Curie. Beide lehnen eine religiöse Zeremonie ab; anstelle eines Brautkleides trägt Marie ein dunkelblaues Kleid, das ihr noch viele Jahre als Arbeitskleidung dient. ***
Das Jahr der Hochzeit der Curies fällt zufällig mit dem Beginn eines der spannendsten Kapitel der Wissenschaftsgeschichte zusammen. Im Dezember 1895 entdeckt der deutsche Physiker Wilhelm Röntgen bei seinen Laborversuchen die X-Strahlen, später Röntgenstrahlen genannt. Die Fachwelt staunt: Diese durch starke elektrische Entladungen hervorgerufenen Strahlen durchdringen bestimmte Materialien praktisch widerstandsfrei und schwärzen Fotoplatten. Mit ihnen wird der alte Traum der Mediziner wahr, den menschlichen Körper non-invasiv durchleuchten zu können. Umgehend stürzt sich eine Reihe von Wissenschaftlern auf dieses neue Forschungsgebiet. Dass der französische Physiker Henri Becquerel nur wenige Monate später durch einen reinen Zufall beobachtet, dass natürliche Uransalze ohne weiteres Zutun ganz ähnliche Strahlen aussenden, bleibt zunächst nahezu unbeachtet. Zurück zu den Curies: Während Pierre Curie schon im März 1895 den Doktortitel auf Basis seiner Arbeiten über Magnetismus erlangte, war Marie Curies wissenschaftliche Tätigkeit ins Stocken gekommen; im September 1897 kam ihre Tochter Irène zur Welt. Kurz nach der Geburt siegte ihr Forschungsdrang und schon im Dezember setzte sie ihre Untersuchungen zur „Becquerel-Strahlung“ als Doktorandin bei Becquerel fort. Es ist unwahrscheinlich, dass Becquerel die Bedeutung der von ihm entdeckten Strahlung ahnte; er hätte dieses Thema sonst kaum einer Frau anvertraut. Maries Arbeitsplatz befand sich nun in einem Schuppen, in dem es entweder lähmend heiß oder eisig kalt war und durch dessen undichtes Glasdach bei Regen Wasser auf die Arbeitstische tropfte. Hier wurde in den folgenden Jahren Wissenschaftsgeschichte geschrieben. Um die kleine Irène und den Haushalt kümmerte sich – ganz entgegen den damaligen Gepflogenheiten – ihr kürzlich verwitweter Schwiegervater. Mit künstlich erzeugter Strahlung arbeiteten zu dieser Zeit viele Wissenschaftler. Marie Curie war jedoch die einzige, die verschiedene uranhaltige Verbindungen als natürliche Strahlungsquellen systematisch unter die Lupe nahm. Hierbei leistete ihr das von Pierre Curie und seinem Bruder entwickelte piezoelektrische Elektrometer wertvolle Dienste, da es sehr exakt die durch die Strahlung verursachten Veränderungen der elektrischen Leit-
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fähigkeit in der Luft misst. Innerhalb kurzer Zeit machte Marie Curie bedeutende Entdeckungen: • Ihre Experimente bestätigten, dass uranhaltige Materialien sich nicht etwa mit Sonnenlicht „aufluden“ und die Strahlung später wieder abgaben, sondern dass die Ursache der Strahlung die Atome selbst waren. Aber wie konnte das sein? Abgegebene Strahlung muss das Atom verändert zurücklassen, doch die Wissenschaftler, die an die Existenz von Atomen glaubten (es gab damals auch noch andere Erklärungsansätze) hielten sie für unveränderbar. Marie Curies Hypothese war der erste entscheidende Schritt zur Widerlegung der Annahme, dass Atome unveränderlich und unteilbar sind. • Auf ihrer systematischen Suche nach weiteren Stoffen, die Strahlung aussenden, entdeckte sie die Radioaktivität des Elements Thorium. Dass ihr der deutsche Chemiker Gerhard Carl Schmidt mit dieser Entdeckung um zwei Monate zuvorgekommen war, wurde erst später bekannt. • Bei der Untersuchung einzelner Fraktionen eines thoriumhaltigen Minerals stellte sie fest, dass es neben dem Thorium ein weiteres strahlendes Element enthalten musste. • Als sie aus Pechblende, einer weiteren uranhaltigen Verbindung, den Urananteil extrahierte, strahlte der Rest erstaunlicherweise stärker als das reine Uran. Auch in der Pechblende, einem aus bis zu 30 verschiedenen Elementen zusammengesetzten schlackeähnlichen Abfallprodukt aus dem Bergbau, musste sich also ein bisher unbekanntes, strahlendes Element verbergen. Die Vermutung, dass Atome keine unveränderbaren Kugeln sind, war sensationell. Im April 1898 wurden Curies erste Ergebnisse von ihrem Doktorvater Gabriel Lippmann vor der Académie des Sciences vorgetragen. Sie selbst durfte diesen Vortrag nicht halten, da Frauen als Mitglieder der Akademie nicht zugelassen waren. In dem Skript zu dieser Rede führte Marie Curie erstmals den Begriff Radioaktivität ein. Es begann ein Rennen um die Erstbeschreibung der beiden vorhergesagten Elemente – wem zuerst ihre Herstellung in Reinform sowie die Bestimmung ihrer physikalischen Eigenschaften gelänge, würde als ihr Entdecker in die Geschichte eingehen. Pierre Curie beschloss, seine eigenen Arbeiten an Kristallen aufzugeben und zusammen mit seiner Frau an natürlich strahlenden Materialien zu arbeiten. Das Ehepaar arbeitete Hand in Hand: Marie vervollkommnete die chemische Trennung der Material-
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proben, Pierre untersuchte die physikalischen Eigenschaften der Trennungsprodukte. ***
In mühevoller chemischer Kleinarbeit trennen die Curies mehrere Tonnen Pechblende in ihre Bestandteile auf, immer auf der Suche nach den weiteren Komponenten, die neben dem Uran für die Radioaktivität der Ausgangsmaterials verantwortlich sind. Nach vielen Wochen haben sie winzige Mengen an zwei Elementen isoliert. Eines von ihnen ähnelt in seinen chemischen Eigenschaften dem Bismut, im Juli 1898 nennt das Ehepaar es zu Ehren von Marie Curies Heimatland Polonium. Noch im gleichen Jahr geben die beiden auch die Existenz des zweiten von ihnen entdeckten Elements bekannt, das dem Barium ähnelt. Obwohl es ihnen nicht gelungen ist, es chemisch rein zu gewinnen und sie deshalb auch noch keine Aussagen über seine Eigenschaften machen können, geben sie ihm einen Namen: Radium. Ihre Erkenntnis, dass Radium aus strahlendem Uran entsteht, ist eine Sensation. Die chemischen Elemente hatten als die unverrückbaren Bausteine des Universums gegolten; dass aus einem Element ein anderes werden kann, war zuvor unvorstellbar gewesen. Die Curies arbeiten weiter hart daran, das Radium in reiner Form zu gewinnen. Erst dann wäre seine Entdeckung offiziell. Im Jahr 1902 gelingt es ihnen, Radiumchlorid herzustellen. Erst 1910 kann Mare Curie zusammen mit André Louis Debierne durch eine Elektrolyse einer Radiumchlorid-Lösung Radium in elementarer Form isolieren. Zwischen 1898 und 1902 veröffentlichten die Curies insgesamt 32 wissenschaftliche Arbeiten, teils gemeinsam, teils jeder für sich. Pierre Curies Suche nach einer besser bezahlten Anstellung blieb trotzdem erfolglos, denn sein Lebenslauf mit dem sehr spät erworbenen Doktortitel passte nicht in die akademische Welt. Die finanziellen Verhältnisse blieben also weiterhin angespannt. Dennoch machten sie ihr Verfahren zur Herstellung von Radiumchlorid, mit dem sich, wie sich zeigte kranke, tumorbildende Zellen unter Radiumeinwirkung schneller zerstört werden als gesunde Zellen, detailgenau bekannt und verzichteten darauf, Patente anzumelden. Ihre Überzeugung, dass die Früchte wissenschaftlicher Tätigkeit der gesamten Menschheit zugutekommen sollen, teilten sie mit Konrad Röntgen, auch er hatte von der Patentierung seiner Erfindung, den Röntgenstrahlen, Abstand genommen. ***
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1903 wird zu einem Jahr des Triumphs für die Curies. Im Juni reicht Marie Curie ihre Doktorarbeit über radioaktive Stoffe ein und wird promoviert. Im November wird dem Ehepaar die Davy-Medaille der Londoner Royal Society überreicht, die höchste Auszeichnung Englands auf dem Gebiet der Chemiker. Und als Krönung erhalten Marie und Pierre Curie zusammen mit Henri Becquerel im Dezember den Nobelpreis für Physik. Ursprünglich hatte die französische Akademie der Wissenschaften nur Henri Becquerel und Pierre Curie dem Nobelpreiskomitee vorgeschlagen, nicht aber Marie Curie. Einige Wissenschaftler finden das inakzeptabel, darunter der schwedische Mathematiker Gösta Mittag–Leffler, der auch schon Sofja Kowalewskaja unterstützt hatte. Als Mitglied des Nobelpreiskomitees erreicht er zusammen mit Pierre Curie, dass Marie Curie doch noch mit auf die Liste gesetzt wird. Die Chemiker im Nobel-Komitee verfolgen sogar die Strategie, in der Begründung für die Preisvergabe die Entdeckung der Elemente Polonium und Radium nicht ausdrücklich zu erwähnen. Das Ehepaar Curie nimmt also den Nobelpreis für Physik für seine gemeinsame Arbeit an der Becquerel-Strahlung entgegen. Die Preisverteilung bringt die Verhältnisse allerdings wieder aus dem Gleichgewicht: Becquerel erhält eine Hälfte des Preisgeldes, das Ehepaar die andere Hälfte. Für Pierre Curie war 1903 der Höhepunkt seiner wissenschaftlichen Arbeit. Bis Juni 1904 hatte er 25 Arbeiten über die Strahlung veröffentlicht. Diese Produktivität brach nun schlagartig ab, in den folgenden zwei Jahren brachte er keine Arbeit mehr zu Papier. Dass er nicht mehr an seine früheren Erfolge anschließen konnte, hatte mehrere Gründe: • Er wurde endlich als Professor an die Sorbonne berufen. Weil die eigens für ihn geschaffene gut dotierte Stellung mit einer Lehrtätigkeit verbunden war, hatte er nun weniger Zeit für Arbeiten im Labor. • Der Nobelpreis brachte viel Unruhe in das Leben der Curies, ständig wurden sie von Journalisten und Fotografen bei ihrer Arbeit und sogar zu Hause gestört. Pierre Curie machten die Unterbrechungen sehr zu schaffen. • Der ungeschützte Umgang mit radioaktivem Material zeigte Folgen. Das Ehepaar war schon 1903 nicht zur Preisvergabe nach Stockholm gereist, weil die Gesundheit Pierres dies nicht zugelassen hatte. Pierre Curie fühlte sich allerdings zu krank und zu beschäftigt, um im Dezember 1903 zur Preisverleihung nach Stockholm zu reisen. Marie Curie intensivierte dagegen ihre Arbeit. Als Pierre Professor wurde, war auch für sie eine Stellung gefunden worden: Sie war nun als offizielle
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Laborleiterin für die Experimente verantwortlich. Im August 1903 hatte sie eine Fehlgeburt im fünften Monat erlitten, im Dezember 1904 wurde Ève, die jüngere Tochter der Curies, geboren. Nach einer kurzen Auszeit nahm Marie Curie ihre Forschung und auch ihre Lehrtätigkeit an der École Normale Supérieure wieder auf. Hier hatte sie seit 1897 Vorlesungen abgehalten und war 1900 zum ersten weiblichen Fakultätsmitglied ernannt worden. ***
Pierre Curie starb nicht an den Folgen der intensiven Strahlung, sondern mit nur 46 Jahren durch einen Unfall. Am 19. April 1906 wollte er seinen Verleger aufsuchen, doch aufgrund eines Streiks musste er unverrichteter Dinge zurückkehren. Auf dem Rückweg regnete es, wahrscheinlich behinderte sein aufgespannter Regenschirm seine Sicht und er übersah einen schwer beladenen Pferdewagen. Pierre Curie wurde überrollt und war auf der Stelle tot. Marie Curie war untröstlich und tat das, was sie immer in Krisenzeiten tat: Sie stürzte sich in ihre Arbeit. Ihr Schwiegervater kümmerte sich weiterhin um die zu diesem Zeitpunkt achtjährige Irène und die gerade einmal eineinhalb Jahre alte Ève. Vier Wochen nach Pierre Curies Tod, am 13. Mai 1906, bot die Sorbonne dessen verwaisten Lehrstuhl seiner Witwe an. Marie Curie wurde die erste Frau, die an einer französischen Universität einen Lehrauftrag erhielt. Allerdings wurde sie nur als außerordentliche Professorin angestellt, erst 1908 wird sie zur ordentlichen Professorin ernannt. Im Februar 1910 erschütterte ein weiterer Todesfall die Familie. Der Schwiegervater, der seine beiden Enkelinnen Irène und Ève aufgezogen hatte, starb. Wieder tauchte Marie Curie in ihr Labor ab. Irène und Ève berichteten später, dass sich ihre Mutter mehr für ihre Wissenschaft als für ihre Kinder interessiert habe. 1910 ist das Jahr, in dem Marie Curie weitere wegweisende Entdeckungen gelingen: • Auf der Titelseite der Londoner Times vom 9. August 1906 wurde ein Leserbrief des berühmten Physikers Lord Kelvin abgedruckt, in dem er die Theorie vertrat, Radium sei kein Element, sondern eine Verbindung aus Blei und fünf Heliumatomen. Marie Curie verstärkt noch einmal ihre Anstrengungen und kann mithilfe ihres Kollegen André Debierne sie das Element Radium in reiner Form isolieren und sein Atomgewicht bestimmen. Damit ist zweifelsfrei belegt, dass Radium ein Element ist.
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• Sie veröffentlicht ihr umfassendes Lehrbuch „Eine Behandlung der Radioaktivität“3 • Sie definiert die Strahlungsmenge von 1 g Radium226 als internationale Norm für Radiumemissionen. Nun ist es zum Beispiel möglich, medizinische Anwendungen zu vereinheitlichen. Ihr Einheitsmaß wird von der internationalen wissenschaftlichen Gemeinschaft akzeptiert und erhält den Namen Curie. 1985 wurde diese Einheit durch die SI-Einheit Becquerel ersetzt, das die mittlere Anzahl der Atome angibt, die pro Sekunde zerfallen: ***
Trotz Marie Curies unbestreitbarer Erfolge konnten nur wenige Menschen akzeptieren, dass eine Frau Professorin war und herausragende wissenschaftliche Leistungen erbrachte. Als 1910 in der Académie des Sciences durch den Tod eines Mitglieds ein Platz frei wurde, entbrannte ein öffentlicher Streit darüber, ob Marie Curie in die wissenschaftliche Elite Frankreichs aufgenommen werden sollte. Falsche Behauptungen wie die, dass sie Jüdin und Ausländerin sei, hatten zur Folge, dass 1911 ein anderer Wissenschaftler mit knapper Mehrheit zum neuen Mitglied der renommierten Gesellschaft gewählt wurde. Erst über ein halbes Jahrhundert später, im Jahr 1962, wurde mit Marguerite Perey, eine Doktorandin Curies, eine erste Frau als korrespondierendes Mitglied in die Académie gewählt. Es dauerte weitere 17 Jahre, bis 1979 eine Frau auch als vollwertiges Mitglied akzeptiert wurde. Marie Curie hatte sich kaum von den Auseinandersetzungen erholt, da musste die nun 44-jährige Witwe im Jahr 1911 eine weitere Schlammschlacht ertragen. Einige Jahre nach dem Tod ihres Mannes war sie eine Beziehung zu dem fünf Jahre jüngeren Physiker Paul Langevin eingegangen. Dieser war ein Schüler Pierre Curies, war verheiratet und hatte vier Kinder; die Familien Langevin und Curie waren befreundet und auch gemeinsam in Urlaub gefahren. Für ihre Treffen mieteten Curie und Langevin eine Zweizimmerwohnung an. Im Frühjahr 1911 wusste das Liebespaar, dass ihre Beziehung entdeckt worden war, denn aus dieser Wohnung waren belastende Briefe verschwunden. Von nun mussten sie fürchten, dass ihre Beziehung öffentlich gemacht würde. Mitte 1911 reichte Langevins Ehefrau die Scheidung ein, ab November jenes Jahres erschienen fast täglich
3 Marie
Curie, Traité de Radioactivité. 2 Bände, Gauthier-Villars, Paris (1910); deutsche Ausgabe: Die Radioaktivität, Akademische Verlagsgesellschaft, Leipzig (1911/1912), übersetzt von B. Finkelstein.
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Zeitungsartikel mit Anfeindungen und dann auch wie befürchtet Auszüge aus den Briefen. In den Augen der Öffentlichkeit war Curie die Schuldige, die einen ehrbaren Familienvater auf Abwege gelockt hatte. Wieder wurde gemutmaßt, Curie sei Jüdin, was für viele Zeitgenossen eine Erklärung für die Geschehnisse war. Die Hetzjagd gipfelte in der Mutmaßung, Curies Affäre mit Langevin hätte schon zu Lebzeiten Pierre Curies begonnen und ihn so in den Selbstmord getrieben. Nur wenige Menschen wagten es, sich auf ihre Seite zu stellen. Einer von ihnen war Albert Einstein, der ihr Ende November schrieb: „(…) ich bin so erzürnt über die niederträchtige Art und Weise, in der die Öffentlichkeit es derzeit wagt, sich mit Ihnen zu beschäftigen (…) Ich sehe mich veranlasst, Ihnen zu sagen, wie sehr ich Ihren Intellekt, Ihre Tatkraft und Ihre Ehrlichkeit bewundere, und dass ich mich glücklich schätze, Sie in Brüssel persönlich kennen gelernt zu haben. Wenn der Pöbel sich weiter mit Ihnen beschäftigt, dann lesen Sie diesen Quatsch einfach nicht, sondern überlassen Sie ihn dem Reptil, für das er fabriziert wurde (…).4
Einstein und Curie wurden lebenslange Freunde. Genau in dieser Zeit, in der Marie Curie in Frankreich gesellschaftlich vernichtet wurde, traf ein Telegramm des Nobelpreis-Komitees mit der Ankündigung ein, dass ihr in Anerkennung ihrer Entdeckung der neuen Elemente Polonium und Radium der Nobelpreis für Chemie verliehen werden würde. Obwohl ihr abgeraten wurde, an der Preisverleihung persönlich teilzunehmen, reiste sie in Begleitung ihrer Schwester Bronya und ihrer Tochter Irène nach Stockholm. Die Preisverleihung am 10. Dezember 1911 war für Marie Curie der krönende Abschluss eines desaströsen Jahres. Doch der Stress der vergangenen Monate forderte seinen Tribut. Die Depression, unter der sie von Kindheit an mal mehr, mal weniger litt, hatte sich wieder verstärkt, dazu traten akute Nierenprobleme auf. Im Januar 1912 verbrachte sie mehrere Wochen inkognito in einer Privatklinik. Im März unterzog sie sich einer Nierenoperation und erholte sich monatelang in einem Haus in der Nähe von Paris, das sie unter ihrem Geburtsnamen Sklodowska angemietet hatte. Ein ganzes Jahr lang blieb sie ihrem Pariser Labor fern, erst im Dezember 1912 kehrte sie zurück. Der Skandal war mittlerweile überstanden, das Ehepaar Langevin hatte sich getrennt und in der Scheidungsvereinbarung 4 Albert Einstein an Marie Curie am 23. November 1911, aus: Walter Isaacson, Einstein: His Life and Universe, Simon & Schuster, New York (2008).
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wurde Marie Curie nicht namentlich erwähnt. Die Zuneigung von Marie Curie und Paul Langevin hatten den Skandal nicht überstanden, es gab keine weiteren Liebesaffären mehr in Curies Leben. Es ist eine Ironie des Schicksals, dass zwei Generationen später Curies Enkelin Hélène und Langevins Enkel Michel heirateten. ***
Seit 1909 war der Bau eines Instituts du Radium geplant, in dem radioaktive Strahlung erforscht werden sollte, 1912 begannen endlich in Paris die Bauarbeiten in der rue Pierre-Curie. Die Abteilung für die Grundlagenforschung sollte Marie Curie unterstehen, eine zweite Abteilung war für die Arbeit an medizinischen Anwendungen des Radiums geplant. Kurz nachdem Marie Curie die Leitung des fertiggestellten Baus übernommen hatte, brach der Erste Weltkrieg aus. Marie Curie handelte sofort und konnte als Nobelpreisträgerin wohlhabende Menschen davon überzeugen, Geld für kleine, mit Röntgenapparaten ausgestattete Lastwagen zu spenden, mit deren Hilfe verwundete Soldaten direkt an der Front untersucht und behandelt werden konnten. Schon im November 1914 befanden sich die ersten beiden Fahrzeuge in den Kampfgebieten. Die Besatzung eines dieser mobilen Röntgen-Einsatzwagen: Marie Curie, ihre wissenschaftlich versierte 17-jährige Tochter Irène sowie ein Militärarzt. Insgesamt wurden zwanzig Petite Curies gebaut, parallel entstanden hunderte Röntgenstationen, in denen in den Kriegsjahren 1,2 Mio. Menschen untersucht wurden – dies war der Durchbruch der Röntgentechnologie. Die Initiative Marie Curies rettete vielen tausend Soldaten des Landes, das sie vor wenigen Jahren noch als Ausländerin ausgegrenzt hatte, das Leben. Ihre Erfahrungen fasste sie in ihrem Buch „Radiologie im Krieg“ zusammen.5 1919 kehrte Marie Curie an das Institut du Radium zurück und machte das Institut zu einem Weltzentrum für die radiologische Forschung. Sie erkannte den Trend, dass sich Wissenschaft zunehmend spezialisiert, und organisierte kleine Forscherteams, die unabhängig voneinander ihren Aufgabenstellungen nachgingen. Zwischen 1919 und 1934 veröffentlichten die Wissenschaftler des Radiuminstituts 483 Arbeiten, 31 Abhandlungen und Bücher stammten von Curie selbst. Marie war das Herz des Instituts, sie nahm Anteil an der Arbeit jedes einzelnen und war ständig von Mitarbeitern umringt. Immer weiter verlagerte sich ihre Arbeit von der Forschung zu
5 Marie
Curie, La Radiologie et la Guerre, Félix Alcan, Paris (1921).
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organisatorischen Aufgaben. Doch bis an ihr Lebensende arbeitete Marie Curie weiter an der Isolierung, Konzentration und Reinigung von Polonium und Actinium, einem weiteren radioaktiven Element. Dank ihrer Verbindungen in alle Welt und der Kooperationen mit der Industrie war das Institut du Radium vergleichsweise gut mit dem kostbaren Radium als Forschungsmaterial ausgestattet. Nur wenige andere Einrichtungen konnten auf diesem Niveau mithalten: das Cavendish Laboratory in Cambridge, England, das Kaiser-Wilhelm-Institut für Chemie in Berlin und das Radium-Institut in Wien. Zusätzlich zu ihren vielfältigen Aufgaben fand Marie Curie die Zeit, in der Kommission für geistige Zusammenarbeit des Völkerbundes mitzuarbeiten, des Vorläufers der UNESCO. In dieser Funktion setzte sie sich für wissenschaftliche Standards ein, die heute selbstverständlich sind: • die Erstellung einer internationalen Bibliografie wissenschaftlicher Arbeiten, • die Entwicklung von Standards für internationale wissenschaftliche Stipendien, • der Schutz geistiger Eigentumsrechte von Forschern und Forscherinnen an ihren Entdeckungen. Ihre Tochter Irène und ihr Schwiegersohn Frédéric Joliot wurden mit den Jahren zu Stars des Radiuminstituts. Curie erlebte Anfang 1934 noch deren triumphale Entdeckung der künstlichen Radioaktivität. Als dem Ehepaar Joliot-Curie im Dezember 1935 für den Nachweis, dass sich Radioaktivität auch künstlich herstellen lässt, gemeinsam den Nobelpreis für Chemie erhielten, hatte Marie Curie bereits den Kampf gegen die Strahlenkrankheit verloren. ***
Von Anfang an hantierten Marie und Pierre Curie – so wie ihre Kollegen auch – völlig ungeschützt mit radioaktiven Substanzen. Dabei hatten Pierre Curie und Henri Becquerel 1901 sogar eigens die von ihnen beobachteten Strahlenschäden aufgelistet.6 Sie berichteten mit wissenschaftlicher Akribie über die schmerzhaften Hautverbrennungen, -entzündungen und
6 Pierre Curie und Henri Becquerel, Action physiologique des rayons du radium, C.R.T (Cathode Ray Tube), 132 (1901) S. 1289–1291.
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-ablösungen, doch sie waren offenbar der Meinung, dass die Forschung diese Opfer wert ist. Es ist heute nur schwer nachzuvollziehen, warum so lange übersehen wurde, dass Radioaktivität auch langfristige und unumkehrbare Gesundheitsschäden bewirkt. Bis in die späten 1920er-Jahre galten Radiumverbindungen als gesundheitsfördernd und Mitte der 1930er-Jahre waren sie immer noch als Zusatzstoffe von Kosmetika und Genussmitteln beliebt. Von Zahnpasta bis zu nachts leuchtenden Augen von Stofftieren – die Einsatzmöglichkeiten von Radium schien unbegrenzt. Schon 1898 waren Marie Curies Fingerspitzen stark geschädigt. Als Pierre Curie im Juni 1903 vor der angesehenen Royal Institution in London einen Vortrag hielt, waren seine Hände bereits so stark mit Wunden übersät, dass er sich kaum umziehen konnte und bei der Demonstration der Eigenschaften des Radiums etwas von dem Material verschüttete. Ab den frühen 1920er-Jahren beeinträchtigte ein durch Strahleneinwirkung verursachter Grauer Star das Sehvermögen Marie Curies an beiden Augen an Sehvermögen, sodass ihre Schrift immer größer wurde und sie sich von ihren Töchtern herumführen lassen musste. Ihre Gesundheit ließ immer weiter nach und immer öfter reichten ihre Kräfte nicht, um ins Labor zu gehen. In den Osterferien 1934 unternahm sie eine letzte Reise mit ihrer Schwester Bronya. Am 4. Juli 1934 starb Marie Curie an Leukämie. Ihre persönlichen Notizbücher aus den 1890er Jahren gelten heute aufgrund ihrer radioaktiven Belastung als zu gefährlich für den Umgang mit ihnen und werden in bleigefütterten Kisten aufbewahrt. Sogar ihre privaten Kochbücher müssen strahlungssicher aufbewahrt werden. Als wohl berühmteste Wissenschaftlerin der Geschichte wurde Marie Curie zu einer Ikone in der gesamten wissenschaftlichen Welt. Im Jahr 1995 wurde sie als erste Frau überhaupt, gemeinsam mit ihrem Mann ins Pariser Panthéon überführt. Laut der 2009 von New Scientist durchgeführten Umfrage ist sie die „inspirierendste Frau in der Wissenschaft“.
10 Lise Meitner (1878–1968) Die Entdeckerin der Kernspaltung
Marie Curie ist die bekannteste Naturwissenschaftlerin der Weltgeschichte und ihr Name mit der Geschichte der Radioaktivität untrennbar verbunden. Der Name einer anderen Frau, die nahezu zeitgleich einen ebenso bedeutenden Beitrag zum Verständnis dieses Bereichs der Physik leistete, ist dagegen in der Öffentlichkeit nahezu vergessen: Lise Meitner. In den 1920er- und 1930er-Jahren war sie als hervorragende Experimentatorin und Theoretikerin anerkannt und berühmt; Albert Einstein nannte sie „unsere deutsche Marie Curie“. Schon ihre Entdeckung des radioaktiven Isotops Protactinium-231 im Jahr 1917 war eines Nobelpreises würdig. Insgesamt 48-mal wurde sie für diese höchste Auszeichnung nominiert, doch gewonnen haben ihn immer andere. Sogar als es ihr als erstem Menschen gelang, die teilweise widersprüchlichen Ergebnisse von Wissenschaftlern vieler Nationen zu einem Ganzen zusammenzufügen, und sie erkannte, dass Atomkerne gespalten werden können und dabei ein kleiner Teil der Masse in Form von Energie frei wird, blieb ihr die Anerkennung für diese Leistung verwehrt. Denn nur wenige Monate, bevor sie die vielen Puzzlestücke langjähriger Forschungsarbeit sinnvoll zusammensetzen konnte, hatte Lise Meitner von einem Tag auf den anderen aus Deutschland fliehen müssen. Aus dem Ausland stand sie weiter im Kontakt mit ihrem langjährigen Kollegen und Freund Otto Hahn, der in Berlin ihr gemeinsames Lebenswerk vollendete – der überfällige Nobelpreis ging an ihn allein. Dass Lise Meitner die Tür zur Nutzung der Kernenergie öffnete und damit die Welt veränderte, wurde zu ihrer Zeit nicht genügend gewürdigt. © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 L. Jaeger, Geniale Frauen in der Wissenschaft, https://doi.org/10.1007/978-3-662-66528-2_10
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Heute tragen zwar viele Schulen ihren Namen, doch sie steht weiterhin im Schatten ihrer großen Kollegin Marie Curie. ***
Elise Meitner, genannt Lise, wurde am 7. November 1878 in Wien geboren. Ihr Vater, der Rechtsanwalt und überzeugte Freidenker Philipp Meitner, und ihre Mutter Hedwig hatten sich von ihren jüdischen Wurzeln weit entfernt. Religion spielte im Hause Meitner kaum eine Rolle. Manche Biografien berichten zwar, dass Lise und ihre sieben Geschwister getauft und protestantisch erzogen worden wären, doch traten sie alle erst als Erwachsene zum Christentum über. Die tolerante und der Moderne verpflichtete Einstellung der Eltern lässt sich auch daran ablesen, dass Lise und ihre vier Schwestern zu den ersten jungen Mädchen in Wien gehörten, die kein geschnürtes Korsett tragen mussten. Schon als Kind interessierte sich Lise Meitner für Naturphänomene und wollte zum Beispiel herausfinden, warum mit Öl verschmutzte Wasserpfützen bunt schillern. Mit acht Jahren schlief sie mit ihrem Mathematikbuch unter ihrem Kopfkissen. Doch auch für wissbegierige Mädchen war kein Platz im Schulsystem: 1892 war Lise 14 Jahre alt und am Ende der für Töchter vorgesehenen Schullaufbahn angekommen. Das Abitur zu machen, war zwar prinzipiell mithilfe von Privatlehrern möglich, aber alles andere als üblich. Der Besuch einer Hochschule war zu diesem Zeitpunkt immer noch unmöglich. Trotzdem war genau das Lise Meitners Ziel: „Ich war seit meinem 13. Jahr von dem Wunsch besessen, mich zur Gymnasial Matura vorzubereiten, um Mathematik und Physik zu studieren (…)“1
1897 änderten sich die Regeln für Frauen, nun konnten auch sie in Wien studieren. Lises älteste Schwester Gisela machte es vor: Sie überzeugte den Vater, Privatstunden für die Maturavorbereitung zu bezahlen, und 1900 begann sie mit 24 Jahren ein Medizinstudium. Lise war zwei Jahre jünger als Gisela und wollte in die Fußstapfen ihrer großen Schwester treten. Doch ihre Eltern bestanden darauf, dass sie das Lehrerinnen-Examen für Französisch ablegt. Erst später, als Lise schon 20 Jahre alt ist, ermöglichte der Vater auch ihr Privatstunden. In nur zwei Jahren holte sie die Lerninhalte von vier Jahren Gymnasium nach und legte 1901 an einem
1 Anne
Hardy, Lore Sexl, Lise Meitner, rororo (2002), S. 18.
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Wiener Gymnasium als Externe die Abiturprüfung ab. Nur vier von vierzehn Mädchen bestanden in diesem Jahr die Prüfung, neben Meitner auch Henriette Boltzmann, die Tochter des Physikers Ludwig Boltzmann. Noch im gleichen Jahr begann Lise Meitner mit dem Studium der Physik und Mathematik, dazu belegte sie Philosophiestunden, denn diese gehörten damals noch zum Pflichtprogramm. Wertvolle Jahre hatte sie verloren, doch jetzt wurde für die 22-Jährige endlich ihr Lebenstraum wahr. ***
Lise Meitners wichtigster Lehrer an der Wiener Universität war der große Ludwig Boltzmann, der die Thermodynamik revolutioniert hatte. In seinen Vorträgen behandelte er auch ethische Fragen, doch er sprach weder über die brandneue, vieldiskutierte Quantentheorie, noch über die neuesten Experimente zur Radioaktivität. Im Februar 1906 promovierte Lise Meitner über ein eher klassisches Thema: „Wärmeleitung in inhomogenen Körpern“. Es war ihr Doktorvater Franz Exner, ein Freund Konrad Röntgens, der sie mit dem damaligen Stand des Wissens in der Strahlenphysik vertraut machte. Einen der wichtigsten Fortschritte hatte Ernest Rutherford erzielt, als er um die Jahrhundertwende drei Strahlungstypen entsprechend ihren physikalischen Eigenschaften unterschied: • Alpha-Strahlung (die „Becquerel-Strahlung“) hat in Luft eine Reichweite von etwa 10 cm und schon ein Blatt Papier kann sie abschirmen. Wenige Jahre später wurde entdeckt, dass es sich um Pakete aus zwei Protonen und zwei Neutronen handelt – Alpha-Strahlen sind also nichts anderes als ein den Raum geschossener Strom von Helium-Atomkernen. Als Quelle wurden instabile Isotopen identifiziert, die beim spontanen Übergang in einen stabilen Zustand genau diese Teilchen emittieren. Neben Uran sind unter anderem auch die vom Ehepaar Curie entdeckten Elemente Polonium und Radium natürliche Alpha-Strahler. • Beta-Strahlung hat in Luft eine Reichweite von etwa acht Metern und um sich vor dieser Strahlung zu schützen, wird ein mehrere Millimeter dickes Aluminium- oder Eisenblech benötigt. Zur Zeit von Meitners Tätigkeit in Wien war noch nicht bekannt, dass es sich um Elektronen handelt, die beim Übergang eines Neutrons in ein Proton freigesetzt werden beziehungsweise um Positronen, die bei der umgekehrten Umwandlung entstehen. • Gamma-Strahlung ist auch noch in mehreren hundert Metern Entfernung messbar und lässt sich im Gegensatz zu Alpha- und Betastrahlung nicht durch Magnetfelder ablenken. Es braucht Bleiplatten,
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eine dicke Eisenbetonschicht oder auch Wasser, um sie aufzuhalten. Sie sind besonders energiereich und so wie Licht- und Röntgenstrahlen elektromagnetischer Natur. Lise Meitner war fasziniert von diesem Thema und gleich nach ihrer Promotion bewarb sich die nunmehr 28-Jährige bei Marie Curie in Paris. Sie bekam eine Absage und blieb zunächst in Wien, wo sie am Institut für Theoretische Physik experimentierte. Sie ließ parallele Alpha-Strahlen auf Folien verschiedener Metall prallen und stellte fest, dass die beobachtete Streuung umso größer ausfiel, je höher die Atommasse des Folienmetalls war. Diese Erkenntnis war so bedeutend, dass sie 1906 und 1907 in der führenden physikalischen Zeitschrift veröffentlicht wurde2 und Ernest Rutherford zu eigenen Versuchen inspirierte, die zu seinem Atommodell mit einem Atomkern und kreisenden Elektronen führten. Diese ersten Erfolge ermutigten Meitner 1907, zur Friedrich-WilhelmsUniversität in Berlin zu wechseln. Frauen war der Zutritt zu dieser weltweit ersten Adresse für theoretische Physik noch nicht erlaubt, trotzdem fand sie schnell Förderer. Sogar Max Planck, der Gründungsvater der Quantenphysik und ein Gegner der Zulassung von Frauen an Universitäten, erlaubte ihr den Besuch seiner Veranstaltungen und lud sie zu sich nach Hause ein. Es war jedoch eine andere Begegnung in Berlin, die dem Leben Lise Meitners eine entscheidende Richtung geben und aus den geplanten ein bis zwei Jahren in Berlin über drei Jahrzehnte machen sollte. ***
Auf der Suche nach einem Labor, in dem sie experimentieren durfte, lernte die Physikerin Meitner den fast gleichaltrigen Chemiker Otto Hahn kennen, der ein Jahr zuvor nach Berlin gekommen war und einen Assistenten suchte. Da er im Chemischen Institut der Universität mit seinem Thema der Radioaktivität ein Außenseiter war, hatte er sein Labor im Physikalischen Institut eingerichtet. Meitners und Hahns Entscheidung, von nun an zusammenzuarbeiten, war ein Glücksfall in der Wissenschaftsgeschichte, denn die beiden ergänzten sich aufs Beste: Hahn beschäftigte sich systematisch und methodisch mit dem Nachweis neuer Elemente beziehungsweise Isotope, wenn es aber um kühne und kreative Erklärungen 2 Lise Meitner, Über die Absorption der Alpha- und Beta-Strahlen, Physikalische Zeitschrift, 7 (1906), S. 588–590; Lise Meitner, Über die Zerstreuung der α-Strahlen. Physikalische Zeitschrift, 8 (1907), S. 489–496.
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für die beobachteten Strahlungsphänomene ging, war Meitner am Zug. Als Otto Hahn sich einmal an einer Theorie versuchte, meinte sie nur: „Hähnchen, lass mich das machen, von Physik verstehst Du nichts.“
In ihrem ersten Jahr gestaltete sich die Zusammenarbeit noch recht umständlich, denn viele Institutsangehörige hätten die Anwesenheit einer Frau als Störung empfunden. Deshalb durfte Lise Meitner das im Keller befindliche Labor nur über einen direkt zur Straße führenden Nebeneingang betreten und verlassen. Alle anderen Räume und Gänge des Gebäudes waren für sie tabu. Ein Toilettenbesuch war nicht vorgesehen, mangels Damentoilette wäre der auch gar nicht möglich gewesen. Dieser Zustand währte nicht lange, schon 1908 durfte sich Lise Meitner offiziell im Institut bewegen, denn nun war auch in Preußen den Frauen das Studieren erlaubt. Doch die Diskriminierung hielt an. Es wird berichtet, dass manche Kollegen Lise Meitner geflissentlich übersahen und nur Otto Hahn grüßten, wenn sie beiden begegneten. Trotz aller Widrigkeiten bezeichnete Meitner ihre Jahre am Physikalischen Institut der Universität Berlin später als ihre „unbeschwertesten Arbeitsjahre“: „Wir waren jung, vergnügt und sorglos (…)“3
Eine der wichtigste Entdeckungen aus diesen ersten Jahren der Zusammenarbeit mit Hahn war die Möglichkeit, aus dem Energiegehalt der relativ massereichen Alpha-Teilchen das radioaktive Ursprungsmaterial zu bestimmen und sogar ganz neue strahlungsaktive Substanzen zu entdecken. Das Phänomen bezeichneten sie fälschlicherweise als „radioaktiven Rückstoß“, erst viel später wurde ihnen klar, dass radioaktive Atome zerfallen können und ihre Bruchstücke dabei bestimmte Mengen an kinetischer Energie aufnehmen. Als die Meitner und Hahn erste Tests mit dieser Methode durchführten, entdeckten sie gleich zwei neue radioaktive Isotope. 1910 wurde Hahn ordentlicher Professor, Meitner blieb ohne Gehalt und ohne offizielle Funktion. Im Jahr 1912 wechselte das Team MeitnerHahn von der Berliner Universität zur neu gegründeten Kaiser-WilhelmGesellschaft, heute als Max-Planck-Gesellschaft bekannt. Hahn sollte sich an dem Aufbau eines Institutes für Chemie beteiligen und als Pendant zu Marie Curies Labor in Paris eine Abteilung für Radiochemie aufbauen und 3 Charlotte
(1996).
