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German Pages [561] Year 1994
Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft
Herausgegeben von Helmut Berding, Jürgen Kocka Hans-Peter Ullmann, Hans-Ulrich Wehler
Band 102 Paul Nolte Gemeindebürgertum und Liberalismus in Baden 1800-1850
Vandenhoeck & Ruprecht in Göttingen
© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35765-2
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Gemeindebürgertum und Liberalismus in Baden 1800-1850 Tradition - Radikalismus - Republik
von Paul Nolte
Vandenhoeck & Ruprecht in Göttingen
© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35765-2
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Nolte, Paul: Genieindebürgertum und Liberalismus in Baden 1800-1850: Tradition, Radikalismus, Republik / von Paul Nolte. - Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht, 1994 (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft; Bd. 102) Zugl.: Bielefeld, Univ. Diss., 1992/93 ISBN 3-525-35765-6 NE;GT
Gedruckt mit Unterstützung des Förderungs- und Beihilfefonds Wissenschaft der VG Wort und mit Hilfe der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein.
1994, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen. - Printed in Germany. Alle Rechte vorbehalten. Das Werk einschließlich seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Satz: Text & Form, Pohle. Druck und Bindung: Guide-Druck GmbH, Tübingen.
Bayariaohs Setaatabailothek Mürichan
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Inhalt Vorwort
9
Einleitung I.
11
Zwischen Reform und Beharrung. Bürokratie, Gemeinde und Bürgertum 1800-1830
1. Vom 18. zum 19. Jahrhundert. Staatsbildung und Gemeindereform 2. Bürgerliche Kontinuität und politischer Traditionalismus a) Gemeindeämter und Gemeindewahlen b) Bürgerrecht und Bürgernutzen c) Restauration und politischer Konflikt in den 1820er Jahren 3. Verfassung, bürgerliche Bewegung und Anfänge des Liberalismus vor 1830 4. Die Pläne zu einer Gemeindeordnung seit 1819 und die Einführung der Bürgerausschüsse 1821 5. Zwischenbilanz. Chancen und Grenzen des Liberalismus vor 1830 II. Die Gemeindegesetzgebung der 1830er Jahre und die Entstehung des Gemeindeliberalismus 1. Der Umbruch seit 1830. Landtag und Pressefreiheit, politische Mobilisierung und Reaktion 2. Die Gemeindeordnung und das Bürgerrechtsgesetz von 1831 3. Die Rezeption der Gemeindeordnung und die Gemeindewahlen 1832/33 4. Parteibildung, Wahlen und Konflikte in den 1830er Jahren 5. Geldaristokratie, Parteigänger und Proletarier. Die Gemeindegesetze von 1833 und 1837 und ihre Folgen 6. Zwischenbilanz. Mobilisierung und Kontinuität in den Gemeinden
26 26 36 37 40 45 51 60 70
74 74 85 99 115 127 146
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III. Bürgertum und bürgerliche Gesellschaft im Vormärz
151
1. 2.
151
3. 4.
5. 6.
Der Entwurf einer bürgerlichen Gesellschaft im Übergang Bürgerliche Vereine in der Gemeinde. Sozialstruktur und politische Entwicklung im Vormärz Kommunikationsstrukturen. Versammlungen, Feste und die Integration der liberalen >Basis< und >Elite< Kommunalismus und Erfahrungsrepublikanismus. Zur politischen Ideologie und Mentalität des badischen Gemeindeliberalismus Die Bürger und die anderen. Zur politisch-sozialen Selbstbeschreibung der liberalen Bürgergesellschaft Zwischenbilanz. Aporien der bürgerlichen Gesellschaft im Übergang
IV. Radikalisierung an der Basis. Parteientwicklung und Gemeindepolitik in den 1840er Jahren 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7.
V. 1. 2. 3. 4.
Die Krise von 1841/42 und die Entstehung des Radikalismus der 1840er Jahre Lokale Mobilisierung und Parteibildung in Gemeinde- und Landtagswahlen Die Krise von 1845/46. Das doppelte Scheitern der konfessionspolitischen Mobilisierung Von der monarchischen zur demokratischen Legitimation. Die Politisierung der Gemeindebehörden Die Zuspitzung des Konfliktes zwischen staatlicher Bürokratie und liberalen Gemeinden Vor der Revolution. Ökonomische Krise und politische Entwicklung an der Basis 1846/47 Zwischenbilanz. Krisenverdichtung und Legitimationswandel in den Gemeinden Von der Gemeinde zur Republik. Die Revolution in Baden 1848/49 >Gemeinderevolution< und staatliche Ordnung Zwischen Republik und Ordnungswahrung. Revolution und Gemeinden im Frühjahr 1848 Gemeindeämter und Gemeinde wahlen. Begrenzter Elitenwechsel in der lokalen Politik Revolutionsideologie und Republikanismus an der Basis
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160 171
188 209 223
228 228 239 254 262 274 285 301
305 305 315 329 338
5.
Dynamik und Kontinuität der Revolution. Radikalisierung und Parteientwicklung 1848/49 6. Das Scheitern der Verwaltungs- und Verfassungsreform 7. Republikanische Revolution 1849
352 379 390
Zusammenfassung und Ausblick
415
Abkürzungen und Siglen
432
Anmerkungen
434
Quellen und Literatur A. Ungedruckte Quellen B. Periodika C. Andere gedruckte Quellen und zeitgenössische Literatur D. Literatur Register 1. Ortsregister 2. Personenregister 3. Sachregister
506 506 515 516 526 553 553 555 558
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Für Monika und Nora
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Vorwort Die vorliegende Studie wurde im Wintersemester 1992/93 von der Fakultät für Geschichtswissenschaft und Philosophie an der Universität Bielefeld als Dissertation angenommen. Für seine anhaltende Unterstützung über viele Jahre hinweg, für sein Vertrauen und für den jederzeit gewährten Freiraum, auch von der Arbeit an der Dissertation abzuschweifen, danke ich meinem Doktorvater Hans-Ulrich Wehler ganz herzlich. Für Anregungen und Förderung in der Anfangsphase bin ich Jürgen Kocka, für dasselbe in der Schlußphase der Arbeit Klaus Tenfelde, der auch das Zweitgutachten übernommen hat, sehr verbunden. Lothar Gall, Reinhart Koselleck und Wilfried Nippel verdanke ich Anregung, Kritik und Inspiration in vielerlei Hinsicht. In Karlsruhe haben Susanne Ackermann und Christof Zürn die Archivaufenthalte lebensweltlich verschönert. Die Arbeit entstand zunächst »im stillen Kämmerlein«, gefördert durch ein Promotionsstipendium der Studienstiftung des deutschen Volkes, später neben dem oft hektischen Betrieb von Lehrveranstaltungen und Selbstverwaltung. Für die freundschaftliche Zusammenarbeit während dieser Zeit danke ich insbesondere meinen Kollegen Gerd Schwerhoff, Thomas Sandkühler, Werner Freitag und Manfred Hettling. Mein Dank gilt auch den Studentinnen und Studenten, mit denen ich in den Seminaren anderes diskutieren konnte als die Spezialprobleme eines von Bielefeld fernen deutschen Kleinstaates. - Die Drucklegung des Buches wurde durch Zuschüsse der VG Wort und der Geschwister Boehringer Stiftung sehr erleichtert. Meinem Vater danke ich für sehr vieles, das mit diesem Buch nur mittelbar zusammenhängt. Nora wurde am Anfang des zweiten Kapitels geboren und hat den Abschluß der Arbeit gelassen ignoriert. Monika danke ich für alles. Bielefeld/Cambridge, Mass., 1. September 1993
Paul Nolte
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Einleitung
Dieses Buch analysiert Voraussetzungen, Aufstieg und Scheitern einer politischen Massenbewegung in Deutschland in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts: Am Beispiel des Großherzogtums Baden zwischen Reformzeit und nachrevolutionärer Reaktion beschreibt es die Herausbildung eines >GemeindeliberalismusVolkes< gegen die >Regierung< sein konnte. Das Thema steht im Schnittpunkt mehrerer Perspektiven der Forschung, die für die neuere deutsche Geschichte - nicht nur des 19. Jahrhunderts - in letzter Zeit viel diskutiert werden. Hier ist an erster Stelle an die Bemühungen zu denken, die Stadt, die Gemeinde, den kommunalen Handlungsrahmen nach einer langen Vernachlässigung ernst zu nehmen und gegenüber dem Staat, der zentralen Ebene, aufzuwerten; 2 man kann inzwischen geradezu von einer Tendenz zur >Kommunalisierung< politik- und sozialgeschichtlicher Forschung überhaupt sprechen. Dabei kommt es, und das steht auch hier im Vordergrund, aber gerade nicht auf eine isolierte Behandlung im Stile der älteren Lokalgeschichte an, 3 sondern auf die Wechselbeziehungen, das Ineinandergreifen - und häufig eben auch: den Konflikt dieser Dimensionen. Insbesondere für das Bürgertum hatte die städtische Herrschaft eine geradezu konstitutive Bedeutung, und in diesem Sinne bedeutet die Entdeckung der Gemeinde für den >mainstream< der historischen For11
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schung zugleich, das klassische ältere Thema deutscher Geschichtswissenschaft: die Rechts- und Ideengeschichte kommunaler Selbstverwaltung, 4 neu aufzugreifen und sozialgeschichtlich zu erweitern. Dieses Thema hat keineswegs »seinen Aktualitätsbezug eingebüßt«, 5 sondern ist dabei, ihn neu und vielleicht stärker als zuvor zu gewinnen; sogar die vermeintlich so gut bekannten >normativen< Dimensionen, die Gesetzgebung der verschiedenen Staaten mit ihren Motiven und Interessen von Bürokratie und Bürgertum, sind in ihrer ganzen regionalen Vielfalt noch nicht erforscht; ein guter Überblick über Gemeindebürgerrecht und Partizipation in den deutschen Staaten im 19. Jahrhundert fehlt; und es lohnt, hier noch einmal anzuknüpfen und die badische Gemeindegesetzgebung der ersten Hälfte des Jahrhunderts aus den Akten zu rekonstruieren, 6 bevor die Frage nach ihren konkreten politisch-sozialen Auswirkungen in den Gemeinden gestellt wird. Die Entdeckung der Kommune profitiert wiederum vom Aufschwung der Bürgertumsforschung in den letzten Jahren, und auch hierzu will diese Arbeit einen Beitrag leisten. Sie nimmt eine Übergangsepoche in den Blick, in der neue bürgerliche Formationen wuchsen und in der lokalen Gesellschaft immer stärkere Bedeutung gewannen - so das Handelsbürgertum, die >freien< akademischen Professionen wie Ärzte und Anwälte und gewerblichindustrielle Unternehmer - , sich aber noch kaum als Bürgertum im Sinne einer >sozialen Klasse< vergemeinschaftet und nach außen abgegrenzt hatten. Das gilt besonders für Südwestdeutschland, und es gilt vor allem außerhalb jener größeren Städte mit (im Vormärz) mehreren zehntausend Einwohnern, die häufig, aber nicht repräsentativ, im Mittelpunkt der Bürgertumsforschung stehen. In den für Baden eher charakteristischen Kleinstädten mit wenigen tausend Einwohnern und nur einigen hundert Gemeindebürgern wie Ettlingen oder Offenburg, Weinheim oder Villingen war die Sozialstruktur in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts noch wenig ausdifferenziert und durch die traditionelle Dominanz einer Elite führender Handwerker, Kaufleute und Gastwirte geprägt, deren Grenze zur Masse des kleingewerblichen Gemeindebürgertums in ökonomischer, vor allem aber in soziokultureller Hinsicht noch nicht scharf gezogen war. Hier, aber zum Teil auch noch in den badischen >Großstädten< wie Mannheim, Heidelberg und Freiburg behielt die korporative Rolle des Gemeindebürgers angesichts einer noch nicht in Klassen verfestigten Gesellschaft bis zur Jahrhundertmitte eine große, oft überwiegende Bedeutung; ja, diese Bedeutung wuchs im Vormärz unter ganz bestimmten, für Baden charakteristischen rechtlichen und soziopolitischen Rahmenbedingungen noch: Zum einen knüpfte der Liberalismus mit seinen Freiheits- und Ordnungsvorstellungen an die gemeindebürgerliche Tradition an und verlieh ihr eine neue, emphatische, >staatsbürgerliche< Bedeutung. Zum anderen dehn12 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35765-2
te das Bürgerrechtsgesetz des Jahres 1831 das Gemeindebürgerrecht und damit die Chance zur politischen Partizipation in Wahlen auf etwa 80 % der erwachsenen Männer aus; das waren (bei 1,2 Mio. Einwohnern des Großherzogtums) etwa 200.000 Personen, von denen ein großer Teil zur sozialen Unterschicht gehörte und nur formell - etwa als Tagelöhner - >selbständig< war, zum Teil - als Handwerksgesellen - nicht einmal das. 7 Der Zwang zur politischen Einbindung und Kontrolle dieser >bürgerlichen< Unterschichten durch die Lokalelite konnte deshalb in einer Gesellschaft, in der traditionelle, korporative und persönliche Abhängigkeitsverhältnisse fortbestanden, der Klassenbildung sogar entgegenwirken: Die Demokratisierung der Politik vor der sozioökonomischen Modernisierung der Gesellschaft verfestigte paradoxerweise, wenn auch nur für eine kurze Übergangszeit, das ständische Muster vertikaler Sozialintegration auf Kosten der horizontalen Vergesellschaftung von Klassen, und die liberale Utopie universeller bürgerlicher >Eintrachtklassenlosen Bürgergesellschaft< war auch ein ideologischer Reflex dieser politisch-sozialen Verhältnisse. Die Untersuchung des städtischen Bürgertums als sozialer Gruppe steht aber nicht im Vordergrund, 8 auch nicht die Rekonstruktion des Verhältnisses von sozialer Elitenbildung und kommunalen Ämtern im Bürgertum; 9 hier geht es eher um die politische Konstituierung des Bürgertums, die sich in der Stadt vollzieht, aber zugleich über sie hinausreicht; um bürgerliches Engagement in politischen Bewegungen, vor allem im Liberalismus, aber auch gegen ihn; und um die Frage des Verhältnisses von städtischem Bürgertum und (bürgerlicher?) Beamtenschaft. Daß >Bürgertum< und >Stadt< gerade in der deutschen Geschichte eng zusammengehören - wenn auch zu keinem Zeitpunkt aufeinander reduzierbar sind - , ist in der neueren Forschung unbestritten, die sich vielfach um eine >positivere< Sichtweise auf das >traditionale< Stadtbürgertum bemüht und seine Rolle im Prozeß von >Emanzipation< und >Modernisierung< neu zu bewerten versucht. 10 Das ältere Bild eines im Laufe der Frühen Neuzeit und erst recht im 19. Jahrhundert immer mehr erstarrenden, verkrusteten, lokalistisch-konservativen Stadtbürgertums, wie es etwa Mack Walker in seiner Studie über die »Home Towns« gezeichnet hat, 11 ist nicht länger haltbar - das ist ein wesentliches Ergebnis auch dieser Arbeit. In der Frühneuzeitforschung ist in den letzten Jahren eine ganz parallele Tendenz unübersehbar, Konflikthaftigkeit, Dynamik, Freiheitspotential des städtischen Bürgertums - auch in den Reichsstädten, auch in den kleineren >Home Towns< -verstärkt herauszuarbeiten. 12 Stärker als das bisher geschehen ist, müssen die Forschungsergebnisse zur Frühen Neuzeit und zum 19. Jahrhundert miteinander verknüpft werden, um die fundamentale Kontinuität gemeindebürgerlicher Politik und Mentalität genauer als bisher aufzeigen zu können. 13 Die Frage nach dem Bürgertum fuhrt zugleich auf die Problematik der 13 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35765-2
>bürgerlichen Gesellschaft, und seit den Überlegungen Lothars Galls über »Liberalismus und >bürgerliche Gesellschaft« ist damit immer auch die Geschichte des vormärzlichen Liberalismus in Deutschland angesprochen. 14 Zu dieser Geschichte vor allem will die vorliegende Arbeit einen neuen Beitrag leisten. Die These Galls von der »klassenlosen Bürgergesellschaft« des frühen Liberalismus hat die Forschung in mehrfacher Weise stimuliert; nach einer Phase der allgemeineren Kritik15 hat die Frage nach der sozialen Basis und den »Erfahrungsräumen« (W. Schieder) des Liberalismus zu einer zunächst sozial-, dann auch kommunalgeschichtlichen Wende und Erweiterung der Forschung geführt, in deren Verlauf bisher schon sehr klar ein relativer Erfahrungsgehalt der liberalen Utopie deutlich geworden ist: Die Überwindung der Fixierung auf die liberale Elite und den >Kammerliberalismus< hat gezeigt, daß diese Bewegung den Charakter einer sozial integrationsfähigen Volksbewegung, die mindestens bis weit in das gewerbliche Kleinbürgertum hineinreichte, gehabt hat, und daß der Gemeinde für die Konstituierung und den Zusammenhalt dieser Bewegung eine entscheidende Bedeutung zukam. 16 Die zweite Einsicht ist wesentlich jünger; noch 1988 stellte Dieter Langewiesche lapidar fest, Gemeindefreiheit habe zwar zum »Urbestand« frühliberaler Forderungen gehört, »erforscht« worden sei »der Liberalismus auf Gemeindeebene jedoch noch nicht.« 17 Das beginnt sich nun schnell zu ändern, und diese Studie, die erste, die den Gemeindeliberalismus als Bewegung in einem deutschen Staat insgesamt (nicht nur in einer einzelnen Stadt) untersucht, will daran anknüpfen. Auf diese Weise kann die Liberalismusforschung den Anschluß an neuere, im weiteren Sinne erfahrungs- und >alltagsgeschichtliche< Tendenzen der Sozialgeschichte finden. Wolfgang Kaschuba hat in einer bemerkenswerten Skizze angedeutet, welche neuen Perspektiven auf >Lebenswelt< und >Milieu< des frühen Liberalismus dadurch erschlossen werden können, 18 weil diese Bewegung in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts stärker als bisher oft unterstellt nur in einer differenzierten Vielfalt von regionalen und lokalen Kommunikationszusammenhängen existierte, ja, in diesen sich erst eigentlich konstituierte und von der politischen, sozialen, ökonomischen und kulturellen Eigenart des jeweiligen >Milieus< und seiner Traditionen stark beeinflußt wurde. Als Massenbewegung und als politische Partei entstand der Liberalismus, das will diese Arbeit beispielhaft zeigen, nicht >von außen< oder >von obenvon unten< und >von innenVolkskulturElite< ausspielen 19 - worauf diese Integrationsfähigkeit beruhte, ist schon angedeutet worden und ist genauer zu untersuchen. Die erfah14 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35765-2
rungsgeschichtliche Erweiterung der Sozialgeschichte des Frühliberalismus verlangt deshalb auch nach einer erneuten Hinwendung zu seiner Mentalitäts-, zur Ideen- und Theoriegeschichte, weil nur so die wichtige und bisher viel zu wenig berücksichtigte Frage nach dem politisch-sozialen Selbstverständnis des Liberalismus in seiner Zeit beantwortet werden kann. Das macht zugleich eine neue Sichtweise auf den Prozeß der liberalen Parteibildung möglich. Zu strikt wird in der bisherigen Forschung häufig die Entstehung von Parteien in Deutschland an das Kriterium der formalen Organisation gebunden 20 - das ist aber höchstens das Endstadium einer langen Entwicklung, deren Voraussetzungen und Verlauf hier zur Debatte stehen. Parteibildung wird dabei als Fundamentalpolitisierung und Gesinnungsbildung verstanden, und dazu bedurfte es im engen lokalen Horizont keiner Organisation, wohl aber - dieser Zusammenhang ist bisher von der Forschung noch kaum gesehen worden - längerfristiger Erfahrung mit kommunalen Konflikten, mit vormodernen Faktionen und Parteiungen in der Gemeindepolitik, die sich unter den Bedingungen des 19. Jahrhunderts in moderne politische Gesinnungsparteien transformieren konnten. Der Liberalismus übernahm hier eine Pionierrolle, aber darüber hinaus wird nach dem gesamten Spektrum kommunaler Parteibildung im Vormärz und in der Revolution gefragt, nach den Ursprüngen des Radikalismus ebenso wie nach den Anfängen einer konservativen Bürgerpartei in den badischen Gemeinden. Und wenn die Politisierung der Gemeinden, wenn insbesondere die Massenanziehungskraft des frühen Liberalismus im Gemeindebürgertum - und das heißt in Baden: weit über die Grenzen des >sozialen Bürgertums< hinaus - betont wird, muß zu erklären versucht werden, was die Attraktivität dieser Bewegung und Ideologie ausmachte. Was versprach der Liberalismus seiner Anhängerschaft? Auf welchen politischen und sozialen Mechanismen gründete die Integration von lokalen Eliten und unterbürgerlicher Basis? Kann der Gemeindeliberalismus als ein Instrument lokaler Eliten zur Gewinnung und Stabilisierung von Herrschaft, zur Sicherung von >Charisma< und Gefolgschaft in der Gemeinde, also >nach innennach außen< - verstanden werden? Wenn sich diese >funktionalistische< Interpretation plausibel machen läßt, bleibt immer noch die Frage offen, warum gerade der Liberalismus diese Funktionen erfüllen konnte, warum der Handlungsrahmen der politischen Gemeinde dabei eine so wichtige Rolle spielte und warum die kommunal verankerte liberale Bewegung des Vormärz in Baden, überhaupt in Südwestdeutschland, auffällig stärker als anderswo gewesen ist. Dazu ist es nötig, das ist jetzt schon mehrfach angedeutet worden, längerfristige Traditionen, weit hinter die historiographisch sehr wirkungsmächtige Zäsur von 1800 zurückreichend, 21 in die Geschichte des Liberalismus in der ersten 15 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35765-2
Hälfte des 19. Jahrhunderts einzubeziehen; und aus diesem Versuch, nach Kontinuität zu fragen, wo bisher eher der Neubeginn und die Modernität betont worden sind, ergibt sich zugleich ein wesentlich verändertes Bild des vormärzlichen Liberalismus selbst: Er erscheint als eine traditionale, rückwärts blickende, als eine, etwas überspitzt formuliert, frühneuzeitliche politisch-soziale Bewegung - das erklärt seine Modernisierungsskepsis, seine in vielem korporatistische, vorindividualistische Ausrichtung, und seinen >defensiven< Charakter, der eher auf die Verteidigung und Wiederherstellung der alten Ordnung zielte als auf die Durchsetzung einer neuen. Wie die neuere Forschung die Traditionsgebundenheit der frühen Arbeiterbewegung, ihre Prägung durch vormoderne, vorindustrielle Erfahrungen, Institutionen und Handlungsmuster deutlich herausgearbeitet hat, 22 soll die >traditionalistische< Herkunft auch für die bürgerlichen Bewegungen des 19. Jahrhunderts zu zeigen versucht werden. Damit wird für Deutschland nur >nachgeholtintellectual history< sozialer Bewegungen angeknüpft wird, kann die häufig zu enge >nationale< Perspektive der deutschen Liberalismusforschung durchbrochen, kann der frühe deutsche Liberalismus im internationalen Vergleich neu gesehen und besser beurteilt werden. Die Traditionsbindung des Frühliberalismus, darin glich er anderen westeuropäischen und nordamerikanischen >bürgerlichen< Ideologien ebenso wie der frühen Phase der Arbeiterbewegung, setzte ihm Grenzen des Denkens und Handelns, erschloß aber zugleich ein unmittelbar emanzipatorisches Potential. Dieses Potential wird in der Frühneuzeitforschung der letzten Jahre vor allem unter den Leitbegriffen >Kommunalismus< und >Republikanismus< diskutiert, und indem diese Arbeit hieran, in erster Linie an das >KommunalismusGemeinen MannesGemeinnutz< und Republik 26 über Jahrhunderte eine tiefe politische, soziale und mentale Prägung des oberdeutschen Raumes ausging, wird das, so die Vermutung, durch den politischen Umbruch um 1800 16 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35765-2
nicht völlig verschüttet und deshalb auch in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts noch spürbar und wirksam gewesen sein. Durch Anstöße von außen, wie sie sich seit 1830 ergaben, konnten zudem ältere Erfahrungen aktualisiert, aus dem > kollektiven Gedächtnis< abgerufen oder auch als Tradition, die es so niemals gegeben hatte, neu >erfunden< werden. In diesem Zusammenhang mußte eine republikanische Politik nicht erst durch die moderne Staatstheorie eingeführt werden, sondern ergab sich aus der genossenschaftlich-demokratischen Praxis in der Gemeinde, die im Vormärz neu und vielleicht stärker als zuvor erfahren wurde und dabei auch über die Gemeinde hinaus auf eine >republikanische< Staatsordnung drängte. 27 Die Berücksichtigung solcher regionaler Traditionen der Frühen Neuzeit kann auch zu einer überzeugenderen Antwort auf die Frage beitragen, warum der frühe Liberalismus gerade im deutschen Südwesten so stark war und hier mehr als anderswo zu einer Massenbewegung wurde. Zu dieser Tradition gehörte die relativ scharfe Ausprägung eines ideologisch-politischen Gegensatzes zwischen >Landschaft< und >HerrschaftVolk< und >ObrigkeitStaat< und >Gesellschaft< im deutschen Vormärz - spätestens seit Kosellecks einflußreicher Interpretation der preußischen Geschichte »zwischen Reform und Revolution« geradezu ein Topos der Vormärzforschung, zu dem sich jeder neue Beitrag in Beziehung setzen muß 28 - in einem etwas anderen Licht: Er war nicht einfach Resultat eines >modernen AusdifferenzierungsprozessesCountry-Ideologie< so erfolgreich. 29 Die zunächst ganz überwiegend staatlich-bürokratisch initiierte Gemeindegesetzgebung setzte ältere Autonomiebestrebungen im Gemeindebürgertum frei und verlieh ihnen eine Dynamik, die sich bald gegen die Bürokratie selber wandte. Eine Studie wie diese ist nur als Lokal- oder Regionalstudie durchführbar, schon aus arbeitspraktischen, aber auch aus sachlichen Gründen: Bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts waren Politik und Gesellschaft in Deutschland vor allem regional geprägt; und das gilt auch für den Liberalismus, für seinen Kommunikationshorizont zumal an der >BasisRegionalisierung< der Liberalismusforschung werden in Zukunft vermutlich noch wichtige Impulse ausgehen. 30 Deshalb sollte gerade auch die neuere Tendenz zu reinen Lokalstudien über den frühen Liberalismus den, aus dieser Perspektive: übergeordneten Zusammenhang einer regionalen Tradition und politischen Kultur, einer >partikularstaatlichen< Prägung, wie sie im Falle des Großherzogtums Baden sehr deutlich erkennbar ist und Gemeinsamkeit über lokale Spezifika hinweg stiftete, nicht vernachlässigen. Der Gemeindeliberalismus konstituierte sich als gesamtstaatliche Bewegung in Baden, und als solche wird sie hier untersucht - deshalb fiel die Entscheidung gegen eine Fallstudie über eine einzelne Stadt. Am Großherzogtum Baden läßt sich diese Bewegung besonders gut studieren; die liberale Politisierung des Gemeindebürgertums, die >kommunalistische< Bewegung gegen die staatliche Bürokratie, die eigentümliche Mischung von Traditionalismus und Radikalismus einer breiten Bevölkerung fanden hier eine >klassische< Ausprägung. 31 Repräsentativität beansprucht diese Studie deshalb nur in einem allgemeineren Sinne, gleichwohl will sie dazu anregen, das Problem des >Gemeindeliberalismus< im Vormärz auch in anderen deutschen Staaten und Regionen zu erforschen. Das erste Kapitel skizziert von verschiedenen Seiten her die Ausgangssituation der Reformzeit und der nachfolgenden Restaurationsjahre bis 1830 und fragt nach Bedingungsmöglichkeiten und Begrenzungen des Liberalismus, insbesondere eines gemeindebürgerlichen Liberalismus, im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts: Welche Voraussetzungen für die vormärzliche politische Mobilisierung wurden hier geschaffen - und weshalb, andererseits, konnte der Liberalismus in dieser Zeit noch nicht, wie nach 1830, zur Massenbewegung werden? Am Beginn des Jahrhunderts überwogen wohl insgesamt, trotz des Aufbruchs neuer bürgerlicher Eliten, der neuerdings verstärkt ins Blickfeld der Forschung rückt, die Impulse des Staates und einer aufgeklärt-liberalen Bürokratie im Zusammenhang mit der napoleonischen und rheinbündischen Neuordnung, mit der Entstehung und Konsolidierung des Großherzogtums Baden; hier wird nach Motiven und Interessen bei der frühen Gemeindereform und nach deren begrenzten Wirkungen zu fragen sein. Die konstitutionelle Verfassung von 1818, zunächst vor allem ein Akt der Staatsraison, später zu dem bürgerlich-liberalen Symbol schlechthin geworden, sollte schon bald durch eine neue Gemeindeordnung ergänzt werden, die jedoch immer wieder im Entwurfsstadium steckenblieb. Lediglich ein Gesetz über Bürgerausschüsse kam 1821 zustande, dessen Auswirkungen in den Gemeinden zu untersuchen sein werden. Die Politisierung der >bürgerlichen Gesellschaft< in den Gemeinden blieb in engen 18 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35765-2
Grenzen; gerade in den kleineren Städten überwog die Kontinuität; das soll am Beispiel von Gemeindeämtern, Gemeindewahlen und des Gemeindebürgerrechts dargestellt werden. Die frühen 1830er Jahre bildeten eine einschneidende Zäsur, deren Bedeutung und Folgen für die Formierung des Liberalismus in den Gemeinden das Thema des zweiten Kapitels ist. Zu der in Baden besonders verdichteten Konstellation dieser Jahre - mit den Auswirkungen der Julirevolution, dem Thronwechsel und dem liberalen Landtag von 1831 - gehörten auch die neue Gemeindeordnung und das Bürgerrechtsgesetz, deren Entstehungsprozeß im Hinblick auf die Interessen der verschiedenen Seiten zunächst verfolgt wird. Was versprach sich die Bürokratie von den relativ demokratischen Gesetzen und einer vergrößerten Autonomie der Gemeinden? Vor allem aber, und das ist bisher fast völlig unerforscht: Wie vollzog sich die Einführung der Gemeindegesetze, welche politischen und sozialen Auswirkungen zeitigten die ersten demokratischen, auch die früheren Schutzbürger einbeziehenden Gemeindewahlen in Städten und in Landgemeinden? Aus der so in Gang gesetzten politischen Dynamik in den Gemeinden, aus einem massiven Politisierungsschub formierte sich erstaunlich schnell eine liberale Partei, und es soll rekonstruiert werden, inwiefern dieser schnelle Erfolg auf die Anknüpfung an ältere Konfliktlinien, auf die Transformation von >Faktionen< in >Parteien< zurückzuführen ist. Der Liberalismus wird hier als Ideologie zur Rückgewinnung bürgerlicher Eintracht, zur Wiederherstellung eines politischen Konsenses zwischen Rat und Bürgerschaft, der in der Frühen Neuzeit verloren gegangen war, verstanden - aber die Parteibildung führte unausweichlich zu neuen Konflikten, die von der Regierung, zu Unrecht, wie sich zeigte, vor allem in sozioökonomischen Kategorien, als Folge der Partizipation der Unterschichten, gedeutet und deshalb mit Zensus und Klassenwahlrecht aufzufangen versucht wurden. Der Liberalismus in den Gemeinden verfestigte sich jedoch im Laufe des Jahrzehnts, weil er im Kern ein bürgerliches Phänomen war und gemeindebürgerliche Interessen gegen die Bürokratie erfolgreich zu bündeln vermochte. Eine systematische Annäherung an die >bürgerliche Gesellschaft< des Gemeindeliberalismus im badischen Vormärz, überhaupt eine Annäherung an Erfahrungswelt und Selbstverständnis des Liberalismus in den Gemeinden versucht von zwei Seiten aus das dritte Kapitel. Zum einen wird nach der sozialen Vernetzung, nach Kommunikationsstrukturen der Liberalen gefragt, innerhalb der Gemeinde, z.B. in Vereinen, aber vor allem über sie hinaus, denn die Überwindung des Lokalismus, die Konstituierung des Gemeindeliberalismus als einer übergemeindlichen Bewegung, war gerade eines seiner hervorstechendsten Merkmale und eine wesentliche Voraussetzung für seinen Erfolg. Dabei gilt dem Verhältnis von Integration und 19 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35765-2
Distanz verschiedener politisch-sozialer >Ebenen< im Liberalismus besondere Aufmerksamkeit: Gab es eine Kluft zwischen lokaler Massenbasis und >Elitebürgerlichen Gesellschaft< in Baden zur Debatte; wir fragen nach der Ideologie und Mentalität des Liberalismus in den Gemeinden, die als Aktualisierung eines wesentlich durch frühneuzeitliche Erfahrungen und Deutungsmuster bestimmten >Kommunalismus< und >Erfahrungsrepublikanismus< zu deuten versucht werden; wir fragen nach den politischen, ökonomischen und sozialen Ordnungsvorstellungen, die den Entwurf einer bürgerlichen Gesellschaft als Integration von >Herrschaft< und >Gemeinschaft< in der Gemeinde möglich erscheinen ließen, und verfolgen die zunehmende ideologische und soziale Abgrenzung gegen Bürokratie und Beamtentum, die in der Utopie einer Staatsordnung ohne Zentralstaat, einer bürgerlichen Gesellschaft ohne Obrigkeit und ohne Beamte kulminierte. Der defensive Entwurf einer stabilen Ordnung gegen die Veränderungen des 19. Jahrhunderts blieb seinem traditionellen Kategoriensystem treu, und das ließ kurz vor der Revolution seine strukturellen Dilemmata deutlich werden, als der liberale Entwurf der bürgerlichen Gesellschaft die realen gesellschaftlichen Veränderungen nicht mehr einzuholen in der Lage war. Das vierte Kapitel nimmt den Faden der chronologischen Analyse wieder auf und erweitert die Themen des vorangegangenen Kapitels um die Dimensionen der politischen Bewegung und des politischen Konflikts in der radikalisierten Situation, in der >Krisenverdichtung< der 1840er Jahre bis zum Vorabend der Revolution. Dabei richtet sich das Interesse gleichermaßen auf Konflikt, Mobilisierung und Parteibildung innerhalb der Gemeinden wie auf die zunehmend schärfere Abgrenzung der liberal geführten Gemeinden gegen die Regierung und Bürokratie. Unausweichlich stellt sich hier die Frage nach Ursprung und Eigenart des Radikalismus der 1840er Jahre - er entsteht, diese These wird zu begründen versucht, in den Gemeinden nicht neben dem Liberalismus oder sozial >unter< ihm, sondern ist gleichfalls ein bürgerliches Phänomen; der Radikalismus entwickelte sich aus der Radikalisierung des Liberalismus und war ebenfalls, eher noch stärker, eine traditionalistische Bewegung, die auf die Verteidigung lokaler bürgerlicher Milieus zielte. In diesem Zusammenhang wird die Fortbildung des Parteiensystems in den Gemeinden untersucht: Wie lange blieb die dualistische Grundstruktur erhalten; etablierte sich eine radikale neben einer liberalen Partei; und wann fingen die Gegner der Liberalen und 20 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35765-2
Radikalen an, sich als dezidiert >konservativ< zu verstehen und sich bewußt als Partei zu formieren? Welchen Einfluß hatte die konfessionspolitische Krise von 1845/46 und die kurz darauf folgende Agrar- und Gewerbekrise auf den Liberalismus und die Parteien in den Gemeinden? Die Funktionsmechanismen von Gemeindepolitik veränderten sich schon seit Beginn des Jahrzehnts durch die bewußte Einbeziehung der Unterschichten in den lokalen Parteienkampf, und es wird zu verfolgen sein, wie sich die Rekrutierung der Anhängerschaft durch die Parteien veränderte - und doch den Bedingungen der alten Gemeindepolitik und der Rolle der Eliten in ihr unterworfen blieb. Und nicht zuletzt wird nach den weiteren Auswirkungen von Gemeindeordnung und kommunaler Partizipation für das gemeindebürgerliche Verständnis von Herrschaft und Politik überhaupt gefragt: Die kommunale Demokratie drängte über die Gemeinde hinaus, dem Legitimationsgewinn der Gemeindebehörden entsprach ein Legitimationsverlust des Zentralstaates, und darin lag zugleich eine wesendiche Bedingung für die badische Revolution, ihren spezifischen Verlauf und Charakter. Es ist hier nicht möglich, die fehlende Gesamtdarstellung der badischen Revolution zu bieten; 32 das fünfte Kapitel versucht auf breiter Quellengrundlage eine Darstellung und Interpretation, welche die badische Revolution als Revolution an der Basis, als Gemeinderevolution, und damit als eine Fortsetzung des vormärzlichen Liberalismus und Radikalismus in den Gemeinden verständlich machen soll. Das ist umso wichtiger, als die kommunale Handlungsebene in der deutschen Revolution von 1 8 4 8 / 4 9 bisher nicht nur für Baden wenig erforscht geblieben ist. Gerade die badische Revolution mit ihren >spektakulären< Aufstandsbewegungen wird häufig auf ihre militärischen Aktionen verkürzt, die als traditionslose Putschversuche weniger Abenteurer und Hasardeure dargestellt werden, und zumal das republikanische Experiment von 1849 konnte deshalb in seinem politischen Kern und in seinen längerfristigen Ursachen noch nicht angemessen gewürdigt werden. 33 Die Revolution in Baden wird hier als der Versuch des radikalisierten Bürgertums vor allem in den Kleinstädten verstanden, die staatliche Ordnung der >Zentrale< mit der erfahrenen und praktizierten republikanischdemokratischen Ordnung an der >PeripherieGemeinderevolution< - , aber die Praxis der Partizipation in der Gemeinde führte keineswegs zu einem friedlichen Verlauf, zu bloßer >Reform< auf der gesamtstaatlichen Ebene, 34 sondern stellte die von der Gemeinde unterschiedene staatliche Ordnung umso radikaler in Frage. - Wir fragen in diesem Kapitel nach dem Programm und den Zielen der >GemeinderevolutionCountry-IdeologieSäuberung< mit dem vormärzlichen und revolutionären Liberalismus und Radikalismus der Gemeinden, mit zwei Jahrzehnten grundsätzlicher Opposition der Gemeinden gegen die Bürokratie ab. Die Änderung von Gemeindeordnung und Bürgerrechtsgesetz, seit den 1840er Jahren immer wieder angestrebt, konnte jetzt praktisch ohne Widerstand verwirklicht werden. Als der Liberalismus ein gutes Jahrzehnt später in Karlsruhe zur »regierenden Partei« (Gall) wurde, entstand auch ein neuer Liberalismus in den Gemeinden, teilweise sogar in personeller Kontinuität, aber sein Inhalt hatte sich völlig verändert; die grundsätzliche Opposition zur Regierung war verlorengegangen wie der frühere radikal-republikanische Impuls, und das bedeutete gegenüber der Zeit des Vormärz auch einen Verlust an spezifischer regionaler Identität und politischer Kultur. Es bedeutete andererseits einen Gewinn an praktischer politischer Gestaltungskraft, die dem vormärzlichen Liberalismus oft und in den 1840er Jahren sogar zunehmend gefehlt hatte. Die Arbeit versucht eine Verbindung von Politik-, Sozial- und Ideengeschichte etwa in dem Sinne, wie sie Daniel Walker Howe kürzlich in einem brillanten Aufsatz als »cultural interpretation of history« entworfen hat.35 Politische Konflikte sozialer Gruppen werden als Ausdruck komplexer Weltanschauungen und Mentalitäten verstanden, und insofern ist es das Ziel, eine >lebensweltnahe< Erfahrungs- und Mentalitätsgeschichte des frühen 22 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35765-2
Liberalismus an seiner sozialen Basis sowohl mit politischer Theoriegeschichte als auch mit einer Geschichte von >politics< zu verbinden. Die gesellschaftlichen Strukturen, Konflikte und Deutungsmuster von Politik sind Gegenstand dieser Arbeit; weniger geht es, auch was die Gemeinden betrifft, um >policypolicy< in den Gemeinden, also ein spezifisches kommunalpolitisches Programm, gab es im badischen Vormärz kaum. Die Analyse von Konflikten steht häufig im Mittelpunkt; durch sie können bestimmte Strukturprobleme paradigmatisch verdeutlicht werden. Wie schon angedeutet worden ist, argumentiert die Studie mit Beispielen aus vielen Städten und Gemeinden des Großherzogtums, wobei auf die größeren Städte und die Hochburgen des Liberalismus, etwa auf Mannheim und Konstanz, Ettlingen und Heidelberg, Freiburg und Offenburg besonders häufig zurückgegriffen wird. Eine Lokalstudie wäre in vielem detaillierter gewesen, hätte aber den besonderen Charakter des vormärzlichen Gemeindeliberalismus als einer gesamtstaadichen Bewegung unweigerlich verfehlt. Damit ist zugleich die Auswahl der Quellen, die der Untersuchung zugrundegelegt wurden, angesprochen. Die Arbeit beruht wesentlich auf den einschlägigen Akten des Badischen Generallandesarchivs in Karlsruhe; die staatliche Überlieferung, einschließlich der Akten der lokalen Verwaltungsbehörden, der Ämter, ist für die hier verfolgte Fragestellung ungleich ergiebiger als die Überlieferung in kommunalen Archiven, aus der man über Politisierung, Parteibildung und Konflikte häufig sehr wenig erfährt; sie bildet außerdem die Grundlage, wo es um die bürokratischen Konzeptionen der Gemeindegesetzgebung geht. Daneben wurden in großem Umfang gedruckte Quellen ausgewertet, vor allem Zeitungen und hier nicht zuletzt auch die lokale und regionale Presse - eine häufig vernachlässigte Quellengattung - , in der Gemeindeprobleme immer ein Hauptthema waren und aus der man vieles erfährt, was sonst nirgends seinen Niederschlag gefunden hat. Auch für die Untersuchung der liberalen Ideologie und Mentalität bilden Zeitungen eine wichtige Grundlage. Daneben sind die Landtagsprotokolle und zahlreiche weitere gedruckte Quellen herangezogen worden. Die ältere und neuere lokalgeschichtliche Literatur bietet zudem häufig ein reichhaltiges Material zur kommunalen Politik im Vormärz, das lediglich unter den Fragestellungen der Forschung neu gelesen werden muß. 3 6 Unübersehbar sind thematische und methodische Grenzen; von den thematischen Lücken wiegen wohl zwei besonders schwer: >PolicypolicyZivilgesellschaft< wieder anschließen und dies aufgrund der Erfahrungen mit einem totalitär verselbständigten bürokratischen Staat eher im Sinne der aristotelischen als der Hegeischen Konzeption tun, also die Frage nach einer möglichen Einheit von bürgerlicher Gesellschaft und politischer Ordnung neu stellen. 58 Das berührt sich mit westlichen Erfahrungen einer zunehmenden Entfremdung von Politik und Gesellschaft, die durch die Skepsis gegenüber einem rein bürokratisch-zentralistisch gesteuerten und legitimierten europäischen Einigungsprozeß in letzter Zeit noch verstärkt werden. Schon seit längerem artikuliert sich vor allem in der amerikanischen Sozialphilosophie und Ethikdiskussion ein antiuniversalistischer >Kommunitarismusmoralischen Gemeinschaft< begrenzen, gewissermaßen dezentralisieren will. Gibt es also eine Alternative zur bürokratisch-zentralistischen Herrschaft, ist die Möglichkeit einer dezentral-kommunalistischen Gesellschaft vielleicht sogar eine verschüttete Alternative der deutschen (vor allem: der süddeutschen, der nicht-preußischen) Geschichte, der >Moderne< überhaupt? Wenn es eine Alternative zu Industrialisierung und Wachstumsparadigma in der Wirtschaft gegeben haben könnte, 39 warum dann nicht auch zu Bürokratisierung und Zentralstaat in der Politik? Solche Fragen sind in der Grundstimmung einer wachsenden Skepsis an der Moderne zuerst von der ökologisch-radikallibertären Linken aufgeworfen worden und reichen inzwischen bis in die Geschichtswissenschaft hinein. 40 Sie sollen hier 24 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35765-2
nicht in dem einen oder anderen Sinne beantwortet werden; das historische Beispiel zeigt vielmehr die Dilemmata beider Lösungen auf. Die kommunalistische Utopie des südwestdeutschen Vormärz ist nicht einem preußischen Dolchstoß zum Opfer gefallen, sondern zu allererst ihren eigenen Widersprüchen und Atavismen, aber sie ist auch nicht einfach ein vormodernes Relikt, sondern bleibt als ständige Herausforderung an den bürokratischen Zentralstaat, an die tendenzielle Trennung von Staat und Gesellschaft wichtig und erinnert an ein Grundproblem politisch-sozialer Ordnung der Neuzeit.
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I. Zwischen Reform und Beharrung Bürokratie, Gemeinde und Bürgertum 1800-1830
1. Vom 18. zum 19. Jahrhundert. Staatsbildung und Gemeindereform Die Reformzeit war die Stunde des Staates und seiner Bürokratie. Das galt zumal für das Großherzogtum Baden, das seine Entstehung als neuer Mittelstaat im deutschen Südwesten wie seine Nachbarn der staatsrechtlichen Neuordnung im Gefolge der Französischen Revolution und der um sie geführten Kriege, dem Zusammenbruch des Reiches und der Herrschaft Napoleons über den größten Teil des damaligen Deutschlands verdankte. Das beständige Taktieren Reitzensteins - des führenden Kopfes badischer Politik in der napoleonischen Ära und von Typus und politischen Idealen dem bayerischen Minister Montgelas vergleichbar - zwischen Karlsruhe und Paris seit 1795 und die strategischen Überlegungen Napoleons hinsichtlich der Rheingrenze wirkten zusammen, um aus der Markgrafschaft Karl Friedrichs nach den territorialen Veränderungen des Reichsdeputationshaupt schlusses 1803 und des Friedens von Preßburg (1805) jenes neue, merkwürdig langgestreckte Gebilde entstehen zu lassen, dem vor allem die rechtsrheinischen Teile der bayerischen Pfalz um Mannheim, der vorderösterreichische Breisgau um Freiburg und zahllose der ehemals reichsunmittelbaren, nun mediatisierten Herrschaftsgebiete zugeschlagen wurden: kleinere Reichsstädte, reichsritterschaftliche Gebiete und die nun Standesherrschaften genannten Territorien der Fürsten und Grafen wie Fürstenberg, Leiningen und Löwenstein, um nur die größten von ihnen zu nennen. l Der Zwang zur zügigen Integration dieser völlig heterogenen, durch jahrhundertealte Traditionen unterschiedenen Gebiete; ökonomische und finanzpolitische Probleme nicht zuletzt wegen des dauernden Kriegszustandes; und die nicht nur freiwillige, sondern mit teilweise erheblichem Druck von außen forcierte Orientierung am französischen Modell der Gesellschaftsreform, der Durchsetzung einer Staatsbürgergesellschaft - das waren die wichtigsten Motive einer mit dem Staatsbildungsprozeß einhergehenden Reformpolitik auch in Baden. 2 Von den behutsam an das Erbe des 18. Jahrhunderts anknüpfenden Reformen Friedrich Brauers, die der Vorstellungswelt ihres Initiators entsprechend noch Struktur und Lebenswelt des 26
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Patrimonialstaates widerspiegelten, über die Organisation Dalbergs, des kurzzeitigen Nachfolgers Brauers an der Spitze der badischen Innenpolitik, von 1808, bis zum Reitzensteinschen Organisationsedikt von 1809 steigerte sich die Radikalität der Umgestaltung überkommener Verhältnisse, aber ein ambivalenter Zug charakterisierte die badischen wie überhaupt die rheinbündischen Reformen in jeder Phase: Sie waren, je später desto mehr, Triumph und Vollendung des Absolutismus und holten damit für Süddeutschland das 17. und 18. Jahrhundert Preußens nach; sie konnten aberund zwar ebenfalls: je später, desto mehr - das 19. Jahrhundert, die Französische Revolution und ihre egalitären und freiheitlichen Impulse, nicht verleugnen. Der aufgeklärt-obrigkeitsstaatliche Geist einer älteren Beamtengeneration ging erkennbar, aber doch erstaunlich fließend in den etatistischen Beamtenliberalismus Jüngerer über, der im Großherzogtum Baden, denkt man an markante Persönlichkeiten wie Karl Friedrich Nebenius und Ludwig Georg Winter, die staatliche Politik länger und einflußreicher als etwa in den Nachbarstaaten Württemberg und Bayern prägen konnte. Das hatte verschiedene Gründe, die wiederum auf spezifische Traditionen der Frühen Neuzeit verweisen und damit die Auffassung von der Napoleonischen Ära, von der Reformzeit als eines völligen Traditionsbruches und Neubeginns im Sinne einer >Stunde Null< relativieren. Die herkömmliche städtische Bürgerlichkeit war auf dem Gebiet des späteren Großherzogtums stärker als im Norden und Osten Deutschlands, aber eher schwächer als anderswo im deutschen Westen und Süden ausgeprägt; die Reichsstädte waren klein, in den wenigen größeren Städten hatte sich, wie in Karlsruhe, Freiburg und Mannheim, ihre Funktion als Residenzstädte und Zentren höfischen Adels lange bestimmend ausgewirkt. Die überwiegend kleinstädtische Struktur setzte der Reformbürokratie keine größeren Widerstände entgegen, bewahrte aber, gewissermaßen unter der Oberfläche, ein Potential freiheitlicher Selbstbehauptung. Andererseits existierten kaum wirksame ständische Traditionen - schon gar nicht bürgerlicher Art wie in Württemberg - , und zwar nicht nur in der Markgrafschaft, sondern auch in den neuerworbenen Gebieten. Der mediatisierte Adel spielte in seinen Herrschaftsgebieten zwar auch im 19. Jahrhundert eine wichtige Rolle, konnte aber als Gruppe und Stand von der Bürokratie schnell gezähmt werden; der badische Adel war zu heterogen, um politisch-kulturell dominant zu werden wie in Preußen oder auch nur eine dem bayerischen Adel vergleichbare Stärke zu erlangen. 3 Diese Faktoren erleichterten nicht nur den Reformbeamten ihre Aufgabe, sondern begünstigten auch später die liberale Durchdringung der badischen Gesellschaft. Deshalb ist es fraglich, ob die auf eine egalitäre Staatsbürgergesellschaft zielende bürokratische Reform in Baden eine »Entpolitisierung der Gesellschaft«, eine »Entfremdung der Politik von jeder ... sozialen Basis« und eine »Trennung des Staates 27 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35765-2
von der Gesellschaft« 4 zu ihren Kosten zählen muß. Denn einerseits existierte eine entwickelte politische Gesellschaft - und sei es auch im traditionellen Sinne - im späteren Baden am Ende des 18. Jahrhunderts und um die Wende zum 19. nirgendwo. Und andererseits ist über die Wirkung und Rezeption der Reformen in >der Gesellschaft, an der sozialen Basis, bisher nur wenig bekannt - es spricht aber sogar einiges dafür, daß sie indirekt Voraussetzungen schufen oder unmittelbar Impulse gaben zu jener Politisierung an der Basis in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, die im Mittelpunkt dieser Untersuchung steht. Dieses Kontinuitätsproblem kann man mit einem Rückblick auf die Gemeindeverfassung und städtische Verwaltung im 18. Jahrhundert noch schärfer in den Blick nehmen. An den altbadischen Gebieten der Markgrafschaft läßt sich die Bedeutung des bürokratischen Absolutismus, an den anderen, erst später zu Baden fallenden Territorien der Stellenwert städtischer Autonomie und städtischer Konflikte idealtypisch erkennen. Seit 1738 regierend, war Karl Friedrich das Musterbeispiel eines aufgeklärten Herrschers im Zeitalter des Absolutismus, der sein Land Baden-Durlach - seit 1772 mit Baden-Baden vereinigt - durch wohlkalkulierte Reformen politisch und wirtschaftlich stärken und damit zugleich die fürstliche Machtbasis gegenüber konkurrierenden Gewalten ausbauen wollte. Im Geiste der Physiokraten arbeitete Karl Friedrich mit einer kleinen Schar aufgeklärter Beamter an bemerkenswerten Versuchen der Modernisierung der Landwirtschaft; die >Leibeigenschaft< wurde aufgehoben, Handel und Verkehr, Schule und Wissenschaft systematisch zu fördern versucht. 5 Helen Liebel hat besonders pointiert die These vertreten, der badische Liberalismus des 19. Jahrhunderts stehe in unmittelbarer Kontinuität zu den bürokratischen Reformen unter Karl Friedrich; er knüpfe vor allem an die Herausbildung einer bürgerlichen Beamtenschaft im 18. Jahrhundert an, der es gelungen sei, die monarchische Herrschaft auf vorkonstitutionelle Weise zu binden und einzuschränken. 6 In der Tat entfaltete der aufgeklärte Absolutismus unter Karl Friedrich, der bis 1811 regierte, in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine wichtige Wirkung - weniger wohl durch die tatsächlichen Reformen, die oft auf halbem Wege steckenblieben und auf einem so eng begrenzten Gebiet ohnehin nur eine beschränkte Wirkung entfalten konnten, sondern eher in der politischen Kultur des Großherzogtums. Der Beamtenliberalismus der zweiten Generation konnte sich immer wieder in der Kontinuität zum 18. Jahrhundert definieren und auch innerbürokratisch legitimieren, Nebenius etwa schrieb ein umfängliches, positiv stilisiertes Buch über die Herrschaft Karl Friedrichs; 7 und gegen eine konservativer werdende Bürokratie berief sich der Liberalismus im Landtag und in den Gemeinden seit den 1820er Jahren häufig auf seine als beispielhaft mild und weise verklärte Regierung. 28 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35765-2
Dabei entsprach das Erbe dieser Zeit für die Gemeinden der Markgrafschaft durchaus dem für sie doch mindestens ambivalenten Grundmuster der absolutistischen Städtereform.8 Die Verwaltung der Gemeinden sollte vereinheitlicht, also von individuellen Verfassungsmerkmalen gereinigt, und einer strengen staatlichen Aufsicht unterstellt werden. Die Durchsetzung dieser Grundsätze war aber in Baden vergleichsweise - man denke an die preußischen Städtereformen - unproblematisch. Eine rechdiche Differenzierung von Stadt und Land etwa hatte sich gar nicht erst entwickelt, auch Dorfbewohner wurden als Bürger bezeichnet - eine Tradition, die auf die liberale Gemeindeverfassung des 19. Jahrhunderts und ihre politischen Wirkungen nicht ohne Einfluß blieb. Angesichts sehr kleiner Städte - am größten war um die Mitte des 18. Jahrhunderts Pforzheim mit 355 Bürgern - und des Fehlens eines landsässigen Adels konnte die Durchsetzung der staatlichen Obrigkeit relativ schonend und konfliktarm erfolgen. Der oberste Träger der gemeindlichen Verwaltung war und blieb der landesherrliche Schultheiß, daran wie an den Grundsätzen der Gemeindeverfassung änderte die Kodifizierung in der Baden-Durlachischen >Commun-Ordnung< von 1760, die seit 1772 auch auf die Baden-Badenschen Gebiete übertragen wurde, nur noch wenig.9 Das Recht der selbständigen Bürgerannahme hatten die Gemeinden schon im 17. Jahrhundert verloren. Das Bürgerrecht blieb denn auch aus der Commun-Ordnung ausgeklammert; sie regelte vor allem die Bestellung und Entlassung der Ortsvorsteher und die Gemeindeökonomie und -finanzen, die erfolgreich auf eine sicherere Basis gestellt werden konnten, bevor der Krieg seit den 1790er Jahren die Finanzverhältnisse in den Gemeinden erneut schwer angriff und viele Kommunen zu einer hohen Verschuldung zwang. Da sich bis 1789 kaum ein Konfliktpotential angestaut hatte, kam es im Gefolge der Französischen Revolution nur zu kleineren Unruhen wie in Durlach, wo sich 1789 neben dem Rat ein Bürgerausschuß konstituierte und 1791 für kurze Zeit die Wahl des Bürgermeisters durch die ganze Bürgerschaft statt durch den Rat durchsetzen konnte.10 Zu Zentren sozialen Protests und innerstädtischer politischer Konflikte und Machtkämpfe wurden die Gemeinden der Markgrafschaft in der Revolutionszeit aber im allgemeinen nicht. Mit Einschränkungen gilt das auch für die 1802/03 an Baden fallenden kleinen Reichsstädte wie Offenburg, Überlingen, Gengenbach und Zell am Harmersbach. Das oft gezeichnete Bild von Stagnation und Verfall, von Verschuldung und »verrottete(m) Patrizierregiment«11 der Reichsstädte des deutschen Südens, deren Führungscliquen dennoch nicht aufhörten, ein arrogantes und längst unangemessenes Selbstbewußtsein zur Schau zu stellen, das Bild mithin von Kommunen, denen jegliches Entwicklungspotential zu moderner Politik und modernem Bürgertum fehlte, ist jedoch in den letzten Jahren von der Forschung teilweise korrigiert worden.12 Zwar 29 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35765-2
wurden die Reichsstädte des schwäbischen Kreises in den 1790er Jahren weniger von Unruhen erfaßt als die fränkischen, doch blieben sie davon wie etwa Überlingen nicht verschont. Die städtischen Konflikte im Jahrzehnt der Revolution entzündeten sich ohnehin meist an >traditionalen< Themen; sie warfen Probleme von Verfassung und Gesellschaft neu auf, die häufig schon im 18. Jahrhundert diskutiert und ausgekämpft worden waren. In den Reichsstädten, aber im Grunde genauso in landesherrlichen Städten wie Heidelberg, Mannheim oder Freiburg, ging es dabei immer wieder um das Problem der Oligarchisierung des Rates, die von Teilen der Bürgerschaft - zum Teil vom handwerklichen Zunftbürgertum, wo dieses von der Ratsherrschaft ausgeschlossen war, zum Teil auch schon, seit dem letzten Drittel des 18. Jahrhunderts, von der neuen sozialen Elite des Handelsbürgertums - angegriffen wurde. Dem Verlangen der Bürgerschaft nach Teilhabe an der Herrschaft entsprachen der Rat oder die Reichsgerichte, wo diese, wie in den Reichsstädten in aller Regel, in die Konfliktregulierung einbezogen waren, nicht durch eine Aufsprengung der oligarchischen Rekrutierungsmechanismen des Rates, sondern durch die Einrichtung von >Bürgerausschüssen< oder >bürgerlichen Deputationen, denen bestimmte Rechte z.B. in der städtischen Vermögensaufsicht gewährt wurden. Auf dem Gebiet des späteren Großherzogtums Baden waren es sogar eher die landesherrlichen als die Reichsstädte, von denen Partizipationsforderungen und bürgerliches Selbstbewußtsein ausgingen. In der im 18. Jahrhundert nassauischen Stadt Lahr wurde vermutlich 1726 zum ersten Mal ein Bürgerausschuß gewählt, der eine weitere Konfliktzuspitzung aber nicht verhinderte, sondern ihr eher noch das institutionelle Fundament gab. Mit Ausschreitungen und Tumulten verlangte ein großer Teil der Bürger 1772 die Absetzung des Bürgermeisters und die (Wieder-)Einführung der freien Ratswahl als ein der Stadt schon 1377 gewährtes Privileg - ein Konflikt, der zu einem jahrzehntelangen Prozeß vor dem Reichskammergericht führte. 13 In Heidelberg und Mannheim kämpften die Zünfte als Vertreter der Bürgerschaft gegen die als Ausführungsorgane der Regierung kritisierten, sozial immer stärker abgeschlossenen Stadträte und erreichten dabei ebenfalls die Einrichtung von Bürgerausschüssen. In Freiburg forderten die Zünfte, die durch den >äußeren Rat< an der Stadtverwaltung beteiligt waren, 1757 die freie Ratswahl. Hier und in anderen vorderösterreichischen Städten wie in Konstanz bereitete die josephinische Städtereform von 1786 den Begehrlichkeiten des gewerblichen Stadtbürgertums, vor allem der Handwerker, in absolutistischer Manier ein Ende: Die freie Ratswahl wurde abgeschafft, die Zunftmeister aus dem Rat und von jeder Mitsprache in politischen Angelegenheiten ausgeschlossen und eine von Juristen geführte Magistratsverfassung eingeführt. In der Mitte der 1790er Jahre wurden diese Bestimmungen zwar von Kaiser Franz etwas gemildert, aber ein 30 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35765-2
unterdrücktes bürgerliches Selbstbewußtsein und die tiefe Skepsis gegenüber dem Hineinregieren adliger und fürstlicher Obrigkeiten in die städtischen Angelegenheiten blieben bis in die badische Zeit hinein bestehen.14 Ob mit mehr oder weniger Erfolg im 18. Jahrhundert verfochten - der Anspruch der Bürgerschaft auf einen Anteil an Repräsentation und Verwaltung der Städte brach in der Reformzeit nicht abrupt ab. Obwohl die Forderungen des 18. Jahrhunderts ganz im Sinne der Wahrnehmung korporativer Rechte und außerdem, wie nicht nur das Lahrer Beispiel zeigt, häufig im >defensiven< Sinne einer Wiedererlangung mittelalterlicher Freiheiten und Privilegien vertreten wurden, boten sie einem frühen Liberalismus der Gemeinden im 19. Jahrhundert Anknüpfungspunkte, als unter anderen Vorzeichen, die in der Wahrnehmung der städtischen Bürgerschaft aber eben so anders gar nicht waren, Gemeindefreiheit und Selbstverwaltung im Innern und nach außen als Schlagworte kursierten. Die mittelalterliche Städtefreiheit benutzte schließlich auch der akademische Liberalismus in der Kammer und auf den rechtswissenschaftlichen Lehrstühlen als eines seiner Hauptargumente. Und es war kein Zufall, daß in den 1830er und 1840er Jahren die Bürgerausschüsse eine herausragende Bedeutung als Plattform der liberalen Opposition in den Gemeinden gewannen. In den Konflikten des 18. Jahrhunderts fehlte den Handwerkern und Kaufleuten zwar in der Regel noch jede Verbindung zum städtischen Bildungsbürgertum,15 doch der Schritt zum gemeinbürgerlichen politischen Handeln gegenüber der Obrigkeit mußte, wie sich etwa bei der Heidelberger Verfassungspetition schon im Jahr 1815 zeigte, nicht groß sein. Zunächst jedoch fanden sich die Gemeinden im ersten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts als Objekte der bürokratischen Regelung und Intervention wieder. Wie überhaupt in den preußischen und rheinbündischen Reformen war die Reorganisation der kommunalen Verfassung und Verwaltung auch in Baden eine der wichtigsten Aufgaben, die sich die Beamten stellten. Während in Preußen mit der Städteordnung von 1808 das absolutistische Staatsregiment über die Städte zugunsten einer bürgerlichen Selbstverwaltung, die den korporativen Charakter der Kommunen stark betonte, aufgegeben wurde, freilich um den hohen Preis eines Scheiterns der Kommunalreform auf dem Lande, stand für die rheinbündischen Reformer entsprechend der frühneuzeitlichen Tradition ihrer Territorien und des Imperativs der Staatsbildung im Sinne der >Monopolisierung legitimer Gewalt< (Max Weber) die >Verstaatlichung< und administrative Vereinheitlichung der gemeindlichen Verwaltung im Vordergrund.16 Die Gemeinden - ob Stadtoder Landgemeinden, frühere Reichsstädte oder standesherrliche Dörfer sollten die unterste Stufe eines einheitlichen Staatsaufbaus werden, die Bürgerschaft als Teil einer rechtlich egalitären Staatsbürgergesellschaft angesprochen werden können. Das erste Ziel konnte, das darf man nicht 31 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35765-2
übersehen, je nach territorialer Tradition, je nach überkommener Verfassung verschiedenes bedeuten; Reichsstädte verloren ein Stück ihrer Autonomie und erfuhren die Reform als absolutistische Durchdringung, während dieselben Gesetze und Verordnungen für absolutistisch verfaßte landesherrliche Städte wie die Österreichs einen Zugewinn an bürgerlicher Selbstbestimmung mit sich brachten. Und das zweite Ziel, die Vision einer Staatsbürgergesellschaft, meinte vorderhand nur eine Gleichstellung der Untertanen in Hinsicht auf ihre Beziehung zur staatlichen Obrigkeit - innerhalb der kommunalen Korporation galt eine ganz andere Art des >Bürger-Seins< prinzipiell fort, einschließlich ihrer vielfältigen Abstufung und Hierarchie. Die Konsequenz, diese Abstufungen einzuebnen und die Staatsbürgerrolle als einzige Form des Bürgerstatus gewissermaßen zu totalisieren, wurde erst ein Jahrzehnt später von den liberalen Beamten der zweiten Generation gezogen und führte dann zu heftigen Konflikten, die im Reformjahrzehnt bezeichnenderweise im großen und ganzen noch ausblieben. Wie es dem allgemeinen Muster der Reformen auch in anderen deutschen Staaten entsprach, begannen die badischen Gemeindereformen eher behutsam, induktiv von den Problemen ausgehend, die von der Mediatisierung und anderen territorialen Gewinnen aufgeworfen wurden, statt deduktiv eine abstrakte Idee zu verwirklichen suchend, und steigerten dann innerhalb weniger Jahre ihre Radikalität und ihren Anspruch auf allgemeine Verbindlichkeit. Das siebte Organisationsedikt Brauers vom 18. März 1803 stellte im Grunde nur eine bedeutsame generelle Regel auf: Die Zünfte blieben fortab vom Stadtregiment grundsätzlich ausgeschlossen. Das wirkte nach; im Vormärz waren die Zünfte in Baden auf der politischen Ebene einschließlich der Gemeindepolitik nahezu bedeutungslos. Im übrigen stellte Brauers Edikt aber eher eine Sammlung individueller Regelungen für einzelne Städte, vor allem die ehemaligen Reichsstädte, dar, mit denen (gemäß der Verpflichtung des Reichsdeputationshauptschlusses, sie den am meisten privilegierten Städten des jeweiligen Staates mindestens gleichzustellen) besonders behutsam umgegangen wurde, indem sie gerichtliche Kompetenzen und bestimmte Merkmale ihrer alten Verfassung behalten durften. Bestimmungen über das Bürgerrecht fehlten völlig. 17 Nach den Gebietsgewinnen durch den Frieden von Preßburg und der Erhebung Badens zum Großherzogtum innerhalb des Rheinbundes im Jahre 1806 verstärkten sich die Vereinheitlichungsbestrebungen innerhalb der Bürokratie, zumal den problembeladenen Reichsstädten nicht viel an ihrer Sonderstellung lag und einige von ihnen sogar aus finanziellen Gründen auf die eigene Gerichtsbarkeit verzichtet hatten. 18 So bildete das zweite Konstitutionsedikt über »die Verfassung der Gemeinheiten, Körperschaften und Staatsanstalten« vom 14. Juli 1807 die erste einheitliche badische Gemeindeverfassung. 19 Nach der ihnen jeweils zugestandenen Gerichtsbar32 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35765-2
keit und Verwaltung unterschied das Edikt drei Klassen von Städten: >amtssässigevogteipflichtige< und >kanzleisässige< Städte, sparte aber präzisere Bestimmungen über Bestellung und Kompetenzen der Verwaltungsorgane im Spannungsfeld von Bürgertum und staatlicher Bürokratie aus. Statt dessen entwickelte es eine Theorie vom doppelten Charakter der Gemeinden als freien Zusammenschlüssen von Familien zu Gewerbszwecken einerseits, als Anstalten zur Beförderung der allgemeinen Staatswohlfahrt andererseits, und versuchte so das Mischungsverhältnis von staatlicher Bevormundung und gemeindlicher Autonomie zu legitimieren, das für dieses Gesetz charakteristisch war. In der Reihe der Brauerschen >KonstitutionsedikteVerfassung< des Großherzogtums sein wollten, folgte ein knappes Jahr später mit dem sechsten Konstitutionsedikt über die »Grundverfassung der verschiedenen Stände« noch die erste generelle Kodifizierung des Gemeindebürgerrechts, die in herkömmlicher Weise zwischen Ortsbürgern, denen allein Wahlrecht und Wählbarkeit zu Gemeindeämtern vorbehalten waren, Schutzbürgern und Hintersassen unterschied. 20 Das war für die meisten Gemeinden nichts Neues, und wo es davon abweichende Bürgerrechtsbestimmungen in einzelnen Städten oder Regionen gab, gelang es dem Konstitutionsedikt von 1808 auch nicht, wie wir noch sehen werden, diese umstandslos einzuebnen. Überhaupt scheint die Rechtsunsicherheit in diesen Jahren, angesichts der politischen Gesamtkonstellation nicht erstaunlich, groß gewesen zu sein; nicht alle gültigen Gesetzesbestimmungen konnten >nach unten< durchdringen, bis sie durch das nächste Edikt schon wieder überholt waren, und trotzdem schien es manchen mittleren Verwaltungsstellen angesichts der Probleme, mit denen sie in den Gemeinden konkret konfrontiert wurden, noch gar nicht genug Ordnungen zu geben, wie der von dem Beamten Hertzberger konzipierte umfängliche Entwurf einer >Gemeinde-Ordnung< für die Provinz des Unterrheins vom Mai 1808 beweist, der trotzdem folgenlos in den Schubladen blieb. 21 Erst Reitzenstein, der nach großen diplomatischen Erfolgen 1809 für kürzere Zeit maßgeblicher Gestalter auch der badischen Innenpolitik wurde, 22 setzte mit seinem Organisationsedikt Markierungen, die länger gültig blieben; mit diesem Gesetz vom 2 6 . November 1809 erreichte der Staatsbildungsprozeß Badens seinen etatistischen Höhepunkt. 23 Das Novemberedikt betraf alle Ebenen staatlicher Verwaltung und Organisation, und dazu sollten auch die Gemeinden zählen, deren abgestufte Kompetenzen und Privilegien, wie sie das zweite Konstitutionsedikt gerade noch einzuführen versucht hatte, nun schon wieder hinfällig waren. Allerdings verzichtete Reitzenstein auf die Einfährung des französischen Mairie-Prinzips; die Kollegialität des Gemeinderates blieb bestehen, ebenso seine Wahl durch die Bürgerschaft, die jedoch unter genaue Aufsicht der Staatsbehörden gestellt wurde. Die >Beilage B< des Organisationsediktes 33 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35765-2
Reitzensteins war die erste eigentliche badische Gemeindeordnung und blieb bis 1831 in Kraft; sie schlug die Brücke zum Beamtenliberalismus der Generation Winters, der sich bei seinen Entwürfen seit 1819 explizit in der Kontinuität des Ediktes von 1809 sah. Freilich muß man hier wie überhaupt die Frage nach den Wirkungen, nach dem Erfolg oder der begrenzten Durchsetzungsfähigkeit der Reformen >vor Ort< stellen. Wenn die Bürokratie aus den alten >Untertanen< nun >Administrés< machte, änderte sich deren politisches Verhalten deshalb noch nicht.24 Den >Brutkasten< der >Home Towns< aufzubrechen,25 war ein längerdauernder Prozeß, dessen Impulse nicht nur von außen, nicht nur aus der staatlichen Bürokratie kamen. Die Besitzergreifung der neu an das Kurfürstentum bzw. Großherzogtum gefallenen Städte durch den Landesherrn und seine Abgesandten wurde symbolisch zumal in den bedeutenderen Städten durch Huldigungsfeierlichkeiten vollzogen, die die Bürgerschaft und insbesondere die städtischen Honoratioren auf die neue Obrigkeit verpflichten sollten. In die selbstbewußte, der badischen Herrschaft besonders skeptisch gegenüberstehende Stadt Mannheim begab sich Karl Friedrich deswegen im Juni 1803 sogar persönlich und für mehrere Wochen. In vielen Städten wechselte die territoriale Zugehörigkeit nicht zum ersten Mal innerhalb kurzer Zeit; eine Huldigung war eine vertrautes Ritual, das über Skepsis oder Zufriedenheit wenig Auskunft gab. Widerstände und Probleme scheint es aber auch im Umfeld der Übergabe der Städte nicht gegeben zu haben.26 Dennoch wird die Zurückhaltung eines großen Teils der Bevölkerung den Behörden nicht entgangen sein. Ohnehin gab es Kritik am Organisationsfieber, am Hin und Her der Edikte in der Rheinbundzeit; »da wurden die Behörden zerrissen, bald geteilt, bald concentriert, Provinzen tauchten auf, Provinzen tauchten unter, die Distrikte änderten sich, ..., bald logisch, bald chaotisch, heute geographisch, morgen scientivisch, jetzt centralisierend, dann wieder localisierend«.27 Der Schriftsteller Heinrich Hansjakob charakterisierte in seinen »Erinnerungen« die tiefe Skepsis, auf die die badische Bürokratie unter der Landbevölkerung des Südschwarzwaldes traf;28 hier konnte sich traditionelle bäuerliche Selbstbestimmung und Konfliktregulierung zum ersten Mal durch eine alltäglich erfahrbare fremde Obrigkeit herausgefordert sehen - in solcher Mentalität fand später die scharfe Regierungs- und Bürokratiekritik der liberalen Opposition einen guten Nährboden. In Städten wie Konstanz,29 überhaupt in Südbaden prägten ähnliche Erfahrungen und Einstellungen den raschen Wechsel zwischen 18. Jahrhundert, Reformzeit und Vormärz: Was heute oft ganz unterschiedlichen >Epochen< zugeordnet wird, verdichtete sich für die Zeitgenossen in der Spanne von nur einer Generation. Daß das erste Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts hinsichtlich des Verhältnisses von Staat und Gemeinden trotz Herrschaftswechseln und Reformedik34 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35765-2
ten so relativ konfliktarm verlief, hatte einen wesentlichen Grund in der langdauernden ökonomischen Krisensituation; Kriegslasten und die Stagnation von Handel und Gewerbe waren zuallererst in den Kommunen spürbar, die deshalb die Kraft zur Austragung politischer Konflikte mit der Obrigkeit häufig gar nicht aufbringen konnten und statt dessen in Bittschriften die Regierung um Hilfe bei der Bewältigung der wirtschaftlichen Not angingen. 30 Die im 18. Jahrhundert konflikterprobte Stadt Lahr versuchte beim Übergang von Nassau an Baden zunächst, besondere Freiheiten durch die Forderung nach Gleichstellung mit den ehemaligen Reichsstädten zu retten, gab sich dann aber mit dem >Privilegium< von 1806 zufrieden und nahm dessen faktische Außerkraftsetzung durch das Organisationsedikt von 1809 nur drei Jahre später hin. 31 Die Bürokratie zeigte sich flexibel, wo äußerste Grundsatzfragen der Souveränität nicht berührt waren, und erleichterte den Städten damit die Gewöhnung an die neuen Institutionen. In personelle Fragen mischten sich die Beamten ohnehin so gut wie gar nicht ein; die häufig lebenslange Amtszeit der Ortsvorsteher und Ratsmitglieder wurde nicht unterbrochen. Der Müllheimer >Vogt< Willin amtierte seit 1810 als >Bürgermeisters die sieben bisherigen >Richter< waren nun >StadträteReform< konnten die Gemeinden sich leicht abfinden. Für die Reichsstädte gilt das erst recht. Sie machten keinerlei Versuche, ihre Unmittelbarkeit zu erhalten und begrüßten die badische Oberhoheit zum Teil sogar; jedenfalls standen sie ihr weniger skeptisch gegenüber als viele Städte des Breisgaus und der Pfalz. Bis auf Überlingen und Offenburg waren die an Baden gefallenen Reichsstädte eher Dörfer und Marktflecken, Offenburg war mit 118.134 fl. verschuldet und führte schon seit Jahren keine Reichs- und Kreissteuern mehr ab. 33 Vermutlich hätte die badische Regierung mit ihnen noch viel schonungsloser umgehen können, ohne Widerstand zu provozieren, aber auch hier wurde trotz mancher Umstrukturierung von Behörden und Änderung von Kompetenzen und Bezeichnungen die personelle Kontinuität ganz überwiegend gewahrt. Ein bewußter Austausch von Eliten hätte die Beamten wohl überfordert; nach welchen Kriterien sollte er erfolgen und wozu der Regierung nützlich sein? Auch dort, wo die alte Stadtverfassung vielleicht am stärksten verändert wurde, in Freiburg und Mannheim, bemühten sich die Behörden jedenfalls in den ersten Jahren um die Vermeidung von Konflikten durch vorsichtige Anpassung. Die badische Bürokratie mochte nicht besonders sympathisch sein, aber die Übertragung der Befugnisse des Freiburger Magistrats auf das neue Oberamt Freiburg war leichter zu verschmerzen, insofern der Magistrat sich seit 1786 ohnehin nicht mehr aus der gewerblichen Bürgerschaft rekrutiert hatte. In Mannheim trat 1803/04 ein einheitlicher Magistrat an die Stelle der früheren Trias von Behörden; doch sechs seiner neun Mitglieder hatten auch schon dem alten Stadtrat angehört. 34 Die Einführung des Organisa35 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35765-2
tionsediktes von 1809 und die daraufhin vorgenommenen Wahlen führten dann aber, wie wir noch sehen werden, zu einem ernsten Konflikt zwischen Bürgerschaft und Staatsbehörden. Eine Bilanz der Auswirkungen der Reformen in den Gemeinden ist deshalb nicht leicht. Der Eindruck der Kontinuität herrscht vor, aber die zunächst eher unscheinbaren Reformen entfalteten längerfristig eine Wirkung: So konnte die bürokratische Intervention, ohne das selber beabsichtigt zu haben, zum Katalysator in einem mehrere Jahrzehnte dauernden, konfliktreichen Ablösungsprozeß kommunalpolitischer Eliten werden und der politischen Durchsetzung des gewerblichen, vor allem des Handelsbürgertums, auf diese Weise Vorschub leisten. 35 Und schon die bloße Vereinheidichung der Verfassung und Verwaltung so heterogener Territorien, wie das Großherzogtum Baden sie geerbt hatte, erwies sich später als Vorteil, ja als Voraussetzung für die landesweite Bewegung des kommunalen Liberalismus. Spätestens hier holten die Reformen die Bürokratie wieder ein.
2. Bürgerliche Kontinuität und politischer Traditionalismus Verläßt man die Perspektive der Bürokratie, verlieren Napoleonische Ära, Rheinbund und Reformen und die mit ihnen gewöhnlich assoziierten Zäsuren einen Teil ihrer Bedeutung - für Gemeinden und Bürgertum, für Politik und Gesellschaft >an der Basis< bildeten die ersten drei Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts in vieler Hinsicht eine Einheit, und zwar eine Einheit, die zumal in den Kleinstädten, weniger in Mannheim oder Heidelberg, eher der traditionalen, frühneuzeitlichen Lebenswelt als der >Moderne< angehörte. Erst in den frühen 1830er Jahren, und in manchen Bereichen noch später, ist hier ein deutlicher Bruch zu erkennen, der ganz neue soziale und politische Konfliktlinien in den Vordergrund treten ließ. Das heißt aber zweierlei nicht: Das Zusammenleben in der Gemeinde und ihr Verhältnis zur Obrigkeit war weder völlig unpolitisch noch erst recht konfliktarm. Freilich vollzog sich >Politik< im Rahmen der überkommenen Institutionen, Rituale und Mentalitäten, sie war Kampf um Macht, aber nicht im Sinne moderner Parteipolitik und eines alle Handlungsebenen von der Gemeinde bis zu Fürst und Bürokratie durchdringenden Systems, sondern eher in geschlossenen Kreisen, die miteinander Konflikte nach bestimmten Regeln austrugen, sich aber in ihrer Legitimation wechselseitig nicht grundsätzlich in Frage stellen konnten. Konflikte der Gemeinden mit der Obrigkeit hatte es seit der Entstehung kommunaler Verbände immer gegeben, ebenso wie Konflikte innerhalb der Gemeinden, und zwar nicht nur in Städten. Auch in der ländlichen Gesellschaft standen sich Gruppen mit unterschiedlichen ökono36 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35765-2
mischen Interessen gegenüber, auch in Dörfern konkurrierten Elitenzirkel und Familienverbände um wirtschaftliche Vorteile und politische Ämter,36 auch hier konnten sich >Parteien< bilden, die zwar ohne überlokalen Zusammenhang und ohne politische Programme waren, aber doch zu unmittelbaren Voraussetzungen, ja Vorläufern späterer Politisierung und Parteibildung werden konnten. Charakter und Themen der politisch-sozialen Konflikte änderten sich zwischen 1800 und 1830 allerdings, von wenigen Ausnahmen abgesehen, kaum, und wenige Jahre später blickten schon die Zeitgenossen spöttisch auf das zurück, was ihnen nun als völlige politische Apathie erscheinen mußte. An drei wichtigen Beispielen soll die politische Lebenswelt der Gemeinden und ihr Verhältnis zur Obrigkeit verdeutlicht werden: Es geht um Gemeindeämter und -wahlen und sich daran entzündende Konflikte; um Probleme im Zusammenhang von Bürgerrecht und Bürgernutzen; und schließlich um das politische Klima der 1820er Jahre, die konservative Phase der Restaurationszeit. a) Gemeindeämter und Gemeindewahlen Daß Gemeindewahlen am Anfang des 19. Jahrhundert nicht immer reibungslos verliefen, ohne daß sich in ihnen jedoch ein politischer Willen der Bürgerschaft im eigentlichen Sinne artikuliert hätte, zeigt der Konflikt um die Erneuerung des Mannheimer Stadtrates im Jahre 1810.37 Er verdeutlicht zugleich, nach welchen Prinzipien und mit welchen Interessen die Staatsbehörden in dieser Zeit bei der Besetzung von Gemeindeämtern intervenierten. Grundsätzlich blieben Wahlen in der Gemeinde eine Angelegenheit, mit der sich nur die unteren Regierungsstellen, also vor allem die Ämter, die den Ablauf der Wahlen organisierten oder beaufsichtigten, beschäftigten; nur in Ausnahmefällen erregten sie mehr Aufsehen, und dann konnte die Regierung nicht auf feste Regeln der Rechtsanwendung zurückgreifen, sondern entschied in Abwägung allgemeiner Grundsätze und der jeweiligen lokalen Besonderheiten von Fall zu Fall. So gab es noch nicht einmal für die Umsetzung des Organisationsediktes Reitzensteins vom November 1809 verbindliche Richtlinien. In den allermeisten Fällen blieben die bisherigen Amtsinhaber unangetastet, doch das Direktorium des Nekkarkreises versuchte seit dem März 1810 hartnäckig, das Innenministerium davon zu überzeugen, »daß mit der Konstituierung des Stadtrates auch subjektive Änderung verbunden werden müsse«. Daran hatte das Ministerium überhaupt kein Interesse, doch die Mittelbehörde insistierte schließlich erfolgreich, angesichts der enormen städtischen Schuldenlast von fast 250.000 fl. und der Kompetenzen des neuen Stadtrates müßten Männer des öffentlichen Vertrauens, die diesen Aufgaben auch gewachsen seien, den überalter37 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35765-2
ten Rat erneuern - der damalige Oberbürgermeister Müller war fest 80 Jahre alt, andere Ratsmitglieder genössen nicht mehr das Vertrauen ihrer Mitbürger. 38 Im Mai 1810 fanden schließlich die Wahlen statt, für die der Buchhändler Fontaine, einer der angesehensten Mannheimer Bürger, wohl vorab der >Favorit< gewesen war; er hatte jedoch schon vor der Wahl erklärt, aus beruflichen Gründen nicht Oberbürgermeister werden zu wollen. So erhielt der Amtsinhaber Müller die meisten Stimmen, an dessen Entfernung den Beamten doch gerade am meisten gelegen war, und deshalb wurde statt seiner der Kaufmann Johann Wilhelm Reinhardt - später mit der Familie Bassermann verschwägert - , der das zweitbeste Stimmenergebnis erreicht hatte, zum neuen Oberbürgermeister ernannt. 39 Über die Ernennung der anderen Ratsmitglieder jedoch konnten sich das Stadtamt und das Kreisdirektorium zunächst nicht einigen: Abgesehen davon, daß das Amt die Ernennung als seine eigene Kompetenz reklamierte, forderte es eine Besetzung des Rates strikt nach dem Wahlergebnis der Bürgerschaft, also nach dem Prinzip der Stimmenmehrheit. Eben davon war das Kreisdirektorium nicht nur im Falle des Oberbürgermeisters abgewichen, sondern hatte anderen Kriterien mehr Gewicht gegeben. Dabei standen »Tätigkeit« und »guter Ruf« des Gewählten an erster Stelle; zweitens habe man den »uralten deutschen Grundsätzen« der Religionsgleichheit, also einer angemessenen Berücksichtigung von Lutheranern, Katholiken und Reformierten in der konfessionell gemischten Stadt, Rechnung tragen müssen; erst an dritter Stelle sei nach der Stimmenzahl entschieden worden, und schließlich habe man darauf achten müssen, nicht zu viele Gastwirte in den Stadtrat einziehen zu lassen. Diese Prinzipien anwendend, rekonstruierte die Behörde ihre Gründe für die Ernennung oder Übergehung jedes einzelnen Kandidaten, die das Innenministerium schließlich als maßgebend anerkannte. 40 Es ist schwer zu sagen, welche Reaktion diese Entscheidung, die das Wahlergebnis zwar nicht völlig ignorierte, aber doch oft genug als drittrangig betrachtete, in der Mannheimer Bürgerschaft hervorgerufen hat. Es mag Unzufriedenheit gegeben haben, aber offene Opposition, etwa in Form von Eingaben oder Beschwerden, äußerte sich nicht, und das ist typisch für das politische Verhalten des Stadtbürgertums am Beginn des 19. Jahrhunderts. Zur sozialen Elite der Stadt gehörten die Ernannten allemal, sie waren mehr oder weniger beliebte, mehr oder weniger anerkannte Honoratioren vorwiegend aus dem Handelsbürgertum, und politische Gesichtspunkte oder gar Konfrontationen hatten weder die Wahl bestimmt noch das Kreisdirektorium bei seiner Entscheidung geleitet. Das Verhalten der Mittelbehörde stand in einem merkwürdigen, aber ebenfalls zeittypischen Spannungsverhältnis ganz unterschiedlicher Prinzipien; der aufgeklärt-absolutistische Grundsatz der Befähigung widersprach dem traditionell-patri38 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35765-2
archalischen der Religionsparität, der in den pfälzischen Gebieten durch eine Verordnung im Jahre 1801 noch einmal erneuert und bekräftigt worden war; und beides widersprach den Bestimmungen des Ediktes von 1809, nach dem grundsätzlich die Stimmenmehrheit ausschlaggebend sein sollte. In anderen Fällen wurde denn auch den unteren Behörden durch das Innenministerium immer wieder ausdrücklich beschieden, daß seit 1809 die Konfession der Gewählten keine Rolle mehr spielen dürfe.41 In den vorhergehenden Jahren hatte es um diesen Punkt immer wieder Auseinandersetzungen gegeben, weil die Gemeinden insbesondere in der Pfalz an dem Religionsproporz bzw. dem turnusmäßigen Wechsel der drei Konfessionen in den wichtigsten Gemeindeämtern festhalten wollten, sich gerade daran aber häufig heftige Konflikte innerhalb der Bürgerschaft entzündeten. Dem evangelisch-reformierten Kirchenrat in Heidelberg, der sich wie andere Kirchenbehörden beständig um die Protektion >seiner< Konfession in der städtischen Verwaltung bemühte, wurde 1807 »kleinliche(r) Sectengeist« vorgehalten und mit liberalem Reformergeist deutlich gemacht, daß demnächst auch Juden in Gemeindeämter würden einrücken können, sobald sie wie in Frankreich das Bürgerrecht erhalten hätten.42 Insbesondere versuchten die staatlichen Behörden gegen die Gewohnheit vorzugehen, nach der in gemischtkonfessionellen Gemeinden jede Konfession Kandidaten nur für sich und aus ihrer Mitte wählte43 - ein Wahlmodus, der offene Konflikte zwischen den Angehörigen der verschiedenen Konfessionen begünstigte und damit aus der Sicht der Regierung unnötig Parteiungen in die Gemeindeverwaltung trug. In den 1820er Jahren traten konfessionelle Spannungen offensichtlich stark in den Hintergrund; erst in der Mitte der 1840er Jahre prägten unter anderen Vorzeichen religiöse Auseinandersetzungen zeitweise wieder die Gemeindepolitik und verbanden sich nahezu unauflöslich mit politischer Gesinnung und Parteizugehörigkeit. Unsicherheit entstand zu Beginn des 19. Jahrhunderts auch immer wieder wegen der Frage, ob und unter welchen Voraussetzungen die staatlichen Behörden befugt waren, die Entlassung von Ortsvorgesetzten zu verfugen, die sich nach ihrer Meinung oder nach Auffassung eines Teils der Bürgerschaft als >unfähig< in ihrem Amt erwiesen hatten. Hier wie bei vielen Problemen der Gemeindeverwaltung und des Verhältnisses von Bürokratie und Gemeinden erschwerten unterschiedliche Traditionen der neubadischen Gebiete die Durchsetzung verbindlicher Prinzipien, aber genauso blieb die Anwendung der Reformgesetze, die nicht zuletzt dies doch hatten leisten sollen, umstritten.44 An einem möglichst weitgehenden Hineinregieren in die inneren Angelegenheiten der Kommunen war der Bürokratie auch in der Reformzeit gar nicht gelegen; andererseits akzeptierten die Gemeinden die gelegentliche Bevormundung durch die Behörden, weil sie diese Art des Verhältnisses zur Obrigkeit zum Teil seit Jahrhunderten gewöhnt waren 39 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35765-2
- und galt dies für eine große und >bürgerliche< Stadt wie Mannheim, dann erst recht für Kleinstädte und Landgemeinden. Bei inneren Konflikten erwartete die Bürgerschaft geradezu, Moderierung und Konfliktlösung von außen angeboten zu bekommen; erst seit dem Anfang der 1830er Jahre wurde diese letztlich auf einem Konsens von Untertanen und Obrigkeit beruhende traditionelle Art der Konfliktregulierung als >Zumutung< behördlicher Intervention in die »Selbstverwaltung« erfahren und zunehmend kritisiert. So verlief etwa die Auseinandersetzung um die Bürgermeisterwahl in Ettlingen 1815/16 ganz in diesen alten Bahnen. 45 Nach dem Tod des bisherigen Bürgermeisters waren zwei Drittel der Stimmen der Bürger auf das Ratsmitglied Ignaz Ullrich gefallen, gegen dessen Wahl aber der übrige Gemeinderat protestierte, weil gegen Ullrich eine Untersuchung wegen Veruntreuung von Gemeindevermögen anhängig sei. Andererseits lag den Behörden die Eingabe einer großen Zahl Ettlinger Bürger vor, die die Fähigkeiten Ullrichs verteidigten, das Vertrauen der Bürgerschaft in ihn hervorhoben und ihrerseits dem Rat egoistische Interessen, ja sogar die grundlose Anzettelung des Verfahrens gegen Ullrich vorwarfen. Mit der Lösung eines solchen typischen Konfliktes traditioneller Gemeindepolitik war die Gemeinde selber überfordert, weil sie den Rekurs an die Obrigkeit gewohnt war und über Institutionen und Regeln einer inneren Konfliktlösung so lange nicht verfugte, wie es noch keine freie Ratswahl gab, die die Legitimation des Rates von dem jeweiligen Willen der Bürgerschaft abhängig machte. Auch hierin lag später die Bedeutung der Gemeindeordnung von 1 8 3 1 : Sie stellte Mechanismen der pluralistischen Konfliktregulierung innerhalb der Gemeinden zur Verfügung. In Ettlingen, wo die Frage der Bürgermeisterwahl immer mehr zu Erregung und >Factionen< führte, kam dagegen 1816 nur ein halbherziger Kompromiß zustande, nach dem Ullrich auf Bürgermeister- und Ratsstelle verzichtete und der Stadtrat dafür von jeder weiteren Fortsetzung des Prozesses gegen ihn absah; bei der Neuwahl wurde Florian Buhl, ein Angehöriger der Ettlinger Fabrikantenfamilie, neuer Bürgermeister - damit setzte sich zugleich, aber das war in den kleineren Städten wie Ettlingen noch eher die Ausnahme, ein Vertreter des neuen, industriellen Bürgertums in der Kommunalpolitik durch. 46
b) Bürgerrecht und Bürgernutzen Auf ganz ähnliche Grundprobleme stößt man im Umfeld jener für Alltagsleben, Ökonomie und Herrschaft in der Gemeinde auch in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts noch schlechthin fundamentalen Institution: des Gemeindebürgerrechts. Trotz bürokratischer Vereinheitlichungsversuche, die 40 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35765-2
aber in der Reformzeit, wie erwähnt, nie auf das französische Modell einer Abschaffung des Gemeinde- zugunsten eines einheitlichen Staatsbürgerrechts zielten, überwog bis 1830 die Kontinuität zum 18. Jahrhundert und damit zugleich das Fortdauern lokal und regional zum Teil sehr unterschiedlicher Verhältnisse. Wie in Streitfällen über Wahlen und Ämter mußten Konflikte ad hoc und individuell zwischen Gemeinden und Bürokratie ausgehandelt werden. Gemeinsam war dem Gebiet des Großherzogtums nur die grundlegende Tatsache einer Konstituierung der Kommunen als privatrechtlich-korporativer Verbände von (in der Regel) wirtschaftlich selbständigen Vollbürgern, zu denen vor allem der Nachweis eines Gewerbes, eines Mindestvermögens und die Zahlung eines Einkaufsgeldes Zugang verschaffte, der dann zu politischer Partizipation und zu ökonomischer Teilhabe am Gemeindevermögen bzw. dem aus ihm erwirtschafteten Gewinn, dem sog. Bürgernutzen, berechtigte. Unterhalb der Minderheit vollberechtigter Ortsbürger gab es - im Prinzip - Schutzbürger und Hintersassen, so hatte es das sechste Konstitutionsedikt 1808 noch einmal festzulegen versucht. Gerade in Hinsicht auf die Einkaufsgelder und den Bürgergenuß waren aber die Unterschiede zwischen einzelnen Gemeinden und zwischen Gebieten verschiedener territorialer Tradition erheblich; im Süden Badens waren, so eine Faustregel, die Einkaufsgelder hoch, der Zugang von Fremden in die Gemeinden entsprechend schwer und der Bürgernutzen relativ umfangreich; im Norden, etwa in der Pfalz und im Odenwald, entsprachen geringere Einkaufsgelder und Vermögensnachweise einem geringeren oder sogar, wie in Mannheim, ganz fehlenden Bürgergenuß. Im Anschluß an das Konstitutionsedikt über die Grundverfassung der Stände versuchte eine Verordnung über das Gemeindebürgerrecht vom 1. Februar 1809, die Bedingungen des Bürgerrechtsantritts (bei >geborenem< Bürgerrecht) bzw. des Bürgerrechtserwerbs durch Ortsfremde einheitlich zu bestimmen. Außer den üblichen Voraussetzungen wie Volljährigkeit, Unbescholtenheit und Nahrungsnachweis setzte es nach Gemeindegrößenklassen gestaffelte Mindestvermögen fest, die von 3.000 fl. für einen männlichen Ausländer in den größten Städten bis zu 300 fl. in Dörfern »in minder nahrhaften Landstrichen« reichten. Es blieb den Gemeinden aber vorbehalten, durch besonderes Herkommen und bestimmte Ortsfreiheiten auch höhere Beiträge zu verlangen, und über die extrem divergierenden Sätze für den Einkauf in das Bürgerrecht machte die Verordnung überhaupt keine Vorschriften - schon das war den Beamten offenbar zu heikel, die wußten, wie wichtig der Bürgerschaft die damit verbundene Überwachung des Zugangs zu ihrer Gemeinde war. 47 Gleichwohl darf man sich nicht vorstellen, daß die Gemeinden bei der Regelung ihrer >bürgerlichen Verhältnisses insbesondere bei der Aufnahme 41 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35765-2
und Abwehr von Fremden, völlig autonom gewesen sind - eine solche Autonomie hatte es für die große Mehrheit der landesherrlichen Städte und Gemeinden schon in der Frühen Neuzeit, zumal seit dem 18. Jahrhundert, nicht mehr gegeben, und die Reformzeit bedeutete auch in dieser Hinsicht meist eine wenig spürbare Zäsur. Das Organisationsedikt Reitzensteins hatte die Rechte der staatlichen Behörden bei der Bürgerannahme gegen den Willen der Gemeinde bekräftigt, 48 aber für die allermeisten Orte war dies keine völlig neue Zumutung der Bürokratie gegenüber ihrer bürgerlichen Selbstbestimmung, sondern schon lange ein Teil der politischen Realität und Anlaß zu Konflikten. Allerdings war es in den ersten Jahren des Großherzogtums für die Bürokratie ein besonders wichtiges Ziel, dieses Recht wirksam durchzusetzen. In einer Verordnung von 1811 wurden die Bestimmungen des Organisationsediktes dahingehend >erläutertDreierschema< verorten ließen. So verzeichnete der Schwarzwaldort Triberg 1820 116 >GemeindsbürgerBürger< und die übrigen 80 >bürgerliche Gehausen< mit beschränkten Genußrechten waren, also im Grunde Schutzbürger, die aber, weil sie nicht so hießen, bei den Landtagswahlen 1819 mitgewählt hatten. 55 In Donaueschingen verlangte die Gruppe der sog. >AnbürgerBürger< gegenüber, die in einer von Amt und Kreisdirektorium (die für die Aufhebung des althergebrachten Unterschiedes eintraten) veranlaßten Abstimmung mit großer Mehrheit gegen eine Zulassung der Anbürger zum Bürgergenuß eintraten; nur 37 sprachen sich, unter der Voraussetzung der Entrichtung eines Einkaufsgeldes, dafür aus. Obwohl beide Gruppen nun ständige Deputierte wählten und die Anbürger außerdem im Gemeinderat vertreten waren, steigerte sich der Konflikt zu Beginn der 1820er Jahre; tumultartige Gemeindeversammlungen polarisierten beide Gruppen immer stärker, so daß bei einer erneuten Abstimmung im Jahre 1825 kein einziger der Vollbürger mehr für erweiterte Rechte der Anbürger eintrat. 57 Für die staadichen Behörden waren solche innergemeindlichen Ausein44 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35765-2
andersetzungen ganz ähnlich wie Konflikte um Wahlen und die Besetzung von Ämtern mit der für sie durchaus unangenehmen Aufgabe einer ständigen Suche nach Kompromissen verbunden, die beide Fraktionen in der Gemeinde von ihnen verlangten, ohne doch je mit den Entscheidungen der Beamten zufrieden sein zu können. Im Falle Donaueschingens neigte die Bürokratie immer mehr dazu, zugunsten der Anbürger zu entscheiden, und traf für eine Aufnahme der Anbürger in den Bürgergenuß bereits konkrete Vorbereitungen, als das Bürgerrechtsgesetz 1832 für ganz Baden ein einheitliches Gemeindebürgerrecht schuf.58 Damit wurden auch in diesem Bereich die für alle Seiten immer strapaziöseren traditionellen Mechanismen der Konfliktregulierung durch Verfahren abgelöst, die das Gemeindebürgertum auf selbständiges politisches Handeln verwiesen und seine Konfliktbereitschaft von herkömmlichen rechtlichen Problemen auf andere Felder lenkten.