Kerner, Lise, Atomphysikerin – Die Lebensgeschichte der Lise Meitner, Beltz und Gelberg
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leiten. Meitner und Hahn hatten ihre Forschung bisher mit gleichen Verantwortlichkeiten betrieben, doch dem Zeitgeist entsprechend kam für die mit einem Jahresgehalt von 5000 Mark verbunden Stelle nur Otto Hahn in Frage; Lise Meitner arbeitete in dessen neuer Abteilung im Gaststatus weiter ohne Gehalt. Erst einige Monate später, im Winter 1913/14, verschaffte ihr Max Planck eine Stelle als Assistentin an seinem Institut für Theoretische Physik an der Friedrich-Wilhelms-Universität, denn nach dem Tod ihres Vaters 1910 war Meitners finanzielle Lage wohl noch angespannter als je zuvor und er befürchtete, sie müsse zu ihrer Familie nach Wien zurückkehren. Es war für die 35-jährige Lise Meitner nicht nur persönlich die erste bezahlte Stelle, sondern die erste dotierte Stelle für eine wissenschaftliche Assistentin in Preußen überhaupt. Diesen einmaligen Erfolg feierte Meitner mit einer Dinnerparty im Hotel Adlon. Kurz darauf ließ Planck Lise Meitners Jahresgehalt auf 3000 Mark verdoppeln, so wollte er vermeiden, dass sie eine ihr angebotene Dozentenstelle in Prag annahm. Immer noch war Otto Hahns Gehalt deutlich höher war als das Meitners, doch die Zeit der finanziellen Sorgen war vorbei. Allein 1914 erhielt Hahn 66.000 Mark Tantiemen aus dem Verkauf des Isotops Radium-228. Euch als „Mesothorium“ oder auch „deutsches Radium“ zu geben konnte, das Hahn noch vor der Zusammenarbeit mit Meitner entdeckt hatte und das in der Krebsbekämpfung eingesetzt wurde. Die zehn Prozent dieser Summe, die er an Meitner abgab, entsprach dem doppelten Jahresgehalt seiner „Assistentin“. ***
So wie Marie Curie in Paris wurde auch Lise Meitner durch den Ersten Weltkrieg aus ihrer Arbeit gerissen. Anfangs hatte sie noch in Berlin weiterarbeiten können, doch im Juli 1915 wurde sie von ihrem Heimatland Österreich-Ungarn zum aktiven Dienst einberufen. So wie Marie Curie auf der Gegenseite arbeitete sie als Röntgentechnikerin, zuerst wurde sie an der polnischen, später an der italienischen Front eingesetzt. Von ihrer anfänglichen Kriegsbegeisterung war bald nicht mehr viel übrig. Nach ihrer Entlassung im September 1916 kehrte sie nach Berlin zurück. Nahezu gleichzeitig traf auch Otto Hahn wieder in Berlin ein. Er hatte am Weltkrieg in einer ganz anderen Funktion teilgenommen: Als Mitglied der Gruppe um Fritz Haber, Miterfinder des künstlichen Düngers und Gründungsdirektor des Kaiser-Wilhelm-Instituts für Physikalische Chemie, war er an der Entwicklung chemischer Kampfmittel beteiligt. Am 22. April 1915 überwachte Hahn persönlich in Flandern den erstmaligen Einsatz von Chlorgas als Kriegswaffe. Die Giftgaswolke überraschte die Soldaten in den
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Schützengräben und tötete etwa 5000 Menschen, weitere 10.000 wurden so schwer verätzt, dass sie auf Dauer kampfunfähig waren. Die Eindrücke, die Hahn an der Front gewann, ließen ihn an seinem Tun zweifeln. Auch Meitner hatte sich den Krieg weniger brutal vorgestellt, trotzdem hatte sie an Hahn geschrieben: „Ich beglückwünsche Sie zu dem schönen Erfolg bei Ypern.“4 Ab 1917 arbeiteten Meitner und Hahn wieder in Berlin zusammen und entdecken mit dem Protactinium-231 auch gleich ein neues Element. In der Folgezeit gelingen Lise Meitner mehrere große Karrieresprünge: • 1917 soll sie eine am Kaiser-Wilhelm-Institut für Chemie eine auf sie zugeschnittene physikalisch-radioaktive Abteilung aufbauen – fünf Jahre, nachdem Otto Hahn seine chemisch-radioaktive Abteilung gestalten durfte. • 1918 wird sie Leiterin dieser Abteilung und verfügt sie über eigene Forschungsmittel. Meitner und Hahn stehen immer noch in fruchtbarem Austausch miteinander, doch nach 1919 gibt es für lange Zeit keine gemeinsamen Publikationen mehr. • 1922 habilitiert Lise Meitner als erste Physikerin an einer Universität in Deutschland. Weil mit diesem Titel keine offizielle Lehrtätigkeit verbunden ist, unterrichtet sie als Privatdozentin. • 1926 wird sie als erste Frau in Deutschland zur außerordentlichen Professorin für experimentelle Kernphysik ernannt. In dieser Funktion hat sie immer noch keinen Beamtenstatus, darf aber Doktoranden betreuen. Bis 1933 promovieren bei ihr drei Studenten. Immer noch ist es sehr ungewöhnlich, dass eine Frau Professorin ist. Wie eingefahren die Vorurteile der Menschen war, zeigt die folgende Anekdote: Der Titel ihrer Antrittsvorlesung 1922 lautete: „Die Bedeutung der Radioaktivität für kosmische Prozesse“. Wie selbstverständlich wurde in der Zeitung veröffentlicht, Lise Meitner hätte über „kosmetische Prozesse“ doziert. ***
Lise Meitner ist weiter gekommen, als sie es sich wohl erträumt hat. Doch dann wird ihre wissenschaftliche Laufbahn jäh gestört. Im März 1933 kommen die Nationalsozialisten an die Macht und verabschieden innerhalb 4 Hoffmann,
1993, S. 83.
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kürzester Zeit ein Gesetz, das Juden aus dem Öffentlichen Dienst drängt. Dieses „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ dürfte gleich aus zwei Gründen nicht auf Meitner angewendet werden: Zum einen nimmt ein Zusatzparagraf jeden, der im Weltkrieg gedient hat, von dieser Regelung aus, zum anderen ist sie Österreicherin. Trotzdem wird ihr im April 1933 die Lehrbefugnis an der Universität entzogen, sie ist nun keine außerordentliche Professorin mehr. Um diesen Vorgang gesetzeskompatibel zu machen, wird ihr unterstellt, sie hätte im Krieg nicht an der Front gedient. Otto Hahn erklärt sich mit ihr und allen anderen betroffenen Kollegen der Universität solidarisch und verlässt im Januar 1934 ebenfalls die Berliner Universität. Für Meitner und Hahn ändert sich nicht viel, ihr wissenschaftlicher Mittelpunkt war und bleibt das Kaiser-Wilhelm-Institut. Dies ist keine staatlich finanzierte Einrichtung, sondern eine Institution mit Scharnierfunktion zwischen Politik und Industrie. Weil hier weniger die Ideologie als die Profitabilität im Vordergrund steht, kann Lise Meitner noch mehrere Jahre in ihrer Abteilung weiterarbeiten. Carl Bosch, Direktor der IG Farben und damit der Hauptsponsor des Kaiser-Wilhelm-Instituts für Chemie, verspricht Meitner, sie könne ihre Stellung am Institut auf Dauer behalten. Doch außerhalb des Instituts genießt Meitner nur wenig Schutz. In dieser schwierigen Zeit überzeugte Lise Meitner ihren engsten Kollegen und geschätzten Freund Otto Hahn, nach der vierzehnjährigen Pause erneut als Team zu arbeiten. Zusammen mit dem jüngeren Fritz Straßmann (1902– 1980) machten sie sich daran, den Atomkern weiter zu erforschen. Denn in der Welt der Strahlenphysik waren die 1930er-Jahre von entscheidender Bedeutung. • 1932 wurde erstmals das Neutron entdeckt. • 1934 beschoss der Italiener Enrico Fermi erstmals Uran mit Neutronen. Auch Meitner, Hahn und Straßmann versuchten sich ab diesem Jahr an diesem Experiment. Vier Jahre lang versuchten Hahn und Straßmann, die entstehenden radioaktiven Stoffe zu isolieren und zu bestimmen, während Meitner nach theoretischen Erklärungen suchte. • 1937 versuchten auch Marie Curies Tochter Irène Joliot-Curie und der serbische Physiker Paul Savitch, die Ereignisse beim Beschuss von Uran mit Neutronen zu entschlüsseln. Die besten Experimentatoren und Chemiker der Welt arbeiteten mit Hochdruck daran, mithilfe des Uran-Neutronen-Experiments die Kernphysik besser zu verstehen. Fermi war davon ausgegangen, durch den Beschuss mit Neutronen sogenannte Transurane zu erhalten, also Elemente, deren
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Atomgewicht größer ist als das des Urans (92 Protonen). Andere meinten, ein Isotop des Radiums (88 Protonen) gefunden zu haben. Jahrelang gelang es niemandem, die Mischung radioaktiver Produkte zu separieren und die einzelnen Bestandteile zu identifizieren. Meitner, Hahn und Straßmann kamen zum Schluss, dass die vorherrschende Interpretation der Experimente, insbesondere die angebliche Entdeckung von Radium-Isomeren, nicht stimmen könne. Hahn verfeinerte mit Straßmann seine chemischen Verfahren, während Meitner neue Experimente entwickelte, um mehr Licht in einzelne Reaktionsabläufe zu bringen. Mit besseren Analysemöglichkeiten als je zuvor beschlossen sie, mit das Uran-Neutronen-Experiment zu wiederholen. Später zeigte sich, dass genau dieser Versuch den Durchbruch brachte. Doch Lise Meitner war es nicht vergönnt, bei diesem entscheidenden Experiment vor Ort zu sein. ***
Fünf Jahre lang war es Meitner gelungen, sich in einer Juden gegenüber immer feindlicher gesonnenen Gesellschaft praktisch unsichtbar zu machen. Dies änderte sich schlagartig mit dem Anschluss Österreichs im März 1938. Sie war nun Deutsche und verlor die für Ausländer geltenden Privilegien. Meitner zögerte wertvolle Monate, ins Exil zu gehen. Als sie sich endlich dazu entschlossen hatte, waren die Ausreisemöglichkeiten weiter eingeschränkt worden und ihr Ausreiseantrag wurde abgelehnt. Jetzt befand sich Lise Meitner in akuter Lebensgefahr. Als sie am 12. Juli 1938 morgens das Institut betrat, informierte Otto Hahn sie über den Fluchtplan, den er und einige ausländische Freunde geschmiedet hatten: Gleich am nächsten Morgen sollte sie mit dem Zug nach Holland fahren. Um keinen Verdacht zu erregen, blieb sie wie gewohnt bis 20 Uhr im Institut und korrigierte eine zur Veröffentlichung bestimmte Arbeit eines Mitarbeiters. Hahn half ihr beim Packen von zwei kleinen Koffern und schenkte ihr für den Notfall einen Diamantring, den er von seiner Mutter geerbt hatte. Die Nacht verbrachte Meitner in Hahns Haus. Am nächsten Morgen traf sie auf dem Bahnhof wie zufällig den holländischen Chemiker Dirk Coster, sie taten so, als wären beide auf dem Weg zu einer Konferenz. Gemeinsam erreichten sie ohne Zwischenfälle Holland. Wenige Wochen später reiste Meitner nach Stockholm weiter, wo Freunde für die 59-Jährige eine Stelle organisiert hatten. Es war ein tiefer Sturz für die mittlerweile an perfekte Forschungsbedingungen gewohnte Physikerin: In ihrem nur sehr dürftig ausgestatteten neuen Labor war es nicht möglich, auf Weltniveau zu experimentieren. Es fehlte an den allereinfachsten Gerätschaften.
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Umso wichtiger war es für sie, dass Otto Hahn und Fritz Straßmann unter großen Gefahren weiter die Verbindung hielten. Heimlich schickten sie ihr per Brief ihre neuesten Forschungsergebnisse, in der Hoffnung, dass sie die dazugehörigen Erklärungen liefern könnte. Im November 1938 trafen sich Lise Meitner, ihr Neffe Otto Robert Frisch, der ebenfalls ein bekannter Physiker war, sowie Otto Hahn und Niels Bohr in Kopenhagen und diskutierten über die Versuchsergebnisse, die sich beim Beschuss von Uran mit Neutronen ergaben. Meitner bekräftigte noch einmal ihre Auffassung, dass das Reaktionsprodukt kein Radium sein könne. Zurück in Berlin intensivierten Otto Hahn und Fritz Straßmann ihre Experimente und fanden heraus, dass ein Teil der angeblichen Radiumisotope sich chemisch wie Barium verhielten, ein Element, das nur etwas mehr als die halbe Atommasse des Urans besitzt. Ende Dezember 1938 schrieb er an Meitner: „Vielleicht kannst Du irgendeine phantastische Erklärung vorschlagen. Wir wissen dabei selbst, daß es […Uran] eigentlich nicht in Ba zerplatzen kann.“5 „Wäre es möglich, daß das Uran 239 zerplatzt in ein Ba [Barium] und ein Ma [Masurium]? […] Es würde mich natürlich sehr interessieren, Dein offenes Urteil zu hören.“6
Mit „Ba“ meinte er Barium, mit „Ma“ das Element Technetium, das zur damaligen Zeit noch Masurium genannt wurde. Diese Sätze spiegeln die große Unsicherheit wider: Was ist physikalisch möglich, und was nicht? Für dieses Thema war Meitner zuständig. Sie schrieb umgehend zurück: „Mir scheint vorläufig die Annahme eines so weit gehenden Zerplatzens sehr schwierig, aber wir haben in der Kernphysik so viele Überraschungen erlebt, dass man auf nichts ohne weiteres sagen kann: Es ist unmöglich.“7
Innerhalb weniger Tage erarbeitete sie zusammen mit ihrem Neffen Otto Frisch ein theoretisches Modell der Kernspaltung. Entsprechend des damals vorherrschenden Tröpfchenmodells des Atomkerns stellten sie sich den Urankern als instabilen oszillierenden Tropfen vor, der bei Störung durch ein 5 Hardy
& Sexl, 2016, S. 95. & Sexl, 2016, S. 100. 7 Hardy & Sexl, 2016, S. 96. 6 Hardy
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Neutron dazu neigt, sich zu zweiteilen. Nach der Anzahl der im Uranatom vorhandenen Protonen musste es sich bei dem anderen Element nicht um Technetium (43 Protonen), sondern um Krypton (36 Protonen) handeln. Doch wie konnte die sehr hohe Geschwindigkeit erklärt werden, mit der die beiden Spalttropfen auseinandergetrieben wurden? Es traten Energien von insgesamt etwa 200 meV pro Urankern auf. Das war etwa das 400-fache der Ruhe-Energie eines Elektrons. Woher sollte diese Energie kommen? Und warum waren die Produkte der Kernspaltung um etwa ein Fünftel der Masse eines Protons (200 meV) leichter als der ursprüngliche Uran-Kern? Lise Meitner setzte als erster Mensch die Puzzleteile zusammen. Hahn hatte ihr beschrieben, dass beim Uran-Neutron-Experiment nach dem Beschuss Masse fehlt. Sie berechnete nun den Massendefekt gemäß Albert Einsteins berühmter Gleichung E = mc2 in Energie um, und kam genau auf die 200 meV. In einem einfachen Experiment untermauerten Meitner und Frisch diese Vermutung: Sie maßen den „Rückstoß“ der Spaltfragmente mit einem Geigerzähler und stellten fest, dass die gemessenen Energien genau den Vorhersagen entsprachen. Damit hatte Meitner nicht nur eine Erklärung für ein Rätsel des Experimentes gefunden, sondern auch Einsteins berühmte Formel erstmals experimentell bestätigt. Ihr war auch sofort klar, dass die verfügbare immense Kernenergie sensationelle technologische Möglichkeiten bot. Viele Jahre hatten sich Wissenschaftler in aller Welt unvoreingenommen über das Thema der Radioaktivität ausgetauscht. Mit der Entdeckung der Kernspaltung und der Möglichkeit, die gewaltigen in den Atomen schlummernden Energien zu nutzen, war es mit der internationalen Zusammenarbeit schlagartig vorbei. Bereits im Frühling 1939 zeigte das deutsche Militär Interesse an möglichen Anwendungen der Kernspaltung. Nur etwas mehr als sechs Jahre später fielen die ersten Atombomben. ***
Weil es für Hahn und Straßmann in Deutschland unmöglich war, die Nichtarierin Lise Meitner als Mitautorin zu nennen, veröffentlichten die beiden die Beweise für die Kernspaltung, ohne Meitner als Mitautorin zu nennen.8 Nur wenige Wochen später publizierten Meitner und Frisch ihre Theorie der Kernspaltung in einer englischsprachigen Wissenschaftszeit8 Otto
Hahn und Fritz Straßmann, Über den Nachweis und das Verhalten der bei der Bestrahlung des Urans mittels Neutronen entstehenden Erdalkalimetalle, Die Naturwissenschaften, 27 (1), S. 11–15 (1939).
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schrift.9 So entstand das Bild, die Chemiker in Deutschland hätten die Spaltung entdeckt, doch die Fachwelt wusste sehr gut, dass Meitner und Hahn gleichrangig an diesem Erfolg beteiligt waren. Bald war der von Lise Meitner und Otto Frisch vorgeschlagene Begriff „Atomspaltung“ in aller Munde. Wissenschaftshistoriker sind sich nicht einig darüber, ob Hahn am Ende nicht doch ganz froh darüber war, den Ruhm nicht teilen zu müssen. 1938 hatte er noch nachweislich versucht, Lise Meitner als Autorin mit auf die Veröffentlichung zu setzen. Doch nach dem Krieg behauptete er, dass er zur Verifizierung der Kernspaltung durch seine chemischen Experimente die Inspiration durch Meitner nicht benötigt hätte. Fakt ist, dass allein Hahn 1944 der Nobelpreis für die Kernspaltung zugesprochen wurde: bekanntgegeben wurde diese Entscheidung erst 1945, die Preisverleihung fand 1946 statt. Lise Meitner, Otto Straßmann sowie Otto Frisch gingen leer aus. Enttäuscht schrieb Meitner im Dezember 1946, als Otto Hahn den Nobelpreis entgegennahm, an ihren ehemaligen Kollegen James Franck: „Da ich ja ein Teil der zu verdrängenden Vergangenheit bin, hat Hahn in keinem der Interviews, wo er über seine Lebensarbeit sprach, unsere langjährige Zusammenarbeit oder auch nur meinen Namen erwähnt.“10
Trotzdem blieb Meitner dem Mann verbunden, mit dem sie drei Jahrzehnte lang gemeinsam geforscht hatte. ***
Trotz vieler Widerstände, persönlicher Enttäuschungen und schlechter Arbeitsbedingungen in ihrem neuen Heimatland genoss Lise Meitner internationale Anerkennung. 1946 reiste sie in die USA, wo die Öffentlichkeit an der „Frau des Jahres 1946“ großes Interesse zeigt. Eine New Yorker Radiostation sendete ein Interview mit Meitner und der First Lady der USA, Eleanor Roosevelt. In Princeton, Harvard und an der Columbia University hielt sie Vorlesungen und diskutierte mit Albert Einstein, Enrico Fermi, Edward Teller, Victor Weisskopf und Leo Szilard. In Washington DC verbrachte sie einen Abend mit dem Nobelpreisträger James Chadwick, der als
9 Lise Meitner und Otto Frisch, Products of the Fission of the Uranium Nucleus, Nature 143, S. 471–472 (1939). 10 Jost Lemmerich, Lise Meitner zum 125. Geburtstag, Ausstellungskatalog der Staatsbibliothek zu Berlin Preußischer Kulturbesitz (2003).
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ranghöchster Militär die britische Mission beim Manhattan-Projekt geleitet hatte. All diese Gesprächspartner hatten zur Entstehung der Atombombe beigetragen, doch Meitner hatte sich trotz mehrmaliger Aufforderung geweigert, am Bau dieser Waffe mitzuwirken. Mittlerweile war sie überzeugte Pazifistin und es wird ihr keine Freude gemacht haben, dass sie nun von den Amerikanern als „Mutter der Atombombe“ bezeichnet wurde. Zurück in England traf sie weitere Größen der Physik: Erwin Schrödinger, Wolfgang Pauli und Max Born. Mit Schrödinger und Pauli verband sie eine lebenslange Freundschaft. Während sie den Einsatz der Kernkraft scharf verurteilte, unterstützte sie deren friedliche Nutzung. Sie war an der Planung und dem Bau des ersten schwedischen Kernreaktors R1 in Ågesta beteiligt, der 1957 genehmigt und 1964 mit 10 Megawatt Leistung in Betrieb genommen wurde. In den 1950er und 1960er Jahren besuchte Meitner Westdeutschland und verbrachte mehrmals einige Tage bei ihrem langjährigen Weggefährten Otto Hahn und seiner Familie. Dieser schrieb in seinen Memoiren, dass er und Meitner lebenslang enge Freunde geblieben seien. Mit über 80 Jahren ging Lise Meitner in den Teilruhestand und zog nach Großbritannien, wohin die meisten ihrer Verwandten ausgewandert waren. Immer noch hielt sie Vorträge und arbeitete in Teilzeit im Labor. Lise Meitner starb am 27. Oktober 1968 im Alter von 89 Jahren – drei Monate nach Otto Hahn. Eine letzte große Ehre widerfuhr ihr 25 Jahre später: 1994 einigte sich die zuständige internationale Kommission darauf, dass das Element 109, das in Deutschland künstlich durch die Fusion von Wismut mit Eisenionen erzeugt worden war, den Namen Meitnerium erhielt.
11 Emmy Noether (1882–1935) Die bedeutendste Mathematikerin aller Zeiten
In den fünfzig Jahren zwischen 1900 und 1950 wurden die Gesetze der Physik neu geschrieben. Je weiter Wissenschaftler in die Welt der Quantenphysik vorstießen, desto offenkundiger wurde es, dass die Newtonschen Gesetze der klassischen Physik nur in der Welt unseres täglichen Erlebens zu brauchbaren Ergebnissen führen. Um auch die Vorgänge auf atomarer Ebene erklären zu können, musste das gesamte Gebäude der Physik von Grund auf neu aufgebaut werden. Ähnliches geschah nahezu parallel und in nicht weniger dramatischem Ausmaß in der Mathematik. Hier war es die Auseinandersetzung mit den Unendlichkeiten, durch die viele tausend Jahre alte Gewissheiten über Bord geworfen werden mussten und durch neue mathematische Zusammenhänge ersetzt werden, bevor dieses Fach wieder in sich konsistent war. Es war eine Frau, die in dieser Umbruchphase beider Wissenschaften eine zentrale Rolle einnahm: Emmy Noether. Ihre genialen Überlegungen und tiefgründigen Gedanken trieben sowohl in der Mathematik als auch in der theoretischen Physik die Neuerungen entscheidend voran. • Sie erdachte neue Konzepte, die die Relativitätstheorie in sich schlüssig machten und später der Teilchenphysik ein Instrument zur Einordnung der verwirrenden Vielzahl an Quantenteilchen an die Hand gab. • Sie schenkte Physikern eine wissenschaftliche Grundlage für den unter ihnen weit verbreiteten Glauben an die Einheit der Natur. Für weitergehende Details über Emmy Noether siehe auch: Lars Jaeger, Emmy Noether – Ihr steiniger Weg an die Weltspitze der Mathematik, Südverlag, Konstanz (2022). © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 L. Jaeger, Geniale Frauen in der Wissenschaft, https://doi.org/10.1007/978-3-662-66528-2_11
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• Ihre einzigartige Denkweise erlaubte ihr, als erster Mensch in Sphären höchster mathematischer Abstraktion vorzustoßen, ohne die die heutige Algebra und mit ihr viele andere mathematische Teilgebiete nicht denkbar wären. ***
Emmy Noether wurde am 23. März 1882 als älteste Tochter einer jüdischen Familie im fränkischen Erlangen geboren. Ihr Vater Max Noether war ein bekannter Mathematik-Professor an der Erlanger Universität. Als Jugendliche erhielt Emmy die für ihre Kreise übliche Schulbildung, in der Klavierspielen wichtiger war als Rechnen. Auch sonst unterschied sie sich kaum von anderen Mädchen ihres Alters; sie war eine begeisterte Tänzerin und liebte Bälle und ähnliche Veranstaltungen. Doch ihr Sinn war nicht auf eine schnelle Heirat ausgerichtet, sondern auf weiteres Lernen. Dass sie sich so wie Lise Meitner für eine Ausbildung zur Sprachlehrerin entschied, war kein Zufall. Denn für Mädchen war ein Abitur nicht vorgesehen, und um Lehrerin zu werden, war kein gymnasialer Abschluss notwendig. Mit 18 Jahren legte Emmy Noether die bayerische Staatsprüfung ab und hätte nun als geprüfte Lehrerin für Englisch und Französisch an bayerischen Mädchenschulen tätig werden können. Dies ist eine weitere Parallele zu Lise Meitner: Statt nun als Lehrerin zu arbeiten, wendete sich Noether trotz unüberwindlich scheinender Hindernisse dem Studium eines naturwissenschaftlichen Faches zu. Offiziell war im Jahr 1900 Frauen das Studium noch verboten, doch an der Universität Erlangen, wo ihr Vater lehrte, durfte sie als Gasthörerin an den Vorlesungen teilnehmen. Gleichzeitig bereitete sie sich auf eine externe Abiturprüfung vor, die sie 1903 in Nürnberg am Königlichen Realgymnasium bestand. Just ab diesem Jahr wurde Frauen in Bayern erstmals der Zugang zu den Universitäten gewährt. Emmy Noethers Entschluss, Mathematik zu studieren, hatte möglicherweise mit ihrem zwei Jahre jüngeren und mathematisch begabten Bruder Fritz zu tun, der später ein bekannter Vertreter dieses Faches und Professor in Breslau wurde. Vielleicht wollte Emmy zeigen, dass sie ihrem Bruder zumindest ebenbürtig war. 1907 promovierte sie – zwei Jahre vor Fritz – mit der Höchstnote summa cum laude in Erlangen. So wie Lise Meitner ein Jahr zuvor in Wien hatte nun auch Emmy Noether in Erlangen mit der Promotion das Ende der Fahnenstange erreicht. Frauen waren zwar – unter erheblichem persönlichen und finanziellen Einsatz – Abitur, Studium und Promotion möglich, doch dass
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eine Frau eine bezahlte Stelle an einem Institut annehmen könnte, war schlicht undenkbar. Es blieb Emmy Noether nichts anderes übrig, als am Erlanger Mathematischen Institut unentgeltlich ihren Vater Max Noether bei dessen Forschung zu unterstützen. Selbst in ihrer untergeordneten Stellung als geduldete Assistentin weckten ihre mathematischen Fähigkeiten die Aufmerksamkeit der Fachwelt. Schon ein Jahr nach ihrer Promotion, 1908, wurde sie in den italienischen Circolo Matematico di Palermo gewählt. 1909 nahm die angesehene Deutsche Mathematiker-Vereinigung DMV sie in ihre Reihen auf – noch vor ihrem Bruder Fritz – und erlaubte ihr, als erste Frau einen Vortrag auf der Jahrestagung zu halten. Weitere Vortragseinladungen und Ehrungen folgten. Es ist ein für jene Zeit typisches Paradox: Emmy Noether fährt als hervorragende, innovative Mathematikerin auf internationalem Parkett bedeutende Erfolge ein – und gleichzeitig ist es selbstverständlich, dass sie ohne Stellung und ohne Gehalt an der Erlanger Universität ein akademisches Schattendasein führt. ***
1915 gewann Emmy Noether die Aufmerksamkeit der beiden größten Mathematiker ihrer Zeit, David Hilbert und Felix Klein. Die beiden luden sie ein, zu ihnen nach Göttingen zu kommen, dem damals weltweiten Zentrum der mathematischen Forschung. Denn Noether war die Expertin auf einem Gebiet, in dem die beiden Mathematik-Titanen aus eigenen Kräften nicht weiterkamen: der sogenannten Invarianten-Theorie. Der fortschrittlich denkende David Hilbert regte sogar an, dass Noether sich auf diesem wichtigen und sehr aktuellen Gebiet der Mathematik habilitieren solle. Obwohl im preußischen Staat den Universitäten untersagt worden war, Frauen zu habilitieren, signalisierten fast alle Mathematiker der zuständigen Göttinger Fakultät ihre Zustimmung – ein unerhörter Vorgang! Die Habilitation Noethers scheiterte nicht zuletzt an der kategorischen Weigerung der zur selben Fakultät gehörtenden Philosophie-Professoren. Das Fakultätsprotokoll aus dem Jahre 1915 zeigt, dass auch die Befürworter der Habilitation Emmy Noethers sich mit dem Vorhaben schwer taten, eine Frau zu habilitieren. So schrieb der bedeutende Mathematiker Edmund Landau in seinem Gutachten: „Wie einfach läge demnach für uns die Sache, wenn es sich um einen Mann mit genau den Arbeiten, der Vortragsgeschicklichkeit und dem ernsten Streben handeln würde. Es wäre mir viel lieber, wenn sich diese Erweiterung unseres
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Lehrprogramms ohne die damit verbundene Habilitation einer Dame ermöglichen ließe. (...) Ich habe bisher, was produktive Leistungen betrifft, die schlechtesten Erfahrungen in Bezug auf die studierenden Damen gemacht und halte das weibliche Gehirn für ungeeignet zur mathematischen Produktion; Frl. N halte ich aber für eine der seltenen Ausnahmen.“1.
Da Noethers erster Anlauf zur Habilitation scheiterte, musste sie vier Jahre lang ihre Mathematikvorlesungen unter Hilberts Namen halten. Erst 1919, nach verlorenem Weltkrieg und der darauf folgenden Aufwertung der Stellung von Frauen in der Gesellschaft, wurde sie habilitiert und konnte als Privatdozentin unter eigenem Namen Vorlesungen halten. Von Gleichstellung war aber immer noch keine Rede: Emmy Noether arbeitete weiter unentgeltlich. Zu diesem Zeitpunkt hatte sie ihren internationalen Ruf weiter ausgebaut. Zahlreiche Arbeiten in der für Mathematiker bedeutendstem Zeitschrift, den Mathematischen Annalen, hatten ihren Bekanntheitsgrad erhöht. Nahezu jedes Jahr veröffentlichte sie im Jahresbericht der DMV ihre Ergebnisse. Die „Tochter von Max Noether“ hatte den Schatten ihres berühmten Vaters verlassen. Als dieser im Dezember 1921 verstarb, wurde er als „Vater von Emmy Noether“ beschrieben. 1918, also noch vor ihrer Habilitation, publizierte Emmy Noether ihre für die theoretische Physik bedeutendste Arbeit. Anlass war das Problem, für dessen Lösung David Hilbert und Felix Klein sie nach Göttingen geholt hatten. Unter Mitarbeit sowie zuletzt auch in Konkurrenz zu den Göttinger Mathematikern hatte Einstein 1915 seine Allgemeine Relativitätstheorie (ART) im November 1915 veröffentlicht. Ein offener und von Hilbert und Klein heftig diskutierter Punkt darin war, dass das Prinzip der Energieerhaltung in den Gleichungen der ART verletzt zu sein schien. Es war, als würde man schreiben: „0 ist gleich 0“. Bedeutete diese redundante Aussage, dass der Energieerhaltungssatz in der ART keine Bedeutung hat oder sogar nicht gültig ist? Musste Einsteins Theorie deswegen verworfen werden? Oder gab es einen bestimmten Grund für dieses merkwürdige Verhalten von Einsteins Gleichungen? Emmy Noether zeigte in recht kurzer Zeit, dass die seltsame Art des Energieerhaltungssatzes einer Klasse von Theorien eigen ist, die von Mathematikern und Physikern als kovariant bezeichnet werden. Sie 1 Gutachten Landaus vom 1.8.1915 im Anschluss an das Rundschreiben Landaus vom 20.7.1915, Mathematisch-naturwissenschaftliches Prüfungsamt, Akte „Prof. Noether“; verfügbar unter https:// www.cordula-tollmien.de/noethertollmien1990Seite176.html
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erkannte, dass alle kovarianten Theorien, zu denen die ART gehört, diese besondere Struktur für Erhaltungssätze mit sich bringen, die Energie also auch in der ART erhalten bleibt. Diese Entdeckung ist heute als Noethers zweites Theorem bekannt. Auf dem Weg zum Beweis dieses Theorems bewies sie dann auch das heute viel bekanntere Theorem über einen allgemeinen Zusammenhang zwischen Invarianzen (Symmetrien) nach einer Variablentransformation in einer physikalischen Gleichung und Erhaltungsgrößen, d. h. physikalischen Variablen, die sich dabei nicht verändern. Dieses erste Noether-Theorem ist für die heutige Physik viel zentraler als das zweite über kovariante Systeme (oft wird alles zusammen auch als das Noether-Theorem bezeichnet). Betrachten wir es daher etwas genauer. • Symmetrie: Ein Objekt wird symmetrisch genannt, wenn eine Manipulation es unverändert zurücklässt. Legt man zum Beispiel einen Kubus auf einen Tisch und dreht ihn um 90 Grad oder ein Vielfaches davon, sieht er aus wie vorher. Eine Kugel lässt sich sogar beliebig um jede durch ihren Mittelpunkt gehende Achse drehen, und immer sieht sie so aus wie zuvor. Was für Objekte gilt, kann auch für Gleichungen gelten. Werden die Parameter in einer Gleichung verändert, und die Gleichung bleibt dabei unbeeinflusst, so sprechen Mathematiker und Physiker von Symmetrien oder auch Invarianzen. Die klassischen Newtonschen Gesetze zum Beispiel sind ortsinvariant und zeitinvariant. Denn wenn der Fall einer Kugel von einem Turm berechnet wird, wirken sich die Koordinaten für den Ort nicht auf Fallgeschwindigkeit, Energie beim Aufprall etc. aus. Die Kugel fällt in Berlin genauso wie in München. Auch eine Verschiebung auf der Zeitachse lässt die Naturgesetze unverändert. Es ist nicht von Bedeutung, an welchem Tag das Fall-Experiment durchgeführt wird. Invarianzen waren das Spezialgebiet Emmy Noethers. • Erhaltungsgrößen sind Parameter in der Physik, deren Werte bei allem physikalischen Geschehen immer konstant bleiben. Das Energieerhaltungsgesetz zum Beispiel bestätigt, dass in einem geschlossenen System die Energie in Summe gleich bleibt. Neben der Energie sind der Impuls, der Drehimpuls und die elektrische Ladung weitere wichtige Erhaltungsgrößen. Emmy Noether fand eine verblüffende Verbindung zwischen Symmetrien und Erhaltungsgrößen. Ihr erstes Noether-Theorem führte zu der Erkenntnis, dass die Tatsache, dass die Gleichungen der Physik …
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• … unabhängig von zeitlichen Verschiebungen gelten, direkt mit dem Energie-Erhaltungsgesetz in Verbindung steht. • … unabhängig von räumlichen Verschiebungen gelten, direkt mit dem Impuls-Erhaltungsgesetz in Verbindung steht. • … unabhängig von der Ausrichtung des Systems im Raum gelten – es also keinen Unterschied macht, in welche Richtung ein Pfeil geschossen wird – direkt mit dem Drehimpuls-Erhaltungsgesetz in Verbindung steht. • … unabhängig von der Phase eines elektrisch geladenen Teilchens gelten, direkt mit dem Ladungs-Erhaltungsgesetz in Verbindung steht. Dieses erstaunliche Ergebnis wurde von Felix Klein im Juli 1918 vor der Göttinger Mathematischen Gesellschaft präsentiert. Trotz ihrer offensichtlichen Kompetenz und ihrem Ansehen in der Fachwelt war sie für sie als Frau unmöglich, Mitglied dieser Gesellschaft zu sein oder auch nur einen Gastvortrag zu halten. Immerhin konnte sie die Veröffentlichung in den Göttinger mathematischen Nachrichten unter eigenem Namen einreichen.2 Heute erscheint es fast ein wenig magisch, wie schnell Noether die Lösung fand und so für den endgültigen Siegeszug der ART den Weg frei machte. Hilbert und Klein waren begeistert, und auch Albert Einstein aus Berlin drückte seine Bewunderung für Noethers Arbeit in einem Brief vom Mai 1918 an David Hilbert aus: „Gestern erhielt ich von Fr. Noether eine sehr interessante Arbeit über Invariantenbildung. Es imponiert mir, dass man die Dinge von so allgemeinem Standpunkt übersehen kann. Es hätte den Göttinger Feldgrauen nichts geschadet, wenn sie zu Frl. Noether in die Schule geschickt worden wären!“3 ***
Mit der Entdeckung des besonderen Verhaltens der kovarianten beziehungsweise symmetrischen Gleichungen in den bekannten grundlegenden physikalischen Theorien war Emmy Noethers Aufgabe eigentlich erledigt. Doch als sie an dem Beweis für den Zusammenhang von Symmetrie und dem merkwürdigem Verhalten der entsprechenden Gleichungen in bestimmten Fällen arbeitete, stieß sie auf eine noch viel allgemeinere 2 Emmy
Noether, Invariante Variationsprobleme, Nachrichten von der Gesellschaft der Wissenschaften zu Göttingen, Mathematisch-Physikalische Klasse (1918), S. 235–257. 3 Albert Einstein, Collected Papers, 9B, n. 548, Princeton Univ. Press (1987), S. 774–775.
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Korrelation. Sie entdeckte, dass es für jede Symmetrie, die sich in einem Naturgesetz findet, eine damit verbundene spezifische Erhaltungsgröße geben muss. Das Gleiche gilt auch umgekehrt: Jeder beliebigen physikalischen Erhaltungsgröße lässt sich eine dazu gehörende Symmetrie zuordnen. Diese allgemeine Analogie zwischen Symmetrien und Erhaltungsgrößen schien für die Physik und Mathematik zunächst keine weitere Bedeutung zu haben. Doch einige Jahrzehnte nach Emmy Noethers Tod zeigte sich, dass es sich bei ihrem Theorem um eines der wichtigsten Prinzipien in der gesamten Physik handelt. Mit ihm hatte Noether den Physikern ein mächtiges Werkzeug in die Hand gegeben, um sich in der sich als immer komplexer erweisenden Welt der Quanten zurechtzufinden. Wenn ihnen in einer ihrer Gleichungen eine Invarianz auffiel, konnten sie sich gezielt auf die Suche nach einer entsprechenden Erhaltungsgröße machen. Und umgekehrt konnten sie von neuen Erhaltungsgrößen auf Symmetrien schließen. Auf diesem Weg wurden in den 1960er- und 1970er-Jahren neue Naturgesetze und entscheidende Hinweise auf die fundamentalen Strukturen der Teilchenphysik gefunden. Ohne das Noether-Theorem hätte man kaum das heutige Standardmodell der Elementarteilchen entwickeln können. Hier einige Beispiele: • Dank des Noether-Theorems (angewandt auf den Drehimpuls in der Quantenmechanik) ließ sich die Existenz von zwei fundamental verschiedenen Sorten von Quantenteilchen erklären, die Bosonen und Fermionen genannt werden. • Dass es im Atomkern acht verschiedene Gluonen gibt, die die Starke Kernkraft hervorrufen, ist eine unmittelbare Konsequenz daraus, dass die zugrunde liegende mathematische Symmetriegruppe achtdimensional ist. • Die drei Austauschteilchen der schwachen Kernkraft, das W + , W − und Z-Teilchen, ergeben sich aus der dreidimensionalen Struktur der zugehörigen mathematischen Symmetriegruppe. • Das Noether-Theorem erklärte im Jahr 1964, warum es ein Higgs-Boson geben muss, das allen Teilchen eine Masse gibt. Dieses Teilchen wurde 2012 als letztes Teilchen der physikalischen Standardtheorie für den Mikrokosmos entdeckt. Auch bei der Erarbeitung neuer Theorien, die über das Standardmodell hinausgehen sollen, spielt das Noether-Theorem eine zentrale Rolle. Es ist zum Beispiel ein wichtiges Kriterium für die aktuelle Entwicklung der Theorie der Quantengravitation, die die beiden bisher unvereinbaren
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Theorien, die ART im Makrokosmos und die Quantentheorie im Mikrokosmos, zusammenführen soll. So wurde das Noether-Theorem ab der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu einer der wichtigsten Forschungsgrundlagen der Physik. Der theoretische Physiker und Nobelpreisträger 2004 Frank Wilczek vom MIT formulierte es so: Dieses Theorem war ein Leitstern für die Physik des 20. und 21. Jahrhunderts.“4.