c) Restauration und politischer Konflikt in den 1820er Jahren Die ersten Anzeichen solcher Veränderungen machten sich schon in dem Jahrzehnt vor 1830 bemerkbar, in dem mancherorts die herkömmlichen Konstellationen und Themen von Politik, innerhalb der Gemeinden wie in ihrer Auseinandersetzung mit der Bürokratie, von neuartigen Konflikten überlagert - noch nicht verdrängt - wurden. Aber auch in dem nun langsam sich herausbildenden Bereich >modernertraditionalKrähwinkel< entsprachen die Gemeinden bis hin zu den größeren Städten meist auch so schon, und entsprechend charakterisierten die Zeitgenossen später im Rückblick die 1820er Jahre: als Zeit der »unfruchtbaren politischen Dürre«, so Nebenius 1849, oder als »Zeit der friedlichen, bürgerlichen Arbeit«. 62 Der Schweizer Ernst Münch, nach dem Studium in Freiburg dort 1825 zum Professor für Historische Hilfswissenschaften avanciert, sah in seinen 1836 veröffentlichten Erinnerungen in den öffendichen Verhältnissen der badischen Restaurationszeit »etwas Farbloses, Monotones und Unbehagliches«: »Den Hof leitete die Camarilla, die Regierung das Bureau. Das ganze Leben und Treiben war in Tabellen, in Regierungsblättern absorbiert. (...) Eine allgemeine Philisterei beherrschte damals das Land. Die Freiheitserinnerungen waren bereits zu Kindermärchen geworden«. 6 3 Friedrich Pecht verglich die politische, aber auch gewerbliche Stagnation der Jahre seiner Kindheit in Konstanz vor 1830 immer wieder mit den lebhafteren Verhältnissen in der Schweiz und gab daran auch den bei der Bevölkerung so ungeliebten badischen Beamten die Schuld. 64 Sogar konservative Rechtfertigungsversuche der vermeintlich besseren Zeit vor der Julirevolution und der vormärzlichen Bewegung attestierten den 1820er Jahren etwas »Patriarchalisches und Kleinbürgerliches«. 65 Wie sich die traditionelle Stadtbürgerlichkeit mit ihrer Politik und sozialen Ordnung in dieser Zeit noch in erster Linie verstand, kann man an ihrer symbolischen Repräsentation anläßlich von Empfängen des Großherzogs oder von Bürgerfesten zu seinen Ehren erkennen. Hier stand eine herkömmliche Form der Herrscherhuldigung im Mittelpunkt, die sich auf Treue gegen Schutz berief, selbst auf verklausulierte politische Forderungen verzichtete und sich in einer Eintracht von bürgerlichen Honoratioren und Staatsbeamten vollzog - eine Form, die auf lange überlieferte Traditionen zurückgriff, sich aber nur wenige Jahre später auflöste, ja undenkbar wurde. Die politische Elite der Gemeinde, vor allem im Magistrat oder Gemeinderat, betonte ihre Zugehörigkeit zur Elite des Staates eher als ihre Funktion 46 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35765-2
als Repräsentation der Bürger, die ja in der Tat prekär war, solange viele Räte sich nur selbst ergänzten, anstatt gewählt zu werden. Es bildete noch keinen Widerspruch zu den alltäglichen Konflikten, lokalen Beamten oder Ministern die städtische Ehrenbürgerwürde zu verleihen.66 Hierarchie war scharf ausgeprägt und wurde auch so demonstriert; das >Volk< blieb außen vor, während sich Adlige und Staatsbeamte zusammen mit Stadtrat und Bürgerausschuß in der Kirche zu einem festlichen Gottesdienst versammelten,67 und beim Defilee der Bürgerschaft betonte man ihre korporative Gliederung in Zünfte.68 Noch die Empfänge Leopolds in den Städten 1830 vollzogen sich weitgehend in diesem Rahmen. In Ettlingen begrüßten Oberamtmann und Oberbürgermeister zusammen mit dem Obermeister der Maurer als Repräsentanten der Zünfte den neuen Großherzog und seine Frau gemeinsam an der Ehrenpforte am Eingang der Stadt, von wo aus ein Spalier der Zünfte in den Ort hineinführte. In den Reden und Huldigungsgedichten war der Blick überwiegend nach rückwärts gerichtet, man ehrte in Leopold seinen Vater Karl Friedrich, wofür eine Parade von Greisen aufgeboten wurde, die als nunmehr älteste Bürger der Stadt schon vor fünfzig Jahren das städtische Fest aus Anlaß der Aufhebung der sog. Leibeigenschaft in der Markgrafschaft miterlebt hatten.69 Andere öffentliche Formen bürgerlicher Zusammenkunft in den Städten neben diesen ritualisierten Ereignissen waren noch selten, so daß das Innenministerium, als der übereifrige Heidelberger Stadtdirektor Wild sich 1823 nach Erlaubnis und Verbot von Gemeindeversammlungen erkundigte, erst einmal mühsam nach Rechtsgrundlagen forschen mußte: Ein solches Problem war der Bürokratie neu. Mehr aus allgemeiner Vorsorge und um Wild zufriedenzustellen denn aus konkretem Anlaß erging dann ein Erlaß an die Kreisdirektorien, nach dem alle Versammlungen zur Beratung von Gemeinde- wie von Staatsangelegenheiten verboten waren.70 Erst Jahre später, dann aber um so häufiger, gab es für das Ministerium Gründe, an diese Verordnung zu erinnern. So entfaltete auch das erste Jahrzehnt des badischen Konstitutionalismus eine durchaus ambivalente Wirkung. Verfassung, Wahlen und Landtagspolitik gaben, und das war langfristig sicher von erheblich größerer Bedeutung, wichtige Anstöße für die Entfaltung des Liberalismus in den Gemeinden davon handelt der nächste Abschnitt - , aber die Existenz solcher Institutionen war eben noch keine hinreichende Voraussetzung für eine liberale Massenpolitisierung. Wo die Bevölkerung weiter in ihren herkömmlichen politischen Kategorien dachte und handelte, wurden die neuen Institutionen vielmehr als zusätzliche Foren traditionaler Politik genutzt. Zwar sah sich das Innenministerium am Schluß des Landtags von 1819 veranlaßt, Zusammenkünfte der Deputierten mit ihren Wahlmännern zu verbieten,71 doch genauso häufig wie liberale Abgeordnetenempfänge blieben vorerst, 47 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35765-2
zumal in ländlichen Gegenden des badischen Unterlandes, Jubelfeiern und Gottesdienste zugunsten des Fürsten und seiner »würdigen obersten Staatsdiener« aus Anlaß der zur Eröffnung des Landtags gehaltenen Thronrede des Großherzogs. 72 Petitionen an die Zweite Kammer waren noch relativ selten und zielten vor allem auf Probleme in der traditionellen gewerblichen und ländlichen Wirtschaft, 73 genauso häufig wandten Ortsvorsteher und Gemeinderäte sich unmittelbar an die Regierung, etwa um Klagen über die Verwaltungsorganisation oder Bitten um die Errichtung oder Belassung eines Amtes in der eigenen Stadt vorzubringen, 74 oder an den Großherzog selbst, etwa um ihm für seine politische Initiative im Konflikt um bayerische Gebietsansprüche an das Großherzogtum zu danken 75 - solche Themen waren es, vor deren Hintergrund sich Landtagspolitik in der »Zeit der sieben mageren Kühe von 1823-30« vollzog. 76 Der in Lörrach aufgewachsene Arzt Eduard Kaiser erinnerte sich später, auch im Markgräflerland hätten die ersten Landtage für die Masse der Bevölkerung kaum eine Bedeutung gehabt; »nur die regierende Kaste, die Gelehrten und höheren Beamtenkreise hatten politische Gedanken, hatten politische Ziele, der Bürgerstand kaum einige Vorstellungen und die Bauern mißtrauten allem, was die Herren sagten. Die arbeitenden, ärmeren Klassen, die Jugend und die Frauen waren diesen politischen Regungen bis zum Landtag 1831 fast ganz verschlossen geblieben. Politisierende Juden gab es damals noch nicht«. 77 Der Höhepunkt in dieser Hinsicht war erreicht, als im Winter 1824/25 nach der Auflösung des Landtages am 1 1 . Dezember und der Anordnung von Neuwahlen viele ländliche Gemeinden vor allem des Odenwaldes und der Main-Tauber-Region, aber auch aus der Bodenseegegend Adressen an den Großherzog schickten, in denen sie jedenfalls für die Lebenszeit des Fürsten um Aufhebung des Landtages oder der Verfassung überhaupt baten. 78 Diese sog. >Schulzenadressen< waren meist von den Bürgermeistern im Namen der Gemeinde unterzeichnet, oft aber auch von den örtlichen Wahlmännern. Die Ortsvorsteher des Bezirksamtes Buchen lobten zwar die Verfassung als »ewig bleibendes Denkmal« für die Größe des Fürsten, doch »allein! Was bedarf es der Ein- und Mitwirkung landständischer Deputierten in den Regierungs-Angelegenheiten«, wenn das badische Volk von einem »erhabenen Regenten« so weise und milde regiert werde. Deshalb, so die hier typisch formulierte Bitte: »Euer Königliche Hoheit möchten allergnädigst geruhen, für die Lebensdauer allerhöchst ihrer Person die landständische Verfassung in suspenso zu belassen, und mit Umgehung landständischer Mitwirkung die Staatsregierung Allein künftighin führen.« 79 Der Wortlaut dieser Eingaben war ähnlich, aber nicht identisch, und es ist unklar, welche Rolle örtliche Staatsbeamte bei der Ermunterung der Gemeinden zu diesen Bittschriften gespielt haben. So wenig sie, vergegenwärtigt man sich die Kommunikationsstrukturen ländlicher Politik in den 1820er Jahren, 48 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35765-2
daran unbeteiligt sein konnten, so unbestreitbar drückten die Adressen eine authentische Stimmung in der Landbevölkerung aus, für die eine parlamentarische Repräsentation einen höheren politischen Selbstzweck ohnehin nicht hatte und ihnen bei der Lösung ihrer wirtschaftlichen Alltagssorgen nicht helfen konnte. Den Behörden in Karlsruhe waren diese Eingaben sogar eher unangenehm; das Innenministerium empfahl dem Großherzog, das Ansinnen unter Hinweis auf die Verpflichtung zu Landständen durch den Artikel 13 der Deutschen Bundesakte zurückzuweisen.80 Von den Führern des Liberalismus der 1830er und 1840er Jahre, die so gerne das ganze Volk auf ihrer Seite wissen wollten, wurden die Schulzenadressen später immer wieder als besondere Peinlichkeit und Schmach empfunden.81 Andererseits markierte der Landtagswahlkampf von 1824/25 in den Städten einen ersten Wendepunkt. Wenn als Ergebnis der Neuwahlen auch ein extrem konservativer, genauer: regierungstreuer und auch personell durch ein Übergewicht von Beamten geprägter Landtag zusammentrat, war dies doch in einigen Wahlkreisen erst durch ein erhebliches Engagement der Bürokratie erreicht worden; die Minister Berstett und Berckheim bereisten das Land, Kreisdirektoren und Amtmänner wurden instruiert und wirkten ihrerseits auf Gemeinderäte und Wahlmännerkollegien ein; kurz: in diesem ersten landesweiten Wahlkampf, der diesen Namen verdiente, spürte die Regierung, daß ihr genehme Wahlen nicht mehr von selbst zustandekamen, sondern zum Teil durch massiven Einsatz und gegen die Stimmung eines Teils der städtischen Bevölkerung erkämpft werden mußten.82 Nicht zuletzt von dieser Erfahrung der massiven staatlichen Wahlbeeinflussung geprägt, erhob der badische Liberalismus die >Wahlfreiheit< zu einem seiner zentralen Prinzipien, dessen kompromißlose Verteidigung, wie wir noch sehen werden, Teil der Vorgeschichte und Geschichte der Revolution 1848/49 wurde. Gleichwohl waren es in der Mitte der 1820er Jahre erst punktuelle Konflikte, vor allem in Heidelberg und Freiburg, die den Wahlen einen explizit politisch-weltanschaulichen Charakter verliehen. In der kurpfálzischen Universitätsstadt war es wieder einmal der Stadtdirektor Wild, der die Initiative zugunsten der Regierung ergriff und am 17. Dezember 1824 gut dreißig Kaufleute, Handwerksmeister und andere Bürger in seine Privatwohnung bat, um zu ihnen nicht als Stadtdirektor, sondern als bloß besorgter »Staatsbürger«, wie er den Versammelten gleich mitteilte, zu sprechen.83 Er riet ihnen dringend von der Wiederwahl der bisherigen Heidelberger Abgeordneten, des Buchhändlers Winter und des Lederfabrikanten Speyerer, die sich beide in den vorhergehenden Jahren als Wortführer der Liberalen im Heidelberger Bürgertum zu profilieren begonnen hatten, ab und verbreitete später, als die Wahlmännerwahlen begannen, Listen mit Wahlempfehlungen zugunsten ihm >gemäßigt< erscheinender Bürger84 - erneut nur als >StaatsbürgerIntegralerneuerung< der Kammer stattfinden sollte, um die für die Regierung lästigen Wahlunruhen in jedem zweiten Jahr zu vermeiden. Mit nur drei Gegenstimmen der liberalen Abgeordneten Föhrenbach, Duttlinger und Grimm wurde der Entwurf angenommen.87 Wie die Frage der Wahlfreiheit sollte sich dieser >Angriff< auf die Verfassung seit 1831 zu einem Symbol dessen entwickeln, was der badische Liberalismus um jeden Preis zu verteidigen bereit war.
3. Verfassung, bürgerliche Bewegung und Anfänge des Liberalismus vor 1830 Bürgerliche Kontinuität und bürgerliche Bewegung - das schloß sich in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts nicht aus, aber es stand auch überwiegend noch nicht in einem unmittelbaren Zusammenhang. Die bürgerliche Kontinuität war vor allem eine gemeindebürgerliche, in ihr gab es Ansatzpunkte einer liberalen Politisierung aus der traditionellen kommunalen Ordnung heraus, aber sie blieben vor 1830 noch weitgehend ungenutzt. Die bürgerliche Bewegung, auf der anderen Seite, entsprach zunächst eher der im 18. Jahrhundert entstandenen »Zielutopie« einer »bürgerlichen Gesellschaft«,88 die zwar nicht ganz außerhalb stadtbürgerlicher Erfahrung, aber doch nur in partieller Überlappung mit ihr entstanden war; sozial schloß sie das beamtete Bildungsbürgertum, nicht zuletzt die staatliche Bürokratie mit ihren Bemühungen um eine rechtlich konstruierte, egalitäre und freie >StaatsbürgergesellschaftBürgerstandes< in den Gemeindeverbänden, aus dem sich in den Kleinstädten auch die lokalen Führungsschichten rekrutierten. Die soziale und politische Verbindung von >bürgerlicher Kontinuität< und >bürgerlicher Bewegung1830< verweist. Erstens, und das ist vorn schon angedeutet worden, vollzog sich eine erhebliche Veränderung an der sozialen Basis. Einzelne, auch später wichtige >Führungspersonen< wie Rotteck und Christian Friedrich Winter traten in den 1820er Jahren hervor, aber sie gehörten einer schmalen sozialen Elite an, die die Brücke zum Kleinbürgertum noch nicht geschlagen hatte. Das erkennt man auch an der Sozialstruktur von Vereinen und im übrigen sehr deutlich gerade am Philhellenismus, der von Staatsbeamten mit initiiert wurde, Handwerker aber kaum als Mitglieder organisieren konnte. Zweitens war der frühere Liberalismus noch keine >flächendeckende< Bewegung, er artikulierte sich zuerst in größeren Städten, strahlte aber von ihnen kaum ins kleinstädtische und ländliche Umland ab und entstand dort zunächst noch weniger aus eigener Wurzel. Es gab vereinzelte persönliche Kontakte, aber die verschiedenen Zentren blieben relativ isoliert voneinander; von einer übergemeindlichen, gesamtstaatlichen, das ganze Land oder doch zumindest weite Regionen ergreifenden Bewegung konnte noch nicht die Rede sein. Also fehlte der liberalen Bewegung der 1820er Jahre, drittens, die Institutionalisierung im weitesten Sinne, der permanente politische Kontakt zwischen Personen, die dauerhafte Prägung politischen Bewußtseins und die dauerhafte Mobilisierung, welche die Etablierung von regelmäßigen >Ritualen< wie Wahlkämpfen und Abgeordnetenempfängen einschlösse: All das bildete sich erst nach 1830 heraus; der frühere Liberalismus war, etwas überspitzt gesagt, eher sporadisch, >akzidentiell< - auf eine Petition folgte jahrelange Ruhe, auf die Gründung eines Griechenvereins wenig bald sein Verschwinden. Zu den Voraussetzungen und Kristallisationspunkten des badischen Liberalismus im Vormärz gehörte an vorderster Stelle die Verfassung des Landes von 1818. Ihre Entstehungs- und Wirkungsgeschichte veranschaulicht zugleich paradigmatisch, wie der Beamtenliberalismus der ausgehenden Reformzeit vom >bürgerlichen< Liberalismus abgelöst wurde und dieser die Bürokratie schließlich mit dem Produkt ihres eigenen Handelns zu schlagen versuchte. Wie in anderen Rheinbundstaaten - insbesondere in Bayern - auch, reichen die Anfänge der badischen Verfassungspolitik bis in die Zeit der staatlichen Souveränitätsbehauptung und Konsolidierung zurück. Brauer entwarf eine Denkschrift »Über Badens Verfassung« bereits im Herbst 1806, im Frühjahr 1808 skizzierte er ein achtes und neuntes Konstitutionsedikt, die ebenfalls verfassungsähnlichen Charakter hatten, und im folgenden Winter lag unter dem Titel »Haupturkunde der Staatsverfassung des Großherzogtums Baden« ein Konstitutionsentwurf vor, der sogar eine >StaatsrepräsentationLandtag< vorsah. 90 Aus verschiedenen, vor allem innerbürokratischen Gründen 52 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35765-2
so schien Reitzenstein kein großes Interesse an einer Verfassung und Repräsentation zu haben - scheiterten diese Pläne, wurden aber nach dem Ende der napoleonischen Herrschaft wieder aufgegriffen, und wie in der Rheinbundzeit lag die Initiative dabei praktisch ausschließlich bei der Bürokratie. Mit Winter, Nebenius und anderen gewann eine neue Beamtengeneration den maßgeblichen Einfluß auf die Gestaltung der Verfassung, aber ihre Motive waren zum großen Teil dieselben geblieben: Souveränitätsbehauptung nunmehr im Rahmen des Deutschen Bundes, Unterwerfung und staatsrechtliche Einordnung der mediatisierten Stände, vor allem des Adels, und überhaupt die staatlich-bürokratische Integration des neugeschaffenen, heterogenen Staates. Von einer Repräsentation, einer ständischen Vertretung versprachen die Beamten sich zuerst eine leichtere Bewältigung der gravierenden finanzpolitischen Probleme und überhaupt eine Erhöhung der Legitimation des neuen Staates in der Bevölkerung. 91 Winter und Nebenius, der Autor der Verfassung, waren typische Vertreter des frühen Beamtenliberalismus, Verfechter der >bürgerlichen< Freiheit eher als der >politischengewährteHausgesetz< vom 4. Oktober 1817 die Erbfolge geregelt und bayerische Ansprüche an die rechtsrheinische Pfalz abgewehrt hatte, wurden die Beratungen beendet und ein neuer, von Nebenius verfaßter Entwurf am 22. August 1818 von Großherzog Carl in Bad Griesbach, wo er sich zu einer Kur aufhielt, unterzeichnet. Während im Nachbarland Württemberg ein Jahr später nach heftigen Kämpfen zwischen Regierung und Ständen eine Verfassung >vereinbart< wurde, war die badische wie die anderen frühkonstitutionellen deutschen Verfassungen formal ein Oktroi. Ganz unterschiedliche frühneuzeitliche Traditionen wirkten hier nach, aber merkwürdigerweise konnten beide eine ähnliche Wirkung entfalten: Die ständische Tradition Württembergs, die dort eine bürgerliche Tradition war, wirkte als ein wichtiger Nährboden und Anknüpfungspunkt für den frühen Liberalismus, 96 in Baden-Baden und Baden-Durlach waren die Stände dagegen wie in Bayern schon in der Mitte des 17. Jahrhunderts zum letzten Mal einberufen worden, und wo das Großherzogtum, wie im Breisgau, Gebiete mit erhalten gebliebener ständischer Verfassung erbte, schnitt es diese Kontinuitätslinien um der Staatssouveränität willen ab und stieß dabei noch nicht einmal auf Widerstand; die breisgauischen Stände wurden 1806 aufgelöst und verboten. 97 Die badische Verfassungspolitik stand eher in Kontinuität zu den aufgeklärt-absolutistischen Traditionen der Markgrafschaft, 98 und auch aus dieser Wurzel konnte eine liberale Verfassung entstehen; ja, die spezifische Vorgeschichte der badischen Konstitution hinderte den bürgerlichen Liberalismus wenig später nicht, sie als sein ureigenstes Symbol für sich zu reklamieren - ein Musterbeispiel für eine gelungene >invention of traditiontheoretischer< Bedeutung für den Liberalismus war der Grundrechtekatalog im zweiten Titel der Verfassung, der Eigentums- und persönliche Freiheitsrechte, Gleichheit der staatsbürgerlichen und politischen Rechte jedenfalls für die drei christiichen Konfessionen, Unabhängigkeit der Gerichte und Pressefreiheit - »nach den künftigen Bestimmungen der Bundesversammlung« - enthielt." In praktischer Hinsicht bedeuteten die Bestimmungen über die Zweite Kammer des Landtags und die Wahlen zu ihr mit Abstand am meisten; damit war nicht nur eine völlig neue institutionelle Plattform bürgerlicher Politik geschaffen, sondern auch die Möglichkeit zur regelmäßigen politischen Mobilisierung des Volkes gegeben. Anders als in Württemberg und Bayern war aus der badischen Zweiten 54 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35765-2
Kammer nicht nur der Adel, sondern jedes ständische Element überhaupt verbannt; Deputierte der Grund- und Standesherren, der Kirchen und der Universitäten wurden der Ersten Kammer zugeordnet. 63 Abgeordnete repräsentierten die Städte und Ämter, davon entfielen 41 auf Ämterwahlbezirke und 22 auf größere Städte, bei deren offensichtlicher Bevorzugung, gemessen an der Einwohnerzahl, finanzpolitische, zum Teil wohl auch historische Gesichtspunkte Nebenius geleitet hatten: Die Städte vertraten die stärkste Steuerkraft:, also sollten sie im Hinblick auf das Budgetrecht der Kammer eine entsprechende Mitsprache genießen. 100 Dabei stellten Karlsruhe und Mannheim je drei, Heidelberg, Freiburg, Pforzheim und Lahr je zwei Abgeordnete, Überlingen, Konstanz, Offenburg, Rastatt, Baden-Baden, Durlach, Bruchsal und Wertheim je einen. Obwohl später viele Ämterwahlbezirke liberale Hochburgen wurden und andererseits Städte wie Karlsruhe, Baden-Baden und Überlingen immer regierungstreu wählten, hat diese verfassungsmäßige Bevorzugung der Städte insgesamt doch einen Startvorteil für den Liberalismus bedeutet. Nach der Verfassung mußte alle zwei Jahre eine Ständeversammlung stattfinden, die Abgeordneten der Zweiten Kammer wurden aber auf acht Jahre gewählt, wobei die Kammer alle zwei Jahre zu einem Viertel erneuert wurde. Den Abgeordnetenwahlen waren Wahlmännerwahlen vorgeschaltet, eine indirekte Wahl sollte also den unmittelbaren Einfluß des Volkes auf die Deputierten abfedern - das haben die Liberalen im Vormärz gelegentlich, wenn auch nicht mit übergroßem Nachdruck, kritisiert, und es ist, wie wir später noch sehen werden, tatsächlich sehr die Frage, ob das indirekte Wahlrecht diese Funktion der Dämpfung und partiellen Entpolitisierung durch die Zwischenschaltung von >Honoratioren< erfüllen konnte. Sobald ohnehin nach politischer Überzeugung gewählt wurde, verstärkten die Wahlmännerwahlen sogar eher die Mobilisierung anläßlich von Wahlen, und zu einer starken Identifikation der Urwähler mit >ihrem< Abgeordneten kam es trotzdem. 101 Wer in den Landtag gewählt werden wollte, mußte 30 Jahre alt und christlicher Konfession sein - Juden waren also ausgeschlossen - , vor allem aber ein Vermögen von 10.000 fl. nachweisen können. Dafür galten, und das erwies sich später als ungleich wichtiger, für das aktive und genauso für das passive Wahlrecht bei den Wahlmännerwahlen nur geringe Einschränkungen, ohne Zensus waren alle erwachsenen Männer stimmfähig und wählbar, die als >Bürger< oder Staatsdiener am Wahlort ansässig waren, es gab auch keine nach Vermögen oder Steuerleistung abgestuften Wahlklassen. Die >Selbständigkeit< war das entscheidende Kriterium, ausgeschlossen sollten deshalb nur »Hintersassen, Gewerbsgehülfen, Gesinde, Bediente u.s.w.« sein. 102 Unklar war aber nach dieser Formulierung, wie man erst später bemerkte und deshalb auch lokal unterschiedlich handhabte, ob Schutzbürger als Bürger oder als Hintersassen galten. Nach-
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dem die Gemeindeordnung den Schutzbürgerstatus 1832 abschaffte, war erst recht der weit überwiegende Teil der männlichen Erwachsenen wahlberechtigt und damit eine institutionelle Grundlage für eine breite demokratische Partizipation vorhanden. Unmittelbar nach der Verkündung der Verfassung gingen aus dem ganzen Land Dankadressen der Gemeinden ein, meistens von den Ortsvorgesetzten eines Amtes oder dem Gemeinderat der größeren Städte unterzeichnet, deren Abdruck in den ersten Septemberwochen 1818 die Spalten der regierungsoffiziösen Karlsruher Zeitung füllte. Angesichts der politischen Stille der vorhergehenden Jahre war das Echo in der Bevölkerung sehr groß; in vielen Orten fanden >Dankfeste< mit Gottesdiensten und öffentlichen Volksbelustigungen am Nachmittag statt, in Lahr wandelte man die Feier, die unter der Regie des populären liberalen Oberamtmanns Ludwig v. Liebenstein bereits seit 1814 jährlich am 19. Oktober zur Erinnerung an die Leipziger Völkerschlacht auf dem Schutterlindenberg gehalten worden war, in eine Verfassungsfeier um, auf der Liebenstein bei Fackelschein zur Bevölkerung der Stadt und des Umlandes sprach und die Vorzüge der Verfassung erläuterte. 103 Daß die Verfassung ein jeden einzelnen betreffendes besonderes Dokument darstellte und eine Zäsur in der Geschichte des noch jungen Großherzogtums markierte, war sofort ein weitverbreitetes Gefühl, aber, und das darf man nicht übersehen, von wenigen Ausnahmen abgesehen gründete dieses Gefühl noch in einem durchaus traditionalen Verständnis des Verhältnisses von Fürst und Untertanen; die Dankadressen und unter ihnen zumal die ländlichen, aber auch die von Städten wie Mannheim, artikulierten vor allem den Dank der >Untertanen< für die >Güte< des erhabenen Fürsten und seinen freiwilligen Verzicht auf angestammte Herrscherrechte der Dynastie, von der Wahrnehmung politischer Rechte war kaum die Rede und der Landtag, wo er überhaupt Erwähnung fand, wurde zunächst eher als Anknüpfung an die Tradition ständischer Verfassung der Frühen Neuzeit begriffen denn als Neubeginn eines >modernen< Parlamentarismus - das war im Erfahrungshorizont der Zeitgenossen von 1818 auch kaum anders möglich. 104 Insofern ging das Kalkül der Bürokratie, mit der Verfassung über ein Integrationsinstrument für das aus Gebieten so unterschiedlicher Tradition zusammengefügte Großherzogtum zu verfügen, über Erwarten gut auf. In der positiven Reaktion auf die Verfassung schwang 1818 noch etwas von der alten Identitätsstiftung durch die Dynastie mit, und gerade in größeren Städten wie Mannheim und Freiburg trug sie in diesem Sinne dazu bei, bis dahin zum Teil noch weit verbreitete bayerische bzw. österreichische Sympathien in den Hintergrund zu drängen. Sehr schnell entfaltete die Verfassung jedoch eine von den Beamten nicht vorausgesehene Eigendynamik, sie integrierte nicht nur einen Staat, sondern auch eine Gesellschaft, ja, sieschuf 56 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35765-2
diese Gesellschaft eigentlich erst, die sich in der Folgezeit zunehmend mit der Verfassung selber identifizierte und dafür die Dynastie immer weniger benötigte. Diese noch wenig erforschte Verfassungskultur, ein >Verfassungspatriotismus< (Sternberger) geradezu, prägte den badischen Liberalismus bis in die unmittelbare Vorgeschichte der Revolution hinein.105 In seiner Rede in der Freiburger Museumsgesellschaft aus Anlaß der Verkündung der Verfassung sah Karl v. Rotteck diese gesellschaftliche Integrations- und Mobilisierungsfunktion sehr klug voraus, als er mit den schon von den Zeitgenossen vielzitierten Worten apodiktisch konstatierte: »Wir haben eine ständische Verfassung, ein politisches Leben als Volk. (...) Wir waren BadenBadener, Durlacher, Breisgauer, Pfälzer, Nellenburger, Fürstenberger, wir waren Freiburger, Konstanzer, Mannheimer: ein Volk von Baden waren wir nicht. Fortan aber sind wir Ein Volk, haben einen Gesamtwillen und ein anerkanntes Gesamtinteresse ... Jetzt treten wir in die Geschichte mit eigener Rolle ein.«106 Im Gegensatz zu späteren Wahlen, nicht zuletzt der von 1825, fanden die ersten Wahlmänner wahlen im Januar 1819 und die daran anschließenden Abgeordnetenwahlen, wie es Verfassung und Wahlordnung garantierten, praktisch ohne staatliche Einwirkungen und Beeinflussungsversuche statt. Da sich gegensätzliche politische Gruppierungen in den Gemeinden noch nicht gegenüberstanden, verliefen die Wahlen generell ruhig, wurden jedoch überall als ein besonderes Ereignis empfunden und entsprechend >inszeniertverdiente< Bürger der Stadt, die zu Deputierten bestimmt wurden. Typisch dafür waren etwa die Wahl des Stadtrats Deimling in Lahr, des Oberbürgermeisters Adrians und eines Staatsbeamten in Freiburg oder von Hofgerichtsrat Ziegler und der Kaufleute Bassermann und Diffené in Mannheim.107 Auswärtige Kandidaten, die aufgrund ihrer Gesinnung und ihres politischen Rufes lokalen Bewerbern vorgezogen wurden, gab es noch kaum. Die Wahlmänner und Abgeordneten waren insofern in dieser Zeit typische >HonoratiorenVolkes< einzusetzen, gehörte von Anfang an zu den Anforderungen, die die Wähler an ihre Deputierten stellten, und sie drückten das mit ihren Mitteln aus, wenn sie die Gewählten, wie es bald üblich wurde, bei der Abreise nach Karlsruhe ein Stück begleiteten und die nach Schluß des Landtags zurückkehrenden Abgeordneten festlich empfingen und ihre Tätigkeit dabei würdigten. Die >Basis< verfolgte jede Wortmeldung, jede Rede ihres Vertreters in der Kammer sehr genau, sie benutzte ihn als Übermittler von Petitionen und forderte neben seinem Auftreten im Landtag ein bestän57 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35765-2
diges Engagement im Wahlbezirk. 108 Vielleicht erhöhte die Tatsache, daß die Abgeordneten in den 1820er Jahren häufiger als zwei Jahrzehnte später lokale Honoratioren waren, sogar den Legitimationsdruck und förderte in einer wichtigen Anfangsphase ihre enge Bindung an die Wählerschaft: Diese konnte in einer noch stark lokalistisch geprägten politischen Landschaft zu einem bekannten und lange vertrauten Mitbürger zunächst leichter Kontakt halten, und die Gewählten hatten schließlich in ihrer Gemeinde einen Ruf zu verlieren. Nachdem sich dieses enge Kommunikationsverhältnis sozial verfestigt hatte, ging es, wie wir noch sehen werden, auch dann nicht verloren, als vermehrt ortsfremde liberale >Prominenz< zur Kandidatur im eigenen Wahlkreis aufgefordert wurde. 109 Verfassung und Landtag trugen ganz wesentlich dazu bei, daß seit 1818/19 neue politische Themen und Konflikte, die außerhalb der traditionellen Bürgerrechtsprobleme und Gemeindepolitik standen, allmählich in der breiteren Bevölkerung bekannt und gewissermaßen als ein Stück der Volkskultur adaptiert wurden. In Engen, so erinnerte sich Carl Eckhard - in der Zeit des Kaiserreichs ein führendes Mitglied der badischen Nationalliberalen - , sei schon das zehnjährige Jubiläum der Verfassung als ein >großes Volksfest< gefeiert worden, mit Wettspielen und Preisen für die Kinder, 110 und so gewannen in den 1820er Jahren auch scheinbar ferne Dinge wie der griechische Freiheitskampf eine große Resonanz und zeigten, daß nicht nur eine kleine gebildete Elite für liberale Ziele zu mobilisieren war. Tausende spendeten Geld für die Ausrüstung von Freiheitskämpfern gegen die türkische Herrschaft111 - in Vereinen organisieren ließen sie sich allerdings noch so gut wie gar nicht. Denn diese Differenzierung läßt sich gerade am Philhellenismus sehr deudich erkennen: Liberale Mobilisierung konnte im Jahrzehnt vor der Julirevolution, wenn auch noch regional unterschiedlich und vor allem diskontinuierlich - für den kurzen Akt einer Spende, für ein Fest, für eine Ansprache - , wenn auch bei einem oft diffusen Politikverständnis, große Teile des Volkes auch unterhalb der bürgerlichen und beamteten Elite erfassen. Die Organisierung im Sinne einer formalen Organisation in Vereinen aber blieb im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts auch in Baden eben dieser Elite vorbehalten. Obwohl die badischen Griechenvereine, und darin zeigte sich schon sehr früh die überdurchschnittliche soziale Offenheit der liberalen Bewegung im Großherzogtum, im Gegensatz zu den württembergischen, hessischen, pfälzischen überhaupt einige Handwerksmeister unter ihren Mitgliedern zählten, 112 waren sie von einer weitgehend bildungsbürgerlichen, um einige Kaufleute ergänzten Oberschicht initiiert und dominiert und entstanden dementsprechend auch nur in größeren und einigen mittleren Städten, wobei die Vereine sich je nach der Sozialstruktur der Städte unterschieden: In Heidelberg und Freiburg engagierten sich Universitätsprofessoren sehr stark, in Konstanz vier Kaufleute. 113 58 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35765-2
Diese Merkmale charakterisierten die bürgerliche Vereinsorganisation im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts überhaupt. Freilich waren Vereine in dieser Zeit wie im Vormärz grundsätzlich gar nicht, wie man manchmal meint, der Ausgangspunkt bürgerlich-liberaler Bewegung und Kommunikation schlechthin; in der lokalen Alltagserfahrung von informellen Kontakten, Wahlen und Gemeindepolitik stellten sie nur ein Medium unter anderen und selten das wichtigste dar. Bürgerliche Lesevereine, meist unter dem Namen »Casino« oder »Museum«, entstanden, wie anderswo in Deutschland auch, verstärkt in den Jahren nach 1800; ohne politische Ambitionen in einem engeren Sinne wollten sie dem Bedürfnis nach Bildung und Kommunikation in einer lokalen Oberschicht dienen, die das gebildete und wohlhabende Bürgertum, auch Künstler, umfaßte, und zu dem nicht zuletzt ganz selbstverständlich staatliche Beamte aus Verwaltung und Justiz gehörten, die der vormärzliche Liberalismus in Süddeutschland, ganz anders als in Preußen, aus der >bürgerlichen Gesellschaft auszuschließen bestrebt war. Die Gründung der Freiburger Museumsgesellschaft im Jahre 1807 ging auf die Initiative des badischen Regierungskommissars der Stadt, des Freiherrn v. Drais, zurück, dem Gründungskomitee gehörten vor allem Professoren der Universität, daneben ein Dichter und ein Journalist, an, unter den Mitgliedern fanden sich auch Kaufleute.114 In der Handelsstadt Lahr bestand ein »Museum« seit 1816, außerdem gab es eine evangelisch-theologische Lesegesellschaft und ein aus Kaufleuten gebildetes »Handlungscommittee«, in dem wirtschaftliche Fragen beraten wurden.115 Gerade in kleineren Städten hatten die lokalen Beamten selber ein Interesse an solchen Kommunikationsmöglichkeiten, »weil es hier ganz an einer Zerstreuungsanstalt für die Winterabende fehlt«, und förderten die Vereinsgründung sogar wie in Weinheim, wo eine schon länger zusammenkommende informelle Runde 1812 mit der nachdrücklichen Fürsprache des Amtmannes die Genehmigung erhielt, sich als Lesegesellschaft zu konstituieren. Ihr gehörte die typische >Oberschicht< eines kleinstädtischen Amtssitzes an: Beamte, Pfarrer, der Posthalter und einige Kaufleute.116 Diese Struktur der >bürgerlichen Gesellschaft in den Gemeinden war das Phänomen einer relativ kurzen Übergangszeit, in der die bürgerliche Elite vom gewerblichen Mittelstand wesentlich schärfer abgegrenzt war als in den beiden Jahrzehnten vor der Revolution, in der aber andererseits, wie man am Beispiel Mannheims deutlich sehen kann, die traditionelle Rangordnung aufgelöst wurde: In der ehemaligen Residenzstadt hatten Adel und Militär, wozu der Abzug des Hofes beigetragen hatte, ihre alte gesellschaftliche Vorrangstellung und Distanz gegenüber dem örtlichen Handelsbürgertum verloren, in den neuen geselligen Vereinigungen des frühen 19. Jahrhunderts zeigte sich ein »überständisches Prinzip«, das die nunmehr badische Beamtenschaft - auch im Großherzogtum war Mannheim ein 59 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35765-2
wichtiges Zentrum von Verwaltung und Justiz - mit der Kaufmannschaft zusammenführte. 117 Das im Winter 1803/04 wesentlich durch den Buchhändler Fontaine angeregte »Casino« vereinigte diese neue Führungsschicht, und die Abspaltung des »Museums« vom »Casino« im Jahre 1808 hatte denn auch keine politischen Gründe und markierte auch nicht eigentlich eine soziale Trennlinie, obwohl ein größerer Teil der Beamten gewillt war, Frauen zu bestimmten Veranstaltungen der Gesellschaft zuzulassen - denn das war der Streitpunkt, der zur Spaltung führte - und mehr >bürgerliche< Mitglieder um des Ausschlusses der Frauen willen zum »Museum« übergingen. 118 Es ist bezeichnend für die vorpolitische und gleichsam >vorpluralistische< Mentalität des damaligen Mannheimer Bürgertums, daß man bei dieser Spaltung offenbar ein schlechtes Gewissen hatte, »denn eine Stadt wie Mannheim kann unmöglich zwei Institute der Art vertragen, wenn solche ihren Zwecken entsprechen sollen«, 119 und so vereinigten sich beide Vereine 1814 wieder unter dem neuen Namen »Harmonie«. Erst in den 1830er Jahren, mit einer zweiten, auch das gewerbliche Kleinbürgertum erfassenden Gründungswelle, begannen bürgerliche Vereine gegeneinander zu konkurrieren, sozial, aber vor allem politisch, und wiederum für eine relativ kurze Übergangszeit definierten sie die bürgerliche Gesellschaft noch einmal neu.
4. Die Pläne zu einer Gemeindeordnung seit 1819 und die Einführung der Bürgerausschüsse 1821 Aus der Sicht der Bürokratie überschnitten sich am Ende des zweiten Jahrzehnts des 19. Jahrhunderts eine Reihe ganz unterschiedlicher Probleme, zu deren Lösung ein gemeinsames Mittel für unabweisbar gehalten wurde: eine umfassende, neue Gemeindeordnung. Die ständigen Konflikte, in denen im Grunde belanglose Einzelfälle je für sich aufs neue behandelt werden mußten, strapazierten die Verwaltungsstellen und machten sie obendrein noch bei den Bürgern unbeliebt; die Finanzsituation, namentlich die Verschuldung der Gemeinden, wurde zumal nach den Krisenjahren 1 8 1 6 / 17 zu einer immer größeren Belastung; und es entstand allenthalben das Gefühl, die rheinbündische Gesetzgebung der Vereinheitlichung und Integration sei einerseits noch nicht zum Abschluß gebracht, müsse aber andererseits zugleich in ihrer Tendenz korrigiert werden. Die Verkündung der Verfassung hatte dem Staat ein relativ modernes Repräsentativsystem gegeben, und für die Beamten folgte daraus, »da die Gemeindeverfassung mit der allgemeinen Landesverfassung in engster Verbindung steht«, die als »dringend« empfundene Notwendigkeit, »daß das Gemeindswesen nach 60 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35765-2
dem Geiste einer repräsentativen Verfassung zeitgemäß geordnet, die lebhaftere Teilnahme der Bürger an demselben geweckt« und »die Gemeindefunctionärs dadurch controlliert« werden sollten.120 Mit dieser von Außenminister Berstett dem Staatsministerium übermittelten Aufforderung zur Ausarbeitung einer Gemeindeordnung begann im Januar 1819 eine lange und hindernisreiche Auseinandersetzung, die schließlich erst zwölf Jahre später auf dem Landtag von 1831 einen erfolgreichen Abschluß fand. Die Formulierung Berstetts erinnert an die Grundsatzbestimmung der württembergischen Verfassung desselben Jahres, nach der die Gemeinden »die Grundlage des Staats-Vereins« sein sollten, aber wie im östlichen Nachbarstaat konnte es auch in Baden zweierlei heißen, den Gemeinden eine so bevorzugte Position im allgemeinen Staatsaufbau einzuräumen. Sollte ihre autonome Verfassung im Sinn einer kommunalistisch-repräsentativen Ordnung die Verfassung des Gesamtstaates durchdringen und zum bestimmenden Strukturelement politisch-sozialer Organisation überhaupt aufgewertet werden, oder stand umgekehrt die Vorstellung einer stärkeren Eingliederung der Gemeinden in den von der Zentralregierung ausgehenden und von ihr gesteuerten Staatsaufbau zu Lasten kommunaler Autonomie im Vordergrund? Beide Optionen wiederum konnten >moderne< und >traditionale< Konnotationen haben, zukunftweisende oder an der Vergangenheit orientierte Interpretationen zulassen; die >kommunale< Variante ließ sich ständisch-partikular oder demokratisch-repräsentativ, die >bürokratische< absolutistisch oder staatsbürgerlich-egalitär deuten. Das kann man heute analytisch trennen, in der Wahrnehmung und politischen Überzeugung der Zeitgenossen durchdrang es sich jedoch nahezu unauflöslich und verlieh der Diskussion der Einzelprobleme bei allen Beteiligten, bei Beamten und Landtagsabgeordneten, bei eher >Fortschrittlichen< und eher >Konservativenliberalere< gewesen ist. Zwischen 1817 und 1822 wurden in Württemberg mit einer Reihe von Gesetzen und Verordnungen Gemeindeverfassung und Bürgerrecht reformiert, in Nassau war die Gemeindeordnung von 1816 sehr klar dem französischen Modell gefolgt und hatte den Unterschied zwischen Gemeinde- und Staatsbürgerrecht praktisch aufgehoben, und in Bayern fand mit dem Gemeindeedikt von 1818 ein Revisionsprozeß seinen Abschluß, der die scharf reglementierenden Edikte der Montgelas-Zeit zugunsten größerer Selbstverwaltungsrechte der Gemeinden veränderte, bei fortdauernder staatlicher >Kuratel< allerdings und ohne größere Eingriffe in das korporative Bürgerrecht.121 Im ostelbischen Preußen galt die Städteordnung von 1808, im Rheinland begannen die Kämpfe um den Erhalt der französischen Kommunalverfassung.122 In diesem Zusammenhang von Auseinandersetzungen um die Neuordnung der Kommunalverfassung vor allem in der 61 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35765-2
westlichen Hälfte des Deutschen Bundes standen auch die badischen Bemühungen um die Gemeindeordnung und das Bürgerrecht seit 1819, und trotz aller durch historische Tradition, sozialökonomische Verfassung, Institutionen und Personen geprägten Besonderheiten waren es fast überall ähnliche Grundfragen, um die die Konflikte in Baden wie in den anderen deutschen Staaten kreisten. Sollte die Gemeinde Staatsorgan und Staatsbezirk oder privatrechtlicher Verband der Bürgerkorporation sein? Wie war demgemäß das Bürgerrecht zu gestalten, und machten rechtliche Abstufungen innerhalb des Gemeindebürgertums noch Sinn? Wie konnte eine >Repräsentativverfassung< in der Gemeinde gestaltet werden; welche Institutionen waren dafür erforderlich, sollte das Wahlrecht mit einem Zensus verknüpft werden, und welche Rechte sollten der staadichen Bürokratie dabei - etwa im Hinblick auf die Einsetzung und Entlassung von Gemeindebeamten bleiben? Schließlich waren all diese Rechts- und Verfassungsfragen mit sozialen Konsequenzen, mit Konsequenzen für die so enge Verbindung von >Alltag< und >Herrschaft< in der kleinen kommunalen Lebenswelt verbunden, und im Hintergrund begann allmählich auch die Frage nach den politischen Konsequenzen, nach den Auswirkungen auf das politische Verhalten der Bürger und Einwohner wichtiger zu werden, die der Beamtenliberalismus mit seiner Forderung nach >lebhafterer Teilnahme der Bürger< ja selber aufgeworfen hatte. Bereits im Dezember 1815 erhielt Winter den Auftrag, sich mit der Neuordnung des Gemeindewesens, insbesondere der Gemeindeökonomie, zu beschäftigen, doch dieser Anlauf verlief wie einige weitere in den folgenden Jahren im Sande. 123 Erst die Überlegungen Berstetts vom Januar 1819, die einen Monat später wiederum an Winter weitergeleitet wurden, führten zur Erarbeitung eines umfassenden Entwurfes einer Gemeindeordnung. 124 In der Zwischenzeit hatten sich die institutionellen Rahmenbedingungen in entscheidender Weise geändert; nach der Einfuhrung des konstitutionellen Systems konnte ein solch grundlegendes Gesetz nicht mehr in aller Stille von der Bürokratie ausgearbeitet und auf dem Verordnungswege in Kraft gesetzt werden, sondern hatte einen komplizierten parlamentarischen Prozeß zu durchlaufen, der es frühzeitig einer >Öffentlichkeit< aussetzte und damit den von dem Gesetz Betroffenen eine bis dahin ungekannte Mitsprachemöglichkeit einräumte. 125 Auf mögliche Widerstände nahm Winter allerdings zunächst überhaupt keine Rücksicht - sein Entwurf, den er Anfang Mai 1819 der Zweiten Kammer vorlegte und begründete, war klarer und konsequenter Ausdruck eines etatistischen Liberalismus, der die Gemeinden als Unterbezirke der Staatsbürgergesellschaft ausgestalten wollte. Und obwohl diese Konzeption sich in ihrer Radikalität weder innerhalb der Bürokratie noch in der Kammer durchsetzen konnte, blieb Winters Entwurf doch in vieler Hinsicht ein Ausgangspunkt und Grundgerüst aller weiteren Diskus62 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35765-2
sion bis 1 8 3 1 ; ein wirklich >konservatives< Gemeindegesetz - sei es im Sinne der Bürokratie, sei es im Sinne des Landtags und der Gemeinden - war seitdem für Baden undenkbar. In seiner Begründung des Gesetzentwurfs nannte Winter neben pragmatischen, unter anderem finanzpolitischen Motiven und dem daraus resultierenden Bedürfnis nach vermehrter Öffentlichkeit, Partizipation und Repräsentation in der Gemeindeverwaltung vor allem »die veränderte Richtung, welche die Denkweise über das Staatsleben überhaupt genommen hat«, als dessen wesentliche Leitlinie. 126 Er polemisierte gegen den »politischen Mysticismus« der romantischen Staatslehre und nannte die Gemeinde eine »Staats-Anstalt«, »bestimmt, den Vollzug der Gesetze möglich zu machen«. Die entscheidende Konsequenz daraus war, daß die privatrechtliche Korporation vollberechtigter Bürger einer Einwohnergemeinde weichen mußte, daß, in Winters Worten, »alle Staats-Einwohner Mitglieder einer Gemeinde sein müssen, daß sie in der Regel zur Übernahme der Gemeindeämter verbunden, daß sie zum Genuß aller Vorteile, die der Gemeinde-Verband abwirft, so wie zur Tragung an allen Lasten, die er nötig macht, berechtiget und verpflichtet sind«. 127 Entsprechend egalitär und demokratisch dachte Winter sich die innere Verfassung der Gemeinden; alle Mitglieder der Gemeinde sollten bei der Wahl des Bürgermeisters, der Gemeinderäte und eines Gemeindeausschusses zur Mitaufsicht über das Gemeindevermögen wahlberechtigt sein - nur das passive Wahlrecht schloß Staatsdiener, Ortsgeistliche und Mitglieder nicht-christlicher Religionen aus; gewählt wurde auf sechs Jahre mit der Möglichkeit der Wiederwahl. Da die »Kultur der Freiheit« 128 nur langsam fortschreiten konnte und der Bürgermeister zugleich Vollzugsorgan der Regierung war, stand den Staatsbehörden das Recht zu, den Gewählten beliebig oft ohne Angabe von Gründen abzulehnen. Die Gegenposition des >bürgerlichen< Liberalismus entwickelte Matthias Föhrenbach, einer der Wortführer des frühen badischen Kammerliberalismus, in seinem Kommissionsbericht der Zweiten Kammer. Es gab keinen Dissens über die Notwendigkeit einer neuen Gemeindeverfassung, auch nicht über das Ziel einer Stärkung von Öffentlichkeit, Repräsentation und Kontrolle, doch war die Aufhebung des Gemeindebürgerrechts für den Landtag nicht akzeptabel. Dabei ging es der Kommission nicht um die Privilegierung einer Minderheit hinsichtlich der politischen Partizipation: Nach ihrer Vorstellung sollten auch die Schutzbürger gleiche Rechte der Wahl und der Wählbarkeit genießen. Vielmehr stand die Natur der Gemeinde als eines privatrechtlichen Eigentümer- und Nutzungsverbandes zur Debatte, dessen Abschaffung sich die Abgeordneten schlechterdings nicht vorstellen konnten. »Noch ist von niemandem bezweifelt worden«, so Föhrenbach, »daß der Gesamtheit der wirklichen Gemeinde-Bürger das 63 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35765-2
ausschließende Eigentum des Gemeindevermögens zustehe.« 129 Man bewegte sich zwar auf den Regierungsentwurf zu, indem unter den verschiedenen »Classen« der Bürger kein Unterschied im Bürgergenuß und in sonstigen Berechtigungen bestehen sollte, aber das Vermögen der Gemeinde mußte im Besitz der Ortsbürger bleiben. Wie es wohl auch Winter kaum anders erwartet haben dürfte, beharrte der Landtag überhaupt auf einer größeren Autonomie der Gemeinden, »jenem mittleren Kreise« zwischen Familie und Staat, »wo das gesellschaftliche Leben in ihm [sc. im Staat, P.N.] sich entfaltet«; insbesondere das Recht der Behörden zur Verwerfung von Bürgermeisterwahlen sollte ersatzlos gestrichen werden. 130 Zur Beratung des Entwurfs und der Kommissionsvorschläge kam es nicht mehr - am 28. Juli wurde der Landtag vertagt, der in der Zeit der Karlsbader Beschlüsse als zu liberal auffallende Winter wurde nach Freiburg strafversetzt,131 statt seiner beschäftigte sich Sensburg im Innenministerium weiter mit dem Gesetz und legte im Februar 1820 einen revidierten Entwurf mit umfassenden Erläuterungen vor.132 Gegen Winters Idee der staatsbürgerlichen Gleichheit bestand er auf der Beibehaltung von Orts- und Schutzbürgerrecht, gegen die Wünsche der Kammer nach stärkerer Unabhängigkeit der Kommunen vom Staat auf der Möglichkeit für die Behörden, »genau von dem Tun und Treiben in dem Gemeindeverband unterrichtet zu sein,..., wenn nicht Gefahr entstehen soll«. Deshalb sollten nur Ortsbürger, nicht Schutzbürger, zu Gemeindeämtern wählbar sein und die Amtsdauer des Bürgermeisters zehn Jahre betragen. Diese Kernpunkte übernahm einen Monat später auch Türckheim in seinen Bemerkungen über den Gemeindegesetzentwurf; 133 die konservative Bürokratie, das war klar, wollte die Gemeinden als >StaatsanstaltenDenunziationsprozessen< gegen Ortsvorsteher und Gemeinderäte äußerte, wurde der Druck jedoch immer größer, endlich eine neue Gemeindeordnung einzuführen. So verdichteten sich seit dem Januar 1821 die Überlegungen, wenigstens einige wichtige Abschnitte des Entwurfs vom letzten Landtag provisorisch sofort in Kraft zu setzen, nämlich vor allem die Bestimmungen über das Vermögen und Rechnungswesen einerseits, über die Einführung des Bürgerausschusses als Kontrollorgan des Gemeinderates andererseits. 137 Nach einigem Hin und Her stellte ein ausführlicher Vortrag Liebensteins im Juni 1821 die Weichen für das weitere Vorgehen. 138 Liebenstein, der im folgenden Jahr als >Nachfolger< Winters und Türckheims einen eigenen Gesetzentwurf in den Landtag einbrachte, entwickelte seine starken Vorbehalte gegenüber einem proviso65 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35765-2
tischen Erlaß der ganzen Gemeindeordnung, so wie sie nach den letzten Beratungen des Landtags aussah, indem er heftig gegen den Begriff einer »liberalen Gemeindeordnung« bei den Abgeordneten polemisierte, die wichtige Rechte der Regierung ebenso wie allgemeine Freiheits- und Gleichheitsgrundsätze »dem beschränkten Korporationsgeist einer kleinstädtischen oder Dorfoligarchie« hingäben. Vor allem beklagte Liebenstein die ungenügenden Bestimmungen über die Besetzung der Gemeindeämter und die berechtigte Unzufriedenheit mit den Ortsvorgesetzten und Gemeinderäten, die daraus bei vielen Bürgern entstand, und schlug deshalb vor, an erster Stelle die Errichtung von Bürgerausschüssen in allen Gemeinden provisorisch zu verordnen. Anders als im letzten Entwurf sollten dabei, das war eine politisch und sozial bedeutsame Weichenstellung, sowohl Schutzbürger als auch jüdische Bürger wahlberechtigt und wählbar sein. Solche Bürgerausschüsse, daran ist noch einmal zu erinnern, existierten ja bereits, zum Teil unter Bezeichnungen wie >Bürgerliche DeputationGemeinderat< war unverständlich, wenn es in der Region nur >Ortsgerichte< und >Stadträte< gab; im Amt Radolfzell am Bodensee mochte man gar nicht glauben, daß die Juden nun tatsächlich Wahlrecht und Wählbarkeit genießen sollten; das Bezirksamt Durlach bezweifelte überhaupt den Sinn solcher Provisorien. Mit einem Schreiben an sämtliche Kreisdirektorien mußte das Innenministerium im Februar 1822 das Gesetz noch einmal erläutern und Mißverständnisse ausräumen.143 Als im Herbst des folgenden Jahres alle Ämter befragt wurden, wie sich das Institut der Bürgerausschüsse bei ihnen bisher bewährt habe, kamen ebenfalls noch einmal anfängliche Reibungen und Kompetenzkonflikte zur Sprache, ganz überwiegend hatten sich die Ausschüsse aber schon positiv ausgewirkt, konkret vor allem im Hinblick auf Verwaltung und Kontrolle des Gemeindehaushalts.144 Allenthalben bewirkten die Ausschüsse aber auch Auseinandersetzungen mit den Gemeinderäten, die sich in ihrer politischen Kompetenz wie in ihrer sozialen Vorrangstellung bedroht sahen, und genau das bewerteten die Behörden sogar durchweg positiv: »Willkür und Eigenmächtigkeit« der Ortsvorstände würden dadurch in die Schranken gewiesen; wenn die Ausschüsse dagegen »eine Opposition bilden, so ist dies nicht zu tadeln«.145 Nachdem die langen Kriegsjahre und danach die ökonomischen Krisenjahre die Gemeindekassen geleert und deshalb besonders hohe finanzielle Beiträge der Bürger gefordert hätten, wurde aus dem Odenwald berichtet, sei das Vertrauen in die Gemeindebehörden vielfach zerstört gewesen. Die Bürgerausschüsse hätten sich daraufhin berufen gefühlt, »mit dem Vertrauen aller« ausgestattet dem 67 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35765-2
Gemeinderat entgegenzutreten und ihn zu kontrollieren - und das sei nicht immer harmonisch abgelaufen. 146 Offenbar erleichterten die Ausschüsse nicht nur die Verwaltung und Konfliktregulierung, ihre höhere demokratische Legitimation stellte tatsächlich in vielen Gemeinden eine erste ernstzunehmende Herausforderung an die alte Lokalelite dar. Solange die Gemeinderäte und Bürgermeister nicht ebenfalls frei von der ganzen Bürgerschaft einschließlich der Schutzbürger gewählt wurden, hielten solche Konflikte an; in Ettlingen verlangte der gesamte Bürgerausschuß 1830 seine Entlassung, weil seinen Beschwerden gegen die seiner Ansicht nach korrupte Finanzverwaltung des Gemeinderats nicht nachgegeben wurde. 1 4 7 Erst die Gemeindeordnung von 1832, die alle Gemeindebehörden denselben demokratischen Wahlen unterwarf und sie für die Anhänger derselben herrschenden >Partei< öffnete, stellte, von wenigen Ausnahmen abgesehen, eine Einhelligkeit zwischen Gemeinderat und Ausschuß her, die es seit der Entstehung von Bürgerausschüssen in der Frühen Neuzeit nie gegeben hatte. Ein Jahr nach dem provisorischen Gesetz über die Bürgerausschüsse scheiterte auch der letzte Versuch der 1820er Jahre, eine vollständige Gemeindeordnung zu verabschieden, am vorzeitigen Schluß des Landtags von 1822/23. Die Arbeit der vorausgegangenen Landtage war zwar insofern nicht umsonst gewesen, als Regierung und Zweite Kammer ihre anfangs weit auseinanderliegenden Positionen dabei so weit aufeinander zubewegt hatten, daß es wesentliche Dissenspunkte kaum mehr gab. Das gilt für das Festhalten an Orts- und Schutzbürgerrecht und ebenso für die Einrichtung der gemeindlichen Selbstverwaltungsorgane. Bürgermeister und Gemeinderat sollten auf sechs Jahre gewählt werden, die Bürgerausschüsse schienen sich zu bewähren, an ihrer gleichmäßigen Rekrutierung aus drei Steuerklassen hielten beide Seiten fest. In großen Städten sollte, wie es schon 1820 vorgeschlagen worden war, zusätzlich ein Großer Bürgerausschuß eingerichtet werden und die Rechte der Gemeindeversammlung ausüben. Aber der parlamentarische Prozeß verlangte, Grundsatzfragen dennoch jedesmal neu zu diskutieren. Zudem hatte auf Seiten der Regierung erneut die Zuständigkeit für die Gemeindeordnung gewechselt; nach Winter und Türckheim vertrat jetzt Liebenstein einen von ihm maßgeblich bearbeiteten Entwurf in der Kammer.148 Sowohl bei den Vorberatungen in der Bürokratie als auch später im Landtag standen die gemeindebürgerlichen Rechte der Juden und überhaupt die Ausgestaltung des Wahlrechts im Mittelpunkt der Auseinandersetzung. Während der Regierungsentwurf das Recht der Wählbarkeit in den Gemeinderat (und damit auch zum Bürgermeister) den >Ortsbürgern< vorbehalten wollte, trat die Kommission unter ihrem Berichterstatter Kern für eine Ausweitung des passiven Wahlrechts auf die 68 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35765-2
Schutzbürger ein, setzte aber zugleich die einschränkenden Worte »christlicher Religion« hinzu und wollte den Juden - vielleicht beeinflußt von Erfahrungen mit den Bürgerausschußwahlen des vergangenen Jahres außerdem das aktive Wahlrecht nehmen. 149 Weitgehende Einigkeit bestand darin, die Bürgerannahme von Juden in bisher rein christlichen Orten zu beschränken, ja, möglichst zu verhindern; da »die Juden in jenen Gemeinden, wo sie schon sind, nur als ein nun einmal bestehendes Übel geduldet werden müssen«, sollten »zu dessen Verbreitung in anderen Gemeinden, die noch hiervon befreit sind, keine neuen Wege geöffnet werden«. 150 Die Ansichten der Bürokratie wie der Kammer in Fragen der gemeindebürgerlichen Gleichheit und Partizipation waren 1822 ambivalent wie selten zuvor. Das war kein Zufall, sondern zeigt eine allmähliche Veränderung der politisch-sozialen Ziele und Einstellungen bei allen Beteiligten an. Die Regierung war von dem alten, etatistischen Liberalismus Winters abgerückt und favorisierte auch mit Liebenstein eine sozial konservativere Tendenz der Gemeindeverfassung - so war es ganz und gar unnötig, wenn der konservative Abgeordnete Joseph Kern in seinem Bericht immer wieder heftig gegen Winters »staatsrechtliche« Gemeindetheorie polemisierte. 151 Denn auf der anderen Seite war es jetzt gerade die Landtagsmehrheit, die für eine weitgehende Angleichung der Partizipationsrechte von Orts- und Schutzbürgern eintrat und die zudem eine neue Qualität des politischen Arguments in die Debatte um die Gemeindeordnung einführte: Waren es 1819 vor allem die Beamten gewesen, die das konstitutionelle System auf die Kommunen ausdehnen und damit die >Teilnahme< der Bürger fördern wollten, apostrophierten nun die liberalen Abgeordneten die »Wiedererweckung eines freien Bürgersinns« und die »freudige warme Teilnahme an dem Gemeinwohl, an Verfassung und Vaterland«. 152 Hier wird der Punkt erkennbar, an dem die korporative Bürgermentalität in einen gemeindebürgerlichen Liberalismus umschlug, der - in Grenzen und unter Vorbehalt zunächst - auch zu einer sozialen Öffnung bereit war, sofern sie ihm nicht von außen aufgezwungen werden sollte. In eben diesem Sinne reflektierte Rotteck als Abgeordneter der Universität in der Ersten Kammer über Staats- oder Gemeindebürgerrecht, über »analytische« oder »synthetische« Gemeindetheorie, über »Gleichheit« oder »Freiheit« - und bekannte sich zu dem letzteren mit der optimistischen Vision, der gemeindlichen Autonomie, konkret: dem Verzicht des Staates auf die Gleichstellung der Schutzbürger, werde eine Bereitschaft zu innerer Gleichheit auf dem Fuße folgen: »Sollte nun nicht jeder einzelnen Gemeinde frei stehen, solchen Unterschied durch selbsteigenen Beschluß aufzuheben, und durch solche zeitgemäße Freisinnigkeit Andern voranzuschreiten an Ruhm und an Gedeihen?« 153 Auf solche Beschlüsse hätte man zumindest in den 1820er Jahren wohl vergeblich gewartet - erinnert sei nur an den Donaueschinger 69 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35765-2
Anbürger- Konflikt jener Zeit - , aber Rotteck brachte damit doch die damals erst in Ansätzen erkennbare, aber zunehmende Tendenz des Bürgertums zum Ausdruck, traditionelle Gemeindefreiheit und politischen Liberalismus miteinander zu verbinden. Nachdem die Gemeindeordnung wegen des Widerstandes der Ersten Kammer und des Schlusses des Landtags im Januar 1823 nicht mehr verabschiedet werden konnte, setzte sich für den Rest des Jahrzehnts jedoch das reaktionäre Klima der staatlichen Politik durch, dem sich auch Winter, wiederum mit der Weiterbearbeitung des Gesetzes und dann mit seiner Vorlage auf dem Landtag 1825 beauftragt, unterordnen mußte. 154 Zunächst bereitete die Regierung wiederum die provisorische Inkraftsetzung der Gemeindeordnung nach dem Stand der letzten Beratungen vor, dann wurde doch ein neuer Entwurf ausgearbeitet, der zur Diskussion in der Kammer fertig war, ihr aber nie vorgelegt wurde. Der regierungstreue Landtag von 1825 hatte daran wohl auch kein überragendes Interesse, und ohnehin schienen die langen und intensiven, aber immer wieder ergebnislosen Beratungen seit 1819 nun erst einmal einen gewissen Ermüdungseffekt bei den Abgeordneten, aber auch in der Bürokratie, hervorgerufen zu haben. Wiederum drei Jahre später versuchte die Zweite Kammer, wenigstens einige Hauptbestimmungen provisorisch in Kraft zu setzen, scheiterte damit aber ebenso wie mit der Motion des Abgeordneten Grimm, die auf eine freie und periodische Wahl der Gemeinderäte zielte, also wenigstens die immer noch in den meisten Orten fehlende demokratische Legitimation der bürgerlichen Behörden erreichen wollte. 155 Einstweilen funktionierte die alte Gemeindepolitik trotz zunehmender Spannungen, zu denen nicht zuletzt die frei gewählten Bürgerausschüsse als das einzige wirksame Ergebnis eines ganzen Jahrzehnts intensiver Bemühungen um eine Neuordnung der Gemeindeverfassung beitrugen, fort, und es ist schwer zu sagen, wie lange dieser Schwebezustand noch hätte dauern können, wenn nicht die französische Julirevolution von 1830 in Verbindung mit innenpolitischen Veränderungen schließlich zu einer Wende geführt hätte.
5. Zwischenbilanz: Chancen und Grenzen des Liberalismus vor 1830 Es war ein komplexes Verhältnis von Kontinuität und Neubegüin, das im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts die Möglichkeiten für eine durchgreifende liberale Politisierung in der Folgezeit schuf, diese Möglichkeiten aber ebenso bis 1830 noch nicht zum Durchbruch kommen ließ. Von der egalitären Gesellschaftsreform der Französischen Revolution beeindruckt, wollten die Reformbeamten in Baden wie anderswo nicht nur ihren neuen 70 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35765-2
Staat konsolidieren, sondern ihn zugleich als Staatsbürgergesellschaft formen, aber stärker als ihnen wohl selber bewußt gewesen ist, knüpfte ihr etatistischer Liberalismus an den Absolutismus des 18. Jahrhunderts an. Nicht zufällig war der Beamtenliberalismus des frühen 19. Jahrhunderts in Deutschland dort am profiliertesten, wo ein >aufgeklärten territorialstaatlicher Absolutismus das vorhergehende Jahrhundert geprägt hatte: in Preußen und in Baden. Während die preußischen Beamten sich jedoch in Kämpfen mit dem landsässigen Adel und seinen ständischen Ansprüchen zermürbten, profitierten die badischen von den schwachen ständischen Traditionen und der politischen Handlungsunfähigkeit eines großen Teils des ehemals reichsunmittelbaren Adels. Aber dennoch entfalteten die Reformen nur eine begrenzte Durchschlagskraft in der Gesellschaft, vor allem in den städtischen und ländlichen Gemeinden. An einer totalen Intervention, an einer vollständigen Entmündigung war der Bürokratie gar nicht gelegen und sie wäre damit auch überfordert gewesen. Nur langsam und punktuell konnten die Reformgesetze überhaupt Impulse zur liberalen Durchdringung der Gesellschaft geben; viel stärker ist der Eindruck der Kontinuität. Aus der Perspektive der Gemeindebürger verliert die Zäsur der Napoleonischen Ära einen großen Teil ihrer Bedeutung, die drei Jahrzehnte bis 1830 bildeten eine Einheit, die in vieler Hinsicht noch eher der frühneuzeitlichen Erfahrungswelt angehörte als der des Vormärz. Das verminderte aber nicht die Chancen und das Potential bürgerlichen Selbstbewußtseins und gemeindlicher Konfliktbereitschaft; im Gegenteil. Ohne aufgeklärte Beamte und Bildungsbürger, ohne Französische Revolution und konstitutionelles System war der Liberalismus nicht denkbar - seine breite Durchsetzungsfähigkeit an der Basis und nicht zuletzt in den Kommunen im deutschen Südwesten beruhte jedoch ganz wesentlich auf der Fortdauer bestimmter >traditionaler< Elemente in Politik und Gesellschaft, die der Reformzeit und den 1820er Jahren noch überwiegend das Gepräge biedermeierlicher Ruhe gaben, doch hier und da langsam - und unter veränderten äußeren Bedingungen dann beschleunigt - als Fundamente liberaler Politisierung erkennbar wurden. Dazu gehörten in erster Linie die Strukturen der korporativen Bürgergemeinde selbst. Zwar waren die an Baden fallenden Reichsstädte eher bedeutungslos und städtische Unruhen im Gefolge der Revolution auf dem Gebiet des späteren Großherzogtums selten, zwar hatte der Absolutismus städtische Autonomie ausgehöhlt und waren Magistrate oligarchisch erstarrt, doch blieb ein bürgerlicher Selbstbehauptungs- und Gestaltungswille mit einem starken antibürokratischen, antiobrigkeitlichen Affekt im Prinzip virulent, in Städten wie auch, weniger deutlichen Landgemeinden. Die >kommunalistische< Tradition Oberdeutschlands mit ihrer Betonung genossenschaftlicher Verbände mag hier nachgewirkt haben,156 und die Skepsis gegenüber der badischen Bürokratie in den 71 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35765-2
neubadischen Gebieten reaktivierte solche langfristigen >Erinnerungen< des kollektiven Bewußtseins. Der gemeindebürgerliche Wunsch nach größtmöglicher Autonomie in der Regelung der Angelegenheiten des eigenen Bürgerverbandes, wie er sich in den Debatten um die Gemeindeordnung artikulierte, konnte sich gegen den bürokratischen Wunsch nach gesellschaftlicher Egalisierung richten, ließ sich aber zugleich relativ mühelos in das Streben nach freiheitlicher Partizipation und kommunaler >Demokratie< transformieren. Zum ambivalenten Erbe der Frühen Neuzeit für die politische Erfahrungswelt der Kommunen gehörten auch Konflikte - innerhalb der Bürgerschaft ebenso wie Konflikte mit der Obrigkeit. Schon immer hatten sich in den Gemeinden >Parteiungen< gebildet und gegeneinander um Einfluß konkurriert, und solche ökonomisch, verwandtschaftlich oder religiös geprägten Trennlinien konnten später weltanschaulich aufgeladen oder überformt werden. Einer der beständigsten Konfliktherde war zumal in den Städten des 18. Jahrhunderts die Opposition der gewerblichen Bürgerschaft, zunächst vor allem der Zünfte, dann einer aufstrebenden handelsbürgerlichen Elite, gegen die oligarchische Verkrustung und fehlende demokratische Legitimation des Rates, die in den Bürgerausschüssen eine institutionelle Plattform fand, und die Einführung von Bürgerausschüssen in allen badischen Gemeinden durch das Gesetz von 1821 bewies mit ihren Folgen die Kontinuität solcher Konfliktzonen. Obwohl die Ausschüsse einerseits ganz in der Tradition des 18. Jahrhunderts >demokratische< Stachel im Fleisch der alten Oligarchien waren, bedurfte es jetzt manchmal nur noch eines politischen Stichworts, um aus der Bürgeropposition die liberale Partei werden zu lassen. Auch die beständigen Konflikte der Gemeinden mit den Organen der staatlichen Obrigkeit übten Formen des politischen Verhaltens ein, an die später unter anderen Vorzeichen angeknüpft werden konnte, obwohl solche Konflikte zur Normalität traditionaler Politik gehörten und die Gemeinden mit einer autonomen Konfliktregulierung häufig überfordert gewesen wären. Als man sich nicht mehr um jede Bürgeraufnahme streiten mußte, konnte die Konfliktbereitschaft der Bürgerschaft auf andere Felder gelenkt, konnte aus der vorpolitischen Normalität politische Zuspitzung werden. All das waren Bedingungen, die für sich nicht ausgereicht hätten, korporativen Bürgergeist der Frühen Neuzeit in bürgerlichen Liberalismus zu transformieren. Erst durch die Verbindung mit einer >bürgerlichen Gesellschaft und ihren Institutionen, die weitgehend unabhängig von jenen der Bürgergemeinde entstanden, vollzog sich dieser Prozeß, und in den 1820er Jahren blieben diese beiden Sphären, blickt man über die wenigen größeren Städte des Großherzogtums hinaus, noch überwiegend getrennt voneinander. Die Verfassung war ein Geschenk des Beamtenliberalismus; die Mög72 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35765-2
lichkeiten, die dieses moderne konstitutionelle System bot, entdeckte der frühe Liberalismus schnell, aber die Masse der Bevölkerung brauchte für diesen Lernprozeß etwas länger. Die organisierte liberale Bewegung verfügte vor 1830 nur über eine schmale soziale Basis; sie integrierte, und das war ein neues, ein gemeinbürgerliches Element, staatliche Beamte, Bildungsbürger und eine schmale Führungsschicht des jeweiligen selbständigen Bürgertums einer Stadt, war aber vom gewerblichen Mittelstand, vom Handwerksbürgertum relativ scharf abgegrenzt. Dabei bildeten sich erste Konturen der späteren liberalen Elite und >Prominenz< des Großherzogtums heraus. Wahlkämpfe erregten hier und da, vor allem in größeren Städten wie Heidelberg oder Freiburg, schon die Gemüter, aber eine Massenpolitisierung fehlte noch; der Liberalismus der ersten Jahre war weder eine flächendeckende noch eine dauerhaft institutionalisierte Bewegung. Er fand im Restaurationsklima der 1820er Jahre immer wieder Angriffspunkte zur Profilierung seiner Forderungen, tat sich aber schwer, sich gegen die Restauration zu behaupten. In dieser Situation wurden äußere Einflüsse, wahrscheinlich stärker als um 1800, wirksam und ermöglichten die Verschmelzung von bürgerlicher Gesellschaft und Bürgergemeinde, ohne das alte Spannungsverhältnis zwischen ihnen ganz aufzuheben und ohne diese Verbindung vor neuen Belastungen, die sich nicht zuletzt aus sozioökonomischen Veränderungen ergaben, auf Dauer schützen zu können.
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II. Die Gemeindegesetzgebung der 1830er Jahre und die Entstehung des Gemeindeliberalismus 1. Der Umbruch seit 1830. Landtag und Pressefreiheit, politische Mobilisierung und Reaktion Das Jahr 1830 wurde zum Epochenjahr der europäischen Geschichte. Zum zweiten und nicht zum letzten Mal setzte eine Revolution in Paris die europäische Politik und Gesellschaft in Bewegung; der Funke der Julirevolution führte allenthalben zur Entladung eines lange aufgestauten inneren Problemdrucks. Das galt für Belgien und Polen, die Schweiz und Italien ebenso wie für einen großen Teil des Deutschen Bundes. Mit konstitutionellen Verfassungen in Sachsen, Hannover, Braunschweig und Hessen-Kassel suchten die nordwest- und mitteldeutschen Staaten Anschluß an den seit der Rheinbundzeit politisch weiter fortgeschrittenen Süden, während Preußen und Österreich die Bollwerke der konservativen Ordnungspolitik blieben. Auch an den süddeutschen Staaten ging die französische Julirevolution nicht spurlos vorbei, und das gilt zumal für das Großherzogtum Baden als unmittelbaren östlichen Nachbarn Frankreichs. Eine innenpolitische Zäsur kam hier noch hinzu: Wenige Monate zuvor, Ende März 1830, starb der unpolitisch-konservative Großherzog Ludwig, sein Halbbruder Leopold, ein Sohn Karl Friedrichs, bestieg den Thron unter großen Erwartungen des Landes, die sich in der frühzeitigen Titulierung Leopolds als des >Bürgerfreundes< verdichteten. 1 »So atmet Ruhe rings in Badens Landen. - Die Bürger sinnend an dem stillen Herd, Wie jüngst vor Leopold sie liebend standen, Sind des Vertrauens ihres Fürsten wert«: 2 Mit diesem Bild einer unpolitischen, ins Innere gekehrten >biedermeierlichen< Bürgerwelt begrüßten die »Heidelberger Wochenblätter« in einem der üblichen Neujahrsgedichte das Jahr 1 8 3 1 , doch drückte dies schon eher einen Wunsch als eine Erfahrung aus angesichts der politischen Bewegung des zu Ende gegangenen Jahres, und der Wunsch des Verfassers ging keineswegs in Erfüllung, sondern im Gegenteil setzte sich die politische Mobilisierung 1831 und 1832 in einem bis dahin ungekannten Ausmaß fort. Mochten 1830 für die Zeitgenossen noch Zweifel bestehen, ob die Bewegung, ob die Erregung nach dem Muster von Unruhen des Ancien Régime noch einmal relativ mühelos in die Normalität 74
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traditionalen Verhaltens münden werde, war zwei Jahre später unübersehbar, daß diesmal kein Weg hinter die intensiven politischen Erfahrungen zurückfuhren konnte, daß eine ganz neue Qualität der sozialen Konstituierung von Politik erreicht war. Abseits von der großen Politik, von Verfassungsgebung und Parlamenten, abseits auch von spektakulären Höhepunkten wie bewaffneten Aufständen und Barrikadenkämpfen erreichte dieser Prozeß in Baden die >Bürger am stillen Herd< in einem fundamentalen Sinne. Für die Durchsetzung von politischem Bewußtsein im allgemeinen und des Liberalismus im besonderen an der Basis, in Bürgertum und Gemeindepolitik bildeten die frühen 1830er Jahre die entscheidende Zäsur. Waren >Bürgergemeinde< und >bürgerüche Gesellschaft< bis dahin weitgehend - jenseits einer schmalen Elite und außerhalb größerer Städte - getrennte Sphären gewesen, traten sie nun in eine immer engere Verbindung; die bürgerliche Gesellschaft konstituierte sich in der lokalen Alltagswelt der Gemeinden, und das Gemeindebürgertum griff den Liberalismus als ein Instrument auf, seine alten und neuen Interessen und Freiheitsvorstellungen zu definieren, zu bündeln und wirksam zu artikulieren. Der Liberalismus, so hat Thomas Nipperdey formuliert, löste sich im Vormärz vom Liberalismus der Reformbeamten und wurde zu einem gesellschaftlichen Liberalismus, 3 aber er >wanderte< dabei nicht einfach als, gewissermaßen, frei flottierendes Ideensubstrat auf der Suche nach einer neuen >Trägergruppe< >nach untenvon außen< und >von oben< induziert als das häufig unterstellt wird. Andererseits wäre es naiv, enge Wechselbeziehungen zu leugnen, und ein Teil des Neuartigen im Verhältnis von Politik und Gesellschaft seit 1830 lag eben darin, daß die kommunalen >Mikrokosmen< sich seitdem nicht mehr, wie überwiegend noch in Napoleonischer Ära und Reformzeit, unabhängig von der Großen Politik entwickelten; sie begannen vielmehr, diese als eines ihrer ureigensten Aufgabengebiete und Handlungsfelder zu verstehen. Dabei spielte, wie wir im einzelnen noch sehen werden, ein Teil des Bildungsbürgertums eine maßgebliche Vermittlerrolle, eine radikale Intelligenz aus Professoren und Anwälten, Journalisten und Publizisten, aber man muß sich davor hüten, diese liberale Avantgarde, die ja nicht zuletzt wegen ihrer Literalität und schriftlichen Überlieferung bis heute besonders ins Auge springt, in ihrer Bedeutung für den Liberalismus als soziale Bewegung zu überschätzen oder sie sogar für seine eigenüiche Ausdrucksform zu halten. 4 Vielleicht war der Liberalismus in Norddeutschland und Preußen 75 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35765-2
stärker durch eine solche radikale Intelligenz geprägt als in Südwestdeutschland; hier jedenfalls kristallisierte sich die Gemeinde, vor allem die städtische Gemeinde, und das in ihren politischen Institutionen und sozialen Handlungszusammenhängen agierende (gewerbliche) Bürgertum als Basis der liberalen Bewegung heraus, ein Bürgertum, dessen Begriff und Selbstverständnis aufgrund dieser kommunalen Tradition und Verankerung eine im Vormärz brisante, aber so nicht überlebensfáhige Synthese aus stadtbürgerlichem Stand, sozialer Klasse und universalistischer Sozialutopie war. >Liberalismus< und >kommunale Selbstverwaltung< standen im 19. Jahrhundert nicht, wie es früher häufig eher verklärt als analysiert worden ist, a priori in einem wesensmäßigen Zusammenhang, 5 aber sie konnten unter bestimmten Umständen in der Tat eine enge Verbindung eingehen, und unter den vielen Voraussetzungen dieser Verbindung waren die politischen Institutionen der gemeindlichen Selbstverwaltung, waren die durch Gemeindeverfassung und Gemeindegesetzgebung geschaffenen Bedingungen und Möglichkeiten politischen Handelns, das zeigte sich in den 1830er Jahren in Baden sehr deutlich, von heraus ragender Bedeutung. Die Chancen, die eine demokratische Gemeindeverfassung bot, konnte das Gemeindebürgertum so schnell und so erfolgreich im Sinne seines Liberalismus nützen, daß nur wenige Jahre später mehrere konservative Revisionsversuche diese Symbiose nicht mehr aufbrechen konnten. Wenn man späteren Erinnerungen der Zeitgenossen glauben darf, reichte die politische Mobilisierung durch den Thronwechsel im eigenen Land und die Julirevolution in Frankreich in fast alle Teile des Großherzogtums hinein und erfaßte auch ein bis dahin nahezu unpolitisches handwerkliches Kleinbürgertum; das Politisieren war eine Modeerscheinung, von der man zunächst noch gar nicht genau wußte, worauf sie sich eigentlich richten sollte. So berichtet Friedrich Pecht, in Konstanz habe sich 1830 sofort eine »liberale«, eine »radikale« und eine »konservative, in Wahrheit bloß ultramontane« Partei gebildet, und dieses noch teilweise vorpolitische »Parteitreiben« »in seiner Mischung von persönlichen Interessen und Spießbürgertum, allerhand leerer Phantasterei und Selbstgefälligkeit« erschien ihm später höchst lächerlich, was ihn als damals Sechzehnjährigen aber nicht hinderte, »natürlich für die liberale Partei« und gegen seinen Vater, der als »Reaktionär« galt, zu fanatisieren. 6 Wie in vielen anderen Städten wurde nach französischem Vorbild eine Bürgerwehr gebildet, und Rotteck, den man vorher kaum dem Namen nach kannte, als Landtagsabgeordneter der Stadt einstimmig gewählt. In den ländlichen Gebieten Nordbadens zwischen Neckar, Tauber und Main stießen die politischen Ereignisse zwar auf geringere Resonanz in der Bevölkerung, aber in einer kleinen Amtsstadt wie Boxberg tauchten doch Meinungsunterschiede zwischen den Honoratioren auf, und der spätere Arzt und Revolutionsteilnehmer Adolf Kußmaul hörte 76 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35765-2
seinen Vater, ebenfalls Arzt, gegenüber dem Amtmann die Franzosen verteidigen. 7 Rotteck sprach schon 1830 von »den Tagen des unter einer bürgerfreundlichen Regierung siegenden Bürgerthums«,8 und zwei Jahre später ging eine Welle der Polenbegeisterung durch das Land, die hinsichtlich des Ausmaßes der Mobilisierung und ihrer sozialen Reichweite den Philhellenismus der 1820er Jahre noch in den Schatten stellte. Wiederum waren größere Städte wie Mannheim, Freiburg und Konstanz die Zentren der Organisation, aber überall dort, wo polnische Flüchtlinge durchzogen, auch in Kleinstädten auf dem Lande, wurden Polenbälle, Polenkonzerte und Polenfeste abgehalten, mit denen zugleich die Prinzipien von Freiheit und Vaterland allgemein gewürdigt wurden.9 Eine besonders wichtige Funktion für die Bündelung und Präzisierung der teilweise noch recht diffusen >liberalen< Stimmungen und für ihre Fortbildung zu genuin politischen Überzeugungen spielte der Landtag des Jahres 1831. Aus den von der Regierung dieses Mal nicht beeinflußten Wahlen10 ging eine Zweite Kammer hervor, deren von Optimismus und Aufbruchstimmung vorangetriebene Arbeit nicht nur zu den Höhepunkten des frühen deutschen Parlamentarismus zählt, sondern die auch in bis dahin ungekanntem Ausmaß in einer engen und dauernden Wechselbeziehung zum Volk, zu den Wählern stand. Das zeigte sich in einer Fülle von Flugschriften zu Beginn und während des Landtags, die die Deputierten allgemein lobten und zugleich konkrete Forderungen an die Gesetzgebungsarbeit artikulierten;11 es zeigte sich aber vor allem an der geradezu explodierenden Zahl von Petitionen: Über zweitausend wurden eingereicht und die meisten davon durch die Arbeit der Petitionskommission unter dem Vorsitz Rottecks bis zum Schluß des Landtags auch erledigt. Zwar hatte der größte Teil der Eingaben lokale Probleme traditioneller Art zum Gegenstand - die Aufhebung alter Abgaben wurde gefordert, oder Schwierigkeiten mit dem Bürgerrecht wurden geschildert - , aber ein deudicher Schub in der politischen Mobilisierung drückte sich darin dennoch aus.12 Unbestritten war jetzt nicht mehr der Fürst der erste Ansprechpartner seiner Untertanen, sondern der Landtag mit seinen gewählten Abgeordneten sollte das Vollzugsorgan legitimer bürgerlicher Interessen sein. In dieser optimistischen Grundstimmung erreichte der Liberalismus gleich zu Beginn des Landtags von 1831 einen großen Erfolg gegen die Regierung, als Itzstein eine Motion - jene Schrumpfform parlamentarischen Gesetzesinitiativrechts im deutschen Frühkonstitutionalismus - auf Wiederherstellung der 1825 veränderten Verfassung, also für zweijährige Landtagsperioden und eine Partialerneuerung der Kammer, einbrachte und Winter als Vertreter der Regierung hoffnungslos in die Defensive geriet, zumal auch die Erste Kammer die Rückkehr zu den ursprünglichen Bestimmungen der Verfassung befürwortete. Ende Mai legte die Regierung einen 77 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35765-2
entsprechenden Gesetzentwurf vor, der von der Zweiten Kammer mit einem Hoch auf »Leopold, den Wiederhersteller der Verfassung« angenommen wurde. 13 Dieser Erfolg entfaltete in den beiden folgenden Jahrzehnten eine sehr starke symbolische Wirkung für den Liberalismus, der sich immer mehr als der kompromißlose Verteidiger der verfassungsmäßigen Ordnung des Landes begriff. Neben dem Verfassungsgesetz, neben Gemeindeordnung und Bürgerrechtsgesetz war der Fortschritt in der Bauernbefreiung einer der wichtigsten Erfolge des Landtags. Die Frohnden wurden, teilweise gegen Entschädigung aus der Staatskasse, aufgehoben und die Abschaffung des Zehnten mit dem Gesetz über die Aufhebung des Blutzehnten wenigstens begonnen; erst auf dem Landtag von 1833 konnte dann das allgemeine Zehntablösungsgesetz verabschiedet werden. 14 Hier war wiederum Rotteck die treibende Kraft auch in den harten Auseinandersetzungen mit den Adelsinteressen in der Ersten Kammer, und in der unter den feudalen Abgaben leidenden bäuerlichen Bevölkerung des Landes beruhte Rottecks Popularität seitdem und darüber hinaus die Anziehungskraft des Liberalismus überhaupt auf diesen Gesetzen mehr als auf allem anderen, das der Landtag erreichte oder die Liberalen abstrakt deklarierten. Die Popularität der liberalen Abgeordneten, aber auch die Anteilnahme, mit der die >Basis< die Arbeit des Landtags zehn Monate lang verfolgt hatte, drückte sich dann in den Empfängen der heimkehrenden Abgeordneten in ihren Wahlkreisen und Wohnorten bei der Rückkehr aus Karlsruhe aus. Das Innenministerium versuchte im voraus, die Empfänge in Grenzen zu halten - insbesondere sollten solche Ehrungen vermieden werden, die herkömmlicherweise nur dem Landesherrn zustanden wie Glockenläuten und das Ausrücken des Bürgermilitärs 15 - , ging aber gegen die Feierlichkeiten nicht vor, die im übrigen ihre eigenen Formen fanden, bei denen die Anknüpfung an traditionelle stadtbürgerliche Symbole und Handlungsmuster eine große Rolle spielte. In Kenzingen, dem Hauptort seines Wahlbezirkes nördlich von Freiburg, wurde Rotteck in einem Ehrenwagen zum Rathaus geführt, wo ihm vom Bürgermeister »auf einem seidenen, schön gestickten Kissen, einer gemeinschaftlichen Arbeit der Jungfrauen des Ortes« eine Ehrenbürgerurkunde überreicht wurde. 16 Ein Festessen mit den Abgeordneten stand üblicherweise im Mittelpunkt der Feierlichkeiten; dazu kamen in Heidelberg mehrere hundert Bürger im >Prinz Max< zusammen, wo Oberbürgermeister Lombardino außer Winter und Posselt als den Abgeordneten der eigenen Stadt auch Mittermaier, der für Bruchsal, und den zweiten Bürgermeister Heidelbergs, Speyerer, der für Wiesloch und Neckargemünd gewählt worden war, begrüßte. Statt der extremen politischen und sozialen Polarisierung der 1840er Jahre wurde bei den Empfängen von 1831 noch Einigkeit demonstriert, an der sich auch der Heidelberger Stadtdirektor als 78 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35765-2
der oberste Staatsbeamte der Stadt mit einem Toast auf die konstitutionelle Regierung beteiligen konnte. 17 U m das latente Potential liberaler Mobilisierung in den Gemeinden in einer Situation allgemeiner politischer Unruhe wie in den frühen 1830er Jahren dauerhaft in liberale Politik und liberale Ideologie zu transformieren, bedurfte es mithin vor allem wirkungsvoller Kommunikationsmedien, die den Bürgern in Konstanz, Heidelberg oder Kenzingen zeigten, inwiefern ihre jeweiligen lokalen Erfahrungen und Handlungsziele in einem übergeordneten Zusammenhang standen und warum es für sie von Vorteil sein konnte, auch herkömmliche lokale Interessen wie die Entmachtung eines korrupten Bürgermeisters oder die Verminderung von Abgabenlasten eben nicht nur lokal, sondern als Teil einer landesweiten Bewegung zu verstehen und zu verfolgen - warum sie, mit anderen Worten, davon profitieren konnten, sich des Liberalismus für ihre Ziele zu bedienen oder, genauer, diese Ziele nun als >liberal< zu definieren. Die Institution des Landtags, der sich eben nicht nur in Karlsruhe vollzog, sondern wie ein politisch-soziales Netz über das gesamte Großherzogtum legte, war ein solches Medium; zu einem anderen und ebenso wichtigen entwickelte sich die Presse, und diese Bedeutung war nicht nur den gebildeten Zeitgenossen so präsent, daß sich gleichzeitig der Kampf um ihre Freiheit zu einem Symbol und Integrationsmittel des Liberalismus auch an der Basis entwickelte. Schon unmittelbar nach der Julirevolution waren liberale Blätter wie das in Straßburg verlegte »Konstitutionelle Deutschland« über den Rhein nach Baden gekommen; Anfang 1832 schossen dann liberale Zeitungen wie Pilze aus dem Boden, als mit einem badischen Alleingang ohne Rücksicht auf den Deutschen Bund am 28. Dezember 1831 jede Zensur aufgehoben wurde. 18 In Blättern wie dem »Zeitgeist«, dem »Wächter am Rhein«, dem »Badischen Volksblatt«, dem »Freisinnigen« oder dem »Schwarzwälder« versuchten profilierte und gebildete Liberale wie Rotteck und Mathy, die theoretischen Doktrinen in eine für die breite Bevölkerung verständliche Sprache zu übersetzen, die »Stimmung des Volkes mit offenem Sinn zu vernehmen und treu ... wieder vorzutragen die Töne, die aus dem Geist und Gemüte des Volkes in Wünschen und Meinungen offenbar werden«, 19 um auf diese Weise konkrete Berührungspunkte zwischen Liberalismus und Alltagskonflikten aufzuzeigen, und es ist im Grunde erstaunlich, wie gut ihnen das gelang, wie einfühlsam sie den Ton der >einfachen Leute< treffen konnten. Neben diesen Neugründungen veränderten bestehende Zeitungen seit 1831 ihren Charakter; vor allem die Organe der vielgelesenen lokalen Presse, die Wochenblätter, nahmen mehr und mehr politische Themen auf und begannen, sich als Selbstverständigungsorgane der Liberalen in bestimmten Städten oder Regionen zu profilieren. In der Tat darf man weder die soziale Reichweite der liberalen Presse 79 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35765-2
noch die Bedeutung, die die >Pressefreiheit< sehr schnell über eine kleine intellektuelle Elite hinaus gewann, unterschätzen. Schon im Mai 1832 wurde sorgenvoll an das Innenministerium berichtet, daß es vor allem im Oberrhein- und im Seekreis »kaum mehr ein Dorf« gebe, »wo nicht Zeitungen gelesen und besprochen werden«, namentlich der von Rotteck mitherausgegebene »Freisinnige«, und selbst in kleineren Städten bildeten sich Lesevereine, »die leicht den Charakter von politischen Vereinen bekommen dürften«. Der Einfluß der Presse auf die öffentliche Meinung einschließlich der »untere(n) Volksklassen« wurde so hoch eingeschätzt, daß im Falle einer Einschränkung der Pressefreiheit »Aufregungen« befürchtet wurden. 20 Mit etwas pathetischer Übertreibung, aber nicht ohne Wahrheit beschrieb ein Jahr später eine Petition von Dörfern und Kleinstädten der Ämter Stühlingen, Bonndorf, Waldshut und Jestetten um Wiederherstellung der inzwischen auf massiven Druck des Bundes zurückgenommenen Pressefreiheit, kein Ergebnis des Landtags von 1831 sei überall mit größerem Jubel begrüßt worden, »denn auch in jedem Dörflein fanden sich einige, in den meisten viele Männer, die ihren Wert kannten und denen Wahrung ihrer Menschen- und Verfassungsrechte mehr galt als einige, bloß ihrem tierischen Dasein fröhnende, gnädigst bewilligte Erleichterungen.« Denn auch hinter dieser scheinbar rein idealistischen Hochschätzung eines abstrakten Grundrechtes steckte bei näherem Hinsehen eine konkrete Erfahrung dörflichen Zusammenlebens und dörflichen Konflikts: die Erfahrung nämlich, daß die Pressefreiheit die verhaßten Beamten veranlaßte, vorsichtiger, höflicher und weniger willkürlich aufzutreten. 21 In diesem Sinne konnte die >Preßfreiheit< gerade für die ländliche Bevölkerung ebenso wichtig sein wie materielle Erleichterungen, und anders als gelegentlich nahegelegt worden ist, wurde dieses Schlagwort auch außerhalb der Städte kaum als Freiheit vom >Auspressen< durch die Herren mißverstanden. 22 Die Auseinandersetzung um die Pressefreiheit belegt vielmehr die enge Verbindung, die Liberalismus und >Alltag< zu Beginn der 1830er Jahre eingingen. Die beispiellose politische Euphorie in der ersten Jahreshälfte 1832 fand ihren Ausdruck in zahlreichen Volksfesten und politischen Versammlungen - einem wiederum sehr wichtigen Medium der Kommunikation und Selbstverständigung des frühen Liberalismus, das den Behörden schon bald ebenso ein Dorn im Auge war wie die Pressefreiheit, die zu feiern und zu verteidigen der Anlaß der meisten dieser Feste war. Die Vielzahl dieser kleineren Feste steht heute meist im Schatten des Hambacher Festes vom 27. Mai 1832, doch ist es wichtig zu sehen, daß dieses weitaus größte Fest mit seiner beträchtlichen überregionalen Ausstrahlung - nicht zuletzt auch nach Baden hinein - kein singuläres Ereignis war und daß die lokalen und regionalen Feste eine mindestens ebenso große Bedeutung für die politische und soziale Formierung des frühen Liberalismus hatten, und zwar gerade im 80 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35765-2
Hinblick auf die dauerhafte Herausbildung von Strukturen liberaler >Soziabilität< in den Gemeinden: Während Zehntausende nach Hambach strömten, sich anschließend aber auch wieder in alle Himmelsrichtungen zerstreuten, festigten im Rahmen der Stadtgemeinde gefeierte Feste das politische Bewußtsein eines Bürgertums, das sich bereits kannte und als handelnde Gruppe später von der Erfahrung einer solchen Feier profitieren konnte.23 Eines der markantesten politischen Feste in Baden zu Beginn der 1830er Jahre, das Fest der freien Presse in Weinheim am 1. April 1832, gehörte freilich noch nicht diesem Typus der Verbindung von Stadtbürgertum und Liberalismus an: Räumlich und sozial relativ isoliert von der Gemeinde Weinheim, trafen sich hier zwischen 200 und 250 Liberale nicht nur aus Baden, sondern auch aus den hessischen Staaten, Frankfurt und Rheinbayern im Saal des ehemaligen Karmeliterklosters und toasteten auf die Pressefreiheit und zusammen mit den fast schon >obligatorischen< polnischen Gästen auf den polnischen, deutschen und europäischen Freiheitskampf24 Einige Weinheimer Bürger mögen an dem Fest teilgenommen haben, doch die Gemeindebehörden - das wäre zehn Jahre später kaum mehr denkbar gewesen - brachten der Versammlung nicht einmal ein Grußwort. Das Weinheimer Preßfreiheitsfest war ein Fest der liberalen Prominenz, der Mathy, Itzstein, Mittermaier und Christian Friedrich Winter, zur Pflege zwischenstaatlicher und internationaler Kontakte; in Weinheim fand es vor allem wegen der günstigen geographischen Lage des Ortes statt. Aber was die Elite vorgemacht hatte, fand Publizität und konnte von politisch noch weniger erfahrenen Bürgern nachgeahmt werden. Dabei taten sich zunächst die größten Städte des Landes hervor - mit Ausnahme der Residenz- und Regierungsstadt Karlsruhe, deren Bürgerschaft bis weit in das folgende Jahrzehnt hinein ruhig blieb. In Heidelberg fand schon am 1. März 1832 ein Fest der Pressefreiheit statt, und an Form und Ablauf dieses Festes kann man gut erkennen, wie das Stadtbürgertum den älteren, ihm vertrauten Typ städtischer Festkultur und Regentenhuldigung mit den neuen Elementen und der neuen Rhetorik des Liberalismus verschmolz.25 Der Kaufmann Seyfried, ein Repräsentant des Handelsbürgertums der Stadt, trat als Sprecher des Festes mit einer Huldigung an den Großherzog als den »bürgerliche(n) Regent(en), dem alle dem Bürgerthume treuergebene Herzen huldigen«, auf. Daneben spielte Mittermaier als Mitglied der Zweiten Kammer und als Professor der Universität eine Hauptrolle, wie überhaupt, auch in Freiburg, der zweiten Universitätsstadt Badens, >bürgerliche< und >akademische< Bevölkerung einschließlich der Studenten in der Formationsphase des Liberalismus keine Schwierigkeiten hatten, bei solchen Gelegenheiten politisch gemeinsam zu handeln. Die staatlichen Verwaltungsbeamten freilich scherten jetzt aus dem >Bürgertum< als politisch-sozialer Handlungseinheit aus. 81 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35765-2
Am selben Tage wie in Heidelberg feierte auch Freiburg sein Fest der Pressefreiheit, das dort den Auftakt zu einer ganzen Kette liberaler Veranstaltungen in den folgenden Monaten bildete. Auf das mit einem Festmahl im Gasthaus >PfauenFest von Badenweiler< statt, auf dem Rotteck in einem >Toast< - denn >Reden< waren zu diesem Zeitpunkt bereits verboten! - die berühmt gewordenen Sätze über den Vorrang der >Freiheit< vor der >Einheit< sprach. 26 Für den Erfolg dieser permanenten Mobilisierung, wie sie 1832 noch eher die Ausnahme war, spielte eine Leitfigur wie Rotteck eine besonders große Rolle. Sein politischer Einfluß auf die Studenten war ohnehin groß und für die Regierung ärgerlich, aber gleichzeitig profilierte er sich erfolgreich als Führer desjenigen Teils des gewerblichen Bürgertums der Stadt, der sich für den Liberalismus zu engagieren bereit war oder sich davon konkrete Vorteile bei der Bekämpfung der Vorherrschaft des alten Magistrates versprach. In den Bürgermeisterwahlen von 1833, wir kommen darauf noch zurück, erreichte diese bemerkenswerte Integration von >theoretischem< Liberalismus und lokalen, gemeindebürgerlichen Interessen durch Rotteck ihren vorläufigen Höhepunkt. Die Julirevolution und die von ihr ausgehende politische Bewegung in Deutschland rief, es wurde schon angedeutet, zugleich den Deutschen Bund mit einer verschärften Reaktionspolitik auf den Plan. Schon seit Ende 1831 wurden laufend Verbote einzelner Blätter verordnet, die die badische Regierung zu verkünden und zu überwachen hatte - die Pressefreiheit wurde dadurch Stück für Stück untergraben. 27 Als Ende Juni die Bundesbeschlüsse über die Rechte der Stände, die sog. >Sechs Artikels und eine Woche später die Beschlüsse zur Vereins-, Versammlungs- und Pressefreiheit gefaßt wurden, war der Handlungsspielraum der liberalen Kräfte in der Karlsruher Bürokratie ganz eng geworden; Ludwig Winter, der sich wohl nicht ein zweites Mal strafversetzen lassen wollte, reagierte darauf mit fast schon übersteigertem Opportunismus. Am 2 8 . Juli 1832 mußte das badische Pressegesetz als mit den Bundesbeschlüssen unvereinbar zurückgenommen und damit die Pressefreiheit kassiert werden. 28 Schon lange vorher, seit die Gefährdung der Pressefreiheit und anderer Errungenschaften der badischen Innenpolitik auch nur in Gerüchten und Befürchtungen kursierte, entschlossen sich viele Gemeinden zu Eingaben, in denen sie gegen die Abschaffung dieser Rechte im voraus protestierten und die Regierung zur Nichtbeachtung entsprechender Bundesbeschlüsse auffor82 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35765-2
derten. Eine der ersten Aktionen dieser Art war die >Wiesentäler Adresse< von Bürgern aus Lörrach, Schopfheim und vieler Landorte der Umgebung am 2. April 1832; 29 etwas später waren es dann wiederum die großen Städte Heidelberg, Mannheim und Freiburg, in denen der Protest sich konzentrierte. In Heidelberg fand am 16. Mai nicht nur eine Versammlung statt; man gründete auch gleich einen Verein zur Unterstützung der freien Presse, und diesen Schritt zur Organisation beobachteten die Staatsbehörden besonders argwöhnisch. Am 31. Juli versammelten sich die Gemeindebehörden, der Rat und der Bürgerausschuß unter dem Vorsitz des soeben gewählten Bürgermeisters Speyerer - vorher wäre eine solche >allgemeinpolitische< Handlung der Gemeindebehörden wahrscheinlich nicht denkbar gewesen und verabschiedeten im Namen der Bürgerschaft eine Erklärung, die in vorsichtigen Worten, aber doch in der Sache unmißverständlich gegen die Bundesbeschlüsse und für die Pressefreiheit Stellung bezog.30 Schon drei Tage vor dem ersten Heidelberger Treffen hatte eine Versammlung im Theatersaal der Stadt Mannheim am 13. Mai nach einer längeren Rede Itzsteins ebenfalls eine Adresse an den Großherzog formuliert, die in den folgenden Tagen 2.000 Bürger unterzeichneten.31 In einem Teil des gehobenen Bürgertums der Stadt, so auch in der »Harmonie«, wo die Adresse zur Unterzeichnung auslag, äußerten sich dabei allerdings deutliche Vorbehalte gegenüber einer solchen Politisierung gemeindebürgerlichen Handelns. Wenig später verweigerte der Großherzog einer nach Karlsruhe gereisten Bürgerdeputation die Annahme der im Selbstverständnis der Verfasser ganz >loyalen< Adresse, die ja in der Tat >nur< bestehendes Recht des >souveränen< Staates Baden verteidigte. Besonders die Mannheimer Versammlung und Adresse und die dadurch in der Stadt entstehende Unruhe beschäftigten die Regierung in diesen Tagen, in denen das bevorstehende Hambacher Fest die Behörden aller südwestdeutschen Staaten ohnehin schon zu hektischer Aktivität und den größten Befürchtungen trieb, so sehr, daß nicht einmal eine Woche später alle Versammlungen und Adressen, die die Erhaltung der Preßfreiheit forderten, verboten wurden - die »Ruhe in den Gemeinden«, formulierte die Verordnung, stand auf dem Spiel.32 Nachdem am Abend des 21. Mai, am Tag vor der Publikation dieser Verordnung, eine ähnliche Versammlung zugunsten der Preßfreiheit in Freiburg von mehreren hundert Bürgern besucht und dort ebenfalls eine Adresse an den Großherzog verabschiedet worden war,33 folgten Anfang Juni zwei weitere Verordnungen, mit denen politische Vereine sowie öffentliche Reden auf Versammlungen verboten wurden.34 Es ist interessant, daß die Regierung Versammlungen zunächst für legitim hielt und nur Reden als »nicht zum Zweck derartiger Versammlungen gehören(d)«, da »in der Regel nur von den überspannten Anhängern einer Partei gehalten ..., welchen der Parteigeist die Worte eingibt«, verhin83 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35765-2
dern wollte: Versammlungen der Gemeindebürger hatte es immer gegeben, und in dieser Kontinuität nahmen die Behörden auch die Versammlungen des Frühjahrs und Sommers 1832 wahr; politische Reden dagegen waren neu, und mehr noch: Die Beamten spürten, daß es scheinbar weltfremden Akademikern wie Rotteck mit ihren Reden gelang, das politisch ungebildete gewerbliche Stadtbürgertum einschließlich des >Kleinbürgertums< anzusprechen und zu mobilisieren. Erst anderthalb Jahre später, als sich in vielen Wahlkreisen Bürgermeister, Gemeinderäte und Wahlmänner zu Mittagessen und politischen Absprachen getroffen hatten, deren Tendenz auch ohne eloquente und in den Zeitungen verbreitete Reden eindeutig war, erhielten die Behörden die Möglichkeit, Volksversammlungen zu verbieten und Vereine aufzulösen, wenn ihnen das »allgemeine Wohl« gefährdet schien. 35 Im zunehmend drückenderen Klima der Reaktion spitzte sich im Sommer und Herbst 1832 in Freiburg nicht nur der Konflikt der Regierung mit den Liberalen um Rotteck, sondern auch die Auseinandersetzung innerhalb der Bürgerschaft scharf zu. Die noch nicht neu gewählten Gemeindebehörden der alten >Magistratspartei< versuchten, unterstützt von mehreren Professoren der Universität, unter denen sich besonders der Mediziner Beck als Gegenspieler Rottecks zu profilieren versuchte, aus dem >zuverlässigen< Teil der Bürgerschaft eine Bürgerwache zu rekrutieren und luden deshalb Mitte Juli diese Bürger zu einer Versammlung ein. Rotteck erschien, obwohl nicht eingeladen, und warf dem Bürgermeister eine Beleidigung der von der Versammlung ausgeschlossenen, weil angeblich nicht »besseren und zuverlässigeren« Bürger vor. 36 Er erreichte, daß am folgenden Tag tatsächlich eine Versammlung aller Bürger stattfand, auf der vor allem über die Kompetenzen einer solchen Gemeindeversammlung gestritten wurde: Durfte sie sich, wie die Konservativen meinten, nur mit Gemeindeangelegenheiten befassen oder auch der Besprechung »vaterländischer Dinge« widmen? Darin kamen wiederum unterschiedliche Auffassungen über den Bürgerbegriff zum Ausdruck; der Gemeindebürger sei doch, argumentierte Rotteck, zugleich badischer Staatsbürger und deutscher Bürger, und eine >Bürgerversammlung< könne sich eben auch auf diese Eigenschaften beziehen. Wieder einmal setzte Rotteck sich durch; eine Adresse gegen die Beschlüsse der Bundesversammlung trug schließlich, nachdem sie auch in Offenburg, Müllheim und anderen Städten des Oberlandes herumgewandert war, 2.315 Unterschriften. 37 Als am 2 9 . August Studenten auf der Straße lärmten und Freiheitslieder sangen, machte die Regierung die schon seit Jahren immer wieder lancierte Drohung wahr und schloß die Universität Freiburg; zwei Wochen später wurde sie mit veränderter Verfassung wiedereröffnet, allerdings ohne die Professoren Rotteck und Welcker, die in den Ruhestand versetzt waren (und 84 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35765-2
daher die Muße fanden, das >Staatslexikon< in Angriff zu nehmen). 3 8 Im Oktober begab sich der Großherzog, einer Anregung von Reitzenstein folgend, auf eine politische Beruhigungsreise durch das Oberland, auf die Mathy in seinem »Zeitgeist« mit der glänzenden Satire der > Kalif AchmetMetternichschen< Linie innerhalb der badischen Beamtenschaft und damit zum Gegenspieler Winters aufstieg, kritisierte in einem Memorandum für den Deutschen Bund die »constitutionellen Staaten« mit ihrer »Tendenz ..., den Begriff der persönlichen Freiheit und Sicherheit über Gebühr auszudehnen«. 4 0 Kurz vor dem Landtag dieses Jahres verschickte auch Winter im Gewande persönlich formulierter Briefe scharfe Ermahnungen, ja Drohungen der Regierung an Rotteck und andere profilierte Liberale, forderte zu »Klugheit, Mäßigung und Besonnenheit« auf und bat, »um jeden Preis zu verhindern, daß die Regierung in die unangenehme Lage kommt, die Kammern auflösen zu müssen«. 41 Dazu ist es nicht gekommen; die politische Mobilisierung der Jahre 1831/32 ließ sich in dieser Form nicht dauerhaft aufrecht erhalten und wurde erst ziemlich genau zehn Jahre später, 1841/42, wieder erreicht und übertroffen. Aber unter der dünnen Kruste einer restriktiveren Innenpolitik hatte die liberale Mobilisierung nach der Julirevolution tiefe Spuren hinterlassen, und nicht zuletzt durch die Gemeindegesetze waren neue Institutionen geschaffen und langdauernde Prozesse in Gang gesetzt worden, waren Liberalismus und Bürgertum in einer Weise miteinander in Verbindung gebracht worden, die über oberflächliches Politisieren und spektakuläre Unruhen weit hinausreichte.
2. Die Gemeindeordnung und das Bürgerrechtsgesetz von 1831 Als Ludwig Winter als sichtbarstes Zeichen eines Kurswechsels der badischen Innenpolitik infolge der Thronbesteigung Leopolds und der Julirevolution 1830 zum Innenminister des Landes aufstieg, hatten weder die Karlsruher Bürokratie noch die Liberalen in Kammer und Gemeinden und am wenigsten Winter selber vergessen, daß die in den 1820er Jahren mehrfach gescheiterte neue, >konstitutionelle< Gemeindeordnung zu den unerledigten und dringenden Aufgaben der künftigen Gesetzgebung gehörte. Die in einer rasch zunehmenden Zahl von Flugschriften artikulierten »Wünsche des badischen Volkes« an seine Regierung und ein Jahr später an 85 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35765-2
die neugewählte, liberale Zweite Kammer vergaßen diesen Punkt nie: Eine »freisinnige Gemeindeordnung«, die »das badische Volk für mündig« erklären sollte, gehörte zu den unumstrittenen Forderungen, mochte man auch über andere Fragen wie die der Gewerbefreiheit uneins sein. Dabei wurde von einem neuen Gemeindegesetz nach wie vor sowohl >äußere< als auch >innere< Gemeindefreiheit erwartet; Unabhängigkeit vom Staat und dem >Despotismus< seiner Beamten sollte mit innerer Demokratie durch die Aufsprengung alter Oligarchien einhergehen. 42 Solange das erste dieser Ziele nicht überzogen wurde, konnte die liberale Fraktion der Bürokratie, die seit 1830 (wenn auch nur für wenige Jahre) über den maßgeblichen Einfluß verfügte, damit durchaus einverstanden sein, und dieser auf eine im Grunde sehr kurze Zeit begrenzten günstigen Gesamtkonstellation war es zu verdanken, daß die Gemeindegesetze auf dem Landtag von 1831 schließlich erfolgreich verabschiedet werden und in Kraft treten konnten - und daß sie ihrem Inhalt nach der Gesetzgebung aller anderen deutschen, ja aller europäischen Staaten an liberalem und demokratischem Potential voraus waren. Die letzte Phase des Beamtenliberalismus der späteren Reformzeit, der noch den aufgeklärten Staatsbürgergeist atmete, und der massive Durchbruch des gesellschaftlichen Liberalismus in Landtag und Gemeinden überschnitten sich 1831 und führten zu einem Kompromiß, der in vieler - nicht in jeder - Hinsicht die fortschrittlichsten Ansichten beider Seiten aufnahm. 43 Bei einer zunehmend konservativeren Bürokratie löste sich diese Konstellation nur zwei, drei Jahre später auf und bildete sich ähnlich, von der Revolution einmal abgesehen, erst wieder zu Beginn der 1860er Jahre heraus. Den Landtag von 1831 vor Augen, fertigte Winter noch im Jahr seiner Berufung zum Innenminister einen neuen Gesetzentwurf an, bei dem er sich sehr stark an seinen eigenen ersten Entwurf aus dem Jahre 1819 und an den von der Zweiten Kammer umgearbeiteten Entwurf Liebensteins, der drei Jahre später so dicht vor der Verabschiedung gestanden hatte, anlehnte. 44 Die umfangreiche Materie teilte er dabei aus praktischen Gründen und in Anlehnung an das Vorbild des württembergischen Bürgerrechtsgesetzes von 1828 auf zwei Gesetze auf: eines über die »Verfassung und Verwaltung der Gemeinden«, die eigentliche Gemeindeordnung einschließlich der Bestimmung des Verhältnisses von Staat und Gemeinden, ein zweites über das Gemeindebürgerrecht und die Bedingungen seines Erwerbs bzw. Antritts. Geschickt, aber auch realistisch verknüpfte er seine eigenen, sozial fortschrittlichen und gemäßigt etatistischen Vorstellungen mit den bisher im Landtag zur Sprache gekommenen Wünschen der Gemeinden, so daß Rotteck lobte, der durch »liberale Principien« ausgezeichnete Regierungsentwurf »würde auch schon bei unveränderter Annahme eine große Wohltat fürs Volk geworden sein«. 45 Bezeichnenderweise erinnerten die Gesetze 86 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35765-2
nach den Änderungen durch den Landtag in wichtigen Punkten - so der Frage des Wahlrechts - noch mehr als zuvor an den radikalen Entwurf Winters von 1819. Über manche Streitfragen der 1820er Jahre herrschte nun Konsens - insbesondere darüber, daß die früheren Schutzbürger in ein einheitliches Gemeindebürgerrecht eingegliedert werden sollten. Aber weder Winter noch Rotteck oder Mittermaier hatten wohl vorausgesehen, daß die 1830er Jahre neuartige Herausforderungen und Konfliktzonen in den Vordergrund treten ließen, die nicht minder heftig umkämpft waren - und dazu zählten, was die Gemeindegesetzgebung betraf, vor allem das Zensusproblem und die Frage der Gewerbefreiheit. Man diskutierte 1831 wiederum so ausgiebig und intensiv, daß die Verabschiedung der Gesetze noch soeben vor dem Schluß des Landtags im Dezember gelang. Auf den von Winter am 24. März in der Zweiten Kammer eingebrachten Entwurf der Gemeindeordnung 46 antwortete die Kommission knapp zwei Monate später mit einem ausführlichen Bericht ihres Vorsitzenden Mittermaier, der in seinem allgemeinen Teil erneut grundsätzliche Fragen des Verhältnisses von >Staat< und >Gemeinden< in den Mittelpunkt rückte. 47 Er idealisierte, wie das für den vormärzlichen Liberalismus typisch war, die Freiheit der Kommunen im Mittelalter und dramatisierte ihren > Verfall« in der Frühen Neuzeit, als die Staatsgewalt sich immer mehr in die Gemeindesachen einmischte und mit einer inneren politisch-sozialen Verkrustung »ein spießbürgerlicher Sinn ... an die Stelle des wahren edlen Bürgersinns« trat. Dieser alte bürgerliche Gemeinsinn, das war die durchaus aus konkreten Erfahrungen hervorgegangene Hoffnung der Liberalen, müßte sich rekonstruieren lassen, wenn einerseits die alten traditionalistischen Oligarchien, die »oft selbst ihre Vorurteile für liberale Ideen halten«, wie Mittermaier sich ausdrückte, »und Bürgersinn und Gemeingeist mit Spießbürgerthum verwechseln«, zurückgedrängt und andererseits »die an despotisches Einschreiten gewöhnte Herrschaft« an den Gedanken einer Selbständigkeit der Gemeinden gewöhnt werden könnte. Es war nicht einfach die abstrakte Theorie eines Universitätsjuristen, sondern ein Ausdruck der politischsozialen Erfahrungen in Südwestdeutschland, wenn die Gemeinde als Schule und Ausgangspunkt des später auch auf das >Vaterland< zu übertragenden Bürgersinnes gedeutet wurde - und ohne daß Mittermaier es ahnte, gab er damit zugleich eine zutreffende Prognose für die Entwicklung des Liberalismus in Baden bis 1849: »Die Gemeindeordnung ist zugleich der ergänzende Teil der Verfassung eines Landes, weil nur durch sie ächter Sinn für öffentliche Angelegenheiten, ein wahrhaft constitutionelles Leben erweckt werden kann, der Bürger aber nach bekannter Erfahrung den ihn zunächst berührenden Kreis lieb gewinnt, und so durch Entwicklung des Sinns für Gemeindeleben sich gewöhnt, den Egoismus öffentlichen Interessen aufzuopfern, so daß allmählig aus der Blüte des ächten Gemeindegeists die Frucht der 87 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35765-2
begeistert an dem Vaterlande hangenden Liebe und Aufopferung für seine Interessen sich erzeuget.« 4 8 Darüber gab es mit Winter keine Meinungsverschiedenheit - beide erwarteten von der Gemeindeordnung, das ist im Lichte der späteren Erfahrungen besonders interessant, die Stiftung eines (vermeintlich >ursprünglichenParteien< und >Parteigeist< im vorpolitischen Sinne traditioneller Eliten und Familienclans sich bekämpften, ohne schon mit der nur wenige Jahre später unübersehbaren Möglichkeit zu rechnen, daß gerade aus der Vermehrung des >Bürgersinnes< politische Parteien und innergemeindliche Konflikte ganz neuer Qualität hervorgehen könnten. 49 Trotzdem wurde das Verhältnis von Staat und Gemeinden bei zwei konkreten Streitfragen heftig, übrigens auch mit der Ersten Kammer, diskutiert. Die Kommission der Zweiten Kammer hatte versucht, die Ortspolizei nicht als einen Ausfluß der Staatsgewalt, sondern als ein ursprüngliches Recht der Gemeinde zu reklamieren - hier setzte sich nach großem Einsatz Winters die Position der Regierung schließlich mit einer Stimme Mehrheit durch. Politisch noch bedeutsamer, das sollte sich bald zeigen, war der Kampf um den § 11 der Gemeindeordnung, der das Bestätigungsrecht der Regierung bei Bürgermeisterwahlen betraf. Für die Regierung waren die Bürgermeister nicht nur Repräsentanten der Bürgerschaft, sondern zunächst untere Staatsbeamte; von Winter selber stammte in diesem Zusammenhang die vieldeutige Äußerung, »nächst dem Regenten« seien »die Ortsvorgesetzten eigentlich die wichtigsten Personen im Staate«. 50 Sein Entwurf hatte ein unbedingtes Bestätigungsrecht der Behörden festlegen wollen, gegen das die Zweite Kammer die Bestimmung durchzusetzen versuchte, daß mit Zweidrittelmehrheit gewählten Kandidaten die Bestätigung nicht versagt werden könne. Außerdem sollte die erneute Wahl abgelehnter Kandidaten möglich sein und nach der dritten Wahl eine Bestätigung erfolgen müssen. In den Debatten der Ersten Kammer setzte sich gegen relativ liberale Positionen wie die des Fürsten von Fürstenberg eine konservativere Gruppe durch, für die der Freiherr v. Göler die (nicht einmal völlig falsche) Befürchtung aussprach, bei zu weitgehender Emanzipation werde aus dem Großherzogtum eine »Konföderation kleiner Republiken« entstehen. 51 Am Ende erklärten sich alle Beteiligten mit einem Kompromiß einverstanden, der auf den Zwei-Drittel-Passus verzichtete, nach dem aber nach drei Wahlen einer der Gewählten bestätigt werden mußte. Im Eifer des Gefechts übersah man jedoch, daß der § 11 nun nichts darüber aussagte, ob abgelehnte Kandidaten von der Bürgerschaft erneut gewählt werden durften - nicht einmal zwei Jahre später hatte man sich bei der Freiburger Bürgermeisterwahl mit einem solchen Fall auseinanderzusetzen. Die wohl wichtigste Streitfrage des gesamten Komplexes von Gemeinde88 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35765-2
Ordnung und Bürger rechtsgesetz betraf die Einführung eines Zensus für das Gemeindewahlrecht, und sie führte zu einem überraschenden Ausgang. Es ist daran zu erinnern, daß in der badischen Gemeindeordnungsdebatte vor 1830 ein Zensus oder ein ungleiches Wahlrecht niemals im Gespräch gewesen war, weder in der Bürokratie noch im Landtag; die Wählerklassen des Bürgerausschußgesetzes von 1821 waren gleiche Klassen, sie setzten eher den alten Gedanken einer proportionalen, >ständischen< Vertretung, prinzipiell vergleichbar der Religionsparität, fort. Bezeichnenderweise wurde der Zensus im Landtag, so von dem Abgeordneten Merk, als »so etwas Neues und in Deutschland Fremdartiges« zurückgewiesen, 52 weil das gesellschaftliche Funktionsprinzip, aus dem er folgte, entweder nicht erkannt oder abgelehnt wurde. Ein Zensus entsprach auch nicht dem bürokratischegalitären Denken der Reformzeit, er war vielmehr ein neues Prinzip der neuen bürgerlichen Gesellschaft, die politische Partizipation von ökonomischer Selbständigkeit und >Abkömmlichkeit< abhängig machen bzw. nach dem Grad ökonomischer Leistungsfähigkeit staffeln wollte. Im wirtschaftsbürgerlichen Liberalismus des Rheinlandes läßt sich das Eintreten für Zensus oder Dreiklassenwahlrecht relativ mühelos als Klasseninteresse einer politischen Elite erkennen, die zugleich die ökonomische Führungsschicht war, 53 im süddeutschen Liberalismus war das aber wesentlich komplizierter, weil die politischen und gewerblichen Führungsschichten viel weniger identisch waren. Die >MittelstandsMeinungsbildung< im 18. und frühen 19. Jahrhundert, wenn solche Fälle auch, wie wir noch sehen werden, im einzelnen sehr schwer nachzuweisen waren. Winters Regierungsentwurf zufolge sollten in allen Städten und Landgemeinden bis 3.000 Einwohnern alle Gemeindebürger das Wahlrecht erhalten. In den vier größten Städten Karlsruhe, Mannheim, Heidelberg und Freiburg mußte man dagegen mit mindestens 3.000 fl., in Konstanz, Rastatt, Lahr, Pforzheim und Wertheim mit mindestens 2.000 fl., in allen übrigen Städten über 3.000 Einwohnern mit 1.000 fl. im Ortssteuerkataster 89 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35765-2
eingetragen sein, um wählen zu dürfen. Um nicht in den großen Städten bis zu zwei Drittel der Bürger - und damit einen großen Teil des gewerblichen Mittelstandes - auszuschließen, wollte die von Mittermaier geführte und von Rotteck vehement unterstützte Majorität der Kommission den Zensus auf 2.000 fl. in den vier größten und 1.500 fl. in den fünf Städten der zweiten Kategorie herabsetzen, während in allen anderen Orten unabhängig von ihrer Größe alle Bürger wahlberechtigt sein sollten. Eine Minderheit in der Kommission sprach sich jedoch gegen jeglichen Zensus aus, und ihr folgten in der anschließenden heftigen Debatte immer mehr Abgeordnete, die sich auf den verfassungsmäßigen Gleichheitsgrundsatz beriefen und dazu mahnten, die Armen nicht vom Wahlrecht auszuschließen. Der Ettlinger Fabrikant Franz Buhl brachte es auf den Punkt: Es sei eine »Verletzung der persönlichen Rechte«, »Personen, die wenig Vermögen besitzen«, vom Wahlrecht auszuschließen, und im übrigen werde »selbst in den Städten mehr tätiges Leben und Sinn für Gemeindewohl entstehen ..., wenn die Armen bei den Wahlen ebenfalls mit einwirken«. 55 Während die meisten der bekannten, eher >bildungsbürgerlichen< Liberalen aus den größeren Städten wie Rotteck, Mittermaier oder auch Christian Friedrich Winter den Zensus verteidigten, lehnten klein- und mittelstädtische Fabrikanten wie Buhl oder Völcker aus Lahr ihn ab. Rottecks mit besonderer Spannung erwartete Rede gipfelte in dem Plädoyer, ausgerechnet »im Interesse der Demokratie« für die Einschränkung des Wahlrechts zu stimmen. Seine schon zuvor in die Defensive geratenen Argumente wurden in der unmittelbaren Entgegnung des evangelischen Dekans Fecht geradezu der Lächerlichkeit preisgegeben. In Fecht und in dem katholischen Geistlichen Franz Herr fanden die Zensusgegner sogar ihre wirkungsvollsten Protagonisten. In der Abstimmung über den § 12 sprachen sich nur noch 19 Abgeordnete für, aber 38, also genau doppelt so viele, gegen den von Regierung und Kommission unterstützten Zensus aus. 56 Die Regierung nahm dieses Ergebnis hin und rechnete wohl auf die Korrektur durch die Erste Kammer, die jedoch überraschenderweise der Zweiten folgte und den Verzicht auf den Wahlzensus bestätigte - eine wesentliche Voraussetzung für eine ungewöhnlich breite und demokratische Partizipation aller Gemeindebürger in den ersten Gemeindewahlen war damit geschaffen, während die Bürokratie auf Gelegenheit und Vorwand zur Einschränkung dieses liberalen Wahlrechts zu sinnen begann. Bei der Verfassung der Gemeindebehörden orientierten sich Regierung und Landtag im wesentlichen an dem, worauf sie sich schon 1822 geeinigt hatten: Bürgermeister und Gemeinderat wurden auf sechs Jahre, also für verhältnismäßig kurze Amtsperioden, gewählt; die Alternative der Lebenslänglichkeit kam, so sehr man in anderen Fragen nach Württemberg hinüberschaute, nicht mehr auf den Tisch. In der Debatte erhoben sich sogar 90 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35765-2
viele Stimmen - u.a. die Blankenhorns, Buhls und Duttlingers - für eine Verkürzung der Dienstzeit auf nur drei Jahre mit dem Argument, die große Last dieser Aufgabe seien für eine kürzere Zeit mehr der >besseren< und Gewerbe treibenden Bürger bereit zu übernehmen.57 Die Einrichtung des Bürgerausschusses war durch die positiven Erfahrungen seit 1821 unstrittig, die Zweite Kammer setzte aber eine Verkürzung der Amtsdauer auf nur vier Jahre durch. Auch seine Zusammensetzung nach Steuerklassen blieb unbeanstandet, wobei hier, anders als in der Zensusfrage, erneut das Argument gleichmäßiger Interessenvertretung maßgebend war: Im Bürgerausschuß sollten »alle Klassen der Bürger und alle Interessen vertreten werden«, so Mittermaier; »der Kleinbegüterte, der arme Taglöhner haben eigene Interessen, die, da der Bürgerausschuß alle Bürger vertreten soll, auch ihre Berücksichtigung verdienen«.58 Allerdings hatte nach der Abstimmung über den Zensus die offenbar nur wenig durchdachte Idee der Kommissionsmehrheit keine Chance mehr, in größeren Städten nur zwei Wählerklassen: mit mehr und mit weniger als 4.000 fl. Steuerkapital, zu bilden. Immerhin war damit zum ersten Mal in Baden der später noch so bedeutsame Gedanke der Bildung ungleicher Wählerklassen ausgesprochen worden. - Aus den Beratungen von 1820 hatte Winter außerdem die Institution eines >Großen Bürgerausschusses< als Vertretung der Gemeindeversammlung - außer bei Wahlen! - in Städten mit mehr als 3.000 Einwohnern aufgegriffen und damit Zustimmung gefunden. Die Zweite Kammer bewies ein gutes politisches Gespür, als sie hartnäckig und schließlich erfolgreich versuchte, die später als liberale >Stadtparlamente< so wichtigen Großen Ausschüsse in verschiedenen Punkten noch zu stärken. Vor allem setzte sie gegen den Regierungsentwurf und die Erste Kammer die Öffentlichkeit seiner Beratungen durch, die in den 1840er Jahren eine ganz konkrete politische Bedeutung gewann.59 Die deutlichste Grenze der liberalen Erfolgsbilanz in der Gemeindeordnung markierten die politischen und gemeindebürgerlichen Rechte der Juden. Sie waren ja auch in den Beratungen seit 1819 umstritten gewesen, und dieser Konflikt sollte sich durch den gesamten Vormärz, über Revolution und Reaktion bis in die 1860er Jahre fortsetzen. Das aktive Wahlrecht erhielten die jüdischen Gemeindebürger nun zugebilligt; wenn sie aber gehofft hatten, nach dem Erfolg von 1821 im liberalen Klima von 1831 erst recht auch die Wählbarkeit in den Gemeinderat und zum Bürgermeister zu erhalten, wurden sie enttäuscht. Winters Entwurf hatte zunächst sogar die Juden von der Wählbarkeit in den Bürgerausschuß ausgeschlossen, aber das beruhte, wie sich herausstellte, auf einem Versehen.60 In der Zweiten Kammer bildeten sich ähnliche Fronten wie in der Zensusfrage; fünf Stimmen der Kommission erklärten sich für die Wählbarkeit von Juden in den Gemeinderat, zwei für ihre Wählbarkeit zum Bürgermeister,61 und diesmal trat 91 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35765-2
Itzstein als wortgewaltigster Verfechter politischer Gleichheit auf. Die Erste Kammer kam der Zweiten sogar mit dem Kompromißvorschlag entgegen, die Wählbarkeit jüdischer Gemeindebürger solle dann möglich sein, wenn ihnen durch einen Gemeindebeschluß einzeln dieses Recht zuerkannt werde, doch die so liberale Volksvertretung beharrte in ihrer Mehrheit auf dem völligen Ausschluß. In diesem Punkte war jedoch das Volk auch nicht liberaler als seine Vertreter. Bei der Beratung des Bürgerrechtsgesetzes in der Zweiten Kammer seit Ende Juni 1831 wiederholten sich in vieler Hinsicht Konstellationen und Konflikte aus der Diskussion über die Gemeindeordnung; auch über diesen zweiten, der Gemeindeordnung komplementären Gesetzentwurf herrschte zwischen Regierung und liberaler Kammermehrheit ein durch die Arbeit der vorangegangenen Landtage vorgeformter Grundkonsens; es gab kleinere Streitpunkte, die relativ mühelos ausgeräumt werden konnten; und die Debatte endete erneut mit einer Niederlage für die gemeindebürgerlichen Rechte der Juden. Nicht zuletzt aber drängte sich, analog zur Zensusfrage, ein zuvor in dieser Schärfe unbekanntes Problem in den Vordergrund, das sich mit vergangenen Erfahrungen allein nicht lösen ließ, sondern einer bürgerlichen Gesellschaft zuzuordnen war, deren Zeitpunkt die Mehrheit der liberalen Abgeordneten für noch nicht gekommen hielt: Die Frage der Gewerbefreiheit, die nun, anders als noch zehn Jahre früher, in engstem Zusammenhang mit der Ausgestaltung des Gemeindebürgerrechts gesehen wurde. Winter warf das Thema auf, als er in seinem Vortrag zur Begründung des Regierungsentwurfes des Bürgerrechtsgesetzes wieder einmal aufsein Lieblingsthema: das Verhältnis von Staat und Gemeinden, von Staatsbürgertum und Gemeindebürgertum, zu sprechen kam und konkret die Meinungsverschiedenheiten zwischen Bürokratie und Gemeinden über das Recht der Bürgeraufnahme erwähnte. 62 Dahinter stehe, so verkündete er nun, der Kampf der »alten Zünfte« gegen »die neue Gewerbsfreiheit«, denn ohne die Möglichkeit, an einem anderen als dem Geburtsorte ein selbst gewähltes Gewerbe zu betreiben, könne es keine »die schlummernden Kräfte« anregende Gewerbefreiheit geben, und »der Gewerbfreie«, andererseits, erkenne »kein Gemeindebürgerrecht, weil es ihm keinen wesentlichen Vorteil gewährt, und die Gemeinde ist ihm im Allgemeinen nichts als ein Aggregat von Häusern und Menschen«. 63 Wenn auch der Nexus zwischen Bürgerannahme und Gewerbefreiheit offensichtlich war, stand hinter Winters Darlegungen doch eine stark überspitzte Problemwahrnehmung, denn das Fortbestehen eines besonderen Gemeindebürgerrechts konnte durchaus, wie das Beispiel Preußens seit 1808 und zumal seit der Revidierten Städteordnung von 1831 zeigte, mit Gewerbefreiheit verträglich sein, und diesen Weg ging in anderer Weise auch das Großherzogtum Baden im Vormärz: durch 92 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35765-2
eine pragmatische Aufweichung des strengen Zunftzwanges einerseits und durch die Ausweitung des Gemeindebürgerrechts und die Lockerung seiner Zugangsvoraussetzungen andererseits. Das war im Grunde das, worauf es Winter ankam, er wollte das Zunftsystem gar nicht abschaffen, sondern zunächst durch vermehrte >Konkurrenz< von ortsfremden Zuwanderern in Bewegung halten und deshalb einen wie auch immer verklausulierten de facto-Rechtsanspruch auf Bürgeraufnahme durchsetzen. Mit dieser Position konnte der Kammerliberalismus, dessen Position erneut Mittermaier in seinem Kommissionsbericht vertrat, durchaus einverstanden sein: Er warnte zwar vor »übertriebene(r) Erleichterung« der Bürgeraufnahme, erkannte aber zugleich an, daß Gewerbetreibende die Möglichkeit haben müßten, sich in einer Gemeinde niederzulassen, ohne daran »durch den Eigensinn oder den Egoismus der Gemeinden« gehindert zu werden. 64 Darauf hätte man sich ohne weitere Diskussion einigen können - nachdem Winter jedoch einmal das Stichwort gegeben hatte, erkannten einige Abgeordnete die Chance, den Gesetzentwurf im Namen radikaler Gewerbefreiheit und freier >Staatsbürgerschaft< anzugreifen. Es ist kennzeichnend für die südwestdeutsche Debatte, daß die Position des ökonomischen Liberalismus dabei nicht von den liberalen Professoren, Bürgermeistern und Publizisten vertreten wurde und auch nicht von den wenigen Fabrikanten in der Zweiten Kammer, sondern vor allem von Regierungsbeamten, mochten diese nun politisch eher liberal wie Nebenius oder eher konservativ wie der Konstanzer Regierungsdirektor Rettig sein. Der Wirtschaftsliberalismus trat insofern in Baden zuerst als Fortsetzung des etatistischen Egalitarismus der Reformzeit auf. Insbesondere Rettig versuchte in einer langen Rede zu zeigen, daß es geradezu eine »Staatspflicht« sei, für die »freie Entwicklung einer wohltätigen Gewerbstätigkeit« zu sorgen und berief sich auf die Erfahrung, nach der zugewanderte Familien in der Regel wenige Generationen später zur politischen und ökonomischen Führungsschicht ihrer Gemeinden gehörten. 65 Während Abgeordnete wie der Staufener Bürgermeister Martin daraufhin ängstlich Gegenbeispiele von den Gemeinden aufgedrungenen Bürgern nannten, die bald darauf den Armenkassen zur Last fielen, nahmen die profilierten Wortführer des politischen Liberalismus eine eigentümliche Mittelposition ein: Sie lehnten die Einführung der Gewerbefreiheit zum jetzigen Zeitpunkt ab und sahen andernfalls geradezu das Gemeindeleben untergehen, erkannten aber zugleich an, daß diese Ablehnung nur noch für eine kurze Zeit gelten konnte und erwarteten, daß die neuen Prinzipien der freien Niederlassung und Gewerbeausübung sich schon in wenigen Jahren unaufhaltsam durchsetzen würden. »Jeder von uns war überzeugt, daß bald die Schranken werden gebrochen werden; für jetzt aber müssen wir uns an das Bestehende anschließen«, faßte Mittermaier diesen fast schon paradoxen Attentismus für die Mitglieder der von ihm 93 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35765-2
geleiteten Kommission zusammen. 66 An der Schwelle einer fundamentalen Transformation der sozialökonomischen Ordnung stehend, die man durchaus sehr klar erkannte, war man nicht bereit, das heraufziehende Gesellschaftsmodell normativ zu antizipieren und nahm lieber in Kauf, daß das Bürgerrechtsgesetz »vielleicht bloß zehn Jahre bestehen« könnte - so die Erwartung selbst des sonst so radikalen Itzstein: »Die Fortschritte der Civilisation, die steigende Bevölkerung, das Dringen nach Gewerbefreiheit, die Sie [sc. die Abgeordneten] nimmermehr zurückhalten können, wenn auch die Klugheit dies bis jetzt noch gebietet, um nicht Alles umzuwälzen, werden die Verhältnisse umändern, und notwendig machen, daß Sie sich sehr bald wieder mit einem neuen Gesetz über die bürgerlichen Verhältnisse beschäftigen.« 67 Diese Prognose allerdings erwies sich als falsch; die >Umwälzungen< vollzogen sich langsamer und das Bürgerrechtsgesetz erwies sich als flexibler, als selbst die der neuen bürgerlichen Gesellschaft skeptisch gegenüberstehenden Liberalen erwartet hatten. So wurde man sich über die Bürgerannahme dann doch im großen und ganzen auf der von Winter und Mittermaier vorgezeichneten Linie einig. Völlig unumstritten war die einheitliche Fesdegung der Gebühren für den Antritt des angeborenen Bürgerrechts, die in vier Abstufungen von 10 fl. in den vier größten Städten bis zu 3 fl. in den Landgemeinden reichten; alle anderen >versteckten< Gebühren, unter welchem Namen und mit welcher lokalen Tradition auch immer sie auftraten, wurden für unzulässig erklärt. 68 In der heiklen Frage der Bürgerannahme von Ortsfremden zeigte sich Winter klug genug, das Selbstbewußtsein der Gemeinden wenigstens formal zu respektieren, indem das Recht der Aufnahme dem Gemeinderat zuerkannt wurde. Zugleich stellte sein Entwurf jedoch klare Kriterien auf, deren Erfüllung eine Willkür der Gemeindebehörden nicht mehr zuließ - »eigentlich genommen«, drückte der Innenminister das selber aus, »haben wir jedem Staatsbürger, der die vorgeschriebenen Eigenschaften erfüllt, das Recht gegeben, gesetzlich die Aufnahme verlangen zu können«. 69 In der Tat hatte Winter sehr geschickt so formuliert, daß die Bürgeraufnahme eher als eine Verfahrensfrage denn eine Grundsatzentscheidung erschien, und stieß damit auf Zustimmung in der Zweiten Kammer, weil die neue Prozedur zugleich den in den Gemeinden besonders verhaßten Einzelfallentscheidungen unterer Staatsbehörden über die Bürgeraufnahmen ein Ende bereitete. Ein Rekursrecht abgewiesener Bewerber an die Staatsbehörden, die bei einem Vorliegen der gesetzlichen Voraussetzungen die Gemeinde quasi zur Aufnahme verpflichten konnten, trat an deren Stelle und war für die Gemeinden und ihre Vertreter in der Kammer gerade noch akzeptabel. Zu den gesetzlichen Bedingungen der Bürgeraufhahme zählte neben dem Nachweis eines >Nahrungszweiges< der Besitz eines Mindestvermögens, das nun landeseinheitlich statt nach lokalem Herkommen und Ermes94 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35765-2
sen festgesetzt wurde. Über seine Höhe wurde aber noch eine lange Auseinandersetzung geführt. 70 Das von Winter vorgesehene Mindeststeuerkapital von 1.000 fl. in den vier größten Städten erschien der Kommission, die stattdessen 1.500 fl. vorschlug, als zu niedrig, und auch verschiedene Gemeinden hatten sich in Petitionen über die ihrer Ansicht nach zu geringen Vermögenserfordernisse, die für sie die Exklusivität des Bürger Verbandes bedrohten, beschwert, 71 doch blieb es schließlich bei der Obergrenze von 1.000 fl. mit Abstufungen nach unten bis zu 300 fl. in kleinen Städten und Landgemeinden. Ähnlich sollte auch das Bürgereinkaufsgeld für Ortsfremde, bei dem, wie wir schon gesehen haben, die Unterschiede im Großherzogtum bis dahin besonders groß gewesen waren, vereinheitlicht werden. Während das Einkaufsgeld für die vier großen Städte einheitlich 120 fl. betragen sollte, hatte sich die Regierung für alle übrigen Gemeinden einen relativen, am Reichtum der jeweiligen Gemeinde orientierten Maßstab überlegt, der dann auch mit einer geringfügigen Modifikation durch die Zweite Kammer Eingang ins Bürgerrechtsgesetz fand. Danach bemaß sich das Einkaufsgeld an dem - durch die Einwohnerzahl geteilten - Gesamtsteuerkapital des Ortes - zehn Prozent dieser Durchschnittssumme waren in Städten über 3.000 Einwohner, acht Prozent in kleineren Städten und fünf Prozent in Landgemeinden zu entrichten; höchstens jedoch 100 (bzw. 80 und 50) fl.72 Damit war dem bürgerrechtlichen Lokalismus endgültig ein Ende bereitet; jetzt erst gab es nicht mehr so viele Gemeindebürgerrechte wie Gemeinden im Großherzogtum Baden, sondern ein staatlich definiertes - und kommunal praktiziertes - Bürgerrecht, und das trug zur Aufweichung alter Grenzen, zum Abbau alter Feindschaft und Eifersüchtelei zwischen den Gemeinden bei, erleichterte ihre Kommunikation untereinander und förderte ihr Zusammengehörigkeitsgefühl und ihr gemeinsames Selbstbewußtsein. Viel wichtiger noch als diese Vereinheitlichung zwischen den Gemeinden war freilich die Egalisierung in den Gemeinden, die durch die mit dem Bürgerrechtsgesetz schließlich erreichte Eingliederung der bisherigen Schutzbürger in den Gemeindebürgerverband bewirkt wurde. Dieser vielleicht bemerkenswerteste Teil der badischen Gemeindereform war, allen Kontroversen vorangegangener Landtage zum Trotz, 1831 eine der zwischen Regierung und Landtag am wenigsten umstrittenen Neuerungen, und auf Seiten der Liberalen hat die Tatsache zu dieser Akzeptanz beigetragen, daß die Aufhebung des Schutzbürgerrechts nicht wie Zensus und Gewerbefreiheit als Metapher der neuen, erwartet-befürchteten ökonomischen Erwerbsgesellschaft gelesen werden konnte. Im Bewußtsein der Zeitgenossen mochte diese Maßnahme sogar der neuen, kapitalistisch induzierten Ungleichheit, die man verachtete, gegensteuern, während die Einebnung solcher traditionalen, rechtlich geformten Stände in Wirklichkeit gerade zur 95 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35765-2
Voraussetzung klassengesellschaftlicher Strukturen wurde. Widerstand gegen die Eingliederung der Schutzbürger, der allerdings nie eine Chance auf Erfolg hatte, artikulierte sich nur im konservativeren Teil der Gemeindebürgerschaft einiger Städte wie Freiburgs, von wo eine Petition an die Zweite Kammer einkam, die um die Rechte der bisherigen Ortsbürger fürchtete und ihre Ängste angesichts des Bürgerrechtsgesetzes in die diffuse Prognose münden ließ, »kalter Weltbürgersinn« trete damit an die Stelle von »Bürgerglück« und das »Bürgerthum« gehe für immer verloren. 73 Diese Befürchtungen waren jedoch umso weniger berechtigt, als in den entscheidenden Fragen der ökonomischen Rechte der Bürger, also vor allem des Bürgernutzens, Vorkehrungen zur Bestandssicherung der bisherigen Ortsbürger getroffen wurden: In den sogenannten >Transitorischen Bestimmungen< war am Ende des Bürgerrechtsgesetzes festgelegt, daß es ein automatisches Einrücken in den Bürgernutzen nicht geben sollte; vielmehr mußten die neuen Gemeindebürger zuerst den dreifachen Jahresbetrag des Bürgernutzens in die Gemeindekasse entrichten, und auch das nützte ihnen erst dann etwas, wenn entsprechende Genußanteile frei wurden und frühere Ortsbürger nicht ein älteres Recht darauf hatten, denn der Umfang der einzelnen Anteile, wie sie bisher bestanden, durfte durch die einrückenden Schutzbürger in keinem Fall geschmälert werden. 74 Waren die politischen Rechte seit 1832 auch auf einen Schlag gleich, garantierten die enorm folgenreichen >Transitorischen Bestimmungen< de facto eine lange fortbestehende Ungleichheit des ökonomischen Status von früheren Orts- und Schutzbürgern überall dort, wo ein Bürgernutzen bestand. Daher erstaunt es nicht, daß diese Paragraphen des Bürgerrechtsgesetzes im Vormärz eine ständige Konfliktzone bildeten. 75 Immerhin war die gleiche Partizipation aller Bürger am ökonomischen Gemeindeverband damit nur eine Frage der Zeit - im Höchstfall einer Generation - , während der Landtag diese Teilhabe den jüdischen Schutzbürgern grundsätzlich verweigerte. Winters Regierungsentwurf hatte noch vorgesehen, die Entscheidung über die Bürgeraufnahme der Juden den Gemeindebehörden zu überlassen, ohne jedoch gegen deren Entscheidung einen Rekurs zuzulassen, und in den >Transitorischen Bestimmungen< ausdrücklich festlegen wollen, daß die Möglichkeit des Einkaufs in die bürgerlichen Genußrechte genauso für die bisherigen jüdischen Schutzbürger gelte. 76 Die Kommission der Zweiten Kammer folgte ihm darin, doch die emanzipationsfeindliche Landtagsmehrheit nicht der Kommission, so daß im Ergebnis ein Sonderrecht für diese Gruppe statuiert wurde. Der § 54 des Bürgerrechtsgesetzes bestimmte lakonisch, daß eben dieses Gesetz sowie das Gesetz über die Gemeindeverfassung auf die bürgerlichen Rechte der Israeliten keine Anwendung finde und damit die früheren Bestimmungen in Kraft blieben. Diejenigen Juden, die bisher Schutzbürger waren, blieben 96 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35765-2
dies also, obwohl es eigentlich gar keine Schutzbürger mehr gab. Großzügig wurde den jüdischen Badenern die Möglichkeit angeboten, auf einem in der Zukunft zu veranstaltenden Konvent >Beweise< ihres hinreichenden zivilisatorischen Fortschrittes vorzulegen, die der Landtag dann im Hinblick auf die weitere Emanzipation prüfen würde. 77 Wie die >Transitorischen Bestimmungen< markierte der § 54 des Bürgerrechtsgesetzes eine deutliche Grenze der liberalen Gemeindereform in Baden und zugleich einen weiteren permanenten Konfliktherd bis in die Revolution hinein und im Grunde bis 1862. Andererseits bedeutete das Bürgerrechtsgesetz, ohne wie in Frankreich auf ein eigenes Gemeindebürgerrecht zugunsten eines bloßen Staatsbürgerrechtes zu verzichten, einen erheblichen Schritt auf dem Weg zur >Einwohnergemeinde< - der weitaus größte Teil der männlichen Erwachsenen in Baden gehörte seit 1832 zu einem (im Prinzip) nicht weiter abgestuften Verband rechtsgleicher Bürger, und auf männliche Erwachsene wäre zu dieser Zeit auch jedes andere, nicht von der kommunalen Korporation abgeleitete Bürgerrecht beschränkt gewesen. Die nunmehr einheitlichen Kriterien machten zudem aus Konstanzer, Mannheimer, Lahrer Gemeindebürgern tendenziell badische Gemeindebürger. Genaue Statistiken über die Zahl der Orts- und Schutzbürger im Jahre 1831 fehlen und müßten angesichts der lokalen Verschiedenheit in den Kategorien des alten Bürgerrechts immer ungenau sein, aber man kann davon ausgehen, daß zu etwa 120.000 Ortsbürgern ungefähr 80.000 frühere Schutzbürger hinzukamen, also die Zahl der Personen mit vollem Gemeindebürgerrecht sich auf einen Schlag um zwei Drittel auf etwa 200.000 erhöhte. 78 Bei 1,2 Mio. Einwohnern des Großherzogtums nach der Volkszählung von 1833 war somit jeder sechste Einwohner oder, überschlagsmäßig gerechnet, jeder dritte Erwachsene oder etwa zwei Drittel der männlichen Erwachsenen Gemeindebürger. Bezogen auf die 234.335 Familien im Jahr 1833, wären damit - grosso modo - sogar 85 % aller Familienverbände durch einen Vollbürger repräsentiert gewesen, während das zuvor nur für jede zweite Familie gegolten hatte. 79 Der Anteil der Bürger an der Einwohnerzahl der Gemeinden war von Ort zu Ort sehr unterschiedlich; als Faustregel kann gelten, daß er umso höher lag, je kleiner die Gemeinde war: Er lag nach dem Bürgerrechtsgesetz bei etwa 12 % in Mannheim, Freiburg und Heidelberg, zwischen 15 und 18 % in Ettlingen, Durlach, Weinheim, Lahr oder Villingen und ähnlich hoch in der Regel in noch kleineren Städten und in Landgemeinden. 80 Erst vor dem Hintergrund qualitativer Aspekte gewinnen diese Zahlen jedoch eigentlich an Bedeutung und lassen die tiefgreifenden politischsozialen Konsequenzen des Bürgerrechtsgesetzes ermessen. Die Ausweitung des Bürgerrechts wurde von konservativeren Zeitgenossen zunächst vor allem als Gefährdung der ökonomischen Integrität des Bürgerverbandes 97 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen Stantsbibilothek ISBNMünchen E-Book: 978-3-647-35765-2
begriffen, 81 aber schon bald traten politische Bedenken in den Vordergrund, die in der Ausweitung der Partizipation - zumal nach dem Scheitern des Zensus! - auf einen großen Teil der Unterschichten das Gespenst der Demokratie heraufziehen sahen. »Das notwendige liberale Element, welches in die Gemeinden eingeführt werden mußte«, bilanzierte etwa Carl Friedrich Schöchlin nach der Revolution von 1848/49 und nicht zuletzt auch im Hinblick auf ihre Ursachen, »wurde unter den Händen der idealisierenden Gesetzgeber ein demokratisch inficierendes zu Gunsten des Proletariats«. 82 In der Tat markierten - vor dem Hintergrund der Julirevolution und ihrer Folgen - die Gemeindeordnung und das Bürgerrechtsgesetz und die sich bald entzündende Debatte über ihre Wirkung in den Gemeinden, wie wir noch im einzelnen verfolgen werden, den Beginn der Wahrnehmung der Unterschichten als >Proletariat< in Baden, ohne daß sich in so wenigen Jahren das sozialökonomische Profil jener weiterhin ganz überwiegend vorindustriellen Unterschichten entscheidend verändert hatte. Gerade die rechtliche Gleichstellung und politische Egalisierung einer zuvor ökonomisch und politisch marginalen Gruppe machte soziale Ungleichheit zu einem >neuen< gesellschaftlichen Problem, auf das zu reagieren die Politik sich seitdem verpflichtet fühlte. Die bisherige rechtliche Kategorie der Schutzbürger war mit der jeweiligen sozioökonomischen Unterschicht einer Gemeinde keineswegs identisch, aber unbestreitbar erhielten 1832 zahlreiche Männer ohne gesicherten >NahrungszweigSelbständigkeit< weit entfernt waren. 83 Den vormärzlichen Liberalismus hat das freilich in Baden kaum irritiert, denn er definierte Bürgeridentität in erster Linie politisch und nicht sozialökonomisch, und >Selbständigkeit< war in seiner Begriffswelt keine zentrale Kategorie - sie war, jedenfalls im Großherzogtum Baden, eher ein Wert der sozialen Klasse des Bürgertums als ein Wert des Liberalismus. 84 Das außerordentliche demokratische Potential der badischen Gemeindeordnung im Vergleich mit der Gesetzgebung in anderen deutschen Staaten, ja im europäischen Vergleich, ist schon von den Zeitgenossen hervorgehoben und auch in der Forschung nie bezweifelt worden. Die Etablierung eines >konstitutionellen Systems< in den Gemeinden, die Berstett 1819 kurz nach der Verfassungsgebung gefordert und die allen seitherigen Bemühungen als Fluchtpunkt zugrundegelegen hatte, war mit dem Erfolg des Landtags von 1831 schließlich Wirklichkeit geworden - es kam nur noch darauf an, wie die Bürger die damit verbundenen Partizipationschancen nutzen würden. Dagegen hat vor allem Mack Walker argumentiert, das Bürgerrechtsgesetz sei den Prinzipien der Gemeindeordnung diametral entgegen98 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35765-2
gesetzt gewesen; die liberale Gemeindeordnung sei mit dem Bürgerrechtsgesetz als Zugeständnis an einen unverändert starren >Home TownGeschäftes< zwischen Regierung und Liberalen einerseits, >den< Gemeinden andererseits widerspricht, unterschätzt Walker damit die inhaltliche Kongenialität beider Gesetze und die soziopolitische Sprengkraft des Bürgerrechtsgesetzes geradezu eklatant - kein knorriger >Hometownsman< des 18. Jahrhunderts hätte staatliche Kriterien für den Bürgerrechtszugang oder die Gleichberechtigung der Schutzbürger freudig begrüßt. Vor allem aber entsprach die von Walker behauptete Frontstellung von Liberalen einerseits, konservativen Stadtbürgern andererseits zu jener Zeit in Baden nicht mehr der Realität - wenn es sie überhaupt jemals gegeben hatte. Die Liberalen in der Kammer repräsentierten ja die Gemeinden, von deren Bürgern sie frei gewählt waren, und ein politisch völlig monolithisches Stadtbürgertum gab es 1832 so wenig wie um 1800 oder noch früher. Das Gesetzesbündel von 1831 markiert vielmehr den Punkt, an dem die scheinbar gegensätzlichen Rollen des Stadtbürgers und des Liberalen verschmelzen konnten. Auch im Bewußtsein der liberalen Zeitgenossen bildeten die beiden Gesetze eine unauflösliche Einheit, und das Festhalten des süddeutschen Liberalismus und der süddeutschen Gemeinden an einem eigenen Gemeindebürgerrecht statt des Schrittes zu einem reinen Staatsbürgerrecht war nicht von vornherein Ausdruck einer rückständigen, bornierten >Home TownTransitorischen Bestimmungen< des Bürgerrechtsgesetzes 99 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35765-2
sorgten dafür, daß sich bezüglich der Eingliederung der Schutzbürger und ihrer ökonomischen Rechte der Übergang eher gleitend über einen längeren Zeitraum vollzog, und es wäre denkbar gewesen, bei der Einführung der Gemeindeordnung - und das hieß vor allem: der Bildung der neuen, demokratisch legitimierten Institutionen der Gemeindepolitik - prinzipiell ähnlich zu verfahren, also die bisherigen Ortsvorsteher und Gemeinderäte erst nach und nach außer Dienst treten zu lassen. Winter entschloß sich jedoch, ohne daß die Zweite Kammer ihn dazu besonders hätte drängen müssen, zu einem radikalen Schnitt: Die gleichzeitig mit der Gemeindeordnung erlassenen >Transitorischen Bestimmungen über die Erneuerung der Gemeinderäte< setzten fest, daß zwischen dem 1. Juni 1832 und dem 3 1 . März 1833, also innerhalb eines Zeitraums von nur zehn Monaten, alle alten Gemeinderäte aufgelöst und einschließlich des Bürgermeisters neu gewählt werden mußten. Nach der Ernennung der neuen Gemeinderäte sollten auch die (kleinen) Bürgerausschüsse neu gewählt werden - sie waren nach dem Gesetz von 1821 zwar bereits >demokratisch< legitimiert, aber nur von der Gruppe der bisherigen Ortsbürger gewählt worden. 87 Alle Neuwahlen im Großherzogtum Baden fanden damit innerhalb eines relativ kurzen Zeitraums statt, und zwar in der Zeit der nachwirkenden Aufregung um das Hambacher Fest und andere liberale Feste, in der kurzen Zeit der Pressefreiheit und des Kampfes um ihre Erhaltung; diese Koinzidenz war am Ende des Jahres 1831 von der Regierung ja noch nicht voraussehbar gewesen. All das bewirkte, daß die Ausstrahlung der Gemeindewahlen die Grenzen der jeweiligen Kommunen überschritt; aus tausenden Wahlen lokaler Bürgerkorporationen entstand eine landesweite Wahlbewegung, und tausende lokaler Konfliktsituationen verwoben sich mit den allgemeinpolitischen Ideologien und Kontroversen der frühen 1830er Jahre. So markierten die ersten Gemeindewahlen von 1832/33 in Baden den Durchbruch einer ersten Fundamentalpolitisierung und zugleich das breitenwirksame Eindringen des Liberalismus in die Gemeindepolitik und ihre Institutionen. Obwohl Kommunalreform und Gemeindegesetzgebung in vieler Hinsicht ein Hauptthema politischer Auseinandersetzung in Deutschland in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts waren - von der Reformzeit über den Vormärz bis zur Revolution und den Reaktionsjahren danach - , weiß man über Gemeindewahlen und ihre politisch-sozialen Auswirkungen bisher erstaunlich wenig. Die jüngste Konjunktur der historischen Wahlforschung ist, von Ausnahmen abgesehen, 88 an der Zeit des Vormärz bisher vorbeigegangen, vermutlich auch deshalb, weil eine aggregierbare und quantifizierbare Datengrundlage für diese Zeit fehlt und man auf eine unsicherere >qualitative< Interpretation angewiesen ist. Nicht nur für den Vormärz, sondern auch für das spätere 19. und das 20. Jahrhundert hat die Forschung sich zudem kaum für Kommunalwahlen interessiert, obgleich die Bedeu100 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35765-2
tung der Gemeinde als eines politisch-sozialen Erfahrungsraumes zumal für das deutsche Bürgertum in >seinem< 19. Jahrhundert seit einigen Jahren in der Forschung immer deutlicher herausgearbeitet wird. Über die normative Dimension von Selbstverwaltung im 19. Jahrhundert, über Ideen und Gesetze weiß man nach wie vor mehr als über ihre Praxis und ihren Vollzug, und eine so entscheidende Frage wie die, ob und inwiefern sich in den Jahren nach der Julirevolution ein Umbruch zu einer politisch wie sozial neuen bürgerlichen Kommunalpolitik vollzog, läßt sich bisher kaum beantworten. Für Leipzig hat Hartmut Zwahr gezeigt, daß die sächsische Reform von 1 8 3 0 / 3 1 zu einer Entmachtung des alten, >feudalen< Magistrats führte, allerdings auch angedeutet, daß unter der Decke der institutionellen Reform teilweise persönliche Kontinuität herrschte. 89 Ähnlich scheint die Einführung der preußischen Revidierten Städteordnung von 1831 in Bielefeld gewirkt zu haben: Die ältere oligarchische Führungsgruppe der Kaufleute legitimierte sich durch Wahlen, behielt aber ihre führende Position bei. 90 Der bei weitem größte deutsche Staat, Preußen, hatte seit 1815 mit einem doppelten Dilemma zu kämpfen. Die in den Ostprovinzen geltende Städteordnung von 1808 war eine erzieherische Vorgabe der Reformbürokratie, die von den Städten nicht gefordert worden war und deshalb nicht so schnell, wie beabsichtigt, im Sinne eines freien Staatsbürgertums genutzt wurde; die Städteordnung war, nach dem Urteil Kosellecks, »durchaus geeignet, Bürgergeist zu wecken, aber auch, es dabei zu belassen«; 91 die Intention der Verbindung von Staats- und Gemeindebürgertum verkehrte sich teilweise in den Effekt einer wachsenden Differenz zwischen beiden. So bedeuteten die Resultate der ersten Gemeindewahlen seit 1809 zwar in sozialer Hinsicht einen gewissen Umbruch, ein Vordringen des gewerblichen Kleinbürgertums in die Gemeindepolitik, 92 aber politisch eher eine Stärkung des alten korporativen Bürgergeistes, der sich nun verstärkt gegen die liberalen Reformen Hardenbergs wenden konnte. In den westlichen Provinzen, namentlich im Rheinland, wandte sich das liberale Bürgertum deshalb im Namen des allgemeinen >Staatsbürgers< gegen ein eigenes Gemeindebürgerrecht und gegen die zentrale Bürokratie - Hansemann bekämpfte 1830 die »Ansicht, in den Städten eine Art Bürgertum nach dem Sinne des Mittelalters zu erhalten oder zu schaffen«, und der Präsident der Kölner Handelskammer, Heinrich Merkens, verkündete drei Jahre später: »Die Zeit der Pfahl- und Spießbürger ist der Zeit der Staatsbürger gewichen.« 93 Der Erfolg war schließlich die »ständefreie, aber klassengeschichtete Kommunalverfassung« 94 der rheinischen Gemeindeordnung von 1845. Ob im Osten oder im Westen Preußens - die im Vormärz sogar an Schärfe eher zunehmende Entgegensetzung von Staats- und Gemeindebürgertum schränkte letztlich das emanzipatorische Potential beider Leitvorstellungen ein und begrenzte schon auf diese Weise die politisch-sozialen 101 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35765-2
Auswirkungen der Gemeindereform. Östlich der Elbe ließ sich stadtbürgerliches Selbstverständnis nur sehr langsam mit liberalen Freiheitsvorstellungen in Verbindung bringen, und die fortschrittliche Dynamik der Staatsbürgergesellschaft erstarrte nach dem Scheitern Hardenbergs zu der hegelianisch verklärten Vorherrschaft einer innenpolitisch immer konservativer werdenden Bürokratie. Im Rheinland, andererseits, konnte mit dem Verzicht auf das Gemeindebürgerrecht das liberale Potential der korporativen Tradition nicht genutzt werden, während das formal egalitäre Staatsbürgertum immer deutlicher den Rahmen einer ökonomischen Klassengesellschaft bildete. Dagegen gelang es im deutschen Südwesten und insbesondere in Baden, Staats- und Gemeindebürgertum nicht nur zu verbinden, sondern in eine sich gegenseitig herausfordernde Wechselbeziehung treten zu lassen, wie sie etwa Mittermaier in einer Heidelberger Rede am 19. Januar 1832 skizzierte: Aus der »Selbstständigkeit der Gemeinde«, wie sie die neue Gemeindeordnung bedeute, solle »der Sinn für öffendiche Angelegenheiten entspringen« - doch das Gemeindeleben im Sinne eines liberalen und nicht bloß korporativen Engagements der Gemeindebürger könne nur dort gedeihen, fügte Mittermaier unmittelbar hinzu, »wo die Gemeinde selbst sich nicht losmacht von dem großen Staatsverbande, wenn der Bürger nie darüber, daß er Gemeindsglied ist, vergißt, daß er auch Staatsbürger ist«. 95 Zu diesem Zeitpunkt, zwischen der Verabschiedung der Gemeindeordnung und ihrer Einführung mit den ersten Wahlen, war das noch ein Appell, aber er bezeichnete doch zugleich schon eine wichtige strukturelle Vorbedingung dafür, daß die mit den ersten Gemeindewahlen erst vollzogene badische Gemeindereform zum Erfolg des Liberalismus wurde. Ein wichtiger Grund für den Wunsch der Regierung, die Neubildung der Gemeindebehörden möglichst schnell zu vollziehen, war eine etwa seit dem Oktober 1830 immer deutlicher hervortretende Unruhe in vielen Gemeinden, namentlich in Kleinstädten und Landgemeinden, in denen sich eine lange aufgestaute Unzufriedenheit über die >Willkürherrschaft< der alten, nicht demokratisch legitimierten Vögte entlud. Vor allem im Nordosten Badens kam es zu kleineren Unruhen, in denen die französische Julirevolution zum Vorbild genommen wurde, um mit Rufen wie >Revolution! Freiheit! < gegen ungeliebte Ortsvorgesetzte vorzugehen. 96 Die am häufigsten vorgebrachte konkrete Beschwerde bezog sich auf ein unrechtmäßiges Einnehmen überhöhter Gebühren und Sportein durch die Vögte, aber dahinter steckte ein viel tieferes Unbehagen darüber, daß die Ortsvorgesetzten, so wurde es jedenfalls weithin empfunden, nicht auf der Seite der Bürger standen, sondern das Amt zu ihrem eigenen Vorteil verwalteten und dabei auch noch als Vollzugsorgane der Staatsmacht gegen die Bürgerschaft agierten - deshalb richteten sich die Unruhen im Herbst 1830 teilweise zugleich gegen die unteren staatlichen Beamten. Der hellsichtige liberal102 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35765-2
konservative Jurist Christoph Trefìirt griff das Unbehagen an den Vögten im folgenden Jahr in einer Flugschrift auf und prophezeite, »die zur allgemeinen Klage gewordene Herrschlust und Willkühr der Vorgesetzten« könne »nur durch die bedingte Wiederwählbarkeit ... für immer gebrochen werden«. 97 Die Julirevolution und der Beginn des liberalen Aufbruchs in Baden, zum Teil sicher auch die Wirkungen, die die seit zehn Jahren bestehenden Bürgerausschüsse entfalteten, machten einen im Grunde seit Jahrhunderten schwelenden Dauerkonflikt der dörflichen und kleinstädtischen Politik plötzlich zu einem prekären Problem von landesweiter Bedeutung, welches das staatliche ebenso wie das bürgerliche Handeln herausforderte. Seit dem Sommer 1831 und vermehrt in der ersten Jahreshälfte 1832 griffen die liberalen Zeitungen das Thema auf und prangerten in ungezählten Beispielen die Mißwirtschaft und den Vertrauensverlust der Vögte und die »aristokratischen Handlungen« der alten Bürgermeister an.98 Seit der Verabschiedung der Gemeindeordnung durch den Landtag brachten immer mehr Artikel die Unzufriedenheit mit den Vögten mit der Erwartung der Gemeindeordnung und der Wahlen in Verbindung und forderten unverhüllt dazu auf, die Amtsinhaber nicht wiederzuwählen, sondern Personen den Vorzug zu geben, die das Vertrauen der gesamten Bürgerschaft besäßen. Der lange währenden Konflikte zwischen Vorgesetztem und Bürgern bzw. zwischen verschiedenen >Parteien< in der Bürgerschaft müde, warnten immer mehr Stimmen vor >Parteilichkeit< bei den Wahlen und beschworen >Eintracht< und >Gemeingeist< - hier, in der konkreten Erfahrung gemeindebürgerlichen Konflikts in der Frühen Neuzeit und im Wunsch nach (Wieder-)Herstellung der konsensuellen Grundlagen der Gemeindepolitik, liegt eine wesentliche sozialgeschichtliche Wurzel der Ideologie von Eintracht und Überparteilichkeit im deutschen Frühliberalismus. »Seit 36 Jahren wurde das Gemeindegut geplündert durch unfähige und verschwenderische Vorgesetzte, die besseren Bürger und Gegner wurden als Aufrührer ausgehudelt«, klagte ein Ettenheimer Bürger im Juni 1832, und mahnte seine Mitbürger im Blick auf die bevorstehenden Wahlen: »Ihr werdet einsehen, daß der neue Bürgermeister vor allem die Kraft besitzen muß, wieder Eintracht in die Gemeinde zu bringen ... Auf die Eintracht ist Gemeingeist mit redlichem Willen und Handeln leicht einzuführen.«99 Im Frühjahr 1832 spitzte sich die Unruhe in den Gemeinden so weit zu, daß einzelne Bezirksämter die Regierung dringend aufforderten, die noch ausstehende Wahlordnung endlich zu erlassen, ohne deren formale Vorschriften die Gemeindewahlen noch nicht abgehalten werden konnten. Das Bezirksamt Bretten berichtete erneut über die seit langem herrschende Unzufriedenheit mit den Ortsvorgesetzten, die durch eine Verzögerung der Wahlen nur noch wachsen und »Unannehmlichkeiten veranlassen« könnte, während andererseits die amtierenden Bürgermeister und Gemeinderäte 103 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35765-2
stark verunsichert seien und ihren Dienstgeschäften nicht mehr nachkämen, sobald sie »nach der Stimmung der Gemeinde voraus sehen, daß sie nicht mehr gewählt werden«. 100 In Lahr reichte der Bürgermeister Funk wegen der permanenten Angriffe der lokalen Presse auf seine Amtsführung die Entlassung ein, und auch den Staatsbehörden entging jetzt nicht mehr, daß sich »wegen der Wahlen bereits Partheyen gebildet haben, die schon zum Teil ... sich in öffentlichen Blättern bekämpfen« - durch eine schleunige Abhaltung der Wahlen hoffte man diesen »schädlichen Partheykampf zu beendigen«. 101 Das Innenministerium erließ am 1. Mai sogar provisorische Bestimmungen zur Durchführung der Wahlen für solche Fälle, in denen die Unruhe in den Gemeinden ein weiteres Abwarten nicht geraten erscheinen ließ, bevor nur sechs Wochen später die Wahlordnung im Regierungsblatt publiziert wurde und der Durchführung der Gemeindewahlen damit nichts mehr im Wege stand. 102 Zu diesem Zeitpunkt hatte die Gemeindeordnung bereits eine Popularität, ja: eine Volkstümlichkeit gewonnen - in allen Teilen des Großherzogtums, auf dem Lande wie in den größeren Städten - , die für ein einzelnes und noch dazu kompliziertes Gesetzeswerk bemerkenswert ist. Die größere Freiheit der Gemeinden als Grundgedanke des Gesetzes wurde überall sofort verstanden und ausdrücklich begrüßt; der weiteren Erläuterung und Popularisierung dienten bald erscheinende Schriften wie ein >Katechismus des GemeinderechtsParteikämpfenG.< und >M.< als Bewerber um das Bürgermeisteramt in Ettenheim, beide Seiten um die Rhetorik von Eintracht und Gemeinsinn und warfen dem Gegner »Privatinteresse« vor 109 - den so gerne eine klare Empfehlung aussprechenden Redakteuren der liberalen Presse fiel angesichts der offensichtlichen Dominanz >vorpolitischer< Konfliktgründe dann die Entscheidung schwer, welche Seite sie in ihrem Blatt favorisieren sollten. Andererseits ist es erstaunlich, wie schnell und sicher in anderen Orten diese Zuordnung gelang, wie bereitwillig Bezeichnungen wie >liberale Partei< von der bisher oppositionellen Faktion in der kommunalen Politik angenommen und ihr auch von ihren Gegnern nicht bestritten wurden. 105 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35765-2
Ein anschauliches Beispiel für die allmähliche, durch Gemeindeordnung und Gemeindewahlen jedoch beschleunigte Transformation traditionaler Konfliktgruppen in lokale politische Parteien ist die ehemalige Reichsstadt Offenburg, in der eine Bürgeropposition der alten reichsstädtischen >Familienaristokratie< gegenüberstand, die ihre politische Vormachtstellung über das Ende der reichsstädtischen Zeit auch in den ersten drei Jahrzehnten des Großherzogtums Baden bewahrt hatte. Die bevorstehenden freien Wahlen vor Auge, ergriff die >reichsstädtische< Partei im April 1832 als erste öffentlich die Initiative, indem in einer dreiteiligen Artikelserie des »Offenburger Wochenblattes« die reichsstädtischen Zeiten nostalgisch verklärt und die Bürger zu »Eintracht und Harmonie« und zur Achtung der Vorgesetzten aufgefordert wurden. 110 Wieviel diesem Gang an die Öffentlichkeit an privaten Fehden und mündlichen Auseinandersetzungen in der Stadt vorausgegangen war und wie heftig der nun beginnende Wahlkampf außerhalb der Presse geführt wurde, kann man nur vermuten; >Katzenmusiken< und kleinere nächdiche Tumulte scheinen an der Tagesordnung gewesen zu sein. 111 Im Wochenblatt antwortete ein Anhänger der Bürgerpartei mit einem fünfteiligen Artikel auf den Vorstoß der reichsstädtischen Partei, kritisierte die Zerrüttung der Gemeindefinanzen und versicherte seinem Kontrahenten, man werde die selbstgewählten Vorgesetzten durchaus achten, »wenn es uns gelingt, solche aus unserer Mitte zu wählen, und die, der alten Familien-Aristokratie angestammten, Kupplereien und geheimen Gunstbezeugungen die Festigkeit der Bürger nicht zu erschüttern im Stande sind«. 112 So setzte sich der Schlagabtausch in den folgenden Wochen fort und spitzte sich immer konkreter auf die Wahlentscheidung zu, und dabei denunzierten die >Konservativen< die Liberalen als »kleine Partei, die den Samen der Zwietracht... auszustreuen sucht« ebenso, wie die Liberalen den Versuch des Gegners geißelten, »aus seinem verkappten Hinterhalt nur Zwietracht und Parteiwut auszusäen«: 113 Angesichts der allenthalben negativ bewerteten Konflikttradition in der Bürgerschaft und des Fehlens einer konsistenten kommunalpolitischen Programmatik versuchten beide Seiten, mit dem Versprechen einer endlichen Einigung der Bürger die Mehrheit zu gewinnen. Als die Wahl Anfang Juli 1832 zugunsten des Kandidaten der Bürgeropposition, des jungen Juristen Karl Burger, entschieden wurde, war das eben nicht mehr nur der Sieg einer lokalen Faktion über eine andere, nicht nur das - freilich für sich schon sehr bedeutsame - Ende der reichsstädtischen Oligarchie in Offenburg, sondern ein Ergebnis, das von den Liberalen als Sieg ihrer Sache landesweit propagiert werden konnte, wenngleich Burger sich schon bald als gar nicht mehr so liberal erwies. 114 So war der Ablauf der Wahlen zwar häufig von schroffen Kämpfen innerhalb der Gemeinde geprägt, im übrigen aber frei und unbeeinflußt. Wie schon bei den vorangegangenen Landtagswahlen verzichteten die 106 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35765-2