Auch die heutige Alltagsphysik stützt sich zuweilen auf das Noether‘sche Theorem. Es hilft bei der Simulation von Wellen auf der Meeresoberfläche oder von Bewegungen der Luft, die über eine Flugzeugtragefläche strömt, sowie der Berechnung von Schwingungen von Brücken und Auswirkungen einer Atomexplosion. Darüber hinaus ist die von Emmy Noether gefundene Verbindung zwischen Symmetrien in den mathematischen Grundgleichungen der Physik und den Erhaltungsgrößen in der Natur das wohl schönste und erhabenste Prinzip der Physik, denn es vermittelt eine Ahnung davon, wie das Gesamtbild der Welt aussieht. ***
Die große Bedeutung ihres Theorems hätte Emmy Noether vielleicht gefreut, aber wohl nicht sehr interessiert. Denn für Anwendungen interessierte sie sich nicht. Am wohlsten fühlte sie sich in den tiefsten Abstraktionen der Mathematik. Ihre Arbeiten zwischen 1920 bis 1935 waren so weit von jeder Anschaulichkeit entfernt, dass außerhalb eines sehr kleinen Zirkels kaum jemand verstand, was sie tat. Und doch ist es ihrem Schaffen zu verdanken, dass die gesamte Mathematik in dieser Zeit auf ein neues, tragendes Fundament gestellt werden konnte. Als sich die Mathematiker Ende des 19. Jahrhunderts näher mit den Unendlichkeiten beschäftigten, hatten sie mit großem Schrecken feststellen müssen, dass die Grundlagen, auf denen die Mathematik aufgebaut war und auf denen sie über Jahrtausende funktioniert hatte, eigentlich gar nicht gelten. Das gesamte Gebäude der Mathematik musste von Grund
4 Emily Conover: In her short life, mathematician Emmy Noether changed the face of physics, auf www. sciencenews.org am 12. Juni 2018 veröffentlicht
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auf neu gedacht werden. Eine Basis der Mathematik ist die algebraische Geometrie. Und genau auf diesem Feld reduzierte Noether die Anzahl willkürlich getroffener Begründungen und Ableitungen durch fortgesetzte Abstraktion so weit, bis sie am Ursprung der Mathematik angekommen war. Vergleichen lässt sich diese Arbeit mit einem fortgesetzten Fragen: „Warum ist das so?“ Erst wenn man lange genug gefragt hat, ist man an der Quelle angekommen. Emmy Noethers unvergleichliche Abstraktionsfähigkeit hat wesentlich dazu beigetragen, dass die Mathematik heute unter gewissen Annahmen in sich konsistent ist. In den ersten Jahren hatte Noether eher Kopfschütteln als Zustimmung geerntet, aber nach und nach erkannte man die Bedeutung ihrer Abstraktionen. 1932, wenige Jahre vor ihrem Tod, erhielt sie die damals höchste Auszeichnung für Mathematiker: den AckermannTeubner-Gedächtnispreis (die Fields-Medaille gibt es erst seit 1936). Verdientermaßen wird Emmy Noether auch als „Mutter der modernen Algebra“ bezeichnet – auch der Titel „Mutter der modernen Mathematik“ wäre gerechtfertigt. Emmy Noethers Ideen und Beiträge zur Mathematik waren so bedeutend, dass ihr Name für mathematische Elemente wie die „Noetherschen Ringe“, „Noethersche Gruppen“ und „Noethersche Module“ zum Adjektiv wurde – diesen Ritterschlag haben zum Beispiel auch Newton mit seiner Newtonschen Physik und Einstein mit seiner Einsteinschen Realtivitätstheorie erhalten. Während Einsteins Relativitätstheorie in einfachen Grundzügen ihren Weg in die öffentliche Wahrnehmung fand, lag Noethers Fachgebiet so fernab jeder Anschaulichkeit, dass die Öffentlichkeit ihren Beitrag kaum wahrnimmt – weder heute noch zu ihren Lebzeiten. Nur innerhalb des kleinen Zirkels von Mathematikern, die sich mit dem theorielastigen und abstrakten Bereich der Algebra befassen, wird sie bis heute hoch verehrt. Ähnlich verhält es sich mit den Erkenntnissen, die Emmy Noether der Physik schenkte. Zeit ihres Lebens erhielt sie für die Abrundung der Allgemeinen Relativitätstheorie nur sehr eingeschränkt Anerkennung. • In seiner Arbeit über die besonderen Eigenschaften der ART bezüglich der Erhaltungsgrößen bedankte sich Felix Klein zwar in einer Fußnote bei Emmy Noether, hätte sie aber nach heutigem Verständnis als Koautorin erwähnen müssen. • Der bedeutende Mathematiker Hermann Weyl, Nachfolger Hilberts an der Universität Göttingen, sah in seinem 1918 veröffentlichten Buch „Raum, Zeit, Materie – Vorlesungen zur allgemeinen Relativitätstheorie“
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sowie in späteren überarbeiteten Auflagen keine Notwendigkeit, explizit auf Noethers Beitrag einzugehen. • In Wolfgang Paulis einflussreichem Artikel über die Relativitätstheorie, der in der „Encyklopädie der Mathematischen Wissenschaften“ von 1921 erschien, findet sich ebenfalls kein Hinweis auf Noethers Arbeit. • Auch Albert Einstein, der sie 1918 so hoch gelobt hatte, hat Noether nie zitiert. Acht Jahre lang arbeitete Emmy Noether unentgeltlich in Göttingen – so wie sie es schon in Erlangen getan hatte. 1921, Emmy Noether war 39 Jahre alt, starb ihr Vater, der sie finanziell unterstützt hatte. Das Gehalt, das ihr ab 1923 endlich zugesprochen wurde, war so gering, dass sie weiterhin in prekären Verhältnissen lebte. Obwohl mehrmals passende Lehrstühle zu besetzen waren, wurde ihr weiterhin eine ordentliche Professur an einer deutschen Universität verwehrt. Noch nicht einmal ihre schlecht dotierte Stellung in Göttingen durfte sie behalten. Denn als die Nationalsozialisten 1933 an die Macht kamen, wurden jüdisch-stämmige Menschen nicht mehr im öffentlichen Dienst geduldet. Dem in Windeseile herausgebrachten „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ fielen einige der weltberühmten Göttinger Mathematikprofessoren zum Opfer. Obwohl Emmy Noether nicht zu dem Kreis der etablierten Beschäftigten gehörte und dieses Gesetz nicht auf sie angewendet werden durfte, wurde auch sie aus ihrer Stellung gedrängt. Ein Aufenthalt in der UdSSR, wo sie 1928/29 als Gastprofessorin Vorlesungen gehalten und den später weltberühmten Mathematiker Andrey Kolmogorov stark beeinflusst hatte, machte sie in den Augen der Nationalsozialisten verdächtig, eine Kommunistin zu sein. Emmy Noether war zwar bis 1924 Mitglied der SPD gewesen und überzeugte Pazifistin, doch es gab nur einen überzeugten Kommunisten in ihrer Familie: ihr Bruder Fritz. Er emigrierte 1934 ins russische Tomsk, wo er eine Professur in Mathematik erhielt. Während einer der Säuberungsaktionen Stalins wurde er 1937 verhaftet und 1941 exekutiert. Emmy Noether verließ Deutschland in Richtung Amerika, wo sie am Bryn Mawr Frauen-College in Pennsylvania lehrte und auch im nahe gelegenen Princeton verkehrte, wo sie einige der besten Wissenschaftler des deutschsprachigen Raums wiedertraf, darunter Albert Einstein und Hermann Weyl. Weniger als zwei Jahre später starb sie überraschend nach einer Krebsoperation. Sie wurde 53 Jahre alt. Kurz nach ihrem Tod schrieb Albert Einstein in der New York Times:
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„Noether war das bedeutendste schöpferische mathematische Genie, das seit Beginn der höheren Bildung von Frauen hervorgebracht wurde5
Dies ist ein herzliches und wohlmeinendes Kompliment Einsteins, aber es bezieht sich stark auf Noethers Geschlecht, anstatt anzuerkennen, dass sie unter allen Mathematikern, nicht nur den weiblichen, deutlich hervorstach. Auch andere Kollegen äußerten sich lobend, konnten es sich aber nicht verkneifen, gleichzeitig Bemerkungen über ihre rundliche Figur und ihre fehlenden Beziehungen zu Männern zu machen. Einzig von Hermann Weyl, seinerseits einer der größten Mathematiker seiner Zeit, ist ein einsichtiger und würdevoller Nachruf bekannt. Er war persönlich während der kleinen Beerdigungsfeier in Bryn Mawr anwesend und sprach dort: „Ich schämte mich, eine so bevorzugte Stellung neben ihr einzunehmen, von der ich wusste, dass sie mir in vielerlei Hinsicht als Mathematikerin überlegen war. (...) Du warst eine große Mathematikerin, ich trage keine Bedenken zu sagen: die größte, von der die Geschichte zu berichten weiß. Die Algebra hat ein anderes Gesicht bekommen durch dein Werk.“6
5 Aus
Einsteins Nachruf auf Emmy Noether, der am 4. Mai 1935 in der New York Times erschien und ursprünglich in deutscher Sprache verfasst war. 6 Memorial Address Weyls, die er am 26. April 1935 in Goodhart Hall in Bryn Mawr für Emmy Noether gehalten hat.
12 Grete Hermann (1901–1984) Die Philosophin der Quantenphysik
Nur auf den ersten Blick handelt es sich bei den Pionieren von Quantenphysik und Relativitätstheorie um einen reinen Männerclub: Max Planck, Albert Einstein, Niels Bohr, Erwin Schrödinger, Werner Heisenberg, Wolfgang Pauli, Max Born, Paul Dirac, Enrico Fermi, später Richard Feynman und Murray Gell-Mann sind die bekanntesten Namen. Dafür, dass auch Frauen bedeutende Beiträge zu diesen neuen Wissensgebieten leisteten, stehen die Namen Emmy Noether, Marie Curie und Lise Meitner. Neben diesen drei herausragenden Wissenschaftlerinnen ist noch eine vierte Frau zu nennen, deren Leistung jedoch erst in jüngster Zeit wiederentdeckt wurde: Grete Hermann. Hermann hatte mathematisches Denken in höchster Abstraktion und Präzision bei Emmy Noether gelernt; bei ihr promovierte sie auch. Aufgrund des außerordentlich guten Rufs ihrer Doktormutter hätte Grete Hermann eine wissenschaftliche Karriere wagen können, doch sie zeigte nicht nur in der Mathematik hervorragende Leistungen. Ihr Herz gehörte der Philosophie. Nach ihrer Promotion in Mathematik beschäftigte sie sich zunächst mit Quantenphysik, denn hier gab es aufgrund der vielen unlösbar scheinenden Widersprüche bedeutende Überschneidungen mit ihrem Lieblingsfach. Für Hermann lagen die Antworten auf die komplexen Fragen, die seit der Entdeckung der Quantenphysik die bekannte Welt auf den Kopf stellten, nicht in der Mathematik und Physik, sondern allein in der Philosophie. Ihre Einstellung war nicht so abwegig, wie sie heute scheinen mag. Bis in die 1930er-Jahre hinein war die Quantenphysik von deutschen Wissen© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 L. Jaeger, Geniale Frauen in der Wissenschaft, https://doi.org/10.1007/978-3-662-66528-2_12
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schaftlern dominiert und die historische Verbindung von Physik und Philosophie stark ausgeprägt. Große Physiker wie Einstein, Heisenberg und von Weizsäcker waren ganz selbstverständlich philosophisch interessiert und bewandert. Trotzdem war Grete Hermann die erste Person, die die für die Quantenphysik charakteristischen, aber für unsere Alltagsvorstellungen widersprüchlich erscheinenden Fakten geisteswissenschaftlich zu erfassen vermochte. Leider blieben ihre weitreichenden Überlegungen nahezu unbeachtet. Heute vermuten viele Physiker, dass die historische Entwicklung der Quantenmechanik ganz anders verlaufen wäre, wenn ihre Erkenntnisse schon zu ihren Lebzeiten berücksichtigt worden wären. ***
Grete Hermann erblickte im selben Jahr das Licht der Welt wie das Physikgenie Werner Heisenberg: Am 2. März 1901 wurde sie als drittes von sieben Kindern in eine streng religiöse Bremer Kaufmannsfamilie hineingeboren. So wie ihre Zeitgenossinnen Emmy Noether und Lise Meitner wählte sie nach ihrem Abitur, das Frauen immer noch nur in Ausnahmefällen ablegen durften, mangels Alternativen eine Ausbildung zur Lehrerin. Mit 20 Jahren, also innerhalb kürzester Zeit, erwarb sie die Lehrfähigkeit für Volks- und Mittelschulen, übte aber nie den erlernten Beruf aus. Stattdessen studierte sie Mathematik, Physik und Philosophie in Göttingen und Freiburg. Nur vier Jahre später promovierte Grete Hermann bei ihrer Doktormutter Emmy Noether in Mathematik.1 Sie war sich aber wohl nicht sicher, ob sie ihr Leben im frauenfeindlichen akademischen Umfeld verbringen könne, denn im selben Jahr legte sie auch die Prüfung für das Lehramt an höheren Schulen ab. Schließlich entschied sie sich für einen dritten Weg: Sie wurde 1926 Assistentin des Göttinger Philosophen Leonard Nelson, dessen Forschungsgebiet die Philosophie Kants war. In den folgenden Jahren entdeckte Hermann die faszinierende Welt der Quantenphysik. Auch hier bewies sie ihr großes Talent. Schon bald korrespondierte sie mit großen Physikern wie Carl Friedrich von Weizsäcker, Werner Heisenberg und Niels Bohr über die völlig neuartigen Zusammenhänge, die in der Welt der kleinsten Teilchen offenbar wurden. In der Quantenwelt
1 Grete Hermann, Die Frage der endlich vielen Schritte in der Theorie der Polynomideale, Mathematische Annalen, 95 (1926) S. 736–788.
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• besitzen Objekte oft keine eindeutigen Größen. Heisenberg hatte 1925 mit seiner Unschärferelation gezeigt, dass es zum Beispiel unmöglich ist, gleichzeitig den Ort und den Impuls eines Elementarteilchens genau zu bestimmen. • werden Vorgänge nicht mit Kategorien wie Ort, Richtung und Zeitdauer, sondern mit statistischen Wahrscheinlichkeiten beschrieben. Damit entfallen auch die aus der Newton’schen Physik bekannten direkten kausalen Zusammenhänge. • existiert keine objektive Realität. Dinge und Vorgänge werden erst dann real, wenn sie gemessen werden. • haben Objekte auch dann einen Einfluss aufeinander, wenn sie weder durch Materie (ein Hammer trifft auf einen Nagel) noch über Kräfte (Eisenspäne bewegen sich in einem Magnetfeld) verbunden sind. In der sogenannten Kopenhagener Deutung erklärten der dänische Physiker Niels Bohr und seine Mitstreiter, dass es zwei Welten mit völlig unterschiedlichen Gesetzen gibt: zum einen die Welt, in der wir Menschen uns mithilfe der Newton’schen Physik zurechtfinden und die sich nach dessen Formeln berechnen lässt, und zum anderen die Quantenwelt, in der es weder kausale Zusammenhänge noch objektive Realität gibt. Albert Einstein und Erwin Schrödinger gehörten zu den erbitterten Gegnern dieser Deutung, denn sie waren überzeugt, dass es nicht zwei Welten geben könne, sondern nur eine. Einstein ging davon aus, dass es bestimmte Faktoren geben müsse, die in den neu gefundenen Gesetzen der Quantenwelt noch nicht berücksichtigt waren. Würde man sie finden und die Quantengesetze mit ihnen ergänzen, würde man sehen, dass es auch für Elementarteilchen und Atome Kausalität, Objektivität und Realität gibt. Er nannte diese Faktoren „verborgene Variablen“ und war bis zu seinem Tod auf der Suche nach ihnen. ***
Die Frage, ob es verborgene Variablen gibt und – wenn es sie gibt – ob sie überhaupt auffindbar sind oder nicht, spaltete die Physiker in zwei Lager. Die Diskussion Einsteins mit seinem Kopenhagener Kollegen Niels Bohr gehört zu den bedeutendsten philosophischen Auseinandersetzungen des 20. Jahrhunderts. Jahrelang versuchten sie, einander mit immer neuen Argumenten zu überzeugen. 1932 schien der Kampf plötzlich entschieden zu sein: John von Neumann, der gerade einmal 28 Jahre alt war und doch schon als einer der größten Mathematiker der damaligen Zeit galt, veröffent-
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lichte sein epochales Buch Mathematische Grundlagen der Quantenmechanik, in dem er den Beweis führte, dass die mathematische Struktur der Quantentheorie verborgene Variablen definitiv ausschließt. Auch wenn Einstein die Konsequenz dieses Beweises nie akzeptierte, setzte sich nun die Kopenhagener Deutung als gängige Erklärung der Quantentheorie durch. Für viele Physiker ist sie auch heute noch gültig. Doch der Beweis des großen John von Neumann barg ein großes Problem: Er war falsch. In den 1930er-Jahren kam es allerdings niemandem in den Sinn, die Herleitung des Großmeisters genau zu überprüfen oder ihm gar zu widersprechen. Nur ein einziger Mensch erkannte schon früh den Fehler in von Neumanns mathematischer Herleitung: Grete Hermann. Hermann interessierte sich sehr für die philosophische Frage, ob das Kausalitätsprinzip auch für atomare Prozesse aufrechterhalten werden kann oder ob an diesem Ende der Größenskala tatsächlich nur noch statistische Wahrscheinlichkeiten die Vorgänge beschreiben können. In ihrer Arbeit „Die naturphilosophischen Grundlagen der Quantenmechanik“, die 1935 veröffentlicht wurde2 und zuvor zumindest schon unter den Physikern in Leipzig, wo sie zusammen mit Heisenberg arbeitete, zur Verfügung kursierte, folgte Grete Hermann der Philosophie von Immanuel Kant und kam zu einem ähnlichen Schluss wie Einstein: Die Quantentheorie könne nicht ausschließen, dass es bisher noch unbekannte Variablen gibt. Dieses Ergebnis stand im krassen Widerspruch zu von Neumanns Beweis. Hatte Grete Hermann nicht mitbekommen, dass die Sache in den Augen des Großteils der wissenschaftlichen Gemeinschaft bereits seit zwei, drei Jahren entschieden war? Wagte sie etwa den offenen Widerstand gegen den größten Mathematiker? Die Sache verhielt sich noch viel demütigender für John von Neumann. Grete Hermann befasste sich mit dem grundlegenden Fehler in der Annahme der mathematischen Koryphäe nur in einem kurzen Absatz ihrer Arbeit. In wenigen Sätzen wischte sie den Beweis beiseite: „Für die so mit einer Schar physikalischer Systeme definierten Erwartungswertfunktion E(R), die jede physikalischen Größe eine Zahl ergibt, setzt von Neu-
2 Grete
Hermann, Die naturphilosophischen Grundlagen der Quantenmechanik, § 7, Abhandlungen der Fries’schen Schule (ASFNF), Bd. 6, Heft 2 (1935), S. 76.
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mann voraus, dass E(R + S) = E(R) + E(S) ist3. In Worten: Der Erwartungswert einer Summe von physikalischen Größen ist gleich der Summe der Erwartungswerte beider Größen. Mit dieser Voraussetzung steht und fällt der Neumannsche Beweis.“4
Physikalische Erwartungswertfunktionen sind die Mittelwerte physikalischer Größen, in diesem Fall der Größen R und S (zum Beispiel Ort und Impuls). Sie werden gebraucht, wenn konkrete Werte nicht bekannt sind und mit Wahrscheinlichkeitsverteilungen der Werte gerechnet werden muss. Die Gleichung E(R + S ) = E(R ) + E(S ) ist zwar universell in der klassischen Physik gültig, aber dass sie auch in der Quantenphysik gilt, war nur eine Annahme. Grete Hermann hatte diesen grundlegenden Lapsus mit unbestechlichem Blick sofort erkannt und auch gewusst, dass damit von Neumanns Beweis automatisch seine Gültigkeit verliert. Tatsächlich weiß man heute, dass die Annahme falsch ist: In der Quantentheorie ist diese Gleichung in zahlreichen Fällen nicht gültig. Als geschulte Philosophin war Grete Hermann natürlich klar, dass aus ihrem Schluss, dass verborgene Variablen möglich sind, nicht gefolgert werden kann, dass sie auch tatsächlich existieren. Dass von Neumanns Formeln nicht auf die Quantenwelt angewendet werden können, war für sie vielmehr ein Beleg dafür, dass die Frage, ob verborgene Variablen existieren oder nicht, keinesfalls mathematisch hergeleitet und bewiesen werden kann. Wie sich 30 Jahre später herausstellte, hatte sie mit dieser Auffassung recht. ***
Was machte die Kopenhagener Deutung so interessant für die philosophische Mathematikerin und mathematische Philosophin Grete Hermann? Dieser Erklärungsversuch der Quantenwelt wies gleich mehrere grundsätzliche Probleme auf: • Die zwei Welten der Kopenhagener Deutung müssen sich irgendwo auf der Größenskala berühren. Aber wo genau gehen die Gesetze der klassischen Physik in die völlig anderen Gesetze der Quantenphysik über?
3 Der
Autor hat in dem Zitat für eine der besseren Lesbarkeit eine Veränderung vorgenommen: Im Original wir die Erwartungsfunktion E(R) als (Rϕ, ϕ) formuliert. 4 Grete Hermann, Die naturphilosophischen Grundlagen der Quantenmechanik, § 7: „Der Zirkel in Neumanns Beweis“, Abhandlungen der Fries’schen Schule (ASFNF) 6, Heft 2 (1935), S. 99.
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Wechseln sie schlagartig ab einer bestimmten Größe der beobachteten Systeme? Kann es Bereiche geben, in denen sie sich überschneiden? • Die Gegenstände, die wir aus unserer Alltagserfahrung kennen, lassen sich mit der Newton’schen Physik erfassen. Doch sie sind immer auch aus kleinsten Komponenten zusammengesetzt, die den Quantengesetzen gehorchen. Wie passt das zusammen? • In der Welt der Newton’schen Physik beeinflussen Messungen die Beobachtungen; wird zum Beispiel mit einem Thermometer die Wassertemperatur bestimmt, verändert die Temperatur des Messgeräts die Temperatur des zu messenden Objekts um einen geringen Wert. In der Quantenwelt beeinflusst die Messung nicht nur das Gemessene, sie lässt sie sogar erst real werden. Erst im Zuge der Messung lassen sich Quantenobjekten bestimmte Eigenschaften zuordnen. • Wenn das Messgerät mit dem zu messenden Objekt interagiert, ist die Trennung zwischen beobachtendem Subjekt und beobachtetem Objekt aufgehoben. Zugleich besitzt aber das Messgerät, das der Newton’schen Welt angehört, objektive, also vom gemessenen Gegenstand unabhängige Eigenschaften. Während zum Beispiel Werner Heisenberg diesen argumentativen Widerspruch nicht anerkennen wollte, war Grete Hermann auch in diesem Punkt stringenter im Denken. Vor allem der erste Punkt sorgte in der Quantenphysik für Diskussionen. Die Anhänger der Kopenhagener Deutung gingen von einer scharfen Trennung namens Heisenberg’scher Schnitt aus, die beide Welten voneinander trennt. Doch auch Bohr konnte auf die Frage, wie genau der Wechsel zwischen den zwei Welten aussieht, nur eine unzufriedenstellende Antwort geben: Ab einer bestimmten Größenordnung gehen die Gesetze der Quantenwelt „irgendwie“ in die Gesetze der klassischen Physik über und umgekehrt. Wo sich der Heisenberg’sche Schnitt auf der Größenskala befinden sollte, war völlig offen: • Max Born und Wolfgang Pauli vermuteten ihn auf der Größenskala direkt oberhalb von Quantenobjekten wie Protonen und Elektronen. Nach dieser Auffassung würden schon Makromoleküle den Newton’schen Gesetzen gehorchen. • Niels Bohr ging davon aus, dass alles unterhalb des Messapparates den Quantengesetzen gehorcht. • John von Neumann meinte, der Schnitt befände sich irgendwo zwischen der Messapparatur und dem Beobachter.
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• Werner Heisenberg mutmaßte, dass die Trennlinie willkürlich gewählt werden kann, je nach Kontext des Experimentes. Er schrieb: „Die Trennlinie zwischen dem zu beobachtenden System und dem Messgerät ist unmittelbar durch die Art des Problems definiert, kann aber aus offensichtlichen Gründen keine Diskontinuität des physikalischen Prozesses mit sich bringen. Aus diesem Grund muss innerhalb der Grenzen völlige Freiheit bei der Wahl der Position der Trennlinie bestehen.“5
Grundlage dieser Einschätzungen war „Schrödingers Katze“, das berühmte Gedankenexperiment Erwin Schrödingers von 1935: „Eine Katze wird in eine Stahlkammer gesperrt, zusammen mit folgender Höllenmaschine (die man gegen den direkten Zugriff der Katze sichern muss): in einem Geigerschen Zählrohr befindet sich eine winzige Menge radioaktiver Substanz, so wenig, dass im Laufe einer Stunde vielleicht eines von den Atomen zerfällt, ebenso wahrscheinlich aber auch keines; geschieht es, so spricht das Zählrohr an und betätigt über ein Relais ein Hämmerchen, das ein Kölbchen mit Blausäure zertrümmert. Hat man dieses ganze System eine Stunde lang sich selbst überlassen, so wird man sich sagen, dass die Katze noch lebt, wenn inzwischen kein Atom zerfallen ist. Der erste Atomzerfall würde sie vergiftet haben. Die Psi-Funktion des ganzen Systems würde das so zum Ausdruck bringen, dass in ihr die lebende und die tote Katze zu gleichen Teilen gemischt oder verschmiert sind. Das Typische an solchen Fällen ist, dass eine ursprünglich auf den Atombereich beschränkte Unbestimmtheit sich in grobsinnliche Unbestimmtheit umsetzt, die sich dann durch direkte Beobachtung entscheiden lässt. Das hindert uns, in so naiver Weise ein ‚verwaschenes Modell‘ als Abbild der Wirklichkeit gelten zu lassen.“6
Mit diesem Gedankenexperiment hatte Schrödinger gezeigt, dass sich die Gesetze der Quantenphysik auch in die Größenskalenbereiche des Menschen und damit in unsere Alltagserfahrungen hineinschleichen können, denn in dem Katzenexperiment lassen sich Quantenwelt, in der die Entscheidung, ob ein Atom zerfällt oder nicht, nicht „Ja“ oder „Nein“ heißt, sondern einen statistischen Wert annimmt, und unsere Erfahrungs-
5 Werner
Heisenberg, Wandlungen der Grundlagen der exakten Naturwissenschaft in jüngster Zeit, Vortrag vor der Gesellschaft Deutscher Naturforscher und Ärzte, Hannover, 17. September 1934, Angewandte Chemie 47 (1934). 6 Erwin Schrödinger, Die gegenwärtige Situation in der Quantenmechanik, Naturwissenschaften 23 (1935).
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welt, in der eine Katze definitiv entweder lebt oder tot ist, nicht voneinander trennen: • Wenn wir das System „Atomzerfall – Katze“ nach den Regeln der Quantenwelt betrachten, entscheidet sich erst, wenn wir „messen“, also die Kiste öffnen und nachschauen, ob die Katze gestorben ist oder lebt. Zuvor befindet sie sich in einem Zwischenzustand zwischen „lebendig“ und „tot“. • Wenn wir das System „Atomzerfall – Katze“ nach den Regeln Newtons betrachten, müsste sich eindeutig berechnen lassen, ob das Glaskölbchen zerschlagen wird oder nicht. Beide Varianten machen keinen Sinn. Damit war offensichtlich, dass eine willkürliche Trennung zwischen den beiden Welten, wie Bohr sie vorgeschlagen hatte, keine Lösung sein kann. Sie war einfach nicht in sich konsistent. ***
Grete Hermanns Widerlegung des von Neumann’schen Beweises hatte überraschenderweise keine Konsequenzen. Ihre Erkenntnis, dass die verborgenen Variablen aufgrund dessen Fehlerhaftigkeit doch noch nicht vom Tisch waren, hätte der Diskussion um die Grundlagen der Quantenphysik neue Nahrung geben können. Doch vielleicht waren die Physiker ganz froh, die Auseinandersetzung nicht weiterführen zu müssen. Sie verlor an Kraft und verebbte schließlich ganz. Auch aus einem weiteren Grund endete nach 1935 die Diskussion um die Grundprinzipien der Quantenphysik. In Deutschland wurde die „arische Physik“ eingeführt; Grundlagenforschung und erst recht philosophische Betrachtungen waren nicht mehr erwünscht. Der Fokus lag nun auf der – möglichst militärischen – Anwendung der Erkenntnisse aus der Physik. Dazu kam, dass der zuvor uneingeschränkte Austausch zwischen Wissenschaftlern unterschiedlicher Nationalitäten versiegte und ab 1939 mit dem beginnenden Zweiten Weltkrieg sogar nahezu unmöglich wurde. In den folgenden 30 Jahren stellten weder die Mathematiker noch die theoretischen Physiker von Neumanns Beweis infrage. Erst in den 1960erJahren erkannte der nordirische Physiker John Bell, dass die Möglichkeit der Existenz verborgener physikalischer Variablen für die Quantenwelt nicht
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ausgeschlossen ist. Die entsprechende Arbeit wurde 1966 veröffentlicht.7 Seine mathematischen Aussagen waren nahezu identisch mit denen von Grete Hermann, vermutlich war er bei seinen Recherchen auf ihre Arbeit gestoßen. Doch während Hermann noch sicher gewesen war, dass sich die Frage nur auf dem Feld der Philosophie lösen ließe, stellte Bell in seinem Aufsatz seine berühmte Bell’sche Ungleichung vor. Sie ist ein klar definiertes, messbares Kriterium, das die Frage der verborgenen Variablen entscheiden würde: • Erweist sich die Bell’sche Ungleichung als wahr, können verborgene Variablen in einer Quantentheorie auftreten. • Bei Nachweis einer Verletzung der Bell’schen Ungleichung wäre bewiesen, dass es keine unsichtbaren Variablen geben kann. Das Besondere an dieser Ungleichung: Sie kann nur experimentell überprüft werden. Grete Hermann hatte also recht gehabt, was die Unzulänglichkeit des von Neumann’schen Beweises angeht, und auch mit ihrer Behauptung, dass die Frage der versteckten Variablen sich nicht aus der theoretischen Physik herauslösen ließe. Doch mit ihrer Annahme, dass allein die Philosophie die Antwort finden könnte, hatte sie falsch gelegen. Es war am Ende ein Experiment und weder theoretische Logik noch Philosophie, das den Kampf um die Deutung der Quantentheorie endgültig entschied. Dem Franzosen Alain Aspect gelang es 1982, die Bell’sche Ungleichung zu überprüfen. Das Ergebnis: Sie wird im Experiment verletzt. Damit war zweifelsfrei bewiesen, dass es keine verborgenen Variablen in der Quantenwelt gibt. Und damit war auch klar, dass es in ihr tatsächlich keine von Messungen unabhängige Realität, keine voneinander unabhängigen Objekte und auch keine Kausalität gibt. Diese Welt unterscheidet sich also grundlegend von der Welt, in der wir Menschen uns bewegen und zurechtfinden. Für das Experiment, das diese Eigenschaft der Quantenmaterie bewies, erhielt Alain Aspect 2022 den Physik-Nobelpreis. Wäre Grete Hermann heute noch am Leben, hätte sie diesen zusammen mit ihm erhalten? Verdient hätte sie dies auf jeden Fall. ***
7 John
Bell, On the Problem of Hidden Variables in Quantum Mechanics, Stanford Linear Accelerator Center (1964); publiziert in: Review of Modern Physics, Vol. 38, No. 3 (July 1966), S. 447–452; www. psiquadrat.de/downloads/bell66.pdf.
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Über 30 Jahre lang wurde das Grundlagenwissen zur Quantenphysik nicht wesentlich weiterentwickelt – auf technologischer Seite ließen sich dagegen enorme Erfolge verzeichnen. Ohne das bereits bestehende Wissen wären zum Beispiel Kernspaltung, Erzeugung von Laserstrahlung und Miniaturisierung von Computerchips nicht möglich gewesen. Durch Bells Arbeit geriet die Grundlagenforschung jedoch wieder in den Fokus, und man begann, die fundamentalen Eigenschaften der Quantensysteme erneut zu ergründen. Dieser Rückgriff auf die wissenschaftliche Basis ermöglichte die Entdeckung vieler weiterer Eigenschaften von Quantenteilchen – und damit wiederum eine Reihe ganz neuer möglicher Anwendungen. Insbesondere wurde erst jetzt die Existenz verschränkter Teilchen, die schon in den Anfangsjahren der Quantenphysik bekannt war, unter die Lupe genommen. Verschränkung bedeutet, dass sich Systeme aus zwei oder mehr Teilchen nicht mehr als Kombination unabhängiger Einteilchenzustände beschreiben lassen. Sie lassen sich nur noch durch einen gemeinsamen Zustand definieren. Für Physiker bedeutet das, dass sie die einzelnen Teilchen eines Systems nicht mit getrennten Gleichungen, sogenannten Wellenfunktionen, beschreiben können, sondern eine einzige Wellenfunktion für alle beteiligten Teilchen bilden müssen. Im Prinzip müssten sogar alle Elementarteilchen des gesamten Universums in dieser Wellenfunktion berücksichtigt werden. Schrödinger hatte 1935, kurz bevor die Diskussion über die Grundlagen der Quantenphysik abbrach, geschrieben: „Diese Eigenschaft [Verschränkung] ist nicht eine, sondern die Eigenschaft der Quantenmechanik, die eine, in der sich die gesamte Abweichung von der klassischen Denkweise manifestiert, die heute zu sehr aufregenden Möglichkeiten ganz neuer Quantentechnologien führt!“8
Mit 30-jähriger Verspätung öffnete ab den 1960er-Jahren die experimentelle und theoretische Beschäftigung mit verschränkten Teilchen den von Schrödinger angesprochenen Technologien die Tür. Unter anderem sagte Richard Feynman auf der ersten Physics and Computation Conference, die 1981 am MIT stattfand, die Möglichkeit von Computern voraus, deren
8 Erwin Schrödinger, Discussion of Probability Relations between separate systems. Proceedings of the Cambridge Physical Society, 31, 55 (1935).
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Funktionsweise auf verschränkten Teilchen beruht.9 Heute stehen Quantencomputer vor dem Sprung in die konkrete Anwendung. Es ist bedauerlich, dass Grete Hermanns Überlegungen so lange nicht zur Kenntnis genommen wurden. Hätte man weiter Grundlagenforschung betrieben, wären die Erfolge wohl deutlich früher eingetreten, und vielleicht würden wir zum Beispiel schon längst mit privaten Quantencomputern arbeiten. Die Frage lautet: Warum ist Grete Hermanns Arbeit ignoriert worden, während John Bells Forschung über 30 Jahre später unmittelbar einen neuen Aufschwung der Grundlagenforschung in der Quantenphysik einleitete? Hierfür gibt es einige Erklärungsansätze: • Grete Hermann erwähnte ihre Kritik an der Allgemeingültigkeit des Beweises von Neumanns nur sehr knapp. Es ging ihr ja weniger um die Mathematik, sondern hauptsächlich um die philosophischen Implikationen der Quantenphysik. In späteren Veröffentlichungen erwähnte sie ihren Widerspruch nicht mehr. • Sie veröffentlichte ihre Arbeit in einem eher unbedeutenden Verlag. Zwar erschien der Artikel kurze Zeit später auch in einem deutlich renommierteren wissenschaftlichen Journal, doch es handelte sich um eine stark verkürzte Version, in der die Widerlegung des Beweises nicht enthalten war10. • Nach dem Zweiten Weltkrieg war die Weltsprache der Physik nicht mehr Deutsch, sondern Englisch. Die neuen Physikergenerationen hatten keinen Zugriff auf Hermanns Arbeit, die nie ins Englische übersetzt wurde. Diese Punkte geben eine Erklärung dafür, warum Hermanns Artikel nach dem Krieg in Vergessenheit blieb. Doch zur Zeit der Veröffentlichung hätten sich die Pioniere der Quantentheorie, die nahezu allesamt deutschsprachig waren, durchaus mit Grete Hermanns Kritik an der Beweisführung des John von Neumann auseinandersetzen können. Die meisten standen zu dieser Zeit in engem Kontakt mit ihr. Es bleibt daher offen: Warum haben Bohr, Heisenberg, von Weizsäcker, aber auch Schrödinger und Einstein Grete Hermanns Ausführungen zur klaren Widerlegung des von Neumann’schen Beweises nicht zur Kenntnis genommen? Dass sie eine Frau war, scheint 9 Richard
Feynman, Simulating physics with computers, International Journal of Theoretical Physics 21(1982), S. 467–488. 10 Grete Hermann, Die naturphilosophischen Grundlagen der Quantenmechanik, Die Naturwissenschaften, 23, 42 (1935) S. 718–721.
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keinen Einfluss gehabt zu haben, denn Grete Hermann wurde von ihren männlichen Kollegen durchaus ernst genommen und geschätzt: • Werner Heisenberg widmete ein ganzes Kapitel seiner berühmten Autobiografie Der Teil und das Ganze der philosophischen Diskussion, die er und weitere bekannte Wissenschaftler wie Carl Friedrich von Weizsäcker mit Grete Hermann führten.11 Er schrieb unter anderem, dass die „junge Philosophin“ ihm und seinem Kollegen Friedrich von Weizsäcker „wichtige Einsichten vermittelt hat“. • Grete Hermann war 1934 Teilnehmerin des mehrmonatigen, von Werner Heisenberg geführten Seminars in Leipzig, in dem zahlreiche weitere renommierte Physiker über die Quantenphysik diskutierten. Aus diesem Seminar ging Grete Hermanns Veröffentlichung hervor, in der auch der Widerspruch zu von Neumanns Beweis zu finden ist. • 1936 erhielt sie für ihre Arbeit „Welche Konsequenzen haben die Quantentheorie und die Feldtheorie der modernen Physik für die Theorie der Erkenntnis?“12 den Preis der Avenarius-Stiftung in Leipzig. • Bekannt ist auch der intensive und über einen längeren Zeitraum geführte Briefwechsel mit Carl Friedrich von Weizsäcker und Werner Heisenberg sowie weiteren Physikern über philosophische Themen.13 Grete Hermann hatte sich als Wissenschaftlerin also Zugang zum „Männerclub“ der Physik verschafft. Es wäre für sie durchaus möglich gewesen, sich Gehör zu verschaffen. Dass sie es nicht tat, lag zuerst daran, dass ihr die Philosophie wichtiger als die physikalische Grundlagenforschung war. Bald verblasste auch diese Beschäftigung vor anderen Themen, die bald ihr Leben bestimmten: die Politik und die Pädagogik. Hermann zog aus der Philosophie Kants ethische Konsequenzen, die sie indirekt und praktisch anwendete: Sie kämpfte aktiv gegen die Nationalsozialisten, die 1933 in Deutschland an die Macht gekommen waren. 1936 wurde die Gefahr für sie zu groß, und sie emigrierte nach England. In London ging sie Anfang 1938 eine Scheinehe mit einem Mann namens Edward Henry ein, um die britische Staatsbürgerschaft zu erlangen. Grete Herrmann hieß nun Grete
11 Werner
Heisenberg, Der Teil und das Ganze, R. Piper & Co. Verlag (1969). Herrmann (Hg.), Grete Hermann: Philosophie – Mathematik – Quantenmechanik, Springer (2019). 13 ebd. 12 Kay
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Henry-Hermann. Kurz bevor sie 1946 nach Deutschland zurückkehrte, ließ sie sich scheiden und nahm ihren alten Namen wieder an. Sie wurde in ihrer Heimatstadt Bremen zunächst Lehrerin und wurde bald als Professorin für Philosophie und Physik an die Pädagogische Hochschule berufen, deren Aufbau sie als treibende Kraft unterstützt hatte. Hier setzte sie entscheidende Impulse für die pädagogische und ethische Schulung der zukünftigen Lehrergeneration. Auch an der Gründung der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) war sie beteiligt. Der Politik blieb sie ebenfalls treu. Sie trat in die SPD ein und arbeite zusammen mit Willi Eichler am Godesberger Programm von 1959. Dieses Parteiprogramm der SPD setzte auf marktwirtschaftliche Werte und ethische Erwägungen. Die Neuaufstellung sozialdemokratischer Politik geht also zu einem guten Teil auf die Gedanken Grete Hermanns zurück. Für ihr gesellschaftlich-politisches Engagement wurde sie hochgeachtet. Von 1961 bis 1978 hatte sie den Vorsitz an der Frankfurter Philosophisch-Politischen Akademie inne. Im April 1984 starb Grete Hermann mit 83 Jahren; bis an ihr Ende hatte sie sich mit philosophischen Fragen beschäftigt. Ihr früher Beitrag für die Deutung der Quantenphysik blieb lange Zeit vergessen. Dass sich John Bell wohl auf sie bezogen hat, obwohl er sie nicht erwähnt hat, als er die Grundlagenforschung aus ihrem Dornröschenschlaf holte, wird erst seit wenigen Jahren gewürdigt. Könnte man Grete Hermann fragen, ob ihr diese späte Anerkennung etwas bedeutet, würde sie wohl antworten, dass ihr ihre anderen Lebensleistungen wichtiger erscheinen. Die Vorlage zum Torschuss, den John Bell drei Jahrzehnte später verwandelte, hat sie traumwandlerisch nebenbei geliefert.
13 Chien-Shiung Wu (1912–1997) Die Königin der experimentellen Kernforschung
Bisher wurden in diesem Buch Wissenschaftlerinnen vorgestellt, die ausnahmslos der europäischen Denktradition zuzuordnen sind. Von Hypatia aus Alexandria, deren Heimatstadt zu ihren Lebzeiten stark von Rom beeinflusst war, bis zu den Wissenschaftlerinnen aus den Vereinigten Staaten, die ab der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ihren europäischen Kolleginnen den Rang abliefen und in den folgenden Kapiteln ihren Platz finden, gehörten sie bis in die 2000er-Jahre fast ausschließlich dem Kulturkreis an, dessen Ursprung in der griechisch-römischen Antike liegt. Die Chinesin Chien-Shiung Wu, die zweifellos in die Reihe der herausragenden Wissenschaftlerinnen gehört, wurde gleich in zweifacher Hinsicht diskriminiert: als Frau und auch als eine der wenigen Forscherinnen, die einer anderen Kultur entstammte. Lange Zeit hat die europäisch-amerikanische Dominanz auf wirtschaftlichem und wissenschaftlichem Gebiet verhindert, Menschen aus anderen Weltgegenden als gleichrangige Forscher wahrzunehmen. Dabei hat sich diese Vormachtstellung erst im gar nicht mal so lange zurückliegenden frühen 17. Jahrhundert herausgebildet. Damals entwickelte sich in Europa eine der in der Menschheitsgeschichte bedeutendsten Revolutionen: An die Stelle religiöser Dogmen trat das moderne wissenschaftliche Denken. Der daraus resultierende technologische Fortschritt machte Europa und später die USA zur unumstrittenen ökonomischen und militärischen Weltmacht. Das westlich geprägte Wissen wurde zum Maßstab. Philosophen, Historiker und Soziologen sind sich einig, dass es einen Zusammenhang gibt zwischen dem Erfolg des wissenschaftlichen Denkens © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 L. Jaeger, Geniale Frauen in der Wissenschaft, https://doi.org/10.1007/978-3-662-66528-2_13
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und der Entstehung offener Gesellschaften, in der Menschen frei ihre Kreativität entwickeln können. Newtons Gesetze waren nicht zufällig der Türöffner ins Zeitalter der Aufklärung. Bis heute sind freie Gesellschaften weltweit führend in der Forschung. Umgekehrt verlor Deutschland in den 1930er-Jahren, als viele seiner Forscher und Forscherinnen dem totalitären Land den Rücken kehrten und die verbleibende Wissenschaft ideologischen Vorgaben unterworfen wurde, umgehend seine langjährige Führungsrolle in der Welt. So wie zu Zeiten des Kaiserreiches und später Maos, ist China auch heute noch nach jeder möglichen Definition eine totalitär regierte Gesellschaft. Die kurze Phase des Aufbruchs, als einige chinesische Philosophen und Politiker im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts versuchten, eine Demokratie nach westlichem Vorbild durchzusetzen, endete schnell. Entsprechend marginal sind die Erfolge des Landes auf dem Gebiet der wissenschaftlichen Forschung. Seit der Einführung der Nobelpreise im Jahr 1901 bis heute wurden 616 Naturwissenschaftler mit diesem höchsten Preis der Wissenschaften ausgezeichnet. Nur eine einzige Person unter ihnen stammt aus China, wurde dort ausgebildet, forschte dort und hatte zum Zeitpunkt der Nobelpreisverleihung die chinesische Staatsbürgerschaft: 2015 erhielt die Medizinerin Tu Youyou für ihren Kampf gegen Malaria den Nobelpreis. Alle anderen chinesisch-stämmigen Nobelpreisträger waren zum Zeitpunkt ihrer preisgekrönten wissenschaftlichen Leistungen keine chinesische Staatsbürger mehr und hatten zumindest einen Großteil ihrer Ausbildung westlichen Universitäten zu verdanken. In der Mathematik sieht es ähnlich aus: Kein einziger chinesischer Mathematiker erhielt bislang eine der beiden höchsten Auszeichnungen dieses Fachs, die Fields-Medaille oder den Abelpreis. Dass China sich zur technologischen Supermacht entwickeln konnte, steht auf einem anderen Blatt. Das Land hat auf der Basis frei zugänglicher wissenschaftlicher Erkenntnisse, die in anderen Ländern gewonnen wurden, sehr erfolgreiche industrielle Produktions- und Verarbeitungsverfahren entwickelt und sich unter großen Anstrengungen einen bedeutenden Platz in der Weltgemeinschaft erkämpft. Auf vielen Gebieten – von der KI bis zur Bio- und Gentechnologie, von der Quantentechnologie bis zu Photovoltaik und Kernfusion – wenden chinesische Wissenschaftler das im Westen gewonnene Wissen an. ***
Chien-Shiung Wu (nach neuerer Schreibweise: Jiànxíong Wú) lebte zu einer Zeit in China, in der eine freiheitliche Entwicklung der chinesischen Gesell-
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schaft noch denkbar war. Sie wurde am 31. Mai 1912 in der Nähe von Shanghai geboren. Ihre Mutter Fan-Hua Fan war Lehrerin und war ganz im Gegensatz zur konfuzianischen Tradition überzeugt, dass Söhne und Töchter die gleichen Bildungschancen haben sollten – diese Einstellung zeugt von dem Umbruch, in dem China sich zu dieser Zeit befand. Auch ChienShiung Wus Vater, Zhong-Yi Wu, war fortschrittlich eingestellt. Er war aktiv an der Revolution Sun Yat-sens beteiligt, die 1911 dem chinesischen Kaiserreich ein Ende setzte und das Land zu einer Republik machte. Er gründete eine Schule für Mädchen, an der seine Tochter ihre Grundschulausbildung erhielt. Mit zehn Jahren wechselte die hochintelligente Chien-Shiung auf eine weiterführende Mädchenschule, in der nach westlichem Vorbild unterrichtet wurde. Wus begüterte Familie hätte ihr ohne Weiteres einen Platz an dieser Schule kaufen können, doch Chien-Shiung machte eine reguläre Aufnahmeprüfung und belegte unter etwa 10.000 Bewerbern Platz neun. An dieser Schule, an der auch amerikanische Professoren lehrten, lernte sie schon als Jugendliche Englisch. 1929 schloss sie ihre Schullaufbahn als Klassenbeste ab und begann 1930 an der etwa 270 km westlich von Shanghai gelegenen Nationalen Zentraluniversität in Nanking ein Studium der Mathematik, wechselte aber schon bald zur Physik. Nach Abschluss ihres Physikstudiums 1934 wechselte Chien-Shiung Wu an die Universität Zhejiang, etwa 180 km südwestlich von Shanghai, wo sie zwei Jahre als Assistentin auf dem Gebiet der Röntgenstrukturanalyse arbeitete. Ihre Professorin Gu Jing-Wie hatte an der University of Michigan promoviert und ermutigte Wu, ebenfalls diesen Schritt zu wagen. Tatsächlich wurde eine Bewerbung der 24-jährigen Wu in Michigan angenommen. Geplant war nur ein vorübergehender Aufenthalt in den USA. Doch weltpolitische Ereignisse hinderten Chien-Shiung Wu viele Jahrzehnte daran, in ihr krisengeschütteltes Heimatland zurückzukehren. • 1937 besetzten Japaner China und beuteten Rohstoffe und Bevölkerung brutal aus. Die Besatzung endete erst 1945. • Im Zweiten Weltkrieg machte Chien-Shiung Wus Mitwirkung am Manhattan-Projekt, das den Bau der Atombombe zum Ziel hatte, eine Rückkehr nach China unmöglich. • Die bürgerkriegsähnlichen Auseinandersetzungen der von Mao angeführten Kommunisten mit regulären Truppen, die in der 1930erJahren begonnen hatten, dauerten bis 1949 an. • Nach der endgültigen Machtübernahme der Kommunisten entschied sich Chien-Shiung Wu, für immer in den USA zu bleiben. 1954 wurde sie US-Staatsbürgerin.
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Ein Besuch der Heimat blieb lange Zeit undenkbar. Auch wenn ihre Familie die Wirren dieser Jahre überlebte, sah Wu ihre Eltern und ihre beiden Brüder nie wieder. Vor allem die Trennung von ihrem Vater Wu Zhong-Yi, dem sie sehr nahestand, muss sie geschmerzt haben. ***
Im August 1936 traf Wu per Schiff in San Francisco ein. Hier erkannte sie, dass – anders als im in dieser Beziehung sehr fortschrittlichen China – Frauen den Männern als intellektuell unterlegen angesehen wurden. Sie erfuhr auch, dass in Michigan besonders streng auf die Trennung der Geschlechter geachtet wurde, und beschloss, an der liberaleren University of California (UCLA) in Berkeley zu arbeiten. Hier traf sie auf Chia-Liu Yuan, der sich den amerikanisierten Vornamen Luke zugelegt hatte. Er war ein Enkel von Yuan Shikai, einem ehemaligen Todfeind ihres geliebten Vaters. Yuan war als Militärgouverneur und Premierminister unter dem letzten chinesischen Kaiser beauftragt worden, den Aufstand niederzuschlagen, hatte sich dann jedoch auf die Seite der Revolutionäre geschlagen und war erster Präsident Chinas geworden. Später scheiterte sein Versuch, als Kaiser eine neue Dynastie zu gründen. Die Tochter des Revolutionärs und der Enkel des Traditionalisten verliebten sich ineinander und heirateten sechs Jahre später. Auf Yuans Vermittlung bot der Leiter der Physikabteilung der UCLA Chien-Shiung Wu einen Platz im Graduiertenprogramm an, obwohl das Studienjahr bereits begonnen hatte. Yuan machte sie auch mit Ernest Lawrence bekannt, der Direktor des Strahlungslabors war und später ihr Doktorvater wurde. Noch während Wu in dessen Labor an ihrer Promotion arbeitete, erhielt Lawrence für seine Erfindung des Zyklotron-Teilchenbeschleunigers den Nobelpreis für Physik. Chien-Shiung Wu war nun in einer heiklen Situation. In ihrer Heimat wüteten die Japaner. Sollte sie durch eine Prüfung ihres Doktorprogramms fallen, wäre ihre Aufenthaltsbewilligung infrage gestellt. Unter hohem Druck stürzte sie sich in ihre Arbeit und war in der Regel auch noch morgens um 4 Uhr im Labor anzutreffen. Entsprechend rasant waren die Fortschritte ihrer Arbeit. Zum Beispiel studierte sie gemeinsam mit dem italienischen Physiker Emilio Segrè die Verwandlung des radioaktiven Isotops Xenon-137 in Cäsium-137. Das benötigte Ausgangsmaterial hatten sie in den von Lawrence erfundenen Zyklotronen durch die Kernspaltung von Uran erzeugt. Der Zerfall von Xenon-137 ist ein Beispiel für den 1933 von Enrico Fermi entdeckten Beta-Zerfall, bei dem durch die Umwandlung von
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Protonen in Neutronen neue Elemente entstehen und dabei Elektronen als Beta-Strahlung emittiert werden. Segrè erkannte schnell Wus Brillanz und verglich sie sogar mit der von Wu zutiefst verehrten Marie Curie. Auch Lawrence wusste, was er an seiner Mitarbeiterin hatte, und beschrieb sie als die talentierteste Experimentalphysikerin, die er je gekannt hatte.1 1940, mit 18 Jahren, schloss Wu ihre aus zwei Teilen bestehende Dissertation ab: • Im ersten Teil befasste sie sich mit dem Beta-Zerfall des radioaktiven Isotops Phosphor-32 und dem Effekt der sogenannten Bremsstrahlung, die die emittierten Elektronen ausübten. • Im zweiten Teil beschrieb sie ihre Versuche mit Xenon-137, die sie zusammen mit Emilio Segrè durchgeführt hatte. Das Dissertationskomitee, darunter ihr offizieller Betreuer Lawrence und der spätere Leiter des US-Atombombenprojekts, Robert Oppenheimer, war vor allem vom zweiten Teil der Dissertation beeindruckt. Mit Oppenheimer (von Wu liebevoll Oppie genannt) äußerte sich einer der weltbesten und -bekanntesten Physiker ungewöhnlich enthusiastisch über die Fähigkeiten Chien-Shiung Wus und nannte sie die Autorität auf dem Gebiet des Beta-Zerfalls. Und trotzdem berichtete die Presse wenig über ihre wissenschaftlichen Fähigkeiten, sondern es wurden ganz andere Eigenschaften für interessant gehalten. Kaum ein Reporter verzichtete auf eine Beschreibung, wie hübsch und exotisch Wu aussehe. In einem Artikel der Oakland Tribune zum Beispiel wurde sie als „zierliches chinesisches Mädchen“ bezeichnet, das „aussieht, als könnte sie eine Schauspielerin oder eine Künstlerin oder eine Tochter aus reichem Hause auf der Suche nach abendländischer Kultur sein.“2 Die Herablassung dieses Artikels zeigt eigenblach sich auch in diesem Satz gleich danach: „Sie war immer so leidenschaftlich und aufgeregt, wenn die Sprache auf ‚China‘ und ‚Demokratie‘ kam.“ ***
1 Tsai-Chien
Chiang, Madame Chien-Shiung Wu: The First Lady of Physics Research, World Scientific Publishing Company (2013). 2 Oakland Tribune (heute: East Bay Times ) vom 26. April 1941: Outstanding Research in Nuclear Bombardement by a Petite Chinese Lady.
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So wie ihre europäischen Kolleginnen musste auch Wu zu Anfang ihrer Karriere die gering schätzende Haltung von Vertretern des anderen Geschlechts ertragen. In ihrem Fall kam noch ein Umstand hinzu, der ihre Position mehr als die anderer Frauen infrage stellte. Chinesen und Chinesinnen blicken in den USA auf eine lange Geschichte der Diskriminierung zurück. Als das bis heute einzige Bundesgesetz der Vereinigten Staaten, das jemals eine gesamte ethnische oder nationale Gruppe an der Einwanderung in die Vereinigten Staaten hinderte, verbot der Chinese Exclusion Act von 1882 über viele Jahre die Einwanderung chinesischer Arbeitskräfte. 1943 wurde dieses Gesetz durch eine Quotenregelung ersetzt; erst seit 1965 ist die quotenunabhängige Einwanderung von Chinesen in die USA möglich. In der Zeit, in der Wu ihre wissenschaftliche Karriere in den USA aufbaute, waren Ressentiments gegen Chinesen allgegenwärtig. Dazu kam, dass im Dezember 1941, ein Jahr nachdem Wu den Doktorgrad erlangt hatte, japanische Flieger Pearl Harbor angriffen. Dieser kriegerische Akt ließ das Misstrauen gegen asiatisch aussehende Menschen noch einmal stark anwachsen. Dass Chinesen in ihrem Heimatland schon seit Jahren unter der Besatzung japanischer Truppen litten, spielte keine Rolle. Der damals allgegenwärtige Rassismus unterschied nicht zwischen japanisch- und chinesisch-stämmigen Menschen. So kam es, dass Wu trotz ihrer Brillanz und ihres Renommees keine Forschungsstelle fand und als Physikdozentin ihren Lebensunterhalt bestreiten musste. Zunächst lehrte sie an der Ostküste am Smith College, wo sie nur Frauen unterrichten durfte und eher unglücklich war. Später wechselte sie zum Princeton Institute, wieder „nur“ als Lehrkraft. Dort unterrichtete sie als erstes weibliches Fakultätsmitglied des Fachbereichs Physik Offiziere der Marine und traf auf Berühmtheiten wie Albert Einstein. 1944 erhielt sie endlich das Angebot, wieder eine Forschungstätigkeit aufzunehmen. Am SAM-Labor (SAM = Substitute Alloy Materials) der Columbia University in New York war Wu am Bau der Atombombe beteiligt. Mit ihren Arbeiten zu Strahlungsdetektoren unterstützte sie die wichtige Anreicherung von waffenfähigem Uran-235. So wie die meisten anderen Beteiligten des Manhattan-Projekts konnte sie die Zusammenhänge jedoch nur erahnen. Im September 1944 meldete sich Wu freiwillig, beim ManhattanProjekt noch weitaus intensiver mitzuarbeiten. Nach einigen weniger wichtigen Arbeiten wurde sie schließlich für eine zentrale Aufgabe herangezogen. Beim Bau des ersten Kernreaktor-Prototyps war man auf ein unerwartetes Problem gestoßen: Er schaltete sich in regelmäßigen Abständen
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an und wieder ab. Der Nobelpreisträger Enrico Fermi und ein weiterer Spezialist für Kernspaltung, John Wheeler, vermuteten, dass Xe-135, ein Produkt der Uranspaltung mit einer Halbwertszeit von 9,4 h, die Ursache dafür war. Die beiden Wissenschaftler erinnerten sich an Wus Doktorarbeit aus dem Jahr 1940, deren zweiter Teil sich ja explizit mit einem radioaktiven Xenonisotop beschäftigt hatte. Sie kontaktierten Wu und erfuhren, dass sie eine Veröffentlichung in der Physical Review vorbereitet hatte, in der sich die Erklärung dafür fand, warum Xe-135 mehr Neutronen abfing als gedacht und so die Kettenreaktion zur fortlaufenden Spaltung des Urans unterbrach. (Es stellte sich heraus, dass Xe-135 einen unerwartet großen Neutronenabsorptionsquerschnitt besitzt, sodass die neutronengetriebenen Spaltungen des Urans unterbrochen wurden.) Da Wus Erkenntnisse keinesfalls dem feindlichen Deutschland zur Verfügung stehen sollten, wurde ihre Arbeit kurz vor Drucklegung zurückgezogen, und die Papiere wurden gut gesichert deponiert. Wie die meisten der beteiligten Physiker distanzierte sie sich von ihrem Engagement für das Manhattan-Projekt, nachdem die Kraft der Atombombe durch die Zerstörung von Hiroshima und Nagasaki offenbar geworden war. ***
Nach Kriegsende, im August 1945, nahm Wu zusätzlich zu ihrem Teilzeitjob in Princeton eine Stelle als Professorin, die nur Forschung betreibt und keinen Unterricht gibt, an der New Yorker Columbia University an. Den Rest ihres Arbeitslebens blieb sie der New Yorker Universität treu. Als 1947 ihr einziger Sohn Vincent – der später ebenfalls Physiker wurde – in Princeton geboren wurde, kam ein geschätzter Freund und Kollege zu Wu ins Krankenhaus, um ihr Kind willkommen zu heißen: Albert Einstein. Im November 1949 begann Wu, sich mit dessen EPRGedankenexperiment (EPR steht für Einstein, Podolsky und Rosen) zu beschäftigen. Einstein lehnte die von Schrödinger vorausgesagte Verschränkung von Quantenteilchen als „spukhafte Fernwirkung“ vehement ab, und Wu versuchte, sich diesem Thema experimentell zu nähern. Tatsächlich gelang es ihr, die Existenz der Verschränkung anhand eines Photonenpaares nachzuweisen. Vor allem aber interessierte sich Wu, inzwischen als Physikerin etabliert, weiterhin für den Betazerfall: • 1934 hatte Enrico Fermi seine Theorie des Betazerfalls veröffentlicht, nach der sich im Atomkern ein neutrales Neutron in ein positiv geladenes
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Proton verwandeln kann, wobei ein Elektron (und ein Positron) ausgesandt wird. • Ein Experiment von Luis Walter Alvarez von 1937 zeigte, dass umgekehrt zum Betazerfall aus einem Proton plus einem Elektron ein Neutron (plus ein Neutrino) entstehen kann. Wu wiederholte die Experimente Fermis und Alvarez’ und konnte 1949 zeigen, wie die verschiedenen Möglichkeiten des Betazerfalls im Detail funktionieren und somit die Fermi-Theorie vollständig beweisen. Ihre bedeutendste Leistung war jedoch ihr Experiment aus dem Jahr 1956, mit dem sie den bis dahin weithin akzeptierten Grundsatz der Paritätserhaltung in der Physik widerlegte. Was bedeutet Parität in der Physik? In unserer Erfahrungswelt laufen die Phänomene in zwei physikalischen Systemen, die sich spiegelbildlich zueinander verhalten, identisch ab. Ein Kreisel zum Beispiel gehorcht unabhängig davon, ob er links- oder rechtsherum gedreht wird, denselben Gesetzen der klassischen Physik. Lange Zeit nahm man an, dass diese Parität auch für Prozesse gilt, die im Bereich der atomaren Größenskala stattfinden. Hier wirken jedoch auch Kräfte, die in unserer Erfahrungswelt keine Rolle spielen: die starke und die schwache Kernkraft. 1956 diskutierten die beiden jungen theoretischen Physiker Chen-Ning Yang und Tsung-Dao Lee erstmals die Möglichkeit einer Paritätsverletzung. Konkret ging es um das sogenannte Θ-τ-Rätsel (Theta-TauRätsel): Wenn eines der gerade neu entdeckten K+-Mesonen zerfiel, ergaben sich theoretische Hinweise darauf, dass es zwei unterschiedliche, sehr kurzlebige Zerfallsprodukte gibt: • Manchmal entsteht beim Zerfall eines K+-Mesons ein sogenanntes Θ+Teilchen (Theta-Teilchen), • manchmal ein τ+-Teilchen (Tau-Teilchen) Zunächst hatte man angenommen, dass es sich um zwei unterschiedliche Teilchen handelt, denn so war die Spiegelsymmetrie gegeben. Doch bei genauerer Betrachtung zeigte sich, dass das Θ-Teilchen und das τ-Teilchen identisch sind – und doch unterscheidbar, da sie keine Spiegelbilder zueinander sind. Yang und Lee vermuteten, dass das Paritätsprinzip nicht universell gültig ist, sondern dann außer Kraft gesetzt ist, wenn die schwache Kernkraft im Spiel ist. Für den experimentellen Nachweis ihrer Idee brauchten sie Chien-Shiung Wu, die „First Lady der Physik“. Wu führte den wesentlichen Teil des Experiments durch, das anhand des Betazerfalls von radioaktivem Kobalt-60
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die Paritätsverletzung nachwies. Wu setzte das Kobaltisotop einem starken elektromagnetischen Feld aus, sodass seine Atomkerne alle auf dieselbe Achse ausgerichtet wurden. Für diesen experimentellen Schritt war eine extreme Abkühlung des Kobalts auf 0,003 K notwendig – eine Temperatur, die nur einen winzigen Bruchteil über dem absoluten Nullpunkt liegt. Hierfür musste Wu zum Hauptsitz des National Bureau of Standards in Maryland reisen, weil nur dort die erforderliche Ausrüstung vorhanden war, um das Experiment durchzuführen. Wu beobachtete das Verhalten der beim Zerfall der stark heruntergekühlten Kobaltkerne ausgesandten Teilchen. Manche schossen in Spinrichtung heraus, andere genau in die Gegenrichtung. Gemäß der Paritätserhaltung hätte die Anzahl der Teilchen beider Gruppen gleich sein müssen. Wu entdeckte jedoch, dass mehr Teilchen in die dem Spin entgegengesetzte Richtung schossen. Damit war nachgewiesen, dass das Paritätsgesetz in der Natur verletzt sein kann. Dass der 36-jährige Yang und der 31-jährige Lee noch im selben Jahr den Nobelpreis für Physik erhielten, zeigt die Bedeutung dieser Erkenntnis. Wus substanzieller Beitrag wurde jedoch nicht berücksichtigt. Allgemein wurde diese Entscheidung des Nobelpreiskomitees mit Unverständnis aufgenommen. Und der Physiker Gell-Mann, von dem weiter unten noch die Rede sein wird, fragte Wu: „Wie lange haben Yang und Lee Sie bekniet, dass Sie sich an deren Arbeit beteiligen?“3
Auch Lee und Yang selbst waren der Meinung, dass Wu die Ehre genauso wie sie verdient hätte. Yang sagte später, dass Wu die einzige Person gewesen war, die die Dringlichkeit und Wichtigkeit ihres Vorhabens verstanden und dann auch noch einen Weg gefunden hatte, die Paritätsverletzung zu beweisen. ***
Auch wenn Wu den Nobelpreis für Physik nicht zugesprochen bekam, machte ihr experimenteller Nachweis der Verletzung des Paritätsgesetzes sie endgültig zur Ikone der Experimentalphysik; ihr Experiment ist heute noch als Wu-Experiment berühmt. In den folgenden Jahren gelangen Wu weitere
3 McGrayne,
Sharon Bensch, Nobel Prize Women in Science: Their Lives, Struggles, and Momentous Discoveries, Carol Publishing Group, Secaucus, NJ (1993), S. 278.
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spektakuläre Entdeckungen, und sie erhielt zahlreiche Auszeichnungen für ihre Beiträge zur Kernphysik: • 1952 wurde sie zur außerordentlichen Professorin ernannt und damit zur ersten Frau in der Geschichte der Columbia University mit einer festen Professur für Physik. • 1958 erhielt sie als erste Frau die Ehrendoktorwürde in Princeton, und im selben Jahr stieg sie an der Columbia University zur ordentlichen Professorin auf. • 1963 wurde sie mit dem alle fünf Jahre vergebenen Comstock-Preis der National Academy of Sciences ausgezeichnet. • 1973 wurde sie zur ersten Präsidentin der American Physical Society ernannt. • 1976 zeichnete sie US-Präsident Gerald Ford mit der Nationalen Wissenschaftsmedaille aus • 1978 erhielt sie für ihr Wu-Experiment den ersten Wolf-Preis in Physik von der Wolf Foundation in Israel – dieser Preis gilt heute gemeinhin als Trostpreis für Wissenschaftler, die keinen Nobelpreis gewonnen haben. Nachdem sie 1949 eine verbesserte Version von Fermis Modell des Betazerfalls von 1934 geliefert hatte, legte sie im Dezember 1962 noch einmal nach. Durch ein geniales Experiment wies sie eine noch allgemeingültigere Form nach. Dies war ein wichtiger Baustein für zwei weitere Giganten der Kernphysik: Richard Feynman und Murray Gell-Mann. Physiker träumen davon, alle physikalischen Kräfte zu einer einzigen Kraft zu vereinheitlichen. Aktuell muss noch zwischen vier Kräften unterschieden werden: die elektromagnetische Kraft, die Gravitationskraft sowie die starke und die schwache Kernkraft. Alle anderen Kräfte wie zum Beispiel die Reibungskraft und die Auftriebskraft lassen sich auf eine dieser vier Kräfte zurückführen. Feynman und Gell-Mann arbeiteten daran, die elektromagnetische mit der schwachen Kernkraft in einer Standardtheorie der Teilchenphysik zu vereinen. (Dies gelang Ende der 1960er-Jahre den Physikern Steven Weinberg, Sheldon Glashow und Abdus Salam.) Schon Wus Nachweis von 1956, dass die Parität nicht immer erhalten bleibt, hatte sie einen großen Schritt weitergebracht. Chien-Shiung Wus neue Version des Betazerfalls von 1962 lieferte ein weiteres wichtiges Puzzlestück für Feynmans und Gell-Manns im Aufbau befindliche Standardtheorie der Teilchenphysik.
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Mit ihren beeindruckenden Ideen und Fähigkeiten galt Wu unter Experimentalphysikern als eine der besten ihres Faches. Herwig Schopper, Generaldirektor des CERN, erzählte einmal von dem in Physikerkreisen kursierenden Bonmot: „Wenn das Experiment von Wu durchgeführt wurde, muss es richtig sein.“4
Weitere Experimente, die sie in den 1960er- und 1970er-Jahren mit Studenten und Mitarbeitern durchführte, untermauerten diesen Ruf: • Dazu gehörten spätere Untersuchungen zum Doppelbetazerfall, in denen sie die Eigenschaften von Atomen aufzeichnete, in denen Myonen den Platz von Elektronen einnehmen. Diese Versuche fanden eine halbe Meile unter dem Eriesee bei Cleveland, Ohio, in einer Salzmine statt. • Das breite Spektrum ihrer Interessen zeigt ihr späterer Beitrag zur Erforschung der Sichelzellenanämie, die durch die Verformung von Hämoglobinmolekülen entsteht. • Wu arbeitete auch an dem Bell’schen Theorem, das eine universelle Interpretation der Quantentheorie mit ihren Teilchenverschränkungen versprach. Dies war eine der wenigen Fälle, bei denen anderen Physikern etwas gelang, was sie nicht hatte erreichen können: In den frühen 1980er-Jahren gelang dem Franzosen Alain Aspect auf experimentellem Wege, eine universelle Interpretation der Teilchenverschränkungen in der Quantentheorie zu liefern. So wie ihr großes Vorbild Marie Curie hatte auch Chien-Shiung Wu es durch große Begabung und unermüdliche Arbeit geschafft, nicht wie so viele andere Frauen in der wissenschaftlichen Gemeinschaft marginalisiert zu werden. Ganz im Gegenteil: Sie erkämpfte sich beharrlich den Respekt ihrer Kollegen. Auch nachdem Wu 1981 in den Ruhestand gegangen war, baten viele Physiker sie weiterhin um Rat, wie sie ihre Theorien in der Praxis beweisen könnten. Als Physiker und Physikerinnen nach den bedeutendsten Vertreterinnen ihres Faches gefragt wurden, gab es unter den Antworten im Wesentlichen nur drei Namen: Marie Curie, Lise Meitner – und ChienShiung Wu.
4 Chiang, Tsai-Chien, Madame Chien-Shiung Wu: The First Lady of Physics Research, World Scientific Publishing Company (2013).
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Von einer Facette von Chien-Shiung Wus Persönlichkeit war bisher noch nicht die Rede: ihr politisches Engagement. Als Tochter eines Revolutionärs erlebte sie eine von Politik geprägte Kindheit. Neben ihrem Vater übte eine weitere Person großen Einfluss auf ihr politisches Denken aus: der bedeutende Philosoph und liberale Politiker Hu Shi. So wie alle Studenten und Studentinnen in China war auch Chien-Shiung Wu verpflichtet gewesen, im Rahmen ihres Studiums ein Jahr als Lehrerin an einer öffentlichen Schule zu unterrichten. Hu Shi war der Direktor an der Schule in Shanghai, auf die Wus Wahl fiel. Hu wurde zu einem väterlichen Freund und Förderer, und die beiden hielten bis zu seinem Tod 1962 Kontakt zueinander. Von 1938 bis 1942 war Hu Botschafter Chinas in den USA und siedelte 1948, als die Kommunisten an die Macht gekommen waren, ganz nach Amerika über. Während ihres Studiums in Nanking engagierte sich Chien-Shiung Wu in der Studentenpolitik und wurde in eine führende Position gewählt. Da sie zu den besten Studenten der Universität gehörte, übten die Behörden Nachsicht mit ihren Aktivitäten. Auch später in den USA bezog sie zu gesellschaftspolitischen Themen offen und selbstbewusst Stellung. Zum Beispiel fragte sie 1964 auf einem Symposium am MIT in Cambridge, Massachusetts, das Auditorium: „Ich frage mich, ob die winzigen Atome und Kerne oder die mathematischen Symbole oder die DNA-Moleküle eine Vorliebe für männliche oder weibliche Bezeichnungen haben.“5
Insbesondere lag es ihr am Herzen, dass wissenschaftliche Fächer sowohl Jungen als auch Mädchen vermittelt werden. Sie setzte sich für Menschenrechtsfragen ein und protestierte aktiv gegen die Inhaftierung verschiedener Dissidenten sowie gegen das Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens im Juni 1989. Die emotionale Verbindung zu ihrem Heimatland riss nie ab. Doch erst in ihren späteren Jahren durfte sie China und Taiwan bereisen. Am 16. Februar 1997 starb sie mit 85 Jahren an einem Schlaganfall.
5 Zuoyue Wang, Wu Chien-Shiung. Dictionary of Scientific Biography. Vol. 25, New York, Charles Scribner’s Sons (1970–1980), S. 367.
14 Rosalind Franklin (1920–1958) Die Frau neben Watson und Crick
Historiker stufen Jahrhunderte nicht nach den runden Daten des Kalenders ein, sondern nach historisch bedeutsamen Entwicklungen. Wenn sie vom 19. Jahrhundert sprechen, meinen sie die lange Periode, deren Beginn von der Französischen Revolution 1789 markiert wird und deren Ende mit der Russischen Revolution von 1917 und dem im selben Jahr erfolgenden Eintritt der USA in den Ersten Weltkrieg zusammenfällt. Das 20. Jahrhundert ist in ihren Augen deutlich kürzer. Es beginnt 1917 und gilt mit dem Jahr 1989, in dem der Kommunismus im Osten Europas zerbrach, als beendet. Nach dieser Zählart ist die am 25. Juli 1920 geborene Chemikerin Rosalind Franklin die erste der in diesem Buch vorgestellten bedeutenden Wissenschaftlerinnen, die im 20. Jahrhundert geboren wurde. Mit der Entdeckung der molekularen Struktur der Desoxyribonukleinsäure (DNA) im Jahr 1953 sind gemeinhin zwei Namen verbunden: James Watson und Francis Crick. Rosalind Franklin, die zur Aufklärung der Doppelhelixstruktur der DNA maßgeblich beigetragen hatte, wurde von der Geschichtsschreibung lange übersehen. Dass sie bei der Vergabe des Nobelpreises nicht berücksichtigt wurde, ist gleich zweifach skandalös, denn ihr Arbeitskollege Maurice Wilkins, der gemeinsam mit Watson und Crick mit dem renommiertesten aller Preise ausgezeichnet wurde, hatte aus Franklins Labor entscheidende Dokumente entwendet und dem Forscherduo Watson und Crick übergeben. Ohne diese Unterlagen wäre den drei Wissenschaftlern die Entschlüsselung der DNA – wenn überhaupt – erst deutlich später möglich gewesen.
© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 L. Jaeger, Geniale Frauen in der Wissenschaft, https://doi.org/10.1007/978-3-662-66528-2_14
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Rosalind Franklin war Anfang der 1950er-Jahre eine der international bedeutendsten Spezialisten für die Röntgenstrukturanalyse von Makromolekülen. Diese Methode nutzt Röntgenstrahlen zur Erfassung der dreidimensionalen Struktur von Molekülen, denn anders als zum Beispiel Lichtwellen sind Röntgenstrahlen extrem kurzwellig; ihre Wellenlänge entspricht ungefähr dem Abstand von Atomen in einer chemischen Verbindung. Während Lichtwellen durch das Molekül „durchrauschen“, werden Röntgenwellen durch die in dem Molekül vorhandenen Elektronen gebeugt. Je mehr Elektronen im Weg liegen, desto stärker fällt die Beugung aus. Hinter der Substanzprobe bilden die aus dem Takt gebrachten Wellen ein Interferenzmuster, das auf einer Fotoplatte sichtbar gemacht werden kann. Was sich im Prinzip recht einfach anhört, ist eine hochkomplexe Angelegenheit. Mit größter Präzision müssen zum Beispiel Störquellen ausgeschlossen und komplizierte Berechnungen durchgeführt werden, um aus den Interferenzmustern Rückschlüsse auf das Molekül ziehen zu können. Es ist heute unbestritten, dass Rosalind Franklins Röntgendiagramme und Interpretationen der von ihr gemachten Aufnahmen wegweisend war. Dass ihr die Anerkennung für diese Leistung verwehrt blieb, hatte gleich mehrere Gründe: • Das Londoner King’s College, in dem Franklin zur Zeit der Entschlüsselung der DNA-Struktur arbeitete, war noch stärker als andere Institute den Traditionen verpflichtet. Zu diesen Traditionen gehörte, dass Wissenschaftlerinnen nicht als vollwertige Forscher angesehen wurden. • Rosalind Franklin arbeitete sehr präzise. Unterschiedliche Auffassungen zu der erforderlichen Genauigkeit wissenschaftlicher Arbeit sorgten für Spannungen im Labor des King’s College. Dazu kamen schwerwiegende Konflikte innerhalb des Teams über Hierarchiefragen. Franklin hielt ihre Forschungsergebnisse unter Verschluss, um sie nach wissenschaftlichen Standards überprüfen zu können. Leider war diese Vorsichtsmaßnahme vergebens. • Die Konflikte innerhalb des Teams am Londoner King’s College hatten auch zur Folge, dass Franklin an ein anderes College wechselte und sich anderen Themen zuwendete. Genau in der Zeit, in der ihre eigenen Manuskripte zur DNA-Struktur und das von Watson und Crick eingereicht, aber noch nicht veröffentlicht waren, verließ sie das King’s College. Es war niemand mehr da, der ihre Interessen vertreten hätte. • Rosalind Franklin verstarb 1958 im Alter von nur 37 Jahren. ***
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Rosalind Franklin kommt am 25. Juli 1920 im Londoner Stadtteil Notting Hill als Tochter einer der reichsten Familien Englands zur Welt. Ihre Eltern machen bei ihren zwei Töchtern und drei Söhnen keinen Unterschied in der Erziehung und in den Ausbildungschancen, die sie ihnen bieten. Doch unausgesprochen gehen sie davon aus, dass die Töchter später heiraten und eine Familie gründen werden. Rosalinds Wunsch, Wissenschaftlerin zu werden, unterstützen sie nicht. Von Anfang an zeigt Rosalind Franklin außergewöhnliche schulische Leistungen. In ihrer Familie sorgt das für einigen Stolz, aber auch für Irritation. So schreibt zum Beispiel eine ihrer Tanten an ihren Mann: „Rosalind ist erschreckend schlau – aus reinem Vergnügen verbringt sie ihre ganze Zeit mit Arithmetik & ihre Rechnungen stimmen immer.“1
Mit elf Jahren besucht sie eine der wenigen Mädchenschulen, an der Physik und Chemie unterrichtet werden. Sie ist die Beste ihrer Klasse und gewinnt jährlich Preise. Ihren Entschluss, Wissenschaftlerin zu werden, fasst sie mit 15 Jahren. In diesem Alter steht für sie damit auch fest, dass sie nie heiraten und Kinder bekommen will – obwohl sie Kinder sehr liebt. Schon in diesem Punkt wird ihre unbestechliche Konsequenz sichtbar, die ihr gesamtes Leben durchzieht. 1938 besteht sie das Abitur mit sechs Auszeichnungen und erhält ein Universitätsstipendium. Im selben Jahr beginnt sie ihr Chemiestudium in Cambridge, das sie 1941 – wieder mit Auszeichnung – abschließt. Während ihres Studiums lernt sie zwei Menschen kennen, die einen großen Einfluss auf sie ausüben: • Bill Price, ein Experte für Spektroskopie, macht sie mit dieser Forschungsmethode vertraut. • Adrienne Weill, eine Schülerin von Marie Curie, die vor den Nationalsozialisten aus Frankreich geflohen ist, wird zu einer guten Freundin und verhilft ihr später zu ihrer ersten Stelle. Franklin ist eine Überfliegerin, die Schule und Studium im Schnelldurchlauf und mit Bestnoten hinter sich lässt. Doch auf dem Weg zur Dissertation gibt es gravierende Probleme. Ihr Doktorvater in Cambridge ist Ronald Norrish, der zwar 1967 einen Nobelpreis erhält, 1941 aber, als Franklin ihre Doktorarbeit beginnt, ein starker Alkoholiker ist und etwas gegen Frauen im Labor hat. Wieder beweist Franklin bedingungslose Konsequenz: 1 Wikipedia,
2022.