Regierungsbeamten im allgemeinen auf den Versuch zur Wahlbeeinflussung - es lag ja durchaus im Interesse der Bürokratie, wenn unbeliebte Ortsvorsteher abgewählt wurden und damit größere Ruhe in die Gemeinden einkehren konnte. Erst einige Jahre später, als anstelle alter Konflikte nicht etwa, wie erwartet, >EintrachtProfessionalisierung< verbunden sein konnte, wie die Wahl der jungen Juristen Burger und Karl Hüetlin zeigt. 119 Vor allem die Kampagne gegen die verhaßten Vögte in den kleineren Gemeinden erwies sich als erfolgreich. Bei 16 Bürgermeisterwahlen im Amt Ettenheim wurde neunmal der bisherige Amtsinhaber wiedergewählt, siebenmal, darunter auch in der Amtsstadt, hatte ein neuer Bewerber Erfolg. Von den 25 Gemeinden des Amtes Oberkirch wählten nur neun ihren amtierenden Vogt wieder, in 14 Gemeinden wechselte das Amt; und unter diesen 14 Gemeinden fanden sich neben der Amtsstadt Oberkirch alle anderen (Klein-)Städte des Amtes wie Renchen, Haslach und Oppenau. 120 In den für Baden so typischen Kleinstädten war der politisch-soziale Einschnitt - und der Willen, ihn herbeizuführen - noch einmal deutlich stärker spürbar als auf dem Lande. In Köndringen im Oberamt Emmendingen konnte der seit sechzehn Jahren amtierende Vogt Nierle abgewählt werden, gegen den Bürger der Gemeinde seiner korrupten Amtsführung wegen bereits mehrere Jahre lang prozessiert hatten; der neue Bürgermeister Boch genoß offenbar das breite Vertrauen der Bürgerschaft. 121 Ähnlich gelang in Renchen die Entmachtung des bisherigen Vogtes Fischer - wie gering sein Rückhalt unter den Bürgern war, zeigt die Tatsache, daß auf ihn lediglich 34 Stimmen, auf den neuen Bürgermeister Karl Hund aber 321 Stimmen entfielen. 122 Diese Wahl ist zudem repräsentativ für zwei weitere allgemeine Tendenzen: Hund war zuvor Ratsschreiber gewesen - die Wahl bisheriger Ratsschreiber und Gemeinderäte an die Stelle der alten Vögte kam sehr häufig vor. Die neuen Bürgermeister waren also meist keine völligen >newcomerdes< gewerblichen Bürgertums, und der Sieg des entstehenden Liberalismus war längst nicht nur dieser sozialen Gruppe zu verdanken. Eine besondere Dynamik und zum Teil heftige Konflikte entzündeten sich in den größten Städten des Großherzogtums an den Gemeindewahlen von der notorisch ruhigen Residenz- und Beamtenstadt Karlsruhe abgesehen. In Mannheim und Freiburg führten die Bürgermeisterwahlen zu den ersten scharfen Auseinandersetzungen neuen, politisch-ideologisch geprägten Typs zwischen liberalem Gemeindebürgertum und konservativer werdender Staatsbürokratie, die, um Marx abzuwandeln, den kleineren Städten des Landes das Bild ihrer eigenen Zukunft zeigten. Relativ reibungslos verliefen die Wahlen dagegen in Heidelberg, doch heißt reibungslos nicht unpolitisch: Eine vehemente Wahlpropaganda entfaltete sich auch in der kurpfälzischen Universitätsstadt, die schon vor 1831 als eine liberale Stadt bekannt war und das etwa durch die Wahl ihrer Mitbürger Winter und Speyerer in den Landtag demonstriert hatte. Doch wie in Mannheim und anders als in Offenburg oder Freiburg fehlte hier eine starke >konservative< oder altmagistratliche Partei als Erbin der Ratsoligarchie des 18. Jahrhunderts, weil die handelsbürgerliche Opposition schon seit etwa zwei Jahrzehnten in die Funktion einer politischen Elite hineingewachsen war, so daß der Wahlkampfsich nicht eigentlich als Parteikampf entwickelte, sondern als Konkurrenz zweier liberaler Kandidaten um das Bürgermeisteramt: Winter und Speyerer; beide, der Buchhändler wie der Lederfabrikant, waren Repräsentanten der wirtschaftlichen Führungsschicht der Stadt, von denen der erste freilich politisch entschiedener, der zweite gemäßigter war. 123 Nachdem zunächst Winter wie der klare Favorit gewirkt hatte, 124 ging Speyerer Mitte Juli 1832 mit 519 von 1.075 abgegebenen Stimmen relativ knapp als Sieger aus der Wahl hervor. Bei 1.462 Wahlberechtigten betrug die Wahlbeteiligung fast 75 %, ein Wert, der auf die für eine größere Stadt beachtliche politische Mobilisierung hinweist. 125 Unmittelbar darauf, als Gemeinderat, Bürgerausschuß und Zweiter Bürgermeister gewählt werden sollten, wurde die mangelnde Wahlbeteiligung jedoch zu einem prekären Problem, das in den folgenden Jahren auch in anderen Gemeinden immer wieder auftauchte. Nach der Wahlordnung war für die Gültigkeit einer Wahl nicht nur die Stimmabgabe von zwei Dritteln der Wahlberechtigten erforderlich; außerdem mußte mindestens ein Drittel der Wahlberechtigten für einen Kandidaten stimmen. Dieses doppelte Krite109 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35765-2
rium war angesichts des Antretens von mehr als zwei Kandidaten und des Fehlens einer Stichwahl auch bei einem relativ hohen Grad der Politisierung problematisch, und so zog sich die Wahl des Zweiten Bürgermeisters in Heidelberg über rund zwei Jahre hin, bis im Juli 1834 der Kaufmann Ritzhaupt, politisch eher rechts von Speyerer angesiedelt, das Amt gegen seinen Hauptkonkurrenten Winter erlangte. 126 Zu diesem Zeitpunkt galt bereits das Zensusgesetz von 1833, das in Heidelberg über die Hälfte der Bürger von der Wahlberechtigung ausschloß - wir kommen darauf ausführlich zurück - , und so läßt sich an der Reihe der Heidelberger Wahlen zum Zweiten Bürgermeister zweierlei deutlich erkennen: Die Mobilisierungsschwierigkeiten hatten ihre Ursache nicht primär in einem geringeren politischen Interesse der ärmeren Bürger, denn auch mit Zensus scheiterte die Wahl zunächst wie zuvor. Und, wichtiger noch, die >Parteibildung< zwischen den Anhängern Ritzhaupts und Winters folgte nicht in erster Linie sozioökonomischen Trennlinien, denn das Stimmenverhältnis zwischen diesen beiden Hauptbewerbern veränderte sich durch die Einführung des Zensus kaum; die schließliche Wahl Ritzhaupts war vor allem der Tatsache zu verdanken, daß sich nun weniger Stimmen auf weitere Kandidaten zersplitterten; der radikalere Winter verlor die Wahl nicht etwa deshalb, weil ihm nun die Stimmen der >Proletarier< fehlten. 127 Über einen ähnlich langen Zeitraum zog sich die Wahl des Ersten Bürgermeisters der Stadt Mannheim hin, doch hatte diese Verzögerung völlig andere Gründe. Die mehrheitlich liberale Bürgerschaft wählte den schon seit mehreren Jahren in Mannheim wohnenden, doch erst seit einigen Monaten das städtische Bürgerrecht besitzenden kurhessischen Hofrat und Anwalt Christian Friedrich Gerbel zu ihrem Kandidaten, der unter anderem dafür bekannt war, die Redakteure entschieden liberaler Blätter wie des »Wächters am Rhein« vor Gericht zu verteidigen. 128 Vor der Wahl registrierte Gerbel selber einen »liberalen Aufschwung« der Bürger, »indem sie den ganzen Gemeinderat verändert, im liberalen Sinne constituiert und mich an seine Spitze haben wollen, obgleich ich«, so sah er die bevorstehenden Schwierigkeiten voraus, »nicht Ortsbürger bin«. 129 In der Tat bestimmte der § 13 der Gemeindeordnung unmißverständlich, daß ein Jahr als Bürger angesessen sein müsse, wer Bürgermeister werden wolle, doch vertrauten die Gerbel unterstützenden Bürger darauf, die Regierung werde seine Wahl zulassen und ihn nach Ablauf des Jahres sein Amt offiziell antreten lassen. 130 Bei der ersten Wahl im August 1832 erhielt Gerbel 1.286 von etwa 1.600 Stimmen, während auf seinen Gegenkandidaten, den vom Mannheimer Regierungsdirektor Dahmen vorsichtig unterstützten bisherigen Oberbürgermeister Möhl, nur 220 Stimmen entfielen. 131 Es ist schwer zu sagen, wie die staatlichen Behörden sich verhalten hätten, wäre Gerbel nicht als entschiedener Liberaler bekannt gewesen - formal handelten sie jedenfalls 110 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35765-2
korrekt, als sie der Wahl die Bestätigung versagten. Wie in der Gemeindeordnung vorgesehen, wählten die Mannheimer daraufhin ein zweites und drittes Mal, ohne von ihrem Wunschkandidaten, wie die Regierung wohl vermutet hatte, abzugehen; Gerbel siegte noch zweimal mit der gleichen überwältigenden Mehrheit gegen Möhl, und noch zweimal, zuletzt im Januar 1833, verweigerten die Behörden seine Bestätigung. Daß das klare allgemeinpolitische Votum, welches in diesem Verhalten der Mannheimer Bürger zum Ausdruck kam, bei der unflexiblen Auslegung der Gemeindeordnung zumindest eine Rolle spielte, läßt ein Erlaß des Innenministeriums vom 23. November 1832 vermuten, der als eine Art vorbeugende Rückversicherung für den Fall verstanden werden kann, daß Gerbel doch noch und dann ordnungsgemäß gewählt und seine schließliche Bestätigung als Niederlage der Regierung gegen den Liberalismus in den Gemeinden verstanden werden würde. Zugleich war der Erlaß aber das Eingeständnis eben dieser Niederlage; er markierte frühzeitig den Punkt, an dem Winter die von seiner eigenen Gemeindeordnung geweckten Geister nur noch durch Repression vertreiben zu können glaubte. In dem Schreiben an alle Ämter hieß es in offensichtlicher Bezugnahme auf die Mannheimer Situation, Bedenken gegen die Bestätigung einer Bürgermeisterwahl seien nicht nur dann gegeben, wenn der Gewählte die in § 13 der Gemeindeordnung geforderten Eigenschaften nicht besitze, »sondern es können auch andere Gründe vorhanden sein, welche im Interesse der Gemeinde dringend erheischen, dem vielleicht durch geringe Stimmenmehrheit Gewählten die Bestätigung zu versagen«, und ein solcher Grund war unter anderem dann gegeben, wenn der Gewählte »als ein leidenschaftlicher Mann bekannt ist«. 132 Mit dieser, um es noch vorsichtig zu sagen, großzügig auslegbaren Bestimmung hatten die Behörden seitdem nicht nur in Mannheim ein vorzügliches Instrument zur Hand, um politisch mißliebige Gemeindewahlen verhindern zu können; die von ihnen ersehnte >Ruhe< in den Gemeinden ließ sich damit freilich kaum bewirken. Im Februar 1833 hatte die Regierung zunächst den Kaufmann Heinrich Andriano für ein Jahr provisorisch zum Bürgermeister eingesetzt, im Februar 1834 mußte also erneut und diesmal unter den Bedingungen des Zensusgesetzes gewählt werden. Gerbel erhielt 4 2 8 , Andriano 383 Stimmen, und die Kreisregierung hatte Gelegenheit, den Erlaß vom November 1832 anzuwenden: Ohne Angabe von Gründen, aber ganz offensichtlich wegen seiner politischen Mißliebigkeit wurde dem nun alle formalen Voraussetzungen erfüllenden Gerbel erneut die Bestätigung versagt. 133 In der Stadt und über sie hinaus, und insbesondere in der liberalen Presse, soweit sie sich unter den Bedingungen der Zensur noch frei äußern konnte, erregte diese Entscheidung Aufsehen und Empörung und trug nicht wenig dazu bei, daß Mannheim sich in den folgenden Jahren als entschiedenstes Zentrum der 111 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35765-2
liberalen Bürgeropposition gegen die Staatsbürokratie immer stärker profilierte. 134 Gerbel überlegte noch, ob er weiter kämpfen solle, »und gönne auch dem Dahmen den Sieg nicht, daß ich vom Schauplatz abtrete und ihm freies Spiel lasse«, 135 zog sich dann aber doch zurück, so daß der Wahl Andrianos im Juni 1834 nichts mehr im Wege stand, der wiederum nach frühem Tod nur zwei Jahre später durch Ludwig Jolly abgelöst wurde. Ein ganz ähnlicher, jedoch noch höhere Wellen schlagender Konflikt zwischen Staatsbehörden und liberaler Bürgermehrheit begleitete die Bürgermeisterwahl in Freiburg. 136 Die von Rotteck angeführte Bürgeropposition wollte in ihrem Kampf gegen die >aristokratische< Partei des alten Magistrats, der bis dahin nicht zuletzt in Landtagswahlkämpfen geführt worden war, den entscheidenden Schritt tun und die Magistratspartei um den Altbürgermeister Bannwarth in den freien und demokratischen Gemeindewahlen ihres bis dahin monopolisierten Zugriffs auf die kommunalen Ämter berauben. In der Landtagswahl Ende 1830 hatte sich der Konflikt und mit ihm die Polarisierung der Bürgerschaft bereits scharf zugespitzt und eine Wendung zugunsten der Liberalen genommen, für die Rotteck auf einer Versammlung seine berühmte Rede »Über die Wahlfreiheit« hielt. Die Niederlage vor Augen, trat der gesamte Freiburger Magistrat zurück; Rotteck wurde mit 25 der 31 Wahlmännerstimmen gewählt, nahm dann aber die Wahl im benachbarten Bezirk Kenzingen-bedingen an. In den Jahren nach der Julirevolution war dieser innerstädtische Konflikt, davon haben wir schon gesprochen, in dem Maße, wie sein Ausgang zugunsten der liberalen Bürgerpartei deutlicher absehbar wurde, von einer neuen Polarisierung zwischen Bürokratie und Liberalen überlagert worden, der mit der Schließung der Universität und der Entlassung Rottecks und Welckers seinen vorläufigen Höhepunkt erreicht hatte. Noch kurz vorher hatte die liberale Kampagne für die Freiburger Bürgermeisterwahl in der Presse begonnen, und wenige Tage nach seiner Entlassung schlug der »Schwarzwälder«, ohne seinen Namen zu nennen, unmißverständlich Rotteck als geeigneten Kandidaten vor.137 Erst die staatliche Repression gegen die Stadt und ihre Universität ließen wohl einen großen Teil der Bürger, denen Rotteck vorher zu radikal war, in seine Anhängerschaft überschwenken; »vor 6 Monaten noch«, bemerkte der »Zeitgeist« Anfang Januar 1833, »wäre bei einer Bürgermeisterwahl nicht an Rotteck zu denken gewesen ... Erst die Bundesbeschlüsse und die Maßregeln gegen die Universität ... haben in der öffentlichen Stimmung eine merkliche Veränderung hervorgebracht, und die redlichen Freunde der Verfassung, so verschieden sonst ihre Farbe sein mochte, einander näher gebracht.« 138 Rotteck seinerseits mochte erst durch seine Endassung dazu motiviert worden sein, sich ernsthaft um das städtische Amt zu bewerben, das zeitweise einen Rückzug aus dem Gelehrtendasein bedeutet hätte. Mit aller Kraft und unerlaubten Mitteln versuchten Stadt112 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35765-2
amt und alter Magistrat in den folgenden Monaten gemeinsam, die Wahl Rottecks zu verhindern: Sogar in der offiziellen »Einladung zur Bürgermeisterwahl« des Stadtamts wurde unmißverständlich gewarnt, die Kandidaten sollten auf jenes »unselige und eitle Streben nach dem Phantome einer materiellen Volkssouveränität« verzichten.139 Vergebens: Am 7. Januar 1833 wurden 927 Stimmen - 74,4% der 1.246 abgegebenen - für Rotteck gezählt, auf Altbürgermeister Bannwarth als Gegenkandidaten der >Aristokraten< entfielen nur 272 oder 21,8 %.140 Ohne Angabe von Gründen, aber wie im Falle Gerbeis ein Jahr später zweifellos aus politischen Gründen, lehnte die Regierung die Bestätigung dieser Wahl ab. Statt jedoch, dem Beispiel der Mannheimer Bürgerschaft folgend, Rotteck ein zweites, notfalls ein drittes Mal zu wählen, begann eine erregte Diskussion darüber, ob ein einmal abgelehnter Bewerber überhaupt ein zweites Mal kandidieren bzw. gewählt werden dürfe.141 Eine gewisse Unklarheit des § 11 der Gemeindeordnung in diesem Punkte, die aus seiner mehrfachen Veränderung im Laufe der parlamentarischen Beratung resultierte, war unbestreitbar; dem Wortlaut nach sprach nichts gegen eine Wiederwahl nicht bestätigter Kandidaten, dem Sinne und dem Verlauf der Landtagsverhandlungen nach aber durchaus. Jedenfalls versuchte das Stadtamt Freiburg, nicht willens, eine Wiederholung des Mannheimer Vorgangs zuzulassen, mit einem Erlaß seine Rechtsauffassung durchzusetzen und drohte, bei einer erneuten Wahl Rottecks sofort provisorisch einen Bürgermeister zu ernennen.142 Rotteck selbst reagierte wie ein Rechtsgelehrter, nicht wie ein Politiker: In einer umfangreichen juristischen Erörterung über zwölf Zeitungsspalten legte er umständlich dar, warum seine Wiederwahl zulässig sei; bei der Regierung des Oberrheinkreises legte er Rekursbeschwerde gegen die Entscheidung des Stadtamtes ein und - verzichtete auf eine erneute Kandidatur.143 Während die Freiburger Liberalen Rotteck deshalb »ritterlicher als seine Gegner« nannten, verspottete Ludwig Börne ihn und die Bürger Freiburgs als typische »deutsche Michel«, deren »zweitägiges Heldenfieber« angesichts geringster Einschüchterung durch die Regierung schnell verflogen sei.144 Statt Rottecks wurde am 8. Februar 1833 sein Neffe Joseph v. Rotteck, ein junger Jurist, mit 707 gegen etwa 400 Stimmen zum neuen Freiburger Bürgermeister gewählt und diese Wahl von den Liberalen noch am selben Abend mit einem Fackelzug, der auch Karl v. Rotteck ehrte, als Sieg ihrer Sache gefeiert.145 Es war ein ambivalenter Erfolg; die alte Magistratspartei war zweifellos weiter geschwächt und von einer Schlüsselposition verdrängt worden, aber der neue Amtsinhaber hatte mit seinem Onkel wenig mehr als den Namen gemeinsam, er erwies sich als farblos, ohne politisches Format. Ein Jahr später spitzte sich die Auseinandersetzung der Parteien bei der Gemeinderatswahl im Frühjahr 1834 noch einmal so stark zu, daß Winter und Bekk von Karlsruhe aus zugunsten eines 113 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35765-2
Kompromisses zwischen Magistratspartei und Liberalen zu intervenieren versuchten, dann flauten die Kämpfe ab: Freiburg wurde in den folgenden Jahren anders als Mannheim zu einer konservativ-regierungstreuen Stadt. Insgesamt ist, kann man nach all dem bilanzieren, die Wirkung der ersten Gemeindewahlen nach der neuen Gemeindeordnung in Baden kaum zu überschätzen. Sie bewirkten einen beispiellosen Austausch politischer Eliten an der Basis, in größeren Städten ebenso wie in kleineren und in Landgemeinden; sie bedeuteten in vielen Fällen das Ende des »schädlichen Sippschafts-Einflusses«,146 das Ende von zum Teil jahrhundertealten Oligarchien, Familienclans und Lokaldynastien; sie führten einen Generationswechsel in der Gemeindepolitik herbei und unterstützten das Vordringen des neuen gewerblichen, vor allem des kaufmännischen Bürgertums ebenso wie des Bildungsbürgertums in der Kommunalpolitik. Wichtiger aber noch waren die, im weiteren Sinne, politischen Veränderungen in ihrem Gefolge. Gemeindeordnung und Wahlen wurden in den Kommunen, als habe man lange darauf gewartet, begierig als ein Ventil zum Ablassen aufgestauter Unzufriedenheit in den Bürgerschaften aufgegriffen, und beim Passieren dieses Ventils transformierte sich traditionelle Bürgeropposition in Liberalismus, wurden alte Konflikte neu gedeutet, entstanden aus Faktionen Vorformen von Parteien. Zugleich veränderte sich das Verhältnis von >Staat< und >Gemeinden< rapide; die Politisierung, das Aufgreifen des Liberalismus in den Gemeinden führte zumal angesichts des in den 1830er Jahren immer konservativer werdenden politischen Klimas zu neuen Konflikten, die der Bürokratie schon bald - zu recht - gefährlicher erschienen als die frühneuzeitlichen >ad hoc-Konfliktepolitischen Parteikampf< meinte Treitschke, im wesentlichen dem zeitgenössischen Parteibegriff des Vormärz folgend, die Polarisierung und den Konflikt verschiedener Gesinnungen, und der unverhohlene Anti-Parteien-Affekt des nationalliberalen Historikers wäre sicherlich noch offener zum Ausdruck gekommen, wäre ihm bewußt gewesen, daß Parteibildung im Vormärz nicht nur ein ideenpolitisches, sondern zunehmend auch ein soziales: ein vergemeinschaftendes, ein organisationsbildendes Phänomen war. Im April 1832 verglich Rotteck in einem Leitartikel des »Badischen Volksblattes« die Gemeinde mit der Familie, die »Rat über das, was allen wichtig ist«, halte, und forderte damit die Gemeindebürger auf, sich zu treffen und über ihre gemeinsamen Angelegenheiten zu besprechen; auch darüber, wer bei bevorstehenden Wahlen am besten geeignet sei, die Gemeinde politisch zu repräsentieren. 149 Die Politisierung seit 1830 bewirkte zusammen mit der neuen Gemeindeordnung in der Tat, daß die Kommunikation der Bürger über ihre Gemeindepolitik wichtiger wurde und zugleich demokratischer, sozial offener. Ein anschauliches Beispiel dafür ist die Offenburger Entscheidung im August 1833, die Gemeindeversammlungen nicht mehr sonntags früh um sechs abzuhalten, sondern zur bisherigen Zeit des Hauptgottesdienstes um neun Uhr - der Gottesdienst mußte der nun für wichtiger gehaltenen weltlichen Versammlung weichen und wurde auf eine ungünstigere Uhrzeit vorverlegt. Die Offenburger spürten die symbolische Bedeutung dieses neuen Arrangements durchaus, aber entscheidend war die ganz konkrete Überlegung, mit dem neuen Termin allen Bürgern die Chance zur Teilnahme an der Gemeindeversammlung zu geben: Am sehr frühen Sonntagmorgen waren Handwerker wie Bäcker, Metzger, Schneider und Schuster gewöhnlich noch zu stark beschäftigt; an den Werktagen konnten diejenigen Bürger, »welche vom Taglohne leben müssen«, auf die Arbeit zu verzichten sich nicht leisten. Zur ersten auf den neuen Termin gesetzten Versammlung am 18. August 1833 erschienen 400 Bürger, etwa 80 % der gesamten Offenburger Bürgerschaft. 150 Die institutionellen Möglichkeiten der Gemeindeordnung, und insbesondere die Bestimmungen über die Gemeindeversammlung, wurden in verschiedenen Gemeinden sehr bald für partikulare Ziele eines (liberalen) 115 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35765-2
Teils der Bürgerschaft einerseits, zur >allgemeinpolitischen< Meinungsäußerung der Bürger (oder wiederum eines Teils von ihnen) gegenüber der Regierung andererseits auszunutzen versucht. Nach § 38 der Genieindeordnung mußte eine Gemeindeversammlung auf Antrag von Rat, Ausschuß oder einer Anzahl von Bürgern stattfinden, wenn im Namen der Gemeinde eine Adresse an den Großherzog, die Regierung oder die Kammern verabschiedet werden sollte. Was Winter vermutlich eher als dämpfenden Filter gegenüber allzu radikalen Einzelinteressen intendiert hatte, konnte unter den veränderten politischen Rahmenbedingungen der frühen 1830er Jahre von den Liberalen in den Gemeinden geradezu als eine Einladung begriffen werden, sich mit staatspolitischen Themen jenseits von Bürgernutzen und Allmendeteilung zu beschäftigen und sich zu diesem Zwecke zu treffen, abzusprechen und zu organisieren. Die Bürokratie reagierte darauf hilflos und im Zweifelsfall mit repressiven Verordnungen wie 1832 in Mannheim im Konflikt um die Gemeindeadresse zugunsten der Pressefreiheit, als man sich ungeschickt und juristisch zweifelhaft auf eine Baden-Durlachische Verordnung aus dem Jahre 1779 berief, um die Unrechtmäßigkeit solcher Versammlungen zu beweisen. 151 Zwei Jahre später beriefen sich Freiburger Bürger ebenfalls auf den § 38, durch den sie nicht nur Versammlungen, sondern auch das Sammeln von Unterschriften von Haus zu Haus gedeckt sahen. Die Regierung des Oberrheinkreises erkannte im Unterschriftensammeln ein Mittel von »leidenschaftlichen Parteien ..., sich der Majorität der Bürgerschaft zu versichern«, und sah damit »Zwietracht unter den verschiedenen Parteien der Bürgerschaft« gesät: In solchen Unterschriften-Adressen spreche sich »in der Regel nur der Geist der Opposition oder einer Partei aus«. Das Innenministerium verteidigte in diesem Fall jedoch die prinzipielle Freiheit des Unterschriftensammelns und gestattete es sogar jeder Gruppe von Bürgern, die mit ihrem Anliegen vor der Gemeindeversammlung unterlag, »als Einzelne zusammen zu treten« und ihre Sache weiter zu verfolgen. 152 Politische Treffen und Absprachen blieben außerdem nicht auf den jeweiligen Binnenraum der Gemeinden beschränkt; eine wachsende zwischengemeindliche Kommunikation - wir kommen im nächsten Kapitel ausführlicher darauf zurück - vernetzte den Liberalismus verschiedener Orte, und das versuchten die lokalen Behörden erst recht zu verhindern. Treffen der Bürgermeister und Wahlmänner eines Landtagswahlbezirkes wurden in den 1830er Jahren häufiger und konnten schließlich auch nicht mehr mit dem mehr als zweifelhaften Argument aufgelöst werden, der § 48 der Verfassung garantiere ein freies Mandat der Abgeordneten, zumal solche Zusammenkünfte ohnehin nicht in erster Linie der Instruktion der Deputierten, sondern dem Kennenlernen, der Besprechung allgemeinster politischer Themen, dem Austausch und der Verfestigung politischer Überzeugungen dienen sollten. lS3 116 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35765-2
Wenn hier und im folgenden von >ParteibildungParteien< in den Gemeinden gesprochen wird, ist zunächst eine Klärung des Parteibegriffs notwendig, der dabei zugrundegelegt wird - umso mehr, als die Existenz von Parteien im deutschen Vormärz in der Forschung durchaus umstritten ist, ja, überwiegend verneint wird. Dieter Langewiesche hat - wie viele andere - die Entstehung deutscher Parteien auf die Revolutionsjahre 1 8 4 8 / 4 9 datiert, indem er Organisiertheit und nationalen Rahmen als Kriterien für die Parteibildung hervorhob. 154 Einer nach wie vor weit verbreiteten Auffassung nach konnte es im Vormärz keine Parteien und vor allem keine liberale Partei geben, weil, wie etwa Theodor Schieder zu bedenken gab, die frühliberale Theorie die Legitimität von Interessendivergenzen in der Gesellschaft bestritt. 155 So wichtig (aber sogleich der Differenzierung bedürfend) dieser theoriegeschichtliche Befund ist, darf er doch nicht mit der politisch-sozialen Realität verwechselt werden, auch wenn diese von der liberalen Theorie und Mentalität nicht unbeeinflußt geblieben ist. Nur weil sich Parteien bildeten, konnte der Gegensatz von parteilicher Realität und parteiloser Theorie überhaupt zu einem Hauptdilemma des frühen Liberalismus werden. Dieser Auffassung liegt, das ist damit schon angedeutet worden, ein etwas weiterer Parteibegriff zugrunde, als er gerade in der deutschen Forschung häufig bevorzugt wird, wenn sie eine relativ straff ausgebildete formale Organisation einschließlich hierarchischer Strukturen, die in einer nationalen politischen Führung gipfeln, zum Maßstab der Definition nimmt. Von einer auf Robert Michels und Max Weber zurückgehenden Politik-, Organisations- und Elitelastigkeit dieses Parteibegriffs, der die >horizontale< Dimension der sozialen Massenbasis vernachlässigt, einmal abgesehen, wird damit jedoch der sehr spezifisch deutsche Parteitypus des späten 19. Jahrhunderts zu der in vieler Hinsicht anachronistischen Meßlatte des Vormärz gemacht - Parteien in einem solch engen Sinne gibt es in vielen Ländern bis heute nicht, die gleichwohl auf eine viel längere Tradition der parteilichen politischen Kultur zurückblicken können als ausgerechnet Deutschland. Gerade dann, wenn man die frühe deutsche Parteibildung im internationalen Vergleich diskutieren und einordnen will, empfiehlt sich eine Definition, die den Prozeß der Entstehung von Parteien in einen engen Zusammenhang mit der Fundamentalpolitisierung und der Ausdifferenzierung moderner >Gesinnungen< in der Gesellschaft (und nicht nur in einer kleinen literaten Elite) stellt. 156 Rückt man darum den sozialgeschichtlichen Aspekt der Parteibildung in den Vordergrund, ist ein anderer in der Forschung verwendeter Parteibegriff wiederum nicht spezifisch genug: Man folgt zwar in vieler Hinsicht der zeitgenössischen Verwendung des Wortes >ParteiParteien< bezeichnet, 157 doch waren das fast nie Gruppen >für sichSoziabilität< (M. Agulhon) beruhte. In einigen Städten - wir kommen noch darauf zurück - fand man zugleich formalen Zusammenhalt in einem parteipolitisch gefärbten Bürgerverein; in den meisten Orten ist es zu einer formalen Organisierung von Parteien, mit formalisierter Mitgliedschaft, schriftlich fixierter Satzung und Programm usw., im Vormärz nicht gekommen. Sie war auch gar nicht nötig, denn man kannte sich, traf und besprach sich regelmäßig, wußte um die Gesinnung der Freunde und Gegner und verfolgte seine spezifischen politischen Ziele. Diese Ziele, und das unterstreicht den Parteicharakter solcher Gruppierungen, waren nicht zuletzt auf die Beeinflussung der öffentlichen Willensbildung gerichtet: auf die Durchsetzung von Kandidaten mit einem bestimmten politischen Programm bei Wahlen, zur Leitung der Gemeindepolitik ebenso wie zur Vertretung in der Zweiten Kammer. Jedenfalls im Südwesten Deutschlands - in Württemberg ganz ähnlich wie in Baden, zum Teil auch in den hessischen Staaten und der bayerischen Pfalz - entstand auf diese Weise eine lokal verankerte soziale Massenbasis politischer Parteien nicht erst im Kaiserreich, sondern bereits im Jahrzehnt nach der Julirevolution; sie verbreiterte sich in den 1840er Jahren noch und trug zur besonderen Stärke der Revolution in diesem Teil des Deutschen Bundes bei. Mit der fortschreitenden Parteibildung setzten sich die Zeitgenossen vielfach und zudem differenzierter, als häufig unterstellt wird, auseinander. In der klügsten zeitgenössischen Analyse der »politischen Parteiungen in Baden« nannte der liberale Abgeordnete und Pfarrer Karl Zittel als Gründe für die in Baden besonders starke Politisierung und parteiliche Polarisierung unter anderem die »sehr freisinnige Gemeindeverfassung«, die häufigen Landtagswahlen und das Vordringen politischer Information bis in kleine Dörfer durch eine breit ausdifferenzierte Presse. 159 Die >ParteiungenZwist< weiterwirken, mochte man auch weiterhin an eine größtmögliche Bürger-Eintracht appellieren - in der pragmatischen Politik bekannten sich die Liberalen durchaus dazu, >Partei< zu sein, und sie taten das in den 1830er Jahren umso deutlicher in dem Maße, in dem ihnen die Konservativen bzw. Regierungstreuen eben dies vorwarfen. Die Parolen der Unparteilichkeit und Bürgereintracht wurden nur wenige Jahre, nachdem die Liberalen damit gegen traditionelle Faktionsbildung in den Gemeinden zu Felde gezogen waren, von ihren Gegnern als rhetorische Waffe gegen die liberale Politisierung und Parteibildung entdeckt. »Unser Gemeinderat darf nie eine Partei sein«, forderte etwa ein konservativer Aufruf zur Freiburger Gemeinderatswahl im August 1834, 162 und in einem aus Anlaß heftiger Polarisierung bei den Pforzheimer Bürgermeisterwahlen geschriebenen Gedicht der Konservativen hieß es: »Komm Gemein-Sinn, steige Eintracht nieder/ Und vereine Pforzheims Bürger wieder/ Daß sie wirken jetzt für Aller Wohl/ Biedern Bürgersinn laß neu erstehen«. 163 Als die Liberalen erkennen mußten, daß der Ruf nach Eintracht und Unparteilichkeit von ihren Gegnern gegen sie verwendet wurde, konnten sie in pragmatischer Weise dem Parteibegriff eine durchaus positive Bedeutung verleihen; er meinte, für die öffentlichen Angelegenheiten engagiert zu sein, und »kein Parteimann« war dann nur der, »welcher aus Mangel an Teilnahme für Gemeindeangelegenheiten gar keine Meinung oder etwa eine besondere ganz für sich allein« hat. 164 So wie die badische Gemeindeordnung keinen prinzipiellen Unterschied zwischen Städten und Landgemeinden machte und damit sowohl an die frühneuzeitlichen territorialen Traditionen anknüpfte als auch der vorherrschenden Siedlungs- und Sozialstruktur des deutschen Südwestens entsprach, waren der >GemeindeliberalismusMilieuface-to-facePauperismus< und >Proletariat< bezeichnete, war hier mindestens in den 1830er Jahren, zum Teil noch länger, unbekannt. Die Vision einer republikanisch verfaßten >klassenlosen Bürgergesellschaft< 120 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35765-2
konnte hier ebenso an die Vergangenheit anknüpfen, wie sie für die Zukunft möglich schien. Das traf für die Dörfer und kleinen Landstädte viel weniger zu, obwohl auch in ihnen spezifische ältere Konflikte durch den Liberalismus, der eben deshalb an Attraktivität gewann, neu interpretiert werden konnten. Die alte >Resistenz< gegen die >Herren< konnte mit einer spezifischen Adaption liberaler Ideologie wirksam ausgedrückt werden; »in jedem Dorfe« standen sich dann »Liberale und Aristokraten« gegenüber, 165 wobei letztere Adlige und staatliche Beamte ebenso umfaßten wie die eingesessene Dorf->AristokratieverbürgerlichteHerren< zählten, war der Grat zwischen dörflichem Liberalismus und lokalistischem Konservativismus schmal. Im gesamten Jahrzehnt nach der Julirevolution und dem politischen Umbruch in Baden entzündeten sich Politisierung und Parteibildung vor allem anläßlich von Wahlen, Gemeindewahlen ebenso wie Land tags wahlen, und in Konflikten zwischen Gemeindebürgertum und staatlicher Bürokratie. Nachdem 1834 die Bürgermeisterwahlen zunächst abgeschlossen waren, begann 1838 in vielen Gemeinden schon der nächste Sechsjahresturnus, und in der Zwischenzeit waren beinahe ständig Ergänzungswahlen zu Gemeinderat und Ausschüssen abzuhalten. So gewann das Bezirksamt Rheinbischofsheim nach einer Visitation der Gemeinden im Jahr 1838 den Eindruck, »durch die so oft wiederkehrenden Wahlen werde in den meisten Gemeinden eine Spannung erhalten, es bildeten sich am Ende Parteien, die zu mancherlei Unordnungen führten und der Gemeinde und den einzelnen Familien Nachteil brächten«, und plädierte mit anderen staatlichen Stellen für eine Verlängerung der Dienstzeit der Bürgermeister - ein Wunsch, der zu dieser Zeit vom Innenministerium noch als geradezu ungehörig verworfen, aber nur fünf Jahre später angesichts weiter zunehmender Spannungen 121 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35765-2
ernsthaft erwogen wurde. 167 Einer manchmal überspitzten Wahrnehmung besorgter Lokalbeamter stand auf der anderen Seite die Schwierigkeit gegenüber, die Bürger für die häufigen Wahlen permanent zu mobilisieren, und war das zum Teil sogar in der erregten Stimmung der Jahre 1832/33 ein Problem, wie wir am Beispiel Heidelbergs gesehen haben, so erst recht einige Jahre später. Offen wurde, wie etwa in Konstanz, zugegeben, »daß endlich auch die hiesige Bürgerschaft durch das Einerlei der allzu häufig sich wiederholenden Gemeindewahlen ermüdet worden ist«. 168 Gerade das Mobilisierungsproblem konnte jedoch die Tendenzen zur Parteibildung fördern: Weil Wahlen häufig wegen einer Zersplitterung der Stimmen auf viele Kandidaten scheiterten und wiederholt werden mußten, wurde die Idee propagiert, sich vor den Wahlen zu treffen und mit Gesinnungsfreunden über die Kandidaten abzusprechen. 169 Diese Art der Wahlabsprachen hielt in den 1830er Jahren noch einen diffusen Schwebezustand zwischen der >traditionalen< Form der Absprache unter >Honoratiorenmoderner< Parteibildung und >Listenwahlnaturwüchsiger< Honoratiorenauslese« wurden auf regelmäßigen Versammlungen, den sogenannten >Wahl-KlubbsHonoratiorenlokalisiert< wurde, daß sie sich im vertrauten Rahmen der Gemeinde abspielte, in dem jeder die Kandidaten, ihre Gesinnung und ihr Verhalten kannte und ihnen sein Vertrauen schenkte - oder eben den Gegenkandidaten vorzog. 174 Insbesondere die pauschale Rede von den >Honoratioren< fuhrt häufig in die Irre. Es ist realistisch unter keinen Umständen zu erwarten, daß Tagelöhner und Hausierhändler in den Landtag gewählt werden konnten, und reiche und angesehene Bürger konnten durchaus das Vertrauen der Wähler genießen - ob sie es taten, muß in jeder einzelnen politisch-sozialen Konstellation, die im Nachbarort schon wieder ganz verschieden sein konnte, überprüft werden. Noch bei den Wahlen von 1830 versuchten die alten Vögte häufig, ihre Vertrauensmänner auf hergebrachte Weise zu Wahlmännern bestimmen zu lassen: Der Gemeinderat setzte sich, so klagte ein Wahlmann aus Weisweil bei Kenzingen, vor einen Tisch, ließ die Bürger nacheinander vortreten und sie die Wahlmänner nennen - mit der sicheren Folge, daß stets die Männer des Gemeinderates, obwohl sie das Vertrauen der Bürger nicht genossen, genannt wurden. 175 Aus anderen Orten wurde zur gleichen Zeit jedoch gemeldet, es seien zwar »wieder lauter Gemeindevorsteher als Wahlmänner erwählt worden«, doch würden diese aller Voraussicht nach für einen liberalen Kandidaten stimmen; 176 und zumal nach den Gemeindewahlen von 1832/33 kann die nach wie vor häufige Entscheidung für kommunale Mandatsträger in den Landtags- bzw. Wahlmännerwahlen nicht mehr einfach als eine unpolitische Honoratiorenwahl traditionaler Art gewertet werden: Bürgermeister und Gemeinderäte waren demokratisch legitimiert; sie repräsentierten in zunehmendem Maße eine politische Partei, die man unterstützte, und führten diese im Ort an; warum sollte man sie also nicht auch zu Wahlmännern machen? Wenn die Forschung über deutsche Parteien und Kommunalpolitik im 19. Jahrhundert den Honoratiorenbegriff so gerne als Metapher für traditionale Eliten und traditionale Herrschaftsformen verwendet, übersieht sie meist, daß die Führungsschicht des Vormärz, wie vorne gezeigt worden ist, häufig schon eine neue Führungsschicht war, die die jahrhundertealten frühneuzeitlichen Eliten abgelöst hatte - der >Honoratior< war dann, wenn man so will, eine politisch-soziale Innovation des Bürgertums im 19. Jahrhundert, die eine auf >Ehre< und Vertrauen gegründete Herrschaft erst etablierte, die es zuvor nicht gegeben hatte. Selbst in Württemberg, wo das > Honoratioren turn < der alten Schreiber eine viel konkretere Bedeutung als geschlossene soziale Gruppe hatte als in Baden, verschwammen die Grenzen nach 1830 zusehends; Liberalismus und Honoratiorentum schlossen sich nicht mehr aus. 177 123 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35765-2
Der Honoratiorenbegriff ist also politisch wie sozial viel zu unspezifisch und mit irreführenden Konnotationen behaftet, um hier sinnvoll verwendet werden zu können. Man kann idealtypisch - in der Realität verschwammen die Grenzen - vier Konstellationen unterscheiden, in denen kommunale Mandatsträger in Baden im Vormärz der Bürgerschaft gegenüberstanden und dann gegebenenfalls auch zu Wahlmännern oder Abgeordneten gewählt wurden. Erstens und vor allem vor 1830 konnte eine solche Wahl ein Ausdruck des Fortbestehens geschlossener Elitezirkel sein, die sich durch ein traditionales, korporatives Bürgerverständnis definierten und nicht demokratisch legitimiert waren: Diesem Muster folgte etwa die Wahl von Adrians und Andre als Vertretern der Freiburger >Magistratspartei< in den Landtag von 1825. Zweitens gab es in den 1830er und 1840er Jahren, vor allem im Odenwald, die kritisch so genannten >AmtsbürgermeisterTüchtigsten< und damit auch Auswärtige in die Kammer zu wählen, wie das 1835 in Offenburg der Fall war, als die Konservativen sich dafür einsetzten, unbedingt einen Bürger der Stadt zum Deputierten zu machen. 178 Dabei war der Karlsruher Beamte Joseph Merk der - schließlich erfolgreiche Kandidat der Liberalen, doch im Zweifelsfall heiligte der Zweck die Mittel, und hätte es andere Kandidaten gegeben, hätten die Offenburger Parteien sich kaum gescheut, ihre Argumente zu vertauschen. Gerade die zunehmende Parteibildung aber läßt den Honoratiorenbegriff, der ein hohes Maß an politischer Konformität voraussetzt, zusätzlich fragwürdig erscheinen, und Landtagswahlen blieben in den 1830er Jahren ein vorrangiges Medium, in dem Politisierung und Parteibildung sich entwickeln konnten. Ein anderes solches Medium war, es ist schon angedeutet worden, der Konflikt zwischen Gemeinden und Staat, der in den 1830er Jahren jedoch eher punktuell auftauchte und erst im folgenden Jahrzehnt seine volle Schärfe ausbildete. Der Gegensatz zwischen >Gemeinde< und >Staat< war ein »Grundfaktor« der Zeit des Vormärz - in der liberalen Theorie ohnehin, aber er wurde zugleich in sozialgeschichtlicher Hinsicht, so hat Lothar Gall geurteilt, »zu einem politisch einigenden Element innerhalb der Bürgerschaft«. 179 In gewisser Hinsicht parallel zur Reform der Gemeindeverwaltung waren Anfang 1832 die staatlichen Mittelbehörden im Großherzog 124 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35765-2
tum reorganisiert worden. Aus den zehn Kreisen der Rheinbundzeit waren zuvor schon durch wiederholte Zusammenlegung sechs geworden; seit Februar 1832 gab es nur noch vier Kreise: den Seekreis, den Oberrhein-, Mittelrhein- und Unterrheinkreis. An die Stelle der Kreisdirektorien traten vier >Kreisregierungen< in Konstanz, Freiburg, Rastatt und Mannheim, die hauptsächlich noch als Aufsichts- und Rekursbehörden der unteren Stellen fungierten; bei den Bezirksämtern lag seitdem eindeutig das Schwergewicht der staatlichen Verwaltung, mit ihnen trat die staatliche Bürokratie den Gemeinden und Bürgern auf unmittelbare, konkret erfahrbare Weise gegenüber. 180 Das mochte die Verwaltung bei gutem Willen der Beamten >volksnäher< machen und war auch als Dezentralisierung, die zu sachgerechteren Entscheidungen führen sollte, intendiert - in erster Linie bezeichnete die Anwesenheit eines Bezirksamtes in einer Gemeinde jedoch eine potentielle Reibungsfläche, einen, so wurde es weithin empfunden, schmerzhaften Eingriff in die Autonomie und Selbstbestimmung des kommunalen Bürgerverbandes. Die Einführung der >bürgerlichen< Zivilkommissäre in der republikanischen Revolution 1849 war schließlich eine Konsequenz dieser über lange Zeit gewachsenen Ressentiments: Gerade weil die Abneigung gegen die lokale Präsenz der >Obrigkeit< eine jahrhundertelange Tradition hatte, also nicht erst in Opposition zum rheinbündischen Beamtenstaat des 19. Jahrhunderts entstanden war, war die Enttäuschung des kommunalen Liberalismus umso größer, daß in einem konstitutionellen Staat und in einer sonst so liberalen Ära die staatliche Bürokratie sich nicht auf die Hauptstadt zurückzog oder ganz abdankte, sondern daß Bürokratisierung und Zentralisierung, vermeindich Relikte der Frühen Neuzeit, sich sogar noch ausdehnten; und je vehementer die Liberalen gegen die Beamten auftraten, desto schärfere Reaktionen, desto mehr Eingriffe in die kommunale Selbstverwaltung provozierten sie. Mit der Gemeindeordnung sollte die Zeit der >Unmündigkeit< der Gemeinden endgültig vorbei sein; als im Januar 1833 ein Erlaß des Staatsministeriums feststellte, Forstämter, Domänenverwaltungen, Amtsrevisorate, Physikate und ähnliche Unterbehörden mit speziellen Aufgaben, die neben den Bezirksämtern existierten, seien dem Bürgermeister und Gemeinderat »vorgesetzte« Behörden, und sich dabei auch noch auf das Reitzensteinsche Organisationsedikt von 1809 berief, das in diesem Punkt weitergelten sollte, war deshalb die Erregung groß. Der »Zeitgeist« machte die Sache bekannt, und nach einer Petition mehrerer Bürgermeister kam der Konflikt, der eigentlich gar kein Kompetenzkonflikt war, sondern eher das symbolische Selbstbewußtsein der Gemeinden verletzte, vor der Zweiten Kammer zur Sprache. 181 Bereits im Jahr zuvor hatte, noch vor den umstrittenen Bürgermeisterwahlen, die lange Geschichte der Auseinandersetzung zwischen Bürgerschaft und Staatsbehörden in Mannheim begonnen, als zwei Kompa125 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35765-2
nien der Bürgerwehr beschlossen, am Geburtstag des Großherzogs nicht zu der üblichen Parade auszurücken. Der eifrige Regierungsdirektor Dahmen erwirkte von dem zunächst zögernden Winter schließlich einen Ministerialerlaß, der die beiden für schuldig gehaltenen Hauptmänner der Kompanien aus ihren Stellen entließ. 182 Im August 1835 nahmen die Auseinandersetzungen in Mannheim erstmals, sieht man von der Nichtbestätigung Gerbeis als Bürgermeister ab, die Gestalt einer direkten Konfrontation zwischen gewählten Gemeindebehörden und der Regierung an. Als der regierungstreue Kaffeewirt und Bürgerwehrhauptmann Joseph Delank, 1832 wohl der Denunziant seiner beiden dann endassenen Kollegen, von Gemeinderat und Bürgerausschuß 68 fl. zur Anschaffung von Pulver, wiederum zur Feier des großherzoglichen Geburtstags, bewilligt haben wollte, verweigerte der Ausschuß das kategorisch: Aus Privatmitteln sei man vielleicht bereit, einen Beitrag zu leisten, nicht aber aus der verschuldeten Stadtkasse, deren Gelder durch Umlagen »auch sehr viele(r) unbemittelte(r) Bürger« aufgebracht werden müßten. Als der Gemeinderat dennoch 40 fl. bewilligte, erklärte der Bürgerausschuß diese Handlung mit 22:2 Stimmen als gesetzwidrig. 183 Nach einigem Hin und Her beharrten zwölf der 22 unter Führung von Elias Gerlach auf ihrer Weigerung, auch als Stadtamt und Kreisregierung festgestellt hatten, dem Bürgerausschuß stehe ein solcher Beschluß nicht zu. Am 8. Juli 1836 statuierte das Innenministerium ein Exempel gegen die »Dreistigkeit« der zwölf liberalen Ausschußmitglieder: Winter verfugte ihre Entlassung und wollte damit der liberalen Opposition nicht nur in Mannheim, sondern im ganzen Land ein scharfes Warnzeichen geben. Bezeichnenderweise ließ Winter das Begehren der Entlassenen, bei der notwendigen Neuwahl wieder kandidieren zu dürfen - »ein Begehren ..., durch dessen Willfahr die gegen die Recurrenten erlassene Verfügung nur illusorisch wäre« - , nicht zu und erkannte damit an, daß die Entlassenen über das Vertrauen eines großen Teils der Bürgerschaft verfugten und mit ihrer Wiederwahl rechnen konnten. 184 Während in Mannheim bereits ein selbstbewußtes Bürgertum den Staatsbehörden gegenübertrat und, wie man unterstellen darf, die Konflikte zum Teil mit voller Absicht auf die Spitze trieb, entstanden Reibungsflächen zwischen Bürgern und Beamten anderswo, in kleineren Gemeinden, zunächst durchaus unbeabsichtigt aus der Umformung der traditionellen Volkskultur und Volksmentalität, wie ein Vorfall in Weinheim im Juni 1834 zeigt. 185 An einem >blauen Montag< saßen einige Maurer- und Zimmerergesellen in einem Gasthaus und sangen politische Lieder. Mit großer Härte gingen Polizei und Bezirksamt nicht nur gegen die Handwerksgesellen, sondern auch gegen die Bürger an anderen Tischen des Gasthauses vor, die die Handwerker verteidigen wollten; eine Menschenmenge versammelte sich vor dem Gasthaus; Handwerksgesellen und Bürger wurden zum Amt126 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35765-2
haus geführt und verhört; aus Weinheim rief das Amt zusätzlich Gendarmen herbei; und einige als liberal bekannte Bürger mußten Hausdurchsuchungen über sich ergehen lassen, bei denen unter anderem eine >Festordnung< für das Weinheimer Preßfreiheitsfest des Vorjahres und Porträts von Rotteck und Itzstein zutage gefördert wurden. Aus einer gewöhnlichen >Wirtshausaffáre< war durch das ungewöhnlich scharfe Vorgehen der Behörden ein die ganze Stadt erregender politischer Konflikt geworden, der freilich durch die seit der Bürgermeisterwahl von 1832, in der die Liberalen unterlagen, schwelenden Parteikämpfe mitbestimmt wurde. Der ursprünglich liberale, in den 1830er Jahren immer regierungsfreundlicher auftretende Bürgermeister Grimm stellte sich in dem Konflikt von 1834 sogar offen auf die Seite der Staatsbeamten, indem er einige Tage später einen Aufruf am Rathaus anschlug, der die angeblichen Unruhen verurteilte und die Bürger zu einem »Gehorsam« gegenüber der »Obrigkeit« aufforderte, den sie gar nicht verweigert hatten.186 Daß er sich nicht zuerst auf die Seite der Bürger stellte und ihre Rechte gegenüber der staatlichen Macht verteidigte, trug zu seiner wachsenden Unbeliebtheit bei und stärkte die Reihen der Weinheimer Liberalen, die sich 1838 mit der Wahl des entschieden liberalen Gerbermeisters Philipp Kraft zum Bürgermeister politisch durchsetzen konnten. >Liberal sein< und mit der Regierung sympathisieren - das bezeichnete in den 1830er Jahren eine Spannung, die immer mehr zu einem krassen politischsozialen Gegensatz wurde.
5. Geldaristokratie, Parteigänger und Proletarier. Die Gemeindegesetze von 1833 und 1837 und ihre Folgen Im August 1832 erschien ein wenn nicht von Rotteck verfaßter, so doch von ihm als Herausgeber höchstwahrscheinlich gutgeheißener Artikel im »Badischen Volksblatt«, der unter der rhetorisch fragenden Überschrift »Ist es gut, daß alle Gemeindebürger wahlfähig sind?« nur wenige Monate nach der Einführung der Gemeindeordnung erneut die Frage eines Wahlzensus aufwarf. Er erinnerte an den Gesetzentwurf und die Zurückweisung des Zensus durch die Mehrheit der Zweiten Kammer und verwies auf angeblich bereits in den Gemeindewahlen gewonnene Erfahrungen, die diese Entscheidung als schweren Fehler erscheinen ließen: »Fast überall, wo die Classe der Armen und unselbständigen Bürger - die Candidaten der Spital- und milden Stiftungen - bedeutend ist«, griff der Autor das zentrale Argument des Liberalismus für den Zensus auf, »werden diejenigen zu Bürgermeister und Gemeinderäten gewählt, welche von den Feinden der patriotisch gesinnten Bürger vorgeschlagen werden, ... weil sie meistens bisher im Besitze dieser 127 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35765-2
Stiftungen und der Gewalt waren, somit die Tagelöhner in Furcht erhalten.« 187 Die Abhängigkeit ärmerer Bürger mochte mancherorts zu Wahlentscheidungen gegen den Liberalismus geführt haben - genauso gut konnte aber auch das Gegenteil der Fall sein, und der Autor des »Badischen Volksblattes« gab denn auch zu, daß ihm die »Proletarier« ganz allgemein nicht geheuer waren; die »Geld-Aristokratie« sei jedenfalls jener »des Pöbels« allemal vorzuziehen. Innerhalb des badischen Liberalismus bezeichnete das, erst recht nach den glänzenden politischen Erfolgen der ersten Gemeindewahlen, eine klare Minderheitsposition, aber sie wurde geteilt von der Karlsruher Bürokratie, eben wegen jener >Erfolge Proletarier -Argument vorgezeichnet hatte, nahm die Bürokratie den Erfolg des Liberalismus in den Gemeinden als Erfolg der Unterschichten wahr; allgemeiner gesprochen: sie definierte ein politisches Problem zu einem sozialökonomischen um, das es vorrangig nicht war. Ein Zensus sollte gegen den Liberalismus helfen - dieser Versuch war, im Rückblick betrachtet, von vornherein zum Scheitern verurteilt, aber für die Beamten war es ein langwieriger Lernprozeß, bis sie erkannten, daß Politisierung und Liberalismus durch noch so raffinierte Varianten von Zensus, von indirektem und Klassenwahlrecht nicht mehr zu beseitigen waren, weil sie in der Wahlberechtigung der >Proletarier< nicht ihre primäre Ursache hatten. Dafür handelte die Bürokratie sich eine vier Jahre praktisch ununterbrochen dauernde intensive Beschäftigung mit dem Gemeindewahlrecht und heftige Auseinandersetzungen auf den Landtagen von 1835 und 1837 ein, bis ein neues Gemeindewahlgesetz beschlossen war, das die erhoffte politische Wirkung dennoch nicht zeitigen konnte. 188 Um die eigenen Vorstellungen diesmal ungetrübt durchsetzen zu können, anstatt sich auf eine langwierige Diskussion und die Verwässerung durch die liberale Landtagsmehrheit einzulassen, wartete man im Innenministerium den Schluß des Landtags von 1833 - Mitte November - ab, hielt dann aber eine neue Regelung des Gemeindewahlrechts für so dringend, daß man bis zum nächsten Landtag von 1835 nicht mehr warten wollte; offiziell deshalb, weil die ersten Gemeindewahlen noch nicht überall durchgeführt waren und anderswo die Erneuerungswahlen 1834 schon wieder bevorstanden. 189 Am 2. Dezember leitete das Innenministerium eine entsprechende Vorlage an das Staatsministerium zur Beschlußfassung weiter, die zunächst die allgemeinen Motive einer Wahlrechtsänderung entwickelte und dann - etwas ungewöhnlich - dem Großherzog und seinen Beratern zwei unterschiedliche Gesetzentwürfe zur Auswahl präsentierte. Der Vollzug der Gemeindeordnung, so Bekk und Winter, habe die gehegten »Befürchtungen« bestätigt, indem »da und dort die niedrigste Klasse der Bevölkerung durch Parteigänger mißbraucht« worden sei. Nicht nur in 128 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35765-2
Städten, sondern auch in Landgemeinden habe »der unvermögliche Teil der Bürgerschaft häufig aus unlauteren Absichten eine nachteilige Wahl durchzusetzen (versucht), so daß behauptet wird, es habe da und dort ein Wahlkandidat den Sieg nur darum davongetragen, weil er der unvermöglichen Klasse der Bürger Nachlaß ihrer Schuldigkeiten zur Gemeindekasse oder größere Freigebigkeit in Verteilung des Gemeindegenusses zugesichert habe«. 190 Daß die deshalb eingekommenen Beschwerden und Abänderungsanträge aus den Gemeinden so zahlreich waren, wie im Innenministerium zur Rechtfertigung des eigenen Vorgehens unterstellt wurde, ist sehr zweifelhaft, 191 doch waren Bekk und Winter wohl subjektiv überzeugt, einem gravierenden Problem gerade in kleineren Gemeinden auf die Spur gekommen zu sein. Deshalb orientierte sich der erste, von Bekk angefertigte Entwurf an dem Mittermaierschen Kommissionsvorschlag von 1 8 3 1 , wollte den Zensus aber erstmals auf alle Gemeinden einschließlich der kleinsten Dörfer ausgedehnt sehen: Das Wahlrecht sollte an ein Steuerkapital von mindestens 2.000 fl. in den vier größten Städten, von 1.500 fl. in allen übrigen Städten über 3.000 Einwohnern und von 800 fl. in allen anderen Gemeinden gebunden sein. Die Grenze von 800 fl. orientierte sich an der Festsetzung des sogenannten >persönlichen VerdienstkapitalsBürgerlichkeit< entschieden wurde. Schon vor dem Dezember 1833 tauchte bezüglich der Wählerklassen bei den Bürgerausschußwahlen das Problem auf, in welche Klasse die nur der Klassensteuer auf Gehalt, Honorar und Pension unterliegenden Bürger einzuordnen wären. Gerade in Städten mit vielen Staatsdienern wie Freiburg oder Mannheim fühlten sich die zur sozialen Elite gehörenden Beamten gegenüber viel weniger verdienenden Handwerkern zurückgesetzt, die aufgrund eines relativ geringen Kapitals im Ortssteuerkataster dennoch ein >besseres< Wahlrecht innehatten. Die Regierung entschied jedoch konsequent, daß die Klassensteuer bezahlenden Bürger, »was auch immer die von ihnen bezahlte Klassensteuer betragen mag«, bei den Ausschußwahlen zu dem niedrigst besteuerten Drittel der Bürger, 130 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35765-2
zu dem auch Handwerksgesellen und Tagelöhner gehörten, zu rechnen seien. 198 Mochte das vor der Einführung des ungleichen Wahlrechts 1837 nur eine Prestigefrage sein, stellte sich das gleiche Problem mit dem Zensus für die Bürgermeister- und Gemeinderatswahlen krasser dar. Die Freiburger Kreisregierung, deren Beamte davon selber potentiell betroffen waren, brachte im März 1834 ihre Verwunderung darüber zum Ausdruck, daß die gutverdienenden »Beamten und Pensionärs ..., welche Ortsbürger von Freiburg sind, aber kein Haus, keine Grundstücke und kein Gewerb besitzen, sondern bloß von ihrer Pension oder Besoldung leben, und von derselben eine Klassensteuer bezahlen, welche vielmal größer ist als die Gewerbsteuer eines gewöhnlichen Handwerkers«, im Gegensatz zu diesem nicht wählen durften: »Wenn z.B. ein Schneider gar keine Liegenschaften hat«, wiesen die Freiburger Beamten arrogant auf die vermeindich durcheinander geschüttelte soziale Hierarchie der Stadt hin, »aber eine Gewerbsteuer von 6 fl. 4 0 kr. bezahlt, so hat er ein aktives Wahlrecht: warum soll nun der Beamte, welcher 30 fl. Klassensteuer bezahlt, keine Stimme haben, da doch unverkennbar diese Klassensteuer weiter nichts ist, als die Gewerbssteuer der Beamten?« 199 Das war sie aber in einem entscheidenden Punkt nicht: Die Klassensteuer stand außerhalb der Strukturen des korporativen Gemeindebürgerverbandes und der durch ihn begründeten Rechte und Pflichten - konkret: die Umlagebeiträge der Bürger zur Gemeindekasse hingen allein vom Ortssteuerkapital der Liegenschaftsbesitzer und Gewerbetreibenden ab und nicht von der Klassensteuer; der Schneider zahlte also dafür, der Regierungsdirektor unter Umständen nicht. An dieser Stelle zeigte sich, was die ursprüngliche Gemeindeordnung von 1831 verdeckt hatte: Bürger- und Partizipationsrechte in der Gemeinde waren kein verkleinertes Abbild staatsbürgerlicher Prinzipien, sondern immer noch in vieler Hinsicht Teil des alten stadtbürgerlichen Rechtssystems. Das bestätigte auch das Innenministerium, als es den Anspruch der Klassensteuer zahlenden Beamten auf das Gemeindewahlrecht prompt zurückwies, »da sie auch nichts zu den Gemeinds-Umlagen beitragen«. 200 Partizipationsrechte in der Gemeinde bemaßen sich trotz des Zensus nicht per se an besitzbürgerlichen Kriterien, die die Freiburger Beamten so unverhüllt eingeklagt hatten. Dieser den ganzen Vormärz über fortdauernde Schwebezustand, der angesichts der erhöhten Mobilität und eines langsamen Anwachsens der akademischen Berufe immer prekärer wurde, muß bei der Analyse politischsozialer Ungleichheit in den Gemeinden immer in Rechnung gestellt werden. 201 Für die Gemeinden wie für die Karlsruher Bürokratie war dieser Zustand freilich noch ganz selbstverständlich. Viel stärker beunruhigte Winter die Tatsache, daß das Zensusgesetz den von ihm vorgeschlagenen relativen 131 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35765-2
Maßstab nicht enthielt, also bei gleichem Zensus in einer Gemeinde die Hälfte, in einer anderen nur ein Viertel der Bürger vom Wahlrecht ausgeschlossen wurde. Außerdem befürchtete er wohl, der Zensus könne übers Ziel hinausgeschossen sein und vielerorts nicht nur den >Proletariernlokalistische< Sichtweise der Bürokratie, die die einzelne Gemeinde als zentrale Einheit betrachtete und ihr den Vorzug vor einer absoluten und individuellen, nach staatsbürgerlichem Denken eigentlich näherliegenden Gerechtigkeit gab. Trotz wiederholtem Drängen hatte er aber keinen Erfolg, sondern wurde zunächst aufgefordert, überall im Großherzogtum genau erheben zu lassen, wie viele Bürger in den einzelnen Gemeinden seit dem 4. Dezember 1833 das Wahlrecht verloren hatten. 203 Es stellte sich, nicht überraschend, heraus, daß die größten Städte am meisten und Landgemeinden am wenigstens von dem Zensus betroffen waren. 204 In den vier größten Städten Karlsruhe, Mannheim, Heidelberg und Freiburg, in denen 2.000 fl. für das Wahlrecht erforderlich waren, wurde zum Teil deutlich mehr als die Hälfte der Bürger ausgeschlossen, in den übrigen Städten mit mehr als 3.000 Einwohnern, in denen der Zensus auf 1.500 fl. festgesetzt war, in der Regel ebenfalls zwischen 40 und 55 % (s. Tabelle S. 133). In den kleineren Städten und Landgemeinden, in denen der größte Teil der Bevölkerung des Großherzogtums lebte, wirkte sich die Grenze von 800 fl. deutlich weniger prohibitiv aus. Im gesamten Amt Konstanz - ohne die Stadt - verloren von 1.213 Bürgern nur 2 5 5 , im Amt Hüfingen von 2.029 sogar nur 2 6 8 , also gerade 13%, das Recht der Bürgermeister- und Gemeinderatswahl. In den vier im Oberrheinkreis zur genauen Erhebung aufgeforderten Ämtern Waldshut, Schönau, Emmendingen und Hornberg behielten, und das war durchaus typisch, mehr als vier Fünftel der Bürger das Wahlrecht. Allerdings wuchs, je kleiner die Orte waren, zugleich die Verschiedenheit zwischen ihnen, weil sich die lokalen und regionalen Unterschiede der Sozial- und Besitzstruktur entsprechend auswirkten. So gab es im Amt Buchen einen kleinen Ort mit nur acht Bürgern, von denen sieben unter die 800 fl.-Grenze fielen und ein einziger, der mehr als 3.000 fl. versteuerte, noch wählen durfte. Das war freilich ein Sonderfall, und der Zensus schloß keineswegs, wie Mack Walker vermutet hat, die Hälfte aller badischen Bürger vom Wahlrecht aus. 205 Weil von den Landämtern nur Stichproben erhoben werden sollten, lassen sich Gesamtzahlen nur für den Oberrheinkreis ermitteln, dessen Beamte ihren Auftrag 132 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35765-2
übereifrig erfüllten. Von 51.188 Gemeindebürgern einschließlich der beiden Städte Freiburg und Endingen waren 12.417, das sind 24,3%, vom Zensus betroffen, 38.771, also 75,7 % oder drei Viertel, genossen weiterhin alle Wahlrechte. Diese Relation von drei zu eins dürfte, ein wenig ungünstigervielleicht im Unterrheinkreis, auch sonst in Baden gegolten haben. Die Freiburger Beamten konnten sich auch eines politischen Kommentars nicht enthalten und befürworteten entschieden die Beibehaltung des Zensus, um die Wahlen nicht »in die Hände einiger Parteigänger und der Proletarier zu geben«. 206 Gemeindewahlrecht in badischen Städten über 3.000 Einwohnern nach dem provisorischen Gesetz vom 4.12.1833 Stadt
Bürger (ges.)
Wahlrecht
in %
Karlsruhe Mannheim Heidelberg Freiburg
1.588 2.345 1.455 1.492
865 974 685 710
54,5 41,5 47,4 47,6
Baden(-Baden) Breisach Bruchsal Donaueschingen Durlach Eberbach Endingen Ettenheim Ettlingen Konstanz Lahr Offenburg Pforzheim Rastatt Villingen Weinheim
704 507 992 434 7S7 635 642 516 517 538 1.036 495 939 705 649 871
379 268 605 195 404 278 460 310 280 329 503 295 476 312 373 456
53,8 52,9 61,0 44,9 51,3 43,8 71,7 60,1 54,2 61,2 48,6 59,6 50,7 44,3 57,5 52,4
(Quelle: GLA 236/13531)
Welche Schlußfolgerung zog Winter aus diesen Zahlen, die seine skeptischen Vermutungen bezüglich der Auswirkung des Zensus ja zum Teil bestätigten? Der Landtag des Jahres 1835 stand inzwischen bevor, und nach der Verfassung mußte das >provisorischepersönlichen Verdienstkapital< von 500 fl. (das zwei Jahre vorher noch auf 800 fl. angesetzt war) eingetragen waren. Das war auch Rottecks persönliche Ansicht, der eine Änderung seiner Meinung freimütig zugab und das nicht zuletzt mit dem 134 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35765-2
konservativer gewordenen allgemeinpolitischen Klima begründete, das gewissermaßen einen Schuß Liberalität nötiger hätte als weitere Restriktion und Repression. Ein Jahr zuvor hatte er in seinem Artikel »Aristokratie« im ersten Band des Staatslexikons dafür plädiert, einen Zensus eher »zu niedrig als zu hoch« zu bestimmen, »ja, besser ist's, man habe gar keinen Zensus als einen, der zu hoch ist, denn die Geldaristokratie wird durch einen solchen furchtbar gesteigert«.211 Vor allem kam es ihm jetzt darauf an, einen qualitativen Maßstab für einen etwaigen Zensus zu finden, und schlug als seiner Ansicht nach einzig plausibles Kriterium die »Selbstständigkeit« vor: Die sogenannten »Fünfhundertguldenmänner« seien als Tagelöhner und Handwerksgesellen nach der Art ihres Erwerbs unselbständig, könnten sich aber bei entsprechendem Fleiß leicht das für das Wahlrecht nötige kleine Vermögen erwerben.212 Im Grunde war das nur eine scheinbar konsistente Lösung, denn einerseits gab es viele wirtschaftlich >Unselbständigeklassenlose Mittelstandsgesellschaft< von kapitalistischer Vermögensungleichheit bedroht sahen. Den die >Parteisucht< als Folge der Gemeindeordnung von 1831 beklagenden Befürwortern des Zensus hielt Welcker ein bemerkenswertes Plädoyer entgegen, das eine parteiliche politische Kultur als notwendige und begrüßenswerte Begleiterscheinung von politischer Freiheit und »Interesse an öffentlichen Angelegenheiten« verteidigte. Itzsteins demokratischer Egalitarismus bekämpfte den Zensus ohnehin mit aller Schärfe.214 Die Mehrheit aber folgte diesmal Rotteck, ein Teil sicher mit der Überlegung, bei einem Scheitern der Beratungen mit dem Fortgelten des wesentlich schärferen Zensus von 1833 rechnen zu müssen. So wurde der >Minimalzensus< gemäß dem Rotteckschen Kommissionsvorschlag am 26. August 1835 mit großer Mehrheit angenommen.215 Der Landtag wurde jedoch geschlossen, bevor die Erste Kammer den Entwurf beraten hatte - es ist gut möglich, daß sie den gegenüber dem Regierungsentwurf doch erheblichen Änderungen der Zweiten Kammer ohnehin nicht zugestimmt hätte. Galt nun das Provisorium von 1833 weiter oder trat - das wäre die ganz strenge verfassungsrechtliche Auslegung gewesen - die ursprüngliche Gemeindeordnung ohne Zensus wieder in Kraft? Oder sollte es eine neue provisorische Verordnung geben? Das war keineswegs eine Frage abstrakter Verfassungsdogmatik, denn in den Ge135 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35765-2
meinden mußten die Unterbehörden tagtäglich und unter dem wachsenden Argwohn der Bürger entscheiden, nach welchen Regeln immer neue Wahlen und Ergänzungswahlen durchzuführen seien. Wegen der bevorstehenden Bürgermeisterwahl in Mannheim nach dem Tod Andrianos erkundigte sich die Kreisregierung mehrmals dringend nach dem gültigen Wahlgesetz, aber das Innenministerium konnte nur auf die noch ausstehende Entscheidung des Staatsministeriums verweisen. 216 Das Landamt Karlsruhe berichtete über die Bürgermeisterwahl in Hochstetten, der rechtliche Schwebezustand provoziere dort »Uneinigkeit« und Parteibildung: »Die Vereinzelungen hören auf, es agglomerieren sich die Individuen zu Parteien selbst da, wo zuvor keine gewesen sind, und es erzeugen sich heftige Kämpfe«. 217 Winter argumentierte, die Regierung sei zur öffentlichen Rücknahme des Gesetzes von 1833 verpflichtet und schlug vor, den von der Zweiten Kammer verabschiedeten Gesetzentwurf von 1835 als neues Provisorium in Kraft zu setzen. Auf keinen Fall dürfe man einen höheren als den von der Kammer beschlossenen Zensus von 500 fl. gelten lassen - das sei man den verfassungsmäßigen Rechten des Parlamentes schuldig, und die Alternative könne nur sein, die Bestimmungen von 1831 wieder gelten zu lassen. 218 Solche liberalen Ansichten hatten Mitte der 1830er Jahre im engsten Führungszirkel, zu dem Winter nicht mehr gehörte, keine Chance mehr; das Problem wurde dort mehr als ein Jahr lang ignoriert, unter der stillschweigenden Voraussetzung freilich, der Zensus von 1833 habe weiterhin Bestand. 219 Währenddessen ließen manche Beamte Gemeindewahlen mit, andere ohne Zensus durchfuhren. Der Konstanzer Kreisdirektor Friedrich Rettig erließ am 17. Mai 1836 eigenmächtig eine Verordnung für den Seekreis, mit der das provisorische Gesetz von 1833 außer Kraft gesetzt wurde, und verteidigte das einige Monate später, als die Maßnahme in Karlsruhe bekannt wurde, mit ungewöhnlicher Frechheit. 220 Rettig gehörte zu jenen >AltkonservativenundeutschFünrhundertguldenmänner< sogar im Prinzip die damalige Begründung Rottecks. In den vier größten Städten dagegen sollten weiterhin 2.000 fl. für das Wahlrecht erforderlich sein, denn »hauptsächlich hier sind solche Proletarier zu finden, deren Einwirkung bei Wahlen tunlichst beseitigt werden muß«. Der Verzicht auf den Zensus in der Mehrzahl der Gemeinden spiegelte eine schmerzliche Erfahrung wider, die die Bürokratie inzwischen hatte machen müssen, und zeigte zugleich ein Grunddilemma der folgenden Jahre auf: Als Hilfsmittel gegen >Unruhenarm< und >reich< einzudämmen, zeigte der Zensus sich nicht nur untauglich, sondern möglicherweise sogar kontraproduktiv, »weil gar oft durch eine solche Abscheidung der Reichen und Armen bei Ausübung der Wahlrechte erst Zwietracht und Unruhe in den Gemeinden, denen dieses als ein ganz neues Institut erscheint, entstehen und Oppositionsgeist hervorgerufen wird, wo keiner ist, der Census also«, so wurde das ernüchternde Fazit ohne Umschweife formuliert, »häufig gerade das Gegenteil von demjenigen hervorbringt, was man damit beabsichtigt«. 224 Politische Spannungen in den Gemeinden entstanden also so oder so - doch verfehlten die Beamten mit ihren sozioökonomischen Erklärungskategorien nach wie vor den primär politischen Charakter der Bewegung und der Konfliktlinien in den Gemeinden. Zugleich enthielt der Gesetzentwurf eine Innovation, die sich schon bald als sehr folgenreich erweisen sollte: Zum ersten Male sah er vor, bei der Klasseneinteilung für die Bürgerausschußwahlen den Gedanken einer proportionalen Vertretung der verschiedenen Vermögen zugunsten eines ungleichen Dreiklassenwahlrechts zu verlassen, wie es zur gleichen Zeit im preußischen Rheinland diskutiert wurde. 225 In der Tat ging der badische Entwurf von 1836 zunächst von dem später im Rheinland und dann in ganz Preußen durchgesetzten Gedanken aus, die Wählerklassen so zu bilden, daß jede eine gleich große Summe von Steuerkapital repräsentierte - ein System, das zu umso größeren Verzerrungen führte, je ungleicher das Vermögen verteilt war. Insofern wären seine Wirkungen in Baden wohl milder gewesen als im Rheinland. Dennoch: Die extremen Konsequenzen einer solchen Klasseneinteilung wurden von Winter sofort erkannt, für das Großherzogtum abgelehnt und mit einer ergänzenden Klausel aufgefangen, die seither den Kern des badischen Dreiklassenwahlrechts ausmachte: Die höchstbesteuerte Klasse mußte unabhängig von der Summe des Steuerkapitals ein Sechstel, die mittlere zwei Sechstel aller wahlberechtigten Gemeindebürger ausmachen, die niedrigstbesteuerte Klasse konnte also höchstens die Hälfte 137 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35765-2
aller Bürger umfassen. Angesichts der realen Struktur sozialer Ungleichheit konnte man es sich leicht ausrechnen,226 daß man die >Hauptbestimmung< direkt durch die ergänzende Klausel ersetzen konnte, und das ist dann ein Jahr später auch geschehen. Das Motiv für ein ungleiches Dreiklassenwahlrecht entsprach dem des Zensus: Vermeidung von >Parteiungen< durch politisches Zurückdrängen der >UnvermöglichenUmfrage< förderte ein sehr gespaltenes Urteil zutage. Der Zensus wurde keineswegs einhellig begrüßt, für eine ablehnende Haltung konnte es aber ganz verschiedene Gründe geben. Während die Seekreisregierung deutlich gegen den Wahlzensus Stellung bezog, wurde er von der Regierung des benachbarten Oberrheinkreises wie schon in der Erhebung von 1834 ebenso eindeutig befürwortet; die Regierungen des Mittel- und Unterrheinkreises sprachen sich wegen der überwiegend nachteiligen Folgen zumindest gegen eine Beschränkung des Wahlrechts in kleinen Gemeinden aus. Auf der Ebene der Bezirksämter ist eine Bevorzugung des Zensus im nördlichen und eine stärkere Skepsis gegenüber diesem Instrument im südlichen Baden zu erkennen, aber zugleich spiegelten die Berichte die persönliche Wahrnehmung der Beamten mindestens ebenso sehr wider wie tatsächliche Unterschiede der sozialen und politischen Verhältnisse in den Gemeinden. Die schroffste Zurückweisung des Zensus traf wiederum und mit den bekannten Argumenten aus der Feder Rettigs aus Konstanz ein, der außerdem noch einmal auf den heiklen Punkt hinwies, daß das Steuerkapital des Ortssteuerkatasters nur einen sehr zweifelhaften Maßstab für das wirkliche Vermögen bildete. Ein Mißbrauch des Wahlrechts ärmerer und abhängiger Bürger durch Bestechungen sei ihm nicht zu Ohren gekommen - und wenn es ihn gebe, würde er durch einen Zensus nicht verhindert werden können.228 Dagegen berichteten mehrere Ämter, auch wenn sie grundsätzlich einen Zensus befürworteten, von »Aufregung« und neuerlichen Spannungen, die das Gesetz von 1833 in den Gemeinden hervorgerufen habe, ja von 138 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35765-2
einer offensichtlichen Mißachtung des Zensus, der »in der Regel von den Gemeinden zur Zeit noch nicht gewünscht wird«, bei einigen Gemeindewahlen im Amte Lörrach. 229 Das Oberamt Emmendingen lehnte einen Zensus in Landgemeinden und Kleinstädten entschieden ab und verwies auf politische ebenso wie auf soziale Veränderungen, die sich im Gefolge von Gemeindeordnung und Bürgerrechtsgesetz vollzogen hätten: Ein stark erhöhtes politisches Bewußtsein ließ auch die ärmeren Bürger ihre Rechte kennen und verteidigen, und mit der Aufhebung des Schutzbürgerstatus waren die alten Abhängigkeitsverhältnisse auf dem Lande - anders als etwa bei den städtischen Fabrikarbeitern - tendenziell aufgelöst worden: »Hier steht der zur ärmern Klasse gehörige Handwerker auf gleicher Stufe wie der reichere, mit dem einzigen Unterschied, daß der letztere eine bessere Existenz hat, und in seinem Berufsgeschäft ein größeres Kapital umsetzt« so beschrieb das Amt den Umbruch von der rechtsungleichen Ständegesellschaft zur rechtsgleichen Klassengesellschaft zugleich als einen konkreten Erfahrungswandel in den Gemeinden, als Entstehung eines Selbstbewußtseins der früheren Schutzbürger, die sehr wohl um den Wert ihrer neuerworbenen politischen und bürgerlichen Rechte wußten, gegenüber den alten lokalen Führungsschichten. 230 In Regionen mit besonders starken Besitzunterschieden in der bäuerlichen Gesellschaft wie vor allem im Odenwald, wo eine sogenannte > Bauernaristokratie < ihre ökonomisch-politische Vorrangstellung sogar durch die gesetzwidrige Weiterpraktizierung des Anerbenrechts zu behaupten versuchte, begrüßten deshalb die reichen Bauern den Zensus, der sie von der lästigen Mitsprache der ländlichen Unterschichten in Gemeindesachen wieder befreite. 231 Eine große Zahl der Ämter befürwortete jedoch eine Wahlrechtsbeschränkung auch in kleineren Gemeinden und verwies dabei mit jener für die Wahrnehmung der Bürokratie in den 1830er Jahren so typischen Vermischung politischer und sozialer Befürchtungen auf die »Erfahrungen« bei der Einführung der Gemeindeordnung, durch deren »unbeschränktes Wahlrecht« »die Wahlen unverkennbar in die unreinen Hände einiger Parteigänger und Proletarier gegeben« worden seien.232 Daß >Parteigänger< und >Proletarier< nicht dieselben waren, daß die liberale Politisierung die Unterschichten und früheren Schutzbürger zwar erfassen mochte, aber meistens nicht von ihnen ausging, wußten die Beamten durchaus; »die Oppositionsmänner in den Dörfern und kleinen Städten, deren es überall gibt«, bedienten sich nur der Leute ohne Steuerkapital, »deren Stimme durch eine Bratwurst und einen Schoppen Wein zu erkaufen ist«, für ihre parteipolitischen Zwecke, und so schien der Zensus als ein Mittel, sowohl die politische Opposition als auch den noch in anderer Hinsicht - etwa auf Gemeindeverwaltung und -finanzen - >verderblichen< Einfluß der vermögenslosen Unterschichten wieder zurückzudrängen. Viele der Berichte lassen spüren, wie 139 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35765-2
groß die Erschütterung durch die Einführung der Gemeindeordnung und die ersten freien Wahlen in den Gemeinden gewesen war; die Beamten konnten noch immer nicht recht verstehen, warum viele der Ortsvorsteher, mit denen sie vielleicht jahrelang gut kooperiert hatten, plötzlich abgewählt worden waren, obwohl sie doch nur ihre »Schuldigkeit getan« hatten. 233 So nahmen viele Ämter die Gelegenheit wahr, die Folgen der Gemeindeordnung insgesamt zu beklagen, die zu häufigen Wahlen ebenso wie die ihrer Ansicht nach zu kurze Dienstzeit des Bürgermeisters, durch die >Parteiungen< in den Gemeinden hervorgerufen worden seien. 234 Politische und soziale Spannungen seit 1831/32 konstatierten die Beamten allenthalben aber sie überschätzten die Folgen und zukünftigen Wirkungsmöglichkeiten einzelner Gesetze, wenn sie mit dem Zensus oder anderen Änderungen der Gemeindeordnung zum >ruhigen< Zustand der 1820er Jahre umstandslos zurückkehren zu können meinten. Zugleich brachten aber so viele Berichte Bedenken gegenüber den Folgen des Zensus zum Ausdruck, daß Winter im Hinblick auf den schon wieder vor der Tür stehenden Landtag von 1837 endgültig von der Vorstellung des Wahlrechtsentzugs über eine Vermögensgrenze Abschied nahm und in der Vorbereitung der Landtagsvorlage die von ihm seit 1833 favorisierte Vorstellung des ungleichen Wahlrechts in den Mittelpunkt rückte. Damit versuchte er zugleich, den Widerstand eines nach wie vor großen Teils der Kammerliberalen zu umgehen, denn die Berichte aus den Ämtern hatten ein weiteres deutlich gemacht: Noch einmal durfte die Änderung des Gemeindewahlrechts nicht scheitern oder mit einem Provisorium überbrückt werden; sollte endlich Ruhe in den Gemeinden einkehren, mußte diesmal ein Gesetz mit der Zustimmung beider Kammern verabschiedet werden. Der Entwurf, den Winter am 22. Januar 1837 vorlegte, übernahm statt eines Zensus die Bestimmungen des Vorjahresentwurfes über die aus ungleichem Wahlrecht hervorgehenden Großen Bürgerausschüsse - mit einer entscheidenden Neuerung: Aus seiner alten Skepsis gegenüber der Gemeindeversammlung zog Winter nun die Konsequenz, Bürgermeister, Gemeinderat und (kleinen) Bürgerausschuß statt von dieser vom Großen Ausschuß wählen zu lassen, also in den Städten die direkte Wahl der Gemeindebehörden zugunsten einer indirekten und ungleichen, aber keinen Bürger ganz von der Partizipation in der Gemeinde ausschließenden Wahl zu beseitigen. 235 Auf der gleichen Linie lagen seine Vorschläge, den Bürgermeistern durch die Zusicherung einer Pension eine sicherere Grundlage für eine stabile und dauerhafte Amtsführung zu geben, doch lehnte er es entschieden ab, die Amtszeit der Bürgermeister zu verlängern oder gar lebenslänglich dauern zu lassen. Besser als viele der Lokalbeamten, die eine >gute alte Zeit< vor 1831 verklärten, konnte sich Winter daran erinnern, daß >Denunziationsprozesse< gegen lebenslängliche Ortsvorgesetzte früher nicht 140 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35765-2
nur Unruhe in die Gemeinden getragen, sondern auch die staatlichen Stellen beschäftigt hatten; er würdigte ausdrücklich die durch die Gemeindeordnung geschaffene Möglichkeit, unbeliebte Bürgermeister von den Bürgern wieder abwählen zu lassen. 236 Im Staatsministerium traf Winters Entwurf auf scharfe Kritik der Konservativen, die erkennen läßt, wie schmal der Handlungsspielraum für das Innenministerium angesichts der zunehmend auch das Großherzogtum Baden erfassenden Reaktionspolitik geworden war. Reitzenstein schimpfte auf die Gesetze von 1831 und hob die Eingliederung der Schutzbürger als einen Fehler hervor, mit dem man »einem wahrhaft radikalen NivellierungsSystem ohnehin schon zu sehr gehuldigt« habe; er wollte den Einfluß der »Proletarier« zurückgedrängt wissen und erklärte sich für einen Zensus. Der immer stärkeren Einfluß am Hof gewinnende Blittersdorff sah ganz ähnlich die Gemeindeordnung »zu sehr demokratischen Prinzipien« huldigen, durch die »eine fortwährende Unruhe und Spannung in den Gemeinden erhalten« werde, und plädierte für eine lebenslängliche Stellung der Bürgermeister und achtjährige Amtsdauer der Großen Ausschüsse - mit dieser Institution war er bereit sich abzufinden, auch wenn er erkennbar einen Zensus vorzog. 237 Angesichts des spürbaren Druckes und Argwohns der Ultrakonservativen vermochte Winter in der Gemeindegesetzgebung immer noch eine relative Liberalität zu behaupten, die seinen Prinzipien entsprach, aber ebenso den pragmatischen Erfordernissen der ständigen Gratwanderung zwischen den Interessen der höfischen und ministeriellen Staatsspitzc einerseits, des Landtags andererseits. Sein Vorschlag einer Pension für Bürgermeister scheiterte, aber er verteidigte im innerbürokratischen Interessenkampf die sechsjährige Amtszeit und das Ausschußsystem gegen >Lebenslänglichkeit< und Zensus. 238 Einen Monat später, im März 1837, brachte er den Entwurf in der Zweiten Kammer ein und mußte sich damit der Kritik von der anderen Seite stellen. Angesichts der weiter geschwächten Stellung der Liberalen im Landtag war bald klar, daß der Regierungsentwurf im Prinzip auf die Unterstützung einer Mehrheit rechnen konnte, spätestens dann, als Eichrodt für die Majorität der Kommission diese Unterstützung zusicherte. 239 Rotteck vertrat die Minderheit der Kommission - und des Landtags - , die das Gesetz strikt ablehnte, und wurde dabei in der Debatte vor allem von Gerbel, Mittermaier und Itzstein unterstützt. 240 Als ursprünglicher Befürworter eines Zensus hatte Rotteck in der Debatte einen schweren Stand: Viele Redner beriefen sich zugunsten des ungleichen Wahlrechts ausdrücklich auf jene Argumente, die er 1831 und zum Teil auch noch 1835 so eloquent vorgetragen hatte, so daß Rotteck jetzt mit seinen eigenen Waffen geschlagen werden konnte. In der Tat zogen Rotteck und die entschiedenen Liberalen einen minimalen Zensus wie jene 500 fl., auf die man sich 1835 schon geeinigt hatte, dem 141 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35765-2
neuen Gesetzentwurf vor, und innerhalb ihrer Weltanschauung, ihrer politisch-sozialen Theorie machte das durchaus Sinn. Während für den Zensus ins Feld geführt werden konnte, daß er einen zu großen Einfluß der reicheren Bürger, die die Abhängigkeit ärmerer ausnutzten, gerade eindämmen und also eher die soziale >Mitte< stärken sollte, bedeutete das ungleiche Dreiklassenwahlrecht unübersehbar eine Stärkung des politischen Einflusses des vermögendsten Drittels der Bürgerschaft auf Kosten aller anderen, und war das schon prinzipiell für den badischen Liberalismus nicht akzeptabel, vermutete Rotteck zusätzlich, die drei Wählerklassen könnten zu >ParteienKlassen für sich< gewissermaßen, werden, zumal die Klasseneinteilung jetzt auch für das passive Wahlrecht gelten sollte. Mit dem Gesetz, das »künstlich drei Parteien (der Reichen, der Mittelreichen und der Ärmern)« schaffe, habe, so Rotteck, »der wahre Gesamtwille ... kein echtes Organ mehr«. 241 Und ein zweiter Punkt kam zu dieser »Herrschaft der Geld-Aristokratie« hinzu, den die Liberalen mindestens ebenso ernst nahmen: die Ersetzung der demokratischen Direktwahl durch eine indirekte Wahl, die Ersetzung der Gemeindeversammlung durch einen Ausschuß, den man als >Parlament< der Gemeinde verstehen konnte. Den Verteidigern des Entwurfs fiel es leicht, eben dies den Liberalen entgegenzuhalten: Auf dem Prinzip der Repräsentation beruhte die konstitutionelle Monarchie; warum also nicht auch die Gemeinde? 242 Hier wurde deutlich, daß die Gemeinde für den frühen Liberalismus nicht schlechthin ein >Staat im Kleinen< war, sondern auf ureigenen Organisationsprinzipien beruhen sollte, die denen des Staates sogar überlegen waren: auf der direkten und unmittelbaren Partizipation aller Bürger, auf der kommunalrepublikanischen Versammlungsdemokratie. 243 Einen einzigen Erfolg konnten die Liberalen in der Zweiten Kammer noch verbuchen: Sie setzten einen Passus durch, nach dem die Gemeindeversammlung, freilich nur vorbehaltlich der Staatsgenehmigung, den Verzicht auf einen Großen Bürgerausschuß beschließen konnte. Mit 35 gegen 26 Stimmen wurde der modifizierte Regierungsentwurf am 24. Mai angenommen, und nur einen Tag später stellte Blittersdorff befriedigt fest, das Gesetz lege den »Haupteinfluß zu den Gemeindeangelegenheiten in die Hände der wohlhabenden Bürgerschaft«, es komme »mehr Stabilität in das Gemeindewesen«, und der Opposition, triumphierte er, werde »der Nerv durchschnitten«. 244 Das erwies sich aber bald als kurzsichtiger Fehlschluß. Nach dem Gemeindewahlgesetz, das im August in Kraft trat, galt in kleineren Gemeinden, sofern nicht die Gemeindeversammlung von sich aus die Einführung eines Großen Bürgerausschusses beschloß, die Gemeindeordnung von 1831 uneingeschränkt fort.245 In allen Städten mit mehr als 3.000 Einwohnern war ein solcher Ausschuß zu wählen, der ein Zehntel der Bürgerschaft, in den vier größten Städten ein Zwölftel, umfaßte, mindestens 142 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35765-2
aber 50 Mitglieder haben mußte. Seine wichtigsten Befugnisse waren die Wahl von Bürgermeister, Gemeinderat und kleinem Bürgerausschuß. Das höchstbesteuerte Sechstel der Bürger bildete die erste, die nächstfolgenden zwei Sechstel die zweite und die niedrigstbesteuerte Hälfte der Bürger (zu der weiterhin auch die nur Klassensteuer bezahlenden gehörten) die dritte jener Klassen, die je ein Drittel des Großen Ausschusses wählten. Nun folgte aber ein entscheidender Clou: Die drei Klassen wählten >ihr< Drittel der Ausschußmänner weder frei noch aus ihrer Mitte, sondern wiederum je zu einem Drittel aus jeder der drei Steuerklassen. Umfaßte der Ausschuß also beispielsweise 54 Mitglieder, hatte die höchstbesteuerte Klasse sechs davon aus ihrer eigenen Klasse, sechs aus der Klasse der mittel- und sechs aus der der niedrigstbesteuerten Bürger zu bestimmen - also 18 und damit ein Drittel; ebenso wählten die beiden anderen Klassen. Durch die Hintertür war damit, was die Zusammensetzung des Großen Ausschusses anging, das alte Prinzip der proportionalen Repräsentation der verschiedenen Vermögensklassen wieder eingeführt worden: Jede der - freilich ungleich großen drei Klassen war gleich stark im >Stadtparlament< vertreten; oder anders formuliert: Unter den Bedingungen der entstehenden Klassengesellschaft sanktionierte das badische Dreiklassenwahlrecht nicht so sehr die kommunale Herrschaft einer bürgerlichen Oberschicht - viel eher garantierte es eine starke Repräsentation der bürgerlichen Unter- und Mittelschichten in der Gemeindepolitik, die bei >freien< Wahlen im Verlaufe des 19. Jahrhunderts immer unwahrscheinlicher geworden wäre. Dem badischen Liberalismus, jedenfalls seiner Theorie und Ideologie, blieb das Gemeindegesetz von 1837 dennoch immer ein Dorn im Auge. Rotteck fuhr fort, gegen das »reaktionäre Gesetz«, das eine »Aristokratie des Reichtums« an die Stelle der »demokratischen Rechtsgleichheit« gesetzt habe, publizistisch zu streiten; 1843 kritisierte Friedrich Daniel Bassermann das ungleiche Wahlrecht in seiner Neckargemünder Rede zürn badischen Verfassungsjubiläum. 246 Sechs Jahre später stand die Wiederherstellung der direkten Wahl der Bürgermeister und Gemeinderäte im Zentrum der Beschlüsse der republikanischen Mairevolution zur Änderung der Gemeindeordnung. In der Praxis dagegen war die Rezeption des Gesetzes in den Gemeinden - und mehr noch seine Wirkung - ambivalent. Es stellte zwar eine absichtliche Übertreibung der konservativen »Freiburger Zeitung« dar, das neue Gesetz finde »allenthalben Billigung«, aber tatsächlich wurden die Einführ ung Großer Bürgerausschüsse bzw. ihre Umstellung auf ein ungleiches Wahlrecht und die indirekte Wahl der Gemeindebehörden in den allermeisten Städten klaglos, jedenfalls ohne nach außen dringenden, sich in Presse oder Petitionen artikulierenden Widerstand hingenommen. 2 4 7 In einigen Städten jedoch, in Pforzheim und vor allem in Konstanz, regte sich erheblicher Widerstand der Bürger gegen das neue Wahlsystem. 143 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35765-2
Am 10. Dezember 1837 wurde in Pforzheim eine Gemeindeversammlung abgehalten, die sich mit klarem Votum: 611 zu 132 Stimmen, einer klaren absoluten Mehrheit aller knapp 1.000 Bürger, gegen die Einführung eines Großen Ausschusses und damit für die Gemeindeversammlung und die gleiche, direkte Wahl der Gemeindebehörden aussprach. Als die staatlichen Stellen diesem Beschluß jedoch die Genehmigung versagten, akzeptierte die Stadt das, ohne sich weiter auf einen Konflikt mit den Behörden einzulassen. 248 In Konstanz entfachten die gerade ein Jahr zuvor gegründeten »Seeblätter« des radikalliberalen Redakteurs Joseph Fickler eine ihrer ersten vehementen kommunalpolitischen Kampagnen, um die Etablierung einer »Vermögensaristokratie« durch den Großen Bürgerausschuß zu verhindern. Die Zeitung wies die Konstanzer Bürger auf die Möglichkeit hin, sich gegen einen solchen Ausschuß zu erklären, und forderte sie eben dazu auf. Am 3. Dezember fand deswegen eine Gemeindeversammlung statt, zu der sich 527 von 625 Bürgern im Theatersaal einfanden. Der liberale Bürgermeister Hüetlin sprach als erster - er lehnte das Ausschußsystem, vermutlich auch aus praktischen Erwägungen hinsichtlich der Funktions- und Entscheidungsfáhigkeit einer Versammlungsdemokratie, nicht rundweg ab. Alle anderen Redner verteidigten jedoch entschieden die Rechte der >Urversammlungvon unten< und noch dazu aus oppositionell-liberalem Geist wollten die Behörden keinen Millimeter Vorschub leisten. Dennoch muß man sich nicht zuletzt im Hinblick auf die politischen und sozialen Folgen vor einer allzu kritischen Bewertung des Gesetzes von 1837 hüten. Es wird noch ausführlich davon zu sprechen sein, wie die Großen Bürgerausschüsse in den 1840er Jahren zu Bastionen des kommunalen Liberalismus wurden, deren Existenz nun wiederum die Bürokratie stärker zu beunruhigen begann als ihre mögliche Abschaffung in einzelnen Gemeinden. Aber auch schon vorher, sogar vor 1837, hatten die Liberalen die Großen Ausschüsse teilweise nicht nur begrüßt, sondern sie bewußt als Mittel zur Durchsetzung ihrer Herrschaft einzusetzen versucht wie 1833 in Offenburg: Während die Partei der alten reichsstädtischen >Familien-Aristokratie< sich dort mehr von einer unmittelbaren Herrschaftsausübung über die Gemeindeversammlung versprach, setzten sich die Liberalen - schließlich erfolgreich - für einen Großen Ausschuß ein, mit dem sie die traditionelle Ausnutzung von Abhängigkeitsverhältnissen durch die alte Herrschaftselite zu umgehen hofften.251 In sozialökonomischer Hinsicht bestätigte sich die Befürchtung Rottecks nicht, die Wählerklassen könnten zu, nach heutigem Sprachgebrauch, sozialen Klassen werden, und vor einer in der Literatur anzutreffenden Identifikation der drei Wählerklassen mit einer städtischen >Ober-Mittel-< und >Unterschicht< muß schon deshalb eindringlich gewarnt werden, weil die >Klassen< reale Einkommens-, Vermögens- und Prestigeunterschiede nur sehr unvollkommen spiegelten. 252 Heinz Boberach hat gegen Heffter überzeugend gezeigt, daß das rheinische Dreiklassenwahlrecht von 1845 jedenfalls nicht in erster Linie auf das badische Vorbild von 1837 zurückzuführen ist,253 und die gravierenden Unterschiede zwischen beiden Systemen dürfen in der Tat nicht übersehen werden. Nicht nur war die Wirkung einer auf der Summe des Steuerkapitals beruhenden Klasseneinteilung zumal bei der gegenüber Baden stärkeren Vermögensungleichheit des Rheinlandes eine ganz andere als die einer Einteilung nach der Zahl der Wähler; das Wahlrecht selbst war und blieb in Baden ungleich weiter gefaßt. Auch nach 1837 durfte im Großherzogtum der weit überwiegende Teil der männlichen Erwachsenen in Gemeindesachen mitbestimmen - im Rheinland waren es Mitte der 1840er Jahre nur knapp 30% der Selbständigen mit eigenem Haushalt. 254 Das Gemeindegesetz von 1837 war zweifellos ein undemokratischer Rückschritt hinter die Gemeindeordnung von 1831. Aber andererseits galt es nur in den Städten und betraf damit die Mehrheit der badischen Gemeinden und Bevölkerung gar nicht, und es darf nicht vergessen werden, daß das 145 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35765-2
Gesetz einen Zensus, der ja 1833 mit einschneidenden Folgen für die Wahlberechtigung schon eingeführt worden war, wieder abschaffte und für die Zukunft vermeiden konnte. So stand am Ende einer heftigen und langjährigen Auseinandersetzung weder die Schaffung einer >Geldaristokratie< in den Gemeinden noch die politische Neutralisierung der >Proletariers und die unausweichliche Aporie jeder Änderung des Gemeindewahlsystems war den klugen Beamten, die weiter sehen konnten als Blittersdorff, in dieser Zeit unübersehbar deutlich geworden: Kein Zensus und kein Klassenwahlrecht konnte der liberalen Opposition noch den >Nerv durchschneiden< >Parteigänger< waren seit 1831 aus den Gemeinden nicht mehr zu verbannen.
6. Zwischenbilanz. Mobilisierung und Kontinuität in den Gemeinden Am Ende des Jahrzehnts kehrte eine relative Ruhe in die badische Innenpolitik ein, doch in dieser Hinsicht spiegelte das Großherzogtum nur die Verhältnisse in anderen deutschen Staaten und im Deutschen Bund insgesamt. Zollverein und Gewerbeentwicklung standen stark im Mittelpunkt der öffentlichen Diskussion; 1838 begann mit dem Beschluß über eine Staatsbahn von Mannheim über Heidelberg, Karlsruhe und Freiburg zur Schweizer Grenze der Eisenbahnbau auch in Baden 2 5 5 - es konnte so scheinen, als folge auf wenige Jahre liberaler Eruption und politischer Bewegung eine lange Phase dynamischer, aber politisch ruhiger ökonomischer Entwicklung der >bürgerlichen GesellschaftAltlasten< des Ancien Régime betrafen: Bauernbefreiung, Adelsgesetzgebung und Gemeindeverfassung, abgeschlossen worden. Schon seit 1833 erschienen die Liberalen von Mal zu Mal weiter geschwächt in der Zweiten Kammer, nach 1837 schien es für ihre starke Präsenz nicht einmal eine besonders dringende Notwendigkeit zu geben. 256 Zudem deutete sich ein Generationswechsel an. Im März 1838 starb Ludwig Winter; sein Beamtenliberalismus hatte eine Brücke zwischen Rheinbundzeit und Vormärz geschlagen. Zuvor ein Kontrahent, begannen die Liberalen ihn nach seinem Tod zu würdigen und zu verehren. 257 Zweieinhalb Jahre später war auch Rotteck tot; sein Bürgerliberalismus hatte eine ähnliche Brücke geschlagen zwischen Spätaufklärung und Revolution, die dennoch fest in einer vormodernen Sozialutopie wurzelte. Erst zu Beginn der 1840er Jahre trat eine jüngere Generation in den Vordergrund und bestimmte das Profil des badischen Liberalismus bis zur Revolution an ihrem Ende. Die Jüngeren spotteten dann über die zweite Hälfte der 1830er Jahre als die Periode des 146 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35765-2
>Krebsgangespolitischen Kultur< führte kein Weg mehr in die Politik des Ancien Regime zurück. Bürgergemeinde und bürgerliche Gesellschaft hatten in den frühen 1830er Jahren eine Symbiose begonnen, traditionale Bürgermentalität und Liberalismus hatten sich als ergänzend und gegenseitig befruchtend erwiesen; die bestehenden Medien der Kommunikation, Vergemeinschaftung und Lokalpolitik wie persönliche Kontakte, informelle Treffen und nicht zuletzt die Gemeindebehörden wurden im Sinne des Liberalismus transformiert, aber weiterbenutzt, und ergänzt durch neue wie die Presse, Versammlungen, Wahlen und zunehmend auch Vereine. Oberflächliche Agitation durch liberale Ideologen, und wären sie noch so fleißig übers Land gereist, hätte dem frühen badischen Liberalismus nicht seine Stärke und massenwirksame Durchschlagskraft verleihen können zumal nicht innerhalb so kurzer Zeit; nur weil er eigenen, älteren politischsozialen Traditionen und Erfahrungen in den Kommunen entsprach und als ein neues Ausdrucksmittel für sie gedeutet und benutzt werden konnte, wurde der Liberalismus in den 1830er Jahren so erfolgreich. Das konnte noch 1830 kaum jemand voraussehen - vielleicht hätte Winter sonst die Gemeindeordnung und das Bürgerrechtsgesetz des folgenden Jahres nicht in dieser Form konzipiert und durchgesetzt. Freilich verband die Bürokratie ihrerseits mit den Gesetzen nicht nur abstrakte Ideale, sondern politische Interessen wie die Beilegung zermürbender Strei147 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35765-2
tigkeiten zwischen Bürgern und ihren unerwünschten, aber nicht absetzbaren Vorgesetzten, doch die Kehrseite des Erfolgs in diesem Punkte war die Entstehung neuer Konflikte und Parteiungen, und die alte Abneigung der Kommunen gegenüber Obrigkeit und Beamten wurde umso wirkungsvoller und für die Bürokratie schmerzhafter, je mehr sich die Gegenseite dabei der Waffen des Liberalismus bediente. Die Frontstellung der Gemeindebürger gegen den zentralen Staat unter dem verbindenden Banner des Liberalismus war erfolgreich, weil sie an alte Ressentiments anknüpfen konnte; sie war angesichts einer oft konservativen und reaktionären Bürokratie des Vormärz auch nicht politisch unbegründet - aber sie sollte auf längere Sicht zu einer prekären Belastung werden. Wenn die unmittelbare soziale Wirkung von Rechtsnormen oft schwer erkennbar ist, war sie jedenfalls in der badischen Gemeindegesetzgebung der 1830er Jahre unübersehbar, und zwar nicht zuletzt deshalb, weil die Gemeindeverfassung und das Bürgerrecht nicht gegeneinander liefen - der Bürokratie das eine, den Gemeindebürgern das andere - , sondern sich ergänzten und einen gemeinsamen Fluchtpunkt hatten: Autonomie nach außen bei gleichzeitiger Vereinheitlichung der lokalistischen Differenzen zwischen den Gemeinden durch den staatlichen Rahmen; rechtliche Egalisierung und demokratische Partizipation auf ungewöhnlich breiter sozialer Grundlage nach innen. Beide Elemente waren in beiden Gesetzen wirksam, und vielleicht dachte der konservative bayerische Regierungsrat Hermann Beisler auch an Baden, als er den neueren deutschen Gemeindeordnungen den »Vorwurf« machte, »daß sie das Land mit einer Menge Republiken bedeckt haben«. 260 Der Schutzbürgerstatus war aufgehoben; das Wahlrecht besaßen alle Bürger und behielten es, von dem Zwischenspiel des gescheiterten Zensus abgesehen, auch; aus den zahllosen individuellen Gemeindebürgerrechten war ein staatlich festgelegtes Gemeindebürgerrecht geworden. Die Gewerbefreiheit war als Problem erkannt, das sich aber einstweilen pragmatisch handhaben ließ: Warum also sollte man auf ein Gemeindebürgerrecht ganz verzichten? Das Festhalten an dieser Institution mußte weder bornierten Konservativismus noch lokalistisches Exklusivitätsdenken signalisieren. Anders als in Preußen gelang in Baden nach 1831 eine enge Verbindung von >Staats-< und >GemeindebürgertumLiberalismus< neu und wirkungsvoll legitimierte eigene Faktion an die Macht zu bringen. Gegen die damit in die Gemeinden eingezogene Politisierung und Parteibildung haif auch kein Zensus und kein Klassenwahlrecht, wie sich zwischen 1833 und 1837 herausstellte: Die frühe Parteibildung erfolgte nicht primär entlang sozioökonomischer Trennlinien; der Machtwechsel in den Gemeinden war keine Machtergreifung der Unterschichten oder der früheren Schutzbürger, sondern der oppositionellen Lokaleliten. Erst in den 1840er Jahren bildete sich mancherorts und zunächst noch unscharf eine Kongruenz von sozialer Lage und politischem Verhalten heraus, wie sie für die bürgerliche Gesellschaft des deutschen 19. Jahrhunderts gemeinhin für typisch gehalten wird. Allenthalben stößt man beim Blick auf die Entstehung des Liberalismus als sozialer Massenbewegung in Südwestdeutschland auf die Bedeutung langfristiger >vormoderner< Traditionen und damit auf das komplizierte Verhältnis von >Modernität< und >TraditionalitätTradition< und >Moderne< typisch, für das Leben des Gemeindebürgertums innerhalb des 149 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35765-2
korporativen Bürgerverbandes ebenso wie für den Liberalismus, seine Mentalität und seine Handlungsformen. Die Symbiose von Bürgergemeinde und bürgerlicher Gesellschaft war keine Fusion; auf eigentümliche Weise lebten beide nebeneinander her, ohne sich auszuschließen, aber auch ohne ein definitives Verhältnis zueinander gefunden zu haben.
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III. Bürgertum und bürgerliche Gesellschaft im Vormärz
1. Der Entwurf einer bürgerlichen Gesellschaft im Übergang Die >nachholenden Revolutionen< des Jahres 1989 in Mittel- und Osteuropa haben auch den Westen an die Entstehungsgeschichte seiner eigenen bürgerlichen Ordnung im 18. und 19. Jahrhundert erinnert. Gegen die Erfahrung der totalitären Staatsmacht setzten die intellektuellen Führer der Demokratiebewegung in Osteuropa das Konzept einer freiheitlichen >Zivilgesellschaft< und knüpften damit an die (auch im Westen) scheinbar längst vergessene Beschreibung einer Gesellschaft an, die in ihrer Konstituierung durch politisch mündige Bürger zugleich den Anspruch einer dezentralen, individualistischen und doch gemeinschaftlich statt herrschaftlich vermittelten politischen Ordnung erhob. Aus diesem Grund zog man den Begriff einer >ZivilBürgerbürgerlichen Gesellschaft< vor: Die hegelianische Trennung, die scharfe Dissoziation zwischen einer auf die sozioökonomischen >Bedürfnisse< reduzierten bürgerlichen Gesellschaft und einem zentralistisch-bürokratischen >Staatpolitical societycivil society< als an Aristoteles an. In jedem Fall aber machte die >Zivilgesellschaft< in den westlichen Demokratien und nicht zuletzt in der (>altenBürgersinnVerstaatlichung< immer größerer Lebensbereiche: All das hatten politisch-soziale Bewegungen ganz 151
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unterschiedlicher Couleur in wechselnden Begriffen zwar seit den 1960er Jahren beklagt. Doch erst vor dem Hintergrund der osteuropäischen Revolutionen und im Kontext der Debatte um die Zivilgesellschaft gewannen die bis dahin eher tagespolitischen Diagnosen eine historische und sachliche Tiefendimension, die vielleicht zum ersten Mal seit Jahrzehnten eine theoriegeschichtliche und historische Reflexion der politisch-sozialen Ordnungen im Westen ermöglichte (und damit auch zur Historisierung des 20. Jahrhunderts beitrug). Die bis in die radikallibertäre Linke hineinreichende Forderung nach einer >EntstaatlichungGemeinsinn< und auf politisches Handeln in regionalen und kommunalen Bezügen 1 verleiht in diesem Sinne dem deutschen Frühliberalismus und seiner Sozialutopie eine politische Aktualität, die nicht mehr - wie noch vor einigen Jahren häufig als konservative Nostalgie abgetan werden kann. 2 Das Verhältnis von Liberalismus und >bürgerlicher Gesellschaft< im Vormärz steht damit erneut und vielleicht deutlicher als je zuvor zur Diskussion. Die These Lothar Galls vom vorindustriellen, ständisch-patriarchalischen Charakter des Frühliberalismus, der sich sozialökonomisch an der Utopie einer >klassenlosen Bürgergesellschaft< ausrichtete und politisch die Trennung von Staat und bürgerlicher Gesellschaft zu negieren versuchte, 3 gewinnt dadurch eine noch größere Bedeutung - und eine neue Pointe: Das Scheitern der frühliberalen Bürgergesellschaft in der Mitte des 19. Jahrhunderts erscheint weniger, wie es auch Gall unterstellt, als Resultat >objektiver< sozialökonomischer Prozesse, der unausweichlichen Sachzwänge von Industrialisierung und Klassenbildung, vielmehr stärker als durchaus kontingentes und auch spezifisch deutsches Resultat politik- und ideengeschichtlicher Weichenstellungen seit den 1840er Jahren. Eine in der Selbstwahrnehmung der deutschen Gesellschaft sich immer schärfer ausprägende Dichotomie von >Staat< und >Gesellschaft< gewann, machtpolitisch von Preußen, theoriegeschichtlich von Hegel und seinen Schülern ausgehend, die Oberhand über das südwestdeutsche Modell einer kommunal verankerten politischen Bürgergesellschaft und erschwerte die intellektuelle Durchsetzung einer modernen >political society< in Deutschland mindestens bis 1945, im preußischen Nachfolgestaat DDR sogar anderthalb Generationen länger. 4 War der südwestdeutsche Frühliberalismus also nur ein vormodernes >AuslaufmodetlVolksgemeinschaft< kulminierte. Insofern garantiert ein souveräner Staat allererst die Freiheit seiner Bürger. 5 Die Klärung solcher Grundsatzprobleme liegt jenseits einer weiteren wissenschaftlichen Erforschung von Liberalismus und bürgerlicher Gesellschaft im deutschen Vormärz - die Lücken der Forschung zu diesem vermeintlichen Lieblingsthema der Historiographie sind bei näherem Hinsehen nicht zu übersehen. Galls Aufsatz von 1975 hatte sich im wesentlichen auf eine ideengeschichtliche Perspektive beschränkt, die zudem stark auf die Theorie einer Elite der südwestdeutschen Professoren, Publizisten und Abgeordneten konzentriert war; in den letzten zehn Jahren ist vor allem in sozialgeschichtlicher Hinsicht versucht worden, als eine Art Ideologiekritik der >klassenlosen Bürgergesellschaft< soziale Struktur und soziale Basis der liberalen Bewegung jenseits dieser Elite präziser zu bestimmen. Die ältere Identifikation des Liberalismus mit >dem< Bürgertum, insbesondere den Interessen des Wirtschaftsbürgertums, erwies sich dabei sehr schnell als nicht haltbar und wurde allenfalls noch in der marxistisch-leninistischen Geschichtswissenschaft der DDR weiter gepflegt. 6 Die vielfältigen Ergebnisse der neueren Forschung zur sozialen Basis des Frühliberalismus lassen sich in ihrem Kern in drei Punkten zusammenfassen. Erstens hatte der Liberalismus des Vormärz über das Bürgertum als soziale Klasse (deren Konstituierungsprozeß damals ja gerade erst begann) hinaus den Charakter einer >VolksbewegungBasis< eine erhebliche Heterogenität und Vielfalt der Trägergruppen bestand, 7 aber auch, wie neuerdings zu zeigen versucht wurde, daß der Liberalismus eine klassenübergreifende und klassenintegrierende Wirkung entfaltete. 8 Zweitens rekrutierte der Liberalismus seine Anhänger in besonders starkem Maße im >KleinbürgertumLiberalismen< unterscheiden, jedenfalls analytisch, denn in der Realität gab es breite Überlappungszonen. 10 Im Südwesten dominierte ein kleinbürgerlicher, in Teilen Preußens ein bildungsbürgerlicher bzw. Beamtenliberalismus; die Rheinprovinz prägte ein Liberalismus der Bourgeoisie. An diesem neuen Bild der Forschung wird sich in der Zukunft vermutlich nur in Nuancen etwas ändern, doch bedarf es trotzdem noch vieler Regional- und Lokalstudien - verstärkt für das von der Forschung des letzten Jahrzehnts vernachlässigte nördliche und östliche Deutschland - , um die soziale Basis des Liberalismus weiter zu erhellen und zu präzisieren. 153 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35765-2
Andere Fragen zur >bürgerlichen Gesellschaft des vormärzlichen Liberalismus sind dagegen bisher noch weniger beachtet worden und sollen deshalb im folgenden im Mittelpunkt stehen. In methodischer Hinsicht fehlt bisher eine Verbindung von Sozial-, Erfahrungs- und Ideengeschichte zu einer modernen >intellectual history< des Frühliberalismus, welche die ideen- und sozialgeschichtlichen Forschungsansätze stärker zusammenfuhrt und dabei umakzentuiert und erweitert. Eine solche Erweiterung bedeutet nicht zuletzt, in sachlicher Hinsicht, über die soziale Struktur hinaus nach dem >Vollzug< der bürgerlichen Gesellschaft an der Basis zu fragen, nach der Bedeutung, die der Liberalismus für soziale Handlung und Erfahrung in der >Volkskultur< gewinnen konnte, in der Alltagswelt z.B. der politischen Gemeinde. Liberale Ideen waren insofern nicht nur ein Elitephänomen, und es müßte eine zentrale Aufgabe der Forschung sein, Ideen und >Mentalität< des volkstümlichen Liberalismus genauer zu bestimmen und sie in Beziehung zu der sozialen Lage und politischen Praxis des Gemeindebürgertums einerseits, zu Ideen und Ideologien der liberalen Elite andererseits zu setzen. Auf diese Weise gewinnt man einen Begriff von politischer, sozialer und kultureller >Bürgerlichkeit< im Vormärz, der in der üblicherweise beschriebenen Bildungsbürgerlichkeit 11 nicht aufgeht. Der Entwurf der bürgerlichen Gesellschaft im badischen Vormärz konstituierte sich in der Verbindung von sozialer Erfahrung und politischer Utopie des Gemeindeliberalismus. Eine solche Perspektive drängt auf eine verstärkte Berücksichtigung von Dimensionen wie Handlung, Vergesellschaftung und Kommunikation in der Sozialgeschichte des frühen Liberalismus hin - Dimensionen, die sich als >Soziabilität< beschreiben und zusammenfassen lassen und mit denen gegenüber einer Sozialstrukturanalyse der >subjektiven< Seite sozialer Prozesse größere Bedeutung beigemessen wird. Vor dem Hintergrund der bisherigen Diskussion über die >klassenlose Bürgergesellschaft< verweist die Frage nach der Soziabilität des vormärzlichen Liberalismus in Baden nicht zuletzt auf das komplizierte Verhältnis von Gleichheit und Hierarchie, von sozialer Inklusion und Exklusion, und damit auf die realhistorische Erfahrung-oder eben Nicht-Erfahrung - der klassenlosen Bürgergesellschaft. Ein solches Mischungsverhältnis strukturierte die Kommunikation nicht nur innerhalb des jeweiligen lokalen Rahmens, im Gemeindebürgertum einer Stadt, sondern in einer zweiten, >vertikalen< Dimension auch in der zwischen- und übergemeindlichen Vernetzung des Liberalismus, die in den 1830er und 1840er Jahren zunehmend wichtiger wurde. Damit wird das Verhältnis von >Volk< und >EliteSpitze< und >Massenbasis< zum zentralen Problem. Die aus der französischen Frühneuzeitforschung übernommene Vorstellung einer Zweiteilung und sozialen Kluft zwischen >Kultur des Volkes< und >Kultur der Elite< (R. Muchembled) kann dabei als ein fruchtbares heuristi154 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35765-2
sches Konzept aufgegriffen werden, und das ist in den letzten Jahren gelegentlich auch schon versucht worden. So wurde der frühe Liberalismus als Elitenideologie zu deuten versucht, die im >Volk< auf eine >widerständige< und >eigensinnige< Unterschichtenkultur prallte; auf eine Kultur, die höchstens unbeabsichtigt politisch handelte, sich im Grunde aber der Politisierung als einer Penetration >von oben< verweigerte und an ihrer >Volkstradition< festhielt. 12 Eine solche Position sympathisiert mit den >kleinen LeutenEliteliberalerhorizontalen< in der Kommunikation mit seinesgleichen und einem >vertikalen< in der engen Vernetzung mit den Wählern seines Wahlkreises oder den Bürgern seiner Heimatgemeinde, in der er zudem kommunalpolitisch aktiv sein mochte; und zwischen diesen Milieus existierten zudem zahlreiche Überlappungszonen. Umgekehrt war das Gemeindebürgertum weder in der Frühen Neuzeit politikunfähig noch nach 1830 in einem Verteidigungskampf seiner >Volkskultur< gegen den Liberalismus begriffen; charakteristisch ist vielmehr gerade, wie das vorne schon etwa am Beispiel der Einführung der Gemeindeordnung gezeigt worden ist, die enge Verbindung von Alltagserfahrung und Liberalismus in der horizontalen und der Wunsch nach enger Kommunikation mit der >Elite< in der vertikalen Dimension. Und bei allen schicht-, bildungs- und erfahrungsspezifischen Unterschieden von Ideologie und politisch-sozialem Bewußtsein kennzeichnete den badischen Frühliberalismus ein großes Maß an Homogenität und Konsistenz seiner grundsätzlichsten Zielvorstellungen; >Eliten-< und >Volksideologie< wiesen eine Affinität zueinander auf, die sich aus gemeinsamer regionaler Erfahrung und Geschichte speiste und wiederum Voraussetzung erfolgreicher Kommunikation war. Bei näherem Hinsehen verschwimmen deshalb die Grenzen zwischen Elite und Volk ohnehin sehr stark; gerade die den frühen Liberalismus in den Gemeinden wesentlich tragende und prägende Gruppe des akademisch ungebildeten, gewerblichen Bürgertums, das >Elite< im lokalen Rahmen, aber von einem Rotteck oder Mittermaier in vielem durch Welten getrennt war, läßt dieses einfache dualistische Schema als der politisch-sozialen Realität nicht angemessen erscheinen. Die Frage nach der >Soziabilität< des frühen Liberalismus macht es 155 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35765-2
insofern umso dringender, der Forderung Wolfgang Schieders zu entsprechen und den Liberalismus in konkreten »Erfahrungsräumen« aufzuspüren, 13 von denen die politische Gemeinde vielleicht der wichtigste, weil tendenziell >totale< ist. Hier läßt sich der Zusammenhang, das selbstverständliche Ineinandergreifen von Gemeindepolitik und kirchlichem Leben, von Festen und Vereinen, von Gewerbe- und Bürgerrechtsproblemen, von ökonomischer Mentalität und politischer Gesinnung verfolgen, und das kann oft erhellender sein, als einzelne Phänomene isoliert zu untersuchen, dabei aber lokal und regional zu abstrahieren und die konkrete lebensweltliche Prägung damit außer Acht zu lassen. Zumal angesichts eines räumlich relativ eng begrenzten Kommunikationshorizontes des größten Teiles der Bevölkerung im Vormärz und einer noch wenig nach >Rollen< ausdifferenzierten Gesellschaft entwickelte sich der frühe Liberalismus in räumlich beschränkten, aber sozial umfassenden >MilieusmodernEinheits- und 156 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35765-2
Freiheitsbewegung< gewesen, muß deshalb stark relativiert werden. Der deutsche Nationalstaat war ein Ziel unter anderen, und gegenüber den konkreten Forderungen an die jeweilige Regierung ein eher diffuses Ziel, insbesondere an der liberalen >Basis< in den Gemeinden. Der Liberalismus arbeitete vielmehr maßgeblich, das läßt sich am badischen Beispiel besonders gut erkennen, an der Ausprägung einer einzelstaatlichen >Nation< mit einer eigenen Identität mit, für die der Ausdruck >Partikularismus< unangemessen ist. 16 Bis in die letzte Phase der badischen Revolution im Jahre 1849 hinein, bis zu den Versuchen der Konstituierung einer badischen >Republikldeologie< sieht, die aus den Schriften einiger Gelehrter in die Welt trat, sondern ihn als eine aus jeweiligen Handlungs- und Erfahrungszusammenhängen von Politik und Gesellschaft >an der Basis< konstituierte Einstellung in den Blick nimmt. Diese regional geprägten Einstellungen und Verhaltensmuster lassen sich, trotz der inflationären und oft unpräzisen Verwendung des Begriffes in den letzten Jahren, vielleicht am besten als eine >Mentalität< des frühen Liberalismus beschreiben. Besser als der Ideologiebegriff weist das Konzept der Mentalität auf ein sehr langlebiges soziales Bewußtsein hin, dessen Wurzeln dem Liberalismus zeitlich weit vorausgingen. Es weist auf die Prägung des sozialen Bewußtseins durch die soziale Lage und Erfahrung hin, ohne eine vorschnelle Abwertung als >falsches Bewußtsein< oder als unmittelbaren Ausfluß von Klasseninteressen nahezulegen. In diesem Sinne verstanden, war die Mentalität des badischen Frühliberalismus in wesentlichen Grundzügen sogar eine klassenübergreifende Mentalität, die bestimmte Wahrnehmungen und Forderungen - etwa >Freiheitkonstitutionelle Verfassung< oder die Skepsis gegenüber einer unbeschränkten Marktwirtschaft - nur mit schichtspezifisch unterschiedlichen Mitteln, in unterschiedlichem Grad theoretischer Ausarbeitung, zum Ausdruck brachte: In der Sprache eines einfachen >Kommunalismus< formulierten die einen, wozu sich die anderen der ambitionierteren Sprache eines >klassischen Republikanismus< bedienten. Damit sind zugleich zwei Konzepte benannt, mit deren Hilfe hier versucht werden soll, die langfristigen Prägungen der liberalen Mentalität in Baden genauer, als das bisher in der Forschung geschehen ist, aufzuzeigen. Während die vormodernen Wurzeln der Arbeiterbewegung des 19. Jahrhunderts in den letzten Jahren von der Geschichtswissenschaft sehr deutlich herausgearbeitet worden sind, 17 sind entsprechende Versuche für die bürgerliche Bewegung und den Liberalismus in Deutschland in 157 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35765-2
systematischer Weise noch nicht unternommen worden. Nicht nur die sozialen Konflikte und politischen Institutionen im Liberalismus des Vormärz, 18 sondern auch die Mentalität, Ideologie und das soziale Bewußtsein standen unmittelbar in der Kontinuität der Frühen Neuzeit und ihrer spezifischen Traditionen im oberdeutschen Raum, und solche regionalen Prägungen beeinflußten nicht nur die liberale Theorie des Volkes, sondern auch die der Elite. Wie das analog für die Arbeiterbewegung gezeigt worden ist, war auch der Liberalismus nicht mit der frühneuzeitlichen Tradition, mit korporativem Freiheitswillen oder reichsstädtischem Bürgerbewußtsein, identisch - es bedurfte, abgekürzt gesagt, des Bruches der Französischen Revolution, um ihn als Synthese aus Überlieferung und Innovation zu konstituieren. Aber wie in der Arbeiterbewegung war auch im frühen Liberalismus die Tradition nicht ein Hemmschuh für den Fortschritt, sondern stellte ein unmittelbar emanzipatorisches Potential unter Beweis. Im Mittelpunkt der politischen wie der sozialen Vision des badischen Liberalismus im Vormärz stand sein Bürgerkonzept, seine Sicht von >Bürgertum< und bürgerlicher Gesellschaft - in diesem Konzept überschnitten und verdichteten sich seine Mentalität und Sozialutopie, sein politisches Ordnungsmodell und die politisch-soziale Erfahrung in den Gemeinden und im Großherzogtum insgesamt. Die, auch semantische, Rekonstruktion des Bürgerbegriffes führt insofern ins Zentrum des liberalen Entwurfes der bürgerlichen Gesellschaft. Korporativer und klassischer Bürgerbegriff, Stadtbürger und Polisbürger verbanden sich zu einer normativen und ethischen Kategorie von >Bürgertumbürgerlicher Gesellschaft< statt auf ihre Trennung zielte. Wenn die politische Ordnung des Frühliberalismus aber nicht der >Staaterziehen< zu müssen, ist die Karlsruher Bürokratie nie und erst recht nicht nach der Julirevolution und der Gemeindeordnung gefolgt. Die wachsende Distanz und Entfremdung zwischen der Bürgergesellschaft des Gemeindeliberalismus und der Bürokratie wird in diesem Kapitel ideologie- und mentalitätsgeschichtlich an der >defensiven< Einstellung des Liberalismus und an seinen politischen Ordnungsvorstellungen, sozialgeschichtlich und semantisch am zunehmenden Gegensatz zwischen >Bürgern< und >Beamten< verfolgt. Das relativ stabile Milieu der Gemeinden, die Konstanz von Bürgerrechts- und Nahrungsproblemen konnte freilich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts die rapiden sozioökonomischen und politischen Transformationsprozesse weder leugnen noch aufhalten; der Liberalismus selbst, obwohl in der kulturellen Umwelt der Bürgergemeinde maßgeblich entstanden, trieb als eine dynamische soziale Bewegung und durch die Konflikte, die er mit der Bürokratie austrug, die beständige Transformation der bürgerlichen Gesellschaft immer wieder ein gutes Stück mit voran. Es gab Reibungen, Bruchstellen und Friktionen auch innerhalb des Liberalismus, die im Jahrzehnt vor der Revolution immer deutlicher hervortraten. Wie man den badischen Liberalismus regional vom rheinischen oder sächsischen unterscheiden muß, war er innerhalb des Großherzogtums in Mannheim anders als in Ettlingen und dort unterschieden vom Liberalismus in einem Dorf des Südschwarzwalds; auch kleinere regionale Muster innerhalb des Großherzogtums könnte man präzise verfolgen, Unterschiede etwa zwischen Seekreis, Rheintal, Schwarzwald und der Gegend zwischen Odenwald und Tauber. Dazu trat ein ökonomisch modernerer Flügel mit Leitfiguren wie Karl Mathy immer deutlicher auf, und wiederum >quer< dazu, mitbeeinflußt von einem Generationswechsel zu Beginn der 1840er Jahre, radikalisierte sich der kommunale Liberalismus bis hin zum Republikanismus der Revolution, auf dessen Gegenseite die Konstitutionellen den >Liberalismus< wiederum neu zu definieren versuchten. Der frühe Liberalismus existierte in einer bürgerlichen Gesellschaft des Übergangs, die, wie man an der Bürgerdefinition ebenso wie an der Sozialstruktur des Vereinswesens erkennen kann, um 1800 anders war als eine Generation früher; die sich in der Mitte der 1830er Jahre gegen das Modell des Jahrhundertanfangs stellte; und die am Ende der 159 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35765-2
1840er Jahre sich erneut neu ausrichtete und definierte. 21 Die vormärzlichen Liberalen registrierten diese Wandlungsprozesse eher im Unterbewußtsein; die eschatologische Utopie einer bürgerlichen Gesellschaft von geradezu zeitloser Stabilität war insofern Symptom einer Übergangszeit und Reaktion auf ein Übermaß an Veränderung. Innerhalb desselben Sozialmilieus von Gemeinde und Gemeindepolitik koexistierten Stabilität und Tradition einerseits, Veränderung und Zukunftsentwurf andererseits in einer für die Zeitgenossen selbstverständlichen, zugleich engen und seltsam berührungslosen Symbiose neben- und miteinander, und langfristig resultierten daraus Widersprüche, die der vormärzliche Entwurf einer bürgerlichen Gesellschaft innerhalb der Gemeinden nicht mehr auffangen konnte.
2. Bürgerliche Vereine in der Gemeinde. Sozialstruktur und politische Entwicklung im Vormärz »Eine der merkwürdigsten Erscheinungen der neuern Zeit in Deutschland ist die zunehmende Bildung von Vereinen, die alle Stände und Stämme in den verschiedensten Richtungen verbinden« 22 - mit solchen und ähnlichen Schilderungen beschrieben die politisch wachen Zeitgenossen im Vormärz unzählige Male die rasante Ausbreitung des Vereinswesens, dessen Bedeutung als neues Grundprinzip gesellschaftlicher Organisation sie durchaus schon erfaßten. Die landwirtschaftlichen und Gewerbsvereine, die Sparkassen, die wohltätigen und religiösen Vereine und nicht zuletzt die städtischen Lese- und Musikvereine konstitutierten sich »nur durch freiwillige Teilnahme der Mitglieder« und waren daher »in ihrem Ursprung republikanisch«. 23 Damit war auch die, im weitesten Sinne, politische Funktion der Vereine, welchen speziellen Vereinszweck sie sich auch immer gesetzt haben mochten, unübersehbar; Welcker etwa wies im »Staatslexikon« in typischer Weise darauf hin, der »allgemeine Staatsverein« sei »für den einzelnen Mann zu fern und abstract, so daß erst die kleinräumige, persönliche Vergemeinschaftung in den »neuen freien Vereinen« zur »frische(n) Lebensquelle von Tätigkeit und Bildung, von Wohlstand und Kraft der Bürger und des Staats« werden könne: »Sie entwickeln vor allem das höhere Lebensprincip, den Gemeingeist, die Quelle des Herrlichsten und Größten.« 24 Die große Bedeutung des Vereinswesens für die beginnende >Selbstorganisation< der bürgerlichen Gesellschaft in politischer, ökonomischer wie gesellig-kultureller Hinsicht ist seit einiger Zeit auch von der Forschung immer wieder betont worden; in dem immer noch besten Problemaufriß hat Thomas Nipperdey geradezu von einer »Korrespondenz von Vereinswesen und bürgerlicher Welt« gesprochen und im bürgerlichen Vereinswesen des spä160 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35765-2
ten 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts das Paradigma des Übergangs von der »Korporation« zur »Assoziation« als fundamentalem gesellschaftlichen Strukturprinzip gesehen. 25 Nipperdey hatte aber auch auf Lücken und Aufgaben der Forschung hingewiesen, an denen sich fast zwei Jahrzehnte später in mancher Hinsicht noch wenig verändert hat. Das gilt für das Problem der sozialen Basis der Vereine, ihrer Entwicklung in den 1840er Jahren im Spannungsfeld von >Schichtenintegration< und >Schichtendistanzierung< ebenso wie für die Forderung nach Lokal- und Regionalstudien, die insbesondere die politische Vereinsbildung nicht als isoliertes Phänomen, sondern im weiteren Kontext etwa von Kommunalpolitik und sozialer Erfahrung behandeln. 26 In den letzten Jahren hat, häufig aus Gründen der Quellenlage, die Erforschung überregionaler Vereinsbewegungen - etwa der Turner- und Sängervereine 27 - im Vordergrund gestanden, und in einem Forschungsüberblick von Wolfgang Hardtwig sind vor einigen Jahren lokale Bürgervereine und überhaupt der lokale Kontext des Vereinswesens, auch in seiner Bedeutung für die Anfänge von Politisierung und Parteibildung, so gut wie gar nicht berücksichtigt worden. 28 Entwicklung, Bedeutung und lokale Verankerung dieser Bürgervereine, die fester Bestandteil des >Milieus< des frühen Liberalismus waren und in isolierter Betrachtung, ohne die Einbettung in dieses Milieu, nicht verstanden werden können, sollen in der folgenden Skizze im Vordergrund stehen. Innerhalb des politischen Vereinswesens bildeten die relativ dauerhaften Bürgervereine die wichtigste Stütze der Organisierung und Ausdifferenzierung politischer Interessen in den Gemeinden - eine wichtigere als die in letzter Zeit stärker beachteten, spektakulären, aber kurzlebigen Vereinsbewegungen der Griechen- und Polenvereine oder des >Preßund Vaterlandsvereins< von 1832/33, die ebenfalls über lokale >Filialen< verfügten. Aber andererseits ist zu fragen, wie groß die Bedeutung des Vereinswesens insgesamt für die politisch-soziale Vergemeinschaftung an der Basis, für Politisierung und Parteibildung in den badischen Gemeinden des Vormärz gewesen ist. Die Bürger- und anderen Vereine, das sei vorweggenommen, waren in der kleinräumigen >face-to-faceAufklärungsgesellschaft< des späten 18. Jahrhunderts stark beachtet worden, 29 von einem neuen Typus des städtischen Bürgervereins im ersten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts 161 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35765-2
haben wir bereits gesprochen; ein weiterer Einschnitt, mit einer neuen >Welle< von Vereinsgründungen, folgte dann - das ist noch zu überprüfen in den 1830er Jahren. In weiten Teilen Deutschlands und jedenfalls auch im Großherzogtum Baden war diese wesentliche Etappe bürgerlicher Vereinsgründung damit immer noch ein vorindustrielles Phänomen - das ist dem auf die zweite Jahrhunderthälfte fixierten Urteil Tenfeldes, die Industrialisierung »ermögliche« erst die Selbstorganisation der bürgerlichen Gesellschaft, entgegenzuhalten. 30 Zweitens wird die Frage der Politisierung und Parteifunktion der Vereine im Vormärz kontrovers diskutiert. In einer Zeit, in der politische Vereine verboten waren, entwickelte sich, so Nipperdey, eine Dialektik von »Entpolitisierung« und »Kryptopolitisierung«, bei der Geselligkeitsvereine einen latent politischen Charakter annehmen konnten; 31 eine sogar offene Parteifunktion entwickelte der »Preß- und Vaterlandsverein« für ein gutes Jahr nach dem Hambacher Fest. 32 Im einzelnen weiß man aber noch sehr wenig darüber, wie diese politische Funktion - z.B. im Hinblick auf ein Engagement in der Kommunalpolitik oder bei Landtagswahlen - aussah und seit wann und in welchem Ausmaß politisch konkurrierende Vereine in ein und derselben Stadt einen Pluralismus sich bekämpfender Parteien konstituierten; inwiefern, mit anderen Worten, das Vereinswesen den Sprung von einem diffusen, universalistischen Liberalismus zu einer heterogenen, pluralistischen Kultur der Parteilichkeit mitvollzog. Anders als es die Literatur teilweise nahelegt, vollzog sich dieser Schritt jedenfalls in Baden nicht erst in der Revolution 1848. Freilich vollzog er sich, gerade was die vorsichtige Politisierung von Bürgervereinen betrifft, vielfach so unmerklich und abhängig von der jeweiligen lokalen Konstellation, daß dieser Prozeß auch den Zeitgenossen nicht sofort ins Bewußtsein trat. 33 Drittens interessiert, im engen Zusammenhang damit, die Frage nach der sozialen Basis der Vereine, ihrer Veränderung und möglichen Ausweitung, ihres Verhältnisses zur zunehmenden Ausdifferenzierung des Vereinsspektrums. Unbestreitbar ist die generelle Tendenz einer zunehmenden Ausdehnung >nach untenbürgerlichen Gesellschaft< einschließlich ihrer politischen Prägung waren in den deutschen Staaten und Provinzen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts so verschieden voneinander, daß eine verallgemeinerbare Bewertung gerade der lokalen Bürgervereine noch eine Vielzahl von Regional- und Lokalstudien voraussetzt. 36 Die Vereinsgründungen in badischen Städten im ersten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts waren, wie wir vor allem am Mannheimer Beispiel gesehen haben, von der Funktion her geselliger Art und sozial die Veranstaltung einer neu formierten städtischen Oberschicht, zu der Adlige, wenn auch mit abnehmender Bedeutung, ebenso gehörten wie die badischen Beamten des neuen Großherzogtums und die Elite des stadtbürgerlichen Bildungs- und Handelsbürgertums. 37 Insofern bewies dieser Vereinstyp, der zur gleichen Zeit analog auch in kleineren Amtsstädten entstand, gegenüber dem 18. Jahrhundert eine stärkere soziale Integrationskraft, schloß aber das kleine und mittlere gewerbliche Bürgertum, vor allem die Handwerker und Kleinhändler, aus - diese Gruppen blieben gewissermaßen im hergebrachten Rahmen der >KorporationHonoratiorenverein< bezeichnen mag, 38 als Grundmuster des lokalen Bürgervereins konstant. Am Ende der 1830er Jahre aber beschrieben die Zeitgenossen eine soziale Ausweitung und Ausdifferenzierung des lokalen Vereinswesens, die zu einer Zweiteilung der örtlichen Vereinskultur geführt hatte: »Zuerst zeigt sich daher in allen Städten von mittlerer Größe das Bedürfnis eines Vereins für gesellige und wissenschaftliche Unterhaltung der Honoratioren einer Stadt und Umgegend, eines Herrenlesevereins oder Museums, einer Harmonie, und wie die Namen alle heißen mögen. Neben diesem Herrenmuseum zeigt sich früher oder später das Bedürfnis eines Vereins für gesellige und wissenschaftliche Unterhaltung der selbstständigen Bürger, eines Bürgermuseums, Bürgervereins, Gewerbevereins. Die Bürgermuseen oder Lesevereine sind in der Regel am Anfang, besonders in größern Städten, bloße Nachbilder der Herrenmuseen; aber bald zeigen sich bedeutende Verschiedenheiten«. 39 Diese Darstellung aus der »Deutschen Vierteljahrsschrift« von 1839 trifft sehr genau den Kern jener Veränderungen, die sich nach den politischen Umbruchjahren 1830/32 im lokalen Vereinswesen des Großherzogtums Baden vollzogen hatten. Die beispiellose Welle der Mobilisierung und Politisierung nach der Julirevolution, die das kleine und mittlere gewerbliche Bürgertum der Städte erfaßte, ermunterte zur Organisierung in Vereinen, zunächst meist eher aus geselligen als aus politischen Motiven im engeren Sinne. Da die bestehenden Vereine ihre soziale Exklusivität nicht zuletzt durch hohe Mitgliedsbeiträge und eine restriktive Aufnahmepraxis mit Vorschlag durch ein länger eingeführtes Mitglied und anschließender 163 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35765-2
Ballotage - zu wahren suchten und sich von der liberalen Bewegung der frühen 1830er Jahre zum Teil auch politisch herausgefordert sahen - so beschloß das Donaueschinger »Museum« etwa im Juli 1832, das Abonnement des »ächten Schwarzwälders« der »schmählichen Pöbelhaftigkeit« dieser Zeitung wegen zu kündigen 40 - , führte der Wunsch des mittleren Bürgertums nach vermehrter Organisierung und Partizipation in der Regel zu Neugründungen von Vereinen, die sich zwischen 1832 und 1835 zur bis dahin größten Welle lokaler Vereinsgründungen überhaupt verdichteten. An die Stelle der exklusiven und vorpluralistischen Vereinsszene traten Pluralismus und Konkurrenz in sozialer, in vielen Orten, wenn auch von den Mitgliedern der Vereine zunächst häufig diffus empfunden und artikuliert, auch schon in politischer Hinsicht: Bürgervereine bildeten sich, meistens unter dem Namen »Harmonie«, »Eintracht« oder »Lesegesellschaft«, als tendenziell liberale Gegengründungen des mittleren gewerblichen Bürgertums gegen die sich weiterhin als >unpolitisch< verstehenden, die Beamten integrierenden oder sogar von ihnen geführten Elitevereine, gegen das »Casino« oder »Museum«. Schon die Namensgebung war insofern soziales und politisches Programm. Konkret vollzog sich diese Ausdifferenzierung häufig als Abspaltung eines bürgerlich-liberalen Flügels des älteren Vereins, die ihrerseits Konsequenz heftiger vereinsinterner Konflikte über die politische und soziale Funktion lokaler Assoziationen war. In Bruchsal etwa trat ein Teil der Mitglieder aus dem »Museum« aus und gründete die »Harmonie«, als im Frühjahr 1832 Kritik am Finanzgebaren des Vorstandes mit heftigen Meinungsverschiedenheiten über ein Engagement zugunsten der polnischen Freiheitskämpfer zusammentraf. Gegen die unpolitische, gegenüber den >Rebellen< skeptischen Haltung des »Museums« unterstützte die »Harmonie« die Polen und beteiligte sich zugleich an der Organisierung eines eigenen Bruchsaler Polenvereins. 41 Ganz ähnlich spaltete sich in Freiburg drei Jahre später auf Initiative Rottecks, der selber die neuen Statuten entwarf, eine »Harmonie« als bürgerlicher und liberaler Verein von der Museumsgesellschaft ab, die sozial auf die alte Führungselite aus Adel und einer schmalen bürgerlichen Oberschicht von Kaufleuten und Beamten beschränkt blieb und sich politisch weiterhin regierungskonform verhielt. 42 Damit verschob sich zugleich die soziokulturelle >Hegemonie< auf lokaler Ebene in ganz entscheidender Weise: In Freiburg ebenso wie in Konstanz, Mannheim und anderen Städten, in denen der Adel noch in den ersten drei Jahrzehnten eine gesellschaftliche Führungsstellung auch in der Stadtgesellschaft ganz selbstverständlich ausgeübt hatte, wurde er durch die Herausforderung der neuen Bürgervereine, durch deren offensive politische Kraft, die sich mit den neugewählten liberalen Gemeindeführungen verbünden konnte, immer mehr an die Seite gedrängt; er rückte aus dem Zentrum in 164 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35765-2
die zunehmende Isolierung einer eigenen, selbstgenügsamen Geselligkeit, von der aus politisch-kulturelle Dominanz über die Mittelschichten nicht mehr ohne weiteres ausgeübt werden konnte. An den Städten Konstanz und Schopfheim läßt sich exemplarisch erkennen, wie die Veränderung der sozialen Basis der Bürgervereine sich seit der ersten Hälfte der 1830er Jahre mit gemeindepolitischer Aktivität verband und wie durch diese Verknüpfung das überkommene soziokulturelle Ordnungsmuster der Gemeinde außer Kraft gesetzt wurde. Diese Ordnung wurde angesichts einer ganz handwerklich geprägten Gewerbestruktur in Konstanz im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts von der Verbindung der adligen Familien mit den staatlichen Beamten - die Stadt war unter anderem der Sitz von Kreisdirektorium bzw. Kreisregierung, von Bezirksamt und Hofgericht - bestimmt, die sich im »Casino« zusammenschlossen, während Handwerker, Kaufleute, Wirte und Angehörige freier Berufe wie Ärzte und Anwälte nur in ihren Korporationen verkehrten. Die politische Mobilisierung nach der Julirevolution und die Chancen, welche die liberale Gemeindeordnung bot, zogen das Konstanzer Stadtbürgertum aus der politischen Lethargie; nachdem 1832 der Anwalt Karl Hüetlin zum neuen Bürgermeister gewählt worden war, riefen 37 Bürger der Stadt im September 1834 das »Bürgermuseum« als eine bewußte Gegengründung zum »Casino« ins Leben.43 Die klare Mehrheit der Gründungsmitglieder, nämlich 22, waren Handwerker, dazu kamen sieben Kaufleute und zwei Wirte sowie einige Ärzte und Lehrer, die aber in der Führung des Vereins in vorderster Linie standen. Staatliche Beamte gehörten dagegen, der Name des Vereins drückte das implizit schon aus, nicht zum Bürgermuseum, von Adligen zu schweigen. Die von Anfang an klare, sogar in den Statuten fixierte politische Ausrichtung und Aufgabenstellung des Vereins - von der »Beförderung des Gemeinsinns« und des »zeitgemäßen Fortschritts in geistiger Bildung« war hier die Rede44 - hätte ihnen auch kaum behagt, ebenso wie die zeittypisch liberale, dem konstitutionellen Staat nachgeformte innere Verfassung des Vereins, die alle wesentlichen Befugnisse nicht der >Exekutive< des Vorstands, sondern der >LegislativeGeneralversammlungliberale Partei< in Konstanz zu unterstützen und wurde damit selber zu einer Art politischer Parteiorganisation. Darüber entstanden gelegentlich Konflikte im Verein, doch wurde diese Linie bis in die Revolution hinein beibehalten. In Verbindung mit der ebenfalls nicht zu unterschätzenden gesellschaftlichen und kulturellen Funktion des Vereins - im 165 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35765-2
Hinblick auf die Vergemeinschaftung des mittleren Bürgertums der Stadt, im Hinblick auf die Entstehung persönlicher Beziehungs- und Einflußgeflechte - bildete auf diese Weise im Vormärz nicht mehr das »Casino«, sondern das »Bürgermuseum« den Kristallisationspunkt dessen, was für die Stadt Konstanz wichtig war. Der Bürgerverein war das selbstbewußte Zentrum stadtbürgerlicher Kommunikation, von der die alte Oberschicht nun weitgehend abgeschnitten war. Obwohl schon Konstanz im Grunde nur eine kleine Provinzstadt war, vollzog sich dieser Prozeß ganz analog auch in noch wesentlich kleineren Gemeinden wie der Amtsstadt Schopfheim im Wiesental, die Mitte der 1830er Jahre etwa 1.500 Einwohner zählte. Hier gab es seit 1818 eine Lesegesellschaft der Oberschicht, zu der im Juni 1832 eine »Bürgerliche Lesegesellschaft« in Konkurrenz t r a t - als »obere« und »untere« Lesegesellschaft wurden die beiden Vereine bald in der Stadt bezeichnet. 45 Auch bei dieser Neugründung verbanden sich die politische und soziale Abgrenzung von der alten Elitenkultur miteinander; Staatsbeamte gehörten nicht zu dem neuen Verein, dafür aber zahlreiche Handwerker; der jährliche Mitgliedsbeitrag wurde bewußt niedrig auf vier Gulden festgesetzt, die zudem in vier Quartalsraten gezahlt werden durften. 46 Der Färber und spätere (seit 1844) liberale Bürgermeister Karl Grether gehörte zu den Hauptinitiatoren des Vereins, der es sich bald wie sein Konstanzer Pendant zur Aufgabe machte, Angelegenheiten der Gemeindepolitik zu besprechen und Wahlen durch die Auswahl geeigneter Kandidaten vorzubereiten und - im liberalen Sinne - zu beeinflussen. Eine so dezidierte und explizite Parteifunktion der neuen Bürgervereine wie in diesen beiden Städten war jedoch nicht die Regel, auch wenn ein mindestens diffuser Liberalismus diesen Vereinstypus fast überall im Großherzogtum kennzeichnete. Vor der funktionalistischen Interpretation, die lokale liberale Partei habe sich >ihren< Verein geschaffen, muß man sich ohnehin hüten - dieses Motiv spielte erst in den 1840er Jahren eine wachsende Rolle - , denn Geselligkeit und Politik gingen in der kleinstädtischen Lebenswelt eine enge Symbiose ein; und die Erfahrung des mittleren Bürgertums, hinter der traditionellen Oberschicht bezüglich der Vergemeinschaftung und Organisierung nicht mehr zurückzustehen, war in Verbindung mit den politisch-sozialen Folgen der Gemeindeordnung in den 1830er Jahren oft schon gleichbedeutend mit einem liberalen Engagement. Ohnehin ist, sieht man genauer hin, die Verallgemeinerung auch innerhalb einer Region wie des Großherzogtums Baden schwierig; mindestens muß man verschiedene Verlaufsmuster der Vereinsentwicklung unterscheiden. So existierte in vielen kleineren Städten der ältere Typus des die Beamten einschließenden Honoratiorenvereins vor 1830 noch gar nicht und entstand dann >verspätet< in den 1830er Jahren wie die Lesegesellschaft von 1836 in Haslach, zu deren 16 Gründungsmitgliedern sogar der Amt166 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35765-2
mann selber gehörte und daneben vor allem weitere Beamte, Juristen und Ärzte, auch ein Adliger, aber nur zwei Kaufleute und kein Handwerker. 47 Der Schritt zu einem eigenen Bürgerverein fand dann häufig in den 1840er Jahren statt und war angesichts des veränderten politischen Klimas seit Beginn dieses Jahrzehnts häufig mit einer Radikalisierung und ausdrücklichen politischen Ausrichtung der Neugründungen verbunden. Deshalb erstaunt es nicht, daß politische Vereinsgründungen sich besonders in den Krisenjahren 1842 und 1846 - wir kommen darauf im nächsten Kapitel ausführlich zurück - konzentrierten. In Weinheim hatte sich 1812 eine Lesegesellschaft gebildet, der vor allem Beamte und Geistliche angehörten, nicht aber das eigentliche Stadtbürgertum, das sich erst 1842 in einem »Singverein« organisierte und im Rahmen dieses Vereins liberale und republikanische politische Ziele verfolgte; entsprechend gab es in Oberkirch wie Weinheim und Ettlingen eines der Zentren des kleinstädtischen Republikanismus in der Revolution 1848/49 - seit 1842 einen »Republikanischen Verein« und in Ettlingen seit derselben Zeit ein ganzes Bündel >kryptopolitischer< Vereine unter Führung der radikalen Partei Thiebauths und Schneiders. 48 Vier Jahre später entstand in Offenburg ein Bürgerleseverein, der schnell 150 Mitglieder zählte und vor allem der »Verständigung über vaterländische Dinge« dienen sollte. 49 Im selben Jahr führte die Verbindung von radikalem Liberalismus und Deutschkatholizismus zur Gründung von »Vereinen für Glaubensfreiheit und Volksbildung« vor allem im Oberland, 50 und die politische Zuspitzung der Jahre 1 8 4 5 / 4 6 ließ auch die neugegründeten Bürger- und Lesevereine politisch offensiver und sozial zugleich offener und restriktiver auftreten: In Mosbach etwa gründeten liberale Bürger mit Unterstützung aus Mannheim einen Verein, der gegen die bestehende, sozial exklusive »Harmoniegesellschaft« auftrat und ganz offen die Aufgabe haben sollte, auf die bevorstehenden Urwahlen und Abgeordnetenwahlen Einfluß im Sinne der liberalen Partei auszuüben. Der Verein sollte aber, das legten schon die Statuten fest, vor allem ein rein >bürgerlicher< sein; Angestellte und Beamte des Staates durften ihm nicht beitreten. 51 Die für die 1840er Jahre so typische ideologische Verbindung eines übersteigerten Kultes des egalitären Bürgertums, eines demokratischen Universalitäts- und Egalitätsanspruches, mit einer zunehmenden Ausgrenzung der Beamten aus der angestrebten >bürgerlichen Gesellschaft < und einem zunehmend parteipolitisch festgelegten Partikularismus fand hier einen unmittelbaren sozialen Niederschlag. In dieser Phase der vorrevolutionären Radikalisierung erreichte die Gründung von »Lesevereinen« mit offen politischer Funktion zunehmend auch Landgemeinden und die bäuerliche Bevölkerung 52 und stellte auch hier Organisationserfahrungen und Handlungsmuster zur Verfügung, an die die »Volksvereine« in der Revolution unmittelbar anknüpfen konnten. 167 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35765-2
Insgesamt kennzeichneten eine zunehmende politische und soziale Ausdifferenzierung, Polarisierung und parteipolitische Festlegung die Entwicklung des lokalen bürgerlichen Vereinswesens in den 1840er Jahren, und zwar in einem solchen Ausmaß, daß der erst rund ein Dutzend Jahre zuvor gegen den >alten< (selber erst um 1800 entstandenen!) Typus des >Honoratiorenvereins< durchgesetzte Typ des mittelbürgerlichen und, in einem weiten Sinne, liberalen Bürgervereins selber schon wieder aufgelöst wurde. Die politische Radikalisierung einerseits, die sozioökonomische Veränderung durch die langsam beginnende Industrialisierung andererseits nahmen die Integrationsfähigkeit des Bürgervereins gewissermaßen von zwei Seiten zugleich in die Zange. Wiederum als Gegengründung gegen die immer dezidierter liberal oder sogar radikal agierenden Vereine und meist unabhängig von den alten »Museen« oder »Casinos« als Geselligkeitsvereinen der sozialen Elite, die sich weiterhin als unpolitisch oder allenfalls als regierungskonform begriffen, entstanden seit der Mitte der 1840er Jahre explizit konservative Vereine aus der Mitte der städtischen Bürgerschaft, zum Teil unter Beteiligung von Beamten, aber nicht unter ihrer Führung. In Lahr organisierten sich bereits im Winter 1843 diejenigen Bürger, die »den freien Richtungen und Bestrebungen der Zeit« nicht zugetan waren und im Sprachgebrauch der Stadt seit einiger Zeit die »Gelben« hießen, in einer eigenen Gesellschaft mit festem Lokal, 53 um der bis dahin überlegenen Kommunikation und Organisation der Gegenpartei wirksamer entgegentreten zu können. Die Vorstellung der Liberalen, alle >Bürger< gegen die Beamten unter ihrer Flagge vereinen zu können, wurde jetzt von rechts wie von links immer mehr in Frage gestellt; mancherorts, vor allem in größeren Städten, bildete sich ein Dreifachmuster politisierter Bürgervereine heraus, das dem ausdifferenzierten Parteienspektrum entsprach: mit einem liberalen, einem radikalen und einem konservativen Verein. In Heidelberg war es Anfang der 1830er Jahre zwar nicht zu einer liberalen Neugründung gekommen; hier bestanden schon vorher zwei Vereine, die »Harmonie« und das »Museum«, von denen dieser Geselligkeitsverein blieb und jener immer mehr die Funktion des liberalen Bürgervereins übernahm. 1844 entstand dann ein konservativer »Bürgerverein«, ein Jahr später die radikale »Eintracht«, die den im selben Jahr zum Ersten Bürgermeister der Stadt gewählten >Vater< Winter, den unbestrittenen Kopf der Heidelberger Radikalen im Vormärz, unterstützte. 54 Wiederum ein Jahr später wurde in der kurpfälzischen Universitätsstadt ein Turnverein gegründet, 55 und damit tauchte in den größeren Städten des Landes ein ganz neuer Vereinstyp auf, der dem Muster des Bürgervereins, welcher politischen Couleur er auch immer sein mochte, überhaupt nicht mehr entsprach. Insbesondere in Heidelberg und Mannheim stießen die politisch radikalen Turn-, Gesellen- und anderen Vereine, die unterbürgerli168 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35765-2
che Schichten, nicht zuletzt Handwerksgesellen, bevorzugt ansprachen, in eine Lücke, denn die Bürgervereine auch der Liberalen und der Radikalen waren hier sozial wesentlich exklusiver als in kleineren Städten wie Konstanz geblieben, gerade bezüglich der Mitgliedschaft von Handwerkern einschließlich Handwerksmeistern; und zugleich wurden neue soziale Unterschiede, wurden Klassenbildungsphänomene hier am ehesten spürbar. Wenn die Turnvereine noch einmal besonders emphatisch als Mittel gepriesen wurden, »den Ständeunterschied weniger fühlbar und allmählich ganz verschwinden zu machen« 56 war das nur noch der hilflos gewordene Appell der in die Defensive gedrängten, vor der Desintegration stehenden >klassenlosen Bürgergesellschaftalte< Vereinsmodell der 1830er Jahre, das davon ausging, alle könnten Bürger sein, als das einer kurzlebigen bürgerlichen Gesellschaft im Übergang erscheinen. An der Entwicklung in Mannheim ist das besonders klar erkennbar. Der führende Geselligkeitsverein, zuerst das »Casino«, nach der Wiedervereinigung mit dem abgespaltenen »Museum« 1813 die »Harmonie«, setzte sich zu Beginn des 19. Jahrhunderts zu rund 80% aus Adligen, Beamten, Militärs und Klerikern zusammen; nur je gut 10% entfielen auf Kaufleute einerseits, Freiberufler, Künstler und Professoren andererseits. 57 1848 betrug der Anteil von Adel und Beamten nur noch ein gutes Drittel; die zunehmende Abgrenzung der >bürgerlichen Gesellschaft< gegen den >Staat< und seine Diener kam darin klar zum Ausdruck. Über 50 % der Harmoniemitglieder waren jetzt Kaufleute, Unternehmer und Bankiers, doch der Anteil der Handwerker lag nach einem vorübergehenden leichten Anstieg wie ein knappes halbes Jahrhundert zuvor bei unter einem Prozent. Trotz dieser andauernden sozialen Abschließung nach unten profilierte sich die »Harmonie« in den 1840er Jahren, als nicht nur liberale Kaufleute wie Bassermann, sondern auch die radikale Intelligenz der Mathy, Hecker und Struve zu ihren Mitgliedern zählten, politisch als dezidiert liberale Vereinigung und provozierte damit im Jahre 1847, als sich die politischen Konflikte in Mannheim noch einmal scharf zuspitzten, die Abspaltung eines konservativen Vereins, der »Reunion«, die ihrerseits in enger Verbindung mit der parteiähnlichen Gruppierung der konservativen »Bürger im engeren Sinne« stand; 58 wie die »Harmonie«, aus der sie hervorgegangen war, organisierte die »Reunion« in sozialer Hinsicht ebenfalls einen Teil der Führungsgruppe des Mannheimer gewerblichen Bürgertums. So ließen die Bürgervereine in Mannheim, obwohl politisch schärfste Kontrahenten, in ihrer tendenziell sogar wieder zunehmenden sozialen Exklusivität Raum für die Organisierung radikaler Handwerksgesellen. Im Oktober 1844 entstand der Mannheimer Gesellenverein, der vornehmlich Schneidergesellen organisierte, 59 169 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35765-2
und in den folgenden drei Jahren sorgten nicht zuletzt Hecker und Struve für eine wahre Explosion immer neuer klein- und unterbürgerlicher Vereine: Volksleseverein, Turnverein, Badeverein, Liedertafel und schließlich, 1847 von Struve gegründet, ein »Verein zur Beförderung des Wohls der arbeitenden Gassen«. 60 Während in der Vielzahl der kleineren Städte - und damit im überwiegenden Teil des Großherzogtums - die gemeinbürgerliche, ja ständeübergreifende Integrationskraft des Vereinswesens bis in die Revolution hinein noch wenig nachgelassen hatte und damit die politische Ausdifferenzierung unabhängig von der sozialen und deutlich früher als diese erfolgte, deutete sich in Mannheim, wo sich diese beiden Veränderungsprozesse überschnitten, schon frühzeitig das Organisationsmuster der bürgerlichen Gesellschaft der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts an. Es darf auch nicht vergessen werden, daß die Bürgervereine, deren Entwicklung und politischer Funktion hier besondere Aufmerksamkeit gewidmet wird, nur einen Teil der gemeindlichen Organisierung und Geselligkeit im Vormärz repräsentierten. Für Pforzheim zählte eine zeitgenössische Übersicht im Jahre 1841 sechzehn Vereine, darunter Gesang-, Kegel-, Turn-, Schützen- und Frauenunterstützungsverein, »und doch ist der Wirtsund Bierhaustage noch gar nicht gedacht, geschweige der über den Winter in vier Gasthöfen vorkommenden Bälle«, so daß, lautete das kritisch-ironische Fazit, wohl bald in der städtischen Versorgungsanstalt landen müsse, wer sich in all diesen Vereinen zeitlich und finanziell engagieren wolle. 61 Nicht zuletzt gab es in jeder Stadt traditionelle korporative Vereinigungen wie das Bürgermilitär oder die Schützengesellschaft, die ebenfalls und insbesondere in Kleinstädten in die vormärzliche Politisierung mit hineingezogen werden konnten. So bekam die Schopiheimer Schützengesellschaft im Jahre 1839 Schwierigkeiten mit dem Bezirksamt, weil sie im Schützenhaus ein Itzsteinbild aufgehängt hatte und Bürgermeister und Gemeindeversammlung sich weigerten, dem Druck des Amtmannes nachzugeben und gegen die Schützengesellschaft einzuschreiten. 62 Daß die idealtypische Grenze zwischen >Korporation< und >Assoziationliberal< zu sein, und dabei erstmals das mittlere und kleine Bürgertum in Vereinen zu organisieren, hingen in den 1830er Jahren unauflöslich zusammen. Nicht erst die Industrialisierung ermöglichte die >Selbstorganisation< der bürgerlichen Gesellschaft;65 die Bürgervereine des Vormärz waren nur möglich als Ausdrucksform der (relativen) Erfahrung und Erwartung einer >klassenlosen Bürgergesellschaftkulturellen Hegemonie< der Eliten der Aufklärungsgesellschaft und der Durchsetzung klassengesellschaftlicher Organisationsmuster. 66 Sie ermöglichten sozialen Gruppen, die vorher nicht darüber verfügen konnten, neue Kommunikations- und Organisationserfahrungen, und in der unmittelbaren Kontinuität vieler Bürgerund Lesevereine zu den Vaterländischen und Volksvereinen der Revolution ist erkennbar, welcher Nutzen daraus gezogen werden konnte. Andererseits bleibt die Frage, wie groß die Bedeutung von Vereinen für die politischsoziale Selbstorganisation der bürgerlichen Gesellschaft, für Soziabilität und Handlungsfähigkeit des Bürgertums war. Gerade in der kleinstädtischen Gesellschaft, im herkömmlichen lokalen Milieu dienten Vereine nur als ein Medium unter vielen anderen, und unter diesen anderen blieben informelle, blieben soziale Nähe und Kommunikation im Alltag vermutlich nicht die unwichtigsten; der Liberalismus konstituierte sich nicht in erster Linie in formalen Organisationen.
3. Kommunikationsstrukturen. Versammlungen, Feste und die Integration der liberalen >Basis< und >Elite< Der Erfolg und die rasche Durchsetzungskraft des badischen Gemeindeliberalismus im Vormärz beruhten nicht zuletzt auf seiner Fähigkeit, einen neuen Horizont politischer Kommunikation zu erschließen, ohne die Verläßlichkeit des alten aufzugeben. Zum einen wurde der nach innen gerichtete, sich gegen andere Kommunen eifersüchtig abgrenzende Lokalismus seit der neuen Gemeindeordnung zunehmend von einem Gefühl der Zusammengehörigkeit, des gemeinsamen politischen Schicksals aller badischen Gemeinden abgelöst - die neue, verbindende Abgrenzung nach außen richtete sich jetzt gegen den Staat und die Bürokratie - , und dieses neue 171 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35765-2
Bewußtsein führte zu einer Verdichtung zwischengemeindlicher Kommunikation, zu einer Vermehrung der liberalen Kontakte von Bürgern und kommunalen Mandatsträgern über Gemeindegrenzen hinweg und damit auch zu einer großräumigen und doch >von unten< initiierten Selbstverständigung über politische Ziele. Zum anderen gelang es, >horizontale< mit >vertikalen< Kommunikationsstrukturen zu verbinden und jene durch diese sogar zu fördern: Vor allem in den 1840er Jahren und insbesondere im Zusammenhang der Landtagswahlen entwickelten sich enge politische und persönliche Beziehungen zwischen der liberalen >Basis< der Bürger, der Wähler und Wahlmänner in den einzelnen Gemeinden, und der >Elite< der führenden liberalen Landtagsabgeordneten, Publizisten und Agitatoren; und durch die Vermittlung und Anregung dieser Elite wurde die innergemeindliche Mobilisierung des Liberalismus ebenso verstärkt, wie zusätzliche zwischengemeindliche Kontakte geknüpft werden konnten, wenn man etwa anläßlich eines Deputiertenempfanges mit Bürgermeistern und Gemeinderäten der Nachbarorte zusammentraf. Wie die Reform und Vereinheitlichung des Gemeindebürgerrechts 1831/32 aus vielen lokalen Bürgerrechten ein badisches Gemeindebürgerrecht gemacht hatte, das dennoch das Weiterfunktionieren der korporativen Bürgerrolle garantierte und dem Liberalismus damit eine verläßliche Grundlage in traditionellem Recht und traditioneller Erfahrung zur Verfügung stellte, verdrängten die neuen Kommunikationsstrukturen bis zur Mitte des Jahrhunderts die alten nicht, sondern verknüpften sich mit ihnen und bauten auf ihnen auf Die liberalen Bürgervereine nutzten, wie wir gesehen haben, diesen Mechanismus; am deutlichsten wird er jedoch da, wo die verschiedenen Dimensionen der >Soziabilität< - nach innen und nach außen, horizontal und vertikal aufeinandertrafen: in den politischen Versammlungen und Festen des badischen Liberalismus im Vormärz, deren Höhepunkt die landesweiten und doch lokal veranstalteten, die zentral geförderten und doch autonom organisierten Verfassungsfeiern des Jahres 1843 bildeten. Wie am Vereinswesen ist in den Jahren danach auch an der Fest- und Versammlungskultur ein allmähliches Abbröckeln der zunächst problemlosen Symbiose von korporativer Bürgerlichkeit und Liberalismus ablesbar, ohne daß diese Verbindung jedoch bis zur Revolution zerstört werden konnte. Zunächst aber entstand in den 1830er Jahren ein neuer Typus des Gemeindebürgerfestes, der die zuvor getrennten Formen der stadtbürgerlichen Feier, häufig als Einzugs- oder Huldigungsfeier für den Fürsten, wie wir im ersten Kapitel gesehen haben, und des dezidiert >politischen< (im neuen Sinne) Festes des Liberalismus miteinander verband. 67 Wie der erste Typ bis 1830 >unpolitisch< geblieben war, hatte der zweite noch im Jahr des ersten Höhepunktes liberaler Feste im deutschen Südwesten 1832, erinnert sei nur an das Weinheimer Preßfreiheitsfest am 1. April, 68 Gemeindebehör172 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35765-2
den und Gemeindebürger häufig nur am Rande mit einbezogen; die Organisation ging, zumal vor dem personellen Umbruch durch die Gemeindewahlen, in der Regel von der liberalen Führungsschicht der ersten Stunde aus. Nur wenige Jahre später jedoch begannen sich liberale und korporative Elemente zu vermischen, indem Gemeinden den liberalen Festtyp einschließlich seiner charakteristischen Formen wie des Festmahls für sich zu adaptieren versuchten und zugleich die Gemeindepolitik, wenn auch zumeist noch vorsichtig, parteipolitische Färbung annahm. Diese Verbindung wird in Festen, die unmittelbar auf die Gemeindeordnung Bezug nahmen, besonders augenfällig. In Mosbach lud der Bürgerausschuß auf den 2 1 . Januar 1834, den Jahrestag der ersten freien Gemeindewahl, zu einem Festessen im Gasthaus zum Hirschen, während dessen auf die Gemeindeordnung und die »ungehemmte Entwickelung der constitutionellen Einrichtungen« ebenso Toaste ausgebracht wurden wie auf Bürgermeister, Gemeinderat und die gesamte Bürgerschaft der Stadt. 69 Die Umformung kommunaler Festkultur im Vormärz kann man am Beispiel Offenburgs verfolgen und daran zugleich allgemeine Entwicklungsphasen unterscheiden, welche die Zeit des Vormärz auch in dieser Hinsicht als die einer bürgerlichen Gesellschaft des Übergangs kennzeichnen. Im Jahre 1835 wurde ein bis auf das 15. Jahrhundert zurückgehender Konflikt zwischen Offenburg und seiner Nachbargemeinde Schutterwald, in dessen Mittelpunkt ein typisches Problem der alten Bürgergemeinde: die Frage von Holz- und anderen Berechtigungen im Gemeindewald, stand, durch die Initiative der beiden Bürgermeister endlich mit einem Vergleich beigelegt. 70 Daß dies nach Jahrhunderten gerade jetzt gelang, zeigte zweierlei: Einmal war in diesem Falle das Kalkül der Bürokratie, die sie ermüdende Konfliktregulierung mit der Gemeindeordnung den Gemeinden selber übertragen zu können, durchaus aufgegangen; zum anderen bedeutete eben dieser Erfolg aber nicht nur einen erheblichen Legitimitätsgewinn vor allem für die neue Offenburger Gemeindeführung um den Bürgermeister Karl Burger, sondern war auch deutliches Anzeichen einer Auflösung der alten >Home TownGäste< anwesend sein durften bei einem Fest der >Bürger< - anschaulicher könnte zugleich kaum deutlich werden, wie die politische Radikalisierung des Gemeindeliberalismus in den 1840er Jahren sich korporativer Denkmuster sogar besonders stark zu bedienen versuchte, ja, auf korporativem Denken zum Teil aufbaute. Ein Dilemma war dann aber unausweichlich: Der Widerspruch zwischen wachsender Parteilichkeit und dem Appell an die korporative Integration des Bürgerverbandes ließ sich auf Dauer nicht überbrücken; den Bürgerfesten erging es am Ende des Jahrzehnts genauso wie den Bürgervereinen, und vielleicht auch deshalb waren die Revolutionsjahre keine große Zeit für Feste in den Gemeinden. Daß die Form der ehedem unpolitischen, jedenfalls gemäßigten Bürgerfeste zunehmend mit radikalem Inhalt gefüllt wurde, entging jetzt auch den Staatsbehörden nicht mehr, die schon den Offenburger Fackelzug zu Ehren des Amtsantrittes Rées bemängelten und erst recht aufmerksam wurden, als im Juni desselben Jahres unmittelbar nach der Gemeinderatswahl in Philippsburg dem neugewählten Gemeinderat spontan ein Maibaum aufgestellt wurde, der mit schwarzen, roten und gelben Bändern verziert war, »so daß 174 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35765-2
die Jugend voll ausrief: >Dieses ist der Freiheitsbaumpolitisch< meinte, war seine eigene Parteirichtung; und insofern war es wohl richtig, daß sich seit etwa 1845/46 nicht mehr bei der Winter-Ehrung zeigen durfte, wer sich einer anderen Partei - und sei es auch nur dem gemäßigten Liberalismus zurechnete, mochte man Winter auch persönlich und als einen der vermögenden Bürger der Stadt noch so sehr schätzen. Bei der Feier im Dezember 1846, in deren Zentrum zum ersten Mal eine Versammlung im Saale des radikalen Bürgervereins, der »Eintracht«, stand, wurde das unübersehbar deutlich. Winter selbst rief beim Eintreten dem schon anwesenden Struve zur Begrüßung zu: »Wo solch' eine Eintracht ist, da hat man festen Boden! Es sind lauter Ganze und gar kein Halber da!«, 75 und unter diesen fanden sich nun zahlreiche Auswärtige, die, wie Struve mit seiner Propagandarede, die Versammlung prägten und die anwesenden Heidelberger Bürger in den Hintergrund drängten. Hier war der Punkt erreicht, an dem das Bürgerfest in seiner ganz allmählichen Umformung zum Parteifest nicht nur seinen auf >Eintracht< gerichteten, politisch integrierenden Charakter, sondern auch seinen lokalen und korporativen Bezug verloren hatte. Kurz vor der Revolution prägten erst recht Parteiversammlungen wie die Offenburger von 1847 7 6 oder Feste ganz anderen Charakters wie das Heidelberger Turnerfest desselben Jahres die Szenerie politischer Treffen in Baden. Nach einer kurzen Blüte von einem guten Jahrzehnt hatte das Bürgerfest des Vormärz seine Wirksamkeit und Funktion schon wieder verloren; Bürgerfeste artikulierten in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts keine politischen Forderungen mehr, sondern beschworen vor allem die Vergangenheit; und Parteifeste und Parteiversammlungen, das wurde schon in den 1840er Jahren deutlich, überschritten sehr schnell wieder jenen lokalen und korporativen Rahmen, der ihre Entstehung zunächst begünstigt hatte. 175 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35765-2
Solche überlokalen, regionalen politischen Versammlungen nahmen seit 1842 besonders in den ländlichen Gegenden Südbadens, wo die politische Radikalisierung in den Jahren vor der Revolution heftiger als anderswo verlief, rasch zu. 77 Zumal nach dem Schluß des Landtags von 1842 trafen sich Wahlmänner, Bürgermeister, Gemeinderäte und andere Bürger wie etwa am 20. Juli in Stockach, um Dankadressen an die Kammer zu verabschieden und sich über weitere Forderungen zu verständigen. 78 Da außerhalb der Städte die Grenzen der Landtagswahlbezirke über die Grenzen der einzelnen Gemeinden hinausgriffen, lag der Schritt zur zwischengemeindlichen Kommunikation, der den Rahmen der herkömmlichen Institutionen der Gemeindepolitik wie des Bürgerausschusses und der Gemeindeversammlung verließ, auf dem Lande sogar näher, obwohl es für das Selbstverständnis der Teilnehmer diesen Unterschied kaum in dieser Schärfe gegeben hat. Für die Behörden jedoch, die solche Versammlungen von Anfang an höchst argwöhnisch beobachteten, 79 waren die Grenzen des >normalen< politischen Prozesses, wie ihn aus ihrer Sicht die Kommunalpolitik darstellte, damit deutlich überschritten und ein neuer, ihnen gefährlich erscheinender politischer Mechanismus ins Leben getreten. Das heißt aber auch: Im Schutze der korporativen Institutionen der Bürgergemeinde konnte sich der Liberalismus während des gesamten Vormärz relativ unauffällig und unbehelligt entwickeln, obwohl etwa städtische Bürgerausschüsse in ihrer Funktion und politischen Zielsetzung den ländlichen Versammlungen in vieler Hinsicht entsprachen. Erst nach der Revolution wurde der Bürokratie vollends klar, wie stark die parteipolitischen Bezüge die scheinbar harmlose korporative >Selbstverwaltung< überlagert hatten. 80 Die ländlichen und kleinstädtischen Versammlungen der 1840er Jahre trugen wesentlich zu einer Verdichtung der >horizontalen< Kommunikation im frühen Liberalismus bei; auf die Anwesenheit, geschweige denn die Initiative von Landtagsabgeordneten war man dabei nicht angewiesen. Hier formierte sich, was man am ehesten als eine >mittlere Ebene< in der politisch-sozialen Hierarchie des badischen Liberalismus bezeichnen kann, die seine flächendeckende Stärke garantierte und eine wichtige Scharnier- und Vermittjungsfunktion zwischen den einfachen >Anhängern< und der in den 1840er Jahren nur noch bedingt lokal verankerten landesweiten Führungsspitze erfüllte. Dazu gehörten, und insofern wurde an die Mechanismen der Gemeindepolitik, wurde an die zentrale lebensweltliche Bedeutung der Bürgergemeinde auch hier angeknüpft, vor allem Bürgermeister, Gemeinderäte und Bürgerausschußmitglieder, daneben Wahlmänner (die oft kommunale Mandatsträger waren) und in sozialer, beruflicher Hinsicht besonders Ärzte und Apotheker, Wirte, einige Kaufleute und Handwerker, und Pfarrer als besonders wichtige Multiplikatoren in der ländlichen Gesellschaft; sozial also ein mittleres Bürgertum, das in der Gemeinde und der 176 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35765-2
engeren Region die soziale und politische Führungselite bildete, dessen Horizont und Verbindungen darüber aber räumlich und sozial auch kaum hinausreichten. 81 >Amt< und >Ansehen< begründeten aber nicht schon an sich das Engagement in den liberalen Versammlungen - hier erschien nur, wer sich der liberalen Partei zurechnete; als Repräsentanten einer Parteigruppierung waren die Wahlmänner und kommunalen Mandatsträger zumal seit 1841/42 auch gewählt worden und waren insofern demokratisch legitimiert. So läßt sich diese Gruppe in ihrer engen Verflechtung >nach unten< weder als >Honoratiorenschicht< angemessen verstehen noch in die starre, hier erkennbar realitätsferne Dichotomie von >Volk< und >Elite< einordnen. Das gilt umso mehr, als die regionalen Versammlungen der 1840er Jahre häufig nicht nur der Besprechung weniger Dutzend Bürger dienten, sondern zugleich, in einer zweiten Dimension gewissermaßen, Volksversammlungen waren, zu denen sich wie in Hüfingen am 2 6 . Dezember 1843 mehrere hundert Teilnehmer einfinden konnten. 82 Wie die Besprechungen nur eine Erweiterung der Gemeinderatssitzung und doch etwas Neues darstellten, zeigten auch diese regionalen Volksversammlungen ein doppeltes Gesicht; genauer: Sie belegen wiederum, wie neue politische Institutionen und Funktionsmechanismen sich im Vormärz graduell, ganz allmählich, aus der traditionalen Lebenswelt heraus entwickelten. Während sie den Rahmen der älteren Bürgerversammlung sozial, politisch, rechtlich und räumlich sprengten, knüpften sie doch in der Form an sie an und versprachen sich Erfolg vom Appell an die Kontinuität: So legten die Veranstalter solche Versammlungen teilweise bewußt auf Termine, zu denen gewöhnlich Gemeindeversammlungen abgehalten wurden; 83 und zumal im Seekreis konnte sich die politische Radikalisierung mühelos an >traditionalen< Themen wie der Zehntablösung vollziehen. 84 Wenn die Teilnehmerzahl nicht zu groß war, fand die politische Versammlung gewöhnlich im Wirtshaus statt, was die Beamten bezeichnenderweise erneut wesentlich stärker beunruhigte als die Beratung von Bürgermeistern und Gemeinderäten verschiedener Orte im Rathaussaal. Hier war der Parteicharakter der Zusammenkünfte unübersehbar, denn in fast jedem Ort hatten die verschiedenen Parteien spätestens zu Beginn der 1840er Jahre im Lokal eines sympathisierenden Wirtes ihren informellen, aber allgemein bekannten Treffpunkt etabliert. Das Wirtshaus war aber kein »Ersatz für den fehlenden politischen Versammlungsort«; 85 es war derjenige politische Versammlungsort, der in der kleinstädtischen und ländlichen Gesellschaft des Vormärz Sinn machte und an eine lange Kontinuität von >Stammtischpolitiköffentliche< Raum im Dorf oder der Kleinstadt. Die Liberalen der >mittleren Ebene< nutzten die Chance, die sich 177 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35765-2
aus der Verbindung von Politik und Geselligkeit an diesem Ort ergab; man hörte eine politische Rede, die über die Regierung wetterte, trank Wein und sang radikale Lieder, seit 1844 vor allem die Texte Hoffmanns von Fallersleben, »deren Inhalt geeignet ist, den Volksgeist zu verderben«, was um so bedenklicher erscheinen mußte, »als sie großenteils nach bekannten Volksmelodien gedichtet sind, und daher die Absicht nicht zu verkennen ist, dieselben zu Volksliedern zu machen.« 8 6 Insofern ist die Verbindung, die Symbiose von Liberalismus und Volkskultur im Vormärz unübersehbar. Im Hinblick auf die >vertikale< Integration des Liberalismus, auf den Zusammenhalt und die Kommunikation von >Basis< und >Elitenach unten< aus; die Wahlmänner - eine Stadt wie Ettlingen stellte 1846 gerade zehn - und der Gemeinderat reichten jedenfalls nicht aus, die Lokale zu füllen. Außerdem bildete sich zusätzlich eine >offene< Form des Abgeordnetenempfangs heraus, die eher einer Volksversammlung auf der Straße glich. So wurden die Mannheimer Deputierten Bassermann, Weller und Gerbel im September 1842 zunächst in das Bassermannsche Haus am Marktplatz geleitet, später formierte sich ein Fackelzug durch die Stadt, schließlich versammelte sich eine große Menschenmenge auf dem Marktplatz, Musik wurde gespielt, und die Deputierten traten auf den Balkon, um zu den Mannheimer Bürgern zu sprechen. Erst einige Tage später folgte dann das obligatorische Festessen. 91 Freilich machte die Rede vom Bassermannschen Balkon herab die soziale Distanz auch wieder besonders deutlich spürbar - das wäre in einer kleinen Landstadt zur selben Zeit weniger der Fall gewesen als in Mannheim - , aber das Verhältnis der kleinen Führungsgruppe von Landtagsabgeordneten zu ihrer Basis war ein durchaus komplexes und vielschichtiges. Einerseits nahm in den 1840er Jahren der Kontakt innerhalb der Elite zu; man entwickelte ein stärkeres Zusammengehörigkeitsgefühl als liberale Partei, man unternahm politische Reisen durch das Land öfters gemeinsam; und man traf sich, zunehmend auch Kontakte über das Großherzogtum hinaus knüpfend, etwa auf Itzsteins Gut Hallgarten. 92 Andererseits stieg zur selben Zeit das Interesse der Wähler an ihren Abgeordneten; man wählte nicht mehr nur die Wahlmänner, sondern in den Wahlmännern den Landtagskandidaten einer bestimmten Partei, der sich umgekehrt auch stärker als zuvor nicht nur den Wahlmännern, sondern den Urwählern verpflichtet fühlte. 93 Diese Veränderungen meinte auch Itzstein, als er 1842 beim Mannheimer Deputiertenempfang davon sprach, das »schöne Resultat« der Landtagswahlen sei »nur den Urwählern zuzuschreiben«; der »nähere persönliche Verkehr zwischen den Wählern und ihren Abgeordneten«, 9 4 der gewissermaßen eine emotionale Umgehung der Wahlmänner und ihre parteipolitische Funktionalisierung bedeutete, wurde so auch schon von den Zeitgenossen bemerkt. 179 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35765-2
Neben die Abgeordnetenempfänge traten andere Formen der Ehrung für die Häupter der liberalen Partei, unter denen um die Mitte der 1840er Jahre zweifellos Itzstein am meisten Popularität genoß. Im August 1842 riefen Mannheimer Bürger zu einer Subskription auf eine Ïtzstein-Münze auf; zwei Jahre später, am 22. September 1844, wurde die Ehrenmünze auf dem sogenannten >ltzstein-Fest< in Mannheim überreicht. 95 Die konservative Kritik spottete aus diesem Anlaß über den liberalen Personenkult und sah die führenden Liberalen »eine Art liberaler Aristokratie« bilden, die »die Freiheit der Abstimmung nur für sich und ihre >höhere politische Stellung< in Anspruch nehmen, ihre untergeordneten Anhänger aber als den Pöbel betrachten, der nur nach ihrem >Commando< zu handeln habe«. 96 Das enthielt sicherlich ein Körnchen Wahrheit, war aber überspitzt und traf vor allem nicht das Selbstverständnis der liberalen Anhängerschaft selber. Die Rotteck, Itzstein, Welcker und Bassermann brauchten sich ihrer Basis nicht aufzudrängen, weil sie über eine heute kaum mehr nachvollziehbare Popularität verfugten, die schon für sich die Annahme von einem radikalen Bruch zwischen einem vermeintlich weltfernen Eliteliberalismus und dem egoistisch-traditionalen, rein >wirtschaftlich< motivierten >Eigensinn< des >Volkes< widerlegt. 97 Die Kommunikation zwischen den verschiedenen >Ebenen< des badischen Frühliberalismus - die, wer wollte das leugnen, selbstverständlich über unterschiedliche Voraussetzungen der Bildung oder politischen Erfahrung verfugten - konnte nur deshalb erfolgreich sein, weil beide Seiten sich davon Vorteile versprachen und, wichtiger noch, sowohl die liberale Elite die materiellen Forderungen der Kleinbürger und Handwerker ernstnahm als auch diese die abstrakte Ideologie des Liberalismus, die Forderung nach Freiheit und Bürgerherrschaft, verstanden und auf ihre lokale Lebenswelt übertragen konnten. Ein zusätzliches Beispiel für diese enge Wechselbeziehung bieten die Mechanismen der Kandidatenrekrutierung für die Landtagswahlen im Vormärz. Mit der ständig zunehmenden parteipolitischen Durchdringung der Wahlen, die ja ihrerseits nicht in erster Linie Ergebnis >von außen< an die Gemeinden herangetragener radikaler >Agitation< - so die zeitgenössische Sicht der Bürokratie, gegenüber der das heutige Urteil ohnehin skeptisch sein sollte - , sondern einer genuinen Fundamentalpolitisierung an der Basis war, wuchs die Einflußnahme der Kammerliberalen auf die Benennung von Kandidaten und auf ihre Steuerung, aber das war keine einseitige Manipulation, sondern von der politisierten Basis erwünscht; man wollte seine Wahlkreis- und Ortsinteressen im Landtag möglichst wirkungsvoll und eloquent vertreten wissen, man wollte möglichst Rotteck, später Itzstein oder Bassermann als Abgeordneten haben und umwarb sie auch entsprechend, wie diese ihre Wähler umwarben. Dieses Verhältnis läßt sich vielleicht am besten als eine Form >charismatischer< Legitimität beschreiben. Als am 17. August 1845 Itzstein und 180 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35765-2
Hecker mit der Eisenbahn in Achern eintrafen, wurden sie von den dortigen Liberalen in Empfang genommen und unter Zurufen der Bevölkerung in das Gasthaus zum Anker geleitet; dort fand ein Essen statt, an dem auch Liberale aus dem benachbarten Oberkirch und anderen Orten der Umgegend teilnahmen. Nachmittags begab man sich in das Lokal zum Ochsen, um sich mit den Wahlmännern des Wahlbezirkes Achern und Bühl über den Kandidaten für die Landtagswahl zu besprechen, und einigte sich auf den bisherigen Deputierten, den Acherner Advokaten Richter. Am Abend waren Itzstein und Hecker zu Gast in der Wohnung Richters, bevor sie gegen acht Uhr wieder abreisten, verabschiedet von >Lebehochs< der Acherner Bürger auf den Straßen. 98 Der liberale >Wahlkampftourismus< erlebte 1 8 4 5 / 4 6 seinen Höhepunkt; Abgeordnete wie Itzstein bewältigten dabei ein ungeheures Pensum, und das trug nicht zuletzt dazu bei, daß man ihn und andere nicht nur aus Zeitungsberichten über die fernen Karlsruher Kammerverhandlungen, sondern persönlich kannte, mit ihm gegessen und getrunken und ihn möglicherweise im eigenen Haus beherbergt hatte. Zusätzlich diente ein reger Briefverkehr, der bisher häufig unterschätzt wurde, der Kommunikation insbesondere im Vorfeld von Wahlen; 1846 wurde aus Bonndorf berichtet, jeder Wahlmann habe mindestens zwei bis drei Briefe von Itzstein und Welcker erhalten." Aber das war, wie Briefe an Rotteck sehr deutlich zeigen, weder erst eine Erfindung der 1840er Jahre noch eine Einbahnstraße der Indoktrination von oben. In den 1830er Jahren wandten sich zahlreiche Wahlmänner aus allen Teilen des Großherzogtums schriftlich an Rotteck mit der Bitte, ihnen geeignete liberale Landtagskandidaten für ihren Bezirk zu nennen; »dringend« wurde er immer wieder gebeten, »mir [sic] gefälligst mittelst eines Briefes wissen zu lassen auf welche patriotischen Volksvertreter ich meine Stimme abgeben solle«, so daß Rotteck selber schon 1835 über die »ungeheure Korrespondenz in Betreff der neuen Wahlen in 16 Bezirken« stöhnte. 100 Am Beispiel Rottecks kann man überhaupt gut erkennen, wie eng das Beziehungsgeflecht zwischen der lokalen Basis in den Gemeinden und den intellektuellen und politischen Führungsfiguren des Liberalismus im badischen Vormärz geknüpft war; eng nicht nur hinsichtlich der Dichte, sondern auch der Nähe, der geradezu emotional übersteigerten Verehrung. Seit dem Landtag von 1831 wurde Rotteck mit Auszeichnungen, mit Pokalen und Bürgerkronen in einem Maße überhäuft, das bereits zu seinen Lebzeiten die Formen eines Kultes annahm; schon 1833 besaß Rotteck eine so reichhaltige Pokalsammlung, daß Freiburger Bürger ihm zum Zeichen ihrer Verehrung statt eines weiteren Pokals einen Schrank zur Aufbewahrung seiner Ehrenpokale schenkten. 101 Erst recht ein kultisches Ereignis wurden dann die Trauerfeiern nach seinem Tod 1840, die in zahlreichen badischen Gemeinden gehalten wurden; in Konstanz etwa bildete sich eigens dazu ein 181 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35765-2
Komitee unter dem Vorsitz des Bürgermeisters Hüetlin. 102 Und während seine Anhänger schwärmten, »ich liebe diesen Rotteck außerordentlich«, 103 zeigte er selber sich nicht unbeeindruckt von der Zuneigung des Volkes: »Übrigens erhalte ich«, schrieb er seinem Freund Ernst Münch mit geradezu naiv anmutendem Stolz im Januar 1833, kurz nach seiner Wahl zum Freiburger Bürgermeister, »für die blinde Wut, womit die Aristokraten mich verfolgen, manchen köstlichen Ersatz in den Merkmalen der Volksliebe, welche - wenn meine Feinde erröten könnten - sie blutrot machen müßten. Meine neun Ehrenpokale solltest Du einmal sehen!« 104 Eine scharfe Unterscheidung zwischen einer >Volkskultur< einerseits, einer >Eliten-< oder >bürgerlichen Kultur< andererseits verfehlt die enge Vernetzung und relativ erfolgreiche Integration verschiedener Handlungsebenen im vormärzlichen Liberalismus Badens, den man in dieser Hinsicht eher mit dem Bild einer Überschneidung von Kommunikationskreisen beschreiben kann. Die liberale Anhängerschaft, die >mittlere Ebene< der lokalen Führungsgruppe und die überregionale Elite - schon das ist nur eine analytische Unterscheidung mit fließenden Grenzen in der Realität - verständigten sich je untereinander und wählten die ihnen dafür jeweils zur Verfügung stehenden Mittel, und das implizierte auch die Abgrenzung >nach untenvertikale< Verständigung, gab es, wir gehen im nächsten Abschnitt näher darauf ein, gemeinsame oder eng korrespondierende Ziele und auch eine verbindende >politische Sprache< des Liberalismus. Der kleinstädtische Bürgermeister beherbergte Itzstein in seinem Hause, dem Tagelöhner mußte erklärt werden können, warum er dem radikalen Kandidaten den Vorzug vor dem regierungstreuen geben sollte. >Volkskultur< und >bürgerliche< Kultur des Liberalismus waren in Baden bis in die Revolution hinein weithin identisch; erst danach begann diese Einheit, wie in anderen deutschen Regionen schon früher, sich aufzulösen. Die Elite der Kammerliberalen wußte besser als die auf sie fixierte Tradition der Liberalismusforschung, daß sie nur die Vertretung der Gemeinden, des >LandesVerrats< bezichtigte. Wie die verschiedenen Dimensionen der liberalen Kommunikation, innerhalb der Bürgergemeinde und über sie hinaus, in bürgerlicher >Eintracht< 182 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35765-2
oder parteilicher Spaltung, autonom an der Basis und im Dialog mit der Elite, in den 1840er Jahren zunehmend ineinandergrifen und sich dabei gegenseitig unterstützten, zeigt das badische Verfassungsfest von 1843, das kaum bekannt ist, aber mit wahrscheinlich mehr als 100.000 Teilnehmern das größte politische Fest des frühen deutschen Liberalismus überhaupt gewesen sein dürfte. 105 Die Feiern zum 2 5 . Jahrestag der Unterzeichnung der badischen Verfassung bedeuteten aber auch selber, im Prozeß ihrer Vorbereitung und Durchführung, einen wichtigen Schritt für die landesweite Selbstverständigung des Gemeindeliberalismus, der sich jetzt vollends aus den verschiedenen lokalen >Liberalismen< zu einer einheitlichen, übergemeindlichen Bewegung konstituierte, die dennoch ihre Verankerung in der jeweiligen Kommune und ihre Bezüge zur korporativen Bürgergemeinde nicht verlor und daraus weiterhin ihre Stärke und massenwirksame politische Durchschlagskraft bezog. Auf der anderen Seite werden hier, wie wir es schon an der allmählichen Desintegration der Bürgerfeste verfolgt haben, die Grenzen, auf welche die >natürliche< Symbiose von Gemeinde und Liberalismus, von Korporation und Partei rasch nach dem Zeitpunkt ihres größten Erfolges stieß, noch einmal paradigmatisch erkennbar: Der Versuch einer Wiederholung des Verfassungsfestes in den folgenden Jahren scheiterte; was in einzelnen Gemeinden wie Ettlingen und Oberkirch noch stattfand, war kein Gemeindefest mehr, sondern ein Parteifest des Radikalismus. Kleinere Feiern zum Jahrestag der Verfassung hatten bereits 1833 und 1841 in Steinen im Wiesental stattgefunden, 106 und seit dem März 1843, noch unter dem Eindruck und der Wirkung der liberalen Mobilisierung des Vorjahres, tauchte in der liberalen Presse immer wieder der Gedanke auf, das bevorstehende 25jährige Jubiläum als ein großes Volksfest zu begehen. Anfang Juni trafen sich die Ortsvorstände der Gemeinden des Renchtales und verabschiedeten einen Aufruf, der zunächst noch eine zentrale Feier in Bad Griesbach, dem Ort der Unterzeichnung der Konstitution durch den damaligen Großherzog Karl, vorsah; zwei weitere Treffen in Oberkirch am 2 1 . Juni und am 9. Juli folgten, ein Komitee wurde gewählt, und es fiel die wichtige Entscheidung, das Fest >dezentralZentralfeier< Itzstein, in Mannheim der Abgeordnete Gerbel hielt; Hecker sprach in Weinheim, Bassermann in Neckarge münd und Mathy in seinem Wohnort Schwetzingen. Zum Abschluß der Versammlung wurde die Verfassungsurkunde, die an vielen Orten eigens für das Fest in hoher Auflage gedruckt worden war, kostenlos an die Menge verteilt, oft in tausenden von Exemplaren in einer einzigen Stadt. 113 Das anschließende Festmahl in den Gasthöfen der Stadt oder auch in eigens aufgeschlagenen Zelten, wenn die Gasthäuser nicht genügend Platz boten, wurde in den Festberichten häufig emphatisch als sozial nivellierendes Ereignis beschrieben, das die >klassenlose Bürgergesellschaft< zur Realität hatte werden lassen. »Bürger, Bauern und Beamte, Geistliche, Männer jeden Alters und Standes saßen bunt nebeneinander an zwei fast unübersehbaren Tafeln«, schwärmte etwa der Bericht über das rund zweihundert Personen umfassende Festmahl in Bretten. »Jeder fühlte sich an seinem Platz, keiner dachte an den lächerlichen, Selbstständigkeit trübenden Ständeunterschied.« 114 Zwar bot vor allem in kleineren Gemeinden das Festessen über die lokale Prominenz hinaus durchaus einem weiteren Bürgerkreis Gelegenheit zur Teilnahme, aber unübersehbar wurden jetzt die soziale Differenzierung innerhalb des Liberalismus und, allerdings wesentlich seltener, politische Differenzierungsprozesse deutlich. In Mannheim speiste die liberale Prominenz, das Handelsbürgertum, die Rechtsanwälte, die Gemeindebehörden und die Landtagsabgeordneten, im >Europäischen HofEintracht< des Verfassungsfestes in parteipolitisch konkurrierende Festmähler auf.116 Dabei könnte man annehmen, daß auch den Gegnern des Liberalismus 185 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35765-2
nichts hätte leichter fallen sollen als ein gemeinsames Feiern gerade der Verfassung, des Staatsgrundgesetzes des Großherzogtums, dessen Geltung niemand im Lande in Frage stellte. Das ständige Beharren des Liberalismus auf der Verteidigung der Verfassung hatte am Anfang der 1840er Jahre sogar in der Sicht der Regierungstreuen zu einer Identifikation von >Liberalismus< und >Verfassung< geführt. Es war insofern weniger eine listige Strategie der Liberalen, ein Bürger- und Oppositionsfest gerade unter dem Zeichen der Verfassung zu veranstalten, sondern eher ein Ausdruck ihrer sich immer noch verstärkenden >defensiven< Einstellung zur Verfassung, ihres Bewußtseins, die Konstitution gegen vermutete Angriffe der Regierung bedingungslos verteidigen zu müssen, 117 und diese defensive Einstellung steigerte sich im Verfassungsfest von 1843 zu einem teilweise quasireligiöse Züge tragenden Verfassungskult. An der krassen, für die Zeitgenossen aber wohl selbstverständlichen Verbindung von politischer und religiöser Symbolik, besonders ausgeprägt in den kleinen katholischen Landstädten des Schwarzwalds und der Baar, wird das besonders deutlich. Hier, im ländlichen Süden, zeigte sich der Liberalismus buchstäblich als >VolksglaubeFrüchteRepublik< im modernen Sinne wurde auch von den Radikalen noch nicht aufgeworfen; wenn überhaupt, diskutierten die Redner die Republik nur in der alten Bedeutung des Wortes, die an die antike Verfassungstheorie und ihre frühneuzeitliche Rezeption anschloß. 120 Nicht nur stand der badische Liberalismus im Vormärz im defensiven Bewußtsein einer Verteidigung der Verfassung; er bewegte sich auch weithin, wir kommen im nächsten Abschnitt ausführlich darauf zurück, im Rahmen einer traditionalen, einer vormodernen Ideologie und Mentalität, wie es der Kontinuität der kommunalen Lebenswelt entsprach, aus der heraus er sich entwickelt hatte. Die in der Mitte der 1840er Jahre schnell fortschreitende Radikalisierung des badischen Gemeindeliberalismus ließ die in der Feier von 1843, wenn auch mancherorts nur noch mit Mühe, demonstrierte bürgerliche Eintracht und Einheit von Liberalismus und Gemeinde in den folgenden Jahren auseinanderbrechen, als die Radikalen den Versuch machten, das Verfassungsfest zu wiederholen und sogar als jährlichen Feiertag dauerhaft zu institutionalisieren. Ohnehin war es schwierig, eine Mobilisierung so großen Ausmaßes in kurzen Abständen und gewissermaßen >auf Abruf< zu bewirken; auf die Eigendynamik der liberalen Massenbasis, das wird hier noch einmal deutlich, konnte jede Elite nur einen sehr begrenzten Einfluß ausüben; und zur permanenten Mobilisierung war nur noch ein Teil des Liberalismus bereit. So wurden Verfassungsfeiern 1844 und, noch einmal schwächer, 1845 bis 1847 nur in den kleinstädtischen Zentren des Radikalismus im Mittelrheinkreis, vor allem in Ettlingen und Oberkirch, abgehalten. Statt eines die ganze Gemeinde und ihre politische Führung integrierenden Festzuges im öffentlichen Raum der Straßen und Plätze vollzogen sich diese Feiern ausschließlich in geschlossenen Räumen; meist im Wirtshaus, das der Treffpunkt der örtlichen Radikalen war. 121 Die Beamten hielten sich völlig zurück, der konservative Ettlinger Bürgermeister Ullrich war, vielleicht mit Absicht, um die Konflikte des Vorjahres zu vermeiden, nicht in der Stadt, und das Bezirksamt hatte angeordnet, daß weder ein Festzug noch ein Schießen mit den städtischen Geschützen stattfinden dürfe. Auf diese Weise trugen die Behörden und die regierungstreuen Gemeindeführungen sogar dazu bei, aus dem Gemeindefest ein Parteifest zu machen, an dem radikale Abgeordnete wie Itzstein und Soiron und die kleinstädtische Basis des Radikalismus, in Ettlingen vor allem Wirte und Handwerksmeister, unter sich blieben. Diese Verschiebung bedeutete aber nicht, daß nun, frei von Rücksichtnahme gewissermaßen, die Verfassung sprengende Forderungen nach Republik und Demokratie artikuliert worden wären - im Gegenteil: weiterhin und sogar stärker noch als 1843 stand die Verteidigung der Verfassung ganz 187 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35765-2
im Vordergrund der Programmatik, eben weil sie in der übersteigerten Wahrnehmung der Radikalen gerade des kleinstädtischen Milieus besonders gefährdet schien; und weiterhin wurde auch die Einheit von korporativer Bürgergemeinde und Liberalismus beschworen - in Oberkirch schlug ein Festteilnehmer vor, die nicht liberal wählenden Gemeinden sollten »ihres Namens verlustig aus der Ehrenliste der Gemeinden getilgt« werden. 122 Der Radikalismus an der Basis erwies sich hier als radikal im ursprünglichen Wortsinn; er spitzte die liberale Mentalität auf ihre Ursprünge hin zu und war insofern defensiver und traditionaler als der gemäßigte Liberalismus. 123 Die äußerste denkbare Konsequenz aus der defensiven Einstellung zur Verfassung, wegen der die Behörden sogar eine Untersuchung einleiteten, zog Itzstein in seiner Rede auf dem Ettlinger Verfassungsfest am 2 5 . August 1844: Wenn dem Volk die in der Verfassung gewährten Rechte streitig gemacht würden, »so haben wir das Recht, uns im Besitz derselben zu schützen und gebt acht ihr Bürger, es kommt noch eine Zeit, wo es Not tut, unsere Rechte mit der Waffe zu verteidigen.« 124 Knapp vier Jahre später schien dieser Zeitpunkt, die Verfassung mit der Waffe zu verteidigen, vielen in Baden gekommen. Vom Bürgerfest über das Verfassungsfest zum Parteifest - und von dort zur Revolution? Die liberale Sehnsucht nach Stabilität in der Bürgergesellschaft erfüllte sich jedenfalls auch in dieser Hinsicht nicht; eben hatte man ein neues Modell der bürgerlichen Selbstverständigung und Kommunikation entworfen, das dauerhaft auf der durch die Gemeindeordnung ebenfalls neubegründeten Bürgergemeinde ruhen zu können schien, da zerfielen seine Voraussetzungen schon wieder, und zwar nicht nur durch Angriffe von außen, sondern auch von innen: Die radikale Konsequenz der liberalen Utopie wendete sich innerhalb kurzer Zeit gegen sie selber, und das Festhalten an ihrer Vision der bürgerlichen Gesellschaft machte sie um so mehr zu einer des Übergangs.