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Sie verlässt Norrishs Laboratorium und geht zur British Coal Utilisation Research Association (BCURA), wo sie über die Eigenschaften von Kohle forscht. Schnell wird sie zur Expertin und trägt unter anderem zur Effizienzsteigerung von kriegswichtigen Gasmasken bei. Über diesen Weg erhält sie 1945 in Cambridge ihren Doktortitel. Auch auf andere Weise leistet sie im Krieg einen Beitrag für ihr Land: Zusammen mit ihrer Cousine Irene meldet sie sich freiwillig, um auf Patrouillengängen frühzeitig deutsche Luftangriffe melden zu können. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs fragt Franklin ihre Freundin Adrienne Weill, was sie als „physikalische Chemikerin, die sehr wenig über physikalische Chemie, aber sehr viel über die Löcher in der Kohle weiß“, anfangen könne. Weill stellt sie im Herbst 1946 auf einer Konferenz dem Direktor des französischen Centre national de la recherche scientifique (CNRS) vor, dem bis heute mächtigen Netzwerk der wissenschaftlichen Institute in Frankreich. Dieser verschafft Franklin Anfang 1947 eine Stelle am staatlichen Zentrallabor für chemische Dienstleistungen in Paris. Der Leiter des Labors ist Jacques Mering, ein Experte für Röntgenkristallografie. Kristalline Strukturen waren mit dieser Methode bereits seit vielen Jahren 1000-fach untersucht worden, doch Mering und sein Team arbeiten daran, auch nichtkristalline Stoffe – also auch lebende Strukturen – mit dieser Methode zu untersuchen. Dazu müssen die Substanzen in einem aufwendigen Prozess in einen kristallinen Zustand überführt werden. In Paris wird Franklin zu einer Spezialistin für die Röntgenstrukturanalyse von kristallisierten Makromolekülen. 1951 geht Rosalind Franklin zurück nach England. John Randall, der Leiter der biophysikalischen Abteilung am Londoner King’s College hat ihr ein auf drei Jahre befristetes Forschungsstipendium angeboten. Eigentlich ist geplant, dass Franklin die Beugung von Röntgenstrahlen an Proteinen und Lipiden untersuchen soll. Doch noch vor ihrer Ankunft in England entscheidet Randall, dass es ein sehr viel spannenderes Forschungsfeld für sie gibt: die DNA. ***
Über viele Jahrzehnte hatten Wissenschaftler versucht, der Erbinformation in Lebewesen auf die Spur zu kommen. Man wusste, dass es in den Zellen von Pflanzen und Tieren irgendeine Zellstruktur, irgendeine chemische Verbindung geben musste, die die Erbanlagen von der Mutter- auf die Tochterzellen überträgt. Für die kleinste, also unteilbare Einheit dieser Information
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war 1909 das Wort „Gen“ eingeführt worden. Doch niemand wusste, was ein Gen war. Dass die merkwürdigen, Chromosomen genannten Strukturen im Zellkern die Träger der Gene sein könnten, war nur eine von vielen Theorien. Zum Beispiel standen auch bestimmte Zellproteine im Verdacht, Merkmale von einer Zellgeneration an die nächste weiterzugeben. Dass es sich bei der DNA um die gentragende Substanz handelt, wurde mit der Zeit von immer mehr Wissenschaftlern vermutet, war aber alles andere als bewiesen. 1950 war nur wenig über dieses Riesenmolekül bekannt: • Die einzelnen Bausteine der DNA bestehen aus jeweils einem Phosphatrest, einem Zucker und einer basischen Stickstoffverbindung. • Zucker- und Phosphatmoleküle bilden im Wechsel eine Kette, und die Basen hängen irgendwie dieser Kette an. • Der Amerikaner und Nobelpreisträger Linus Pauling, damals die Koryphäe der Biochemie, hatte in den späten 1940er-Jahren für bestimmte Proteine ein dreidimensionales Modell entwickelt, in der sich die Bausteine des Proteins zu einer Struktur aneinanderreihen, die einer Wendeltreppe ähnelt. Eine solche Helix zog Pauling auch für das DNAMolekül in Betracht. • Einige Wissenschaftler vermuteten eine Doppel- oder sogar eine Dreifachhelix. 1950 stellt der Schweizer Chemiker Rudolf Signer erstmals hochreine DNA her und schickt Proben zur weiteren Untersuchung an verschiedene Wissenschaftler. Einer von ihnen ist Maurice Wilkins, der am King’s College arbeitet. Zusammen mit seinem Doktoranden Raymond Gosling gelingt es ihm, per Röntgenstrukturanalyse ein Beugungsbild der DNA-Probe in recht guter Qualität zu erstellen. Sein Vorgesetzter John Randall ist hocherfreut, dass Rosalind Franklin bald zum Team stoßen wird, denn ihr werden sicher noch bessere Aufnahmen gelingen. Rosalind Franklin trifft im Januar 1951 am King’s College ein. Doch schnell muss sie feststellen, dass Wissenschaftlerinnen nicht als gleichwertige Kolleginnen akzeptiert werden. Das zeigt sich schon daran, dass ihr als Frau der Zutritt zu dem Speisesaal verwehrt ist, in dem alle anderen höherrangigen Wissenschaftler miteinander verkehren. Leider ist John Randall als Chef nicht klar in seiner Kommunikation. Anders ist kaum zu erklären, dass Maurice Wilkins fest davon überzeugt ist, Franklin käme nicht als seine gleichgestellte Kollegin, sondern als seine Assistentin an das College. Er ist alles andere als begeistert, dass Randall den
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Doktoranden Gosling beauftragt, nun nicht mehr ihn, sondern Franklin bei ihren Untersuchungen zu unterstützen. Da Franklin nicht gewillt ist, sich unterzuordnen, und Randall auch kein Machtwort spricht, geraten Franklin und Wilkins immer wieder aneinander. Bald wechseln die beiden kaum noch ein Wort miteinander. Später beschreibt James Watson in seinem Buch Die Doppelhelix die Situation so: „Maurice [Wilkins], ein Anfänger auf dem Gebiet der Röntgenbeugung, wollte professionelle Hilfe und hoffte, dass Rosy, eine geübte Kristallografin, seine Forschung beschleunigen könnte. Rosy sah die Situation jedoch nicht so. Sie machte geltend, sie habe die DNA für ihr eigenes Problem erhalten und dass sie sich nicht als Assistentin von Maurice betrachten würde. […] Offensichtlich musste Rosy gehen oder in ihre Schranken verwiesen werden.“2
Diese Stelle ist gleich zweifach interessant: Zum einen scheint der Gebrauch des Namens „Rosy“ für Rosalind Franklin eine sehr überhebliche Komponente zu besitzen (auch wenn Wilkins ebenfalls mit dem Vornamen genannt wird). Vor allem aber beschreibt sogar Watson, also der Mann, der nie zugegeben hat, wie wichtig der Beitrag Franklins für seinen Erfolg gewesen war, unmissverständlich, wer am King’s College der Experte und wer der Anfänger in der Röntgenkristallografie war. ***
Rosalind Franklin verfügt in ihrem Forschungsfeld über deutlich mehr Fachwissen als ihre männlichen Kollegen. Da es sich für sie als unmöglich herausgestellt hat, mit Wilkins im Team zu arbeiten, meidet sie ihn. Für ihre Experimente, die sie meist mit Gosling gemeinsam durchführt, verwendet sie eine neue, von Wilkins in Auftrag gegebene Feinfokus-Röntgenröhre sowie eine Mikrokamera, die sie selbst sorgfältig verfeinert und justiert. Eine ihrer entscheidenden Neuerungen ist die Herstellung einer Kammer, in der sie die Luftfeuchtigkeit steuern kann. Mit diesem Versuchsaufbau gelingen ihr weit bessere Aufnahmen als die, die Wilkins mit Gosling gemacht hatte. Einen Großteil ihrer Zeit verbringt Franklin damit, bestimmte technische Probleme zu lösen und so die Genauigkeit der Bilder zu erhöhen.
2 James Watson, Die Doppelhelix: Ein persönlicher Bericht über die Entdeckung der DNS-Struktur, Rowohlt (1971), S. 16 und 17.
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Im Frühjahr 1952 nimmt Gosling mit Franklins Apparatur und Verfahren das Foto mit der Nummer 51 auf, das entscheidende Informationen zur Bestimmung der DNA-Struktur enthält. Zunächst scheint das Foto in die Irre zu führen. Die DNA zeigt sich als eine Doppelhelix! Doch gegen diese Variante gibt es einige Bedenken: • Eine Doppelhelix wäre chemisch nicht stabil. • Eine so komplizierte Struktur könnte sich im Prozess der Zellteilung nicht auseinanderzwirbeln. • Sie könnte sich damit kaum selbst kopieren. Trotzdem vertraut Franklin ihren Aufnahmen. Im November 1952 stellt sie in London ihre neusten Röntgenbilder und auch ihre Annahme vor, dass es sich bei der DNA um eine Doppelhelix handeln müsse. Im Auditorium sitzt der 24-jährige James Watson. Zusammen mit dem zwölf Jahre älteren Francis Crick arbeitet er im knapp 100 km entfernten Cambridge ebenfalls mit Hochdruck an der Entschlüsselung der DNA-Struktur. Sie setzen dabei eher auf den Versuch-und-Irrtum-Ansatz, indem sie mit Modellen aus Kugeln und Stäbchen nach stabilen Molekülvarianten suchen. Sich mit den Erkenntnissen anderer Wissenschaftler auseinanderzusetzen, ist weniger ihr Ding. Sie übersehen zum Beispiel eine Veröffentlichung, die der DNAForschung einen wichtigen Impuls verleiht: Der Chemiker Erwin Chargaff hatte entdeckt, dass in der DNA jedes untersuchten Lebewesens die Mengen an den Basen Adenin und Thymin sowie Cytosin und Guanin gleich sind. Erst mit einiger Verspätung geht Watson und Crick auf, dass Chargaff eines ihrer Probleme längst gelöst hat. Ein Treffen der drei fällt nicht zum Vorteil des Forscherteams Watson und Crick aus – Chargaff hält die beiden für ignorante Anfänger und „wissenschaftliche Clowns“. Zu einem ähnlichen Schluss kommt Rosalind Franklin, als sie kurze Zeit nach ihrem Vortrag von Watson und Crick nach Cambridge eingeladen wird; sie soll das neueste Modell des Duos anschauen. Franklin erkennt auf den ersten Blick, dass dieser Vorschlag nichts mit ihren Forschungsergebnissen zu tun hat: Watson und Crick haben eine Dreifachhelix mit nach außen gerichteten Stickstoffbasen gebaut. Watson muss zugeben, dass er einiges aus ihrem Vortrag nicht verstanden und – peinlicher noch – sich einige Details falsch notiert hat. Er blamiert sich an diesem Tag bis auf die Knochen. Doch dieser Rückschlag bringt das Duo nicht davon ab weiterzuforschen. Franklin ist verärgert, dass sie wegen so eines Missgriffs eigens nach Cambridge gebeten wurde. Sie ist nun nicht mehr gewillt, mit Watson
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und Crick ihre Forschungsergebnisse zu teilen, denn den Ansatz der beiden, ohne ausreichende Datenbasis DNA-Modelle zu basteln, findet sie fragwürdig. Franklin setzt allein auf nachprüfbare experimentelle Daten. Ihr Doktorand Gosling zitierte sie einmal: „Wir werden nicht spekulieren, wir werden abwarten, wir werden uns von den Flecken auf diesem Foto sagen lassen, was die [DNA-]Struktur ist.“3
Franklin arbeitet hauptsächlich an der langwierigen und arbeitsintensiven Aufgabe, das Phasenproblem in den Griff zu bekommen, denn bei so kleinen Strukturen wie den DNA-Bausteinen ist es von Belang, in welcher Phase sich die Röntgenwellen befinden, wenn sie auf der zu messenden Struktur auftreffen. Durch den Vergleich sehr vieler Fotos mit teilweise widersprüchlichen Daten kann sie die Phasenverschiebungen herausrechnen. Im Januar 1953 hat Franklin die Informationen in Einklang gebracht und kann nun den Beweis für ihre Vermutung liefern, dass die DNA aus einer Doppelhelix aufgebaut ist und die Basen nach innen weisen. In der Zwischenzeit haben Watson und Crick mit ihrem Baukasten weitergearbeitet. Am 30. Januar 1953 erfahren sie durch eine Indiskretion, dass der große Linus Pauling einen Artikel veröffentlichen wird, in dem die DNA als Doppelhelix mit den Stickstoffbasen auf der Außenseite des Moleküls vorgestellt wird. Watson und Crick sind geschockt; Pauling ist ihnen beim Wettlauf um die Entschlüsselung der DNA-Struktur zuvorgekommen und wird als Entdecker der DNA-Struktur in die Geschichte eingehen! Sie sehen nur noch eine Chance, doch noch zum Zug zu kommen: Paulings Lösung ist nicht die richtige, und Franklin hat recht, wenn sie von Basen an der Innenseite der Helix ausgeht. Nun wird Wissenschaftsgeschichte endgültig zum Krimi. Noch am selbenTag reist Watson mit einem Vorabdruck von Linus Paulings Artikel zum King’s College. Er will Rosalind Franklin überreden, trotz ihrer Differenzen mit ihnen zusammenzuarbeiten. Doch Franklin lehnt ab. Als Watson andeutet, Franklin könne ihre eigenen Daten nicht richtig interpretieren, eskaliert die Situation. Watson verlässt wütend Franklins Labor und stößt auf Wilkins, der selbst schon oft mit Franklin aneinandergeraten ist. Wilkins ergreift Partei für die Wissenschaftler aus Cambridge und entwendet Franklins Forschungsergebnisse aus ihrem Büro. Darunter befinden 3 Samuel Schindler, Model, Theory, and Evidence in the Discovery of the DNA Structure, The British Journal for the Philosophy of Science, published by: The University of Chicago Press, 59, (2008) S. 629; nachzulesen unter www.jstor.org/stable/40072305.
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sich Unterlagen, die beweisen, dass die Basen – so wie von Franklin schon länger vermutet – auf der Innenseite der Helix liegen. Pauling hat also tatsächlich einen Fehler gemacht, und Watson und Crick sind wieder im Rennen. Später leugnen Watson und Crick, dass sie die entscheidenden Notizen Franklins gesehen haben. Erst 15 Jahre später räumt Watson in seinem Buch Die Doppelhelix ein, Franklins Daten auf zweifelhaftem Wege beschafft und gegen ihren ausdrücklichen Willen verwendet zu haben: „Ich wußte von ihren Unterlagen mehr, als sie dachte.“4
Dank Franklins Information stellen Watson und Crick das Modell, auf dem sich ihr Ruhm gründet, innerhalb von fünf Wochen fertig. Am 7. März 1953 ist es so weit: Das Modell besteht aus zwei Helixsträngen aus Zucker-Phosphat-Ketten, in deren Innerem die Stickstoffbasen gegenüberliegend miteinander verbunden sind. Diese Bindung aus relativ lockeren Wasserstoffbrücken kann beim Reproduktionsprozess der DNA aufbrechen. Das gesamte Molekül öffnet sich wie ein Reißverschluss, sodass die zuvor innen liegenden Stickstoffbasen nun frei zugänglich sind und durch ihre Gegenstücke wieder ergänzt werden können. Auf diese Weise entstehen aus einem Doppelstrang zwei Doppelstränge, die auf die Tochterzellen verteilt werden können. Das Modell von Watson und Crick ist wunderbar einfach und zugleich einleuchtend – endlich ist die Struktur gefunden, die alle Informationen zu einem in sich konsistenten Mechanismus vereint! Trotzdem ist Franklin dem Forscherduo immer noch einen Schritt voraus. Nachdem sie ihre Aufnahmen akribisch ausgewertet hat und sie sich ihrer Sache sehr sicher ist, verfasst sie drei Manuskripte: • Eines erreicht die Zeitschrift Acta Crystallographica in Kopenhagen am 6. März 1953 – am Tag bevor Crick und Watson ihr endgültiges Modell der DNA fertigstellen. Franklin kann also unmöglich von deren Ergebnissen gewusst haben, als sie ihren Artikel schrieb. • Ein weiterer Artikel Franklins mit Gosling als Koautor geht kurz darauf an die renommierte Zeitschrift Nature. • Am 17. März 1953 ergänzt sie den Nature-Artikel durch einen dritten Artikel, in dem sie die Doppelhelixstruktur noch einmal genauer darstellt. Immer noch ist sie Watson und Crick voraus, denn die beiden schicken 4 James
Watson, The Double Helix: Ein persönlicher Bericht über die Entdeckung der DNS-Struktur, Rowohlt (1971), S. 165.
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erst knappe zwei Wochen später, Ende März 1953, ihr Manuskript an Nature. Die Veröffentlichungen von Franklin und Gosling sowie von Watson und Crick erscheinen am 25. April 1953 in derselben Nature-Ausgabe.5 Crick und Watson räumen in einer Fußnote ein, „durch die allgemeine Kenntnis des unveröffentlichten Beitrags von Franklin und Gosling angeregt worden zu sein“. Dies ist eine starke Untertreibung, denn tatsächlich stützt sich ihr Modell dank der von Wilkins entwendeten Daten sehr stark auf die Erkenntnisse Franklins. Infolge einer Absprache der Zeitschrift Nature und den beiden Laborleitern in London und Cambridge wird Franklins und Goslings Artikel im Nature-Heft hinter dem von Watson und Crick positioniert. Diese Reihenfolge verstärkt den Eindruck, dass Franklins Röntgenkristallografie nur der Unterstützung der Arbeit von Crick und Watson diente. ***
Lange Zeit wurde Rosalind Franklin als eine verbissene und aggressive Einzelkämpferin dargestellt, die unkollegial ihre Forschungsergebnisse nicht teilen wollte. Aber war sie wirklich nicht teamfähig? Oder hatte es doch an ihren männlichen Kollegen gelegen, dass sie die Früchte ihrer Leistung nicht bereitwillig zur Verfügung stellte und damit selbstbewusst den einzigen Ausweg wählte, nicht untergebuttert zu werden? Mitte März 1953 ist ihr Forschungsstipendium ausgelaufen, und wie schon seit Längerem geplant wechselt Rosalind Franklin vom King’s College, wo ihre Forschung ein täglicher Kampf war, an das Birkbeck College der Londoner Universität. In einem Brief an ihre Freundin Adrienne Weill in Paris beschreibt sie diesen Umzug so: „Was das Labor betrifft, so werde ich von einem Palast in die Slums ziehen, aber ich bin sicher, dass ich Birkbeck trotzdem angenehmer finden werde.“6
Am Birkbeck College darf sie wieder zeigen, dass sie durchaus die Kooperation mit anderen Wissenschaftlern schätzt. Hier trifft sie unter
5 James Watson, Francis Crick, A Structure for Deoxyribose Nucleic Acid; Nature, 171 (25. April 1953) 737–738. Rosalind Franklin, Raymond Gosling, Molecular Configuration in Sodium Thymonucleate, Nature, 171 (25. April 1953), S. 740–741. 6 Brenda Maddox, Rosalind Franklin: The Dark Lady of DNA, HarperCollins, London (2002).
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anderem auf Aaron Klug, der am Trinity College in Cambridge gerade promoviert hat. Mit ihm verbindet sie bald eine erfolgreiche Zusammenarbeit und auch eine tiefe Freundschaft. In Birkbeck werden ihre Leistungen auch wertgeschätzt: Ende 1954 bietet der Lehrstuhlinhaber für Physik Rosalind Franklin an, eine eigene Forschungsgruppe zu leiten. Mit dem Wechsel vom King’s College zum Birkbeck College hat Franklin mit der DNA-Forschung abgeschlossen. Sie wendet sich der Ribonukleinsäure (RNA) zu, einem Molekül, das für das Verständnis des Lebens ebenso wichtig ist wie die DNA. Ihr Forschungsobjekt ist der Tabakmosaikvirus (TMV), der sich aufgrund seines regelmäßigen Aufbaus sehr gut für die Röntgenkristallografie eignet. Franklin zeigt, dass virale RNA nicht wie die DNA eine Doppelhelix, sondern eine einfache Helix ist. Im Jahr 1956 reist die nun 36-jährige Franklin mit Kollegen in die USA, wo sie Wissenschaftler der University of California in Berkeley besucht. Sie schlagen Franklin vor, das Poliovirus zu erforschen. Dieses hochansteckende Virus ist für die Kinderlähmung verantwortlich, die viele Jahrhunderte lang das Leben vieler Kinder gekostet hat und gegen das erst im Jahr zuvor ein Impfstoff auf den Markt gekommen ist. Franklin nimmt die Anregung auf und beantragt 1957 entsprechende Forschungsgelder. Das Gesundheitssystem der USA bewilligt tatsächlich für drei Jahre die größte Summe, die Birkbeck je erhalten hatte. Gemeinsam mit ihrem Team beginnt Franklin, die RNA-Struktur des Poliovirus in kristallinem Zustand zu entschlüsseln. Sie möchte auch gerne mit lebenden statt mit abgetöteten Polioviren arbeiten. Aufgrund der Gefährlichkeit des Virus werden gegen diesen Wunsch ernsthafte Bedenken geäußert, doch im Juli 1957 erhält Franklin grünes Licht. Die Reise in die USA im Jahr zuvor stand aber nicht nur unter einem guten Stern. Damals wurde offenbar, dass Franklin an Eierstockkrebs erkrankt war, ausgelöst wahrscheinlich durch den fortgesetzten Umgang mit Röntgenstrahlung. Schon nach einem Jahr ist ihre Arbeitskraft so stark eingeschränkt, dass Aaron Klug und der Student John Finch ihre Arbeit vollenden müssen. Rosalind Franklin stirbt am 16. April 1958 in Chelsea mit gerade einmal 37 Jahren. Wie sehr sie von ihren Birkbeck-Kollegen geschätzt wurde, zeigt der Artikel über die Kristallstruktur des Poliovirus, der nach ihrem Tod von Klug und Finch veröffentlicht wird. Er ist respektvoll ihrem Andenken gewidmet. ***
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Rosalind Franklin war eine hervorragende Forscherin, die ihre Wissenschaft nach allen Regeln der Kunst betrieb. Sie war teamfähig und als Expertin weltweit anerkannt. Eines jedoch war sie nicht: nachtragend. Der Vertrauensbruch, den der Diebstahl ihrer Unterlagen aus ihrem Labor bedeutete, ließ sie nicht verbittern. Bereitwillig erkannte sie Cricks und Watsons bald weltberühmtes DNA-Modell als deren Leistung an. Sie freundete sich später sogar mit Francis Crick und dessen Frau an. Als Franklin später an Krebs erkrankte, verbrachte sie nach einigen Krankenhausaufenthalten die Zeit der Genesung mit dem Ehepaar Crick. James Watson war übrigens weit weniger empathisch; in den 2000er-Jahren machte er negative Schlagzeilen durch untragbare rassistische und antifeministische Äußerungen, die zur Aberkennung einiger seiner Ehrentitel führten. Zu Franklins Lebzeiten galt die DNA-Struktur als entschlüsselt, nicht aber die genauen Prozesse, mit denen dieses Molekül die Erbinformation in die Synthese bestimmter Proteine übersetzt. Zum Beispiel war noch nicht bekannt, dass jede der 21 Aminosäuren, aus denen Proteine aufgebaut sind, von einem ganz bestimmten Basentriplett codiert wird. Erst 1961 konnten Crick und seine Kollegen diesen Mechanismus beweisen. Wäre Franklin noch am Leben gewesen, wäre ihnen das mit großer Wahrscheinlichkeit schneller gelungen. Auch dass James Watson, Francis Crick und Maurice Wilkins 1962 für die Entschlüsselung der DNA-Struktur den Nobelpreis für Medizin/Physiologie erhalten, erlebte Rosalind Franklin nicht mehr. In den zu diesem Anlass gehaltenen Reden erwähnten Watson, Crick und Wilkins ihre ehemalige Kollegin und ihre entscheidenden Aufnahmen mit keinem Wort. Ihr Beitrag wurde vergessen; in der wissenschaftlichen Literatur geschah das, wogegen Franklin sich so vehement gewehrt hatte: Sie wurde als Assistentin Wilkins’ bezeichnet. Erst Jahrzehnte später wurden die zweifelhaften Umstände bekannt, unter denen Wilkins sich der Forschungsergebnisse Rosalind Franklins bemächtigt hatte und unter denen es Watson und Crick möglich gewesen war, ihr DNA-Modell fertigzustellen. Heute ist unbestritten, dass Franklin entscheidend zur Entdeckung der DNA-Struktur beitrug und dass der Diebstahl noch nicht publizierter Forschungsergebnisse die Regeln der guten wissenschaftlichen Praxis grob verletzte. Beteiligt an dieser Richtigstellung war Aaron Klug, der mit Franklin am Birkbeck College zusammengearbeitet hatte. Ihm war es wichtig, Rosalind Franklin die ihr gebührende Anerkennung zu verschaffen. Er untersuchte Franklins Dokumente aus der Zeit der DNA-Entschlüsselung und kam zu dem Schluss, dass sie tatsächlich noch vor Watson und Crick alle
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Informationen über die DNA-Struktur besessen hatte. Anders als Watson und Crick, die – abgesehen von den gestohlenen Informationen – ihr Modell allein auf theoretischem Wege erarbeitet hatten, verfügte Franklin darüber hinaus auch über den Beweis in Form von experimentellen Daten. Aaron Klug erhielt 1982 den Nobelpreis für Chemie für seine Entwicklung der kristallografischen Elektronenmikroskopie und der mit dieser Methode gelungenen Aufklärung der Strukturen biologisch wichtiger Nukleinsäure-Protein-Komplexe. Genau dies war das Forschungsgebiet, das Franklin ihm fast ein Vierteljahrhundert zuvor vorgeschlagen hatte und an dem beide einige Zeit gearbeitet hatten. Anders als Watson und Crick erinnerte er in seiner Nobelpreisrede in großer Dankbarkeit an Rosalind Franklin und an den Einfluss, den ihre Forschung und ihre Ratschläge auf sein Leben gehabt hatten.7 Er äußerte die naheliegende Vermutung, dass seine Mentorin, wäre ihr ein längeres Leben vergönnt gewesen, nicht nur den Nobelpreis für die Entschlüsselung der DNA hätte bekommen müssen, sondern wohl auch Mitpreisträgerin seines Nobelpreises gewesen wäre. Auch viele andere Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen sind der Meinung, dass Rosalind Franklin – so wie nur Marie Curie vor ihr – zwei Nobelpreise verdient hat und sie vielleicht auch bekommen hätte, wenn sie nicht so früh verstorben wäre.
7 Verfügbar
unter www.nobelprize.org/uploads/2018/06/klug-lecture.pdf.
15 Jane Goodall (*1934) Die große Dame der Primatenforschung
Jane Goodall ist die erste der in diesem Buch vorgestellten großen Wissenschaftlerinnen, die der Leser Anfang der 2020er-Jahre noch in Aktion erleben konnte. Geboren wurde sie am 3. April 1934, im selben Jahr, in dem Marie Curie starb, und mit über 80 Jahren ging sie immer noch auf Vortragsreisen. 30 Jahre erforschte die Primatologin und Anthropologin in Afrika das Verhalten wild lebender Schimpansen. Ihre Erkenntnisse zwangen die Menschheit, ihr Verhältnis zur Tierwelt neu zu überdenken. Über 40 Filme und zahlreiche Reportagen haben den Namen Jane Goodall weltberühmt gemacht. Warum gerade Schimpansen? Diese Frage hat viele Antworten. Eine davon ist der Stofftieraffe namens Jubilee, den sie als kleines Kind von ihrem Vater, einem Ingenieur aus wohlhabender Familie, geschenkt bekam. Das heißgeliebte Stofftier existiert heute noch und hat seinen Platz auf einer Kommode in Jane Goodalls Londoner Wohnung. Ein paar Jahre später beflügelte ein weiterer Mann Goodalls Traum, nach Afrika zu gehen und unter den Affen zu leben: Tarzan. „Ich war zehn Jahre alt, als ich in einem Antiquariat ein kleines Buch fand. Ich habe es immer noch. Ich hatte gerade genug Geld, um es zu kaufen. Ich nahm es mit nach Hause und las es von vorne bis hinten durch. Und dieses Buch war ‚Tarzan der Affe‘. Nun, damals gab es noch kein Fernsehen, und ich ver-
© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 L. Jaeger, Geniale Frauen in der Wissenschaft, https://doi.org/10.1007/978-3-662-66528-2_15
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liebte mich leidenschaftlich in den Herrn des Dschungels. Und was hat Tarzan getan? Er heiratete die falsche Jane.“1
Auch die Geschichte von Doktor Doolittle, der mit Tieren sprechen kann, begeistert sie. Zu der Faszination, die die Tierwelt auf sie ausübt, kommt ihr Forschungsdrang, den sie schon als kleines Kind zeigt. Als sie vier Jahre alt ist, macht die Familie auf dem Bauernhof ihrer Großmutter Ferien. Eines Tages ist die kleine Jane stundenlang unauffindbar. Erst in der Nacht kann die Familie Entwarnung geben und die alarmierte Polizei nach Hause schicken. Jane hatte sich im Hühnerstall versteckt, weil sie beobachten wollte, wie eine Henne ihr Ei legt. Zu ihrem Glück verkauft die Familie ein Jahr später – der Beginn des Zweiten Weltkriegs steht kurz bevor – ihr Londoner Haus und zieht nach ein paar Zwischenstationen aufs Land. Jane erforscht hier das Verhalten einheimischer Vögel und anderer Tiere, bald ist sie groß genug, um ihre Beobachtungen in Notizen und Skizzen festzuhalten. Jahrzehnte später erzählt sie: „Ich wollte mit wilden Tieren leben und Bücher über sie schreiben. Aber die Leute lachten und sagten: ‚Wie kannst du das tun? Afrika ist weit weg, wir wissen nicht viel darüber. Du hast kein Geld in deiner Familie. Du bist doch nur ein Mädchen.‘“2
Nur eine Person ermutigt Jane, ihre Träume wahr zu machen: ihre Mutter, die Autorin von Biografien und Novellen Margaret Goodall. Sie reagiert gelassen auf Regenwürmer im Bett ihrer Tochter und nächtliche Eskapaden im Hühnerstall: „Jane, wenn du wirklich etwas willst und wenn du hart arbeitest, die Chancen nutzt und niemals aufgibst, wirst du irgendwie einen Weg finden.“3
Als Jane zwölf Jahre alt ist, lassen sich ihre Eltern scheiden. Die Familie kann es sich nicht mehr leisten, Jane nach Abschluss der Schule ein Studium zu finanzieren. Mit 18 Jahren beginnt Jane Goodall eine Ausbildung zur Sekretärin und arbeitet nach Abschluss der Prüfungen bei verschiedenen Arbeitgebern. Eine Zeitlang ist sie an der University of Oxford für Schreib1 Nachzulesen
unter www.britannica.com/explore/savingearth/the-right-jane. McDevitt, „It’s been a long journey“, McGill Reporter vom 1. Oktober 2019, nachzulesen unter https://reporter.mcgill.ca/its-been-a-long-journey-jane-goodall-tells-beatty-lecture-audience/. 3 Biography, Jane Goodall Institute UK: https://www.janegoodall.org.uk/jane-goodall/biography. 2 Neale
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arbeiten und Aktenablage zuständig. Hier ist sie ihrem Traum, zu studieren und als Wissenschaftlerin nach Afrika zu gehen, ganz nahe – und gleichzeitig unendlich fern. Jane Goodall ist 23 Jahre alt, als ein Glücksfall ihrem Leben eine entscheidende Wendung verleiht und sie vor dem Schicksal so vieler anderer Menschen bewahrt, die aufgrund ihres Geschlechts, fehlender finanzieller Mittel und anderer Umstände keine Chance haben, ihr Potenzial zu entfalten. ***
1957 lädt eine ehemalige Schulfreundin Jane Goodall ein, die Farm ihrer Familie im Hochland von Kenia zu besuchen, das damals noch englische Kolonie ist. Um die ersehnte Reise nach Afrika zu finanzieren, arbeitet Goodall zusätzlich zu ihrem Vollzeitjob als Sekretärin abends als Kellnerin. Nach fünf Monaten hat sie genug Geld für die Schiffsreise nach Mombasa, der größten Hafenstadt Kenias, gespart. Nach Ende der Ferien auf der Farm ihrer Freundin tritt sie in Nairobi, der späteren Hauptstadt Kenias, eine Stelle als Sekretärin an, die sie schon von England aus organisiert hatte. Afrika! Jane Goodall hat einen Teil ihres Traums verwirklicht. Doch sie möchte mehr, als ein Leben lang als Sekretärin zu arbeiten. Auf Anraten einer Zufallsbekanntschaft nimmt sie Kontakt zum Archäologen und Paläontologen Louis Leakey an, der in Nairobi am Museum für Naturgeschichte arbeitet. Leakey ist ein Experte für die Tierwelt Afrikas, seine Entdeckungen von fossilen Vorfahren des Menschen haben ihn weltberühmt gemacht. Aus den versteinerten Knochen kann er viel über Körperbau und Lebensweise der frühen Menschen herauslesen. Aber wie haben sie sich verhalten? Abdrücke im Stein lassen kaum Rückschlüsse darauf zu, wie sie in der Gruppe interagiert haben. Leakey will durch das Studium der modernen Menschenaffen – Schimpansen der Subsahara, Gorillas Zentralafrikas und Orang-Utans Südostasiens – Erkenntnisse über das Verhalten der ausgestorbenen Vorfahren des Menschen gewinnen. Sein besonderes Interesse gilt den Schimpansen, denn sie sind der Gattung Homo am nächsten verwandt, und auch ihr Lebensraum entspricht ungefähr dem der frühen Menschen. Die bisherigen Forschungsreisen mit vielen Teilnehmern waren Misserfolge gewesen. Das Verhalten der Tiere war offensichtlich beeinflusst worden, und die Forscher hatten auch zu viel wenig Zeit im Feld verbracht, um das Vertrauen der Tiere zu gewinnen und Einblicke in ihr natürliches Verhalten zu erhalten. Um diese methodischen Fehler zu eliminieren, suchte Leakey bereits seit 1946 nach einem wissenschaftlich ausgebildeten
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Primatenforscher, der bereit war, allein auf sich gestellt einen langfristigen Forschungsaufenthalt in der Wildnis zu ertragen. Nach zehn Jahren vergeblicher Suche war Leakey bereit, seine Ansprüche an die formelle Ausbildung so einer Person herunterzuschrauben. 1956 schickte er mangels Alternative seine Sekretärin Rosalie Osborn zum Mount Muhabura in Uganda, wo sie Gorillas beobachten sollte. Doch Osborn kehrte nach vier Monaten zurück und verließ Afrika gleich darauf in Richtung England. Leakey erwog, die Aufgabe selbst zu übernehmen – und genau in diesem Moment erschien die enthusiastische Jane Goodall auf der Bildfläche. ***
Leakey führt Goodall durch das Museum und testet ihr Wissen. Er ist von der jungen Frau begeistert und lädt sie ein, ihn und seine Frau und Mitforscherin, die britische Paläoanthropologin Mary Leakey, als Assistentin zur Olduvai-Schlucht im heutigen Tansania zu begleiten. Dort, wo die Leakeys ihre bedeutendsten Entdeckungen gemacht haben, bestätigt sich der erste Eindruck Leakeys: Goodall ist eine furchtlose, hart arbeitende junge Frau mit einem guten Blick für Details. Letzteres ist wohl ihrer Unfähigkeit zu verdanken, sich Gesichter zu merken, und dem unbewussten Versuch, diesen Nachteil durch eine besondere Aufmerksamkeit zu kompensieren. Dass ihre Schwäche einen Namen hat, Prosopagnosie, erfährt Goodall erst Jahrzehnte später von dem berühmten Neurologen Oliver Sacks – der ebenfalls daran leidet. Goodall ist also genau die geeignete Kandidatin für die Erforschung der Schimpansen. Dann geschieht etwas, das ihre Beziehung leicht hätte zerstören können: 1959 verliebt sich Louis Leakey in die mehr als 30 Jahre jüngere Goodall, aber diese lehnt eine Affäre entschieden ab. Den beiden gelingt es, ihre Freundschaft zu bewahren und ihre Zusammenarbeit wieder in sichere Gewässer zu steuern. Leakeys Vorhaben, Jane Goodall mit der Erforschung der Schimpansen zu betrauen, stößt in der Fachwelt auf Unverständnis und Ablehnung. Goodall hat nie studiert. Und wie soll eine Frau allein in der Wildnis zurechtkommen? Doch Leakey vertraut auf die Motivation und die Intelligenz Goodalls. Er schickt sie Ende 1958 zurück nach England, wo sie über ein Jahr lang am Londoner Zoo arbeitet und in ihrer Freizeit das Verhalten der gefangenen Schimpansen beobachtet. Dies ist ihr erster Schritt auf ihrem Weg zur Affenforscherin. Später wird sie die erste der drei später „Trimates“ oder auch „Leakeys Engel“ genannten Frauen, die das Verhalten von Menschenaffen in deren natürlicher Umgebung studieren:
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• Jane Goodall (*1934) erforschte ab Juli 1960 drei Jahrzehnte lang das Verhalten von Schimpansen in freier Wildbahn. Sie war der erste Mensch, der bei Menschenaffen Verhaltensweisen wie persönliche Zuneigung und bewaffnete Konflikte nachwies. Auch heute noch leben und arbeiten Forscher verschiedener Disziplinen und Nationalitäten mit den direkten Nachfahren der Schimpansen, deren Verhalten Jane Goodall erstmals untersuchte. • Die US-Amerikanerin Dian Fossey (1932–1985) verbrachte ab 1966 20 Jahre im zentralafrikanischen Ruanda, um das Verhalten von Gorillas zu erforschen. Sie setzte sich vehement für den Schutz dieser Menschenaffenart ein und kämpfte mit harten Bandagen gegen die Wilderei in deren Lebensräumen. Im Dezember 1985 wurde sie in einem abgelegenen Camp ermordet. • Die Kanadierin Biruté Galdikas (*1946) studierte ab 1971 über 40 Jahre Orang-Utans in Borneo und setzt sich bis heute für die Erhaltung ihres durch Brandrodung, Holzwirtschaft und Rohstoffabbau stark gefährdeten Lebensraums ein. In ihren Memoiren Reflections of Eden beschreibt sie ihre Arbeit, in Gefangenschaft geratene Orang-Utans zu befreien und wieder in den Regenwald auszuwildern. Das Vorbild dieser drei Frauen hat dazu geführt, dass die Primatenforschung, die in der 1950er-Jahren noch ein von Männern dominiertes Forschungsgebiet war, heute zu nahezu gleichen Teilen von Männern und Frauen geleistet wird. ***
1960 ist es endlich so weit. Die nun 26-jährige Jane Goodall bricht in den Urwald auf. Ziel ist das Gombe-Reservat am Ostufer des Tanganjikasees, knapp 1000 km südwestlich von Nairobi. Dort im Regenwald leben etwa 150 Schimpansen in einem etwa 25 km2 großen, unwegsamen, von Steilhängen geprägten Gebiet. Jane Goodalls Vorhaben ist nicht ungefährlich, und die Verantwortlichen in der britischen Verwaltung bestehen darauf, dass sie nicht alleine im Dschungel kampiert. Eine Begleitung ist schnell gefunden: Ihre Mutter, die sie immer ermutigt und unterstützt hat, lässt sich in den ersten drei Monaten des Forschungsaufenthaltes auf dieses Abenteuer ein. In Gombe zahlt es sich aus, dass Jane Goodall nicht nur zielstrebig, sondern auch geduldig ist, denn es dauert viele Wochen, bis die Schimpansen nicht sofort verschwinden, wenn sie sich nähert. Sogar noch
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nach fast einem Jahr lassen die meisten Affen sie nicht näher als 10 m herankommen. Erst nach zwei Jahren täglicher Beobachtung und geduldiger Annäherungsversuche ist Goodall von der Schimpansengruppe akzeptiert und kann sich frei unter ihnen bewegen. Mit der Zeit gelingen ihr revolutionäre Einblicke in das Verhalten der Schimpansen: • Lange Zeit dachte man, dass nur der Mensch klug genug sei, um Werkzeuge herzustellen und zu nutzen; diese Fähigkeit wurde sogar als eindeutige Trennlinie zwischen Mensch und Tier gesehen. Doch Goodall beobachtet einen Schimpansen, der mit einem Grashalm in einem verrottenden Baumstamm nach Ameisen angelt. Später knickt er sogar einen Zweig von einem Busch, entfernt dessen Blätter und benutzt das Stöckchen als Angel – damit hat er ein Werkzeug nicht nur benutzt, sondern auch hergestellt. Louis Leakey ist begeistert und schreibt ihr in einem Telegramm: „Wir müssen jetzt Werkzeuge neu definieren, den Menschen neu definieren – oder Schimpansen als Menschen akzeptieren!“4
Goodalls Entdeckung lässt die Dämme brechen. In den darauffolgenden Jahren werden viele weitere Tierarten identifiziert, die Werkzeuge nutzen. Bei einigen war das Verhalten schon lange bekannt, zum Beispiel bei Seeottern, die Muscheln mit Steinen aufbrechen, um deren Inneres fressen zu können. Man war nur nicht auf die Idee gekommen, dieses Verhalten als das zu sehen, was es ist: ein Gebrauch von Werkzeug. • Goodall sieht einen Schimpansen an einem Knochen nagen. Dass Menschenaffen Fleisch fressen, ist den Experten völlig unbekannt. Die Tiere gelten als reine Vegetarier. • Goodall entdeckt sogar, dass Schimpansen gezielt auf Jagd gehen. Sie beobachtet, wie eine Jagdgruppe einen Stummelschwanzaffen von möglichen Fluchtwegen abschneiden und ihn töten. Sein Fleisch wird innerhalb der Gruppe geteilt. Jahre später weisen andere Forscher nach, dass die Schimpansen von Gombe jedes Jahr bis zu einem Drittel der Stummelschwanzaffenpopulation töten. Später können sie sogar beobachten, dass Schimpansen Stöcke mit ihren Zähnen anspitzen und
4 Jane Goodall, Learning from the chimpanzees: A message humans can understand, Science, 282 (1998) S. 2184–2185.
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sie als Speere gebrauchen, um von den gejagten Affen nicht gebissen zu werden. Die wissenschaftliche Welt ist in Aufruhr. Goodalls Beobachtungen zeigen, dass Schimpansen dem Menschen ähnlicher sind, als man angenommen hatte. Einige Verhaltensforscher monieren, dass Goodall keine ernst zu nehmende Berufskollegin sei. Dass sie den Schimpansen der von ihr beobachteten Gruppe Namen gibt – Flo, Frodo, David Greybeard, Goliath und viele mehr – und diese auch noch in ihren Veröffentlichungen nennt, statt die Affen wie üblich durchzunummerieren, dient ihnen als Beleg für mangelnde Objektivität und unwissenschaftliche Arbeitsweise. 2018 sagte Goodall in einem Interview: „[…] viele glaubten mir damals nicht, weil ich jung war und nie eine Universität besucht hatte.“5
Doch Goodalls Ansatz ist alles andere als sentimental. Sie hat erkannt, dass jeder Schimpanse eine einzigartige Persönlichkeit besitzt, mit individueller Intelligenz und ganz individuellen Charaktereigenschaften. Die einen sind neugieriger und risikobereiter, andere ängstlicher und zurückhaltender. Auch der Grad an Aggressivität, Fürsorge und viele Eigenschaften mehr unterscheiden sich von Affe zu Affe. Das ausgeprägte Sozialverhalten der Schimpansen untereinander ist ebenfalls dem Menschen ähnlicher, als man sich das vorgestellt hat. Goodalls gut dokumentierte Beobachtungen sind eindeutig: • Schimpansen teilen miteinander, helfen einander und zeigen Mitgefühl. Dass ihnen Emotionen wie Freude, Hass und Trauer zugeschrieben werden können, ist damals eine völlig neue Vorstellung. • Schimpansen zeigen Verhaltensweisen wie Umarmungen, Küsse, Schulterklopfen und sogar Kitzeln. • Mütter und ihre Kinder sowie Geschwister entwickeln untereinander tiefe, oft lebenslange Bindungen. Wenn die Mutter stirbt, wird der jüngere Nachwuchs von den älteren Geschwistern adoptiert.