4. Kommunalismus und Erfahrungsrepublikanismus. Zur politischen Ideologie und Mentalität des badischen Gemeindeliberalismus Die Frage, was eigentlich >liberal< sei, begleitet die Geschichte des Liberalismus nicht nur in Deutschland seit seinen Anfängen, und je differenzierter die neuere Forschung die Sozialstruktur der liberalen Bewegung im Vormärz herausgearbeitet hat, desto schwieriger ist es in vieler Hinsicht geworden, eine verbindende >Weltanschauung< des Liberalismus präzise zu bestimmen, seinen ideengeschichtlichen Kern gewissermaßen auf einen 188 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35765-2
Nenner zu bringen. Thomas Nipperdey erkennt diesen Kern im Leitgedanken des autonomen Individuums, Dieter Langewiesche definiert den frühen Liberalismus als »politische Verfassungsbewegung«, und Hans-Ulrich Wehler ergänzt die drei Kriterien einer sozialen Modernisierungsbewegung, des Wirtschaftsliberalismus und eines übergeordneten Weltbildes, das auf die Emanzipation von traditionalen Fesseln aller Art ziele. 125 In einem weiten Sinne ist das alles richtig, aber es ist relativ allgemein für eine ideen- und mentalitätsgeschichtliche Einordnung des frühen deutschen Liberalismus, die auch nach seiner Herkunft und dem sozialem Kontext der politischsozialen Zielvorstellungen fragt. Anders gewendet: Die Ideengeschichte des Liberalismus hat die Fortschritte der sozialgeschichtlichen Betrachtungsweise des letzten Jahrzehnts bisher noch nicht nachvollzogen; wenn der Liberalismus nicht mehr primär als eine nationale Bewegung bürgerlicher Eliten erscheint, kann sich auch die Beschreibung seiner Ideenwelt nicht mehr in erster Linie an diesen Gruppen orientieren. Die Kennzeichnung des Liberalismus als eine auf einem metapolitischen Individualismus aufruhende politische und sozialökonomische Modernisierungsbewegung ist, das haben wir schon angedeutet und das haben bisher schon Arbeiten etwa über die Affinität von Liberalismus und altem Handwerk gezeigt, 126 gerade im Südwesten problematisch (oder höchstens in einem sehr spezifischen Sinne zutreffend). Eine politische Verfassung, mit der die Liberalen sogar mehr als zufrieden waren, um die sie sogar einen >defensiven< Verfassungskult entwickelten, gab es in Baden ja; und von welchen traditionalen Fesseln wollten sich Gemeindebürger in ihrer Opposition gegen den bürokratischen Anstaltsstaat und ihrer Skepsis gegenüber der kapitalistischen Marktgesellschaft eigentlich emanzipieren? Eine Interpretation des frühen Liberalismus als Modernisierungsbewegung genügt insofern als analytischer Zugriff nicht und entspricht darüber hinaus nicht dem Selbstverständnis der Zeitgenossen, der liberalen Anhängerschaft im Vormärz. Die Tradition und Kontinuität, der ideelle und politisch-soziale Kontext sollten deshalb in der Ideengeschichte des vormärzlichen Liberalismus stärker und differenzierter als bisher berücksichtigt werden. 127 Die häufig zu scharf gezogene Epochengrenze 1789/1815, die es für die zeitgenössische Erfahrung der breiten Bevölkerung - trotz der Französischen Revolution - so nicht gab, relativiert sich dann; längerfristige frühneuzeitliche Traditionen im Liberalismus des frühen 19. Jahrhunderts, die auch weit hinter die Aufklärung zurückreichen, treten in den Vordergrund. In dieser Perspektive eröffnet sich die Möglichkeit, an die internationale, insbesondere die angloamerikanische Debatte über Ideologiebildung und Parteien, soziale Bewegung und Mentalität im 17. bis 19. Jahrhundert anzuknüpfen und damit die nationale Begrenzung der deutschen Liberalismus-Diskussion zugunsten einer internationalen Vergleichbarkeit zu über189 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35765-2
winden. Die politisch-soziale Ideologie des deutschen Frühliberalismus kann man dann, wie das im folgenden skizziert werden soll, als Variante eines >klassischen Republikanismus< verstehen, als Variante einer gemeineuropäisch-atlantischen Bewegung, die angesichts der Heraufkunft der ökonomischen und politischen >Moderne< antikisierende Ideale und frühneuzeitliche Lebenswelt, radikale Utopie und Beschwörung der Vergangenheit zu verschmelzen versuchte. 128 Wenn der politisch-sozialen Ideologie der liberalen >Basis< - vielleicht sollte man besser von ihrer >Mentalität< oder >Weltanschauung< sprechen, um die hierzulande häufig noch negativen Konnotationen des Ideologiebegriffs auszuschalten - stärkere Aufmerksamkeit gegenüber der Theorie und Weltanschauung der liberalen Elite gewidmet wird, hat das zwei weitere Konsequenzen. Erstens stellt sich die Frage nach dem politisch-sozialen Ort, der diese Weltanschauung hervorbrachte und trug - und dabei stößt man wiederum in erster Linie auf die politische Gemeinde, sei es die Stadtgemeinde oder die Landgemeinde, die in einer Gesellschaft mit räumlich eng begrenzter Mobilität und Kommunikation diejenige Institution war, welche die politisch-soziale Vorstellungswelt am unmittelbarsten prägte. Das gilt zumal für den oberdeutschen Raum und seinen seit dem Spätmittelalter ausgebildeten »Kommunalismus« (Blickle), der den Gemeinden in der Frühen Neuzeit im Bewußtsein ihrer Bürger eine herausgehobene Stellung für Autonomie und Freiheiten - gegenüber dem Fürsten, gegenüber dem Adel - verlieh. Damit ist, zweitens, bereits angedeutet, daß der frühe deutsche Liberalismus nicht nur im Hinblick auf Sozialstruktur und Organisationsformen, sondern auch in seiner >Weltanschauung< regional ganz unterschiedlich geformt sein konnte, und diese regionalen Besonderheiten, die wiederum auf spezifische frühneuzeitliche Traditionen zurückfuhren, in der Ideen- und Mentalitätsgeschichte herauszuarbeiten ist eine noch weithin offene Aufgabe der Forschung. Dabei stieße man vermutlich und zumal an der sozialen Basis auf erhebliche Divergenzen, die die Vorstellung von einer einheitlichen Ideologie des Liberalismus in den verschiedenen Staaten und Regionen des Deutschen Bundes in vieler Hinsicht auflösen würde - wahrscheinlich, aber auch dazu fehlen bislang Untersuchungen, stellte erst die Revolution und versuchte Nationalstaatsgründung von 1 8 4 8 / 4 9 einen bis an die Basis diffundierenden nationalen Kommunikationszusammenhang her, welcher die durch politische Kultur, Recht und Verfassung und sozialökonomische Verhältnisse jeweils bestimmten >Liberalismen< zu assimilieren und zu verschmelzen begann. So bildete auch der badische Liberalismus in den 1830er und 1840er Jahren eine eigene regionale Mentalität aus, die in einer eigenen politisch-sozialen >Sprachelanguages< des deutschen Frühliberalismus, kommuniziert wurde. 129 190 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35765-2
Auf diese Art und Weise könnte man neue Antworten auf vieldiskutierte Fragen der Liberalismusforschung gewinnen: Wie individualistisch war der frühe Liberalismus, sofern er in korporativen und kommunalistischen Traditionen stand? Wie staatskonform war er, und welchen Staat wollte er überhaupt? Wie >sozialkonservativ< war er und in welchem Sinne? Und war die >klassenlose Bürgergesellschaft< eher ein ständisch-patriarchalisches Relikt, wie Lothar Gall argumentiert, oder zugleich ein zukunftweisender Entwurf eines frühen kommunalen Sozialliberalismus, wie Dieter Lange wiesche zu zeigen versucht? 130 Wie stellt sich überhaupt das Verhältnis von politischen und sozialökonomischen Anschauungen dar, für das gerade für Baden häufig von einem Gegensatz zwischen politischer Modernität und ökonomischer Rückständigkeit gesprochen worden ist? 131 Und schließlich: In welcher Beziehung standen Liberalismus und >Bürgerlichkeit< dort zueinander, wo ein Bürgertum als soziale Klasse sich noch nicht formiert hatte? Solchen und ähnlichen Fragen soll in diesem und dem folgenden Abschnitt nachgegangen werden, zunächst mit einer Skizze der politischen Ideologie und Zielvorstellung des badischen Gemeindeliberalismus, dann mit einer Annäherung an seine soziale Vision, an seinen Begriff und seine Praxis von Bürger, Bürgertum und bürgerlicher Gesellschaft. 132 Dabei wird sich zeigen, daß Kennzeichnungen wie >traditional< versus >modernvormodernen< Vorstellungen, war aber zugleich ein radikaler Zukunftsentwurf. Die Erfahrung der Französischen Revolution konnte nicht mehr geleugnet werden - und doch blieben der Liberalismus und der Radikalismus, trotz der geographischen Nähe Badens zu Frankreich, bis in die Revolution von 1 8 4 8 / 4 9 hinein weithin eine vorrevolutionäre Bewegung, gewissermaßen eine vorrevolutionäre Bewegung nach der Revolution. Auch in weltanschaulich-ideologischer Hinsicht blieb er insofern Ausdruck einer bürgerlichen Gesellschaft im Übergang, die eben deshalb auf der Suche nach einer zeitlosen Utopie war, in der sich Vergangenheit und Zukunft unmittelbar verschränkten - und vielleicht deshalb die Gegenwart immer mehr zum Problem werden ließen: Während sich im Prozeß der allmählichen politischen Ausdifferenzierung der 1840er Jahre die gemäßigten Liberalen zur Gegenwart bekannten, versuchten die Radikalen, die Synthese von Vergangenheit und Zukunft noch zu radikalisieren, versuchten sie, schließlich vergeblich, die Synthese von Tradition und Chiliasmus in der Revolution in Institutionen zu binden. Doch zurück zur Frage der Herkunft, der Entstehung liberaler Gesinnung im vormärzlichen Großherzogtum Baden. Wie das im zweiten Kapitel schon in institutioneller Hinsicht, im Hinblick auf die liberale Inanspruchnahme traditioneller Institutionen der Gemeindepolitik verfolgt wurde, 191 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35765-2
ging auch liberale Mentalität häufig von einer allmählichen Umformung des korporativen Bürgerbewußtseins in den Gemeinden aus, und dieser Ursprung prägte noch den gemeindlichen Radikalismus der 1840er Jahre. Als Hoffmann von Fallersleben, nach dem Verlust seiner Breslauer Professur Reisender durch Deutschland in Sachen Liberalismus, im Sommer und Herbst 1844 auch mehrere Male das Großherzogtum Baden besuchte, wurde er in Lahr wie in vielen anderen Städten mit einem Festessen begrüßt und geehrt. Begeistert von den dargebotenen Proben der Gelegenheitsdichtung Hoffmanns, traten nach dem Essen viele der Lahrer Liberalen an ihn heran und erklärten, »ich sollte Bürger werden, nicht Ehrenbürger, sondern aktiver; wenn ich des Bürgerrechts bedürftig wäre, so sollte es meinerseits nur ein Wort kosten.« 133 Hier wurde in durchaus typischer Weise das alte, ständisch-korporative Gemeindebürgerrecht in einem emphatisch-modernen, ja parteipolitisch aufgeladenen Sinne verstanden, und wie fließend die Grenzen zwischen >traditionellem< Bürgergeist und >liberaler< Bürgerlichkeit gerade im kleinstädtischen Milieu des Vormärz sein konnten, illustriert sehr anschaulich Carl Spindlers in Konstanz angesiedelter Roman »Fridolin Schwertberger. Bürgerleben und Familienchronik aus einer süddeutschen Stadt«. Die kleinbürgerlich-handwerklich geprägte Lebenswelt des 18. Jahrhunderts kannte einen >BürgersinnGeldsäcke< anprangerte, gehörten häufig nicht zu den entschiedenen Mitgliedern der lokalen liberalen Partei. Wenn auch die korporative und frühliberale Gesinnung zumal in den 1830er Jahren eine kaum aufzulösende Verbindung eingingen, 135 sich gewissermaßen in einem Schwebezustand befanden, in dem die Entscheidung für eine Parteiaffiliation noch so oder so ausfallen konnte - wobei die lokale Konstellation und nicht zuletzt persönliche Verbindungen für die individuelle Zuordnung eine wichtige Rolle spielten - , war doch das Urteil Struves ungerecht, »freisinnig, selbst radikal« nennten sich »Leute, welche von dem krassesten Zunftgeiste, von dem kleinlichsten Spießbürgertum beseelt sind, welche jeden Eingriff in ihre altertümlichen Privilegien bekämpfen«. 136 Immerhin spielten im Vormärz die Zünfte in Baden politisch kaum mehr 192 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35765-2
eine Rolle, und viele der »altertümlichen Privilegien« waren durch Gemeindeordnung und Bürgerrechtsgesetz zumindest unterhöhlt worden. Man kann die Adaptation liberaler Ideologie durch das Gemeindebürgertum funktionalistisch als geschickten Zugriff auf ein neues Medium zur Verteidigung alter Interessen interpretieren, aber eine solche Sichtweise stößt schon insofern auf Grenzen, als es eine Partei mit >konservativem< Bürgergeist auch weiterhin gab - es hieße die Veränderungen und die Zugehörigkeit zur liberalen Bewegung insgesamt zu unterschätzen, wenn man im Gemeindeliberalismus nicht mehr als ein Etikett sähe, das im Grunde konservative Stadtbürger und Bauern sich aufklebten, um im 19. Jahrhundert politisch salonfähig zu werden. Die Kritik Struves ging aber in vielleicht noch fundamentalerer Hinsicht an den spezifischen Entwicklungsbedingungen des Liberalismus in Südwestdeutschland vorbei: Sie unterschätzte das unmittelbar freiheitliche Potential der gemeindebürgerlichen, der kommunalen Tradition in dieser Region jene Prägung von Institutionen und Mentalität des oberdeutschen Raumes also, die man im Anschluß an Blickle als >Kommunalismus< bezeichnen kann. 137 Gegen fürstliche Landesherrschaft und adlige Feudalherrschaft hatten die politische Gemeinde und die übergemeindliche Vertretung in den >Landschaften< Freiräume genossenschaftlicher Selbstbehauptung ermöglicht - und in der Frühen Neuzeit zum Teil noch ausgebaut 138 - , welche die politische Erfahrung und Einstellung der bürgerlichen wie der bäuerlichen Bevölkerung über lange Zeit formten; und diese Erfahrungen gingen in der politischen Umbruchzeit um 1800 nicht verloren, wie sich übrigens auch Reste der landschaftlichen Institutionen etwa in der Standesherrschaft Fürstenberg bis 1848 erhielten. 139 Im Gegenteil; wenn man die korporativgenossenschaftliche Autonomie bis dahin gegen Eingriffe von außen zu verteidigen bereit war, mußte man das angesichts der mit neuartigen Anmaßungen auftretenden, zentralistischen badischen Reformbürokratie erst recht tun. Die Mentalität eines bürokratischen Liberalismus, der Freiheit und Gleichheit durch Intervention >von oben< anstrebte, mußte angesichts dieser Tradition in den Gemeinden unverstanden bleiben und auf Widerstand stoßen. Die Gegner und Gegenbegriffe gerade des Liberalismus auf dem Lande - und hier wiederum besonders im Schwarzwald - blieben im Vormärz »Despotismus, Absolutismus, Aristokratismus, Servilismus«, 140 auch wenn sich der Inhalt dieser Begriffe durch die Berührung mit dem Liberalismus des 19. Jahrhunderts zum Teil veränderte. In den fiktiven Schwarzwälder Wirtshausgeschichten des »Altvogts Andres«, die als Flugschriften des radikalen Buchdruckers Konrad Hollinger in den 1840er Jahren erschienen, ist besonders deutlich greifbar, wie die Abneigung gegen die >HerrenWiderstands< und >Eigensinns< unmittelbar in einen diffusen, aber wirkungsvollen Liberalismus überfuhrt wurde, der eine 193 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35765-2
spezifische, genossenschaftlich gegründete Form der politischen Freiheit in den Mittelpunkt stellte - Freiheit gegen >Servilismus< - , ohne dabei vom autonomen Individuum, geschweige denn von einer neuen Wirtschaftsordnung auszugehen; der Liberalismus wurde hier aus der eigenen Erfahrung viel stärker als aus abstrakten Staatstheorien gewonnen. 141 Kann die Mentalität des badischen Frühliberalismus an seiner sozialen Basis als eine Fortsetzung der korporativen und kommunalistischen Traditionen verstanden werden, gelang seine Integration in die liberale Bewegung des Vormärz nicht zuletzt deshalb sehr erfolgreich, weil die politische Theorie und Ideologie der liberalen Elite des Großherzogtums ebenfalls in langfristigen Traditionszusammenhängen und lebensweltlichen Prägungen stand; weil der Liberalismus der gebildeten Elite, mit anderen Worten, auf seine Weise gleichfalls sehr stark in frühneuzeitlichen Kategorien von Politik und Gesellschaft dachte. Auf diese Weise ergab sich eine enge Affinität zwischen beiden sozialen Schichten liberalen Denkens in Baden, und auf der Verbindung und gelingenden Kommunikation zwischen der erfahrungsgespeisten Mentalität des Volkes und der stärker abstrakt gewonnenen, in theoriegeschichtlichen Zusammenhängen argumentierenden Ideologie der Elite beruhte ein Gutteil des F>folges des badischen Liberalismus. Durch die lokale Presse wie durch persönliche Kontakte sickerten Elemente der >Hochsprache< des Liberalismus in die liberale >Volkssprache< ein, 142 und umgekehrt, wie man am Beispiel Karl von Rottecks sehr gut erkennen kann, vollzog sich liberale Theoriebildung niemals frei von den Bedingungen des jeweiligen politisch-sozialen Kontextes. Auch in ideengeschichtlicher Perspektive bestand insofern kein scharfer Bruch zwischen >Volkskultur< und >Elitenkultur< des Liberalismus - beide bedienten sich, das versteht sich, ihrer je eigenen Ausdrucksmittel, hinter denen aber ähnliche Werte standen. Gerade der Liberalismus Rottecks, dessen Bewertung als >doktrinär< seit Treitschke geradezu zum Klischee geworden ist,143 ist ohne das Umfeld der mittelständisch-vorindustriellen Bürgergesellschaft des Südwestens nicht verständlich, die er in sich aufnahm, wie er eben deshalb erfolgreich in sie zurückwirken konnte, und das hatte Treitschke, wenn auch mit einer extrem abschätzigen Bewertung, schon sehr klar erkannt: Rotteck »nahm den wohlhabenden Kleinstädtern und Bauern des Südens das Wort von den Lippen und verkündete was alle dunkel empfanden«, »weil er weder die Kraft noch die Neigung besaß sich irgendwie über die Durchschnittsansicht der Mittelklassen zu erheben.« 144 »Durch Rottecks Weltgeschichte«, fuhr Treitschke fort, indem er den politischen Kern dieser Wechselbeziehung zu bestimmen versuchte, »wurde das republikanische Staatsideal zum ersten Male den deutschen Mittelklassen gepredigt.« 1 4 5 Doch auch damit drückte Rotteck nur aus, »was alle dunkel empfanden«, denn sein Republikbegriff meinte nicht den auf Volks194 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35765-2
Souveränität beruhenden parlamentarischen Freistaat im Gegensatz zur Monarchie, sondern knüpfte an die Begrifflichkeit der klassischen Politiktheorie an, die überhaupt das Fundament seines und des badischen Liberalismus im Vormärz bildete. >Republik< stand hier noch als Oberbegriff für alle diejenigen Formen von Herrschaft, die sich am normativ definierten Ziel eines >guten< Gemeinwesens orientierten, eines Gemeinwesens, das in dem auf Aristoteles zurückreichenden Sinne durch freiheitliche Bürgerpartizipation (mit-konstituiert wurde - im Gegensatz zu allen >entarteten< Formen der Despotie und Tyrannis sei es eines Einzelnen, sei es einer kleinen Gruppe oder sei es der Masse.146 Politik war in dieser Sichtweise ein Teil der praktischen Philosophie; sie zielte als Fortsetzung der Ethik auf die Ermöglichung des guten Lebens, das niemals in der Abwesenheit herrschaftlicher Ordnung, in der Entgegensetzung von Gesellschaft und Staat denkbar war, sondern erst durch das >politischePolis< bezogene Engagement des Bürgers hergestellt werden konnte. Insofern standen, darauf kommen wir im nächsten Abschnitt noch ausführlicher zurück, bürgerliche Gesellschaft und Staat für den südwestdeutschen Liberalismus nicht im Gegensatz zueinander, sondern waren identisch: »Zwischen bürgerlicher Gesellschaft«, so Rotteck in seinem »Lehrbuch des Vernunftrechts«, »welche nämlich, wie das Wort >bürgerlich< ausdrückt, nur eine zur Erstrebung des Staatszwecks geschlossene sein kann, und Staat selbst ist also kein Unterschied; denn auch unter Staat verstehen wir nichts anderes, als eine zu eben jener Zweckerstrebung geschlossene Gesellschaft.«147 Bis zu diesem Punkt folgte der vormärzliche Liberalismus dem klassischen Paradigma der Politik in einem sehr allgemeinen Sinne, doch indem er dieses Konzept mit einer bestimmten Zeiterfahrung (und den aus ihr gezogenen politischen Konsequenzen) verband, näherte er sich einer spezifischeren Ausprägung frühneuzeitlicher Politik- und Gesellschaftstheorie an, die im 17. und 18. Jahrhundert in England und Amerika eine wichtige Rolle gespielt hatte: Der >klassische Republikanismuscivic humanism< als europäisch-atlantische Denktradition seit dem 15. Jahrhundert verfolgt hat,148 beruhte nicht nur auf einem aristotelischen Bürger- und Politikbegriff; in seinem Kern ist er als Theorie der ständigen Gefährdung der Republik und ihrer Bürgerfreiheit durch den in >Korruption< führenden Verlust an Bürgertugend verstehbar und damit als Instrument zur Verteidigung des guten Gemeinwesens und der geordneten Verfassung gegen befürchtete Veränderungen - und ideologiekritisch gesehen war diese Bewegung nicht zuletzt ein Reflex auf Veränderungen, auf die Modernisierung der englischen Gesellschaft im 17. und 18. Jahrhundert. Die zugespitzte, in der Erfahrung der Zeitgenossen manchmal geradezu >paranoide< Zukunftserwartung des Verlustes von Tugend und Bürgerfreiheit hat Pocock als den 195 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35765-2
>Machiavellian Moment< bezeichnet, »the moment in conceptualized time in which the republic was seen as confronting its own temporal finitude, as attempting to remain morally and politically stable in a stream of irrational events.« 149 Es war genau diese defensive Einstellung, mit der in England der Verfassungskompromiß der >Glorious Revolution< und in den nordamerikanischen Kolonien die >rights of Englishmen< verteidigt wurden, die auch der badische Liberalismus im Vormärz als eine Grundeinstellung, als eine politische Mentalität zur Verteidigung seiner Verfassung, entwickelte, und Itzsteins auf dem Ettlinger Verfassungsfest von 1844 geäußerte Befürchtung, zur Abwendung dieser Gefahr müsse der Bürger in absehbarer Zeit zur Waffe greifen, markierte insofern in aller Deutlichkeit den >Machiavellian Moment< des badischen Liberalismus. Nicht zuletzt, weil es die auch analytisch kaum aufzulösende Synthese von >Traditionalismus< und >Radikalismus< theoriegeschichtlich einzuordnen und mentalitätsgeschichtlich nachzuvollziehen vermag, kann das Konzept des >klassischen Republikanismus< für die Beschreibung des südwestdeutschen Frühliberalismus erhellend sein. In dieser Perspektive stellt sich auch das Verhältnis von konstitutioneller Monarchie, Republik und Demokratie im südwestdeutschen Vormärz etwas anders dar, als es meist gesehen wird. Die deutsche konstitutionelle Monarchie des 19. Jahrhunderts war nicht erst ein Kind der Restaurationszeit, der monarchisch-bürokratischen Nachahmung der französischen >Charte constitutionelle< von 1814; 150 sie besaß ihre eigenen Wurzeln in Verfassungstheorie und Verfassungstradition der Frühen Neuzeit und konnte von den Liberalen nicht zuletzt deshalb so positiv verstanden werden. Wie die klassische Verfassungstheorie seit der Antike in einer >gemischten< Verfassung aus monarchischen, aristokratischen und demokratischen Elementen die beste Gewähr für Stabilität und Freiheit gesehen hatte, 151 tat dies auch der badische Frühliberalismus: Die konstitutionelle Monarchie war in seiner Wahrnehmung die Mischverfassung des eigenen Staates, der auf dem Zusammenspiel, auf der Balance von Fürst, Adels- und Volkskammer gründete. »In unserer Verfassung«, drückte das ein Redner auf dem Freiburger Verfassungsfest 1843 aus, »bestehen drei Elemente: das monarchische, das aristokratische und das demokratische nebeneinander«, freilich in der Realität noch nicht in einem befriedigenden Verhältnis zueinander: »es wird noch einige Zeit hingehen, bis ... das Gleichgewicht der drei Elemente hergestellt ist.« 152 »Demokratie, oder vielmehr«, wie Rotteck bezeichnenderweise korrigierte, »demokratisches Prinzip, gilt uns hiernach keineswegs für gleichbedeutend mit Volks-Herrschaft oder gar mit Pöbel-Herrschaft, und keineswegs für einen Gegensatz der Monarchie« 1 5 3 , und in Robert Blums »Volkstümlichem Handbuch der Staatswissenschaften und Politik« wurde noch 1851 die Auffassung zurückgewiesen, der Begriff >Republik< bezeich196 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35765-2
ne eine Regierungsform, »einen Staat von nicht monarchischer Verfassung«: Republik war vielmehr das »Gemeinwesen ..., dessen einzelne Glieder zu einem gemeinsamen Zwecke verbunden sind. Ein solcher Staat kann eine demokratische, aristokratische, monarchische Verfassung haben«, sofern nur der »Schutz allseitiger Freiheit« durch »republikanische Tugend und Bildung« in seinem Mittelpunkt steht.154 Nicht als um eine oktroyierte Konstitution erweitertes Gottesgnadentum, sondern als gemischte Verfassung der >bürgerlichen Freiheit< im klassischen Sinne war der frühe Liberalismus die konstitutionelle Monarchie zu verteidigen bereit. Die Zugehörigkeit des aristokratischen Elementes zu einer guten Verfassung - und das hieß in der sozialen Realität Alteuropas ja in aller Regel: des Adels - wurde freilich schon in der politischen Theorie des 18. Jahrunderts immer häufiger bestritten und von den Liberalen des 19. in dem Maße seltener angeführt, wie die rechtlichen Privilegien und die politische Rolle des Adels sowie seine Sondervertretung in der Ersten Kammer in den Mittelpunkt der Kritik rückten. Doch war diese auf das Zusammenspiel von Monarchie und Demokratie, von Fürst und Volk beschränkte Variante einer gemischten Verfassung wiederum nicht nur ein Ergebnis politisch-sozialer Konflikte des 19. Jahrhunderts, sondern setzte eine andere, im Bewußtsein der Bevölkerung zumal des südwestdeutschen Raumes verankerte Tradition der Frühen Neuzeit unmittelbar fort: die Idee der ständischen und landschaftlichen Vertretung des Volkes gegenüber der Regierung, den politisch institutionalisierten Gegensatz von >Landschaft< und >Herrschaftständische< Verfassung der konstitutionellen Monarchie die Zeitgenossen des Vormärz selber nannten den Landtag nicht zufällig meist >die Stände< - eine besondere Affinität zum hergebrachten Kommunalismus der Region. In der dualistischen Staatsauffassung der badischen und württembergischen Liberalen wirkte das altständische Erbe nach;155 in seinen »Ideen über Landstände« definierte Rotteck diese 1819 als »Volksrepräsentanten gegenüber der Regierung«, als »Ausschuß, beauftragt, die Rechte dieses Volkes ... gegenüber der Regierung auszuüben«.156 Das Parlament war die Vertretung des Volkes gegenüber dem fürsdichen Staat, oder umgekehrt: das Parlament war selbst das »zum Staat vereinte Volk«157 im Gegensatz zur Regierung; aber in jedem Fall bildeten nicht Stände und Regierung zusammen den Staat, sondern standen sich in scharfer Dissoziation gegenüber. Soweit dieses Denken nicht nur in der Theorie der liberalen Elite seinen Ausdruck fand, sondern auch und gerade im badischen Vormärz sogar zunehmend die Mentalität des Volkes, der liberalen Basis, prägte, bildete es die ideelle Grundlage der scharfen Konflikte zwischen Beamten und Bürgern, Regierung und Gemeinde; der Konfliktkonstellation des frühen 19. Jahrhunderts lag noch immer die politisch-soziale Erfahrung und Gesinnung der Frühen Neuzeit zugrunde. 197 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35765-2
Das wird umso deutlicher an einer zweiten Bedeutungsvariante des Republik- und Demokratiebegriffes im badischen Frühliberalismus, durch die das Engagement und die Tugend der Bürger - wiederum ganz im Sinne des klassischen Politikbegriffes gedacht - unmittelbar auf die Gemeinde verwiesen wurden. Repräsentation und Demokratie waren noch unvereinbar, weil und solange Demokratie die unmittelbare Partizipation und Herrschaftsausübung des Volkes, im Prinzip also die antike (oder die so stilisierte >germanischeklassische Republikanismus< stärker noch als in England und Amerika mit der Gemeinde ein politisch-soziales Milieu vor, durch das er gewissermaßen an die soziale Basis diffundieren konnte. Peter Blickle hat im Hinblick auf das späte Mittelalter und die Frühe Neuzeit von einer hohen Affinität von >Kommunalismus< und >Republikanismus< gesprochen; 161 in der politisch-sozialen Mentalität des badischen Gemeindeliberalismus im frühen 19. Jahrhundert, in der zunehmenden Entwicklung der Gemeinden zu kleinen »Republiken«, 162 ist diese enge Beziehung erst recht erkennbar. Daran hatte Ludwig Winter, als er in den Kammerverhandlungen 1831 mehr ironisch meinte, die neue Gemeindeordnung mache aus jeder Gemeinde eine Republik, wohl nicht gedacht, weil er die langfristigen Entwicklungsbedingungen unterschätzte, deren Zusammentreffen mit der Gemeindeordnung die Wirkung dieses Gesetzes geradezu potenzieren mußte. Insofern der frühe Liberalismus den klassischen Politikbegriff adaptierte, folgte er auch dessen umfassendem sozialem Geltungsanspruch, der sich 198 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35765-2
über den engeren Bereich der Herrschafts- und Verfassungsordnung hinaus auf die ethisch-normative Regulierung des gemeinschaftlichen Zusammenlebens überhaupt und damit auch auf Ökonomie und wirtschaftliches Handeln bezog. Die Unterordnung der Ökonomie unter die Politik bedeutete nicht nur, daß im Liberalismus des Südwestens die wirtschaftlichen Zielvorstellungen gegenüber den politischen in ihrer Bedeutung klar zurücktraten; vor allem folgte daraus die Leugnung der Eigengesetzlichkeit des Ökonomischen, das statt dessen an den Maßstäben politischer Tugendhaftigkeit (im älteren Sinne), und das hieß nicht zuletzt: an den Maßstäben einer von Privatinteressen freien Lebensordnung, gemessen wurde. Der badische Liberalismus des Vormärz war vor allem eine politische Ideologie, die eine konsistente >Wirtschaftsgesinnung< in vieler Hinsicht gar nicht entwickelte, ja auf sie verzichten zu können meinte; weil er in den Kategorien des klassischen Politikbegriffs und der >kollektivistischen< Mentalität der Frühen Neuzeit dachte, entwickelte er kaum eine genuin sozioökonomische Perspektive auf Politik und Gesellschaft. Die Begrenzung der wirtschaftlichen Eigendynamik im traditionellen Sinne war für den kleinbürgerlichen Liberalismus an der Basis ein selbstverständlicher Teil seines Wertehorizontes und für die Eliteideologie nahezu unauflöslich mit ihrer Grundauffassung von Politik verbunden; ein guter und liberaler Bürger erkannte, daß »immer früher oder später das Ganze dadurch leidet, wenn ein Bürger dem andern, ein Stand dem andern entgegenarbeitet«, und »Gewinn, der durch Druck auf Andere erpreßt werden muß, ist ihm Verlust eines höheren Guts, der Ehre, die ihm um kein Geld feil ist.« 163 Auch hier profitierte der Liberalismus von einer grundsätzlichen Affinität des Denkens von >Volk< und >ElitePrimat der Politik< erleichterte es bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts auch an der sozialen Basis, in den einzelnen Gemeinden verschiedenen sozialen Gruppen mit einer je eigenen >WirtschaftsethikNahrungsprinzip< folgen, als Kaufleute Gewinn machen oder in frühindustriellen Gewerbebetrieben den neuen Gesetzen der Produktion und des Marktes folgen. Die jeweilige lokale Verankerung und die relative sozioökonomische Binnenhomogenität der Gemeinden vor der Industrialisierung - auch wenn Mannheim und Konstanz, Pforzheim und Ettlingen sich untereinander bereits stark unterschieden - unterstützte diese Konsensfindung ebenfalls. Man kann die Konzentration des südwestdeutschen Liberalismus auf das Politische aber auch so interpretieren, daß die Emphase der politischen Freiheit umso stärker wurde, je mehr seit den 1830er Jahren der Konflikt zwischen zwei grundverschiedenen Paradigmata der Ökonomie aufbrach als eine lange Zeit erfolgreiche Strategie der Ablenkung von ökonomischen Problemen also, die, ins Zentrum gerückt, zur Spaltung des Liberalismus hätten fuhren müssen. Nur in Mannheim, der größten und gewerblich am weitesten fortgeschrittenen Stadt des Großherzogtums, und auch dort erst 1846/47 und sehr zaghaft, konstituierte sich neben der (wesentlich stärker als in anderen Städten) auf Wirtschaftsfreiheit setzenden liberalen Partei des Handels- und des Bildungsbürgertums eine gleichfalls politisch liberale, aber ökonomisch traditionalistische Partei der Handwerker und Kleinhändler.165 So, wie der ökonomische Traditionalismus im Vormärz politisch ebensogut konservativ wie liberal sein konnte, war auch umgekehrt der politische Liberalismus und Radikalismus ökonomisch noch >polyvalent< und milieugebunden; in Kleinstädten und auf dem Lande verbündete sich der traditionelle Antikapitalismus, die traditionelle Wirtschaftsmentalität sogar besonders leicht mit einem Liberalismus, der für die Herrschaft des »Gesetzes« statt der »Rechentafel« eintrat. 166 Die liberale Negierung des Privatinteresses lenkt hin auf das Phänomen einer in vieler Hinsicht >konformistischenEintracht< und >Parteilichkeit< im frühen Liberalismus. Seine Parteiskepsis ist in der Literatur vielfach bemerkt und häufig kritisiert worden, und zwar sowohl bezüglich der politischen Theorie als auch im Hinblick auf politische Organisation und Praxis. Der »erschreckende Mangel an Verständnis für die Gesetze der Politik, an politischem Realitätsbewußtsein«, den etwa Gall konstatiert und der Anerkennung von Parteien bei Constant gegenüberge200 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35765-2
stellt hat, 167 war aber für die politische Praxis der Liberalen, wie wir im zweiten Kapitel schon zu zeigen versucht haben, so erschreckend nicht, wenn man den extremen historischen Sonderfall straff organisierter, zentralisierter und bürokratisierter Massenparteien nicht zum für den Vormärz ohnehin anachronistischen Maßstab wählt und bei genauerem Hinsehen zudem erkennt, wie erfolgreich und >politikfähig< die lokale Parteibildung seit den 1830er Jahren sein konnte. Auch in ideen- und mentalitätsgeschichtlicher Hinsicht muß die liberale Parteiskepsis zumindest differenzierter gesehen und auf ihre politisch-sozialen Ursprünge und Funktionen hin befragt werden. Der beständige Appell an die bürgerliche >Eintracht< konnte zwar auch im Sinn eines unpolitischen >Biedermeier< gemeint sein, ging darin aber nicht auf; er hatte vielmehr innerhalb des badischen Liberalismus einen eminent politischen Kern, der zugleich auf der konkreten Erfahrung bürgerlichen Konfliktes in der Gemeinde in der Frühen Neuzeit, bis zur Zäsur der Gemeindeordnung von 1 8 3 1 , beruhte. >Eintracht< zielte insofern auf den lange vermißten Konsens zwischen Bürgern und Gemeindebehörden, also die demokratische Legitimation der Gemeindefährung, und drückte zugleich in einer Übergangszeit die Erwartung aus, die >vorpolitischenParteinahme< als Ausdruck eben dieses Politisierungsprozesses verstand, nämlich als das politische Engagement des einzelnen Bürgers, als »Entfernung aller Schläfrigkeit, Laßheit und Gleichgültigkeit, wenn es sich um etwas öffentliches, gemeinnütziges, zweckdienliches handelt«, und nicht als ein »sich ständiges Befehden, ein Leben voller Hader, Streit, Zank, Zwietracht«. 169 Gegen diese negativen Konnotationen des Parteibegriffs richtete sich die liberale Propaganda sogar in besonderem Maße; der Mannheimer Buchhändler Hoff kritisierte als Redner auf dem Itzsteinfest 1845, es gebe »leider noch manch schwache Gemüter, die sich da fürchten, wenn sie von Partei hören und (die) irgend einen schlimmen Nebenbegriff damit verbinden«: »Ja, meine Herren«, forderte Hoff die Anwesenden auf, »man soll sie nicht scheu und zaghaft verstecken, man soll sie hoch aufpflanzen am Horizont des Vaterlandes, die Fahne der Partei«. 170 Damit verband sich freilich unauflöslich die Erwartung, daß >die Parteidie Partei< gewonnen seien und sie eben dadurch aufhöre, Partei zu sein. »Sie ist aber«, wurde diese Hoffnung zeitgenössisch ausgedrückt, »nur so lange Partei, als Andere 201 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35765-2
mit anderen Strebungen ihr entgegen stehen, und hört auf, es zu sein, sobald das ganze Volk, von denselben Gesinnungen und Grundsätzen durchdrungen, einerlei Ziel verfolgt«, sobald »ihr letzter Feind einst überwunden ist, und wir eben damit aufgehört haben, eine Partei zu bilden.« 171 Diese geradezu chiliastische Utopie eines konfliktlosen Gemeinwesens war für den Liberalismus zunächst eine konkrete Naherwartung, die jedoch immer mehr in die Ferne rückte und schließlich ganz entschwand, als seine Gegner ebenfalls begannen, sich als eine Partei - nicht mehr als >die< Partei - zu verstehen. Unpolitische oder regierungstreue Bürger erwartete man zu Liberalen machen zu können, und Regierung und Beamte waren Gegner, aber keine Partei, weil sie nicht zum >ganzen VolkParteinahme< zu einer Wiederherstellung des bürgerlichen Konsenses fuhren sollte. Ob im Verhältnis von Ökonomie und Politik das Privatinteresse abgewertet wurde oder Parteibildung unter dem Vorbehalt des höherrangigen Zieles bürgerlicher Eintracht stand - immer bildete die übergeordnete Wertkategorie des Gemeinsinns, des gemeinschaftlichen politischen Engagements der Bürger für das bonum commune, die Grundlage dieser Einstellung. Insofern läßt sich der frühe Liberalismus als >lndividualismusvon oben< durchgesetztes Gemeinwohl, sondern entsprach, nicht zuletzt als Ausdruck der zugespitzten Regierungs- und Beamtenfeindschaft, dem Gemeinwohlkonzept der klassischen Politik, das auf die Ermöglichung des >guten Lebens< in der aktiven Gemeinschaft politisch interessierter Bürger zielte. 179 203 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35765-2
Der liberale Appell an den Gemeinsinn konnte aber vor allem deshalb an der Basis, und nicht nur in den Städten, sondern auch auf dem Lande, besonders erfolgreich sein, weil er an die Wertkategorie des >Gemeinnutzes< als einer zentralen Norm der frühneuzeitlichen Gesellschaft anschloß, 180 die außerdem bereits über eine lange Tradition als Oppositionsideologie des >Landes< gegen die >Herrschaft< verfugte und in diesem Sinne auch noch am Anfang des 19. Jahrhunderts verstanden werden konnte. Mögen die Anfänge des fundamentalen Normenwandels vom >Gemeinnutz< zum >Eigennutz< auch in Deutschland schon im 16. und 17. Jahrhundert erkennbar sein, ist in der politischen Mentalität des Volkes gerade im Südwesten die hartnäckige Dauer der Orientierung am gemeinen Nutzen doch das auffälligere Phänomen. Und auf der Suche nach dem institutionellen Bindeglied dieser in den Liberalismus hineinreichenden Tradition stößt man wiederum auf die Gemeinde und ihre, im alten Sinne, >republikanische< Verfassung. >GemeinnutzRepublik< und >Gemeinde< waren in der Frühen Neuzeit geradezu identisch; »ist zu wissen«, definierte Johann Ferrarius schon im 16. Jahrhundert, »daß res publica oder Gemeinnutz nit anders ist dann ein gemein gute Ordnung einer Stadt oder einer andern Commun«; 1 8 1 aber Rotteck oder andere südwestdeutsche Liberale hätten das fast drei Jahrhunderte später ganz ähnlich ausdrücken können. Der liberale >Gemeinsinn< übersetzte nur den gemeinen Nutzen und hob ihn auf ein höheres Theorieniveau, änderte aber nichts an der Wirkungsmächtigkeit und Nachvollziehbarkeit dieses Wertes in der Bevölkerung. Ohne die frühneuzeitliche Mentalität des gemeinen Nutzens und ihren institutionellen Bezug auf die politische Gemeinde ist der schnelle und breitenwirksame Erfolg des badischen >Gemeindeliberalismus< im Vormärz nicht erklärbar. Vor diesem Hintergrund erst gewinnt die zentrale Stellung der Gemeinde in der politischen Theorie des Frühliberalismus, auf die häufig hingewiesen worden ist, ihre eigentliche Bedeutung und Aussagekraft. 182 Die Gemeinde als ein kleiner Staat, als eine Vorschule des konstitutionellen Lebens - das entsprach der politisch-sozialen Tradition des deutschen Südwestens und ihrer Wiederbelebung im Vormärz in ganz besonderem Maße. Der Staat selber war sekundär gegenüber den Gemeinden und anderen Korporationen; Mittermaier etwa wies wie viele andere badische Liberale die Vertragstheorie als »eine irrige Ansicht« zurück und hielt dagegen, daß der Staat »aus einer Reihe von kleineren Kreisen« besteht; 183 und dieser Auffassung folgte, trotz seiner beißenden Kritik am »deutschen Spießbürgertum«, auch ein Radikaler wie Struve in seinen »Grundzügen der Staatswissenschaft« von 1847/48: »Auf der Grundlage der Familie und der Gemeinde muß das eigentliche Gebäude, der Staat, erst aufgerichtet werden.« 1 8 4 Wer im Vormärz den Primat der Gemeinde bestritt und wie Friedrich Bülau behauptete, »daß man durchs Staatsleben für das Gemeindeleben,, nicht 204 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35765-2
aber durchs Gemeindeleben für das Staatsleben gebildet werden kann«, 185 gab sich in der Regel als konservativ und regierungstreu zu erkennen. Wenn Rotteck und Mathy die politische Bedeutung der Gemeinde gegenüber dem Staat und für ihn theoretisch hervorhoben, 186 standen ihnen zugleich die alltäglichen Konflikte zwischen Regierung und Gemeinde in Baden und anderen deutschen Staaten vor Augen, an denen sie sich ja auch selber beteiligten; und umgekehrt gewann diese Theorie für ihre Leser vor dem Hintergrund konkreter politischer Konflikte ihre besondere Brisanz. Die geradezu euphorische Aufnahme der Gemeindeordnung von 1831 im ganzen Großherzogtum, ihre selbstverständliche Stellung an der Spitze einer »Stufenleiter des konstitutionellen Lebens in Baden« 187 wird auf diese Weise als Ausdruck einer weitverbreiteten Erwartung verständlich, den verloren gegangenen Gemeinsinn und Gemeinnutz erneut zu sichern und die kommunalistische Autonomie der Gemeinden gegenüber dem Staat, der gewissermaßen nur ein Ausschuß des Landes sein sollte, zu behaupten - nicht zufällig nannte die republikanische Regierung Badens sich im Mai 1849 > Landesausschußhistoria magistra vitae< galt hier noch fast uneingeschränkt. Nicht nur in Baden freilich waren Aufklärung und früher Liberalismus des 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts von einer intensiven und je politisch nutzbar gemachten Auseinandersetzung mit Geschichte maßgeblich geprägt; 188 und nicht nur hier vermischten sich ganz unterschiedliche Bezüge auf die Vergangenheit, zumal im politischen Sprachgebrauch außerhalb von Geschichtsschreibung und Wissenschaft, in einer sehr eklektizistischen Weise, die eine dogmengeschichtliche Zuordnung zu verschiedenen >Denkströmungen< kaum möglich und nur in Grenzen sinnvoll macht. Drei allgemeine Bezugspunkte historischen Argumentierens kann man aber im frühen badischen Liberalismus unterscheiden: Die durch den Neuhumanismus noch einmal verstärkte positive Anknüpfung an die griechische und römische Antike, an Polis und Republik, berief sich auf partizipatorische Bürgerfreiheit und zeigte immer wieder die prekäre Gefährdung republikanischer Ordnung durch den Verlust von Tugend und Gemeinsinn unter den Bürgern auf.189 Romantik und Historismus wiederum rückten den Appell an die deutsche Geschichte und Vorgeschichte zunehmend in den Mittelpunkt. Unter Berufung auf die angebliche genossenschaftliche Urdemokratie der Germanen beklagten auch viele badische Liberale wie Bassermann den Verlust dieser ursprünglichen 205 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35765-2
Freiheit: »Sie waren nicht bevormundet von Leuten, die sie nicht wollten, nein, unter freiem Himmel, in großen Volksversammlungen wählten sie ihre Anführer, unter freiem Himmel hielt das Volk Gericht und gegen seinen Willen konnte nichts geschehen.« 190 Und schließlich wurde beständig an einen weiteren Sündenfall, einen zweiten Verlust der Freiheit erinnert; daran, »wie die Gemeinden im Mittelalter freie Verfassungen hatten, wie die Gemeinden blühend, die Bürger frei und wohlhabend waren«, und diese Freiheit in der Frühen Neuzeit mit der Territorialstaatsbildung und landesherrlichen Machtausweitung verloren. 191 Trotz eines unleugbaren Eklektizismus aber war der Rückgriff auf gerade diese historischen Beispiele kein Zufall; und der Appell an die Geschichte hatte im Bürgertum des badischen Vormärz nicht bloß eine sentimentale Erinnerungsfunktion, die eher der Ablenkung von Gegenwart und Zukunft diente. Vielmehr wurde die Berufung auf Antike, germanische Frühgeschichte und mittelalterliche Stadt zu einem spezifischen Argument verdichtet, das als politische Mahnung zugleich eine konkrete Handlungsanweisung für den Liberalismus sein sollte: Einmal gewonnene Freiheit galt es zu verteidigen, und das Fundament dieser Freiheit bildete eine tugendhafte Gesinnung einerseits, die unmittelbare Bürgerpartizipation in der genossenschaftlichen Institution der Gemeinde andererseits. Auf diese Weise ergab sich aus der Geschichte unmittelbar der politische Zukunftsentwurf; der vormärzliche Liberalismus in Baden dachte noch im traditionellen Sinne innerhalb eines >geschlossenen< Zeithorizontes, der sich die Zukunft nicht als Erschließung prinzipiell neuer Möglichkeiten, sondern nur als die Wiederholung und Rekombination schon einmal gemachter Erfahrungen vorstellen konnte. 192 In diesem Sinne entwarf er auch seine Interpretation der jüngsten badischen Geschichte seit der Gründung des Großherzogtums und der Verfassungsgebung 1818; als die endliche Wiedergewinnung jener verlorenen Freiheiten wurde sie gedeutet, mit Konstitution und Gemeindeordnung als den Eckpfeilern, die nicht durch die Französische Revolution ermöglicht worden waren, sondern das alte Recht wiederherstellten. 193 Da die ältere Geschichte gezeigt hatte, wie leicht solche Freiheit wieder verspielt werden konnte, mußte es in der Sichtweise der badischen Liberalen das oberste Gebot sein, die bestehende Verfassung zu verteidigen, zumal ihre unmittelbare Gefährdung - durch Verfassungsänderungen und Zensur, durch Beamtenwillkür und politische Apathie der Bürger - im Vormärz bereits wieder zu drohen schien. Auf diese Weise ergab sich die defensive Grundeinstellung des frühen badischen Liberalismus, von der wir schon gesprochen haben, nicht nur aus konkreten politischen Konflikten, sondern aus seinem Geschichtsbild und darüber hinaus aus seiner traditionalistischen politischen Mentalität überhaupt. Einer abstrakten politischen Utopie, wie sie in anderen deutschen 206 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35765-2
Staaten, zumal in Preußen, in den 1840er Jahren schon entworfen wurde und ihre Wirkungsmächtigkeit zu entfalten begann, bedurfte es in Baden nicht; die Verfassung mochte zwar gefährdet sein, aber sie war eine gute Verfassung - etwas überspitzt formuliert: Man schien schon beinahe im Idealstaat zu leben, es galt nur noch, die in der Verfassung versprochenen Grundsätze wie vor allem die Pressefreiheit einzulösen, die Bürger zu beständiger Tugendhaftigkeit anzuhalten und die Bürokratie abzuschaffen. Das Beharren auf der >Verteidigung< der Verfassung war stets auch eine geschickte Argumentationsstrategie zur Legitimierung von Forderungen gegenüber der Regierung, wie man etwa an Rottecks Motion im Mai 1835 »die auf verfassungsmäßigem Wege und zunächst durch die Regierung selbst zu bewirkende Ergänzung und Sicherstellung der Verfassung betreffend« erkennen kann - die Regierung untersagte nicht zuletzt deshalb den üblichen Druck der Motion und beschwor damit einen kleinen Skandal herauf, weil sie diese Strategie durchschaute. 194 Aber eben deshalb läßt sich die defensive Einstellung des badischen Frühliberalismus nicht auf ihre strategische Dimension verkürzen: Ihre Offensichtlichkeit mußte ihre Wirkung bei der Regierung begrenzen; und die Geschichte der Verfassungsfeste der 1840er Jahre zeigte, daß die Bereitschaft zur Verteidigung der Verfassung geradezu zur Grundlage der politischen Mentalität einer breiten Bevölkerung geworden war.195 Auch insofern erweist sich eine Kontinuität zu den Einstellungs- und Verhaltensmustern >traditionaler< sozialer Bewegungen des 17. und 18. Jahrhunderts, zum Motiv der Verteidigung des >guten alten Rechtesbürgerlichen< Ideologien und Bewegungen der Neuzeit maßgeblich geprägt hat. Ob in der Englischen, Französischen oder Amerikanischen Revolution - das Bestreben, eine als verletzt empfundene Rechts- und Verfassungsordnung wiederherzustellen und zu sichern, stand stets am Anfang weiterreichender Veränderungen, die von diesem Anfang, von den ersten Intentionen der Akteure aus gesehen, nur als unintendierte Nebenfolgen erscheinen. Eine solche defensive Mentalität politischer Bewegungen setzte das manchmal geradezu >paranoid< übersteigerte Gefühl einer Gefährdung der Verfassung voraus, einer Gefährdung durch bewußte >Anschläge< des Hofes oder der Regierung, also der Machtzentrale, die an der Peripherie der Gesellschaft als >Korruption< und >Verschwörung< gedeutet wurde. Auch das ist in den letzten Jahren von der internationalen Forschung immer wieder als ein Grundmuster des politischen Denkens und der sozialen Bewegung insbesondere des 18. Jahrhunderts herausgearbeitet und auf den Begriff eines Gegensatzes von >Court< und >Country< gebracht worden, der in der >CountryKorruption< der regierenden Whigs in England seinen paradigmatischen 207 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35765-2
Ausdruck gefunden hat. 197 In seiner Verankerung an der kommunalen Basis, in seiner radikalen Gegnerschaft nicht gegen den Monarchen, sondern gegen die Regierung und ihre Bürokratie, in seiner in den 1840er Jahren ständig zunehmenden Angst vor ministerieller und dann auch, in der Krise von 1845/46, katholischer Verschwörung trug der vormärzliche badische Liberalismus alle Züge einer >CountryHerrschaft< und >Landschaftmoderne< Programmpartei, sondern als eine Variante traditioneller Bürgerbewegung. 1843 sah Friedrich Daniel Bassermann die Bedeutung der badischen Verfassung darin, »daß seit der Verfassung nicht mehr die Großen allein, die Minister und Herren, über das Land nach Belieben schalten und walten; sondern daß seit der Verfassung auch das Volk ein Wort mitzureden hat, und zwar von Rechtswegen.« Und er fuhr fort: »Nun, meine Freunde, alle Regierungsangelegenheiten sind Landesangelegenheiten, sind des Volkes eigene Angelegenheiten, und so versteht auch Niemand des Volkes Angelegenheiten besser zu verwalten, als eben das Volk selbst.« 199 Unüberhörbar stellte der Mannheimer Großkaufmann hier seine Sprache auf das kleinstädtische Neckargemünder Publikum ein, und es wird deutlich, wie innerhalb dieses politischen Horizontes die traditionelle Opposition von >Regierung< einerseits, >Land< bzw. >Volk< andererseits eine radikale Eigendynamik entfalten konnte, die von der Alleinherrschaft der >Großen< über das >Mitreden< zur alleinigen Souveränität des Volkes führte, das irgendwelcher »Minister und Herren« nicht mehr bedurfte. Auf diese Weise bildete sich im Vormärz ein Republikanismus heraus, der nicht von abstrakten staatstheoretischen Überlegungen ausging, der >Volkssouveränität< und Demokratie nicht in erster Linie aus dem Gegensatz zur >Monarchie< heraus entwickelte, sondern der auf Tradition und Erfahrung im politisch-sozialen Milieu der Gemeinde beruhte; der radikal war, aber nicht modern, traditionsgebunden, aber nicht konservativ. Dieser frühliberale Erfahrungsrepublikanismus entstand aus dem Geist der Bürgergemeinde, der lokalen, quasi-republikanisch verfaßten Korporation, aber er ließ sich unter den Bedingungen des 19. Jahrhunderts nicht darauf beschränken, sondern stellte immer stärker auch die Legitimität des monarchisch-bürokratischen Zentralstaates in Frage. Die Konsequenz war der Republikanismus der badischen Revolution.
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5. Die Bürger und die anderen. Zur politisch-sozialen Selbstbeschreibung der liberalen Bürgergesellschaft Wenn die bürgerliche Gesellschaft des badischen Vormärz als eine >bürgerliche Gesellschaft im Übergang< verstanden werden kann, als ein nur kurzzeitig erfolgreicher Entwurf einer Ordnung jenseits der Ständegesellschaft, der durch soziale und politische Differenzierungsprozesse obsolet wurde, kaum daß er etabliert schien, rückt unabweislich die Frage in den Mittelpunkt, wer diese >bürgerliche Gesellschaft< war, nach welchen Kriterien sich die Zugehörigkeit zu ihr bestimmte; wer also als >Bürger< gelten konnte und welcher Begriff von >Bürgertum< hinter dieser Konzeption stand. Damit wird die Frage nach dem Gesellschaftsbild des frühen Liberalismus gestellt, die Frage nach seinem politisch-sozialen Selbstverständnis; nach den Kategorien mithin, in denen sich die frühliberale Gesellschaft selber wahrnahm und beschrieb, definierte und nach außen abgrenzte. Im Gegensatz zu dem früher ganz dominierenden Interesse der Sozialgeschichte an >objektiven< Strukturen sozialer Ungleichheit und ihrer Beschreibung in Begriffen der klassenanalytischen Sozialwissenschaft hat sich die Aufmerksamkeit in den letzten Jahren, unter dem spürbaren Einfluß von Sprach- und Begriffsgeschichte, von Mentalitäts- und Erfahrungsgeschichte, immer mehr diesem vernachlässigten Aspekt der Selbstwahrnehmung und Selbstbeschreibung von Gesellschaften zugewandt, »denn das Erleben der Schichtung durch die Beteiligten«, so hat etwa Norbert Elias den Gedanken prägant formuliert, dem auch viele andere folgten, »gehört mit zu den konstituierenden Elementen der Schichtungsstruktur.« 200 Das >Erleben< aber ist nicht jeweils subjektiv, sondern wird in einem Selbstverständigungsprozeß der Zeitgenossen sprachlich kommuniziert, aus dem sich bestimmte, gesellschaftlich akzeptierte - oder auch rivalisierende - Definitionen von >Mittelstand< und >BürgertumKlasse< und >Arbeiter< usw. ergeben. Die Konstituierung von >Klassen< - der Begriff jetzt im weiteren Sinne verstanden - vollzieht sich nicht nur ökonomisch, sozial und politisch, sondern ist ohne eine sprachlich vermittelte Komponente intersubjektiver Erfahrung unvollständig. Ein anderes, diesen Ansatz weiter radikalisierendes Motiv kommt hinzu: Mit der fortschreitenden Auflösung der europäischen Klassengesellschaften im 20. Jahrhundert erscheinen festgefügte, ökonomisch induzierte und politisch handlungsfähige Klassen immer weniger als ein allgemeines Strukturphänomen der >Modernesozioökonomischer Ungleichheit< überhaupt nur ein Sonderfall ist - die meisten vergangenen Gesellschaften haben sich selber in anderen Dimensionen beschrieben, in Dimensionen, die als Kategorien heutiger Erkenntnis keinen prinzipiell weniger privilegierten Status besitzen als die historische Kategorie der >KlassefremderÜbergangsgesellschaft< des Vormärz eignet sich aber gut für eine Fallstudie darüber, wie ganz unterschiedliche Arten der Konzeptualisierung von Gesellschaft miteinander konkurrierten und einander ablösten. Die Auflösung ständischer Wahrnehmungsmuster korrespondierte nicht unmittelbar mit der Entstehung der >Klassensprache< - der ständeübergreifenden Offenheit, wie wir sie etwa am Beispiel der Vergemeinschaftung in Vereinen skizziert haben, entsprach ein Bürgerbegriff, der nicht nur stände- oder klassen->übergreifend< war, sondern der überhaupt keine soziale Kategorie, auch kaum eine rechtliche im Sinne des alten Gemeindebürgerrechts, darstellte; der vielmehr ein politischer Begriff war und damit der Renaissance des klassischen Politikbegriffs im badischen Frühliberalismus entsprach: >Bürger< und >Bürgertum< etablierten sich in der Übergangszeit des Vormärz als hochgradig normativ, ja ethisch aufgeladene Konzepte zur Beschreibung eines der Polis nachempfundenen und deshalb zuerst in der Gemeinde zu verwirklichenden Freiheits- und Partizipationsideals. Die >Erfindung< des Bürgertums als sozialer Klasse, das haben jüngste sozial-, mentalitäts- und sprachgeschichtliche Forschungsergebnisse übereinstimmend gezeigt, 202 vollzog sich in Deutschland regional unterschiedlich schnell, im allgemeinen aber erst seit den 1840er Jahren und selbst im Rheinland nicht viel früher. Ziemlich genau in der Mitte dieses Jahrzehnts geriet auch in Baden der politisch-normative Bürgerbegriff unter den immer stärkeren Druck der sozioökonomischen Veränderungen und brach noch vor der Revolution zugunsten einer neuen, auf soziale Ungleichheit abhebenden Differenzierung fast völlig zusammen - und wiederum waren es die Radikalen, die an der hergebrachten Ordnung und Beschreibung der Gesellschaft am zähesten festhielten. Die damit angesprochene Variante eines klassischen Bürgerbegriffs und ihre Bedeutung im südwestdeutschen Vormärz sind in der bisherigen Literatur, der begriffs- wie der sozialgeschichtlichen, fast völlig übersehen worden. >Bürgertum< erscheint hier entweder als Staatsbürgertum, also als Kategorie, die sich im Zusammenhang der >Differenzierung von Staat und 210 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35765-2
Gesellschaft aus dem alten >Untertanenbürgerliche Klasse< des Wirtschafts- und Bildungsbürgertums, sei es noch als Sammelbezeichnung für einen weiteren Kreis bürgerlicher Formationen und insofern als Synonym für den >MittelstandAlter< Gemeindebürger und >neuer< Wirtschaftsbürger zu sein schloß sich mit der Liberalisierung des Gemeindebürgerrechts - im doppelten Sinne: der rechtlichen wie der politischen, also der politisch liberalen Dynamisierung des Gemeindebürgertums - nicht wechselseitig aus. - Ganz ähnlich meinte die Kategorie der >bürgerlichen Gesellschaft< im südwestdeutschen Liberalismus noch nicht den »staatsfreien und politikfernen Raum ... bürgerlicher Privateigentümer« 204 im Hegeischen Sinne, sondern meinte, wenn der Begriff überhaupt - selten - verwendet wurde, die aristotelische Einheit der >societas civilis sive res publicastaatsfrei< vielleicht, insofern die Liberalen ihre Vorbehalte gegenüber einer zentralstaatlich-bürokratisch fundierten Ordnung artikulierten, aber nichts weniger als politikfern. In dieser Anknüpfung an die antike Bürgerkonzeption zeigte sich auch nicht nur eine Fortschreibung der berufsständischen >Hausvätergesellschaft< der Frühen Neuzeit; 203 die Zugehörigkeit zur bürgerlichen Gesellschaft war nicht auf den oikos bezogen, sondern auf die polis, und dieser Primat der Politik gegenüber der Ökonomie galt auch im modernen Sinne der Begriffe: Die Zugangschance zu >Bürgertum< maß sich bis in die zweite Hälfte der 1840er Jahre nicht am wirtschaftlichen Markt- und Konkurrenzprinzip, nicht an Leistung und Vermögen. 206 Das >Bürgertum< als politische Eigenschaft der >Bürgerschaft - diesen 211 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35765-2
Zusammenhang brachte etwa der Karlsruher Bierbrauer Müller noch 1847 in seinem Appell zum Ausdruck, »daß eine Stadt, deren Bürgerschaft sich nicht allein durch Intelligenz, Kunstsinn und gewerbliche Tätigkeit auszeichne, sondern auch das Bürgerthum zu einer selbstständigen und freien Entwickelung zu erheben sich zur Aufgabe gesetzt habe, nach Innen an Kraft und nach Außen an Achtung gewinnen müsse.« 207 >Bürgertum< war auf Gemeinde bezogen, und in der Entstehungszeit der Gemeindeordnung, als der Liberalismus noch vor allem auf der Seite der Bürokratie und nicht der Gemeinden stand, konnte der Begriff auch im korporativen und latent konservativen Sinne dem >Staatsbürger< und dem >kalten Weltbürgersinn< entgegengehalten werden. 208 Aber wenige Jahre später nahm der Liberalismus der Gemeinden das >Bürgertum< exklusiv für sich in Anspruch und verschmolz das Konzept so erfolgreich mit der korporativen Tradition des Gemeindebürgerrechts, daß die Verleihung des >Aktiv-Bürgerrechts< ehrenhalber zur höchsten Auszeichnung der Gemeinde für liberale Gesinnung und Verdienste wurde 2 0 9 - eine >invention of tradition< aus der Umdeutung und Politisierung fortbestehender Traditionen. Die »Erhebung zum Bürgerthume« meinte die Weckung des politischen Engagements der Gemeindebürger im Sinne des Liberalismus; »freies Bürgerthum« konnte in Baden auf dem Boden von Verfassung und Gemeindeordnung »wachsen und gedeihen«; und das meinte weniger die Gewährung subjektiver staatsbürgerlicher Freiheitsrechte an die Bürger als vielmehr deren eigenes politisches Bewußtsein, die von »Bürgersinn« erfüllte Aktivität in der Gemeinde und für die Gesamtheit. 210 Die im Vormärz geradezu überschäumende Bürgerrhetorik verdichtete sich zu einer »Bürger-Identität«, wie sie Christian Meier für die Polis des klassischen Griechenland beschrieben hat: als »das Bewußtsein der Verantwortung der Bürger für die Stadt, die Gleichheit ihrer politischen Rechte, Recht und Pflicht zu aktiver, freier Mitsprache«, als »das Bewußtsein, daß die Bürgerschaft die Stadt ist«, 211 und die politisch-sozialen Strukturbedingungen, die dieses Grundgefühl ermöglichten, waren hier wie dort ähnlicher, als es auf den ersten Blick scheinen mag: Politik wurde vor allem in der Gemeinde gemacht, in einer überschaubaren Einheit; konkurrierende Bezüge, sei es ein Zentralstaat oder seien es Zünfte, fehlten im klassischen Griechenland, wie sie im badischen Vormärz zeitweilig stark in den Hintergrund traten; >Bürger-Identität< war in beiden Fällen die politische Ausdrucksform einer siedlungsmäßig und gewerblich verdichteten, relativ wohlhabenden, aber dabei kleinräumig kommunizierenden, vorindustriellen und >kleinbürgerlich< dominierten Gesellschaft. Man darf freilich spezifischere Funktionen des Bürgerbegriffes im badischen Frühliberalismus nicht übersehen. Er ermöglichte die Vermittlung eines Gefühls der Kontinuität in einer Zeit rapiden Wandels; er ermöglichte Integration nach innen und nach 212 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35765-2
außen - zwischen den einzelnen Gemeinden - ebenso wie er Abgrenzungsfunktionen erfüllte: Hier diente er nicht zuletzt als neue Legitimationsstrategie für die alte Gegnerschaft gegen die Bürokratie. Anders als in Württemberg spielte in der zeitgenössischen Definition des Bürgers in Baden die ökonomische >Selbständigkeit< kaum eine Rolle - nicht zuletzt deshalb, weil nach den Gemeindegesetzen von 1831 auch viele ökonomisch Unselbständige das Bürgerrecht ebenso wie politische Mitbestimmungsrechte besaßen und die jeweilige lokale liberale Elite es sich nicht erlauben konnte, diese Gruppe aus der >Bürgerlichkeit< auszugrenzen, wenn sie sie an sich binden statt an den politischen Gegner verlieren (und damit ihre Macht in der Gemeinde aufs Spiel setzen) wollte. In einer funktionalistischen Interpretation - die nicht ausreicht - kann man deshalb die ethischnormative Konnotierung des Bürgerbegriffs als Ausweichstrategie der liberalen Führungsgruppen zur Sicherung ihrer eigenen Herrschaft >nach unten< durch die ideologische Integration der Unterschichten wie >nach außen< durch die Abgrenzung von der konkurrierenden Herrschaftselite der staatlichen Beamtenschaft deuten; eine Strategie, die durch die rechtlichen Rahmenbedingungen von Gemeindeordnung und Bürgerrechtsgesetz ebenso gefordert war, wie sie erleichtert wurde. Das liberale >Bürgertum< war aber ein viel zu tief in der Mentalität und Erfahrung nicht nur der lokalen Eliten verwurzelter Wert, um sich seiner einfach aus rationalen Zweckerwägungen zu bedienen; >Bürgertum< war annähernd synonym mit >BürgertugendGemeingeist< und >GemeinsinnBürgertugend< vor allem bewies, bezog sich wiederum zuallererst auf die Gemeinde; »Bürgersinn, Bürgertugend«, definierte noch 1848 das »Volkstümliche Handbuch der Staatswissenschaften und Politik« Robert Blums, »ist das Streben der (Staats-, Stadt-, Landgemeinde-) Bürger, das Beste der Gesamtheit und der besondern Gemeinschaft in den Gemeinden, welchen 213 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35765-2
sie angehören, mit Hintansetzung eigener Vorteile nach den ihnen zustehenden Kräften zu befördern.« 215 Auch Rotteck definierte den »Gemeingeist« als Gemeindegeist, als Teilnahme des Bürgers an den Gemeindeangelegenheiten, als seine Bereitschaft zur Übernahme kommunaler Ehrenämter, und grenzte ihn sowohl gegen »particulare Interessen« als auch gegen Beamte und Bürokratie ab. 216 Die im Vormärz sogar noch zunehmende Bedeutung des Appells an die ethischen Eigenschaften des Bürgers kann man daran erkennen, daß das »Staatslexikon« erst 1846, in der zweiten Auflage, neben Rottecks Gemeingeist-Artikel einen zusätzlichen Artikel »Bürgertugend, Bürgersinn« aus der Feder Welckers hinzufügte, der unmittelbar an Montesquieus Lehre von der Tugend als dem sittlichen Prinzip der Republik anknüpfte und damit die Bürgerdefinition auch an die Staats- und Verfassungstheorie zurückband: Bürger-Sein war gleichbedeutend mit dem Streben nach einer Republik, nach einem freien und gesetzmäßigen Gemeinwesen. 217 In diesem Horizont ging auch das vieldiskutierte >Mittelstandsideal< des südwestdeutschen Frühliberalismus über einen rein sozialökonomisch motivierten Entwurf hinaus und gewann eine entscheidende politische Pointe. Die traditionale Wirtschaftsmentalität, die ganz analog der politischen Mentalität grundsätzlich auf Homogenität und Konformismus zielte, bekämpfte den >Luxus< als unproduktiv und »eine schlimme Geldaristokratie befördernd« unabhängig von der politischen Präferenz; das geschah bei Rotteck ebenso wie im Umkreis des konservativen »Mannheimer Morgenblattes«. 218 Die »Eingriffe der Geldmacht in die bürgerlichen Gewerbe«, durch die »der gewerbtreibende Mittelstand, sonst der Wohlstand und der Kern des Volkes, nach und nach einer traurigen Verarmung überantwortet wird«, 219 waren für sich genommen sicher schon Bedrohung genug, bargen aber vor allem eine entscheidende Gefahr für die politische Freiheit: Sie zerstörten die »politische Unabhängigkeit und die moralische Kraft gerade desjenigen Standes, der bisher den [sie] Träger und die Stütze für den zeitgemäßen Fortschritt war« durch den extremen Einfluß der wenigen Fabrikanten einerseits, der in ihre Abhängigkeit geratenen Proletarier andererseits. 220 Über diese relativ erfahrungsnahe Argumentation hinaus griff der frühe Liberalismus einen bis in die Antike zurückreichenden Kerngedanken der politischen Theorie der Frühen Neuzeit auf: Luxus und Erwerbsstreben wirkten moralisch korrumpierend und gefährdeten das nur aufgrund der Tugend seiner Bürger stabil gehaltene freie Gemeinwesen. 221 Der Mittelstandsgedanke des frühen Liberalismus führte insofern den antiken Topos der >mesoi< fort, den als den ökonomisch zwischen extremer Armut und extremem Reichtum stehenden entscheidende Bedeutung für die politische Stabilität der Polis zukam. Der klassische Topos zielte genau auf jenen Nexus von ökonomischer Lage und politischer Verfassung, den auch die Liberalen zu ihrem Argument machten: 214 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35765-2
Die sozioökonomische Mittelstellung stabilisierte die Verfassung und ermöglichte ihre Verteidigung, da die >mesoi< unabhängig waren, ohne egoistisch und habgierig zu sein. 222 Die >klassenlose Bürgergesellschaft< war damit weniger ein »vorsozialistisches« als vielmehr ein traditionales, ein, wenn man so will, spätaristotelisches »Programm irdischer Heilserwartung«, 2 2 3 an dem der Radikalismus der späten 1840er Jahre umso entschiedener festhielt, als die realen sozioökonomischen Veränderungen dieser Stabilitätsutopie immer mehr entgegenarbeiteten - die Radikalen erwiesen sich auch hier als die eigentlichen Verteidiger der alten Ordnung. Die politische Bürgerdefinition implizierte ein einziges rigoroses Ausschlußkriterium: Beamte, genauer: Staatsdiener, konnten sich von vornherein nicht für die bürgerliche Gesellschaft qualifizieren, weil sie den Prinzipien der Freiheit und Tugendhaftigkeit, wie sie der Liberalismus definierte, nicht entsprachen; weil sie die Vertreter jener bürokratischen Herrschaftsordnung waren, die dem politischen Ordnungsmodell der Gemeinden diametral entgegengesetzt war. Die Selbstwahrnehmung der badischen Gesellschaft spitzte sich im Vormärz so stark auf den Gegensatz von >Bürgern< und >Beamten< oder, als Gegensatz politischer Prinzipien formuliert, von >Bürgertum< und >Beamtentum< zu, daß alle anderen Trennlinien demgegenüber verblaßten. Die Frage der neueren Bürgertumsforschung, ob die staatlichen Beamten zum Bürgertum zu zählen seien oder nicht, 224 muß jedenfalls bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts regional unterschiedlich beantwortet werden; für Baden ist sie klar zu verneinen, und zwar nicht nur im Hinblick auf die politisch-soziale Sprache und Selbstbeschreibung, sondern auch hinsichtlich der >sozialen Praxis< von Verkehrskreisen, Kommunikationsnetzen und Konflikten. Das bedeutet zugleich, daß die Kategorie eines einheitlichen >Bildungsbürgerturns< hier in vieler Hinsicht ins Leere geht; die wichtigere Grenzlinie ging durch die Gruppe der akademisch Gebildeten mitten hinduch. Liberale Advokaten und Ärzte waren >Bürger< zusammen mit Handwerkern und Kaufleuten - ebenso wie übrigens Bürgermeister trotz ihrer staatlichen Hoheitsfunktionen den Bürgern zugerechnet blieben - , während in der staatlichen Verwaltung beschäftigte Juristen zusammen mit nicht akademisch Gebildeten, den häufig als >Angestellten< bezeichneten nicht-ediktmäßigen Staatsdienern, unter die Sammelbezeichnung >Beamte< fielen. Von Bassermann bis zum >selbständigen< Tagelöhner reichten die Bürger, von Blittersdorff bis zum lokalen Subalternangestellten die Beamten. Auf diese Weise konstituierte sich eine postständische, aber vor-klassenmäßige Selbstdefinition der Gesellschaft, die von politischen Kategorien ausging und unmittelbar an Wahrnehmungsweisen und Konfliktlagen der Bevölkerung in der Frühen Neuzeit anknüpfte. Die extreme badische Beamtenfeindschaft des Vormärz 225 setzte den im Südwesten besonders stark 215 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35765-2
ausgeprägten Gegensatz von >Herrschaft< und >Gemeinde< fort, und insofern ist die frühneuzeitliche Gesellschaft hier als >ständische< nur sehr ungenau beschrieben: Ob bürgerliche Beamte, Adlige oder obrigkeitsfreundliche Geistliche auf der einen, Stadtbürger oder Bauern auf der anderen Seite - der Gegensatz von >Herren< und >Volk< bestimmte vor allem die Wahrnehmung der sozialen Ordnung und wirkte damit auch, was bis in den Liberalismus des Vormärz hinein spürbar blieb, als starker integrierender Faktor zwischen Stadt und Land. 226 »In sämtlichen Kreisregierungen«, stellte der liberale Abgeordnete und Pfarrer Karl Zittel noch kurz vor der Revolution die Kontinuität dieses Erfahrungsmusters fest, »sitzt der alte bürokratisch-polizeiliche Sauerteig, der engherzige, dem aufstrebenden Bürgertume überall mißtrauisch entgegentretende Schreibergeist mit einer außerordentlichen Zähigkeit fest, und influiert auf die untergeordnete Beamtenwelt weit mehr, als das Ministerium.« 227 Bei städtischen Großkaufleuten wie den Bassermanns war das >Nur kein Staatsdiener< bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts ein Imperativ für Berufswahl und Heirat, 228 auf dem Lande waren es vor allem die kleinen Alltagskonflikte, die Schikanen von Beamten und der dagegen geäußerte Unmut der bäuerlichen Bevölkerung, die im Vormärz weiterhin die Beamtenfeindschaft nährten. 229 Was jedoch vor 1830 unpolitisch (im engeren Sinne des Wortes) gewesen war, nahm danach eine parteipolitische Färbung an, weil die Bevölkerung den Liberalismus als wirksames Medium der Artikulation und Begründung ihrer alten Interessen nutzte und die Beamten auf diese Politisierung wiederum nervöser und empfindlicher reagierten. Wenn der Zensor 1843 in Kehl verbot, einen Ausdruck wie die »wackeren Bürger« gesperrt zu drucken, 230 zeigt das die Angst der Bürokratie vor der Wirksamkeit des emphatischen, liberalen Bürgerbegriffs. Wie in einer Spirale verschärfte sich auf diese Weise in den 1840er Jahren und zumal nach dem >Urlaubsstreit< von 1841/42 der Konflikt zwischen Bürgern und Beamten, doch diese extreme Zuspitzung ließ ihn zugleich für immer mehr Bürger fragwürdig werden und leitete seinen völligen Zusammenbruch in der Revolution ein. Baden war im Vormärz ein ausgeprägter Beamtenstaat und ein dezidierter Bürgerstaat zugleich - aus diesem scheinbaren Paradox erwuchsen zunehmend Spannungen, weil sich die beiden konkurrierenden Ordnungsmodelle immer weniger miteinander vereinbaren ließen, was in den ersten Jahren des Großherzogtums noch durchaus möglich geschienen hatte. Ein herausragender liberaler Beamter wie Liebenstein konnte den Lahrer Bürgern bei seiner Vorstellung als Oberamtmann im März 1812 noch »bürgerliche Ruhe und Wohlfahrt« als »das höchste Kleinod der bürgerlichen Gesellschaft« versprechen 231 und damit auf Zustimmung und Anerkennung in der Bevölkerung stoßen; drei Jahrzehnte später wäre das kaum mehr denkbar gewesen, und das lag nicht nur am gewachsenen politischen Selbst216 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35765-2
bewußtsein der Bürger, sondern auch an der Beamtenschaft selber, die über ein ausgeprägtes Sonderbewußtsein verfügte, sich durch ein hohes Maß an sozialer Abschließung und Selbstrekrutierung nach außen abgrenzte und der in ihrem jeweiligen lokalen Handlungsbereich immer weniger die soziale Integration in das >Honoratiorentum< des beginnenden 19. Jahrhunderts gelang, weil sich diese Form der lokalen Elitenbildung, wie wir schon gesehen haben, im Vormärz wieder weithin auflöste. 232 »Das Mißtrauen der Bevölkerung gegen die Beamten«, erinnerte sich der Amtmann v. ReichlinMeldegg an die 1840er Jahre, »war aber schon so tief gewurzelt, daß auch freisinnige Beamte demselben nicht entgingen.« 233 Er selber bat nach nur einem Jahr der Tätigkeit als Amtsvorstand im besonders aufsässigen Schwarzwald um seine Versetzung mit der Begründung, daß die Regierung hier bei der großen Mehrheit der Bevölkerung kein Vertrauen mehr besitze und er jede »Einwirkung auf eine bessere Volksstimmung für erfolglos« halte. Als er schon während der Ankunft in seinem neuen Amtsbezirk Philippsburg von Bürgermeister und Gemeinderat begrüßt wurde, mochte er seinen Augen gar nicht trauen: »entweder werden die Seeblätter hier nicht gelesen, oder die Bewohner der guten Stadt Philippsburg müssen in überwiegender Zahl conservativer Gesinnung sein.« Freilich waren die Gemeinden so oder so auf die Zusammenarbeit mit den lokalen Staatsbeamten angewiesen, und Ehrungen der Gemeinde und der Bürgerschaft für ihre Beamten - die Verleihung einer Bürgerkrone etwa oder des Bürgerrechtes - gehörten zumal in den 1830er Jahren noch zum traditionellen Ritual, das von politischen Konflikten eine Zeitlang relativ unberührt blieb. 234 Im Jahrzehnt vor der Revolution begannen solche Auszeichnungen jedoch auf liberale Kritik zu stoßen. 235 Ein junger, mit dem Liberalismus sympathisierender Beamter wie der 1822 geborene Carl Eckhard, in den 1860er Jahren einer der Mitbegründer der Nationalliberalen Partei in Baden und seit 1871 Mitglied des Reichstags, fühlte sich »gewissermaßen in einem stets unheimlicher werdenden Kreuzfeuer«: Er tat, wie Eckhard seit 1846 als Rechtspraktikant am Bezirksamt Hüfingen, sein »Geschäft ... fleißig und völlig korrekt«, hatte, was ungewöhnlich war, Freunde in der örtlichen liberalen Partei und versuchte doch, seiner Beamtenrolle entsprechend, »immer mäßigend einzuwirken, wo raschere Geister vorwärtsdrängten.« 236 Wie stark auch der Einfluß der politischen Ereignisgeschichte auf die strukturellen gesellschaftlichen Konfliktlagen sein konnte, zeigte sich im Gefolge des Streites um die Urlaubsverweigerung für die zu Abgeordneten der Zweiten Kammer gewählten Beamten Aschbach und Peter 1841/42. 2 3 7 In einer Landtagsrede im Jahre 1846 bemühte sich Peter zu zeigen, daß Staatsdiener, die das in Wahlen ausgesprochene Vertrauen des Volkes genössen, ebensogut landständische Vertreter gegenüber der Regierung sein könnten wie bürgerliche Abgeordnete, 238 und man könnte annehmen, daß 217 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35765-2
die Situation des >Urlaubsstreites< gerade zu einer Solidarisierung und Aussöhnung der Liberalen mit der Beamtenschaft gegen die Regierungsspitze hätte führen können - doch das Gegenteil war der Fall. Blittersdorff, der 1842 als Staatsminister abgelöst wurde, beklagte im Juni dieses Jahres in einem Brief an den österreichischen Staatsminister v. Münch-Bellinghausen selber die alles andere überdeckende Polarisierung von Beamten und liberalen Bürgern im Großherzogtum: »Von einem Adel als Corporation und mit bedeutendem Einfluß, von einer kirchlichen Partei ist keine Rede. (...) Die Einflußreichen im Lande zerfallen in zwei Classen, in den Beamtenstand im weiteren Sinne, und in die offenen Anhänger des Princips der Volkssouveränctät, mit ihren verschiedenen Schattierungen.« 239 Wenn ihm als einzig mögliche Konsequenz dieser Situation erschien, »die Beamtenaristocratie zu Hilfe zu nehmen, um mittelst dieser die Radicalen im Zaume zu halten«, die »Disziplinierung der Beamten« also »das Dringendste, was dermalen zu erzielen ist«, sein sollte, schlug er geradezu die Ursache des Problems als seine Abhilfe vor: Denn unzweifelhaft, und so nahmen es auch die Liberalen wahr, hatte sein ultrakonservatives Regiment, das die Beamten an der kurzen Leine fuhren wollte, nicht das Wenigste zur Zuspitzung des Gegensatzes von Bürgern und Beamten beigetragen. 240 Als Karl Mathy in einem Aufsatz für die »Konstitutionellen Jahrbücher« 1844 »Badische Zustände« charakterisierte, sah er diese ganz dominierend unter der Herrschaft dieses Gegensatzes: »Die Beamten, dem Bürger entfremdet, dienen zu oft ihrem Standesvorteil, ihren Aussichten, ihrer Karriere« und betrachten »sich selbst als Teile der Staatsgewalt, das Volk als Gegenstand der Regierungstätigkeit, über welche dem beschränkten Bürgerverstande kein Urteil zustehe.« 241 Die Gemeinden empfahl er in besonderem Maße als jene Orte, in denen »freie Verwaltung«, Verwaltung ohne Beamte also, geübt werden könnte, doch der Kampf zweier Prinzipien war noch nicht entschieden: »Wird das Beamtentum siegen, oder das Bürgertum?« Baden als Beamtenstaat oder als Bürgerstaat: Diese Alternative empfanden die Liberalen in den 1840er Jahren immer mehr als eine bevorstehende Grundsatzentscheidung. Dabei bedienten sie sich dieses Gegensatzes als eines Mittels im politischen Kampf und versuchten gleichzeitig, aber halbherzig und zum Teil nur als rhetorische Geste, diesen Gegensatz zu vermindern. Welcker riet, »die Regierungs- und Beamten- und die freie Bürgertätigkeit ... sollen sich überall möglichst organisch verbinden, unterstützen, ergänzen« und schlug die Einführung von Institutionen der Kreisselbstverwaltung vor, die als vermittelndes Prinzip zwischen Beamten und Volk dienen sollten. 242 Itzstein beklagte in seiner Motion gegen die Ministerialreskripte zu den Wahlen von 1842, daß »alle diese Beamten in der Stellung einer den Bürgern entgegengesetzten Regierungspartei gebracht worden sind« und dadurch das »Vertrauen der Bürger zu den Beamten wesentlich geschwächt« worden sei, 243 218 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35765-2
und in der Tat wurden die Landtagswahlkämpfe seit 1842 häufig nicht als Auseinandersetzung zwischen Regierung und Liberalismus, sondern eben zwischen >Bürgern< und >Beamten< wahrgenommen; eine Umschreibung, der das tatsächliche Stimmverhalten in erstaunlich hohem und zunehmendem Maße entsprach. 244 »Gegen das Heer von Beamten und Angestellten, von oben bis zu dem Straßenarbeiter und Waldhüter«, beschrieb das die liberale Publizistik, »standen die Bürger für die Männer ihres Vertrauens.« 245 Eine Feststellung in der Presse wie »Die Bürger haben gesiegt« 246 konnte deshalb unmißverständlich den Sieg der Liberalen ausdrücken, die damit den Anspruch der Identität von Liberalismus und >Bürgertum< erhoben. Auch die Zusammensetzung der Zweiten Kammer wurde in den 1840er Jahren vor allem unter dem Gesichtspunkt der Anzahl ihrer >bürgerlichen< und ihrer >Beamtenbürgerliche< Mitglieder, unter welcher Benennung hier« - anders als in Preußen! - »diejenigen verstanden werden, welche nicht im Staatsdienste stehen. Sonderbarerweise«, steigerte sich sein Erstaunen noch, »rechnet man zu letzteren auch die Advocaten, die der eigentliche Fluch der süddeutschen Kammern und der ätzende Stoff in dem ganzen politischen Zustande dieser Länder sind, während die Bürgermeister zu den >bürgerlichen Abgeordnetem gezählt werden.« 2 4 7 Weil die Rechtsanwälte in Baden Freiberufler waren und zudem politisch dem Liberalismus und Radikalismus zuneigten, konnten sie hier politisch und sozial >Bürger< sein, während die preußischen Justizkommissare in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, als >Eximierte< von der städtischen Selbstverwaltung ausgeschlossen, bis 1878 dem Beamtentum zugerechnet wurden. 248 Allerdings wurde in den 1840er Jahren gerade im Hinblick auf die Advokaten spürbar, daß die politischen, zum Teil auch (gemeindebürger-Rechtlichen Kriterien, die im Vormärz die Wahrnehmung der gesellschaftlichen Ordnung strukturiert hatten, verblaßten und sozioökonomische Maßstäbe an ihre Stelle traten: Gegen ihre Repräsentation - sei es in Gemeinderat und Bürgerausschuß, sei es in der Zweiten Kammer - durch Advokaten äußerte das gewerbliche Kleinbürgertum mehr und mehr Vorbehalte und forderte eine stärkere Vertretung durch Angehörige seines eigenen >StandesBürger< und >Bürgertum< selber wurden also in der Mitte der 1840er Jahre unsicher und von unterschiedlichen politischen Richtungen - aber auch unabhängig von der Parteizugehörigkeit - eine Zeidang in unterschiedlichem Sinne verwendet. Die entscheidende Gemeinsamkeit aller Bedeutungen lag aber darin, daß der politisch-moralische Eigenschaftsbegriff >Bürgertum< verblaßte und innerhalb weniger Jahre geradezu unverständlich wurde - >Bürgertum< war nun eine soziale Gruppe, über deren Merkmale und Zugehörigkeitskriterien seien sie politisch, rechtlich oder sozialökonomisch - freilich noch keine Einigkeit herrschte. Der liberale Mannheimer Jurist Elias Eller brachte auf dem Verfassungsfest 1843 einen Toast auf das »Bürgerthum« aus, mit dem er nicht mehr die Eigenschaft der Bürger, sondern die Menge der Bürger selber meinte - andererseits aber noch nicht die Bourgeoisie. 254 Die radikale »Mannheimer Abendzeitung« bezeichnete dagegen noch 1847 den »Gewerbsstande« als das »Fundament des Bürgertums« und ließ damit weiterhin die alte Bedeutung des Begriffes anklingen. 255 Nicht nur die Konservativen versuchten jetzt, die radikale Inanspruchnahme des emphatischen Bürgerbegriffes aufzubrechen und als bloßen »Kunstgriff« zu entlarven 256 auch der gemäßigte Liberalismus brachte mit diesen Mitteln seine veränderte Sicht der Gesellschaft zum Ausdruck, in der anders als beim konservativen Rückzug auf den >Bürgerstand< das Besitzbürgertum, die Bourgeoisie, eine wichtige Rolle zu spielen begann. Während die »Mannheimer Abendzei220 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35765-2
tung« im November 1847 den Sieg des liberalen Mannheimer Fabrikanten Helmreich gegen die »Servilen« im Landbezirk Heidelberg als Erfolg der »Sache des freien Bürgerthums« im alten Sinne feiern wollte, definierte Helmreich selber diese Sache schon ganz anders: Er erklärte auf einem ihm zu Ehren gegebenen Gastmahl unmittelbar nach der Wahl, in der Kammer »die Rechte des einsichtsvolleren, besitzenden Bürgerthums vertreten« zu wollen. Den Radikalen blieb nun keine andere Wahl mehr, als sich der offenbar unausweichlich werdenden >language of class< anzuschließen: Sie forderten in ihrer Reaktion auf Helmreichs Äußerung wiederum, dieser möge auch die Rechte der »arbeitenden«, der »besitzlosen Klassen« vertreten. 257 Andererseits stieß der Begriff der >BourgeoisieBourgeoisie< zurückzuweisen. »Man fragt erstaunt«, kommentierte die »Deutsche Zeitung« ironisch und doch bezeichnend, »wer ist die Bourgeoisie? Gehören Brentano und Sachs nicht zu derselben? Beide sind nämlich hiesige Bürger. Überhaupt besteht die ganze Einwohnerschaft teils aus hiesigen Bürgern und Bürgerkindern, teils aus Fremden, welche anderwärts Bürger und Bürgerkinder sind. Wer gehört nun zu den Bourgeois und wer nicht?« 258 Der rechtlich-korporative Bürgerbegriff trat jedoch zusammen mit dem politisch-moralischen deudich in den Hintergrund. Wenn man sich auch nicht als >Bourgeoisie< verstehen wollte, weil eine scharfe Grenzziehung zwischen mittlerem und höherem gewerblichen Bürgertum zumal in Baden noch nicht recht überzeugen konnte, war Bürgertum doch zweifelsfrei für die Konstitutionellen eine Kategorie der sozialen Ungleichheit; die »Partei des Bürgertums« erschien jetzt synonym mit der »Partei der Mittelklassen«. 259 Damit war es zugleich möglich, >Bürger< von >Arbeitern< zu unterscheiden - eine Unterscheidung, die in Baden in den Revolutionsjahren, nicht vorher, getroffen werden konnte - , auch wenn in dieser Übergangszeit noch zugestanden werden mußte, daß »wir Alle ... Arbeiter (sind)« und die Arbeiter umgekehrt als Bürger angesprochen werden konnten. 260 Bürgerschaft erwies sich damit für die handarbeitenden Unterschichten höchstens als eine politische Funktion, und zwar eine der sozialen Lage untergeordnete, aber nicht mehr als eine politisch-soziale Existenzform schlechthin. In der Wahrnehmungsweise der nunmehr >anderen SeiteMittelstandsgesellschaft< umso entschiedener 221 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35765-2
festhalten, aber die Feinde des Mittelstands nahmen zu und konnten nicht anders denn als Stände und Klassen einer immer stärker zersplitterten Gesellschaft beschrieben werden. »Ist es nicht genug«, klagten etwa die »Seeblätter« 1847, »daß die Gesellschaft sich spaltet in Adel, Beamte, Angestellte, Soldaten und erwerbende Bürger ...? Muß denn noch der reine Bürgerstand sich selbst zerfleischen, muß er wieder den unseligen Unterschied zwischen Stadt und Land, zwischen Bauer und Gewerbsmann heraufbeschwören ... und müssen inmitten selbst der Städte die Bürger sich zerfleischen wie wilde Tiere?« 261 Die starke Basis des Radikalismus in der ländlichen Gesellschaft gebot es insbesondere, die am Ende der 1840er Jahre sich verbreitende Unterscheidung von Bürgern und Bauern als zweier >Stände< zurückzuweisen und an der politischen Integration der Bauern in die Bürgergesellschaft festzuhalten. 262 Beide zusammen bildeten den »Mittelstand« als den »eigentlichen Kern des Volkes« - so Struve 1848 in seinen »Grundzügen der Staatswissenschaft«, die dem Mittelstand auch weiterhin ganz im Sinne des klassischen Topos eine politische Stabilitäts- und Mittlerfunktion zusprachen. 263 Unter den »bevorzugten Ständen«, gegen die der Radikalismus sich und sein im Grunde nur noch pseudouniversalistisches Mittelstandsideal stellte, spielte die »Bureaukratie« weiterhin eine wichtige Rolle; die »Aristokratie« geriet in der Revolution wesentlich stärker in die Kritik als während des Vormärz; der Hauptgegner aber war seit 1846/47 der »Geldadel«, die »Plutokratie«, waren die »Geldsäcke« des besitzenden Bürgertums. 264 Im Herbst 1847 analysierte ein radikales Flugblatt die Ergebnisse der Pforzheimer Wahlmännerwahlen im Hinblick auf das Vermögen der Gewählten, addierte dabei die Einzelvermögen der 32 Wahlmänner auf zusammen knapp fünfeinhalb Millionen Gulden und fragte: »Warum denn immer diese Reichen wählen, deren Vorteile nicht Hand in Hand gehen mit den Vorteilen des Volkes ...; die am Ende so gut wie Geburtsadel und Pfaffen, wie Minister und Beamten, euere natürlichen Feinde sind?« 265 Eine solche Analyse von Wahlen und politischen Ausleseprinzipien wäre nur wenige Jahre zuvor nicht denkbar gewesen, weil auch die lokale Gesellschaft wie hier die Pforzheimer nach Maßstäben des Besitzunterschiedes gar nicht erfaßt werden konnte - und bezeichnenderweise wurde die Bourgeoisie zwar sozialökonomisch definiert, aber dennoch nicht als >Klassearme Mann< störte ihre Stabilität nicht mehr. O b die Konservativen auf ein ständisches Vokabular zurückgriffen, die Konstitutionellen das Bürgertum und die Arbeiterschaft als voneinander getrennte soziale Klassen wahrnahmen oder das radikalisierte Kleinbürgertum einen universellen Mittelstand beschwor und ihn doch gegen die Vielfalt anderer Stände und Klassen abgrenzte - der frühliberale Entwurf eines politischen Bürgertums wurde so oder so als unerfüllbare Utopie entlarvt; der frühneuzeitliche Gegensatz von Herrschaft und Landschaft, den der Liberalismus in der Entgegensetzung von Beamten und Bürgern tradiert und wirkungsvoll, nicht zuletzt im Rückgriff auf die demokratisch umdefinierte Institution des Gemeindebürgerrechts, zu nutzen gewuß hatte, brach zusammen; politische und soziale Ordnung traten damit auseinander. Die bürgerliche Gesellschaft strukturierte sich am Ende des Vormärz nicht mehr durch Tugend und Partizipation, sondern durch soziale Ungleichheit; ob in >Ständen< oder >Klassen< - Begriffe, deren Abgrenzung unter den Zeitgenossen auch der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ohnehin häufig nicht scharf gezogen wurde - , war gegenüber diesem fundamentaleren Paradigmawechsel sozialer Selbstbeschreibung nur noch von nachgeordneter Bedeutung. Der Entwurf der liberalen Bürgergesellschaft, der für die Dauer gemacht schien, hatte auch in dieser Hinsicht nicht einmal zwei Jahrzehnte Bestand.