5 Interview
mit Liesa Bauer, veröffentlicht in: Spektrum Kompakt, Ausgabe 50/2019: Be-/Verkannt – Frauen in der Wissenschaft, nachzulesen unter www.spektrum.de/news/jane-goodall-ein-leben-fuer-dieschimpansen/1545469.
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• Haben Waisenkinder keine nahen Verwandten, die sie beschützen, nehmen andere Familien sie auf. • Goodall beobachtet, dass sich der Nachwuchs von besonders aufmerksamen und verspielten Müttern weniger depressiv und aggressiv verhält als die Nachkommen anderer Mütter. Die Vielfalt der menschlichen Verhaltensweisen – von selbstloser Fürsorge bis zu tödlicher Aggression – scheinen also tief in unserem Stammbaum verankert zu sein. Doch Goodalls überraschende Forschungsergebnisse bewirken auch einen unvorhergesehenen Effekt: Die Ähnlichkeit des Verhaltens von Mensch und Schimpanse stellt das Bild vom unüberbrückbaren Graben zwischen ihnen infrage. Der Glaube, der Mensch sei „die Krone der Schöpfung“, war schon mit Darwin ins Wanken geraten. Goodall lässt Mensch und Tier noch näher zusammenrücken. In den frühen 2000erJahren konnte die hohe Übereinstimmung auch auf genetischer Ebene gezeigt werden: Zu 98,5 % sind die Gene von Menschen und Schimpansen dieselben. Auch Goodall selbst muss sich von vermeintlichen Gewissheiten verabschieden. Sie erkennt, dass Schimpansen nicht nur strategisch jagen und töten, sondern dass auch innerhalb von Schimpansengruppen massive Gewalt ausgeübt wird. Zum Beispiel töten dominante Weibchen manchmal die Jungen anderer Weibchen der Gruppe, um ihren Status aufrechtzuerhalten. Goodall wird sogar Zeuge von Kannibalismus. Erneut erweisen sich Schimpansen als dem Menschen näher stehend als gedacht: Beim Wettbewerb um Ressourcen oder unter dem Eindruck von Emotionen wie Eifersucht, Angst und Rachsucht können sie sich ähnlich aggressiv wie Menschen verhalten. Goodall sagt über diese erst relativ spät gemachten Entdeckungen: „Während der ersten zehn Jahre der Studie hatte ich geglaubt, dass die Gombe-Schimpansen größtenteils netter waren als Menschen. Dann fanden wir plötzlich heraus, dass Schimpansen brutal sein konnten – dass sie, wie wir, eine dunkle Seite ihrer Natur hatten.“6
In ihrem Buch Ein Herz für Schimpansen: Meine 30 Jahre am GombeStrom, das sie 1986 veröffentlicht, beschreibt sie die Details des GombeSchimpansen-Krieges von 1974 bis 1978. Dieser gewaltsame Konflikt 6 Jane Goodall, Ein Herz für Schimpansen: Meine 30 Jahre am Gombe-Strom, Rowohlt Taschenbuch, Hamburg (2020); Original: Through A Window: My Thirty Years with the Chimpanzees of Gombe (1986), heute verfügbar bei: Mariner Books (2010).
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war zwischen zwei Schimpansengruppen ausgebrochen, die einst in der Kasakela genannten Gemeinschaft vereinigt waren. Ein Teil dieser Gruppe hatte sich abgespalten und wurde daraufhin in Kahama-Gemeinschaft umbenannt. Die neue Gruppe bestand aus sechs erwachsenen Männchen, drei erwachsenen Weibchen und ihren Jungen. In der ursprünglichen Kasakela-Gruppe verblieben acht erwachsene Männchen, zwölf erwachsene Weibchen und ihre Jungen. Im Verlauf des vierjährigen Konflikts wurden alle männlichen Mitglieder der neuen Kahama-Gemeinschaft getötet, die Gemeinschaft löste sich auf. Die siegreichen Kasakelas dehnten ihr Gebiet aus, wurden aber später von einer anderen Schimpansengemeinschaft wieder zurückgedrängt. Vergleiche zu kriegerischen Auseinandersetzungen unter Menschen drängen sich auf. Auch dass sich männliche Schimpansen als weitaus aggressiver erweisen als weibliche Gruppenmitglieder erinnert an Homo sapiens. ***
Nach Goodalls ersten beiden Jahren in Gombe und den ersten überraschenden und bedeutenden Beobachtungen ermuntert Leakey sie, in Cambridge als Verhaltensforscherin zu promovieren. Sie hat zwar nie eine Universität besucht, doch aufgrund ihrer bedeutenden Forschungsergebnisse erhält sie die notwendige Ausnahmegenehmigung. In den folgenden Jahren arbeitet sie – vor allem in Gombe – an ihrer Dissertation „Behaviour of the Free-Living Chimpanzee“; 1965 wird sie promoviert. Nun ist ihren Kritikern, die ihr akademische Fähigkeiten absprechen, der Wind aus den Segeln genommen. Zuvor war auch der bereits angesprochene Kritikpunkt aus der Welt geschafft worden, Goodall würde das Verhalten der Schimpansen vermenschlichen, und ihre Interpretationen würden einer strengen wissenschaftlichen Überprüfung nicht standhalten. 1962 hatte die renommierte National Geographic Society den niederländischen Filmemacher Baron Hugo van Lawick nach Gombe geschickt, um Janes aufsehenerregende Arbeit zu dokumentieren. Der Artikel „My Life Among Wild Chimpanzees“, der im August 1963 in der Zeitschrift National Geographic erscheint, wird zum Erfolg. Nun wird Goodall auch einer breiteren Öffentlichkeit bekannt. Der Coup der National Geographic Society hat noch eine weitere Folge: Goodall und van Lawick verlieben sich ineinander und heiraten im März 1964 in London. Aus der ehemaligen Sekretärin Jane Goodall wird die Baroness Jane van Lawick-Goodall. Der von Hugo van Lawick gedrehte
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Film Miss Goodall and the Wild Chimpanzees kommt 1965 nach einigen Querelen heraus, denn Goodall ist entsetzt, wie viele Fehler die von den Produzenten beabsichtigte Fassung enthält. Um eine wissenschaftlich akzeptable Version durchzusetzen, nimmt sie einen Anwalt, und Orson Welles, der als Sprecher gewonnen werden konnte, muss den Film noch einmal mit verändertem Text einsprechen. Der Film wird ein gewaltiger Erfolg, allein in Nordamerika sehen ihn 25 Mio. Zuschauer. Jane Goodall ist berühmt, vor allem aber fließen nun die finanziellen Mittel reichlicher. Wieder melden sich Kritiker zu Wort. Sie bemängeln nun, Goodall sei eher ein Filmstar als eine ernst zu nehmende Forscherin. Doch Goodall sieht das gelassen: „Die Medien brachten reißerische Artikel, in denen meine blonden Haare und meine gutgeformten Beine eine Rolle spielten. Das hat mich nicht gestört, denn das war nichts Neues. Jedenfalls, wenn meine Beine mir geholfen haben, auf die Schimpansen aufmerksam zu machen – nun, dann war das nützlich.“7
1967 wird dem Paar Sohn Hugo Eric Louis geboren. Jane Goodall nimmt ihren kleinen Sohn mit auf Beobachtungstouren, denn dies hat sie von den Schimpansen gelernt: Je enger der Kontakt in den ersten Jahren zwischen Müttern und ihrem Nachwuchs ist, desto ausgeglichener und stressfreier wachsen die Kinder auf. 1968 wird aus dem Gombe-Reservat der Gombe-Stream-Nationalpark. Die Schimpansen in diesem Gebiet sind nun vor Wilderei und Verlust ihres Lebensraumes weitgehend geschützt. Doch die unbeschwerte Zeit der Familie van Lawick-Goodall und das gemeinsame Forschen und Dokumentieren gehen zu Ende. Die National Geographic Society stoppt die Finanzierung von van Lawicks Arbeit in Gombe, und er verbringt wieder sehr viel Zeit auf Reisen. Das Paar entfremdet sich und lässt sich 1974 scheiden. Nach wie vor bleiben sie sehr gute Freunde und entwickeln auch weiter gemeinsame Projekte. Ein Jahr nach der Scheidung heiratet Goodall den Tansanier Derek Bryceson, der als Leiter der Nationalparks Tansanias ihre Arbeit wirkungsvoll unterstützt. Mit seiner Hilfe gelingt es Goodall 1977, das Jane-GoodallInstitut in Gombe zu gründen. Es dient der weiteren Erforschung und dem Schutz von Menschenaffen und ihrer Lebensräume und ist heute eine global
7 Nachzulesen
unter www.radiotimes.com/tv/documentaries/jane-goodall-if-my-legs-helped-me-getpublicity-for-the-chimps-well-that-was-useful/.
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agierende und einflussreiche Non-Profit-Organisation. Ihre 19 Niederlassungen sind weithin anerkannt für ihre Schutz- und Entwicklungsprogramme. Nach nur fünfjähriger Ehe stirbt Bryceson im Oktober 1980 mit nur 58 Jahren an einem Krebsleiden. Jane Goodall ist 46 Jahre alt. ***
Goodall will ihre Popularität möglichst effektiv nutzen, um den Lebensraum der Schimpansen zu erhalten, denn Bevölkerungsdruck und wirtschaftliche Interessen haben zur Folge, dass großflächige Abholzungen des Regenwaldes immer näher an den Park rücken. Wo einst unberührte Wälder standen, erstrecken sich weithin kahle Hügel. Durch ihre Ehe mit Bryceson hat sie Zugang zu den politischen Entscheidungsträgern in Kenia und Tansania und arbeitet hart daran, die Eingriffe der Bevölkerung in die Natur und den aufblühenden Tourismus ökologisch verträglich zu gestalten: „Wir hatten eine Sitzung zum Thema Naturschutz, und es war erschreckend zu sehen, dass überall in Afrika, wo Schimpansen Thema der Forschung waren, Wälder verschwanden. Die Zahl der Schimpansen ging zurück, es begann der Buschfleischhandel; Schimpansen, die in Schlingen gefangen wurden, Mütter, die erschossen wurden, um Babys als Haustiere, für die medizinische Forschung, für Zirkusse und so weiter an sich zu reißen.“8
Immer weniger Zeit bleibt ihr für ihre Feldforschung in Gombe. Mit 52 Jahren und nach mehr als 25 Jahren an den Steilhängen über dem Tanganjikasees stellt sie ihre direkte Arbeit mit Schimpansen ein. Auslöser ist ihre Teilnahme an einer internationalen Konferenz in Chicago, zu der 1986 Schimpansenforscher vieler Fachrichtungen zusammengekommen sind, um sich auszutauschen. Goodall sieht Filmmaterial und hört Vorträge, die die Auswüchse der professionellen Jagd auf Schimpansen und die Zustände in medizinischen Forschungseinrichtungen dokumentieren. Sie ist entsetzt über das Ausmaß der Verrohung, mit dem Menschen ihren nächsten Verwandten begegnen.
8 Mündliche
Aussage Jane Goodalls auf der von der Chicago Academy of Sciences ausgerichteten Understanding-Chimpanzees-Konferenz, die 1986 in Chicago stattfand. Hier zitiert nach: https://edition. cnn.com/2017/01/17/africa/jane-goodall-conservation/index.html, Übersetzung L.J.
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Goodall hält Vorträge in aller Welt, sammelt Spenden und organisiert neue Institutionen, die sich dem Schutz der Schimpansen verschrieben haben. Hier einige Beispiele: • 1984 wird ChimpanZoo gegründet, ein internationales Forschungsprogramm des Jane-Goodall-Instituts, das sich dem Studium von Schimpansen in Gefangenschaft und der Verbesserung ihres Lebens widmet. • 1992 ruft sie in der Republik Kongo das aus drei Inseln bestehende Tchimpounga-Schimpansen-Rehabilitationszentrum ins Leben. Es bietet Platz für mehr als 100 verwaiste Schimpansen, die hier aufgenommen und auf ihre Auswilderung vorbereitet werden. Seit 1999 ist es dem JaneGoodall-Institut angegliedert. • 1994 startet Goodall das Pilotprojekt Lake Tanganyika Catchment Reforestation and Education (TACARE; auch Take Care genannt). Dessen Ziel ist es, den Lebensraum der Schimpansen zu schützen. TACARE organisiert die Wiederaufforstung der Hügel um Gombe und die Ausbildung der Bewohner der umliegenden Gemeinden in nachhaltiger Landwirtschaft. Goodalls Fokus weitet sich. Nicht nur die Schimpansen brauchen Unterstützung. Sie fordert die Konsequenzen, die sich aus ihren Forschungsergebnissen ergeben. In ihrem Buch Through a Window9 beschreibt sie, warum das Wissen über die geistige und soziale Komplexität der Tiere dazu führen muss, insgesamt zu einem verantwortungsvollen Umgang mit ihnen zu finden. Die Haltung von Tieren als Haustiere, zur Unterhaltung, in Versuchslaboren und insbesondere zur Fleischgewinnung müsse grundlegend überdacht werden. Goodalls zahlreiche Projekte sind unter anderem: • 1991 entsteht aus einem informellen Treffen mit 16 Teenagern auf der Veranda ihres Hauses in Daressalam, Tansania, das globale Programm Roots and Shoots, das junge Menschen animiert und unterstützt, sich für Menschen, Tiere und Umwelt zu engagieren. Auf Betreiben Goodalls laufen heute Tausende Projekte in mehr als 100 Ländern unter diesem Dach.
9 Jane
Goodall, Through a Window, Mariner Books (1990).
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• 2000 gründet sie gemeinsam mit dem US-amerikanischen Biologen und Ökologieprofessor Marc Bekoff die Organisation Ethologists for the Ethical Treatment of Animals („Ethologen für den ethischen Umgang mit Tieren“). Noch mit über 80 Jahren reiste Goodall unermüdlich durch die Welt, um ihre Anliegen zu vertreten und Geld für ihre vielfältigen Unternehmungen zu sammeln. Seit sie mit 52 Jahren die Konferenz in Chicago besucht hatte, gönnt sie sich keine Ruhe: „[…] seit diesem Tag bin ich an keinem Ort länger als drei Wochen geblieben – außer einmal, als ich mir die Bänder an beiden Knöcheln riss und ich etwa eine zusätzliche Woche brauchte, um wieder fit zu werden.“10
Erst die Corona-Pandemie stoppte Goodalls rastloses Leben. Zahlreiche Ehrendoktorwürden und weitere Ehrungen geben ein Zeugnis davon, welche Hochachtung ihrer Person und ihrem Engagement überall auf der Welt entgegengebracht wird: • 2002 wird sie von UN-Generalsekretär Kofi Annan zur Friedensbotschafterin der Vereinten Nationen ernannt. • 2004 wird sie im Buckingham Palace zur „Dame of the British Empire“ ernannt. Diese Ehrung entspricht dem Ritterschlag, und der Titel „Dame“ ist die weibliche Form des „Sir“. • 2006 wird sie Mitglied der französischen Ehrenlegion und erhält die Goldmedaille der UNESCO. Als einzigartige Wissenschaftlerin hat Jane Goodall ihren ganz eigenen Weg beschritten und der Verhaltensforschung völlig neue Impulse geschenkt. Aus ihren Erkenntnissen hat sie die Konsequenzen gezogen und ist politisch aktiv geworden. Ihre unbestechliche Haltung hat dazu geführt, dass aus ihrer wissenschaftlichen Begeisterung und unermüdlichen und detailgenauen Forschung ganz selbstverständlich ein bedingungsloser Einsatz für das Wohlergehen von Tieren und dem Erhalt ihrer Lebensräume wurde. Dass sie zu einer Ikone der Menschlichkeit wurde, ist auch einer 10 Interview mit Alice Winkler für den „What it takes“-Podcast der American Academy of Achievement vom 18. Mai 2018, nachzulesen unter https://learningenglish.voanews.com/a/what-it-takes-janegoodall/4364308.html.
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weiteren Eigenschaft zu verdanken: ihrer Beharrlichkeit, ihren Traum zu verwirklichen. Als ihr einmal in einem Interview gesagt wurde, es sei doch sehr mutig gewesen, allein in Afrika das Verhalten der Schimpansen zu erforschen, antwortete sie: „Es war nicht mutig, es war mein Traum.“11
11 Nachzulesen
unter www.spektrum.de/news/jane-goodall-ein-leben-fuer-die-schimpansen/1545469.
16 Jocelyn Bell Burnell (*1943) Die Wegweiserin in ein neues Universum
Die Astronomie ist wohl die älteste aller Wissenschaften. Seit Urzeiten beobachten Menschen den Lauf der Sterne, und einige der frühesten Schriften beschreiben die Vorgänge am nächtlichen Himmel. Mathematik und Astronomie befeuerten sich gegenseitig, sodass chinesische Gelehrte schon vor über 4000 Jahren Sonnenfinsternisse vorherberechnen konnten. Dass alle Sterne nicht etwa an einer über die Erdscheibe gestülpten Halbkugel positioniert sind, sondern jeder für sich eine eigene Sonne ist, wurde von einigen wenigen Philosophen seit der Antike vermutet, doch erst erstaunlich spät, Anfang des 19. Jahrhunderts, konnte dies wissenschaftlich bewiesen werden. Zu dieser Zeit entwickelte sich die Spektroskopie, die eintreffendes Licht durch ein Prisma in seine Farb-Bestandteile auftrennt und auch die für jede Lichtquelle typischen Absorptionslinien aufzeigt. Es zeigte sich, dass das von der Sonne und das von Sternen ausgestrahlte Licht im Prinzip dieselben Eigenschaften aufweisen. Die Spektroskopie öffnete Astronomen neue Türen. Viele Jahrtausende war man davon ausgegangen, dass die unerreichbaren Sterne sich auf ewig dem Wissensdurst der Menschen entzögen. Doch nun konnte jedem Stern eine Farbklasse und eine Oberflächentemperatur zugeordnet werden. In den folgenden Jahrzehnten sammelte das Harvard-Observatorium die Spektrallinien von über 200.000 Sternen und vereinte sie in einem Katalog. Bald fand man heraus, dass Sterne nicht unveränderlich sind, sondern aus sich zusammenballenden interstellaren Wolken entstehen und durch ständige Abstrahlung von Energie am Ende ihrer Lebenszeit kollabieren. Je nach ursprünglicher Sternenmasse enden sie als braune oder weiße Zwerge, © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 L. Jaeger, Geniale Frauen in der Wissenschaft, https://doi.org/10.1007/978-3-662-66528-2_16
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Neutronensterne oder Schwarze Löcher. Unsere Sonne zum Beispiel hat noch die Entwicklung zu einem Roten Riesen vor sich, um dann als Weißer Zwerg zu enden. Die Erfindung des Teleskops durch Galileo Galilei hatte der Astronomie zwar einen gewaltigen Schub verliehen, doch bis weit in das 20. Jahrhundert hinein blieb sie eine Wissenschaft, die sich allein auf die Optik bezog. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg begannen Astronomen, den Himmel systematisch nicht nur nach Lichtwellen, sondern auch nach Strahlung anderer Wellenlängen abzusuchen. Die irdische Atmosphäre ist für elektromagnetische Strahlung mit Wellenlängen von 360 bis 830 Nanometern durchlässig, also für den Lichtwellenbereich. Die Evolution hat entsprechend Lebewesen hervorgebracht, die mit ihren Sinnesorganen (Tiere) und ihren Systemen zur Energiegewinnung (Pflanzen) genau auf dieses Spektrum abgestimmt sind. Zum Glück der Astronomen zeigte sich, dass die Atmosphäre auch im Wellenbereich von einigen Millimetern bis 20 m ein Fenster für elektromagnetische Strahlung besitzt. Dies ist der Radiowellenbereich. Aus der Nutzung dieser Wellenlängen entwickelte sich die Radioastronomie. Es gibt heute auch die Gamma-, Röntgen- und Infrarotastronomie, doch diese kann nur außerhalb der Erdatmosphäre, also zum Beispiel von Satelliten aus betrieben werden. ***
Weil die in der Radioastronomie genutzten Wellenlängen weniger als Lichtwellen durch interstellare Materie absorbiert werden, waren mit ihr neue Einblicke in den Aufbau des Weltalls möglich. Mitte des 20. Jahrhunderts wurden überall auf der Welt Radioteleskope errichtet, auch im englischen Cambridge. Hier baute Antony Hewish, Physik-Dozent am Churchill College in Cambridge, mithilfe seiner Doktorandin Jocelyn Bell und weiteren Mitarbeitern ein 81,5-Megahertz-Radioteleskop. Ziel war die Suche nach Quasaren. Diese Himmelskörper waren 1960 von Radioastronomen entdeckt worden. Zunächst hatte man gedacht, es handele sich um besondere Sterne, doch dann wurde klar, dass es sich um aktive Kerne einer Galaxie handelt, die gerade einmal so groß wie unser Sonnensystem sind, und dennoch so viel Energie wie bis zu hunderten von Galaxien emittieren. Da ihre Leuchtkraft das bis zu 1012-fache der Sonne beträgt, sind sie trotz ihrer Position am Rande des Universums oft auch optisch wahrnehmbar. Jocelyn Bell war technisch begabt und hatte einen Prototyp des Cambridger Radioteleskops gebaut. Nach dieser Vorlage entstand dann auf
16 Jocelyn Bell Burnell (*1943) 203
etwa eineinhalb Hektar Land das eigentliche Radioteleskop. Zwei Jahre dauerte es, bis Hewish, Bell und die weiteren Mitarbeiter die knapp 200 km Draht, die als Radioantenne dienten, bei Wind und Wetter auf einem Feld nahe Cambridge auf Gerüsten befestigt und zusammengelötet hatten. Auch Jocelyn Bell war an diesen handwerklichen Arbeiten beteiligt. Fünfzig Jahre später erinnert sie sich: „Ich habe beim Bau des Radioteleskops geholfen, zusammen mit etwa fünf anderen. Als es gebaut war, löste sich der Rest auf. Ich blieb übrig als erste Person, die das Teleskop betrieb.“1
1967 ging das Radioteleskop in Betrieb. Ähnlich wie man es von Seismografen kennt, hinterließen die aufgefangenen Signale auf Endlos-Druckerpapier eine Zackenlinie. In den folgenden Monaten hatte die Doktorandin Bell die Aufgabe, das Radioteleskop zu bedienen und die Ausdrucke der aufgefangenen Signale auszuwerten. Alle vier Tage holte Bell die in dieser Zeit aufgelaufenen 120 m Druckerpapier ab und wertete an ihrem Arbeitsplatz die Signallinie aus. Bald hatte sie ein Auge für von Menschen verursachte Störsignale entwickelt. Andere Signale konnte sie nicht einordnen und versah sie auf dem Endlos-Druckerpapier mit Fragezeichen oder manchmal auch zum Spaß mit einem „LGM“, das für little green men, also für „kleine grüne Männchen“ steht. Am 6. August 1967 fiel ihr zum ersten Mal eine besondere Unregelmäßigkeit in der endlosen Signallinie auf: Auf den endlosen Metern des Ausdrucks zog sie sich über gerade einmal über einige Millimeter. Bell versah sie mit einem Fragezeichen. Auch an den folgenden Tagen tauchte die winzige Störung immer dann auf, wenn das Radioteleskop, das dank der Erddrehung verschiedene Teile des Weltraums scannte, nach 24 h wieder auf exakt denselben Teil des Himmels gerichtet war. Andere Wissenschaftler hätten vielleicht über diese winzigen Anomalien hinweggesehen, doch Bell ließen sie keine Ruhe. Die Regelmäßigkeit ihres Auftretens sagten ihr, dass es sich um keinen Zufall handeln konnte. Sie entschloss, ihre Entdeckung mit ihrem Doktorvater Antony Hewish zu besprechen. Dieser hielt die Störungen zunächst für terrestrische Funkstörungen, doch Bell vermutete den Ursprung der Anomalien weit außerhalb des Sonnensystems. Sie brauchte viel Überzeugungskraft, um
1 Jocelyn
Bells Rede auf der Tagung zum 50. Jahrestag 2017; siehe auch: www.nationalgeographic.com/ science/article/news-jocelyn-bell-burnell-breakthrough-prize-pulsars-astronomy.
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Hewish dazu zu bewegen, weiter an diesem Rätsel zu arbeiten. Am 28. November 1967 gelang es den beiden, die Anomalien zeitlich so stark aufzulösen, dass deren Struktur zutage trat: Es handelte sich um Signalsequenzen aus einzelnen Ausschlägen, die gleichmäßig alle 1,337301094 s auftraten. Die verblüffende Exaktheit dieses Pulses entsprach der einer Atomuhr. Bell und Hewish waren ratlos. Ein derartiges astronomisches Objekt war nie zuvor beschrieben worden. Handelte es sich etwas um den Versuch einer intelligenten außerirdischen Lebensform, Kontakt aufzunehmen? Bell sagte später über diese Phase: „Wir haben nicht wirklich geglaubt, dass wir Signale von einer anderen Zivilisation aufgefangen haben, aber offensichtlich ist uns der Gedanke durch den Kopf gegangen, und wir hatten keinen Beweis dafür, dass es sich um eine völlig natürliche Radioemission handelt. Das ist ein interessantes Problem: Wenn man glaubt, anderswo im Universum Leben entdeckt zu haben, wie kann man die Ergebnisse dann verantwortungsvoll bekannt geben?“2
Hewish schloss nicht aus, dass die Signale von einer außerirdischen Intelligenz stammten, wollte sich aber auch nicht lächerlich machen. Er nutze die von Bell eingeführte Abkürzung LGM und nannte die noch unbekannte Quelle des Signals „LGM-1“. Indem er die little green men auf diese scherzhafte Weise ins Spiel brachte, distanzierte er sich gleichzeitig von dieser Möglichkeit. Bell war zu diesem Zeitpunkt schon überzeugt, dass das Signal eine natürliche Ursache hatte. Sie machte sich auf die Suche nach weiteren Signalen dieser Art und entdeckte am 21. Dezember weit entfernt von der ersten Quelle eine zweite Stelle am Himmel, die mit äußerster Exaktheit Radiosignale sendete; kurz darauf sogar eine dritte und vierte. Damit war die Spekulation, dass es sich um Kontaktversuche von Lebewesen eines fremden Planeten handeln könnte, vom Tisch. Im Februar 1968 veröffentlichte das renommierte Nature-Magazin den Artikel „Beobachtung einer rapide pulsierenden Radioquelle“3. Erstautor war Antony Hewish, Jocelyn Bell war an zweiter Stelle genannt. James Pilkington, Philip Scott und Richard Collins, die als weitere Autoren aufgeführt wurden, waren in die Entdeckung kaum involviert gewesen.
2 Jocelyn Bell Burnell, Little Green Men, White Dwarfs or Pulsars? Annals of the New York Academy of Science, 302 (1977), S. 685–689. 3 Antony Hewish, Jocelyn Bell, James Pilkington, Philip Scott, Richard Collins, Observation of a Rapidly Pulsating Radio Source, Nature, 217 (1968), S. 709–713.
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Die Publikation stieß auf großes Interesse. Immer noch war rätselhaft, welcher Art die Quellen der von Bell entdeckten Radiosignale waren. Es dauerte einige Monate, bis Astronomen die Quellen als Neutronensterne identifizierten. Ihre Existenz war bereits 1934 vom deutschen Astromomen Walter Baade und dem schweizerischen Astrophysiker Fritz Zwicky theoretisch vorhergesagt worden. Sie argumentierten, dass aus einer Supernova ein Stern hervorgehen könnte, der hauptsächlich aus Neutronen besteht. Ihrer Theorie nach sollte unter bestimmten Umständen der beim Kollaps entstehende Druck so groß sein, dass Elektronen in den Atomkern gepresst werden und sich mit den dort vorhandenen Protonen zu Neutronen verbinden. Anfang der Sechzigerjahre war das Interesse an Neutronensternen neu aufgeflammt. • 1964 argumentierte der Niederländer Lodewijk Woltjer, dass Neutronensterne aufgrund der Erhaltung der Intensität eines magnetischen Feldes (magnetischer Fluss) enorm heftige Magnetfelder erzeugen müssten, denn die Rotationsgeschwindigkeit ist durch die geringe Größe des Sterns nun viel höher als zuvor. • Nur wenige Monate, bevor Bell Burnell 1967 die erste pulsierende Radioquelle entdeckte, stellte der italienische Astrophysiker Franco Pacini fest, dass ein rotierender Neutronenstern beobachtbare elektromagnetische Strahlung aussenden müsse. • Der US-amerikanische Astronom Thomas Gold stellte kurz nach der Entdeckung der gepulsten Strahlung als erster die Verbindung zu rotierenden Neutronensternen mit starkem Magnetfeld her. Auf der ersten Konferenz, die sich mit Bells Entdeckung beschäftigte, wurde seine Idee allerdings noch als absolut abwegig eingeschätzt. Doch Thomas Gold hatte ins Schwarze getroffen. Heute weiß man, dass manche Sterne, deren Masse deutlich größer ist als die der Sonne, beim Kollaps zu Neutronensternen werden. Da die ursprüngliche Masse nun in einer Kugel von weniger als zwanzig Kilometern Durchmesser zusammengeballt ist, ist die Dichte enorm hoch. Die Erhaltung des Drehimpulses führt dazu, dass diese „Sternenleichen“ sich extrem schnell um die eigene Achse drehen, auf diesem Effekt beruhen auch die Pirouetten beim Eiskunstlauf. Ihre Rotationsdauer beträgt nur Sekunden oder Sekundenbruchteile. Die direkte Folge dieser ultraschnellen Drehung sind superstarke Magnetfelder mit einer Stärke von 109 bis 1011 T. Zum Vergleich: Die Erde erzeugt ein Magnetfeld mit ca. 60 Mikrotesla, also 60 mT, und vom Menschen erzeugte Magnetfelder mit 20 bis 30 T gelten als sehr stark. Da
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die Rotationsachse der Neutronensterne (so wie auch bei der Erde) nicht exakt mit ihrer Magnetfeldachse übereinstimmt, entstehen an den Magnetpolen zwei sogenannte Strahlungskegel, wie bei einem Leuchtturm. Wann immer einer von ihnen Richtung Erde zeigt, wird sehr starke elektromagnetische Strahlung in diese Richtung auf den Weg geschickt. Anfang März 1968 tauchte zum ersten Mal das Wort „Pulsar“ in der Presse auf. Dieser Begriff ist eine Abkürzung von pulsating quasar und wird heute für alle pulsierenden Radioquellen verwendet. „Am 6. August letzten Jahres wurde eine völlig neue Art von Stern entdeckt, die von den Astronomen als LGM (Little Green Men) bezeichnet wurde. Jetzt geht man davon aus, dass es sich um einen neuartigen Typ zwischen einem Weißen Zwerg und einem Neutronenstern handelt. Man wird ihm wahrscheinlich den Namen Pulsar geben. Dr. A. Hewish sagte mir gestern: ‚...Ich bin sicher, dass heute jedes Radioteleskop nach Pulsaren Ausschau hält.‘“4
Tatsächlich spürten Radioastronomen in den folgenden fünfzig Jahren mehr als 2000 Pulsare auf. Davon senden etwa zweihundert in MillisekundenPulsen, sie sind also sehr junge Neutronensterne, denn die Rotationsenergie verringert sich mit der Zeit. Etwa 150 Pulsare sind Doppelsternsysteme. Diese hohe Anzahl an Entdeckungen umfasst nur einen winzigen Bruchteil der in der Theorie existenten Neutronensterne. Allein in unserer Galaxie dürfte es mehr als 100 Mio. dieser besonderen Himmelkörper geben. Dank ihrer außerordentlich hohen Dichte lassen sich an Pulsaren einige der grundlegendsten Theorien der Physik testen, zum Beispiel die der Gravitationswellen. 1993 erhielten die amerikanischen Forscher Joseph Taylor Jr. und Russel Hulse den Nobelpreis für den indirekten Nachweis von Gravitationswellen, die von Pulsaren ausgesendet werden. Dies geschah mithilfe langfristiger Messungen der Umlaufperioden eines NeutronensternDoppelsystems und dem Abgleich der Daten mit der gepulsten Strahlung. Es zeigte sich, dass sich die beobachtete Annäherung der beiden Neutronensterne mit dem Verlust an Gesamtenergie des Systems durch die Emission von Gravitationswellen übereinstimmt. Die von Jocelyn Bell entdeckten Pulsare erwiesen sich also als wahre Schatztruhe für die Astronomen. Dass eine junge Doktorandin eine so bedeutende Entdeckung macht, ist in der Wissenschaftsgeschichte von größter Seltenheit. War es ein Zufallsfund, den jeder hätte machen können,
4 Daily Telegraph
am 5. März 1968.