6. Zwischenbilanz. Aporien der bürgerlichen Gesellschaft im Übergang Die bürgerliche Gesellschaft des Vormärz war beständig auf der Suche nach ihrer Identität, aber immer, wenn sie sie gefunden zu haben meinte, hatte sie sich selber wieder so weit verändert, daß diese Identität nicht mehr paßte. Längst vor der Krise der späteren 1840er Jahre erwies sich die bürgerliche >Zielutopie< als ein Entwurf, der niemals einzuholen war, weil er ständig über sich selbst hinausdrängte und doch hinter dem gesellschaftlichen Wandel zurückblieb; und das galt auch und nicht zuletzt in dem so traditionellen und in Baden von tiefgreifenden sozioökonomischen Strukturveränderungen noch vielfach frei bleibenden Milieu der Gemeinden. Ob man auf die Vereinsbildung blickt oder auf die liberalen Kommunikationskreise, auf die politische Mentalität oder auf das soziale Selbstbild der Gesellschaft des Großherzogtums - immer kann man ein ähnliches Entwicklungsmuster erkennen, kann man verschiedene Phasen der bürgerlichen Gesellschaft 223 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35765-2
unterscheiden, die einander mit zunehmender Geschwindigkeit ablösten. Um die Jahrhundertwende schien sich eine >bürgerliche< Ordnung auch institutionell herauszukristallisieren, wie sie der Aufklärung des 18. Jahrhunderts vorgeschwebt hatte: ständeübergreifend im Sinne einer Offenheit für Adel und Gewerbe, für Leistung und Bildung einschließlich der Beamten, und doch beschränkt auf die lokalen Eliten; engagiert und >politisch< im weiteren Sinne, aber weder oppositionell noch parteipolitisch fixiert. Drei Jahrzehnte später brach diese Koalition zum Teil auseinander, zum Teil wurde sie ins soziokulturelle Abseits gedrückt durch die vehemente Kraft einer neuen bürgerlichen Ordnung, die aus der Synthese einer erweiterten Gemeindebürgerlichkeit mit dem Liberalismus und seiner Mobilisierung auch des kleinstädtischen Bürgertums ihre Stärke bezog. Nicht einfach eine Erweiterung des >älteren< Modells fand also nach der Julirevolution statt vielmehr wurden die Grenzen dessen, was >bürgerlich< sein sollte, noch einmal - und zunächst erfolgreich - ganz neu zu ziehen versucht. Aber diesmal dauerte es nur fünfzehn bis zwanzig Jahre, bis der klassische vormärzliche Entwurf und Vollzug der mittelständischen Bürgergesellschaft seine Bindungswirkung zu verlieren begann; Bürgerlichkeit wurde durch Parteilichkeit in Frage gestellt und mußte wiederum neu, diesmal im sozialen statt im politischen Sinne, definiert werden. Und es war, seinem Anspruch auf Stabilität zum Trotz, nicht zuletzt die dem bürgerlichen Ordnungsentwurf innewohnende Eigendynamik der Veränderung, die diesen Prozeß kontinuierlich antrieb. In den 1830er Jahren konstituierte sich eine neue Form der Vergemeinschaftung, der Soziabilität und Kommunikation in den Gemeinden, der es gelang, auf die Wirksamkeit korporativer Traditionen zurückzugreifen und sie doch zu überschreiten, wie das an der Entstehung der Bürgervereine und der Entwicklung der kommunalen Bürgerfeste verfolgt worden ist. Die Mobilisierung des Gemeindebürgertums unter der Flagge einer zunächst diffus-liberalen Eintracht setzte vielerorts die überkommene Hierarchie und das Ordnungsmuster der lokalen Gesellschaft außer Kraft und formte zugleich innerhalb des badischen Frühliberalismus eine mittlere politische Ebene zwischen Anhängerschaft und Führungsspitze aus. So gelang eine wirksame Integration von >Volk< und >EliteKommunalismusgemeine Nutzen< wurde in den liberalen >Gemeinsinn< transformiert; der frühliberale Werthorizont in Baden folgte mit seiner vorindividualistischen Ausrichtung, seiner Zurückweisung des privaten Interesses, seinem Homogenitäts- und Kommunitätsideal überhaupt der trotz der Französischen Revolution - noch nicht durch einen revolutionären Bruch erschütterten Mentalität der städtischen wie der ländlichen Bevölkerung. Und weil auch die gebildete Elite der Liberalen noch weithin in Kategorien des klassischen Paradigmas der Politik dachte, gelang auch in dieser Hinsicht eine wirkungsvolle Integration von >Volks-< und >ElitenkulturErfahrungsrepublikanismus< einer breiten Bevölkerung. Dieser Entwurf einer bürgerlichen Ordnung zielte auf Verteidigung und Wiedererlangung und radikalisierte diese defensive Grundeinstellung im Laufe des Vormärz sogar noch; aber er war nicht einfach >traditionalbürgerlichen< Bewegung des 19. Jahrhunderts die Tradition ihr unmittelbar emanzipatorisches Potential. Gemeindeordnung und liberale Mobilisierung an der Basis nährten die Erwartung, daß eine Identität von bürgerlicher Gesellschaft und politischer Ordnung noch und wieder, dem Ideal der vormodernen europäischen Gesellschaften entsprechend, möglich sein könnte; und anders herum: Die Vereinbarkeit eines bürokratisch geführten Flächenstaates mit >Republik< und >DemokratieBürger< und >Bürgertumentstaatlichten< Gesellschaft, die sich selbst politische Ordnung sein sollte. Aber so erfolgreich und realitätsnah dieser Entwurf knapp zwei Jahrzehnte lang schien, so unausweichlich war sein Scheitern an inneren Widersprüchen wie an äußeren Veränderungen, an der Vernachlässigung der sozialökonomischen und politischen Entwicklung, die in der Mitte des 19. Jahrhunderts auch in Südwestdeutschland endgültig über die Frühe Neuzeit hinausdrängte. Ein noch stabiles Milieu der Gemeinden nährte den Liberalismus, der auch selber in besonderem Maße auf politisch-soziale Stabilität zielte, aber doch durch die Dynamik einer modernen sozialen Bewegung die Wandlungsprozesse der bürgerlichen Gesellschaft mit vorantrieb; und indem der Liberalismus in seinem Erfolg die Grenzen seiner Herkunft überwand, indem etwa der Republikanismus über die Gemeinde hinauszudrängen begann, verlor er an Konsensfähigkeit und entzog sich das Fundament seiner Stärke. Umgekehrt war die chiliastische Utopie des frühen Liberalismus eine Reaktion auf ein Übermaß an Veränderung 267 - damit entstand eine sich stetig steigernde Paradoxie, die im Radikalismus der 1840er Jahre besonders spürbar wurde. Während der gemäßigte Liberalismus begann, sich auf ökonomische und politische Strukturbrüche einzulassen - aber eben dadurch auch sein traditionelles Milieu >verriet< - , wollte der Radikalismus besonders defensiv sein, sprengte mit der Schärfe seiner Problemzuspitzung aber das alte Ordnungsmodell erst recht. Trotzdem war der vormärzliche Radikalismus in Baden am >radikalsten< in seinem Versuch, die klassische liberale Utopie in Verbindung mit den hergebrachten Wertvorstellungen der Bevölkerung auch unter den Bedingungen der Mitte des 19. Jahrhunderts noch einmal in institutionelle Formen zu gießen - aber dieser Versuch und sein Scheitern stand 1846/47 erst noch bevor. Denn der fundamentale Paradigmawechsel des politisch-sozialen Denkens, der endgültige Bruch mit den frühneuzeitlichen Ordnungsvorstellungen begann in Baden in der Mitte des 1840er Jahre erst - abgeschlossen war er damals noch nicht. Diejenigen Faktoren, die die Wirksamkeit des >alten< liberalen Entwurfes strukturell begrenzten, sind hier in vieler Hinsicht überscharf herausgearbeitet worden; sie begannen jedoch erst langsam zu wirken und in das Bewußtsein der Zeitgenossen zu dringen. In der zweiten 226 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35765-2
Hälfte dieses Jahrzehnts wurden die begrenzenden Aporien sichtbar, während das altliberale und radikale Gesellschafts- und Politikmodell gleichzeitig seinen Höhepunkt erreichte. Noch nicht in den 1830er, sondern erst in den 1840er Jahren führten Gemeindeliberalismus und Erfahrungsrepublikanismus zu einem tiefgreifenden Legitimationswandel der Gemeindepolitik, zu einer extremen Zuspitzung im Verhältnis von Staat und Gemeinden, zu einer immer rascheren Abfolge von Krisen in Baden, zu einer Krisenverdichtung seit 1841/42, die in der Revolution kulminierte. Das ist in den beiden nächsten Kapiteln zu verfolgen. Neben den zunehmenden inneren wie äußeren Strukturproblemen und Paradoxien des Liberalismus muß die Kontingenz und Offenheit bis in die Revolution hinein ebenfalls betont werden. Die Revolution in Baden kam einer erfolgreichen Verwirklichung, kam einer Institutionalisierung des kommunaüstisch-republikanischen Staatsideals erstaunlich nahe, das insofern erst von außen, durch die preußische Gegenrevolution, scheiterte.
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IV. Radikalisierung an der Basis Parteientwicklung und Gemeindepolitik in den 1840er Jahren
1. Die Krise von 1841/42 und die Entstehung des Radikalismus der 1840er Jahre »Wir treten nun in eine von wichtigen Tatsachen bis Verwirrung erfüllte, von allen Seiten her bis zum Übermaße besprochene, von Parteileidenschaften verschiedenartig beurteilte, und oft bis zur Unkenntlichkeit verzerrte Zeit ein, vor welcher man beinahe zurückschrecken sollte, weil sie des Erfreulichen und Ersprießlichen wenig, des schwer zu behandelnden Stoffes aber reichlich bietet«: 1 So umständlich-zögerlich näherte sich der liberalkonservative Historiker Karl Schöchlin in seiner badischen Geschichte der Regierungszeit Leopolds im Jahre 1855 den Ereignissen eines Jahrzehnts, das aus der nachrevolutionären Perspektive nicht nur ihm als völlig aus den Fugen geraten erschien, als unnötige und verhängnisvolle Abweichung von einem ruhigeren Entwicklungspfad, wie er noch die 1830er Jahre gekennzeichnet hatte. Dabei war der Umbruch nach der Julirevolution in beinahe jeder Hinsicht bedeutsamer und folgenreicher, aber er konnte sich ähnlich wie die Verfassungsgebung ein weiteres Jahrzehnt früher auf Konsens und Legitimität bis weit in die Bürokratie hinein stützen, die den Ereignissen der 1840er Jahre fehlten - jedenfalls, das zu betonen ist wichtig, vor dem Hintergrund der gescheiterten Revolution, der Gegenrevolution, der Reaktion. Denn Schöchlin griff wie viele andere Kritiker der vormärzlichen und revolutionären Bewegung zu kurz, wenn er die Schuld an ihr der »Parteisucht der Aufklärer und ehrgeizigen Demagogen« zuwies, einer kleinen Minderheit also, die »den Bürger absichtlich in die künstlich geflochtenen Schlingen politischer Confusion« getrieben habe. 2 Es waren, nicht zuletzt das soll das folgende Kapitel zeigen, die Bürger selber, welche die politische Bewegung und den politischen Konflikt bis zur Revolution vorantrieben; es waren die Institutionen lokaler Politik, die das ermöglichten; herumziehende Demagogen, sofern es sie überhaupt gab, spielten da nur eine Nebenrolle. Die politische Wende von 1841/42 unterschied sich aber vor allem deshalb von der zehn Jahre früheren, weil sie nicht wie >1831< oder auch 228
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>1818< von einem durch fundamentale Gesetzeswerke markierten Strukturwandel des badischen Staates begleitet wurde oder sogar ausging, sondern ohne einen solchen institutionellen Wandel auf der Verschärfung politischen Konflikts innerhalb der bestehenden Institutionen beruhte; und zwar nicht zuletzt insofern, als sie die radikalen Konsequenzen aus Verfassung und Gemeindeordnung und der um sie herum ausgebildeten Verfassungskultur zog. Die Radikalisierung der politischen Kultur entstand nicht als ein Angriff auf die legitimen Institutionen >von außenUrlaubsstreit< von 1841 kulminierte in der beispiellosen Wahlkampagne nach der Auflösung des Landtags Anfang 1842; im folgenden Jahr mobilisierte das Verfassungsfest landesweit den Liberalismus. 1844 war das letzte relativ ruhige Jahr vor der Revolution. Seit dem Sommer 1845 erregten die Deutschkatholiken die Gemüter im überwiegend katholischen Großherzogtum, und in der Verbindung der religiösen mit der politischen Reformbewegung kam es erneut zu einer Auflösung der Zweiten Kammer und zu Neuwahlen, die stärker noch als vier Jahre zuvor mobilisierend und bis in die Unterschichten hinein polarisierend wirkten. Kleinere >SkandaleKrisenverdichtung< der 1840er Jahre jedenfalls war insofern nur ein Symptom weniger auffälliger, aber umso tiefer reichender Wandlungsprozesse des Verständnisses von Politik und bürgerlicher Ordnung. Als der 10. Landtag am 17. April 1841 in Karlsruhe zusammentrat, fehlten die gewählten Abgeordneten Iganz Peter und Gerhard Adolf Asch bach, Oberhofgerichtsrat in Mannheim und zum ersten Male in die Zweite Kammer gewählt der eine, Hofgerichtsrat in Freiburg und schon seit 1835 Vertreter eines Ämterwahlbezirks im Südschwarzwald der andere. Die Regierung hatte den beiden Beamten die Beurlaubung vom Dienst für die Zeit der Landtagssession verweigert. 4 Blittersdorff trieb damit seine Strategie auf die Spitze, der badischen Opposition mit massiver Einschüchterung und den Beamten, die liberaler Sympathien verdächtig waren, mit Druck und Sanktionen entgegenzutreten. Der Konflikt um die Urlaubsverweigerung bestimmte von der ersten Sitzung an die Debatten der Zweiten Kammer; wie in solchen Fällen üblich, wurde eine Kommission eingesetzt und von ihr ein Bericht vorgelegt, der im Mai intensiv diskutiert wurde. 5 In den Landtag kehrte schlagartig ein anderes Klima ein. Meinungsverschiedenheiten und scharfe Debatten zwischen Regierung und liberaler Opposition hatte es zwar auch in der Ära Winters gegeben, hinter denen ein Minimum - oft auch mehr - an Gemeinsamkeit in der Sache und Verbindlichkeit und Anerkennung im Ton aber immer erkennbar blieb; jetzt traten Blittersdorff und Itzstein als rhetorische Hauptkontrahenten der frühen 1840er Jahre einander in grundsätzlichster Opposition, mit schonungsloser Schärfe gegenüber. Vor allem aber wirkte der >Urlaubsstreit< sofort über den Landtag hinaus in die Bevölkerung, in die Wählerschaft zurück. Petitionen und Dankadressen, die der Kammer die Anerkennung der Wähler für die >feste Haltung< der Abgeordneten gegenüber der Regierung zum Ausdruck brachten, kamen ein und führten zu neuem Streit; die Regierung bestritt die Rechtmäßigkeit solcher Adressen, die Opposition beschwerte sich darüber, daß lokale Beamte offenbar auf Weisung des Innenministeriums versuchten, das 230 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35765-2
Sammeln von Unterschriften unter solche Petitionen zu verhindern.6 Besondere Aufmerksamkeit erregte eine Adresse Mannheimer Bürger mit ihrer »innigste(n) Anerkennung« des »kräftigen Widerstandes ..., den die hohe Kammer dem hereinbrechenden System des Rückschritts entgegen setzte«. 7 Da war es, wie auch in den Beschlüssen der Kammer vom 7. und 22. Mai 1841, wieder: das Argument der von der Regierung bedrohten, von den Bürgern zu verteidigenden Verfassung, das mehr war als nur ein >ArgumentUrlaubsfrage< in scharfer Form kritisierte, in einer Form, die die Abgeordneten als Zumutung empfinden mußten. »Wir beklagen die Verirrung Unserer zweiten Kammer«, hieß es da, »so wie ihr, wohl nur auf mißverstandener Consequenz beruhendes Festhalten an einmal gefaßten Beschlüssen, geben uns jedoch gern der Hoffnung hin, sie werde bei ruhiger Erwägung eine richtigere Ansicht finden.«8 Aber auch eine längere Vertagung der Kammer trug nicht dazu bei, die gereizte Stimmung zu beruhigen und die großherzogliche »Hoffnung« wahr werden zu lassen: Als die Abgeordneten am 10. Januar 1842 wieder zusammentraten, protestierten sie gegen die August-Erklärung des Großherzogs und wiesen seinen Tadel auf Antrag Itzsteins förmlich zurück. Während Aschbach und Peter ihre Mandate niederlegten, um einer Beilegung des Konflikts nicht im Wege zu stehen, wurde Peter von der Regierung als Obervogt in das entlegene Adelsheim straiversetzt und eine Solidaritätskundgebung zu seinem Abschied in Mannheim von den Behörden verboten.9 Am 19. Februar erklärte der Großherzog die Ständeversammlung für aufgelöst10 - das bedeutete nicht das Ende des 10. Landtags bis zur nächsten Session, sondern Neuwahlen, von denen die Regierung sich offenbar einen Erfolg versprach. Das erwies sich nicht nur im Ergebnis, mit dem vollständigen Wahlsieg der Liberalen, als Illusion. Noch schwerer wog, daß die Form des Wahlkampfs eine Massenmobilisierung einleitete, die beide Seiten für sich nutzbar zu machen versuchten, die aber mittelfristig nur die Liberalen als Sieger sehen konnte. Das wird im nächsten Abschnitt ausführlicher verfolgt. Auch regierungstreue Stimmen der Zeitgenossen jedenfalls, die das Verhalten der Zweiten Kammer »inconstitutionell« nannten und in ihrer Auflösung sogar 231 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35765-2
»die größte Anerkennung des constitutionellen Princips« durch die Regierung zu erkennen glaubten, sahen voraus: »Irren wir nicht, so wird dieses Ereignis einen neuen Abschnitt in der Verfassungsgeschichte jenes Landes herbeiführen, eine Veränderung, welche auf das gesamte constitutionelle Leben Deutschlands nicht ohne Einfluß bleiben kann.« 11 Erst recht konnte die »Mannheimer Abendzeitung« im Dezember 1842 auf ein »epochemachendes« Jahr zurückblicken: »Baden hat ... seine Verfassung zur Wahrheit gemacht... Die Constitution hat einen herrlichen Sieg errungen«. 12 Blickt man über das Jahr 1842 hinaus, kann man verschiedene Faktoren erkennen, die zu einer Veränderung des badischen Liberalismus in den 1840er Jahren beigetragen haben, Faktoren, die auch in der bisherigen Literatur schon häufiger genannt worden sind. Neben der Veränderung und Zuspitzung der parlamentarischen Kultur des Landtags begann die liberale Presse ähnlich wie schon 1832 in der kurzen Zeit der Pressefreiheit eine neue Rolle zu spielen - diesmal freilich unter den Bedingungen einer scharfen Zensur, die aber dennoch genügend Freiraum für politisch-publizistische Propaganda ließ; der Konflikt um die Zensur und Pressefreiheit wurde selbst zu einem Hauptbetätigungsfeld des Liberalismus und Radikalismus, manche wie Struve in Mannheim seit 1845 betrieben den Kampf mit dem Zensor geradezu wie einen Sport. 13 Die 1840er Jahre waren die große Zeit der Konstanzer »Seeblätter« Joseph Ficklers, der Freiburger »Oberrheinischen Zeitung« und der »Mannheimer Abendzeitung«: Sie konnten massenwirksam werden und landesweit politische Prägekraft entfalten, weil sie sich nicht nur an ein gebildetes, höheres Publikum richteten, weil sie lokale Themen und Probleme aufgriffen, die die Mehrheit der Bevölkerung interessierten, und weil sie diese lokalen Probleme trotzdem landesweit bündeln und ihnen parteipolitische Aussagekraft verleihen konnten. Das Gegenmodell dazu bildete die »Deutsche Zeitung«, 1847 von Gervinus, Mittermaier, Häusser und Mathy ins Leben gerufen, mit einem >nationalen< Anspruch, der im badischen Liberalismus bis dahin nur eine Nebenrolle gespielt hatte, und trotz der programmatischen Ausrichtung am »Gedanke(n) des einfachen Staatsbürgertums, in dem die früher geschiedenen Stände gleichberechtigt aufgehen« - so das Programm der »Deutschen Zeitung« 14 - eher an der eben entstehenden Klasse des Bürgertums interessiert, einer »gebildeteren und wohlhabenderen Bürgerklasse«, so charakterisierte Zittel schon 1847 zutreffender das Projekt, die damit »den Anfang gemacht hat, sich von der unbedingten Bevormundung der Parteiblätter zu emanzipieren.« 15 Die Polemik Zittels verkannte, daß ein Blatt wie die »Deutsche Zeitung« nie zum erfolgreichen Kommunikationsmedium liberaler Massenmobilisierung in Baden hätte werden können - aber das wollte sie ja auch nicht sein, und deshalb sollte man ihre Bedeutung für die Prägung und politische Mobilisierung des badischen Liberalismus nicht überschätzen. 232 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35765-2
Den Umbruch am Anfang der 1840er Jahre kann man auch als Generationenwechsel innerhalb des frühen badischen Liberalismus interpretieren, doch trifft das nur mit Einschränkungen zu. Führende liberale Persönlichkeiten des vorangegangenen Jahrzehnts, auf der Regierungs- wie auf der Oppositionsseite, waren gestorben, so Ludwig Winter 1838 und Rotteck 1840. Die Generation jener, die noch teilweise vom 18. Jahrhundert geprägt waren und die Napoleonische Ära und die Reformzeit, damit auch die Entstehung des Großherzogtums bewußt politisch erlebt und zum Teil mitgestaltet hatten, trat in den Hintergrund, und in der neuen Generation wurde der Liberalismus neu interpretiert und vor allem unterschiedlicher als bisher; die Ausdifferenzierung des Liberalismus in den 1840er Jahren war insofern auch ein Generationsphänomen. Karl Mathy, 1807 in Mannheim geboren, kehrte 1841 nach einem mehrjährigen Exil aus der Schweiz zurück und begann jetzt seine politische Karriere; Friedrich Daniel Bassermann war eben dreißig Jahre alt, als er im selben Jahr in den Landtag eintrat; Hecker war ebenso alt wie Bassermann und vertrat seit den Neuwahlen 1842 den Wahlbezirk Weinheim/Ladenburg. Andererseits stieg Itzstein, im selben Jahr 1775 geboren wie Rotteck, erst nach dessen Tod zu einem der unbestrittenen Führer der Liberalen und zu einer Integrationsfigur ihrer Flügel auf, und in Heidelberg wurde Christian Friedrich Winter erst im Alter von siebzig Jahren der kampfeslustige Anführer der Radikalen und schließlich Erster Bürgermeister der Stadt.16 Der Radikalismus der 1840er Jahre war auch, aber keinesfalls ausschließlich, die Bewegung einer jüngeren Generation. Und weder der Parlamentarismus noch die Presse noch eine Verjüngung der Führungsspitze standen überhaupt im Zentrum der politischen Veränderungen dieses Jahrzehnts. Wichtiger, obwohl bisher weniger beachtet, war die Radikalisierung an der Basis, zu der es keiner Agitation >von oben< oder >von außen< bedurfte; die sich als Radikalisierung eines älteren und durch die Gemeindeordnung aktualisierten kommunalen Ordnungsentwurfes vollzog. Bevor diese These in den folgenden Abschnitten weiter plausibel zu machen versucht werden kann, sollen einige grundsätzliche Probleme der Erforschung des vormärzlichen Radikalismus, in Deutschland im allgemeinen und in Baden im besonderen, aufgezeigt werden, die zum Teil schon im vorausgegangenen Kapitel erkennbar wurden. Diese Probleme beginnen bereits mit der grundsätzlichen terminologischen Frage, wie jene in den 1840er Jahren zunehmend vom älteren Liberalismus sich unterscheidende politisch-soziale Bewegung überhaupt zu bezeichnen und damit im Kern zu charakterisieren und wo ihre historische Herkunft zu suchen sei. Weithin ist es üblich, nicht nur für die Revolution, sondern schon für die Zeit des Vormärz von den >Demokraten< zu sprechen;17 das tat in einer spezifischen Variante, mit der Redeweise von der >kleinbürgerlichen DemokratieDemokratie< in die Irre. Der Begriff des >Radikalismus< knüpft nicht nur an das zeitgenössische Selbstverständnis der 1840er Jahre an, das häufig von den >Radikalen< sprach, sondern ist auch aus analytischen und heuristischen Gründen die treffendere Kennzeichnung: für einen extrem radikalisierten Liberalismus nämlich, der von diesem aber weder programmatisch noch organisatorisch noch sozial scharf geschieden und ausdifferenziert war und der vor allem nicht auf Demokratie und Republik im modernen Sinne zielte; der nicht antimonarchisch war und in vieler Hinsicht, wie vorn schon ausgeführt, >vorrevolutionärklassischeErfahrungsrepublikanismus< der Gemeinden in den Wunsch nach einer republikanisch-demokratischen Staatsform transformiert, der aber immer noch Züge seiner kommunalistischen Herkunft trug; und erst seit 1847/48 entwickelte diese Bewegung Vorstellungen - freilich sehr diffuse - über Sozialstaat und >sociale DemokratieDemokratie< ermöglicht der Begriff des Radikalismus, der in der angloamerikanischen Forschung stärker als in Deutschland profiliert ist, außerdem einen Vergleich mit entsprechenden Phänomenen in England und Amerika um 1800 und läßt den deutschen, insbesondere den südwestdeutschen Radikalismus als Variante einer gemeineuropäisch-atlantischen bürgerlichen Bewegung der >späten Sattelzeit< erscheinen. Gegen die These einer >Abspaltung< oder >Ausdifferenzierung< des Radikalismus aus der liberalen Bewegung hat vor allem Peter Wende dezidiert die Auffassung vertreten, der vormärzliche Radikalismus sei aus eigener Wurzel entstanden und habe sich von Anfang an in programmatischer wie personeller Hinsicht selbständig entwickelt.18 Wende geht richtig davon aus, daß man Parteibildung im Vormärz nicht an dem anachronistischen Kriterium einer strikten Organisationsbildung messen dürfe, zieht daraus aber die falsche Konsequenz, seinen >Radikalismus< nur in den Ideen einer literaten Elite zu suchen statt in einer breiten politisch-sozialen Bewegung: »Ohne vitale Basis oder die Unterstützung mächtiger gesellschaftlicher Gruppen«, 234 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35765-2
beschreibt er das als Prozeß idealistischer Parteibildung >von obenfreischwebenden< Intellektuellen-Radikalismus findet sich in der Forschung bis heute häufig und geht zurück bis auf Gustav Mayers klassischen Aufsatz über die Anfänge des preußischen Radikalismus aus dem Jahre 1913, der diesen gegenüber dem Liberalismus idealtypisch als »theoretisch« statt »praktisch« abgrenzte, als die bestehenden Zustände »von außen« statt »von innen« kritisierend. 19 Für die kleine Gruppe der preußischen Linkshegelianer, die über den Gedanken zur Tat zu drängen hofften, mag das zutreffen - es blendet die Radikalisierung und Parteibildung als Phänomene sozialer Bewegung an der >Basis< aber schlichtweg aus; und auf die Politisierung der städtischen und ländlichen Bevölkerung etwa Ostpreußens in den 1840er Jahren hatte schon Mayer selber en passant hingewiesen. 20 Erst recht in Baden drängten soziale Erfahrung und politische Praxis zur Tat, und profilierte Radikale wie Hecker und Struve sind in ihrer politischen Wirksamkeit ohne den Radikalismus des Volkes gar nicht vorstellbar. Das versucht Karl-Georg Fabers Unterscheidung zwischen einem »populistischen Radikalismus« im Südwesten und einem »intellektuellen Radikalismus« im Norden Deutschlands zum Ausdruck zu bringen, 21 die auch in neueren Gesamtdarstellungen, so bei Nipperdey und Wehler, im Prinzip übernommen worden ist. Die gewöhnlich äußerst knappe Behandlung des populistischen Radikalismus 22 kann seiner-wenn auch regional beschränkten - Bedeutung als massenwirksamer Volksbewegung nicht gerecht werden, ist aber, wie gleichzeitige Fehlurteile über die Führungsfiguren und die soziale Basis des Radikalismus zeigen, 23 vor allem ein Problem mangelnden Wissens, eines völlig unbefriedigenden Forschungsstandes über den populären Radikalismus der 1840er Jahre, über den es im Grunde - für gleich welche deutsche Region - kaum eine neuere Monographie gibt. 24 Von Differenzen über die historische Bewertung und Einordnung im einzelnen noch ganz abgesehen: Über den vormärzlichen Radikalismus nicht nur im Großherzogtum Baden ist bisher viel zu wenig bekannt; er steht im Schatten der Liberalismusforschung einerseits, von Untersuchungen über sozialen Protest andererseits. Radikalismus ist aber, bläht man den Protestbegrifif nicht unmäßig auf, von sozialem Protest zunächst einmal scharf zu unterscheiden. 25 Protest ist spontan und ereignishaft, er richtet sich gegen das >System< und nimmt tendenziell gewalthaften Charakter an - Radikalismus ist dagegen ein strukturelles Phänomen der politischen Gesinnung, mit oppositionellem Charakter, aber gleichwohl in legitimen Handlungsformen und Institutionen sich vollziehend und eher politisch als sozialökonomisch orientiert. 235 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35765-2
Eine thesenhafte Annäherung an die Eigenart des badischen Radikalismus der 1840er Jahre kann unter drei Sachgesichtspunkten, die zugleich Fragen für den Fortgang der Untersuchung formulieren, versucht werden. Erstens: Wenn der Radikalismus nicht >eigenständig< entstand, wie ist dann der vielzitierte Prozeß der Ausdifferenzierung aus dem Liberalismus zu verstehen; wie vollzog er sich an der politischen Basis, auf welcher Grundlage und zu welchem Zeitpunkt - und vollzog er sich überhaupt? Häufig und in einem allgemeinen Sinne sicherlich zutreffend erkennt die Forschung im Jahrzehnt vor der Revolution die Herausbildung des deutschen Mehrparteiensystems nach dem charakteristischen >Fünfer-Schema< aus Konservativen, Liberalen, Radikalen bzw. Demokraten, Sozialisten und politischem Katholizismus. Nicht in jedem Staat, in jeder Region und erst recht nicht in jeder Gemeinde spiegelte sich dieser allgemeine Trend aber gleichsam in Miniaturausgabe wider; in Baden überhaupt und zumal auf der lokalen Ebene entstand der Radikalismus weniger durch eine Trennung vom Liberalismus als vielmehr durch eine Radikalisierung des Liberalismus insgesamt. Aus der lokalen Konfrontation von Liberalen und Regierungstreuen ging also in den allermeisten Fällen keine um die Radikalen erweiterte Dreiparteienkonstellation hervor, sondern es standen sich nun Regierungstreu-Konservative und radikalisierte Liberale gegenüber. Der populistische Radikalismus entstand aus dem Liberalismus - aber dieser war ja eben erst selber entstanden und deshalb noch flüssig und diffus: Radikalismus hieß dann, den Liberalismus unter noch stärkerer Betonung >traditionaler< Elemente besonders radikal zu interpretieren, und wenn überhaupt, hatte der Radikalismus in diesem Rückgriff auf den traditionellen >Radikalismus< des Volkes, im Rückgriff also auf das tradierte politisch-soziale Milieu der Gemeinden eine eigene Wurzel. Zweitens, das geht daraus hervor, ist schon mehrfach angedeutet worden und muß deshalb nur kurz in Erinnerung gerufen werden, geht die vielfach unterstellte Modernität des Radikalismus jedenfalls in Baden an seinem Ursprung, Selbstvcrständnis und Programm anachronistisch vorbei die Radikalen waren in Südwestdeutschland die traditionaleren, die altmodischeren in vieler Hinsicht, jedenfalls an der Basis und bis in die Revolution hinein. Der Radikalismus wollte zunächst nicht >Volkssouveränität< und nicht >soziale Republikradikalnormalen< politisch-sozialen Beziehungen verankerte und akzeptierte Elite bzw. Elitenfraktion. Zwar erfolgte seit 1842 eine Massenmobilisierung, vor allem in und durch die Wahlen, die sozial weiter >nach unten< reichte als je zuvor, doch handelte es sich dabei, wie wir etwa am Beispiel Ettlingens deutlich sehen werden, immer noch um eine Mobilisierung durch die lokale Elite und für sie; um eine Rekrutierung von Gefolgschaft also, die auch massiv traditionelle persönliche Abhängigkeitsverhältnisse ausnutzte, und nicht um einen eigenständigen Radikalismus der Unterschichten gegen die bürgerlich-liberale Mittel- und Oberschicht. Von der Wahrnehmung der Bürokratie darf man sich hier erneut nicht täuschen lassen: In die >political society< integrierte Unterschichten wie in Baden mochten die Regierung irritieren - von ihnen ging der Radikalismus aber ebensowenig aus wie ein Jahrzehnt früher der Liberalismus; das hatte ja die Gemeindegesetzgebung der 1830er Jahre unfreiwillig bewiesen. Deshalb entstand der Radikalismus wie der Liberalismus auch nicht als Phänomen relativer Armut bzw. Verarmung, nicht, wie etwa Nipperdey gemeint hat, »in den Notstandsgebieten auf dem Lande, in den Gebieten der entstehenden Industrie«. 26 Er war vielmehr, das zeigt die politische Sozialgeographie Badens (und zeigen überhaupt die relativ wohlhabenden Staaten Baden und Württemberg als Hochburgen des populären Liberalismus) im Vormärz sehr deutlich, ein Phänomen des relativen Wohlstandes und der traditionellen bürgerlichen Milieus. 27 Die Notstandsgebiete des Nordostens waren eine Diaspora des Radikalismus, der in den wohlhabenden Städten des Rheintales und in den ländlichen Gegenden Südbadens mit ihrer ökonomisch wesentlich günstigeren Struktur florierte - das war ein Grund dafür, daß Hecker und Struve hier und nicht im Odenwald im April und September 1848 ihre republikanischen Aufstände versuchten. Freilich ist seit 1847 eine tendenzielle Verschiebung und Umstrukturierung mit langfristig gravierenden Folgen erkennbar; eine stärkere Kongruenz zwischen sozialer Lage und politischem Verhalten bildete sich seitdem heraus. Der Radikalismus wurde >kleinbürgerlicherParadigmawechsels< der Mitte des 19. Jahrhunderts, Teil jener Sozialökonomisierung der Gesellschaft, wie wir sie in der politischen Theorie und der sozialen Selbstbeschreibung schon verfolgt haben. Der Versuch einer möglichst präzisen Einordnung des Radikalismus darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, daß die Abgrenzung von Parteien nicht nur lokal unterschiedlich verlief, sondern überhaupt in mancher Hinsicht diffus blieb ebenso, wie die Selbstbezeichnungen für die Parteien schwankten. Die Grenzen zwischen >liberal< und >radikal< waren fließend, und zunehmend - aber erst am Ende der 1840er Jahre - wurden auch die Grenzen zwischen >liberal< und >konservativ< unscharf, je mehr sich eine konservative, regierungsloyale, anti-radikale Bürgerpartei in den Gemeinden herausbildete. Wer sich in Baden in den 1840er Jahren selber als konservativ bezeichnete, war verfassungstreu und regierungsloyal, aber nicht dem Metternischschen Neoabsolutismus gewogen und konstitutionell auf jeden Fall. Für den gemäßigten Liberalismus bedeutete diese Unscharfe nach beiden Seiten zunehmende Schwierigkeiten mit seinem Selbstverständnis, die in der Revolution vollends deutlich wurden. - Dazu traten seit 1845/46 neue religiöse Konfliktlinien, Religion als Argument im Parteienkampf: Das bedeutete zwar noch nicht die Konstituierung eines selbständigen politischen Katholizismus, aber es deutete erstmals eine >quer< zur bisherigen Erfahrung des Vormärz stehende Dimension der politischen Auseinandersetzung an: Konflikte konnten, wie schon im 16. und 17. Jahrhundert, auch ganz anders strukturiert sein als durch die Opposition von Volk und Regierung. Der badische Radikalismus der 1840er Jahre war politischer und nicht sozialer Radikalismus; er war zuallererst ein Ausdruck und Ergebnis der politischen Zuspitzung und Krisenverdichtung, in der ein großer Teil des Liberalismus die >radikalen< Konsequenzen seines in den 1830er Jahren aufgrund längerer Traditionen entworfenen Politikmodells zu ziehen versuchte. Damit markiert der Erfolg des Liberalismus zugleich eine immer tiefere und schließlich in der Revolution kulminierende Legitimitätskrise: mit dem Legitimitätsverlust der Bürokratie, des Zentralstaates und seines Apparates - vorläufig noch nicht: der Monarchie - auf der einen Seite, dem Legitimitätsgewinn der Gemeinden, der Politik an der Basis, der in den Gemeinden praktizierten demokratischen und republikanischen Ordnung auf der anderen Seite. Der Erfolg der >Country-Ideologie< konnte auch durch liberale Parlamentarier nicht aufgefangen werden, solange diese sich ganz als Vertreter des >Landes< verstanden. Robert Mohl hatte 1846 sicher nicht zuletzt Baden im Blick, als er den »unglückliche(n) Dualismus zwischen Regierung und Volk«, zwischen Beamten und Volksvertretern in den deutschen konstitutionellen Staaten scharf kritisierte und entschieden für 238 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35765-2
eine Parlamentarisierung des Regierungssystems eintrat. 28 Als im selben Jahr die Parlamentarisierung im Großherzogtum begann, war es jedoch zu spät, die Krise der Legitimität, die inzwischen jede Regierung betraf, noch zu überbrücken.
2. Lokale Mobilisierung und Parteibildung in Gemeinde- und Landtagswahlen Politische Mobilisierung, Parteibildung und Gesinnungsdifferenzierung vollzogen sich auch in den 1840er Jahren vor allem im Rahmen von institutionalisierten Konfliktsituationen, und hier wiederum zuerst im Medium der Wahlen, seien es Gemeinde- oder Landtagswahlen. Damit setzten sich die Entwicklungsprozesse des vorangegangenen Jahrzehnts fort - auch insofern, als der lokale und kommunale Handlungsrahmen von entscheidender Bedeutung blieb; als, mindestens abseits der wenigen größeren Städte, >traditionelle< Motive für die Zuordnung zu Parteien weiterhin eine wichtige, obwohl nicht allein ausschlaggebende, Rolle spielten. Zugleich waren aber seit der Krise von 1841/42 charakteristische Veränderungen nicht mehr zu übersehen, schon für die Zeitgenossen nicht; Veränderungen in den Mechanismen der politischen Mobilisierung, in der sozialen Reichweite der Parteibildung und in der lokalen und gesamtstaatlichen Struktur des Parteiensystems im Großherzogtum Baden. In dieser strukturellen Ambivalenz, deren politische Wirkung aber viel eher in einer gegenseitigen Verstärkung als im Konflikt der Elemente von >Kontinuität< und >Veränderung< lag, wurden die Grundlagen für die Mobilisierung und Parteibildung in der badischen Revolution gelegt. Dabei hatte es sich die Regierung zu einem guten Teil selber zuzuschreiben, wenn das Jahr 1842 geradezu als Quantensprung der politischen Mobilisierung in die badische Geschichte einging. Nach der Auflösung der Kammer im Gefolge des Urlaubsstreites erhoffte sie sich von einer massiven Wahlbeeinflussung durch den lokalen Beamtenapparat Erfolg im Kampf gegen den Liberalismus an der Basis und für eine regierungstreue Landtagsmehrheit. In den ersten Märztagen gingen Zirkularschreiben des Innenministeriums an die Regierungsdirektoren und von dort an die Ämter; auch die anderen Ministerien instruierten ihren lokalen Unterbau entsprechend: Die Staatsdiener wurden nicht nur aufgefordert, selber im Sinne der Regierung ihre Stimme abzugeben, sondern auch »überall, wo es nötig, dem Einfluß einer, der Regierung entgegenstehenden Partei zu begegnen und die Urwähler wie die Wahlmänner vor Täuschung und Zwang zu bewahren«. 29 Insbesondere wurden die Amtsvorstände ersucht, in diesem Sinne auf die 239 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35765-2
Gemeindebehörden einzuwirken und gegebenenfalls auf sie Druck auszuüben, um so wiederum Einfluß auf die Gemeindebürgerschart insgesamt zu gewinnen. Die Liberalen empfanden diese Zirkulare als Zumutung, als ungerechtfertigte Einmischung in die >bürgerlichen< Angelegenheiten, die sie mit der ihrer Grundeinstellung ohnehin gemäßen Aufforderung beantworteten, keine Beamten zu Wahlmännern, geschweige denn zu Abgeordneten zu wählen. Die lokalen Beamten kamen der Aufforderung ihrer vorgesetzten Behörden nach und versuchten mit bis dahin unbekannter Konsequenz und >ParteilichkeitVolk< sich in den Wahlen von 1842 keineswegs hatte >beherrschen< lassen: Die Mobilisierung im Wahlkampf demonstrierte vielmehr die im zurückliegenden Jahrzehnt gewonnene Stärke des Liberalismus in den Gemeinden. Deshalb erwies sich der Appell der Regierung, besonders auf die Gemeindebehörden einzuwirken, auch als problematisch, denn diese waren ja vielerorts gerade der Kern der lokalen liberalen Partei und ließen sich nicht so einfach, wie mancher Beamte in Karlsruhe noch glauben mochte, für die Position der Regierung vereinnahmen. Die Aufforderung der Regierungspropaganda an den unpolitischen »schlichten Bürgersmann«, den »fremden Liberalismus« zu »verbannen«, ging an der politischen Realität längst vorbei: »Wir unstudierten Bürgersleute wissen uns nicht in die künstlichen neuen Lehren hineinzufinden, daß unser Großherzog für sich nichts im Lande zu sagen habe ... Wir hören noch gern auf seine väterliche Stimme« 32 - diese Rhetorik der Biederkeit hätte allenfalls in den 1820er Jahren Erfolg versprechen können. Die liberale Opposition konnte erst deshalb im Land240 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35765-2
tag so souverän die >Wahlbeherrschungen< der Regierung anprangern Itzstein brachte dazu eine vielbeachtete Motion ein 33 - , weil sie als Sieger aus den Wahlen hervorgegangen war. Schon in der zweiten Sitzung des neugewählten Landtags am 28. Mai 1842 hatte Itzstein sich über die Wahleinwirkungen der Beamten beschwert, aber zugleich festgestellt: »Unser Land war seit 6 Wochen Zeuge einer merkwürdigen Wahlbewegung und einer so lebendigen Teilnahme des Volkes, welches in den Wahlen eines seiner heiligsten Rechte erkennt, wie sie seit dem Jahre 1831 nicht erschienen ist.« 34 Der Landtagswahlkampf war mit einer bis dahin auch in Baden beispiellosen Heftigkeit und Intensität geführt worden; die öffentliche Aufmerksamkeit galt, das kann man schon an der Berichterstattung der lokalen Presse erkennen, wochenlang kaum einem anderen Thema als diesem; und die Wahlprüfung in der Zweiten Kammer, früher eher eine Formalität mit der gelegentlichen Beanstandung von Formfehlern, zog sich über mehrere Wochen hin, während derer die Wahlkampfaktivität und Parteikonstellation fast jedes Wahlbezirks ausführlich zur Sprache kamen. 35 Dabei ergab sich ein Problem: Hatte man beanstandete Wahlergebnisse zuvor durch ein erneutes Zusammentreten der Wahlmänner korrigiert, also durch eine Wiederholung der Abgeordnetenwahl, stellte sich nun immer häufiger heraus, daß aufgrund der vielfachen Wahlbeeinflussung schon die Wahlmännerwahlen angefochten wurden. 36 Eben das war es, was Itzstein und andere so >merkwürdig< fanden: Wesentlich stärker als zuvor verlagerte sich der Wahlkampf, verlagerte sich die parteipolitische Agitation seit dem Jahre 1842 von den Abgeordnetenwahlen in die Urwahlen; und das bedeutete, daß die Urwählerschaft auf neue Weise in die Politik einbezogen wurde: Die Parteien mobilisierten die Wählermassen und kämpften nicht erst in den Wahlmännergremien um eine Mehrheit für ihren Kandidaten. 37 Auf diese Weise wurde am Beginn der 1840er Jahre deutlich, daß sich die Funktionsweise, die Struktur der Politik38 überhaupt in Baden grundsätzlich gewandelt hatte. Die Eliten- und >HonoratiorenWende< von 1842 war außer241 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35765-2
dem nur möglich, auch das haben wir bereits verfolgt, auf der Grundlage eines über viele Jahre gewachsenen horizontalen und vertikalen Kommunikationsgeflechts im Liberalismus. Andererseits unterschätzten die zeitgenössischen Beobachter die Fortdauer >traditionaler< Elemente in der badischen Politik über 1842 hinaus; der Wahlkampf vollzog sich zwar als landesweite und überregional organisierte Kampagne, blieb aber zugleich in die vertrauten lokalen Bezüge eingebettet; die Unterschichten wurden stärker als bisher mobilisiert und parteipolitisch gebunden, doch geschah dies häufig, wie wir noch sehen werden, gerade unter Ausnutzung der traditionellen Abhängigkeit von den lokalen Eliten. Wenn zeitgenössische Kommentare also immer wieder betonten, »daß die von dem Wahlstreit erzeugte Aufregung allgemeiner und unter alle Classen der Staatsbürger verbreitet wurde, daß sich die Massen und unter diesen auch viele Menschen ohne alle politische Befähigung in den Streit mischten«, 39 reflektierte das nicht zuletzt eine Verschiebung in der Wahrnehmung von Politik und Gesellschaft. Menschen traten als >Massen< in die Politik - die Verwendung dieses Begriffes, um 1830 wohl noch undenkbar, 40 indizierte mehr als eine bloß quantitative Ausweitung; sie versuchte, die Erfahrung auszudrücken, daß die Mechanismen der Politik sich aus korporativen und hierarchisierten Bezügen lösten; sie wies zugleich darauf hin, daß die altliberale Vorstellung von politischer Partizipation als einem Reservat besonders qualifizierter Bürger in Baden bereits gescheitert war, kaum daß sie etabliert schien. Die Erfahrung der Zeitgenossen brachte am deutlichsten Karl Zittel in seinem Aufsatz über die »Parteiungen« in Baden mit der Feststellung zum Ausdruck, »daß das politische Leben in Baden erst durch die Kammerauflösung von 1842 seinen breiten Boden gewonnen hat; durch diese ist erst der Kampf in die untern Schichten der Gesellschaft getreten.« 41 Die Erfahrung, daß nicht nur die Politik als Angelegenheit Weniger, sondern die ganze Gesellschaft durch die Zuordnung zu Parteien strukturiert war, trat 1842 bestimmend in den Vordergrund, ob nun die einen kritisierten, daß die »Parteisucht« bis in die Familien vordringe und »wie kein Oppositionsanhänger dem Ministeriellgesinnten, und umgekehrt, etwas abkaufen wolle«, 42 oder ob die anderen die Zuspitzung der Parteilichkeit unter Hinweis auf das >Solon-Gesetz< verteidigten, weil sie gerade jetzt darauf hinwiesen, »daß es in Zeiten politischen Zerwürfnisses Pflicht eines Jeden ist..., mit Bestimmtheit Partei zu ergreifen«. Was für die Wahlen des Jahres 1842 galt, blieb bestimmend für das gesamte Jahrzehnt: Die Tendenz zur Parteibildung schon in der Urwählerschaft verstärkte sich, feste Kandidatenvorschläge, ja förmliche Parteilisten wurden nicht nur in vielen Städten, sondern teilweise auch in Landgemeinden üblich; 44 Tumult, Aufregung, Unruhe gingen häufig mit den Wahlmännerwahlen einher. Indem die Wahlentscheidung sich unmittelbar auf den 242 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35765-2
Abgeordneten-Kandidaten einer bestimmten Partei richtete, sprengten die Wahlen einen engen lokalen Rahmen. Über die Wahlen in der konservativen Residenzstadt Karlsruhe kursierte in den 1840er Jahren die Anekdote, nach der ein Polizeikommissär einen Kaufmann vor seinem Laden ansprach, diesem mit wichtigtuerischer Miene eine Liste präsentierte und gebot: »die auf dem Zettel hier werden als Wahlmänner gewählt«. Auf die Rückfrage des Kaufmanns, wer denn Abgeordneter werden sollte, beschied der Beamte nur ein knappes »Wird später angesagt« und ging zum Nachbarhaus weiter. 45 Die ironische Art, mit der man sich im Lande über die >altmodische< Funktionsweise von Politik in der Hauptstadt lustig machte, weist auf die anderswo inzwischen eingetretenen Veränderungen deutlich hin. Sogar in den notorisch rückständigen Gegenden des Großherzogtums im Odenwald und am Neckar begann vor der Revolution die politisch-kulturelle Hegemonie der Beamten und der ihnen ergebenen >Amtsbürgermeister< zu brökkeln; auch hier nahm die Politisierung der Wahlmännerwahlen und ihre >lnstrumentalisierung< im Hinblick auf die Wahl eines parteilich definierten Abgeordneten zu. 46 Diese Veränderungen hatten zudem nicht schlagartig 1842, sondern schon früher begonnen - im Januar 1841 etwa appellierten die »Seeblätter« bereits an die Bürger, bei den Wahlmännerwahlen politische Maßstäbe anzulegen statt persönliche Rücksichten walten zu lassen und kritisierten die gleichgültige Einstellung des »mir ist es gleich, wer Wahlmann wird, sie machen doch was sie wollen«: »Das demokratische Prinzip, der Grundsatz des Volkswillens muß in der Wahl der Wahlmänner sich aussprechen, wenn jene der Deputierten ersprießlich für die Gesamtheit werden soll.« 47 Bezeichnenderweise konnte mit der Aufforderung zu einer bewußt politischen Wahlmännerwahl zugleich an traditionelle Formen der Willensbildung angeknüpft werden. Die Abstimmungen der Zünfte in der Frühen Neuzeit, bei denen sich die Mitglieder in Versammlung und Besprechung als Korporation über die Kandidaten verständigten, statt anonym und individuell nur ihre Stimme abzugeben, galten als vorbildhaft dafür, daß nun auch die Landtagswähler sich vor der Wahl in Versammlungen über die politische Richtung und die Auswahl der Kandidaten zu einigen hätten, damit das Ergebnis nicht »lediglich als ein Spiel des Zufalls erscheint«. 48 Diese Argumentation zeigt die ganze Ambivalenz der Strukturveränderungen der Wahlen im Vormärz: Die moderne Anonymisierung der individuellen Wahlentscheidung wiesen die Liberalen zurück, aber der Rückgriff auf korporative Formen der Politik diente unübersehbar einer zuvor nicht denkbaren Mobilisierung und parteipolitischen Polarisierung. Ähnlich war es mit dem System der indirekten Wahlen, die in der Frühphase des Konstitutionalismus, wie wir schon gesehen haben, Partizipationsbereitschaft sogar erhöhen konnten; 49 in den 1840er Jahren hätte es dieser Funktion nicht 243 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35765-2
mehr unbedingt bedurft, aber die Wahlmännerwahlen erwiesen sich auch nicht als störend, weil die Politisierung mitten durch sie hindurchgriff. Die Versammlungen, die jetzt im Vorfeld der Wahlen stattfanden, waren keine >Honoratiorendie< lokale Elite verständigte; es waren parteipolitisch konkurrierende Treffen der liberalen-radikalen Elite und der regierungstreu-konservativen lokalen Führungsgruppe mit ihrer jeweiligen Anhängerschaft. 50 Wahllisten und der vermehrte Einsatz von Flugblättern und Manifesten der Parteien kamen als zusätzliche Elemente einer neuen Politik hinzu. 51 Dagegen blieb die Wahlbeteiligung, die schon in den ersten Wahlen von 1819 einen Spitzenwert von über 90 % erreicht hatte, weitgehend stabil und betrug 1842 wie 1846 etwa 80 %, mit einem etwas unter dem Durchschnitt liegenden Wert von immer noch gut 70% in den größeren Städten. 52 Schon diese Zahlen drücken ein erstaunliches Ausmaß der Partizipation im badischen Vormärz aus, aber, das zeigt die Veränderung der Werte seit 1819, wichtiger noch war die Art der Beteiligung am politischen Prozeß, die Qualität der Mobilisierung und Partizipation, die sich in den 1840er Jahren so änderte, daß man trotz der etwas geringeren Wahlbeteiligung von einer verstärkten Partizipation sprechen kann. Die politischen und sozialen Mechanismen dieser neuen Partizipationskultur sollen an zwei Beispielen aus den Wahlen von 1845/46, den Städten Heidelberg und Ettlingen, noch etwas näher veranschaulicht werden. Die Heidelberger Wahlmännerwahlen im Spätherbst 1845 zogen sich über mehrere Wochen hin. 53 Der Tatsache, daß die einzelnen städtischen Wahlbezirke nacheinander ihre Wahlmänner bestimmten, kam in den großen Städten, insbesondere auch in Mannheim, eine wachsende politische Bedeutung zu. Die Wahlen bewirkten auf diese Weise eine langdauernde Mobilisierung; die Parteien konnten sich auf die bereits vorliegenden Teilergebnisse beziehen und danach ihren Wahlkampf ausrichten. So steigerten die Heidelberger Radikalen die Intensität ihrer Propaganda erheblich, nachdem sie im zweiten und vierten Distrikt gegen die Konservativen unterlegen waren. Zahlreiche Flugblätter kursierten ohnehin schon; 54 man hielt Versammlungen ab und störte diejenigen der Gegner: Als die Konservativen zwei Tage vor der Wahl eine Versammlung im >Weinberg< abhalten wollten, fanden sie das Lokal bei ihrer Ankunft bereits von Anhängern der Radikalen besetzt. Für die Wahl des fünften Bezirks wurden zuverlässige Parteianhänger als >Agenten< aufgestellt, die am Wahltag einzelne Straßen des Bezirks >betreutenblauer Montag< folgen werde, und setzten den Mittwoch der gleichen Woche als Wahltag fest. Dennoch fanden am Dienstag Wahlversammlungen statt, bei denen die Schlierbacher Wähler, die mehrheitlich mit den Radikalen sympathisierten, freie Zeche genossen; am Morgen des Mittwochs wurden sie erneut in Wirtshäusern versammelt, wo sie die Wahlzettel erhielten, »dann auf Wagen zum Rathause geführt und von da in das Wahlzimmer gebracht, unter der sorgfältigsten Bewachung, damit keiner mehr den Stimmzettel wechseln konnte«. 56 Mit einem Wagen kamen auch die Wähler vom Kohlhof, einige Kilometer südöstlich von Heidelberg, in die Stadt, wo sie dadurch für Aufsehen und Unruhe sorgten, daß vorne und hinten je ein »aufgeputzter Knabe« auf dem Wagen mitfuhr, »als wenn sie einen Fastnachtszug veranstalten wollten«: Hier wird unübersehbar deutlich, wie die Wahl von den Kohlhöfer Tagelöhnern als ein Ritual inszeniert wurde, das der Obrigkeit die >Widersetzlichkeit< der Unterschichten demonstrierte - genau wie im Karneval, mit dem der Bericht des Stadtamtes dieses Ereignis sehr treffend verglich. Der Gegner war dabei eindeutig die staatliche Beamtenschaft, die staatliche Obrigkeit, nicht das städtische Bürgertum; der im Medium der >Volkskultur< ausgedrückte Protest wurde von der bürgerlichen Führungsgruppe der Heidelberger Radikalen sogar für ihre Zwecke bewußt ausgenutzt. Sie demonstrierte Verbrüde245 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35765-2
rung mit der radikalisierten ländlichen Unterschicht: Am Abend des letzten Wahltages zog Bürgermeister Winter Arm in Arm mit einem Tagelöhner und begleitet von einem Schwarm Heidelberger und Schlierbacher Bürger durch die Straßen der Stadt, um den Erfolg der eigenen Partei zu feiern und dessen soziale Voraussetzungen zu beweisen. Auf weiche Weise sich die Massenmobilisierung und soziale Integration in der Gemeinde verbanden, zeigt sich noch deutlicher in einer kleineren, ökonomisch und sozial traditionaleren - aber politisch besonders radikalen Stadt wie Ettlingen. Hier standen sich, wie in Heidelberg, bei den Landtagswahlen im Frühjahr 1846 zwei Parteien gegenüber, und wie in Heidelberg hatten die Radikalen um den Wirt Philipp Thiebauth erst im Vorjahr das Rathaus erobert. Dabei überlagerte seit dem Sommer 1845, wir kommen noch ausführlicher darauf zurück, die konfessionspolitische Auseinandersetzung den parteipolitischen Gegensatz zwischen den Radikalliberalen und den Regierungstreu-Konservativen. In einer Adresse an den Großherzog hatten die konservativen Bürger um den Schutz der katholischen Religion gegen die Deutschkatholiken gebeten, und die Antwort des Großherzogs wurde den Anhängern dieser Partei bei einer Versammlung im Kreuzwirtshaus verlesen. 57 Auf dieser Versammlung wurden zugleich die Kandidaten der konservativen Partei für die Wahlmännerwahl vorgeschlagen und die Anwesenden mit einem >Eid< auf diese Namen eingeschworen. Die Radikalen hielten ebenfalls ihre Versammlungen ab; und zwar angeblich seit zwei Wochen vor dem Wahltermin täglich in wechselnden Wirtshäusern. 58 Auch hier kursierten Flugblätter und Wahlaufrufe, und die Wochen vor und nach der Wahl waren angefüllt mit Aufregung und Unruhe, mit Gerüchten und Versprechungen, mit Prügeleien und Verhaftungen. Ein Schuster erhängte sich - aus Gewissensskrupeln wegen des abgeleisteten Eides für die Konservativen, wie der Abgeordnete Brentano in der Zweiten Kammer behauptete: »Er wurde zwar abgeschnitten, allein auf dem Totenbett mußte man ihm noch sagen, er habe gut gewählt.« 59 An den Tagen vor der Wahl gaben beide Parteien ihren Anhängern in >ihren< Lokalen freie Zeche, so daß ein großer Teil der Urwähler wohl angetrunken zur Wahl ging. Radikale und Konservative hatten wiederum Listen gebildet und Wahlzettel verteilt; 60 an der Türe des Wahlzimmers notierte der Notar Vogel, wer für die Konservativen stimmte, »was er daran erkannte, ob sie die auf blauliniertem Papier, wie man es bei Amtsrevisoraten gebraucht, geschriebenen Wahlzettel abgaben«. 61 Auch diese Kontrolle konnte man freilich unterlaufen: Der Schuhmachermeister Franz Becher etwa hatte zwei Wahlzettel bei sich, zeigte Vogel auf dessen Frage die konservative Liste vor und gab im Wahllokal die radikale ab, wie er selber später nicht ohne Stolz über diese List berichtete. 62 Die Akten der staatlichen Untersuchung über die Ettlinger Wahlen von 1846 erlauben nicht zuletzt einen ungewöhnlich konkreten Einblick in die 246 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35765-2
Mechanismen der Rekrutierung der politischen Gefolgschaft durch die Parteien. In Ettlingen kämpften in den 1840er Jahren mit dem Gegensatz von radikal und konservativ nicht >Elite< gegen >VolkArm< gegen > Reichs sondern zwei Elitefraktionen der Bürgerschaft gegeneinander um die Macht in der Gemeinde, die Radikalen um Thiebauth und Bürgermeister Wilhelm Schneider auf der einen, die Konservativen um dessen Amtsvorgänger, den Maurermeister und Bauunternehmer Ullrich, auf der anderen Seite. Das war in vielem ein ganz traditional, aus der handwerklichstadtbürgerlichen Lebenswelt strukturierter Konflikt; der Textilfabrikant Buhl, obwohl (gemäßigt) liberal gesonnen, stand in dieser Auseinandersetzung bezeichnenderweise eher am Rande. Beide Gruppen mußten versuchen, einen Teil der städtischen Mittel- und Unterschichten für sich zu gewinnen, für ihr politisches Programm, an das sie glaubten, das aber zugleich ein Instrument zur Erlangung oder Stabilisierung ihrer politischen und sozialen Machtstellung war, innerhalb der Gemeinde ebenso wie nach außen, gegenüber der staatlichen Bürokratie. Dabei scheuten sich beide Seiten nicht, traditionelle ökonomische Abhängigkeitsverhältnisse auszunutzen: Ullrich bestach seine Gesellen bei den Wahlen mit Lohnzahlung, obwohl sie an beiden Wahltagen nicht arbeiteten; den Straßenwärtern drohte er, bei der staatlichen Straßenbau-Inspektion auf ihre Entlassung anzutragen, wenn sie nicht für seine Kandidaten stimmten. 63 Da viele Bürger Ettlingens als Tagelöhner von der Vergabe städtischer Aufträge durch den Gemeinderat abhängig waren, stand den Radikalen damit seit ihrer Eroberung des Rathauses ein noch besser geeignetes Druckmittel zur Verfügung. Der Tagelöhner Leo Weber gab später zu Protokoll, Thiebauth habe ihm einen Schoppen Wein bezahlt, »ich glaube aber nicht, daß es wegen der Wahlmännerwahl geschehen ist, sondern deswegen, weil ich sein Tagelöhner bin und er überhaupt ein guter Mann ist.« 64 Das heißt aber nicht, daß Bestechung und Drohung immer Erfolg hatten. Als Thiebauth den verarmten Schneidermeister Franz Mackert auf dem Weg zum Wahllokal mit den Worten »Sie wissen ja, daß sie ein armer Mann sind, und daß sie, wenn sie irgend einer Unterstützung bedürfen, solche nur von ihrem Gemeinderat erhalten können«, dazu aufforderte, »mit ihrem Gemeinderat zu stimmen«, gab Mackert lakonisch zur Antwort: »Herr Thiebauth, sie sind nicht der Mann, der für die armen Leute sorgt.« 65 Ökonomische Motive konnten also zu beiden Seiten ausschlagen; und daneben muß man eine genuine politische Überzeugung auch der ärmeren Bürger in Rechnung stellen, den Glauben daran, daß die Liberalen die Rechte des Volkes gegen die Beamten verteidigen konnten oder umgekehrt daran, daß der Großherzog und der Staat vor den Umtrieben der Radikalen zu schützen seien. Gerade die eigentümliche Mischung >traditionaler< und >moderner< Elemente, in der Form der Wahlen wie in den Motiven der Wähler, war 247 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35765-2
für die badische Politik in den Gemeinden des späten Vormärz typisch. Eine enorm mobilisierte Gesellschaft, eine partizipatorische politische Kultur artikulierte sich hier; eine neue Form der Massenpolitik entstand - jedoch innerhalb der alten ökonomischen Ordnung, innerhalb der engen kommunalen Ordnung und ihrer traditionalen sozialen Beziehungen. Gerade aus dieser Verbindung, die in Kleinstädten wie Ettlingen besonders wirkungsvoll zur Geltung kam, bezog der politische Prozeß im Baden der 1840er Jahre einen großen Teil seiner Dynamik und Radikalität. Ganz ähnlich wie den Landtagswahlen kam daher auch den Gemeindewahlen weiterhin eine große Bedeutung für Mobilisierung und Konflikt, Politisierung und Parteibildung zu, innerhalb des Gemeindebürgertums wie nach außen, in der Frontstellung gegen die Bürokratie - gleichwohl scheint ihre Bedeutung relativ zu den Landtagswahlen in diesem Jahrzehnt etwas zurückgegangen zu sein. Es ist aber äußerst schwierig, hier überhaupt verallgemeinernde Aussagen zu treffen, auch deshalb, weil man auf erheblich größere Quellenprobleme als bei den Landtagswahlen trifft.66 Doch ist unübersehbar, daß die seit der Gemeindeordnung Anfang der 1830er Jahre eingeschlagene Entwicklung sich fortsetzte, ohne daß damit jedoch die Liberalen zu irgend einem Zeitpunkt die >vollständige< Eroberung der Gemeindebehörden im Lande melden konnten: Auch ihre Gegner formierten sich im Jahrzehnt vor der Revolution zunehmend; es gab große Städte wie Karlsruhe und Freiburg und ganze Regionen wie die ländlichen Gebiete des Unterrheinkreises, in denen Liberalismus und Radikalismus bei Gemeindewahlen nur sehr geringe Erfolge erzielen»konnten. Wozu jedoch unabhängig davon die Gemeindewahlen in jedem Falle beitrugen, war ein gewachsenes politisches Bewußtsein und eine zunehmende Parteilichkeit der Bevölkerung. Schon deshalb kritisierten im Jahre 1844 regierungstreue Bürgermeister des badischen Nordostens in einer Petition an die Zweite Kammer die aus den relativ kurzen Dienstzeiten und der Vielzahl von Institutionen resultierende Häufigkeit der Wahlen in ihren Gemeinden. 67 Die Wahlen wurden >politischer< und damit auch die Tätigkeit und das Selbstbewußtsein der gewählten Vertreter; zunehmend gab es Konflikte mit den Staatsbehörden, die liberale Bürgermeister nach ihrer Wahl nicht bestätigen wollten - diesen Aspekten wird im vierten und fünften Abschnitt dieses Kapitels ausführlicher nachgegangen. Wie die Landtagswahlen konnten auch die Gemeindewahlen für erhebliche Unruhe bis hin zu gewalthaften Auseinandersetzungen führen - in Breiten schoß ein politischer Gegner 1844 in das Fenster des gerade wiedergewählten Bürgermeisters Germe 68 - , und die Grenzen zwischen >normaler< Wahlkampfaktivität und Bestechungsversuch verschwammen, wenn die Festessen, zu denen die Kandidaten einluden, immer üppiger wurden. 69 Andererseits blieben die Klagen der liberalen und radikalen Presse über Teilnahmslosigkeit und 248 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35765-2
»Gleichgültigkeit« der Bürger gegenüber den Gemeindewahlen, über »viel zu wenig Gemeininteresse, viel zu wenig Selbstständigkeit, viel zu viel Dienergeist« weit verbreitet, 70 und insbesondere die »Mannheimer Abendzeitung« beklagte immer wieder die »Wahlbeherrschung« durch die Beamten in den Gemeinden am Neckar und im Odenwald, die aus dem mangelnden politischen Interesse der »gewerbtreibenden Mittelklasse« resultiere. 71 In den liberalen Städten wurden die schon länger amtierenden Bürgermeister häufig wiedergewählt wie 1842 Jolly in Mannheim oder Karl Hüetlin in Konstanz, der 1844 bereits seine dritte sechsjährige Amtsperiode antrat; 72 in vielen Städten brachten besonders die Wahlen der Jahre 1 8 4 4 / 45 - also die dritten seit der Einführung der Gemeindeordnung - profilierte Liberale neu in das Bürgermeisteramt. Das gilt etwa für Gustav Rée in Offenburg, aber auch für Christian Friedrich Winter in Heidelberg. 73 Wie bisher waren die liberalen Bürgermeister keine sozialen >Außenseiter< ihrer Gemeinde, sondern gehörten der lokalen Elite - bzw. einer Fraktion von ihr - an; und dabei spielten auch Familienverbindungen und Familientraditionen eine wichtige Rolle. In Lörrach wurde 1844 der jüngste Sohn des liberalen Landtagsabgeordneten Grether, obwohl noch kein volles Jahr im Bürgerrecht, zum Bürgermeister gewählt; 74 der im selben Jahr sein Amt antretende Weinheimer Bürgermeister Friedrich Weisbrod entstammte einer Familie, die seit der Mitte des 17. Jahrhunderts immer wieder den Gemeindevorstand gestellt hatte, ähnlich etwa wie die Blankenhorns in Müllheim. 75 Aber die Angehörigkeit zu einer der führenden Familien reichte nun nicht mehr aus, zumal ja auch der Gegenkandidat in der Regel aus einer solchen stammte und die Wahlentscheidung dann auf anderen Kriterien beruhen mußte. Die Bürgermeister amtierten im Vormärz nicht mehr aus traditionaler Autorität, sondern waren einem ständig wachsenden Legitimationszwang gegenüber ihrer Wählerschaft unterworfen; 76 politische Parteierwägungen verdrängten zunehmend die persönliche >Achtung< und >EhreEintracht< teilweise ersetzen. Weisbrod erklärte den Bürgern Weinheims bei einem ihm zu Ehren gegebenen Festessen zwei Wochen nach der Wahl: »Ja, meine Herren! Es freut mich einer Partei anzugehören«, mit der er »auf betretener Bahn des Fortschrittes fortzueilen« versprach. 78 Auch in der politischen Sprache, in den Symbolen und den Feierlichkeiten wurde der politische Parteicharakter der Gemeinde249 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35765-2
wählen in den 1840er Jahren stärker als zuvor betont. Als im Februar 1845 in Ettlingen zwei Gemeinderäte neu gewählt wurden - die radikale Partei ging daraus als Sieger hervor - , wurde das als Parteifest, nicht als Fest der Gemeindebürgerschaft insgesamt, gefeiert. Abends gegen sieben Uhr versammelten sich gut fünfzig Anhänger der Radikalen in zwei Gasthäusern und fuhren mit einem guten Dutzend Schlitten zum Bahnhof, um Thiebauth, der als Gemeinderat wiedergewählt worden war, bei seiner Ankunft aus Rastatt zu empfangen. Bei der Schlittenfahrt sangen sie die Zeilen »Die Fürsten und Grafen gehören gebraten, die Bischöf und Pfaffen muß man von der Welt schaffen«. Mit Gesang und Geschrei begaben sie sich dann zurück zur >SonneRückschritts< schloß freilich einstimmige oder nahezu einstimmige Wahlen nicht aus, wenn die Gemeinde insgesamt oder der Große Bürgerausschuß als Wahlgremium entsprechend einheitlich gesinnt waren. 81 Die wachsende Radikalisierung und politische Zuspitzung seit 1841/42 ging schließlich auch an den regierungstreuen und konservativen Hochburgen des Großherzogtums nicht spurlos vorbei. In Freiburg wurde im Mai 1845 zwar Bürgermeister Wagner sogar ohne Gegenkandidaten durch den Großen Bürgerausschuß wiedergewählt, aber im folgenden Frühjahr erbrachten die Ergänzungswahlen zum Großen Ausschuß einen Sieg der Liberalen, die wiederum ein halbes Jahr später auch ihre ersten Positionen im Gemeinderat besetzen konnten. 82 Ganz ähnlich setzten sich die Liberalen bei den Bürgerausschußwahlen in Karlsruhe im Herbst 1846 zum ersten Mal klar durch, so klar, daß im Laufe des folgenden Jahres insgesamt sieben konservative Gemeinderäte freiwillig ihr Amt niederlegten und dafür die »zerstörende Parteisucht« ihrer Gegner verantwortlich machten. 83 Ebenfalls 1845/46 begann der Machtwechsel in der Nachbarstadt Durlach mit dem Rücktritt des Bürgermeisters Morlock und der Wahl des (gemäßigt) liberalen Kaufmannes und Landtagsabgeordneten Bleidorn zu seinem Nachfolger. 84 Und etwa zur gleichen Zeit erfuhren die Gemeindewahlen in vielen kleineren Orten und Landgemeinden zum ersten Male überhaupt, was Politisierung und Parteibildung bedeutete. In Ladenburg bei Mannheim hatte man bis 1845 »noch niemals von Werbungen oder Parteiungen« bei Gemeindewahlen gehört; »jetzt dagegen ist... hier eine solche Uneinigkeit und Parteiung eingerissen, daß es Manchen davor graut, in allen Wirtsstuben unterhält man sich von Morgens bis Abends von nichts als von dem, wie 250 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35765-2
es die oder jene Partei (deren es zwei gibt) macht, und welche siegen wird«. 85 Für das unmittelbar benachbarte Seckenheim dichtete Hoffmann von Fallersieben sein Lied »Der Bürgermeister von Seckenheim«, das, in der Tendenz sicherlich zutreffend, das zunehmende Selbstbewußtsein der ländlichen Bevölkerung des badischen Nordens und ihrer gewählten Gemeindevertreter gegenüber den Staatsbeamten zum Ausdruck brachte: »Herr Amtmann, Herr Amtmann, ei was er auch spricht, Vom Nutzen und Schaden, das kümmert uns nicht. Wir wählen nach unserem Bauernverstand, Zum Besten für uns und das Vaterland.«86 Nach außen das Beharren auf Autonomie gegenüber der Staatsverwaltung, im Innern der Kampf gegen Mißstände in der Gemeindeverwaltung, gegen die Arroganz und Korruption alter Eliten: Diese beiden Motive vor allem führten dem Liberalismus in den 1840er Jahren auch im >rückständigen< Nordosten neue Anhänger zu und ermöglichten ihm Erfolge in Gemeindewahlen: »Sie sehen, daß der Liberalismus es ist, der Mängel aufdeckt, Mittel dagegen angibt und das Krankhafte und Ranzige des staatichen Lebens öffentlich an den Pranger stellt.«87 Fragt man abschließend danach, wie sich die fortgesetzten, ja gegenüber dem Jahrzehnt nach der Julirevolution deutlich verstärkten Prozesse der Mobilisierung und Politisierung einer breiten Bevölkerung, die hier an Landtags- und Gemeindewahlen exemplarisch untersucht worden sind, in der Ausformung zu Parteien verdichteten und kristallisierten und auf welcher sozialen Grundlage sich die Parteibildung in den 1840er Jahren vollzog, kann man zunächst einmal die Parteibezeichnungen der Zeitgenossen zum Ausgangspunkt nehmen. >Liberal< und >Liberalismus< blieben zwar auch weiterhin Selbstbezeichnungen der Opposition, traten aber zunehmend in den Hintergrund und verloren zudem immer mehr ihre definitorische Eindeutigkeit. Während des >Urlaubsstreites< erreichte die Wahrnehmung der Parteien entlang der Grenze eines >Court-CountryVolkspartei< und >ministerieller Parteikonservativen< Partei für die Gegner der Liberalen in den Gemeinden, und zwar zunächst als Selbstbezeichnung derjenigen Bürger, die ihr politisches Handeln nicht mehr primär als Unterstützung der Regierung verstanden wissen wollten.89 Insofern indiziert der Begriffswandel einen Wandel im Selbstverständnis, der allmählich zur Herausbildung einer konstitutionell-konservativen Programmpartei, die sich nicht in erster Linie auf Beamte stützte, führte. Die Liberalen übernahmen für ihre Gegner diese Bezeichnung;90 und ebenfalls als Selbst- wie als Fremdbezeichnung setzte sich für sie immer mehr der Ausdruck der >Radikalen< durch: >Radikale< und >konservative< Partei stan251 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35765-2
den sich damit um 1845 antagonistisch gegenüber, und die Bezeichnung >liberal< fiel dieser verschärften Polarisierung zum Opfer.91 Die Konservativen begannen, sich als die »wahrhaft Liberale(n)« zu sehen und sich vom »falschen Liberalismus« der »Partei der Radikalen« abzugrenzen; 92 die Liberalen nannten sich »radikal«, »da bereits die Gegner sich mit dem Prädikate >liberal< schmücken«. 93 Für eine eigenständige liberale Partei der Mitte ließ das fast keinen Raum m e h r - Nebenius zog im Frühjahr 1846 aus zahlreichen Berichten über lokale Parteiverhältnisse das Fazit: »Wie die Liberalen nach den verschiedenen Abstufungen der Meinung auf der einen Seite den Conservativen, auf der andern den Radicalen sich nähern, so reichen die Radicalen, enge verbunden durch das ganze Land, in ihren äußersten Gliedern dem heutigen Communismus in seinen leidigen Anfängen die Hand.« 94 Andererseits grenzte sich der radikale Jargon etwa bei Struve oder in der »Mannheimer Abendzeitung« am Ende des Jahrzehnts mit der Entgegensetzung von »Halben« und »Ganzen«, »Rücksichtsvollen« und »Entschiedenen« vom gemäßigten Liberalismus ab. 95 Auch wenn in der Mitte der 1840er Jahre gesamtstaatlich gesehen ein Dreiparteiensystem aus Regierungstreu-Konservativen, Liberalen und Radikalen immer deutlicher erkennbar wurde, war doch im Rahmen lokaler Verhältnisse und kommunaler Politik bis in die Revolution hinein meist kein Platz für eine dritte Partei, vor allem nicht in den kleineren und mittleren Städten. Die Liberalen blieben in einem Ort gemäßigter und wurden in einem anderen radikaler, aber das Grundmuster einer dualistischen Kommunalpolitik konnte der Radikalisierungsprozeß der 1840er Jahre in den allermeisten Fällen nicht sprengen. Programmatisch gab es dafür auch kaum eine Grundlage, solange die Ziele wesentlich dieselben blieben und >radikal< sein vor allem hieß, diese besonders entschieden zu vertreten. Die Radikalen im badischen Gemeindeliberalismus waren 1846/47 eben nicht, von Ausnahmen abgesehen, Demokraten oder Republikaner geworden; jedenfalls nicht in einem Sinne, in dem sie es nicht vorher auch schon waren: Wenn die Ettlinger Radikalen die Fürsten und Grafen »gebraten« wünschten, 96 taten sie das in der Sprache einer ganz traditionellen Obrigkeits- und Adelsfeindschaft, die freilich wenig später eine neue Bedeutung gewinnen konnte. Wenn man also von zunehmender Parteibildung in den 1840er Jahren spricht, ist damit nicht unbedingt eine Ausdifferenzierung des Parteiensystems gemeint, auch nicht eine präzisere oder >modernere< Programmbildung und ebenfalls keine Tendenz zu einer festeren formalisierten Organisation. Parteibildung blieb für die Mehrzahl der Bürger im lokalen Rahmen; sie bedeutete hier vor allem eine wachsende Radikalisierung und Fundamentalpolitisierung >nach untenKlassenlinienMittelstandsgesellschaft< tatsächlich ein sozialgeschichtliches Substrat. Aber die Traditionen, die ökonomische und soziale Struktur, die regionale politische Kultur jeder einzelnen Gemeinde spielte in den 1840er Jahren noch eine sehr große Rolle, so daß jede Verallgemeinerung überhaupt schwierig ist. Insofern Radikale wie Konservative je unter der Führung eines Teiles der lokalen Elite standen und auch in derselben sozialen Gruppe versuchen mußten, eine Massenanhängerschaft zu finden, ist die Reichweite von sozialökonomischen Kategorien zur Erklärung der vormärzlichen Parteibildung in Baden sehr beschränkt. 101 Politische Grundeinstellungen in einem sehr allgemeinen Sinne: die Bereitschaft zum Widerspruch und zur Behauptung 253 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35765-2
lokaler (und staatlicher) Freiheit einerseits, ein Gefühl der Loyalität zur Regierung und die Angst vor zu viel Veränderung andererseits, scheinen hier im Verein mit je lokalen Konfliktkonstellationen die Zuordnung zu Parteien bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts mindestens ebenso stark geprägt zu haben.