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der zur richtigen Zeit am richtigen Ort gewesen wäre? Oder steckt mehr hinter dieser Leistung? ***
Jocelyn Bell wurde am 15. Juli 1943 in der nordirischen Stadt Armagh nahe Belfast geboren. Ihre Mutter Margret hatte nicht zur Schule gehen können, da ihre Familie aus finanziellen Gründen nur ihrem Bruder eine Ausbildung zukommen lassen konnte. Diese Erfahrung führte dazu, dass Margaret Bell besonderen Wert auf die Bildung ihrer drei Töchter legte. Ihr Vater Philip Bell war Architekt und wohlhabend. Jocelyn Bell Burnett erinnert sich: „Wir hatten immer ein als Krankenschwester ausgebildetes Kindermädchen. Lange Zeit gab es einen Koch und ein Küchenmädchen. Es gab einen Gärtner und wohl auch einen zweiten Gärtner. Und es gab einen Handwerker, der auch als Chauffeur einsprang, wenn man wirklich herrschaftlich ausfahren wollte. Es war ein großartiges Leben.“5
Beide Eltern waren Quäker. Diese im 17. Jahrhundert in England gegründete religiöse Gemeinschaft lehnte von Anfang an den Klerus und die gebräuchlichen aufwendigen Zeremonien ab. Mit ihrem Pazifismus, ihrer Ablehnung von Hierarchien und ihrer Überzeugung, dass ausnahmslos alle Menschen gleichgestellt sind, machten sie sich in der englischen Gesellschaft keine Freunde. Als verfolgte Gemeinschaft gehörten Quäker zu den ersten Siedlern Amerikas, wo sie sich unter anderem als vehemente Gegner der Sklaverei und in der Frauenbewegung hervortaten. Jocelyn Bell wuchs in einer Familie auf, die diese Werte lebte. Während es in ihrem Umfeld immer noch Usus war, dass Jungen die Welt offenstand und Mädchen Nähen und Kochen lernten, förderten die Eltern das Interesse ihrer Tochter an der Wissenschaft. Oft besuchte die Familie das vom Vater gestaltete Planetarium in Armagh, sodass Jocelyn schon als Kind in Kontakt mit der Astronomie kam. Auch die Astronomiebücher ihres Vaters trugen wohl zu ihrem Wunsch bei, mehr über diese Wissenschaft zu erfahren. Im englischen Schulsystem ist die Grundschulzeit länger als in Deutschland. Als Jocelyn elf Jahre alt war, stand die wichtige Prüfung bevor, die darüber entscheiden würde, welche weiterführenden Schulen ihr offenstanden. Sie schnitt sehr schlecht ab, damit war ihr der Weg zu einer 5 Conor
Moloney, Jocelyn Bell: The True Star, Belfast Telegraph am 3. Juli 2008, nachzulesen unter: www.belfasttelegraph.co.uk/life/jocelyn-bell-the-true-star-28528404.html
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höheren Bildung versperrt. Jocelyn war niedergeschmettert, doch ihre Eltern wussten einen Ausweg. Sie schickten ihre Tochter auf ein Quäker-Mädcheninternat im englischen York, wo sie sich 1961 für ein Studium qualifizierte. 1965 schloss Jocelyn Bell ihr Physikstudium mit Auszeichnung ab. Daraufhin wurde ihr ein Platz an der prestigeträchtigen Universität in Cambridge angeboten, um dort zu promovieren. Bells Bildungsweg hatte also recht mittelmäßig angefangen und endete an einer der berühmtesten Universitäten der Welt. Sie meinte später: „Ich war mir ziemlich sicher, dass sie einen Fehler gemacht hatten, mich zuzulassen, und ich war mir sicher, dass sie ihren Fehler entdecken und mich rauswerfen würden. Also entschied ich mich für die Strategie, so hart wie möglich zu arbeiten, damit ich, wenn sie mich rauswarfen, kein schlechtes Gewissen haben würde. Ich würde wissen, dass ich mein Bestes gegeben hatte.“6
Massive Selbstzweifel sind gerade unter Menschen, die höchste Leistung erbringen, erstaunlich weit verbreitet. Dieses sogenannte HochstaplerSyndrom bekam erst Ende der Siebzigerjahre seinen Namen. Doch Jocelyn Bell Burnell war alles andere als eine Hochstaplerin. Sie war gerade einmal 24 Jahre alt, als sie 1967 die ersten Pulsare entdeckte. ***
1974 erhielt Hewish den Physik-Nobelpreis für die Entdeckung der Pulsare. Gemeinsam mit ihm wurde auch Martin Ryle ausgezeichnet, der ebenfalls in Cambridge forschte und durch seine Entwicklung revolutionärer Radioteleskopsysteme zur genauen Ortung und Abbildung schwacher Radioquellen die Grundlage für Bells Entdeckung geschaffen hatte. Es war der erste Physik-Nobelpreis, der an Astronomen ging. Die Begründung ist auf der offiziellen Webseite Nobelpreis-Kommission zu lesen: „Der Nobelpreis für Physik 1974 wurde gemeinsam an Sir Martin Ryle und Antony Hewish ‚für ihre bahnbrechenden Forschungen auf dem Gebiet der Radioastrophysik verliehen: Ryle für seine Beobachtungen und Erfindungen,
6 Lucie Edwardson, ‚Go for it‘: Female scientist famous for discovering pulsars encourages girls to pursue science, Interview mit CBC News am 19.9.2018; nachzulesen unter www.cbc.ca/news/canada/calgary/ pulsars-calgary-jocelyn-bell-1.4830811
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insbesondere die Technik der Apertursynthese, und Hewish für seine entscheidende Rolle bei der Entdeckung von Pulsaren.‘“7
Jocelyn Bell ging leer aus und wurde noch nicht einmal erwähnt. Mehrere prominente Wissenschaftler protestierten gegen diese Entscheidung. Bell erzählte später, dass einer von ihnen den Nobel-Preis als „No-Bell“-Preis bezeichnet hatte.8 Sie selbst fand die Entscheidung nachvollziehbar, da sie zur Zeit der Entdeckung nur als Doktorandin an der Entwicklung mitgewirkt hatte. Zugleich sah sie ihren Beitrag als hochgradig entscheidend für die Entdeckung der Pulsare. In ihrer Dissertation schrieb sie: „Wenn man die Datenausgabe der Antenne digitalisiert und direkt in einen Computer gefüttert hätte, wären diese Quellen wohl nicht entdeckt worden, weil der Computer nicht auf die Suche nach solch unerwarteten Objekten programmiert gewesen wäre.“9
Hewish war anderer Meinung. 2008 äußerte er sich wie folgt: „Ich habe es total satt, diese dumme Sache, dass Jocelyn die ganze Arbeit gemacht und ich die ganze Anerkennung bekommen hätte. Ich sehe da irgendwie eine Analogie: Wer hat Amerika entdeckt? War es Kolumbus oder war es der Mann im Ausguck? Ihr Beitrag war sehr nützlich, aber nicht kreativ. Und ich glaube nicht, dass man dafür den Nobelpreis bekommt.“10
Man kann darüber streiten, ob Bell den Nobelpreis verdient hatte. Die bedeutendere Frage lautet: War Bells Entdeckung ein „One-Hit-Wonder“? Oder macht ihre Genauigkeit und ihre Beharrlichkeit sie zu einer begnadeten Wissenschaftlerin, die schon am Anfang ihrer Karriere einen Volltreffer gelandet hat und auch weiterhin exzellente Wissenschaft betrieb? ***
7 Nobelpreis-Komitee
1974; www.nobelprize.org/prizes/physics/1974/summary/ Walsh, Journeys of Discovery, Interview an der Cambridge Universität (2020); nachzulesen unter www.cam.ac.uk/stories/journeysofdiscovery-pulsars ((Rechte beachten!)). 9 Jocelyn Bell Burnell, The measurement of radio source diameters using a diffraction method (Doktorarbeit von 1969); https://doi.org/10.17863/CAM.4926. 10 Conor Moloney, Jocelyn Bell: The True Star, Belfast Telegraph am 3. Juli 2008, nachzulesen unter Jocelyn Bell: The True Star – BelfastTelegraph.co.uk; www.belfasttelegraph.co.uk/life/jocelyn-bell-the-truestar-28528404.html. 8 Louise
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Fakt ist, dass sich Jocelyn Bell lange Zeit durchkämpfen musste, bevor sie einen Status erreichte, in dem es keine Rolle mehr spielte, ob sie eine Frau oder ein Mann ist. An der Universität Glasgow war sie die einzige Frau gewesen, die Physik studierte. In einem Interview mit dem Guardian aus dem Jahr 2011 erinnert sich Bell Burnell: „Es war ausgesprochen hart. Ich landete in den letzten zwei Jahren meiner Lehrveranstaltungen als einzige Frau in der Klasse. Es gab 49 Männer und mich. Es war Tradition unter den Studenten, dass, wenn eine Frau in einen Hörsaal ging, alle Jungs mit den Füßen trampelten und pfiffen und riefen und auf den Tischen trommelten. Und das habe ich in jeder Veranstaltung in diesen zwei Jahren durchgestanden.“11
Auch einige Jahre später, als ihre Entdeckung der pulsierenden Strahlung zu einem Medienereignis geworden war, wurde sie mit den Erwartungen konfrontiert, die die damalige Gesellschaft an die Frauen hatte: Bells Doktorvater Antony Hewish wurde nach der astrophysikalischen Bedeutung des Funds gefragt, Bell nach Brust-, Taillen- und Hüftumfang. Und als Fotos gemacht werden sollten, wurde sie gebeten, ein paar Knöpfe der Bluse zu öffnen. Mit solchen Zumutungen musste sie sich noch lange Zeit auseinandersetzen. „In jenen Tagen glaubte man, dass Wissenschaft von großen Männern gemacht und angetrieben würde, und dass diese Männer eine Menge Fußvolk unter sich hatten, die alles taten, was sie wollten, und keine eigenen Gedanken hatten. Es kam auch eine Zeit, in der ich ein kleines Kind hatte und damit kämpfte, die Suche nach einer geeigneten Kinderbetreuung und eine Karriere unter einen Hut zu bekommen – und all das, bevor es für Frauen akzeptabel war, zu arbeiten. Nun, Männer gewinnen Preise und junge Frauen kümmern sich um Babys.“12
Nicht nur ihr Berufsweg, auch ihr Privatleben gestaltet sich alles andere als einfach. 1968, dem Jahr ihrer bedeutenden Publikation und noch vor Erreichen des Doktorgrades, verlobt sich Bell mit dem Regierungsbeamten Martin Burnell und heiratet ihn kurz darauf. Von nun an heißt sie Jocelyn Bell Burnell. Über ein halbes Jahrhundert später erzählte Bell Burnell in einer Online-Vorlesung13 von der Situation, als sie frisch verlobt die gute 11 ebd. 12 Interview
im BBC (25. Oktober 2011); www.bbc.co.uk/sounds/play/b016812j, nach 1:35 min. am 3. Juni 2021, 4th Edwards Lecture, University of London.
13 Online-Vorlesung
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Nachricht ihren Kollegen die Cambridger Sternwarte mitteilte. Statt guter Wünsche gab es Kritik, denn Bell hatte nicht vor, ihre Arbeit aufzugeben. Auch 1968 war es peinlich, wenn eine verheiratete Frau einer Arbeit nachging. Denn dies erweckte den Anschein, ihr Partner sei nicht in der Lage, für die Familie zu sorgen. Jocelyns Ehemann Martin Burnell muss einige Male aus beruflichen Gründen umziehen, und jedes Mal folgt sie ihm an die neuen Wohnorte. Trotzdem gelingt es ihr, ihre Karriere voranzutreiben. • Nach Beendigung ihrer Doktorarbeit 1969 lehrt Bell Burnell ab 1970 bis 1973 als Junior-Professorin an der University of Southampton. Hier beschäftigt sie sich mit der Gammastrahlen-Astronomie, die – anders als die Radioastronomie – mit besonders kurzwelliger Strahlung arbeitet. Unter anderem entwickelt sie ein Gammastrahlenteleskop für Energien von 1 bis 10 MeV . • Von 1974 bis 1982 forscht und lehrt sie im Bereich der Röntgenastronomie an der Londoner Universität und von 1982 bis 1991 Infrarotastronomie am Royal Observatory in Edinburgh. Sie sammelt also Erfahrungen bei der Arbeit mit vielen Wellenlängen. • 1973 wird ihr Sohn Gavin geboren und Bell Burnell arbeitet viele Jahre lang nur halbtags. Im gleichen Jahr erhält die Albert A. MichelsonMedaille des Franklin Institute of Philadelphia in den USA (die heute Benjamin Franklin Medaille heißt). • Von 1973 bis 1987 ist sie als Tutorin, Beraterin, Prüferin und Dozentin an der renommierten Open University in Milton Keynes tätig. Diese Fernuniversität ist gemessen an der Zahl der Studierenden die größte Universität des Vereinigten Königreichs. • 1978 erhält sie den Robert Oppenheimer Memorial Prize für theoretische Physik, der mit einer Goldmedaille und tausend US$ dotiert ist. • 1986 wird sie Leiterin der Abteilung, die für das James-Clerk-MaxwellTeleskop auf dem Mauna Kea auf Hawaii verantwortlich ist. • 1989 erhält sie die Herschel-Medaille der Royal Astronomical Society. All die Stationen und Ehrungen, von denen hier nur ein Teil aufgeführt ist, geben Zeugnis davon, dass Bell Burnell schon in der ersten Hälfte ihrer Laufbahn als eine ausgezeichnete Astronomin wahrgenommen wird. Ihr Ehemann kommt allerdings nicht gut mit ihrem Erfolg zurecht.
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„Als ich Preise bekam, war mein Mann nicht wirklich so erfreut, wie ich dachte, und ich lernte, es nicht an die große Glocke zu hängen, wenn ich mit der Nachricht nach Hause kam, dass ich einen Preis bekommen würde.“
Die Ehe bekommt bald erste Risse. Am Ende verlässt Martin Burnell 1989 seine Frau. Nach der 1993 erfolgten Scheidung behält Jocelyn Bell Burnell ihren Namen. Es kämpft sich durch eine emotional und finanziell angespannte Zeit und setzt mutig ihre Karriere fort. Hier nur einige ihrer weiteren Lebensstationen: • 1991 wird sie Professorin für Physik an der Open University, wo sie schon seit 1973 als Dozentin tätig ist. • 1999 wird sie Commander of the Order of the British Empire. • Von 2001 bis 2004 ist sie Dekanin der Naturwissenschaften an der Universität Bath. In dieser Zeit ist sie auch Gastprofessorin in Oxford und Princeton. • Von 2002 bis 2004 ist sie Präsidentin der Royal Astronomical Society. • 2003 wird sie Mitglied der Royal Society • 2007 adelt Königin Elisabeth II. sie zur Dame of the Order of the British Empire. • Von 2014 bis 2018 ist sie Präsidentin der Royal Society of Edinburgh. • Im Jahr 2015 erhält sie die Royal Medal, die für besonders wichtige Beiträge zu den Wissenschaften verliehen wird. • 2021 erhält sie gleich drei wichtige Auszeichnungen: die Goldmedaille der Royal Astronomical Society, die Copley-Medaille der Royal Society sowie die Karl-Schwarzschild-Medaille der deutschen Astronomischen Gesellschaft. Im März 2022 stellt die nordirische Ulster Bank ihre neue 50-Pfund-Banknote vor, auf der Jocelyn Bell abgebildet ist, die von der Bank als entscheidend für den Fortschritt der Wissenschaft bezeichnet wird. Zu den bedeutendsten Ehrungen Bell Burnells gehört der in unregelmäßigen Abständen verliehene Special Breakthrough Prize, den sie 2018 für ihre lebenslange inspirierende Führungsrolle in der Wissenschaft erhält und ausdrücklich auch für ihre Entdeckung der Pulsare aus dem Jahr 1967 – es handelt sich also um eine späte Würdigung ihrer allerersten wissenschaftlichen Leistung. Dieser höchstdotierte Wissenschaftspreises ist mit einem Preisgeld von drei Millionen US$ verbunden, mehr als das Doppelte des Betrags, der Nobelpreisträgern zugesprochen wird. Größer noch ist die damit verbundene Ehre: Bell Burnell steht durch ihn nun in
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einer Reihe mit Physikern wie Stephen Hawking und den Entdeckern des Higgs-Bosons. Ganz in der Tradition ihres Quäker-Glaubens beschließt Jocelyn Bell Burnell, das Preisgeld für die Einrichtung des Bell Burnell Graduate Scholarship Fund zu verwenden. Diese Stiftung unterstützt Studentinnen, Angehörige von Minderheiten und Flüchtlinge, in einem der vielen Forschungsbereiche der Physik einen Doktorgrad zu erlangen. Auch außerhalb dieser Stiftung setzt sich Bell Burnell stark für Diversität in der Wissenschaft ein und ist eine Stimme, die gehört wird.
17 Lisa Randall (*1962) Die Überfliegerin in der aktuellen theoretischen Physik
Seit sich herausstellte, dass die Newtonsche Physik nur in der dem Menschen vertrauten Größenskala anwendbar ist, arbeiten Wissenschaftler daran, auch für die sehr kleinen Größenordnungen der subatomaren Welt und die sehr großen Größenordnungen des Weltraums Theorien zu entwickeln, mit denen sich die jeweiligen Vorgänge erfassen und berechnen lassen. • Die von Albert Einstein schon zu Anfang des 20. Jahrhunderts entwickelte Allgemeine Relativitätstheorie beschreibt, wie Energie und Materie die vierdimensionale Raumzeit verzerren und die Gravitation hervorrufen. Diese Theorie lässt sich gut auf die sehr großen Größenskalen von Planetenbahnen und Galaxien anwenden, nicht aber auf die subatomare Welt. • Die um 1925 entstandene Quantenmechanik und die in den 1940erJahren entwickelte Quantenelektrodynamik beschreiben sehr gut die Phänomene der subatomaren Welt. In den folgenden Jahrzehnten konnten diese Theorien verbessert und zum sogenannten Standardmodell der Teilchenphysik vereinigt werden. Es arbeitet mit dreien der vier Grundkräfte der Physik: die starke und die schwache Kernkraft sowie die elektromagnetische Kraft. Die vierte Grundkraft, die Gravitation, passt hier nicht hinein. Das Standardmodell der Teilchenphysik und die Allgemeine Relativitätstheorie funktionieren sehr gut in ihrem jeweiligen Geltungsbereich. Doch © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 L. Jaeger, Geniale Frauen in der Wissenschaft, https://doi.org/10.1007/978-3-662-66528-2_17
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bislang ist es den Physikern nicht gelungen, die drei Grundkräfte des Standardmodells zu einer einzigen Kraft zu vereinen. Um diese GUT, die Grand Unified Theory (große vereinheitlichte Theorie) zu beweisen, müssten sie in Experimenten die sehr hohe Energie von 1015 Gigaelektronenvolt erreichen. Die stärksten Teilchenbeschleuniger erreichen heute gerade einmal 7 Teraelektronenvolt, also 7 * 103 GeV. Es fehlen also noch 11 Größenordnungen. Das Standardmodell der Teilchenphysik ist auch noch aus einem anderen Grund alles andere als zufriedenstellend: Es ist kompliziert und unelegant und damit in den Augen von Wissenschaftlern schlichtweg hässlich. Einsteins Allgemeine Relativitätstheorie gefällt ihnen da schon wesentlich besser. Von größter Schönheit ist auch seine berühmte Formel E = mc2, die aus seiner Speziellen Relativitätstheorie hervorgeht. Noch ambitionierter ist der Wunsch der Physiker, eine übergeordnete, elegante Theorie zu finden, die die GUT und die Allgemeine Relativitätstheorie vereint. Diese Theory of Everything (TOE) würde subatomare Teilchen genauso gut beschreiben wie Sterne und Galaxien und noch dazu alle vier Grundkräfte, die zwischen ihnen wirken, auf einen Nenner bringen. Die TOE ist der heilige Gral der Physiker. Doch Standardmodell und Allgemeine Relativitätstheorie scheinen sich grundsätzlich nicht zu dieser gemeinsamen Theorie vereinigen zu lassen. Wenn zum Beispiel bei der Berechnung von Vorgängen beim Urknall oder in Schwarzen Löchern die Gravitation auf Quantenebene formuliert werden soll, spielen die Gleichungen verrückt. Es tauchen unendliche Werte auf, die jeden Versuch der Berechnung unmöglich machen. Man geht deshalb davon aus, dass die TOE weder aus der Allgemeinen Relativitätstheorie noch aus dem heutigen Standardmodell heraus entwickelt werden kann, sondern einen ganz neuen Ansatz benötigt. ***
Eine der Spezialisten und Spezialistinnen, die auf der Suche nach den großen Zusammenhängen sind, ist die theoretische Physikerin Lisa Randall. Als führende Expertin sowohl auf dem Gebiet der Teilchenphysik als auch der Kosmologie, also der Beschäftigung mit dem Gesamtuniversum, bringt sie beste Voraussetzungen mit, um sowohl die Phänomene der sehr kleinen als auch der sehr großen Größenordnungen in ein gemeinsames Modell zu packen. Vor diesem Ziel hat sie großen Respekt, denn sie ist sich der begrenzten Möglichkeiten sehr gut bewusst, mit denen der in mittleren
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Größenordnungen beheimatete Mensch das Universum verstehen kann. In einem Interview mit dem Wissenschaftshistoriker Harald Zaun meinte sie: „Wissen Sie, Kosmologen suchen eigentlich nicht wirklich nach der Weltformel, weil diesbezüglich die meisten Antworten jenseits ihrer Reichweite liegen. Kosmologen suchen vielmehr nach dem, was sie sehen können.“1
Trotz oder gerade wegen dieser Bescheidenheit ist sie überaus erfolgreich in ihrer Suche nach universellen Zusammenhängen. Dazu kommt eine weitere wichtige Eigenschaft, ohne die sie die Komplexität der Mathematik in der Kosmologie und in der Teilchenphysik nicht erfassen könnte: Sie ist eine echte Überfliegerin. Ihre Genialität und Flexibilität zieht sich wie ein roter Faden durch ihr Leben. Lisa Joy Randall wird am 18. Juni 1962 in Queens, einem Stadtteil New Yorks, als mittlere von drei Töchtern geboren. Ihr Vater ist Verkaufsvertreter, ihre Mutter Grundschullehrerin. Lisa besucht in Manhattan eine naturwissenschaftlich ausgerichtete High School, an der sie 1980 ihren Abschluss macht. Im gleichen Jahr gewinnt sie den ersten Platz beim Westinghouse Science Talent Search. Dieser Wettbewerb für High-School-Absolventen ist auch als „Super Bowl der Wissenschaft“ bekannt. Danach geht es Schlag auf Schlag. Mit einem Stipendium geht Randall 1980 nach Harvard, wo sie Physik studiert und 1983 ihren Bachelor-Abschluss macht. Schon zu dieser Zeit beschäftigt sie sich mit grundlegenden Fragen der theoretischen Physik. In ihrer Doktorarbeit Enhancing the Standard Model, arbeitet sie an einer Verbesserung des Standardmodells der Teilchenphysik. 1987 wird sie mit 25 Jahren promoviert. Nun wechselt sie von der Ostküste an die Westküste der USA. In Berkeley ist sie zuerst an der University of California tätig, ab 1989 dann im Lawrence Berkeley National Laboratory. 1990 kehrt sie nach Harvard zurück, wo sie in schnellen Schritten sie weitere Karrierestufen erklimmt. • 1991 wird sie Assistenz-Professorin. • 1995 erreicht sie die nächste Professorenstufe am Massachusetts Institute of Technology (MIT). • 1998 wird die 36-jährige Randall als erste Frau auf den Lehrstuhl für theoretische Physik in Princeton berufen. Gleichzeitig ist sie ordentliche
1 Nachzulesen
unter www.astronomie.de/bibliothek/interviews/professor-lisa-randall-2006/
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Professorin für Physik am MIT – hier ist sie die zweite Frau auf einem Lehrstuhl der physikalischen Fakultät. • Im Juli 2001 – Randall ist noch keine 40 Jahre alt – wechselt sie ein weiteres Mal nach Harvard, wo sie einen Lehrstuhl für theoretische Physik bekleidet. Harvard, Princeton und das MIT in Cambridge, also drei der bedeutendsten und renommiertesten Universitäten, reißen sich um Lisa Randall. Ende des 20. und Anfang des 21. Jahrhunderts ist es also endlich möglich – wenn auch noch lange nicht selbstverständlich – dass Frauen in der Wissenschaft Karriere machen. Während Randalls Vorgängerinnen trotz exzellenter Leistungen von männlichen Kollegen belächelt und kaltgestellt wurden, gelingt Lisa Randall in kurzer Zeit ein Durchmarsch bis an die Spitze der Forschung. Welchen Beitrag leistet sie zur aktuellen Forschung? Ihr Name wird oft in Verbindung mit dem Randall-Sundrum-Modell genannt. Da es sich hierbei um eine Weiterentwicklung der String-Theorie handelt, wird im Folgenden dieser Begriff erläutert. Es fängt damit an, dass Menschen über den uns geläufigen dreidimensionalen Raum hinausdachten. • Einige Mathematiker hatten schon im 18. Jahrhunderts mit der Idee gespielt, dass die Zeit die vierte Dimension sei. Auf diese Denktradition gründet sich auch Einsteins Allgemeine Relativitätstheorie, der die vierdimensionale Raumzeit endgültig in die Physik einführte. • Für den Mathematiker Bernhard Riemann gab es nur räumliche Dimensionen. Er erarbeitete Mitte des 19. Jahrhunderts eine Geometrie, in der Räume eine beliebige Anzahl an Dimensionen annehmen können. Was viele Mathematiker zunächst als überflüssige Spielerei wahrnahmen, erwies sich später als unerlässliche Basis für die höhere Mathematik und die theoretische Physik. • Der englische Mathematiker und Philosoph Charles Hinton verstand die vierte Dimension als Erweiterung des Raumes und beschrieb 1880 einen vierdimensionalen Würfel, den er Tesserakt nannte – ein Begriff, der seitdem durch die Science-fiction-Literatur geistert. Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts waren übrigens auch andere Teile der Gesellschaft von der Vorstellung fasziniert, es gäbe mehr als nur drei Dimensionen. Die kubistischen Portraits Pablo Picassos sind ein Beispiel für den Hype, der damals herrschte. Sie sind die Ergebnisse seines Versuchs, aus verschiedenen Perspektiven gleichzeitig zu malen – so, als wäre
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er ein Wesen aus der vierten räumlichen Dimension und könnte alle Blickwinkel gleichzeitig wahrnehmen. Langsam setzte sich in der Wissenschaft die Erkenntnis durch, dass es keine welterklärende Theorie gibt, die nur drei räumliche Dimensionen voraussetzt. Erst höherdimensionale Modelle würden eine Lösung bieten. Es ist so, als würden Lebewesen, die in einer zweidimensionalen Welt leben, versuchen zu erklären, warum eine Scheibe, die sie beobachten, in regelmäßigen Zyklen größer und dann wieder kleiner wird. Dieses Phänomen ist für sie ein unlösbares Rätsel, bis jemand auf die Idee kommt, der zweidimensionalen Welt eine weitere Dimension hinzuzufügen. Dann erst hat er die Chance zu erkennen, dass es sich um eine auf und ab springende dreidimensionale Kugel handelt, die von seiner zweidimensionalen Ebene geschnitten wird. Die Mathematiker feilten weiter an ihrer Fähigkeit, mit vielen Dimensionen zu rechnen. Ende der 1960er-Jahre fanden sie eine Methode, mit der es den theoretischen Physikern endlich gelingen könnte, die vier Grundkräfte der Physik in einer für alle Größenordnungen gültigen Theorie zu vereinen. Es war völlig verrückt: Wenn sie eine 26-dimensionale Raumzeit annahmen, ließen sich Standardtheorie der Teilchenphysik und Allgemeine Relativitätstheorie miteinander verbinden. Denn in diesem Raum ließen sich die unendlich hohen Werte umgehen, die sonst immer in die Sackgasse geführt hatten. Diese Theorie vom 26-dimensionalen Raum erhielt den Namen StringTheorie, denn der fundamentale Trick bestand darin, null-dimensionale Punkte sozusagen durch eindimensionale, winzig klein zusammengerollte Fäden – strings – zu ersetzen. Den entscheidenden Kniff hatte der schwedische theoretische Physiker Oskar Klein bereits 1926 ersonnen. Viele Jahrzehnte hatte seine Beschreibung als unnütze mathematische Fingerübung gegolten. Doch gute vierzig Jahre später begannen die Physiker, die Bausteine der Welt sich als schwingende Energiefäden vorzustellen, die viele Milliarden Milliarden mal kleiner sind als ein Atomkern. Die String-Theorie mit 26 Dimensionen war von einer bestechenden Logik und konnte eine ganze Reihe Probleme der theoretischen Physiker lösen. Doch an anderer Stelle tauchten neue Ungereimtheiten auf. Zum Beispiel ließ sich mit ihr die Existenz einer bestimmten Sorte von Quantenteilchen nicht erklären. 1971 wurde die Stringtheorie durch die Einführung einer weiteren mathematischen Hypothese zur Superstring-Theorie erweitert. Mit ihr ist die Raumzeit nur noch zehn-dimensional. Es folgten weitere String-Theorien, die mit elf Dimensionen arbeiten. Aber auch diese
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Weiterführungen sind noch weit davon entfernt, eine überzeugende TOE zu sein. ***
String-Theorien arbeiten also mit mehreren Dimensionen, um die Phänomene, die wir in der uns bekannten vierdimensionalen Raumzeit wahrnehmbaren, erklären zu können. Hier kommt nun Lisa Randall ins Spiel. Als Expertin für String-Theorien hat sie gemeinsam mit Raman Sundrum, einem im indischen Madras geborenen US-amerikanischen theoretischen Teilchenphysiker, 1999 das Randall-Sundrum-Modell entwickelt, das einige erstaunliche Eigenschaften aufweist.2 • Die vierdimensionale Raumzeit, in der wir leben, ist in einem fünfdimensionalen Universum eingebettet. • Auch andere vierdimensionale Raumzeiten, also Paralleluniversen, können in dieses fünfdimensionale Universum eingebettet sein. • Weil das fünfdimensionale Universum stark eingerollt ist, sind wir von diesen Paralleluniversen – wahrscheinlich – unüberwindbar getrennt. Das Randall-Sundrum-Modell bietet Antworten auf viele Probleme, auf die theoretische Physiker gestoßen sind. Sogar eines der größten Rätsel der Physik wird mit ihm erklärbar: das sogenannte Hierarchieproblem. Es betrifft das Higgs-Teilchen, das den Elementarteilchen, die eine Masse besitzen, erst ihre Masse verleiht und deshalb auch für die Gravitation verantwortlich ist. Nach der Standardtheorie müsste das Higgs-Teilchen eigentlich um sehr viele Größenordnungen schwerer sein. Die Gravitationskraft kann zwar Planeten und Galaxien auf ihrer Bahn halten, auf subatomarer Ebene aber ist sie im Vergleich zu den drei anderen Grundkräften erstaunlich schwach. • Die schwache Kernkraft ist in einem Wasserstoffatom, das aus Proton und Elektron besteht, trotz ihres Namens 1026-mal stärker als die Gravitation. Zum Vergleich: Es gibt im gesamten Universum etwa 1024 Sterne.
2 Lisa Randall und Raman Sundrum, Large Mass Hierarchy from a Small Extra Dimension, Physical Review Letters, 8 (1999).
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• Die elektromagnetische Kraft, die im Wasserstoff-Atom das Proton und das Elektron aneinanderfesselt, ist 1039-mal stärker als deren Anziehung durch Gravitation. • Die starke Kernkraft ist um den Faktor 1041 stärker als die Gravitation. In dem Randall-Sundrum-Modell sind diese drei Kräfte auf „unsere“ drei Dimensionen beschränkt, nur die Gravitation durchdringt auch die beiden anderen Dimensionen und verliert so einen großen Teil ihrer Kraft. Am Anfang solcher Modelle steht eine große Vorstellungskraft. Aber reine Fantasie macht noch keinen theoretischen Physiker aus. Mit komplexester Mathematik, die teilweise erst noch entwickelt werden muss, müssen die Ideen schlüssig dargestellt werden. Dass im Randall-Sundrum-Modell nur die Gravitation, nicht aber die drei anderen Kräfte in die beiden „überzähligen“ Dimensionen durchsickern kann, ist keine Willkür, sondern beruht auf unbestechlicher Mathematik. Lisa Randall hat es so ausgedrückt: „Unsere Idee war: Wenn der Raum noch eine winzige, aufgewickelte Dimension besitzt – wir nennen sie ‚Bran‘, abgeleitet von Membran, dann gäbe es die Möglichkeit, dass die Gravitation in dieser Bran viel stärker wirkt als in den restlichen Dimensionen. In diesem Fall ergibt sich die niedrige Higgs-Masse völlig natürlich.“3
Ein weiterer Vorteil des fünfdimensionalen Randall-Sundrum-Modells ist, dass es sich experimentell beweisen lassen könnte. Um die von den anderen String-Theorien vorhergesagten Phänomene nachzuweisen, werden enorm hohe Energien benötigt. Die heutige Technik vorausgesetzt, müsste ein Teilchenbeschleuniger zum Nachweis der Stringtheorien so groß wie unsere Galaxie sein. Für das Randall-Sundrum-Modell verfügt dagegen der Large Hadron Collider des Kernforschungszentrums in Genf die benötigten Energiemengen. Randall hatte gehofft, hier einen Nachweis liefern zu können. Doch das hat bisher nicht geklappt. Der Hype um die String-Theorien ist in den letzten Jahren etwas nachgelassen. Zu abenteuerlich scheinen die Konsequenzen – zum Beispiel die Existenz paralleler Universen – zu sein. Andere Erklärungsversuche werden gesucht. Lisa Randall ist auch bei dieser Entwicklung vorne mit dabei. Sie hat mehrere Ansätze geschaffen, die die Allgemeine Relativitätstheorie in ein Teilchenmodell integrieren. Keiner von ihnen lieferte einen entscheidenden
3 Nachzulesen
unter https://science.orf.at/v2/stories/2874349/.
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Durchbruch. Aber das ist ja auch nicht die Erwartung Randalls. Im Oktober 2017 sagte sie in einem Gespräch mit Wissenschaftsjournalisten Robert Czepel: „Ich bin im Rahmen meiner Arbeit schon zufrieden, wenn ich die Dinge ein bisschen besser verstehe als es vorher möglich war. Wie ist die Raumzeit aufgebaut? Woraus besteht die unsichtbare Materie im Universum? Das sind Fragen, für die ich mich interessiere. Es geht darum, Probleme in kleinen Schritten zu lösen – so bekommt man zumindest eine Ahnung davon, was hinter all dem steht.“4
Randall ist eine Wissenschaftlerin par excellence: Sie verfolgt ein großes Ziel, nimmt Rückschläge nicht persönlich, sondern macht mit immer neuen Ideen weiter – und kommt so Erkenntnis für Erkenntnis einer TOE immer näher. Zum Beispiel hat sie bedeutende Erklärungsmöglichkeiten zu den folgenden Phänomenen geliefert, die theoretischen Physikern viel Kopfschmerzen bereiten: • Baryogenese: In einer sehr frühen Phase der Entstehung des Universums sind die Baryonen entstanden, also Teilchen mit Masse, aus der die gewöhnliche Materie besteht. Zu den Baryonen gehören unter anderem Protonen und Neutronen. Das Standardmodell kann ihre Entstehung nicht erklären. • Supersymmetrie: Diese Erweiterung soll einige Lücken des Standardmodells füllen. Sie sagt für jedes Teilchen des Standardmodells ein Partnerteilchen voraus. Supersymmetrie würde unter anderem etwas ermöglichen, das das innerhalb des ursprünglichen Standardmodells nicht durchführbar ist: die Berechnung der Masse des Higgs-Bosons, die bisher nur experimentell bestimmt werden konnte. • Kosmologische Inflation: Gleich nach dem Urknall gab es super-schnelle Ausdehnung des Universums, die theoretischen Physikern und Kosmologen noch Rätsel aufgibt. • Dunkle Materie: Auch dieses Phänomen lässt sich nicht mit dem Standardmodell der Teilchenphysik erklären. „Normale“ Materie kann elektromagnetische Strahlung abgeben, zum Beispiel mit Wellenlängen im sichtbaren Bereich. Dunkle Materie ist dagegen unsichtbar. Von ihr wird angenommen, dass sie auch in allen anderen Wellenbereichen keine
4 Nachzulesen
unter https://science.orf.at/v2/stories/2874349/.
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elektromagnetische Strahlung abgeben kann. Nur die Gravitation wirkt auf sie. Es wird geschätzt, dass es im Universum etwa fünf Mal so viel Dunkle Materie wie normale Materie gibt. ***
Lisa Randall ist nicht nur eine herausragende theoretische Physikerin, die ist auch das, was dieser Berufsgruppe meist abgesprochen wird: nahbar und verständlich. Sie beherrscht die Kunst, schwierigste theoretische Gedankengänge so darzustellen, dass auch ein Laie sie nachvollziehen kann. Der Öffentlichkeit ist Randall als Bestsellerautorin und Mitwirkende zahlreicher Radio- und Fernsehsendungen bekannt. Ihre Bücher „Verborgene Universen“5 sowie „Knocking on Heaven’s Door“6 wurden von der New York Times in die jeweilige Liste der hundert bemerkenswerten Bücher des Jahres aufgenommen. Auch in ihren öffentlichen Vorträgen vermag Randall dem Publikum komplizierte physikalische Probleme anschaulich zu erklären. Nur die wenigsten theoretischen Physiker haben es jemals geschafft, mit ihrer Arbeit in der Öffentlichkeit bekannt zu werden. Zu abseits von Alltäglichem und Allgemeinverständlichem sind ihre Forschungen. Richard Feynman und Murray Gell-Mann wären hier zu nennen. Lisa Randall gehrt zu diesem exklusiven Kreis. Von der Newsweek bis zum Time Magazine haben wichtige Zeitungen und Zeitschriften sie interviewt und auf ihre jeweiligen Listen bedeutender Persönlichkeiten gesetzt. Natürlich ist sie auch in der Wissenschaft berühmt. Ihre Präsenz liegt nicht nur an der erstaunlich großen Anzahl ihrer Veröffentlichungen – von 1985 bis 2022 hat sie 179 Fachartikel publiziert, also nahezu fünf pro Jahr. Einige ihrer Arbeiten wurden nahezu 10.000-mal zitiert, was für Arbeiten in ihrem eher exotischen Bereich der theoretischen Physik eine sehr hohe Zahl darstellt. Von dem hohen Ansehen, das sie in der wissenschaftlichen Gemeinschaft genießt, zeugen auch die zahlreichen Preise, Auszeichnungen, Ehren-Mitgliedschaften und Ehren-Doktorwürden, mit denen sie gewürdigt wurde und wird. Es fehlt nur noch der Nobelpreis. Bisher wurden allerdings nur sehr selten Leistungen in abstrakter theoretischer Physik mit diesem höchsten aller wissenschaftlichen Auszeichnungen gewürdigt. Berücksichtigt 5 Lisa
Randall, Verborgene Universen: Eine Reise in den extradimensionalen Raum, Fischer Verlag, Berlin (2006); englischer Originaltitel: Warped Passages: Unraveling the Mysteries of the Universe’s Hidden Dimensions. 6 Lisa Randall, Knocking on Heaven’s Door: How Physics and Scientific Thinking Illuminate the Universe and the Modern World, Ecco Press, New York (2011). Hier liegt keine deutsche Übersetzung vor.
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werden – ganz im Sinn des Stifters – fast ausschließlich direkt praktisch anwendbare Entwicklungen. ***
Lisa Randall ist eine Frau mit ausgesprochen vielfältigen Talenten. Nicht nur in der Wissenschaft, auch in weiteren Domänen hat sie sich hervorgetan, darunter Kunst und Philosophie. • Auf Einladung des Komponisten Hèctor Parra schrieb sie das Libretto zu dessen Oper Hypermusic Prologue: A Projective Opera in Seven Planes. Für diese Arbeit ließ sie sich von ihrem Buch „Verborgene Universen“ inspirieren. Die Oper wurde 2008 im Pariser Centre Pompidou uraufgeführt, und war anschließend in Barcelona, Luxemburg und Brüssel zu sehen. Schließlich bildete eine besondere Adaptation den Abschluss des Symposiums Universe Resounds: Kunst & Synästhesie im New Yorker Guggenheim Museum. • Randall war Kuratorin der Kunstausstellung Measure for Measure. die in den Kunst-Galerien in Los Angeles gezeigt wurde.7 So kam es, dass Randall 2005 Mitglied der American Academy of Arts and Sciences wurde – drei Jahre bevor sie als Mitglied in die National Academy of Sciences aufgenommen wurde. • 2012 erhielt sie den Andrew Gemant Award des American Institute of Physics, der jährlich für bedeutende Beiträge zur kulturellen, künstlerischen oder humanistischen Dimension der Physik verliehen wird. Auch auf dem Feld der Philosophie ist Lisa Randall unterwegs. Seit 2010 ist sie Mitglied der American Philosophical Society. Ausschlaggebend für ihre Mitgliedschaft waren ihre Erfolge, die sie als theoretische Physikerin erzielte. In der Begründung für ihre Mitgliedschaft heißt es: „Die Arbeiten von Lisa Randall und Raman Sundrum über die eingebettete Welt mit verzerrten Extradimensionen gehören zu den fünf am häufigsten zitierten Arbeiten der letzten zwanzig Jahre im Bereich der Hochenergie-Theorie. (…) Als ungewöhnlich vielseitige und leistungsstarke Feldtheoretikerin hat Randall auch wichtige Beiträge zur Theorie der Supersymmetriebrechung sowie zur Phänomenologie, zur Inflation, zur CP-Ver-
7 Nachzulesen
unter https://carpenter.center/program/measure-for-measure.
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letzung, zu elektroschwachen Strahlungskorrekturen, zum Axion, zur Physik schwerer Quarks und zur dynamischen Symmetriebrechung geleistet.“8
Hier zeigt sich im Übrigen, dass sich die Standards und Zielsetzungen der Philosophie in Amerika deutlich von denen in Europa unterscheiden. Wer könnte sich dem Eindruck entziehen, dass Wissenschaft für die amerikanische Philosophie einen ganz anderen Stellenwert hat als für die europäische Philosophie? Auch politisch ist Lisa Randall aktiv. Sie fördert explizit Physikerinnen und unterstützt das Ziel, dass sich mehr Frauen in der Forschung engagieren und in ihrem Bereich eine führende Rolle einnehmen können. So sagt sie: „Wenn man sich die Regale mit wissenschaftlichen Büchern ansieht, findet man reihenweise Bücher, die von Männern geschrieben wurden. Das kann für Frauen furchtbar abschreckend sein.“9
Nun noch ein letztes Beispiel für Lisa Randalls Vielseitigkeit: Sie hatte einmal einen – ungeplanten – Gastauftritt in der amerikanischen Fernsehserie The Big Bang Theory. Sie besuchte ein paar Freunde bei den Filmaufnahmen und die Filmcrew ergriff sofort die Gelegenheit, sie als Statistin in die Folge zu integrieren – in Folge 15 der dritten Staffel ist sie zu sehen. Randall ließ sich auf den Spaß ein und befolgte die Regieanweisung sehr gewissenhaft: „Sitz einfach da und mach dich unsichtbar!“10 Dass sie Humor hat, zeigt ihre Einschätzung ihrer damaligen Leistung: „Ich war übrigens richtig gut!“ Sitz einfach da und mach dich unsichtbar … Seit der Antike wurde von Frauen erwartet, dass sie sich an diese Aufforderung halten. Lange Zeit wollte man nicht wahrhaben, dass sie genauso bildungshungrig, neugierig und kreativ wie Männer sein können. Nur wenigen Frauen gelang es, sich einen Platz in der Wissenschaft zu erkämpfen. Fast immer hatten sie nur dann eine Chance, wenn sie in bildungsfreundliche und weltoffene Familien hineingeboren wurden. Das Potenzial unzähliger anderer wurde vergeudet. Heute ist es einfacher für Frauen geworden, in der Wissenschaft Karriere zu machen. Auch wenn immer noch Glaubenssätze wie „Mädchen
8 Nachzulesen
auf der Webseite der American Philosophical Society: https://search.amphilsoc.org/ memhist/search?creator=Lisa+Randall&title=&subject=&subdiv=&mem=&year=&year-max=&de ad=&keyword=&smode=advanced. 9 Nachzulesen auf www.wisefamousquotes.com/lisa-randall-quotes/. 10 Interview mit Robert Czepel am 27.10.2017, nachzulesen auf https://science.orf.at/v2/ stories/2874349/.
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werden Friseusen, keine Wissenschaftlerinnen“ kursieren und ungerechte Beurteilungen Selbstzweifel schüren, haben sich Frauen ihren Platz in der Wissenschaft erkämpft. Manche Universitäten streben sogar bewusst einen höheren Frauenanteil an und schreiben Stellenausschreibungen explizit für Frauen aus. Schon macht sich Widerstand von einigen männlichen Kollegen bemerkbar, die sich übergangen fühlen. Sitz einfach da und mach dich unsichtbar … – gut, dass Lisa Randall nur ein einziges Mal in ihrem Leben diese Regieanweisung befolgt hat. Den Rest ihrer Zeit verbringt sie damit, am Large Hadron Collider des CERN in Genf danach zu forschen, wie Gravitation funktioniert, dem Geheimnis der Dunklen Materie auf die Spur zu kommen und das Standardmodell der Teilchenphysik und die Allgemeine Relativitätstheorie in die TOE, der Theory of Everything, zu integrieren.
18 Maryam Mirzakhani (1977–2017) Die erste Empfängerin der Fields-Medaille
Seit 1936 wird auf dem alle vier Jahre stattfindenden Internationalen Mathematiker-Kongress die Fields-Medaille als höchste wissenschaftliche Auszeichnung verliehen. Preisträger sind jeweils zwei oder mehr Mathematiker, die nicht älter als 40 Jahre sein dürfen. Bis 2014 waren die insgesamt 52 Preisträger dieses inoffiziellen Nobelpreises der Mathematik ausschließlich Männer. Erst in jenem Jahr, 78 Jahre nach der Stiftung des Preises, wurde er zum ersten Mal an eine Frau vergeben: an die Iranerin Maryam Mirzakhani. So wie Emmy Noether in den 1930er-Jahren hatte Mirzakhani erstaunlich abstrakte Strukturen geschaffen, die für NichtMathematiker unverständlich sind, aber dennoch Eingang in unseren Alltag gefunden haben. Die mathematischen Themen, mit denen sich Mirzakhani beschäftigte, waren im Wesentlichen die folgenden: 1. Hyperbolische Geometrie: Wenn wir uns Dreiecke, Geraden, Winkel etc. vorstellen, bewegen wir uns im euklidischen Raum, der nach dem antiken griechischen Mathematiker Euklid benannt ist. Die hyperbolische Geometrie unterscheidet sich von der euklidischen Geometrie in einem einzigen Kriterium: Parallelität. In einer euklidischen Ebene gibt es zu jeder gegebenen Gerade und einem Punkt, der nicht auf dieser Gerade liegt, immer genau eine weitere Gerade, die durch den gegebenen Punkt geht und parallel zur ersten Gerade verläuft. Die beiden Parallelen haben immer den gleichen Abstand zueinander und berühren sich nie. In der hyperbolischen Geometrie gibt es dagegen mindestens zwei Geraden, © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 L. Jaeger, Geniale Frauen in der Wissenschaft, https://doi.org/10.1007/978-3-662-66528-2_18
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die durch den Punkt gehen und zur ursprünglichen Gerade parallel sind. Hyperbolische Räume widersprechen also massiv unseren Erfahrungen und Vorstellungsmöglichkeiten. 2. Symplektische Geometrie: Dies ist eine nicht-euklidische Geometrie, die noch abstrakter und komplexer ist als die hyperbolische Geometrie. Sie ist Teil der Differentialgeometrie, die sich mit gekrümmten Flächen beschäftigt, die weder Löcher noch scharfe Kanten aufweisen. Mathematiker nennen solche Flächen differenzierbar. Eine solche differenzierbare Ebene wird als symplektisch bezeichnet, wenn für sie – vereinfacht gesagt – nicht a*b = b*a gilt, sondern a*b = –b*a. Auch diese abstrakte Geometrie ist kontraintuitiv, sie hat aber für die theoretische Physik, vor allem die Quantentheorie, eine große Bedeutung. 3. Die Teichmüller- sowie die Ergodentheorie sind noch einmal um ein Vielfaches abstrakter und komplexer als die oben genannten Geometrien. Erstere beschäftigt sich mit sogenannten kompakten Riemannschen Flächen, letztere ist eine Kombination aus Maßtheorie, die die Entfernung von gegebenenfalls sehr abstrakten Punkten voneinander bestimmt, Stochastik, die Wahrscheinlichkeitsverteilungen berechnet, und der Theorie dynamischer Systeme. Es soll Richard Feynman gewesen sein, der einmal sagte: „Shut up and calcultae!“ Mit anderen Worten: Versuch erst gar nicht dir vorzustellen, warum etwas in der abstrakten Mathematik so ist, wie es ist. Überzeuge dich, dass die Rechenschritte in sich logisch sind und rechne es einfach! Stellt man sich die abstrakte Mathematik als einen Anbau an das Haus der klassischen Mathematik vor, so hatte Emmy Noether in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts die Tür zu diesem Anbau vollends aufgestoßen und auch entdeckt, dass dieser Anbau unendlich größer ist als das ursprüngliche Gebäude. Hundert Jahre später war Maryam Mirzakhani eine Mathematikerin, die sich sehr geschickt in den Etagen dieses Anbaus bewegte und immer neue Korridore, Zimmerfluchten und Verbindungstüren aufspürte. ***
Maryam Mirzakhani wurde am 12. Mai 1977 als drittes von vier Kindern in Teheran, der Hauptstadt des Irans, geboren. Ihr Vater Ahmad Mirzakhani war Elektroingenieur, ihre Mutter Zahra Hausfrau. Als Kind war Maryam lebhaft, neugierig und klug, sie liebte das Lesen und das Lernen. Manchmal konnte sie ihren sechs Jahre älteren Bruder Arash überreden, ihr von dem
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zu erzählen, was er in der Schule gelernt hatte. Einmal forderte er sie heraus, die Summe aller Zahlen von 1 bis 100 zu ermitteln, und erzählte ihr anschließend von der genialen Lösung, die der Mathematiker Carl Friedrich Gauß als Kind gefunden hatte. Dieser hatte erkannt, dass die jeweils größte und kleinste Zahl der Zahlenreihe von 1 bis 100 die Summe 101 ergibt: 100 + 1 = 101; 99 + 2 = 101; 98 + 3 = 101 usw. Er musste also nur 50*101 rechnen und kam so umgehend auf die Lösung: 5050. Maryam war begeistert von diesem Trick: „Das war das erste Mal, dass ich mich über eine schöne Lösung gefreut habe, obwohl ich sie selbst nicht hatte finden können.“1
Diese Anekdote schenkt uns einen Hinweis auf eine weitere hervorragende Eigenschaft, die neben Intelligenz und Neugier bezeichnend für die Persönlichkeit Miryam Mirzakhanis war: ihr positives Wesen. Statt sich darüber zu ärgern, dass sie eine Antwort nicht hatte finden können, oder gar neidisch auf jemanden zu sein, dem dies gelungen war, erfüllte sie die Ästhetik des Lösungsweges mit Glück. Dieser Wesenszug wurde von ihren liebevollen Eltern unterstützt, die Maryam und ihren Geschwistern vorlebten, dass es wichtiger ist, seinen Werten treu zu bleiben, als sich um Geld und Erfolg zu kümmern. Zu den im Elternhaus hoch angesehenen Eigenschaften gehörten auch Bescheidenheit und Hilfsbereitschaft. Maryams Schwester Leila beschrieb später eine glückliche Kindheit mit haltungsstarken Eltern, die ihren Kindern Liebe, Gelassenheit, Frieden und Respekt schenkten und von ihnen erwarteten, das Beste aus ihrem Leben zu machen: „Es war ein Ort, den ich als Himmel bezeichnen würde.“2 Im krassen Gegensatz zur Geborgenheit innerhalb der Familie steht das politische Geschehen in Mirzakhanis Heimatland. 1978, ein Jahr nach Miryams Geburt, begannen im Iran Unruhen und Massenproteste, die sich innerhalb kurzer Zeit zur Iranischen Revolution ausweiten. Auf die Vertreibung des Schahs 1979 folgt die Rückkehr des Ayatollahs Khomeini aus dem Exil und die Ausrufung der Islamischen Republik Iran, die bis heute eine orthodoxe Theokratie ist. Miryams Eltern setzen alles daran, ihren Kindern trotz allem eine unbeschwerte Kindheit zu schenken. Es 1 „Interview
with Research Fellow Maryam Mirzakhani“, Clay Mathematics Institute Annual Report (2008), S. 11–13; nachzulesen unter www.claymath.org/library/annual_report/ ar2008/08AnnualReport.pdf. 2 Nachzulesen unter www.egmo2018.org/blog/wimbs-maryam-mirzakhani-part3/
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gelingt ihnen, auch den verlustreichen, von 1980 bis 1988 währenden Krieg des Irans mit dem Irak von den Kindern fernzuhalten. Als Miryam elf Jahre alt ist, sie also in das Alter kommt, in dem ihre Eltern sie nicht mehr vor eigenen Erfahrungen zur politischen Lage schützen können, werden die Zeiten wieder ruhiger. Später wird sie sagen, dass sie das Glück hatte, zu einer Generation zu gehören, die nicht mehr direkt von den Ausschreitungen und Härten betroffen war, die die Errichtung des Gottesstaates Iran begleitet hatten. Und auch in einer anderen Sache hat Miryam Mirzakhanis Glück: Anders als die heutige Taliban-Herrschaft in Afghanistan schließt die Regierung des Ayatollahs Khomeini Mädchen nicht von höherer Bildung aus. Maryam besucht die Teheraner Farzanegan-Mädchenschule, die für außergewöhnlich talentierte Schülerinnen einen besonderen Mittel- und Oberstufenunterricht bietet. Bevor Maryam hier ihre Begabung für Mathematik entdeckt, steht für sie ein anderer Berufswunsch im Vordergrund: „Als Kind träumte ich davon, Schriftstellerin zu werden. (…) Vor meinem letzten Jahr an der High School hätte ich nie gedacht, dass ich mich der Mathematik widmen würde.“3
Maryam Mirzakhani glaubt nicht, dass sie mathematisch begabt sei. Das liegt wohl auch an einer Lehrerin, die ihr einmal gesagt haben soll, sie sei im Fach Mathematik völlig untalentiert – ein Satz, den sich schon so manches junge Mädchen sehr zu Herzen genommen hat. Doch bei Maryam bricht sich die Lust an der Mathematik-Bahn. Die Wende bringt ein MathematikSommerworkshop für Schüler mit außerordentlicher mathematischer Begabung ab 16 Jahren. Maryam darf an ihm teilnehmen, obwohl sie erst 15 Jahre alt ist. Ein im Workshop von Professor Ebad Mahmoodian gestellte Problem betrifft die Zerlegung von Graphen. Die meisten Leser erinnern sich gewiss noch an die Linien, die sie in ein zweidimensionales Koordinatensystem zeichnen sollten – Geraden, Parabeln, Asymptoten … In der Mathematik ist ein Graph allerdings sehr viel allgemeiner definiert: als eine Menge von Knoten („Punkten“), die durch sogenannte Kanten („Verbindungen“), geradlinig verbunden sind. Die Schüler, die an Mahmoodians Sommercamp teilnehmen, sind längst über die Phase hinaus, in denen die üblichen Graphen aus dem normalen Schulunterricht sie interessieren 3 „Interview with Research Fellow Maryam Mirzakhani”, Clay Mathematics Institute Annual Report (2008), S. 11–13; nachzulesen unter www.claymath.org/library/annual_report/ ar2008/08AnnualReport.pdf
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könnten. Die ihnen gestellte Aufgabe lautet, einen bestimmten Graphentypus in sogenannte 5-zyklische Graphen zu zerlegen. Als ersten Schritt schlägt Mahmoodian den Schülern vor, ein Beispiel für einen Graphen dieses besonderen Typs zu konstruieren. Da bereits dies eine sehr anspruchsvolle Aufgabe für 16-jährige Schüler ist, bietet er einen Preis von einem Dollar für jedes Beispiel, das sie finden. Maryam entdeckte nach kurzer Zeit eine ganze Familie von Graphen mit der geforderten Eigenschaft, die unendlich viele Mitglieder hat – zu einer Auszahlung des Preisgeldes ist es nie gekommen.4 Beeindruckt lädt Mahmoodian Maryam ein, gemeinsam mit ihm an der Teheraner Sharif-Universität an diesem Problem weiterzuarbeiten. 1995 veröffentlicht er mit der nun 17-jährigen Maryam Mirzakhani die Lösung des Problems.5 Maryam wird immer weiter in die Mathematik hineingezogen. So wie im Sport gibt es auch in der Mathematik Olympiaden. Seit 1959 entsenden die teilnehmenden Länder jedes Jahr bis zu sechs Schüler zur Internationalen Mathematik-Olympiade IMO. Ausgewählt werden die Jugendlichen in vorgeschalteten nationalen Olympiaden. Mahmoodian überzeugt die Verantwortlichen, Maryam Mirzakhani zur nationalen Mathematik-Olympiade zuzulassen. Nie zuvor hat im Iran ein Mädchen an diesem Auswahlverfahren teilgenommen. Zudem geht Maryam noch in die zehnte Klasse und ist nicht, wie es die Teilnahmebedingungen vorsehen, in der Oberstufe. Wieder ist Mirzakhani ein Jahr zu jung, und wieder wird für sie eine Ausnahme gemacht. In der nationalen Veranstaltung gewinnt sie eine Goldmedaille und wird in den Kader aufgenommen, der den Iran bei der im Juli 1994 in Hongkong stattfindenden IMO vertreten soll. In Hongkong erzielt sie 41 von 42 Punkten – eine nur selten erreichte Leistung – und gewinnt eine Goldmedaille. Im darauf folgenden Jahr ist sie wieder mit dabei und gewinnt in Toronto mit der vollen Punktzahl ihre zweite internationale Goldmedaille. Bei dieser Olympiade waren 73 Länder vertreten, unter den insgesamt 439 Jugendlichen waren nur 27 Mädchen. Eine gute Freundin Maryams von der Farzanegan-Mädchenschule, Roya Beheshti, nimmt ebenfalls an der Olympiade in Hongkong teil, wo sie mit 35 von 42 Punkten eine Silbermedaille gewinnt. Nach Abschluss der Schule beginnen Mirzakhani und Beheshti ein Studium an der Teheraner Sharif4 Statement
von Ramin Takloo-Bighash in: Hélène Barcelo and Stephen Kennedy: Maryam Mirzakhani (1977–2017), Notices of the AMS, November 2018; nachzulesen unter www.ams.org/journals/ notices/201810/rnoti-p1221.pdf. 5 Ebad Mahmoodian und Maryam Mirzakhani, Decomposition of Complete Tripartite Graphs into 5-cycles Mathematica Applications, 324, Kluwer Academic Publications, Dordrecht (1995).
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Universität, die im Jahr 1344 als Eliteuniversität gegründet wurde. Noohi Behrang, früherer Ausbilder für die Internationale Mathematik-Olympiade und heute Dozent am Fachbereich Mathematik der Queen Mary University of London, meinte sinngemäß: „Sie sagte mir, dass sie an der Universität mit Mathematik weitermachen wollte, weil sie Mathematiker als nette Menschen kennengelernt hatte. Sie liebte Mathematik, aber gleichzeitig mochte sie die menschliche Seite dieses Fachs. Die Freundlichkeit und die Nettigkeit der Mathematiker war ihr wichtig, und auch sie selbst war in der Tat ein Beispiel für einen freundlichen und netten Menschen.“6
Am 17. März 1998 findet die Geschichte von Miryam Mirzakhani und Roya Beheshti fast ein Ende. Die beiden Freundinnen nehmen an einer Konferenz teil, die in der 800 km entfernten iranischen Stadt Ahvaz stattfindet, und fahren dann zusammen mit anderen hochbegabten Studenten in einem Bus zurück in die Hauptstadt. Der Bus stürzt in eine Schlucht, sieben Studenten und die beiden Busfahrer verlieren ihr Leben. Mirzakhani und Beheshti haben Glück und entkommen knapp dem Tod. Ein Glück war es auch für die Mathematik. Ein Jahr später bringen die beiden das Buch Elementary Number Theory, Challenging Problems heraus.7 Beheshti lehrt heute am renommierten MIT. ***
Am Anfang ist die Mathematik für Maryam noch ein Spiel, aber dank der Mathematiker und Mathematikerinnen, die sie kennenlernt, wird das Spiel zu einer Leidenschaft: „Als Teenager genoss ich die Herausforderung. Vor allem aber habe ich an der Sharif-Universität viele inspirierende Mathematiker und Freunde kennengelernt. Je mehr Zeit ich mit Mathematik verbrachte, desto begeisterter wurde ich.“8
6 www.egmo2018.org/blog/wimbs-maryam-mirzakhani-part4/. 7 Maryam Mirzakhani, Roya Beheshti, Elementare Zahlentheorie,Herausfordernde Probleme, Fatemi Publishers, Iran (1999; das Buch ist in persischer Sprache verfasst). 8 Interview in The Guardian, 13. August 2014.
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Noch bevor Mirzakhani 1999 an der Sharif-Universität den Bachelor-Grad erwirbt, wird sie von der American Mathematical Society für ihre Arbeit an der Entwicklung eines einfachen Beweises für ein aus dem Jahr 1916 stammendes mathematisches Theorem ausgezeichnet.9 Nicht viele BachelorStudenten können einen solchen Erfolg aufweisen. Nun wechselt Mirzakhani an die Harvard-Universität in den Vereinigten Staaten, um dort über Riemannsche Flächen zu promovieren; ihr Doktorvater ist einer der Gewinner der Fields-Medaille von 1998, Curtis McMullen. Man darf sich nicht von dem Wort „Fläche“ täuschen lassen, denn es handelt sich nicht etwa um zweidimensionale, sondern um abstrakte mehrdimensionale Gebilde, die im einfachsten Fall lokal die Struktur von komplexen Zahlen besitzen. Stark vereinfacht lassen sich Riemannsche Flächen als Objekte mit mehreren Löchern vorstellen. Mirkazhani wollte nun – wiederum stark vereinfacht ausgedrückt – wissen: Wie viele verschiedene Wicklungen mit einem Band einer bestimmten Länge kann man um eine Riemannsche Fläche – zum Beispiel zwei aneinandergepresste Donuts, die sozusagen eine räumliche Acht bilden – wickeln, ohne dass es sich überlappt? Weil es sich nicht um zwei Donuts, sondern um komplexe Zahlenebenen handelt, ist diese Aufgabe höchst abstrakt. Maryam Mirzakhani erkannte, dass sich die Methode umdrehen lässt: Anstatt die Figur zu fixieren und die Anzahl der Umwicklungen zu zählen, ermittelte sie den Durchschnitt aller Zahlen, die Punkten in einem Modulraum der Riemannschen Flächen entsprechen. Ein Modulraum ist eine Menge von Punkten, die eine der Formen darstellt, die eine Fläche im Dreidimensionalen annehmen kann. Um einen solchen Durchschnitt zu berechnen, muss man die Größe – das „Volumen“ – bestimmter Teilräume der Riemannschen Flächen berechnen. Mirzakhani fand eine clevere Formel für die Volumina und löste so das Problem. 2004 promoviert sie mit dieser Arbeit.10 Das ihr von Harvard angebotene Junior-Stipendium lehnt die 27-Jährige ab und wird Forschungsstipendiatin des Clay Mathematics Institute an der Princeton-Universität in New Jersey, wo sie auch lehrt. 2008 wird sie mit nur 31 Jahren ordentliche Professorin an der Stanford University in Kalifornien. Innerhalb von weniger als
9 Maryam
Mirzakhani, A Simple Proof of a Theorem of Schur, The American Mathematical Monthly, 105, 3 (1998). 10 Miryam Mirzankhani, Simple Geodesics on Hyperbolic Surfaces and the Volume of the Moduli Space of Curves (Einfache Geodäten auf hyperbolischen Flächen und das Volumen des Moduli-Raums von Kurven). Verfügbar unter https://www.math.stonybrook.edu/~mlyubich/Archive/Geometry/Teichmuller%20Space/Mirz3.pdf.
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zehn Jahren ist aus einer Studienanfängerin im Iran eine der weltweit bedeutendsten Mathematikerinnen geworden. Mit Anfang 30 ist Maryam Mirzakhani führend auf den Gebieten der hyperbolischen Geometrie, der Topologie und der Dynamik. Im Anschluss an ihre Doktorarbeit veröffentlicht sie weitere Beiträge zur Theorie der Riemannschen Flächen. Sie beschäftigt sich mit Geodäten, das sind Linien, die zwei Punkte auf möglichst kurzem Wege miteinander verbinden. Auf zweidimensionalen Ebenen ist die Sache einfach: Hier ist die kürzeste Verbindung immer eine Grade. Schon im dreidimensionalen Raum kann der Verlauf von Geodäten kontraintuitiv sein. Wenn zum Beispiel in einer Schuhschachtel zwei Punkte verbunden werden sollen, von denen sich der eine in der Mitte einer Seitenkante auf dem Schachtelboden, der andere auf der gegenüberliegenden Kante des Deckels befindet, dann verläuft die Geodäte nicht über den Schachtelboden bis zur gegenüberliegenden Wand und dann die Wand hinauf bis zum zweiten Punkt, sondern quer über den Schachtelboden, eine der Seiten und den Schachteldeckel. Geodäten sind zum Beispiel auch in den mehrdimensionalen Räumen von Bedeutung, die in der Gravitationstheorie Einsteins auftauchen. Man kennt das dreidimensionale Bild von einer Art Gummimatte, in der die Erdkugel in einer tiefen Ausbuchtung liegt, die sie durch ihre Masse verursacht. Will man die Gravitation berechnen, so hat das mit den kürzesten Wegen zu tun, die ein Objekt auf dieser seltsam verformten Gummimatte (die in der Realität natürlich nicht drei- sondern mehrdimensional ist) zurücklegt. In einem gewissen Zusammenhang mit den Geodäten steht Mirzakhanis nächstes Projekt: Sie untersucht die Dynamik einer Punktmasse (auch als Billardkugel vorstellbar), die sich in einem Polygon, also einem regelmäßigen n-Eck, bewegt. Wie beim Billard bewegt sich der Punkt auf einer geraden Linie, bis er auf die Kante des Polygons trifft; dann prallt er in demselben Winkel zurück, in dem er aufgeschlagen ist. Mathematiker stellen sich mehrere Fragen zu diesem Vorgang. Eine davon lautet: Wird sich der Weg des Punktes innerhalb des gegebenen Polygons irgendwann wiederholen? Und wenn ja, wie viele solcher Wege gibt es, und wie sehen sie im Detail aus? Oder wird das Bewegungsmuster irgendwann jeden Ort der Fläche berührt haben? Die Antwort auf die Frage, ob in allen Polygonen sich wiederholende Bahnen finden lassen, wartet bis heute auf eine Antwort. Doch auf dem Weg dorthin hat Mirzakhani zusammen mit ihrem Kollegen Alex Eskin eine Methode entwickelt, die den Raum des Billardtisches in einen Raum mit mehr Dimensionen einbettet. Auch die Punkte werden in eine höhere Dimension gehoben, aus ihnen werden Flächen, die lokal entweder flach oder kegelförmig sind.
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Mit diesem Trick konnten Mirzakhani und Eskin einen bestimmten Satz über eine Gruppe symmetrischer geometrischer Objekte beweisen, der Mathematikern schon lange Kopfschmerzen bereitet hatte. Ihr Beweis ist – ganz im Gegensatz zu den meisten mathematischen Beweisen, die oft nur wenige Seiten umfassen – ein umfangreiches Werk von 200 Seiten.11 Das Theorem von Mirzakhani und Eskin wird von Mathematikern als „Zauberstab“ bezeichnet, weil es die Lösung auch vieler weiterer, zuvor unlösbarer mathematischer Probleme ermöglicht. Zum Beispiel lässt sich mit ihm die Ausbreitung von Gasen modellieren. Zum Erstaunen der meisten Mathematiker führt Mirzakhanis Trick, der ja eine höhere Anzahl an Dimensionen einführt und nutzt, nicht zu einem komplexeren Verhalten der Gleichungen. Sie hätten ein fraktales Verhalten der Gleichungen erwartet und ein Abrutschen in chaotische Prozesse. Stattdessen stabilisieren sich die Systeme. ***
Mirzakhani hat im Verlauf ihrer Karriere viele Auszeichnungen erhalten, hier nur einige Beispiele: • 2009 wird ihre Dissertation von der American Mathematical Society ausgezeichnet. • 2013 erhält sie den begehrten Satter Prize, der alle zwei Jahre an herausragende Mathematikerinnen vergeben wird. • 2014 wird ihr der Clay Research Award verliehen, mit dem jährlich herausragende mathematische Leistungen honoriert werden. Am 13. August 2014 folgt der Höhepunkt in Maryam Mirzakhanis Karriere: Ihr wird die Fields-Medaille verliehen. In seiner Laudatio erklärt der amerikanische Mathematiker Jordan Ellenberg Mirzakhanis Forschungsergebnisse wie folgt: „[Ihre] Arbeit verbindet gekonnt Dynamik mit Geometrie. Unter anderem beschäftigt sie sich mit Billard. Aber jetzt, in einem für die moderne Mathematik sehr charakteristischen Schritt, wird es zu einer Art Metasystem: Sie betrachtet nicht nur einen einzigen Billardtisch, sondern das Universum von allen möglichen Billardtischen. Und die Art der Dynamik, die sie studiert,
11 Alex Eskin und Marjam Mirzakhani, Invariant and stationary measures for the SL(2,R) action on Moduli space, verfügbar unter https://arxiv.org/abs/1302.3320.
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betrifft nicht direkt die Bewegung der Billardkugeln auf dem Tisch, sondern vielmehr eine Transformation des Billardtisches selbst, der seine Form auf regelgesteuerte Weise ändert. Wenn Sie so wollen, bewegt sich der Tisch selbst wie ein seltsamer Planet um das Universum aller möglichen Tische … Dies ist nicht die Art von Dingen, die Sie tun, um ein Billardspiel zu gewinnen, aber es ist die Art von Dingen, die Sie tun, um eine Fields-Medaille zu gewinnen.“12
Auch an diesem Höhepunkt ihrer Karriere zeigt Maryam Mirzakhani sich bescheiden und meint anlässlich der Feier in ihrem Fachbereich, dass es so viele andere Personen mit hohen Verdiensten gäbe, die die begehrte Auszeichnung statt ihrer hätten gewinnen sollen. Kaum jemand teilt ihre Meinung, es ist unter ihren Kolleginnen und Kollegen klar, dass sie diesen Preis zweifellos verdient hat. Die Fields-Medaille verhilft Mirzakhani auch in ihrem Heimatsland zu großer Popularität. Stolz gratuliert ihr der iranische Präsident Hassan Rohani zum Gewinn des bedeutendsten Mathematikpreises der Welt. Mirzakhani könnte ein Medienstar werden, doch sie meidet eher die Öffentlichkeit. Es hat sie nie gedrängt, sich vor aller Welt zu politischen oder gesellschaftlichen Fragen zu äußern. Umso bemerkenswerter ist ihre Rede vor der American Mathematical Society im Jahr 2013, in der sie anmerkt, dass die Situation für Frauen in der Mathematik noch lange nicht ideal sei: „Die sozialen Barrieren für an der Mathematik interessierte Mädchen sind heute vielleicht nicht geringer als zu der Zeit, in der ich aufwuchs. Und die Vereinbarkeit von Beruf und Familie ist nach wie vor eine große Herausforderung. Das stellt die meisten Frauen vor schwierige Entscheidungen, die in der Regel ihre Arbeit beeinträchtigen.“13 ***
Parallel zu ihrer überaus erfolgreichen Karriere als Mathematikerin gelingt es Maryam Mirzakhani, ein erfülltes Familienleben zu führen. Im Jahr 2008 heiratet sie den Tschechen Jan Vondrák, der sich mit theoretischer 12 Jordan
Ellenberg, Math ist getting dynamic, vom 14. August 2014; verfügbar unter: www.slate.com/ articles/life/do_the_math/2014/08/maryam_mirzakhani_fields_medal_first_woman_to_win_math_s_ biggest_prize_works.html. 13 Maryam Mirzakhani, in einem 2013 an der American Mathematical Society gehaltenen Vortrag nach Erhalt des Ruth Lyttl Satter Preises; http://www.ams.org/notices/201304/rnoti-p490.pdfi.
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Informatik und angewandter Mathematik beschäftigt und heute außerordentlicher Professor an der Stanford University ist. Im Jahr 2011 kommt Tochter Anahita zur Welt. Doch das Schicksal hält auch Schlimmes für Maryam Mirzakhani bereit. Als sie 2014 die Fields-Medaille erhält, ist sie bereits an Brustkrebs erkrankt. Die Reise zur Preisverleihung nach Seoul wird für die erschöpfte Frau zur Strapaze. Ingrid Daubechies, hochdekorierte Mathematikprofessorin in Princeton, beweist Voraussicht, als sie einige Frauen beauftragt, allzu aufdringlich werdende Gratulanten und Pressevertreter auf Abstand zur Preisträgerin zu halten. Noch während die Feierlichkeiten laufen, muss Mirzakhani die Veranstaltung verlassen. Doch die Fields-Medaille hat sie persönlich unter tosendem Applaus entgegennehmen können. Auch als 2017 der Krebs zurückkehrt, bleibt Mirzakhani ein positiver Mensch. Sie sagt, sie sei in eine liebevolle Familie hineingeboren worden und habe einen guten Verstand, und das hätten nicht alle Menschen.14 Am 14. Juli 2017 stirbt Miryam Mirzakhani mit nur 40 Jahren in Stanford. Sie wusste, was ihr bevorstand; ihr Ehemann Jan Vondrák sagte auf der zu ihren Ehren im Auditorium der Stanford-Universität stattfindenden Trauerfeier: „Sie sagte: ‚Weint nicht unüberlegt um mich. Es gibt eine Menge Probleme in der Welt. Weinen Sie um die, die Ihnen nahe stehen und denen Sie helfen können.‘“15
Eleny Ionel, eine aus Rumänien stammende Professorin und Vorsitzende des Fachbereichs Mathematik in Stanford, war in weitaus emotionalerer Stimmung: „Es ist immer noch schwer vorstellbar, dass jemand mit ihrer außergewöhnlichen Energie, Entschlossenheit und Brillanz in so jungen Jahren von uns gegangen ist. Ihre Leidenschaft für die Mathematik hat so viele Leben berührt und wird auch weiterhin eine Inspiration für viele andere sein.“16
Iranische Zeitungen brechen mit dem Tabu, Bilder von Frauen ohne Kopfbedeckung zu veröffentlichen. Da Mirzakhani schon bald nach ihrer Aus14 https://news.stanford.edu/2017/10/23/colleagues-friends-family-gather-remember-stanford-
professor-maryam-mirzakhani/
15 ebd. 16 ebd.
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reise in die USA kein Kopftuch mehr trug, existieren keine aktuellen Fotos von ihr mit der im Iran vorgeschriebenen Verhüllung. Die Redaktionen müssen auf Bilder zurückgreifen, die sie ohne Hijab zeigen. Sogar eines der vom iranischen Präsidenten Hassan Rohani auf Twitter geposteten Bilder zeigt Mirzakhani ohne Kopftuch. Seine Erklärung gibt ein Zeugnis davon, welchen Stellenwert Mirzakhanis Leistung in einem Land hat, das aufgrund seiner Bestrebungen, Atombomben zu bauen, in der Weltgemeinschaft nur wenige Freunde hat: „Der traurige Tod von Maryam Mirzakhani, der bedeutenden iranischen und weltbekannten Mathematikerin, ist zutiefst erschütternd.“17
Maryam Mirzakhani hat die Mathematik bereichert und ihr neue Räume erobert. So unpolitisch sie zu Lebzeiten auch gewesen war, setzte ihr Tod Zeichen und brachte Dinge in Bewegung. • Das iranische Parlament beschließt unter dem Eindruck von Mirzakhanis Tod ein Gesetz, das Kindern iranischer Mütter, die – so wie Mirzakhani – mit Ausländern verheiratet sind, die iranische Staatsangehörigkeit annehmen können. Zuvor hatten die aus einer solchen Ehe stammenden Kinder große Schwierigkeiten, in den Iran einzureisen. • 2018 beschließen in Rio de Janeiro die Delegierten eines internationalen Kongresses von Mathematikerinnen, zukünftig den 12. Mai, dem Geburtstag von Maryam Mirzakhani, als jährlichen weltweiten Feiertag für Frauen in der Mathematik einzuführen. • Seit 2021 wird der Maryam Mirzakhani New Frontiers Prize jedes Jahr an herausragende Nachwuchs-Mathematikerinnen verliehen. • 2022 gewinnt die 37-jährige ukrainische Mathematikerin Maryna Viazovska, die an der Polytechnischen Universität in Lausanne tätig ist, als zweite Frau die Fields-Medaille.
17 Maryam Mirzakhani: Iranian newspapers break hijab taboo in tributes, The Guardian vom 16. Juli 2017; nachzulesen unter: www.theguardian.com/world/2017/jul/16/maryam-mirzakhani-iraniannewspapers-break-hijab-taboo-in-tributes.
Epilog
Selbst viele Wissenschaftler haben Namen wie Émilie du Châtelet, Laura Bassi oder Sofja Kowalewskaja noch nie gehört. Sogar die Wirkung von Frauen im 20. Jahrhundert ist nicht sehr vielen bekannt. Eine Ausnahme bildet Marie Curie mit ihren zwei Nobelpreisen, aber wer hat schon von Emmy Noether, Chien-Shiung Wu, Rosalind Franklin, Jocelyn Bell Burnell oder gar Grete Hermann gehört? Und es gibt noch zahlreiche weitere wissenschaftlich geniale Frauen, die wir nicht explizit aufgenommen haben, denn es hätte den Umfang dieses Buches gesprengt. Doch wir wollen hier noch vier große Namen erwähnen und einige sehr kurze Informationen über sie teilen: 1. Maria Goeppert Mayer (1906–1972): Sie war eine deutschstämmige amerikanische theoretische Physikerin und die erst zweite Nobelpreisträgerin für Physik, den sie genau 50 Jahre nach Marie Curie für ihr Kernschalenmodell des Atomkerns erhielt. 2. Barbara McClintock (1902–1992): Sie war eine amerikanische Wissenschaftlerin und frühe Zytogenetikerin (Teilgebiet der Genetik, das die Chromosomen vorwiegend mit dem Lichtmikroskop analysiert), die 1983 mit dem Nobelpreis für Physiologie/Medizin ausgezeichnet wurde. Bis heute ist sie die einzige Frau, die einen ungeteilten Nobelpreis für Physiologie/Medizin erhalten hat. 3. Henrietta Swan Leavitt (1868–1921): Sie war eine erfolgreiche amerikanische Astronomin, die die erste „Standardkerze“ entdeckte, mit der die Entfernung von fernen Galaxien gemessen werden konnte. Mit © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 L. Jaeger, Geniale Frauen in der Wissenschaft, https://doi.org/10.1007/978-3-662-66528-2
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ihrer Leuchtkraft lässt sich über eine Distanzformel, die die Abhängigkeit der Distanz von der Leuchtkraft beschreibt, die Entfernung bestimmen. 4. Vera Rubin (1928–2016): Sie war eine amerikanische Astronomin, die Pionierarbeit auf dem Gebiet der Rotationsraten von Galaxien (wie schnell sich diese drehen) leistete. Sie entdeckte eine Diskrepanz zwischen der vorhergesagten und der beobachteten (Winkel-)Bewegung von Galaxien. Rubin untersuchte die galaktische Rotationskurven im Detail und lieferte mit ihrer Arbeit den ersten Beweis für die Existenz Dunkler Materie (Materie, die sich mit elektrodynamischen Wellen nicht erkennen lässt). Ihre Ergebnisse wurden in späteren Jahrzehnten immer wieder bestätigt. Die Stellung der Frauen in den Wissenschaften hat sich (zumindest in den westlichen Ländern) bis heute stark verbessert. Dass immer mehr Frauen an die Spitze der Wissenschaften und Mathematik kommen, zeigt auch die Vergabe der Fields-Medaille 2022 an die erst 37-jährige Maryna Viazovska, die nach Maryam Mirzakhani zweite Frau, die diese Höchstauszeichnung erhalten hat. Nichtsdestotrotz muss die Zahl der Frauen an der Spitze weiterhin vergrößert werden. Die Anzahl aller Frauen mit einem PhysikNobelpreis – den es bereits über 120 Jahre gibt – liegt auch heute noch bei insgesamt gerade einmal vier; neben Marie Curie gibt es also nur drei weitere. In Chemie und Medizin/Biologie sind es sieben, in Physiologie/ Medizin zwölf. Dass die Kompetenz von Frauen für die Naturwissenschaften (Basis: Intelligenzquotient) die gleiche ist wie für Männer, ist unterdessen ziemlich gut erwiesen. Was wohl richtig ist: Es gibt unter Männern eine größere Streuung, also mehr Ausreißer nach oben wie nach unten, das heißt mehr Superintelligente (mit einem IQ höher als 130), aber auch mehr Männer mit geistiger Behinderung (mit einem IQ unter 70). Für diese größere Streuung gibt es auch eine genetische Vermutung: Männer haben ein Xund ein Y-Chromosom. Ein großer Teil der Erbanlagen, die über geistige Fähigkeiten mitentscheiden, liegt auf dem X-Chromosom. Wenn eines oder mehrere der verantwortlichen Gene mutieren, wird der entsprechende Mann – etwas vereinfacht dargestellt – entweder besonders schlau oder besonders dumm. Die gleichen Veränderungen können natürlich auch bei Frauen auftreten – doch beim Mann schlägt schon eine Veränderung auf dem einen einzigen X-Chromosom voll durch, wohingegen die Frau ja noch ein zweites hat, was die Wirkung des ersten X-Chromosoms ausgleichen und somit die Mutation abzuschwächen vermag.
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Natürlich ist der IQ nicht das einzige Merkmal für den heutigen wissenschaftlichen Erfolg. Kreativität, Teamarbeitsfähigkeit, Ausdauer und viele weitere Kriterien, bei denen es keinen Unterscheid zwischen Mann und Frau gibt, spielen eine Rolle.
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