3. Die Krise von 1845/46. Das doppelte Scheitern der konfessionspolitischen Mobilisierung »Es ist eine unläugbare Tatsache: religiöse und politische Freiheit gehen Hand in Hand«. 102 Gustav Struve formulierte damit im Jahre 1843, was erst zwei Jahre später seine volle Bestätigung fand, als die deutschkatholische Bewegung des schlesischen Pfarrers Ronge auch in Südwestdeutschland Aufsehen erregte und von einem Teil der Liberalen als ein willkommenes zusätzliches Ausdrucksmittel ihrer politischen Forderungen aufgegriffen wurde. 103 Von der kontinuierlichen Auseinandersetzung über die Emanzipation der Juden abgesehen, die aber nur zum Teil als ein konfessionelles und religiöses Problem diskutiert wurde, hatten konfessionspolitische Fragen das gemischtkonfessionelle Großherzogtum Baden kaum mehr beschäftigt, seit der frühere Konfliktherd des Konfessionsproporzes in den Gemeindebehörden durch die Gemeindeordnung beseitigt worden war. Andererseits mochte hier, wo im Süden noch starke Sympathien für die nationalkirchliche Bewegung Wessenbergs vorhanden waren, wo das enge Nebeneinander mit dem Protestantismus die Wendung der katholischen Kirche in den Ultramontanismus für die städtischen Mittelschichten besonders schmerzhaft erfahrbar werden ließ, 104 und wo der Liberalismus und die politische Mobilisierung so weit fortgeschritten waren wie nur irgendwo in Deutschland, die Chance für den Erfolg einer konfessionspolitischen Reformbewegung wie des Deutschkatholizismus besonders groß sein. Ohnehin verbanden sich in der deutschkatholischen wie in anderen Bewegungen der 1840er Jahre religiöse mit politischen Faktoren; und wenn für die Mannheimer und Heidelberger Elite des badischen Liberalismus und Radikalismus, für die Bassermann, Mathy, Mittermaier und Gervinus der natíonalpolitische Aspekt eine wichtige Rolle spielte, bot für den eher lokalistisch orientierten Liberalismus in den kleineren Städten und zumal im Süden des Großherzogtums die Gemeindeverfassung der Deutschkatholiken die größere Attraktivität; mit ihrer Betonung der Autonomie der einzelnen Gemeinden nach außen, gegenüber der Zentrale und >HierarchiePrinzen MaxEuropäischen Hof< an, abends brachte die Liedertafel Ronge ein Ständchen. Die Mannheimer Gemeinde, die bereits im August 1845 gegründet worden war, zählte innerhalb eines Jahres etwa 350 Mitglieder vor allem aus dem mittleren gewerblichen Bürgertum; neben dem unsteten Struve, er erklärte im Dezember 1846 bereits wieder seinen Austritt, war der Mehlhändler Valentin Streuber der prominenteste Mannheimer Deutschkatholik, während die Führer der Radikalen, der Gemeinderat und der Großteil der handelsbürgerlichen Elite ihre Unterstützung auf Sympathiebekundungen beschränkten. 112 Ein zweiter Schwerpunkt des badischen Deutschkatholizismus bildete sich, wie schon angedeutet, im Seekreis, wo mehrere Gemeinden auch in kleineren Orten wie Stockach und Hüfingen gegründet wurden. 113 Das Zentrum aber lag zweifelsfrei in Konstanz, wo Joseph Fickler, der Redakteur der »Seeblätter«, zu den Deutschkatholiken übertrat und seine Zeitung ganz für deren Sache einsetzte. Der Konstanzer katholische Klerus, darunter der liberale Landtagsabgeordnete Dekan Kuenzer, und die Konstanzer Bürgerschaft verhehlten auch in den 1840er Jahren ihre Sympathie für Wessenberg und ihre Abneigung gegenüber dem vom Bistum Freiburg aus forcierten Ultramontanismus nicht, und daran konnten die Deutschkatholiken teilweise anknüpfen, wenngleich der Wille zur entschiedenen liberalen Kirchenreform nur bei einem kleinen Teil in die Bereitschaft zur Sezession mündete. Noch bevor Ronge im Oktober 1845 nach Konstanz kam, hatte 256 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35765-2
im Juli eine Visitations- und Firmungsreise des Erzbischofs v.Vicari für erhebliche Unruhe gesorgt, in die auch die Organe der politischen Gemeinde einbezogen waren. Bürgermeister Hüetlin brachte gegenüber Vicari, der statt bei einem der Konstanzer Pfarrer bei dem konservativen Gymnasialdirektor Franz Xaver Lender Quartier genommen hatte, unverblümt und ausdrücklich den »Wessenbergschen Geist« der Stadt zum Ausdruck und erklärte die Unterstützung der liberalen Geistlichkeit der Stadt durch Gemeinderat und Bürgerausschuß, die dazu eigens einen Beschluß gefaßt hatten. 114 Der Kaufmann Karl Zogelmann hatte in seinem Garten provokativ ein Wessenbergtransparent aufgestellt, das denn auch prompt in einem kleineren Tumult zerstört wurde, wogegen nun wieder die Gemeindebehörden auf Antrag Ficklers und mit der Unterstützung Hüetlins in einer eigens einberufenen Gemeindeversammlung protestierten, die eine Eingabe an das Innenministerium beschloß. 115 Bei den folgenden Bürgerausschußwahlen im Dezember 1845 bestimmte diese konfessionspolitische Auseinandersetzung die Parteifronten; der liberalen Partei Hüetlins stand die >erzbischöfliche< um jene Bürger entgegen, die Vicari ihr Bedauern über das Verhalten der Gemeindebehörden ihm gegenüber zum Ausdruck gebracht hatten. 116 Bürgermeister, Gemeinderat und Bürgerausschuß unterstützten in den folgenden Jahren die deutschkatholische Gemeinde unter anderem durch die mietfreie Überlassung städtischer Räume für Versammlungen und Gottesdienste. 117 Dieselben Konstanzer Gemeindebehörden konnten sich übrigens im Sommer 1847 nur mit Mühe und nach langwierigen Auseinandersetzungen darauf verständigen, Juden das volle Gemeindebürgerrecht der Stadt zu gewähren, das aber an besondere Bedingungen geknüpft war und auf das kein einklagbarer Rechtsanspruch bestand. 118 Wenn die Liberalen selbst in Mannheim und Konstanz sich den Deutschkatholizismus nur politisch nutzbar machen wollten, ohne sich zu ihm zu bekennen, konnte er anderswo und zumal auf dem Lande erst recht keinen Erfolg haben. Im Umkreis des Karnevals 1845 wurden vielerorts Sympathien geäußert wie in Pforzheim, wo angeblich ein Hund auf einen Schlitten gesetzt wurde, dem man eine papierene Bischofskappe aufgesetzt, einen Bischofsstab in die Pfote gedrückt und ein Kleid angezogen hatte, das den Trierer Rock darstellen sollte. 119 Als typisch für die Aufnahme des Deutschkatholizismus in kleinen Städten und auf dem Lande kann wohl die Beschreibung Heinrich Hansjakobs über seine Heimatstadt Haslach gelten, in der, wie Hansjakob sich erinnert, zwei Bürger »ziemlich vergeblich den Haslachern und den umwohnenden Bauern die Lehren des >Schlesingers< (predigten)«: »Die Bauern nahmen von der Sekte nur den Namen, um ihre damals zum ersten Male krankhaft angesteckten Kartoffeln als rongisch zu bezeichnen, und die Haslacher räsonierten einige Zeit über Religion und Pfaffheit, blieben aber katholisch wie vorher.« 120 Auch die Landtagswahlen 257 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35765-2
im Herbst 1845 vollzogen sich >normal< - das heißt, in heftigem Parteienkampf der Radikalen und Liberalen gegen die Regierungstreuen und Konservativen, mit massiven Beeinflussungsversuchen beider Seiten, aber ohne von den konfessionspolitischen Fragen erkennbar berührt zu werden. 121 Die Opposition ging aus diesen Wahlen gestärkt hervor und stellte nun die klare Majorität in der Zweiten Kammer. »Zum erstenmale tritt daher das Phänomen entgegen«, stellte Radowitz fest, »daß der Radicalismus in einer deutschen ständischen Kammer eine wirkliche Majorität für seine Zwecke für sich hat«, und er sah düster voraus, »daß es der Parthey nicht auf diese oder jene Abänderung in den Personen und Grundsätzen der Regierung, sondern auf eine wirkliche Umgestaltung der Regierung im Sinne der Volkssouveränität ankommt.« 122 Tatsächlich wurden nicht nur diejenigen enttäuscht, die sich von der Entlassung Blittersdorffs zwei Jahre zuvor die Rückkehr zu einem harmonischeren politischen Klima erhofft hatten - im Gegenteil nahm die Gereiztheit und Schärfe der Kammerdebatten, wie schon ein flüchtiger Blick in die Protokolle zeigt, mit der radikalen Mehrheit in den Jahren 1845/46 noch einmal spürbar zu, als radikale Advokaten wie Hecker und Lorenz Brentano den Ton angaben. Auch für die Liberalen stellte sich das Problem der >VolkssouveränitätOpposition< in einem konstitutionellen System die Mehrheit stellte? Die Gesetzgebungsarbeit, die Initiative zu großen Reformvorhaben beflügelte diese Tatsache offenbar nicht, denn die großen Debattenthemen fehlten seit 1845; die Landtagsarbeit war immer mehr vom aufreibenden Kleinkrieg der Oppositionsmehrheit gegen die Regierung geprägt. 123 Ein kluger Beobachter wie Radowitz rechnete schon vor dem Zusammentritt des Landtags von 1845 mit der Möglichkeit seiner baldigen Auflösung durch den Großherzog, 124 aber auch er sah im September 1845 wohl kaum voraus, unter welchen Umständen diese Auflösung knapp fünf Monate später tatsächlich Zustandekommen sollte. Am 15. Dezember 1845 begründete der liberale protestantische Pfarrer Karl Zittel in der Zweiten Kammer seine Motion für völlige >ReligionsfreiheitReligionsfreiheit< und für die Bewahrung der katholischen Reli258 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35765-2
gion aussprach. Damit artikulierte sich die bis dahin größte Massenbewegung außerhalb des Liberalismus und gegen ihn; der paradoxe Effekt der katholischen Reformbewegung: die ultramontane Mobilisierung der Massen, war damit auf besonders deutliche Weise erkennbar geworden 125 und verstörte die Liberalen, die in ihrer Fixierung auf den Gegner >Regierung< mit Opposition aus dem >Volk< nicht gerechnet hatten. 126 Dieses strukturelle Dilemma des Liberalismus war umso gravierender, als zahlreiche Petitionen sich direkt an den Großherzog wandten und ihn häufig um die Auflösung der Ständeversammlung baten. Als Organisator der Petitionsbewegung spielte Franz Joseph Büß eine wichtige Rolle und daneben der katholische Klerus in den einzelnen Gemeinden, aber mit einer daraus konstruierten Verschwörungstheorie konnten sich die Liberalen kaum trösten; ihre eigenen Petitionen kamen oft nicht anders zustande, und an der tiefen Verstörung eines großen Teils der katholischen Landbevölkerung konnte kein Zweifel bestehen. Die Regierung versuchte die Chance zu nutzen - am 9. Februar wurde die Ständeversammlung für aufgelöst erklärt, Neuwahlen standen damit unmittelbar bevor, die Petitionsbewegung ging direkt in den Wahlkampf über. 127 Schon eine Woche vorher hatte Nebenius ein Reskript an die Unterbehörden entworfen, das die Beamten aufforderte, »durch Belehrung und Vorschläge ... auf die Wahl wohlgesinnter, leidenschaftsloser, keiner extremen Richtung hingegebenen, Männer hinzuwirken.« 128 Die entscheidende Frage war nun, ob die konfessionelle Mobilisierung in einen politischen Erfolg des Konservativismus überfuhrt werden konnte, ob der Widerstand gegen die Liberalen in den Gemeinden zugleich einen Erfolg der Regierung bedeuten würde oder ob sich neben Radikalen und Regierungspartei eine eigenständige Partei des Katholizismus etablieren könnte. 129 Von allen Seiten wurde der Wahlkampf mit einer Schärfe und Intensität geführt, die auch die Wahlen von 1842 noch übertraf; die Politisierung der Wahlmännerwahlen setzte sich fort; und vor allem nahmen die Bemühungen um eine zentrale Organisation und Koordinierung des Wahlkampfes auf allen Seiten zu. 130 Das galt für die Regierung ohnehin; die konservativ-ultramontane Partei gründete ein »Zentralkomitee«, das von Mannheim aus die Wahlen zu steuern versuchte. 131 Ebenfalls vor allem von Mannheim aus lenkten die Liberalen ihre Propaganda und entfalteten dabei, wie der Bonndorfer Amtsvorstand feststellte, »eine solche Tätigkeit in der Bearbeitung der Wahlmänner, wie sie bei früheren ähnlichen Gelegenheiten nicht vorgekommen ist.« Jeder Wahlmann habe mindestens zwei bis drei Briefe von Itzstein und Welcker erhalten, »worin die Gefahr und Schmach des Vaterlandes für den Fall des Sieges der so betitelten Jesuitenparei mit grellen Farben geschildert und die Verdienste der Opposition um das Volk hervorgehoben sind.« 132 Mit besonderer Heftigkeit wurde der »Wahlkampf« 259 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35765-2
übrigens ein schon zeitgenössischer Ausdruck 133 - in Konstanz um die Wiederwahl Mathys geführt, für die sich Dekan Kuenzer und Bürgermeister Hüetlin stark engagierten, was Hüetlin später bei der Wahlprüfung in der Kammer den Vorwurf einer seinem Amt unangemessenen Parteilichkeit eintrug. 134 Daß hier wie anderswo der Bürgermeister zugleich als Vorsitzender der lokalen Wahlkommission fungierte und dabei seine Parteiinteressen unverhüllt zur Geltung brachte, wurde von der Regierung jetzt, zumal nach den Bürgermeisterwahlen von 1844/45, sehr beklagt. 135 Andererseits profitierte sie aber nach wie vor von der Wahl >ministerieller< Bürgermeister zu Wahlmännern im ländlichen Nordosten des Großherzogtums. 136 Über die vermeintlich große Bedeutung des Faktors >Religion< in den Wahlen von 1846 und seine Auswirkungen auf die Parteienkonstellation sahen sich jedoch viele getäuscht: Zu einem grundsätzlichen >realignment< der Parteien, zu einem Substanzverlust der Liberalen durch die etwaige Abwendung enttäuschter Katholiken, zur Etablierung einer eigenständigen katholischen Partei kam es nicht. Der Erfolg der Petitionsbewegung war nicht in einen politischen Erfolg umzumünzen; oder anders gesagt: die Petenten hatten entweder auch vor 1846 schon nicht zu den Anhängern der Liberalen gezählt oder sie wählten, was wohl seltener war, trotz ihrer Unterschrift wieder liberal wie zuvor. 137 Konfessionspolitische Argumente überlagerten im Wahlkampf zwar die parteipolitischen, doch geschah das fast nie >quer< zu den bestehenden Parteigegensätzen in den Gemeinden. »Von einer katholischen Mittelpartei«, mußte das nüchterne Fazit lauten, »welche sich eine parlamentarische Stellung gegeben hätte, ist nichts bemerkbar.« 138 Das Zweiparteiensystem blieb stabil; nur nahmen die Konservativen und Regierungstreuen das Argument des Schutzes der katholischen Religion zusätzlich auf, während die Radikalen und Liberalen ihr rhetorisches Arsenal um »die abenteuerlichsten Gerüchte über die bösen Absichten der ultramontanen Geistlichkeit gegen die Verfassung, gegen das Volk« erweiterten. 139 Am Beispiel des katholischen Ettlingens kann man diese nur oberflächliche Überformung des bestehenden Parteiensystems sehr gut erkennen: 140 Die Unterzeichner der Petition an den Großherzog um den »Schutz der katholischen Religion« waren diejenigen Bürger, die auch vorher schon zur konservativ-regierungstreuen Partei um Altbürgermeister Ullrich gezählt hatten, und die Radikalen um Thiebauth scheinen wegen der konfessionspolitischen Dimension der Auseinandersetzung keine Anhänger an diese verloren zu haben. Die parteipolitische Strukturierung des lokalen Konflikts, die Frage: Opposition oder Loyalität?, radikaler Fortschritt oder politische Mäßigung?, blieb ganz dominierend; Religion wurde von beiden Seiten instrumentalisiert, auch wenn sie subjektiv, im Bewußtsein der Wähler, eine wichtigere Rolle als zuvor spielte. Jemandem, der als Deutschkatholik galt, 260 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35765-2
wurde angeblich ein Kreuz in die Backe geschnitten 141 - das sorgte für Unruhe ebenso wie umlaufende Gerüchte über eine Verschwörung von katholischem Klerus mit Adel und Bürokratie gegen die Verfassung auf der einen, über eine bevorstehende Abschaffung der katholischen Religion auf der anderen Seite, änderte aber nichts an der Zuordnung zu den bestehenden Parteien. Das bedeutete zugleich, erinnert sei an die Rekrutierungsmechanismen politischer Anhängerschaft in den Unterschichten durch die lokale Elite Ettlingens, daß die traditionalen Bindungen, auf denen das Parteiensystem des Vormärz beruhte, noch nicht grundsätzlich in Frage gestellt werden konnten. Das Ergebnis der Wahlen des Jahres 1846 war ein glänzender Sieg der Liberalen; Regierung, konservative Bürger und politischer Katholizismus mußten eine erneute Nederlage hinnehmen. Die politische Bewegung seit dem Herbst 1845 hatte jedoch insgesamt nicht nur zu einer weiteren Radikalisierung des Liberalismus, sondern auch zu einer verstärkten Politisierung seiner Gegner außerhalb der Beamtenschaft, desjenigen Teils der Bürger, der sich nun weniger als diffus >regierungstreu< und stärker als >konservativ< verstand, geführt, worauf schon die allgemeine Durchsetzung der Parteibezeichnung >konservativ< in der Mitte der 1840er Jahre hindeutet. Damit hing auch zusammen, daß der Beamtenanteil der Abgeordneten der Zweiten Kammer weiter zurückgegangen und »die eigentliche Beamtenpartei«, wie die Augsburger »Allgemeine Zeitung« bemerkte, in einem »Verflüchtigungsprozeß« begriffen war.142 Der radikale Buchdrucker und Publizist Konrad Hollinger, der seinen fiktiven »Altvogt Andres« nun, immer auf der Höhe der Zeit, auch eine deutschkatholische Gemeinde gründen ließ, stellte mit leicht resignativem Unterton einen weiteren Verlust liberaler >Eintracht< unter den Bürgern fest: »Viel ist hier verändert in den jetzigen Tagen, Sonst war da ein bürgerlich-einiger Sinn, Jetzt ist er entflohen, man weiß nicht wohin.« 143 Trotz der massiven Wahlbewegung war die konfessionspolitische Mobilisierung in Baden in doppelter Weise gescheitert. Der vom Liberalismus propagierte Deutschkatholizismus erwies sich als wenig attraktiv zumal im ländlichen Milieu; neue Anhänger konnten damit nicht geworben, im Extremfall nur bisherige abgeschreckt werden. Der ultramontane Katholizismus scheiterte als politische Bewegung und Partei aber ebenfalls; er konnte den Liberalismus nicht verdrängen und nicht zu einem politischen Kristallisationskern sui generis werden; er vermochte sich nur an konservative und regierungstreue Gesinnung, die bereits vorhanden war, >anzuhängenVolk< und >Regierung< wieder ein Stück mehr von seiner Überzeugungskraft und politisch-sozialen 261 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35765-2
Grundlage verloren hatte. Das für viele Zeitgenossen erstaunliche Ergebnis, daß die Petitionsbewegung nicht in eine politische Niederlage der Liberalen führte, hatte seine Ursache auch in der Kontinuität traditionaler Bindungen und Milieus in den Gemeinden. Der Liberalismus konnte Stadt und Land prinzipiell noch integrieren, und das stabile ländliche und kleinstädtische Milieu blieb so lange dem Liberalismus verpflichtet, wie es sich Vorteile von ihm versprach. 144 Erst im badischen Kulturkampf der 1860er Jahre wurde der Katholizismus zur Partei, die ihre Anhänger vor allem in den Unterschichten und in der ländlichen Bevölkerung fand, und zwar auch in jenen ländlichen Gebieten, die im Vormärz eher dem Liberalismus zuneigten, im Schwarzwald und in der Bodenseeregion. 145 Das setzte die Auflösung persönlicher und korporativer Abhängigkeitsverhältnisse, von denen der Liberalismus im Vormärz noch profitierte, voraus; und es war zugleich eine Konsequenz der Tatsache, daß der Liberalismus den politischen Traditionalismus der Landbevölkerung nun nicht mehr ausdrücken konnte und wollte: Anders als im Vormärz stand er in den 1860er Jahren für jene moderne ökonomische Gesellschaft, die die Landbevölkerung als Bedrohung empfand. Aber das greift weit vor. Die deutschkatholische Bewegung verflüchtigte sich in Baden wie anderswo bereits in den Jahren 1846 und 1847 weitgehend, und der fulminante Erfolg der Radikalen in den Wahlen von 1846 lenkte die Zeitgenossen auf andere Probleme hin: Der Radikalismus gründete offenbar in der Gemeindepolitik, in der Machtstellung der Liberalen in den Gemeindebehörden; die politischen Konsequenzen der Gemeindeordnung wurden deutlich und schienen vielen in Karlsruhe zu gefährlich zu werden. Radowitz schrieb im März 1846 nach Berlin, daß es eine »HauptAufgabe« der badischen Regierung sein müsse, »eine Reformierung dieser verfassungsmäßigen, aber für das Land so nachteiligen Stützen der destructiven Parthei, wie es das Wahlgesetz und die unter dem Ministerium Winter eingeführte Gemeindeordnung sind, durchzusetzen.« 146
4. Von der monarchischen zur demokratischen Legitimation. Die Politisierung der Gemeindebehörden Die Reform der Gemeindeverfassung zu Beginn der 1830er Jahre hatte durchaus den Interessen der Bürokratie entsprochen; sie war sogar vorrangig von ihren Motiven ausgegangen, von prinzipiellen Motiven eines frühen Beamtenliberalismus ebenso wie von pragmatischen und funktionalen Erwägungen, die auf eine reibungslosere und konfliktärmere Verwaltung der Gemeindeangelegenheiten zielten - konfliktärmer im Hinblick auf die ermü262 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35765-2
denden Streitigkeiten zwischen den Gemeinden und der Bürokratie ebenso wie hinsichtlich der innergemeindlichen Auseinandersetzungen und Faktionsbildungen. Was die Konflikte innerhalb der Gemeinden betraf, deckten sich, wie wir gesehen haben, die Interessen von Bürokratie und Bürgerschaften durchaus; von einer konsensuellen Kommunalpolitik hofften beide zu profitieren. Der Regelung der Außenbeziehungen jedoch lagen nur scheinbar ähnliche Motive zugrunde: Größere Selbständigkeit war für die Bürgerschaft ein politischer Wert, während die Regierung sie vor allem als Selbständigkeit der Verwaltung gewähren wollte, die politisch der staatlichen Direktive untergeordnet sein sollte. Der Wunsch nach Eintracht im Innern betrog schon bald die Hoffnungen beider Seiten; die Wirkungen der Gemeindegesetze hatten die Intentionen der Bürokratie wie der Bürgerschaft schon bald überholt. Die Beziehungen zwischen Gemeinden und Bürokratie wurden dadurch nur umso prekärer- eine scharfe Zuspitzung von Konflikten in den 1840er Jahren war die Folge, die im fünften Abschnitt etwas genauer untersucht werden soll. Diese Konfliktlage beruhte jedoch auf einer wesentlichen Voraussetzung innerhalb der Kommunen: einem tiefgreifenden Wandel des Selbstverständnisses und der Legitimation der Gemeindepolitik und ihrer durch die Gemeindegesetze des vorausgegangenen Jahrzehnts geschaffenen bzw. neu definierten Institutionen. Erst dadurch entstand die charakteristische Konstellation, daß der Regierung nicht mehr einzelne Korporationen (wie beim traditionellen Konfliktmechanismus) und auch nicht einzelne Liberale gegenüberstanden, sondern demokratisch legitimierte Gemeindebehörden, die sich mit >Verwaltung< nicht zufriedengeben wollten, sondern liberale Politik verfolgten und zugleich die nicht-demokratische Legitimation des Zentralstaates zunehmend in Frage stellten. Unstreitig war die geregelte Ausübung der Verwaltungsfunktionen, der klassischen Versorgungs- und Regulierungsmechanismen der Bürgerkorporation eine Aufgabe, die vielen Gemeinden allein schon schwer genug fiel, nach 1831 ebenso wie zuvor. Seit August 1840 erschien deshalb alle vierzehn Tage das »Archiv für Bürgermeister, Gemeinderäte und Ratschreiber«, das konkrete Hilfe in Fragen der »Gemeindeadministration, Bürgerannahme, Bürgerrechte, Pfandschreibereigeschäfte, Bürgermeisteramtsjustiz, Ortspolizei und Gemeinderechnungswesen« bieten, Gesetze und Verordnungen durchschaubar machen und regelmäßig an wichtige Termine und Fristen erinnern sollte.147 Im Jahr darauf veröffentlichte Friedrich Rettig, ehemaliger Kreisdirektor von Konstanz und konservativer Landtagsabgeordneter, sein Kompendium »Der badische Bürgermeister«, eine »praktische Anleitung« zur Hilfe in konkreten Fragen der Gemeindeverwaltung.148 Die Gemeindebehörden als unpolitische Verwalter im Staatsauftrag: Das war das von der Realität immer mehr entfernte Idealbild der Bürokratie, das Rettig hier zeichnete und zugleich zu propagieren versuchte. »Der Bürgermeister 263 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35765-2
soll«, wurde hier in schon damals altertümlich-betulicher Sprache empfohlen, »seinem gnädigsten Landesfürsten ein treuer und gehorsamer Untertan, seinem angestammten Fürstenhause stets hold und zugetan sein, er soll aufrichtig und mit warmer Vaterlandsliebe das Wohl und die Ehre des Landes befördern, dessen Verfassung aufrecht erhalten, als braver Bürger zu der Gemeinde stehen und in seinem Hause als ein treuer, redlicher Hausvater walten.« Rettig gab auch Empfehlungen, wie »Zwiespalt und Parteiung in der Gemeinde« zu vermeiden seien, und bezeichnenderweise dachte er dabei noch ganz in den Kategorien der vorpolitischen Faktionsbildung und persönlichen Feindschaft: »daraus braucht man aber nicht gleich eine persönliche Parteiung zu machen, sondern man läßt den Streit von der Behörde entscheiden und bleibt nachher doch guter Freund und Nachbar.« 149 Während dieser Rat an der politisch-sozialen Wirklichkeit der 1840er Jahre ohnehin völlig vorbeiging, gab es immerhin noch Bürgermeister, vor allem in den Landgemeinden und regional gesehen insbesondere im Nordosten des Großherzogtums, die sich als Ausführungsorgan der Behörden verstanden und sich als deren Vertreter eher fühlten denn als Repräsentanten der Bürgerschaft gegenüber der Regierung, und diese sogenannten >Amtsbürgermeister< wurden von Liberalen und Radikalen besonders heftig angegriffen. »Fs gibt nämlich Bürgermeister«, beschrieb die »Mannheimer Abendzeitung« dieses Phänomen 1846, »die den kleinen Amtmann, d.h. in ihrer Gemeinde ebenso gut den Pascha spielen, wie manche Beamte, und häufig die Grenzen ihrer Amtsbefugnisse ... überschreiten oder sonst sich Willkürhandlungen erlauben.« 150 Typischer war aber, zumal in den Städten, daß die Bürgermeister und die Gemeindebehörden insgesamt seit der Gemeindeordnung ein wachsendes Selbstbewußtsein als Bürger- und Gemeindevertreter statt als Staatsorgane entwickelten und für sich und die Gemeindebehörden zunehmend über die Verwaltungsfunktionen hinaus ein >allgemeinpolitisches Mandat< reklamierten. Insbesondere der Konstanzer Bürgermeister Karl Hüetlin vertrat diese Auffassung immer wieder offensiv und explizit und geriet deshalb auch mehr und mehr mit den Behörden in Konflikt. So war es im Winter 1 8 4 5 / 4 6 für Hüetlin keine Frage, daß sich die städtischen Gemeindebehörden und möglicherweise auch eine Gemeindeversammlung mit der Motion Zittel beschäftigen sollte und die Gemeinde außerdem das Recht habe, in dieser Sache eine Petition an die Kammer zu verabschieden. Vom Bezirksamt deswegen abgemahnt, daß »vor die Gemeindebehörden nur eigentliche Gemeindeangelegenheiten gebracht werden dürfen«, nicht aber Fragen wie Zensur, Pressefreiheit und Deutschkatholizismus, verteidigte Hüetlin seinen Standpunkt und nahm »das unbeschränkte Petitionsrecht für die Gemeinde als Körperschaft in Anspruch, wie dasselbe jedem einzelnen Bürger zusteht«. 151 Trotz seiner rechtlich und oft auch persönlich starken Stellung konnte es 264 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35765-2
sich der liberale Bürgermeister aber immer weniger leisten, wie ein >Paschaihre< Partei anzubiedern - den politischen Institutionen gab man insofern die Hauptschuld an der Unruhe in den Gemeinden, die überhaupt zum »Tummelplatz der Leidenschaften geworden« seien. 160 Andererseits war das Gedächtnis der Regierung des Unterrheinkreises gut genug, um daran zu erinnern, daß die relativ kurze Amtsdauer der Bürgermeister gerade ein Mittel gegen innergemeindliche Konflikte und Parteibildungen, gegen die früher so häufigen Denunziationsprozesse sein sollte, deren Wiederaufleben bei einer Verlängerung der Dienstzeit, erst recht bei Lebenslänglichkeit, zu befürchten sei. 161 Bemerkenswert selten brachten die Beamten sozioökonomische Argumente zur Erklärung von Politisierung und Konfliktbildung in den Gemeinden vor - bezeichnenderweise nur in Mannheim wurde ausdrücklich beklagt, daß »den Proletariern zu viele Rechte eingeräumt« worden seien und zugleich die Erwartung geäußert, »das Mißverhältnis zwischen Besitzenden und Besitzlosen, welches insbesondere in den größeren und größten Städten des Landes schon sehr fühlbar ist«, werde sich in Zukunft auch »in den übrigen Gemeinden des Landes immer mehr kund geben« und entsprechende politische Auswirkungen zeitigen. 162 Anders als noch in der Diskussion über das Gesetz von 1837 und anders auch als einige Jahre später, wie wir gleich sehen werden, wurde Besitzunterschieden, genauer: der politischen Partizipation der Unterschichten, am Anfang der 1840er Jahre kaum eine spezifische Bedeutung für die Entstehung des Liberalismus in den Gemeinden beigemessen. Es war jedoch eine allgemeine Erfahrung, daß die Tatsache des relativ demokratischen, an keinen Zensus gebundenen Gemeindewahlrechts an dieser Entwicklung eine Hauptschuld trug - und mehr noch: Der Kern des Problems, wie es die lokalen Beamten immer wieder aus ihrer Anschauung beschrieben, lag darin, daß die Praxis und Erfahrung der Demokratie in der Gemeinde die Bürger dem monarchischen Staat entfremde und überhaupt die Legitimität der Monarchie und des Beamtenstaates von unten her grundsätzlich in Frage stelle. Der Amtsvorstand von Sinsheim erinnerte daran, daß die Schultheißen und Vögte zur Zeit der Gründung des Großherzogtums »recht deutlich das monarchische Prinzip repräsentierten« und ihr Amt nach Gutdünken und Willkür, unbehelligt von den übrigen Bürgern, ausüben konnten. 163 Jetzt dagegen seien die Bürgermeister nicht nur keine kleinen Könige innerhalb ihrer Gemeinde mehr; sie betrachteten sich auch nach außen »weniger als Regierungsbeamte wie aus der Volkssouveränität 267 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35765-2
erwachsene Bevollmächtigte«. Die Gemeindeordnung habe »die Regierungsmacht gelähmt und ein demokratisches Prinzip nach und nach eingeführt«; 164 die Gemeinden, das mußten die Behörden erkennen, führten mehr und mehr ein oppositionelles Eigenleben, das der zentralstaatlichen Intervention überhaupt nicht mehr zu bedürfen schien, ein Eigenleben, durch das »das demokratische Element in der Regierungsform nach und nach sich vollständig ausbildet, und das monarchische Prinzip völlig untergraben wird.« 165 Diese Prognose, die auch das Stadtamt Mannheim mit seiner Voraussage unterstrich, die »demokratischen Elemente« würden sich in Zukunft noch mehr kräftigen »und in noch größere Widersprüche mit dem monarchischen Prinzipe kommen«, 166 erwies sich dann ja auch als durchaus richtig: Die kommunale Demokratie entwickelte eine Eigendynamik, die die Gemeinden »möglichst unabhängig« von der Staatsgewalt werden ließ - daß die Gemeinden »der Natur der Sache nach ... nur Teile des Staates sein können«, wurde zur hilflosen Beschwörung angesichts einer politischen Realität, die immer mehr dagegen sprach. Das Problem der Bürokratie war nur, daß sie in der aufgeheizten politischen Situation der 1840er Jahre und angesichts einer erdrückenden, ja wachsenden Stärke des Liberalismus und Radikalismus nicht nur in den Gemeinden, sondern auch im Landtag, der einer Revision der Gemeindeordnung ja zustimmen mußte, vorläufig nichts anderes tun konnte als dieser Entwicklung zuzusehen; daß jede Gesetzesinitiative »bei der dermaligen Richtung der landständischen Versammlung« sofort zum Scheitern verurteilt war, wußte man nur zu genau. 167 Umso schneller und konsequenter wurden die im Augenblick aussichtslosen Vorschläge des Innenministeriums nach der Revolution wieder aufgegriffen. Nicht zuletzt wegen dieser durch die Gemeindeordnung bewirkten demokratischen Legitimation, die sich trotz des indirekten Wahlverfahrens und Dreiklassenwahlrechts auch nach 1837 auf das gesamte Ensemble der Gemeindebehörden erstreckte, funktionierte die Kooperation der verschiedenen Institutionen untereinander grundsätzlich gut; das strukturelle Konfliktpotential, das vor 1831 in der Opposition von >oligarchischem< Gemeinderat und >demokratischem< Ausschuß immer gegeben war, löste sich sehr bald weitgehend auf. Naturgemäß führte die Kontrollfunktion des (kleinen) Bürgerausschusses gegenüber dem Gemeinderat zu kleineren Auseinandersetzungen, wenn der Ausschuß etwa Aufsichtsrechte an sich ziehen wollte, die ihm gar nicht zustanden 168 oder wenn umgekehrt, wie etwa der Freiburger Ausschuß 1840 in einer Petition beklagte, der Gemeinderat den Bürgerausschuß nicht ausreichend über seine Tätigkeit informierte und dadurch der rechtmäßigen Kontrolle auszuweichen versuchte. 169 In den 1830er Jahren wirkte die frühneuzeitliche Tradition in einigen Orten noch abgeschwächt nach, so besonders deutlich in Mannheim, wo der kleine Bürger268 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35765-2
ausschuß bereits in den 1830er Jahren von entschiedenen Liberalen beherrscht wurde, die auch auf Konfliktkurs zur Regierung zu gehen bereit waren, während der Gemeinderat noch eine eher gemäßigte und insgesamt regierungsloyale Position einnahm. 170 Noch im Sommer 1841 trug der Mannheimer Gemeinderat unter Bürgermeister Jolly bei der Regierung darauf an, daß bei Stimmengleichheit im Kleinen Bürgerausschuß die in Frage stehenden Beschlüsse des Gemeinderats anerkannt sein sollten, aber ohne Erfolg; ein Stimmengleichstand im Bürgerausschuß bedeutete eine Verwerfung des Gemeinderatsbeschlusses, mochte Jolly auch noch so sehr darauf verweisen, daß dieser seinerseits einstimmig gefaßt worden war.171 Schon im Jahr darauf wurden Itzstein - der nach einem Konflikt mit den Staatsbehörden das Amt nicht antrat - und Hecker in den Mannheimer Gemeinderat gewählt, 172 und das signalisierte hier wie andernorts eine in den 1840er Jahren zunehmende Tendenz zur politisch einheitlichen Ausrichtung der Gemeindebehörden. Die Radikalisierung und verschärfte Parteibildung dieses Jahrzehnts führte also innerhalb der Gemeinden gerade nicht zu vermehrten Kämpfen verschiedener Gemeindegremien, die von unterschiedlichen Parteien >gehalten< worden wären, gegeneinander - im Gegenteil: Die Erfahrung mit einer parteipolitisch gefärbten Gemeindepolitik ließ ein Bewußtsein dafür entstehen, daß die Gemeinde dann konsequent auch von einer Partei gerührt werden sollte. So erklärten im Januar 1844 drei Mitglieder des kleinen Bürgerausschusses von Neustadt im Schwarzwald, vor Beendigung ihrer Dienstzeit ihr Amt niederlegen zu wollen, »um kein Hindernis gegen die Gesinnungseinigung der städtischen Behörden zu sein«, 173 ein Indiz im übrigen auch für die wachsende Akzeptanz demokratischer Parteilichkeit in der politischen Kultur der badischen Gemeinden. Als besonders wichtiges Medium im Prozeß der Politisierung der Gemeindebehörden erwiesen sich in den Städten immer mehr die durch das Gesetz von 1837 aufgewerteten Großen Bürgerausschüsse. Ihre Verhandlungen waren im Gegensatz zu denen von Gemeinderat und kleinem Ausschuß öffentlich, und schon die Zeitgenossen verglichen ihre Funktion und ihren Arbeitsstil mit Parlamenten: »In diesen Versammlungen«, urteilte die »Oberrheinische Zeitung« 1842, »bildet sich zugleich ein wohltätiger parlamentarischer Takt und sie sind eine Schule der Beredsamkeit und des öffentlichen Anstandes«. 174 Die Großen Bürgerausschüsse wurden in den 1840er Jahren zur wichtigsten institutionellen Plattform des städtischen Liberalismus und Radikalismus, von der die Liberalen, wie wir schon gesehen haben, sich oft mehr versprechen konnten als von Abstimmungen in der Gemeindeversammlung. Deshalb stand in einigen Städten die Existenz des Großen Bürgerausschusses selber zur Debatte. In Schwetzingen stellten die regierungstreu-konservativ gesinnten Bürger im Herbst 1846 den Antrag auf Abschaffung des Großen Ausschusses, der in einer Gemeindeversamm269 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35765-2
lung von einer relativ knappen liberalen Mehrheit von 219 zu 200 Stimmen zurückgewiesen wurde, und im Vorfeld dieser Entscheidung sparten beide Parteien nicht mit Bestechungs- und Beeinflussungsversuchen, um in dieser politischen Grundsatzentscheidung nicht zu unterliegen. 175 Bereits im Sommer 1845, und das war die Voraussetzung dafür, daß die Abschaffung des Ausschusses in Schvvetzingen überhaupt zur Abstimmung gestellt werden konnte, hatte sich das Staatsministerium grundsätzlich mit dieser Frage befaßt und war nach ausführlichen Überlegungen zu dem Ergebnis gekommen, daß auch in Städten von mehr als 3.000 Einwohnern der Große Ausschuß durch Gemeindebeschluß aufgehoben werden könne, aber nur mit Staatsgenehmigung und »nur aus wichtigen Gründen und stets nur mit Widerrufsvorbehalt« der Behörden. 176 Dahinter stand aber eindeutig nicht die Absicht, die Gegner des Liberalismus in den Gemeinden indirekt zu unterstützen, denn die Entscheidung ging von einem gerade andersherum gelagerten Fall aus, der zeigt, daß der Große Bürgerausschuß für die Liberalen wie für ihre Gegner häufig weniger eine Grundsatzfrage war als vielmehr >opportunistisch< nach den jeweiligen lokalen Machtverhältnissen und den Chancen, die man sich mit diesem Gremium oder ohne es ausrechnete, unterstützt oder bekämpft wurde. In Breisach lief 1844 die erste sechsjährige Amtszeit des Bürgermeisters Jörger ab, und bei den zuvor noch stattfindenden Ergänzungswahlen zum Großen Bürgerausschuß bildeten sich Parteien für und gegen Jörger - übrigens ganz analog zur Wirkung der indirekten Landtagswahlen ein deutliches Indiz dafür, daß die erhoffte Filter- und Dämpfungswirkung der Ausschüsse nicht griff, sondern sich der Parteienkampf in die Ausschußwahlen nur verlagerte! Jörger brachte seine Kandidaten zwar durch, aber die radikalliberale Gruppe um den Wirt Benedikt Herbst focht das Ergebnis an und beantragte eine Gemeindeversammlung, die sich am 15. August 1844 mit 312 gegen 164 Stimmen für die Abschaffung des Großen Ausschusses aussprach. 177 Von nun an zog sich der Konflikt über immer neue Entscheidungen, Rekurse, Gegenentscheidungen und Petitionen drei Jahre hin, in denen trotz der Grundsatzentscheidung des Staatsrats eine Abschaffung des Ausschusses vom Innenministerium nicht genehmigt wurde; im Sommer 1846 wurde er aber zum Zwecke einer vollständigen Neuwahl einmalig aufgelöst, nachdem auch ein Gesuch Breisacher Bürger um Herbst, den Bürgermeister zuerst unmittelbar zu wählen und dann einen neuen Ausschuß zu bestimmen, keinen Erfolg gehabt hatte. Die Initiative der Herbst-Partei in Breisach beruhte jedoch keineswegs auf ihrer grundsätzlichen Wandlung von >Liberalen< zu >DemokratenProletariats< auf die Wahlen und eine noch ungenügende Vertretung der reicheren Bürger für diese Entwicklung vor allem verantwortlich - obwohl diese Art der sozialökonomischen Erklärung des Liberalismus sich in der Zensus- und Wahlrechtsdis271 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35765-2
kussion der 1830er Jahre schon einmal als untauglich erwiesen hatte. Daß das »Proletariat«, auch wenn man den Begriff im weiteren Sinne von Unterschichten überhaupt versteht, »die Leitung der Gemeinde-Interessen ... bisher faktisch inne hatte«, wie die Seekreisregierung behauptete, 185 ging an der Realität der bürgerlichen Kommunalpolitik, ging an den Mechanismen der lokalen Rekrutierung liberaler Eliten völlig vorbei und richtete sich denn wohl auch eher dagegen, daß die Ausdehnung des Bürgerrechts auf einen großen Teil der Unterschichten diese überhaupt in den politischen Prozeß mit einbezog. 186 Aber schon die Beobachtung, der Radikalismus der »weniger Vermögenden« resultiere aus der zunehmenden Autlösung traditioneller Abhängigkeitsverhältnisse der Unterschicht während des Vormärz, 187 traf im noch weithin vorindustriellen Baden und zumal in einigen typischen Hochburgen des Radikalismus, wie etwa das Beispiel Ettlingens sehr deutlich zeigt, keineswegs generell zu. Gerade das Ettlinger Bezirksamt gestand denn auch unumwunden ein, die 1837 zugrundegelegte Annahme, die reicheren Bürger seien auch die »besseren«, habe sich als Irrtum herausgestellt, und analysierte, »daß vorzüglich auch reiche Leute die Schuld tragen, daß die gewaltigen Erschütterungen im öffentlichen Leben eingetreten sind. Der arme Mann vermag aus eigenen Kräften nichts; wenn ihm nicht ein Belehrungspunkt gegeben ist, so verhält er sich in den Schranken der gesetzlichen Ordnung ... Der Reiche dagegen«, und das war eine durchaus scharfsichtige Beobachtung über den badischen Radikalismus, »fühlt sich viel eher gedrückt, gesetzliche Beschränkungen sind ihm oft Schranken, welche er durchbrochen haben möchte«. 188 Entsprechend widersprüchlich waren die Vorschläge, wie man der Radikalisierung und parteipolitischen Funktionalisierung der Großen Bürgerausschüsse begegnen könne. Viele Beamte forderten, diese Gremien wieder ganz abzuschaffen oder doch zumindest die Wahl von Bürgermeister und Gemeinderat zurück in die Hände der gesamten Bürgerschaft zu legen, 189 andere wiesen gerade das entschieden zurück, »denn die Massen zur Stimmgebung beiziehen, heißt die Unvernunft zum Gesetzgeber zu erheben«. 190 Einige plädierten dafür, den Zensus von 1833 wieder in Kraft treten zu lassen, andere kritisierten, mit einem gewissen Recht, wie schon gezeigt worden ist, die reale Vermögensverhältnisse nur sehr unzureichend wiedergebende Steuerbemessungsgrundlage, wieder andere wollten die Dienstzeit der Ausschußmitglieder von vier auf acht Jahre verlängert sehen, da durch die häufigen Wahlen »in jeder Gemeinde die fortwährende Agitation gesetzlich sanktioniert worden ist«. 191 Wie unsicher die Behörden auf den in den Ausschüssen sich manifestierenden Radikalismus reagierten, zeigen aber vor allem die Vorschläge zur Abänderung des Dreiklassenwahlrechts: Aus dem vermeintlich so schlechten und so großen politischen Einfluß der Unterschichten trotz des ungleichen Wahlrechts wurde die geradezu grotesk 272 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35765-2
anmutende Konsequenz gezogen, die Einteilung der Wählerklassen genau umgekehrt vorzunehmen, weil die Reichen dadurch benachteiligt seien, daß sie nur ein Sechstel der Bürger umfaßten und von den viel größeren unteren Klassen dadurch politisch erdrückt würden: Die Bildung der drei Klassen sei, argumentierte etwa das Stadtamt Mannheim, »gerade umzukehren, nämlich 14 der ersten, der zweiten und der dritten Klasse zuzuweisen« 192 daß das bedeuteten würde, der reichsten Hälfte der Bürger nur ein Drittel der Ausschußsitze ebenso wie dem ärmsten Sechstel zuzugestehen, bemerkten die Beamten wohl gar nicht. Da die zugrundeliegende Diagnose aber ebenso falsch war wie das Rezept, hätte eine solche Begünstigung der ärmeren Bürger den Radikalismus der Ausschüsse vielleicht tatsächlich eingedämmt. Jenseits dieser >technischen< Probleme aber stand die schon 1843 gewonnene Erfahrung erneut und in verschärfter Form im Vordergrund: Die Großen Bürgerausschüsse hatten sich zu den lokalen Hochburgen der Opposition entwickelt, weil sich das Verständnis von Politik und Partizipation in den Gemeinden seit der Gemeindeordnung, »die man wohl nur«, wie erneut unterstrichen wurde, »als die Grundursache unserer in höchstem Grade faulen Zustände betrachten kann«, 193 und verstärkt noch in den 1840er Jahren, fundamental gewandelt hatte. Die Gemeinden hatten sich gegenüber dem Zentralstaat verselbständigt, zu »lockere Bande« 194 verknüpften Regierung und Gemeinden noch, die Regierung hatte Vertrauen und Legitimität verloren - »Demoralisation« des Volkes nannte man das nach der Revolution. 195 Die allgemeinen politischen Ziele des Liberalismus waren nur halb so gefährlich - die Bedrohung für die Staatsorgane ging von einem viel grundsätzlicheren, schleichenden Prozeß der >Umpolung< politischer Legitimation in den Gemeinden aus, an dem der Liberalismus gearbeitet hatte, bis »das unvernünftige und böswillige Geschrei mit den bekannten Schlagworten gegen Bureaucratie pp. zuletzt absolute Selbständigkeit oder Unabhängigkeit der Gemeinden von der Staatsgewalt proklamierte. Damit hatte die Revolution, was sie gegen die rechtmäßige Staatsgewalt erstrebte: Staaten im Staate, in jeder Gemeinde als solcher eine Republik!« 196
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5. Die Zuspitzung des Konfliktes zwischen staatlicher Bürokratie und liberalen Gemeinden Der Legitimationswandel der Gemeindepolitik in den 1840er Jahren ließ sich auf diese nicht beschränken; er meinte eben nicht nur Demokratie im Innern unter Anerkennung einer höheren Souveränität staatlicher Ordnung, sondern entwickelte eine Alternative zur staatlichen Ordnung selbst. Die Gemeinden waren nicht wie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts Rückzugsräume des Liberalismus und der bürgerlichen Herrschaft innerhalb des vom Bürgertum akzeptierten konstitutionell-bürokratischen Staates, sondern seine Ausgangspunkte, über die der Wunsch nach bürgerlicher Selbstbestimmung ständig dynamisch hinausdrängte. »Der Mensch empfängt sein Dasein im Schoße der Familie, aus dieser tritt er in die Gemeinde und aus dieser in den Staat« 197 - diese typische Bestimmung liberaler Gemeinde- und Staatstheorie im Vormärz mußte man in Baden immer mehr so deuten, daß der Bürger nur über die politische Erfahrung der Gemeinde und unter ihrem Primat staatliche Ordnung mit zu konstituieren bereit war; oder aber: aus der Gemeinde in den existierenden bürokratischen Staat gar nicht mehr >eintreten< wollte. Diese Alternative hatte auch Struve im Auge, als er hinter den »immer entschiedener« hervortretenden Konflikten zwischen Gemeinde- und Staatsbehörden eine grundsätzliche Machtfrage gestellt sah: »Wo Staat und Gemeinden sich bekriegen, wo beide Teile ihre Rechte auszudehnen sich bemühen, da muß entweder der Staat zu Grunde gehen, insofern er das Gemeindeleben unterdrückt, oder zu neuem Leben erwachen, indem er durch das Gemeindeleben selbst zu neuer frischer Lebenstätigkeit angeregt wird.« 198 Während die liberale Bürokratiekritik, auch wenn sie in ihrer gemäßigten Form ein Aufsichtsrecht des Staates über die Gemeinden durchaus anerkannte, dessen Ausartung in eine »Quälerei mit Schreiben, Anzeigen, Berichten« - so der Württemberger Robert Mohl 1846 199 - immer entschiedener anprangerte und dazu zumal in Baden in den 1840er Jahren angesichts einer nicht nur immer reaktionärer, sondern auch immer nervöser werdenden Staatsverwaltung allen Grund zu haben schien, war das von Struve apostrophierte >Zugrundegehen< des Staates jedenfalls an seinem lokalen Fundament aus der Karlsruher Perspektive schon mehr als nur eine Gefahr. »Der Einfluß der Beamten ist in den meisten Bezirken vernichtet«, resümierte etwa Nebenius nach den Landtagswahlen von 1846, »Macht und Einfluß der Reg.[ierung]« seien »zu schwach im Lande und in der Kammer«. 200 Im Januar 1847 versuchte das Staatsministerium, Vorschläge zu entwickeln, wie angesichts des starken »Treibens der radikalen Partei« überhaupt noch »die Autorität der Regierung aufrecht zu erhalten« sei, 201 aber bezeichnenderweise schien das nur noch durch eine weitere Verschär274 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35765-2
fung der staatlichen Kontroll- und Repressionsinstrumente möglich, nicht zuletzt durch eine strengere Beaufsichtigung der lokalen Beamten, die in den Gemeinden eine gerade entgegengesetzte Wirkung provozieren mußte und den kommunal-liberalen Widerstandsgeist nur noch stärkte. Der Legitimationswandel innerhalb der Gemeinden, der Machtverlust des Staatsapparates und die zugespitzte politisch-ideologische Abgrenzung von >Bürgern< und >Beamten< spiegelten sich auf diese Weise im Jahrzehnt vor der Revolution in einer zunehmenden Zahl von Konflikten zwischen der staatlichen Bürokratie und den Gemeinden wider, die in fast allen denkbaren Bereichen ausgetragen wurden und von scheinbar harmlosen lokalen Scharmützeln bis zu landesweit Aufsehen erregenden Fällen reichten. Zum Musterbeispiel und Höhepunkt dieser Konfliktzuspitzung wurde die Auflösung einer Versammlung der Mannheimer Gemeindebehörden im November 1845 unter Androhung militärischer Gewalt, die den Zeitgenossen Anlaß bot, grundsätzlich über das Verhältnis von Zentralgewalt und Gemeinden im konstitutionellen Staat nachzudenken. Zu einem der umstrittensten und darüber hinaus symbolträchtigsten Felder dieser Auseinandersetzung entwickelte sich in den 1840er Jahren die staatliche Bestätigung von Bürgermeisterwahlen - genauer: die vor allem unter der reaktionären Polizeiverwaltung des Ministerialdirektors Rettig immer häufiger vorkommende Nichtbestätigung gewählter Bürgermeister aus offenkundig politischen Gründen. 202 Wie häufig das vorkam, ist aus Quellengründen aber kaum zu sagen, schon deshalb, weil nicht jede Entscheidung der Ämter und Kreisregierungen später auch bis ins Innenministerium gelangte und weil die Gründe für die Nichtbestätigung nicht immer klar erkennbar sind. 203 Itzstein legte der Kammer im Februar 1845 nach seinem eigenen Kenntnisstand eine Liste mit elf zu diesem Zeitpunkt schwebenden Fällen vor, die jedoch allesamt sehr kleine Städte und Landgemeinden betrafen204 - liberalen Wahlen in den mittleren und größeren Städten des Landes, also den eigentlichen Hochburgen des Liberalismus und Radikalismus, die Bestätigung zu versagen scheute sich die Bürokratie jetzt im Gegensatz zur Praxis der frühen 1830er Jahre, erinnert sei an Rotteck in Freiburg und Gerbel in Mannheim, offensichtlich, zumal dort häufig Bürger von landesweiter Prominenz kandidierten. 205 Andererseits konnten durchaus auch Landtagsabgeordnete wie Christian Reichenbach betroffen sein, dem lange Zeit die Bestätigung seiner Wahl zum Bürgermeister in Buchholz im Amte Waldkirch verweigert wurde. 206 Wichtiger als die Zahl der Fälle oder die Bedeutung der Gemeinden, in denen sie vorkamen, war ohnehin die durch Presse und Landtagsverhandlungen öffentlich gemachte Symbolwirkung und der darin zum Ausdruck kommende Grundsatzstreit über das Verhältnis von Staat und Gemeinden, der in der Mitte der 1840er Jahre in zwei Landtagsdebatten ausgetragen 275 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35765-2
wurde. 207 Im Januar 1844 kam das Problem zur Sprache, als der Gemeinderat Albin Grau bei seiner dreimaligen Wahl zum Bürgermeister von Steinbach (bei Mudau im Odenwald) trotz immer höherer Stimmenzahl der Bürger jedes Mal abgelehnt worden war und die Regierung nach der dritten Wahl einen provisorischen Bürgermeister eingesetzt hatte. Von eben dieser dreimaligen Wahl desselben Kandidaten ging der Streit aus: Der entsprechende § 11 der Gemeindeordnung war nach heftigen Debatten im Jahre 1831 nur als Kompromiß möglich geworden, bei dem man im Eifer des Gefechts, wie sich dann ja schon bei der Freiburger Bürgermeisterwahl von 1833 sehr bald gezeigt hatte, genau festzulegen vergessen hatte, ob ein abgelehnter Kandidat erneut gewählt werden konnte, bis nach der dritten Wahl die Bestätigung erfolgen mußte; oder ob, wie nun die Regierungsseite argumentierte, jedes Mal ein neuer Kandidat präsentiert werden mußte, was auf ein Auswahlrecht der Regierung aus drei von der Gemeinde präsentierten Kandidaten hinauslief.208 Schaaf hielt den Liberalen in diesem Sinne entgegen, bei ihrer Interpretation des Bestätigungsrechtes werde »das Recht der Regierung, die Bürgermeisterwahlen zu genehmigen oder nicht«, »rein illusorisch werden«, 209 und damit hatte er in jedem Fall recht, denn den Gemeinden kam es in der Tat darauf an, das Bestätigungsrecht als formale Bestätigungspflicht zu interpretieren und sich selbst damit größtmögliche Selbständigkeit zu sichern. Wenn Rettig immer wieder darauf hinwies, nach der Verfassung gehe alle Staatsgewalt vom Regenten aus und nur der diese Tatsache anerkennende »konstitutionelle Bürger« könne die Anerkennung der Regierung finden,210 offenbarte sich über die Gemeindeordnung hinaus ein tiefgreifender Dissens in der Verfassungsinterpretation; für die Liberalen ging die Staatsgewalt keineswegs mehr einzig vom Großherzog und seiner Regierung aus, sondern vom Volk in den Gemeinden. Unabhängig davon, ob die Bestätigung erfolgte oder nicht, verstanden die Gemeinden die Existenz von Regierungsrechten in diesem >ihrem< Bereich überhaupt immer mehr als eine ungerechtfertigte Zumutung. Unter Anspielung auf eine wesentliche Intention der Regierung bei der Verabschiedung der Gemeindeordnung, nämlich die Befriedung der innergemeindlichen Konflikte, hielt Itzstein ihren Vertretern vor, »es müßte im Sinne der Regierung liegen, Männer als Bürgermeister zu bestätigen, welche auf solche Weise«, mit einer überwältigenden Mehrheit der Stimmen wie Grau in Steinbach, »mit dem Vertrauen ihrer Mitbürger beehrt sind« 211 - aber er wußte nur zu genau, daß die auf Faktionen bezogene Absicht im Hinblick auf politische Parteien und ihren über die Gemeinde hinausreichenden Anspruch nicht mehr galt. So bekannte sich die Regierung auch offen dazu, das Bestätigungsrecht nach parteipolitischen Grundsätzen - der >konstitutionellen Gesinnung< nach Rettigs Verständnis entsprechend - zu handhaben und schob andere Gründe, etwa eine Nichterfüllung der in § 13 276 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35765-2
der Gemeindeordnung genannten formellen Qualifikationskriterien für das Bürgermeisteramt, gar nicht mehr vor. Regierungstreue Bürgermeister und Gemeinderäte wie Anton Jörger in Baden-Baden erhielten zur selben Zeit vermehrt staatliche Zivilverdienstmedaillen in Anerkennung ihrer »bei jeder Gelegenheit kundgegebenen Gesinnungen treuer Ergebenheit« verliehen. 212 Die Konflikte um das Bestätigungsrecht aber, in denen erneut ein Legitimitätsverlust zentralstaatlicher Macht in den Gemeinden zum Ausdruck kam, waren in der Revolution und ihrer Forderung nach völliger Selbständigkeit der Gemeinden sofort wieder präsent. »Mehr und mehr«, beklagte Karl Zittel 1847 im Rückblick auf das politische Verhalten der Bürokratie in den vorangegangenen Jahren, »mußten die Bürger den Unterschied fühlen, den man zwischen den Anhängern dieser und jener Partei machte«, nicht nur bei Bürgermeisterwahlen, sondern in beinahe jeder Hinsicht, »ja selbst in der Erteilung der Tanzerlaubnis an Wirte und dergleichen«. 213 Sehr deutlich zeigte sich das beim Bau der badischen Staatseisenbahn, bei deren Streckenführung liberale Städte und Wahlkreise bewußt ausgespart blieben - so lief die Hauptlinie nach Süden an der Stadt Lahr vorbei, und die Main-Neckar-Bahn, die Baden nach Norden mit Frankfurt verband, führte von dort weder nach Mannheim noch nach Heidelberg, sondern zu dem künstlichen Knotenpunkt Friedrichsfeld. 214 Im kleineren Maßstab gehörte ein solches Verhalten der Beamten zur Tagesordnung und war häufig mit Versuchen der Wahlbeeinflussung, gegen die sich die Liberalen in den 1840er Jahren immer wieder zu wehren versuchten, verbunden. So beschied der Oberamtmann dem Gemeinderat eines Odenwaldstädtchens auf dessen schon lange geäußerten Wunsch nach dem Bau einer Straße im August 1847, die Regierung könne dem Anliegen der Gemeinde leider nicht entsprechen - wenn die »unteren Behörden« der Gemeinde mehr nach dem Willen der Staatsbehörden handelten, gingen solche Gesuche leichter durch, und wenn die Gemeinde das bei den bevorstehenden Wahlmännerwahlen unter Beweis stelle, könne die Entscheidung anders ausfallen. 215 In Freiburg stritt man zur selben Zeit über ein Denkmal für Rotteck, das nach der Meinung der Regierung des Oberrheinkreises nicht innerhalb der Stadt aufgestellt werden sollte, weil »auf öffentlichen Plätzen unserer Städte nur den Mitgliedern der Regentenfamilie Denkmäler errichtet« würden; 216 fünf Jahre zuvor hatte das Freiburger Stadtamt verboten, den Leichenwagen des verstorbenen liberalen Abgeordneten Aschbach von einem Gespann aus sechs Pferden ziehen zu lassen - daraufhin wurden nur zwei Pferde angeschirrt und die vier anderen von jüngeren Bürgern vorausgeführt: In solchen und ähnlichen Fällen wurde die Bürokratie von den Gemeinden gezielt der Lächerlichkeit preisgegeben. 217 In Konstanz verweigerte Bürgermeister Hüetlin, nachdem einige Bürger das Ergebnis der Landtagswahl von 1846 277 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35765-2
angefochten hatten, die Herausgabe der Wahlakten an die staatlichen Behörden mit dem Verweis auf das Wahlprüfungsrecht der Zweiten Kammer und erhielt deshalb einen Verweis der Regierung nach § 23 der Gemeindeordnung - die letzte Sanktionsstufe vor der Androhung der Entlassung - , gegen den er wiederum, erfolglos, Beschwerde einlegte; 218 in Heidelberg stritten Bürgerschaft und Staatsbehörden mehrere Jahre darum, wer jeweils auf dem Geburtstagsfest des Großherzogs den offiziellen Toast auf diesen ausbringen sollte - beide Seiten wußten, daß ein unspektakulärer Trinkspruch eine ganz unterschiedliche politische Bedeutung gewinnen konnte je nachdem, ob ihn der Stadtdirektor oder Bürgermeister Winter sprach. 219 Diese Beispiele ließen sich ohne Ende vermehren; die Reibungen zwischen Bürokratie und Gemeinden, zwischen Beamten und Bürgern, bei denen sich beide Seiten oft in nichts nachstanden, prägten ganz wesentlich die politische Alltagserfahrung der 1840er Jahre. Eine zusätzliche Konfliktdimension vertiefte die Spannungen weiter und drohte sogar, sie in den offenen Ausbruch von Gewalt münden zu lassen: Immer häufiger kam es seit der Mitte des Jahrzehnts zu Zusammenstößen zwischen Soldaten und Bürgern in verschiedenen badischen Städten, vor allem in Mannheim, wo im September 1844 drei Offiziere Bürger in einer Gaststätte überfielen und mißhandelten; ein ähnlicher Vorfall ereignete sich im Juni des darauffolgenden Jahres in Durlach. 220 In Karlsruhe gab der Theaterbrand im März 1847 »wiederum den Stoff zu einem jener Zwiste zwischen der Bürgerklasse und dem Militär«, die sich, wie der preußische Gesandte bemerkte, »in neuerer Zeit wohl nicht zufällig über halb Deutschland verbreiten«. 221 Weil einige Bürger bei den Löscharbeiten von Soldaten unsanft behandelt worden waren, setzten sie für den folgenden Tag eine Versammlung in einem als Treffpunkt der Karlsruher Radikalen bekannten Lokal an, das sie bei ihrem Eintreffen aber bereits mit einer großen Zahl von Unteroffizieren besetzt fanden; ein gewaltsamer Zusammenstoß konnte hier gerade noch verhindert werden. Großes Aufsehen im ganzen Großherzogtum erregte aber vor allem der tätliche Angriff eines Soldaten auf den Abgeordneten Alexander v.Soiron in Mannheim Anfang 1846. Soiron hatte kurz zuvor in der Zweiten Kammer eine Motion auf Übertragung der Polizeistrafgewalt an ordentliche Gerichte eingebracht und zu ihrer Begründung eine Reihe von Willkürakten der Polizei in Mannheim aufgezählt. Bei seiner Rückkehr nach Mannheim wurde er daraufhin von einem Soldaten zur Rede gestellt, der Satisfaktion verlangte und den Abgeordneten beschimpfte und angriff.222 Diesen Vorfall nutzte die Kammer wiederum sofort zu einer grundsätzlichen Verteidigung der Redefreiheit der Abgeordneten, und eine Petition von 96 Bürgern der Stadt Mannheim protestierte gegen das »unerhörte Attentat«, das nicht nur ein Anschlag auf den »Mitbürger«, sondern ein »Attentat gegen unsere Verfassung« gewesen sei. 223 278 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35765-2
Die politische Nervosität, die Ausdruck eines immer tiefer werdenden, immer schwerer zu überbrückenden Grundsatzkonfliktes war, wuchs durch solche Vorfälle auf beiden Seiten weiter an, und in wiederum gegenüber allen anderen Städten verschärfter Form artikulierte sich dieser Konflikt vor allem seit 1845 in der größten Stadt des Großherzogtums, in Mannheim. Hier führten Liberalismus und Staatsbehörden einen täglichen Kleinkrieg gegeneinander, der zugleich immer mehr den Charakter einer Machtprobe zwischen Gemeinde und Regierungsgewalt annahm. Insbesondere der radikale Anwalt Gustav v. Struve wurde nicht müde, immer neue Vereine zu gründen und die Handhabung der Zensur in der Stadt zu bekämpfen mit einer schier unendlichen Fülle von Rekursen und Beschwerdeschriften, die alle rechtsstaatlichen Mittel der Verfassung des Großherzogtums ausnutzten und die Behörden fast zur Verzweiflung trieben. Mit Beamten, die einen besonders harten und konservativen Kurs steuerten, provozierten diese wiederum die Mannheimer Liberalen, für die neben dem Stadtdirektor Riegel und dem Regierungsdirektor Schaaf der Zensor v. Uria-Sarachaga, ein gebürtiger Spanier und nach dem Urteil Struves »ein Jesuit aus religiöser und ein Absolutist aus politischer Gesinnung«, 224 zur besonderen Reizfigur wurde. Die Eingriffe des Zensors in die liberale und radikale Mannheimer Presse und seine eigene Auseinandersetzung mit den Behörden dokumentierte Struve in mehreren Bänden, die mit jeweils über 20 Druckbogen Umfang selbst nicht der Zensur unterlagen. 225 Doch obwohl Struve eine exaltierte Persönlichkeit war und seine Ziele mit ungewöhnlichen Methoden verfolgte, agierte er in der Mannheimer politischen Szenerie seit der Mitte des Jahrzehnts keineswegs als allgemein belächelter Außenseiter, sondern in vollem Konsens mit dem Liberalismus des Mannheimer Handels- und Bildungsbürgertums und damit zugleich im Konsens mit den Gemeindebehörden: Gegen die ständigen Eingriffe der Zensur und Polizei, für die Pressefreiheit und in der Situation des Herbstes 1845 nicht zuletzt für die religiöse und politische Gleichberechtigung der Deutschkatholiken setzten sich etwa Bassermann und Bürgermeister Jolly ebenso ein wie Struve - und erst dadurch, daß die Mannheimer Opposition von der unzweifelhaften politischen, sozialen und ökonomischen Elite der Stadt ausging und nicht von aufrührerischen Außenseitern oder revoltierenden Unterschichten, wurde sie für die staatlichen Behörden zu einem Problem, das zu lösen man nur über offensichtlich unangemessene Mittel verfugte. Am 15. September 1845 sollte im >Badischen Hof< eine Volksversammlung stattfinden, zu der unter anderem Bassermann, Itzstein, Soiron und Mathy eingeladen hatten und die sich mit dem Zensurproblem ebenso wie mit dem »konfessionellen Frieden« der Stadt beschäftigen sollte. 226 Das Innenministerium verbot die Versammlung jedoch am Vortage unter Berufung auf das Versammlungsgesetz vom 15. November 1833; Polizeibeamte 279 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35765-2
verhinderten den Zugang zu dem Versammlungslokal. Die Beschwerde dagegen blieb erfolglos; am 9. November eröffneten die Behörden Soiron die Verwerfung des Rekurses, und am Tag darauf stellte Struve fest: »Das Recht hat aufgehört, hier in Mannheim Geltung zu besitzen. Blinde Willkür und maßlose Verfolgungssucht sind an dessen Stelle getreten«; mit einem Wort und in der typischen Wahrnehmung des badischen Liberalismus: ein »Complott gegen unsere Verfassung« war im Gange, die Beamten des Staates bedienten sich »ihrer Amtsgewalt zum Umsturz der Verfassung«. 227 Wiederum vier Tage später erschien in der »Mannheimer Abendzeitung« eine Einladung zu einer Versammlung der Gemeindebehörden, die am 19. November im Aulasaal stattfinden sollte - darin konnte man, kurz nach der letztinstanzlichen Bestätigung des Verbotes der >Volksversammlung< vom September, eine bewußte Strategie sehen, unter Umgehung dieses Verbotes die geplante Versammlung in neuem Gewande dennoch abhalten zu können, obwohl sich dieser Zusammenhang nicht sicher belegen läßt. 228 Auf jeden Fall hatten 84 Bürger beim Gemeinderat die Abhaltung einer solchen Versammlung gefordert, und Bürgermeister Jolly entsprach diesem Wunsch unter Hinweis auf den § 38 Abs. 5 der Gemeindeordnung, nach dem eine Gemeindeversammlung auf solchen Antrag sogar stattfinden mußte, wenn die Gemeinde eine Eingabe an den Großherzog oder die Kammer beschließen wollte. Die in der »Mannheimer Abendzeitung« gedruckte Einladung zu der Versammlung des Gemeinderates und der beiden Bürgerausschüsse nannte denn auch die beiden folgenden Fragen als Gegenstände der Versammlung: »Sollen die von den hiesigen Polizeibehörden angegebenermaßen verübten Eingriffe in die verfassungsmäßigen Rechte der Einwohner Mannheims als Gemeindesache behandelt werden?«, und »Soll eine Eingabe an das Großherzogl. Staatsministerium und, falls diese erfolglos bliebe, an die zweite Kammer der Ständeversammlung gerichtet werden, um eine durchgreifende Abhilfe gegen die angegebenen Rechtsverletzungen zu erwirken?« 229 Die Kreisregierung bestritt jedoch das Recht zu einer solchen Beratung, da eine Gemeinde »nur über eigentliche Gemeindesachen beraten und beschließen« könne 230 - damit war das Kernproblem der gesamten folgenden Auseinandersetzung benannt. Dem Stadtamt wurde aufgetragen, die Versammlung zu untersagen und Jolly wegen der Einladung zu tadeln, durch die der Eindruck entstanden sei, er teile die Ansicht, »daß die hiesigen Verwaltungsstellen zum Vorwurf gemachten Rechtsverletzungen stattgefunden«. In der Tat teilten die Gemeindebehörden diese Ansicht, und noch am Abend des 18. November beschlossen Gemeinderat und kleiner Bürgerausschuß einstimmig, das Verbot der Versammlung als »inkompetent erlassen« zu betrachten; die Versammlung werde abgehalten und »nur der Gewalt ... weichen«. 231 Am frühen Morgen des 19. wurde Jolly aufs Stadt280 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35765-2
amt bestellt; Stadtdirektor Riegel wies ihn auf das gesetzliche Mittel des Rekurses gegen das Verbot hin und warnte den Bürgermeister vor ernsten Konsequenzen seines Handelns; der § 23 der Gemeindeordnung sah Strafen bis hin zur Entlassung bei »Nachlässigkeit« und »Ungehorsam« vor. Jolly erwiderte, er sei weder nachlässig noch ungehorsam und werde die Einladung nur zurücknehmen, wenn ihm ein Gesetz vorgelegt werde, das die Staatsbehörde zur Verhinderung einer solchen Versammlung ermächtige. Die Gemeindeordnung, so Jolly gleichsam stellvertretend für eine Grundauffassung der liberalen Gemeindebehörden in ganz Baden, lege dem Bürgermeister nicht nur die Pflicht der Vollziehung von Staatsbeschlüssen auf, sondern auch eine Pflicht den Gemeindebürgern gegenüber. Erst jetzt wurde den Behörden offenbar vollends klar, daß die Versammlung tatsächlich trotz des Verbotes abgehalten werden sollte; für diesen Fall drohte Stadtdirektor Riegel Jolly unverblümt mit der Anwendung militärischer Gewalt. 232 Jolly informierte den Gemeinderat und den kleinen Ausschuß über dieses Gespräch; man bekräftigte den Beschluß, die Versammlung abzuhalten und begab sich gegen zehn Uhr vom Rathaus zum Aulasaal. 233 Vor dem Gebäude kam es zu einer Auseinandersetzung mit dem Polizeikommissär Hoffmann, der erneut das Verbot der Versammlung bekanntgab; der Kaufmann Valentin Streuber und Friedrich Hecker, beide Gemeinderäte, forderten ihn auf, sich einer öffentlichen Behörde nicht in den Weg zu stellen, und da Hoffmann nur von drei Polizisten begleitet wurde, konnte er nicht verhindern, daß die Gemeindebehörden und eine Menge interessierten Publikums den Saal betraten und ihre Plätze einnahmen. Hoffmann folgte in den Saal und verkündete dort das Gesetz wegen Widersetzlichkeit gegen die öffentliche Gewalt, die sogenannte Aufruhrakte, mit der konfrontiert zu werden für das Mannheimer Bürgertum und seine demokratisch gewählten Gemeindevertreter an sich schon eine Zumutung sein mußte. Während die Versammlung nun mit einem Vortrag des Gemeinderats Eller begann, holte Hoffmann den Stadtdirektor Riegel herbei. Riegel gab jetzt den Befehl, Kavallerie und Infanterie vor dem Gebäude aufstellen zu lassen und betrat selbst mit einem Gendarmeriekommandanten den Saal. Er forderte auf, die Versammlung aufzulösen, verhandelte kurz mit Jolly und Soiron, die erneut auf die Gesetzmäßigkeit des Tuns der Gemeindebehörden hinwiesen, und verließ den Saal wieder, nachdem er noch einmal mit der Anwendung von Gewalt gedroht hatte. Kurz darauf stürzte Regierungsdirektor Schaaf in Begleitung von Soldaten herein; die Zugänge zu dem Gebäude wurden besetzt; am Haupteingang des Saales erschien eine Abteilung Infanterie; weitere Truppen standen auf den benachbarten Straßen und Plätzen bereit. Schaaf befahl dem noch immer vortragenden Eller, mit seiner Rede aufzuhören und erklärte auf eine Frage Jollys, er sei zur gewaltsamen Auflösung 281 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35765-2
der Versammlung entschlossen. Erst unter diesem unmittelbaren militärischen Druck erklärte der Bürgermeister die Versammlung für geschlossen, die Teilnehmer bewegten sich ruhig aus dem Saal. Wenig später reiste eine Deputation der Gemeinde, der unter anderem Jolly und Hecker angehörten, nach Karlsruhe ab, um beim Innenministerium gegen die Verletzung verfassungsmäßiger Rechte der Bürgerschaft Beschwerde einzulegen. Daß eine Versammlung legitimer Vertreter der Bürger von den Staatsbehörden mit militärischer Gewalt aufgelöst wurde, bestätigte die schlimmsten Befürchtungen der Liberalen und erregte ein ungeheures Aufsehen bis über die Grenzen des Großherzogtums hinaus. Die sofort einsetzende Grundsatzdebatte konzentrierte sich, wie es dem Rechts- und Verfassungsverständnis des Liberalismus entsprach, auf die Frage der korrekten Interpretation der entsprechenden Paragraphen der Gemeindeordnung, doch konnte und wollte die formaljuristische Argumentation beider Seiten nicht die tieferliegenden Konflikte leugnen. Das regierungsnahe »Mannheimer Morgenblatt« forderte kaum verklausuliert, den Bürgermeister zu entlassen und alle Gemeindebehörden aufzulösen; »kein Staat mit republikanischer Verfassung könnte den Grundsatz dulden, daß die Gemeindebehörden ein solches Widerstandsrecht haben«. 234 Konkret ging es vor allem darum, ob eine Gemeindeversammlung im Sinne des § 38 der Gemeindeordnung nur Gemeindeangelegenheiten besprechen dürfe oder ein darüber hinausreichendes Mandat besitze, wobei Angelegenheiten der Gemeinde wiederum unterschiedlich definiert werden konnten; das »Morgenblatt« engte sie ganz im hergebrachten Sinne vor allem auf die materiellen und ökonomischen Belange der Bürgerkorporation ein. 235 Politische Kompetenzen im eigentlichen Sinne standen den Gemeinden nach dieser Auffassung nicht zu, sondern waren dem >Staat< vorbehalten; jetzt jedoch mußte man erkennen, daß die Gemeinden sogar danach strebten, den Einfluß der Staatsgewalt überhaupt auf ihre Kosten zurückzudrängen; der Staat war in der Defensive. 236 In der Perspektive der Liberalen stellte sich das genau umgekehrt dar; die Gemeinden befanden sich in der Defensive, in der langfristig strukturell schwächeren Position; »die uralte Selbstständigkeit der teutschen Gemeinde«, so etwa die »Oberrheinische Zeitung« in ihrer Analyse der Mannheimer Ereignisse, »hat sich vor der Entwicklung des neuern Staats allerdings nicht behaupten können«, und wenn man sich dieser Entwicklung zur »Centralisation« auch gar nicht grundsätzlich entgegenstellen wolle, müsse doch die Gemeinde als »lebendiges Glied des Staates anerkannt« bleiben. 237 Die Selbständigkeit der Gemeinde war für den Liberalismus die Regel, übergeordnete Rechte des Staates die Ausnahme; 238 jedenfalls bildeten Staat und Gemeinde prinzipiell gleich legitime Sphären öffentlicher Gewalt. So entschieden hätten die Liberalen 1831 noch nicht unbedingt argumentiert; 282 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35765-2
erst die politische Erfahrung bis zur Mitte der 1840er Jahre stellte die vorher für möglich gehaltene Verbindung von staatlicher Prärogative und >Selbständigkeit< der Gemeinden in Frage; die Gemeinden sollten selbständig nicht im Staat, sondern gegenüber dem Staat sein, aber nicht als isolierte Korporationen, sondern als Verkörperung des Volkswillens, als Träger demokratisch legitimierter Macht, die im Zusammenhang aller Gemeinden eine Gegenstruktur zur staatlichen Macht darstellte. Hinter der Schärfe der Auseinandersetzung um den 19. November 1845 in Mannheim stand also nicht zuletzt das Grundproblem des Legitimationswandels, den das Zusammentreffen von Liberalismus und Gemeindeordnung innerhalb eines guten Jahrzehnts bewirkt hatte, und das erkannte im Grunde auch die Regierung sehr genau. »Der ursprüngliche Zweck der Gemeindeordnung war offenbar nur, den Gemeindehaushalt zu ordnen und Vorschriften für die innere Verfassung der Gemeinden zu geben, den Gemeinden in Hinsicht ihrer eigenen Interessen mehr Selbständigkeit und Bewegungsfreiheit zu verschaffen«, erinnerte Nebenius im Dezember 1845 bei den Beratungen des Staatsminsteriums über die Mannheimer Gemeindeversammlung, »nicht aber, sie in politische Corporationen umzuwandeln, welche in öffentliche Angelegenheiten deliberierend eingreifen und dabei den Ton angeben«.239 Inzwischen war die Beschwerde des Gemeinderats vom 19. November als unbegründet zurückgewiesen worden,240 am 4. Dezember ging eine zweite Beschwerdeschrift beim Staatsministerium als der wiederum übergeordneten Stelle ein, für das mit Nebenius und Bekk zwei der damals fraglos liberalsten badischen Spitzenbeamten grundsätzliche Gutachten verfaßten. Während Nebenius dennoch zu der Auffassung gelangte, ein »unbeschränktes, der Staatsaufsicht enthobenes Beratungsrecht« könne »aus der Gemeindeordnung nicht abgeleitet« und den Gemeinden nicht zugestanden werden,241 zog Bekk wie zuvor schon ein Teil der liberalen Presse Bestimmungen des formell ja nicht durch die Gemeindeordnung außer Kraft gesetzten 2. Konstitutionsediktes über die Verfassung der Gemeinden von 1807 heran, um auf den Persönlichkeits- und Vereinscharakter der Gemeinde hinzuweisen, aus dem ein allgemeines, nicht auf Gemeindeangelegenheiten im engeren Sinne beschränktes Beratungsund Petitionsrecht folge. Offenbar nur aus Gründen der Staatsräson konstruierte Bekk eine andere, weniger grundsätzliche Rechtfertigung für das Verbot der Mannheimer Versammlung: unter Berufung auf das Gesetz von 1833, nach dem Volksversammlungen im Interesse der öffentlichen Sicherheit verboten werden konnten.242 Der Staatsrat entschied jedoch am 6. März 1846 ganz auf der Linie der Argumentation Nebenius', die Beschwerde der Stadtgemeinde Mannheim zurückzuweisen243 - die daraufhin zum letzten noch verbliebenen Mittel griff und am 12. Mai eine Petition an die Zweite Kammer richtete. Der 283 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35765-2
Abgeordnete Rindeschwender verfaßte den Bericht der Petitionskommission, der am 7. September 1846 in der Kammer heftig diskutiert wurde schließlich waren viele der Hauptbeteiligten des 19. November auf beiden Seiten Landtagsabgeordnete - und dem längst vergangenen Konflikt noch einmal eine landesweite Publizität verlieh. 244 Ein Erlaß vom 19. September 1846 bestätigte gegen die Petition noch einmal die frühere Entscheidung des Staatsministeriums. 245 Damit waren aber lediglich die Beschwerden der Gemeindebehörden und der Bürgerschaft gegen die Auflösung der Versammlung zurückgewiesen worden; rechtliche Konsequenzen gegen Jolly oder den Gemeinderat wurden gar nicht erst eingeleitet - das war pragmatisch klug, denn die politischen Folgen einer Entlassung wären nicht mehr abzuschätzen gewesen; aber darin kam doch auch ein Stück impliziter Anerkennung der verfassungsmäßigen Stellung und politischen Macht der Gemeindebehörden zum Ausdruck. Die unmittelbaren Auswirkungen des drastischen militärischen Vorgehens gegen eine Sitzung der Gemeindebehörden, von den längerfristigen politischen Folgen zu schweigen, waren ohnehin nicht zu übersehen. Für den preußischen Gesandten verriet der Vorfall, »daß die im Jahre 1831 erlassene Gemeinde-Ordnung, welche alle politische Gewalt in die Hände der politisch schlechtesten Mittelklasse legt, für den Zustand des Großherzogtums gefährlicher als die Constitution ist«. 246 In Mannheim selbst solidarisierten sich die Bürger nur noch stärker als vorher mit den - ohnehin ja von einer Mehrheit von ihnen demokratisch gewählten - Gemeindebehörden, 247 in der Zweiten Kammer wurde der Parteienkampf wiederum eine Spur schärfer geführt. 248 »Am bedauerlichsten«, ja gefährlichsten mußte der Regierung aber erscheinen, »daß das Beispiel Mannheims in anderen Gemeinden des Landes Nachahmung zu finden scheint«; in Sinsheim und in Konstanz planten die Großen Bürgerausschüsse ebenfalls Versammlungen zur Beratung von >allgemeinpolitischen< Petitionen, insbesondere zur Unterstützung der Motion Zittel und zugunsten von Pressefreiheit. 244 Eine Petition aus dem Oberamt Pforzheim forderte, die »Verletzung des Gemeindegesetzes« durch die Staatsbehörden am 19. November 1845 streng zu rügen; Gemeinderat und Bürgerausschuß von Heidelberg baten die Kammer aus gleichem Anlaß, alles zu tun, »um die Würde und Selbständigkeit der Gemeinden, die ihnen von Rechts und Gesetzes wegen zusteht, zu schirmen und zu wahren.« 2 5 0 Es war kein Zufall, daß sich der >19. November< in Mannheim ereignete - aber die Voraussetzungen für ähnliche Konflikte waren in sehr vielen anderen Städten ganz genauso gegeben. Das Gutachten Bekks hatte mit der Einsicht zu trösten versucht, »daß in Zeiten, wie die unsrige, wo der Friede nicht gebrochen, aber mitunter gleichwohl eine Aufregung vorhanden ist, eine ungeordnete Versammlung, in der sich ein Parteiführer zum Haupte aufvvirft, noch leichter einer 284 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35765-2
Verwilderung und Auswüchsen der Rohheit preisgegeben ist, als die von einem gesetzlichen Organe geleitete, in sich abgeschlossene, Versammlung eines großen Ausschusses oder einer Gemeinde selbst.« 251 Das mochte stimmen - aber warum begegnete man einer Gemeindeversammlung dann mit jenen Mitteln, mit Aufruhrakte und Militär, die unzweifelhaft eher für Opposition vom Typ der >ungeordneten Versammlung< gemacht waren? Die Mannheimer Ereignisse des 19. November 1845 offenbarten insofern, daß den Staatsbehörden die geeigneten Mittel für den Umgang mit der liberalen Bürgeropposition fehlten. Mit einzelnen Aufrührern oder dem sozialen Protest von Unterschichten wußte man umzugehen, aber die radikale Regierungs- und Staatsfeindlichkeit eines großen Teils des gebildeten und besitzenden Bürgertums, das sich dafür auch noch auf unzweifelhaft legitime verfassungsmäßige Institutionen stützte, konnte von vielen Beamten nicht einmal richtig verstanden werden, weil sie sich nicht in ihre politisch-sozialen Ordnungsbilder einfügte. Auf der anderen Seite gewann die liberale Opposition Badens eine radikale Eigendynamik, die zu einer übersteigerten Wahrnehmung der politischen Situation des Landes führte. Trotz Zensur und Polizei, trotz mancher Willkür lokaler Beamter blieb Baden auch in den 1840er Jahren ein vergleichsweise freies, liberales Land, mit einer beachtlichen rechtsstaatlichen Struktur, auf die sich gerade die Liberalen und Radikalen immer wieder verlassen konnten. 252 Das >Komplott< gegen die Verfassung, das nicht nur Struve am Werke sah, kann man im Rückblick als Projektion, als Verschwörungstheorie endarven - an seinem Realitätsgehalt für die Erfahrung der Zeitgenossen ändert das aber nichts. Die Legitimation des Staates bröckelte, die der Gemeinden wuchs auf seine Kosten, und >radikal< war, wer sich dazu bekannte und die Konsequenzen dieser Machtverschiebung zu ziehen bereit war.
6. Vor der Revolution. Ökonomische Krise und politische Entwicklung an der Basis 1 8 4 6 / 4 7 Von den immer dichter aufeinanderfolgenden Phasen politischer Zuspitzung, von den politischen Krisen in Baden seit 1841/42 hatte der Liberalismus stets profitieren können, wenn auch 1 8 4 5 / 4 6 , mit dem >doppelten Scheitern< konfessionspolitischer Mobilisierung, schon in anderer Weise als von ihm selber ursprünglich erhofft und erwartet; und im Verlauf dieser Konflikte hatte er sich zum Radikalismus gewandelt, ohne dabei sein Programm, seinen politischen Horizont grundsätzlich zu verändern. Die Krisen der 1840er Jahre fügten sich in das >alte< Kategoriensystem des Liberalismus 285 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35765-2
und wurden in ihm verarbeitet: im >defensiven< Bezugsrahmen politischen Denkens, in der Opposition von Staat und Gemeinden, von Bürokratie und Bürgertum, von Zentrale und lokaler Basis; und allemal unter einem >Primat der PolitikBürgerlichkeitder LiberalismusKomitee< offenbar gewordenen Trennlinien weitgehend entsprach. Itzstein, ein vehementer Zollvereinsgegner, führte das Zustandekommen vieler positiver Petitionen auf massiven Druck der lokalen Beamten auf Bürgermeister und Gemeinderäte zurück, 261 aber welche Rolle auch immer das gespielt haben mochte - das ist nicht mehr zu entscheiden - , war es doch bemerkenswerter, daß die Petitionen sich durchweg auf die jeweiligen ökonomischen Lokalinteressen beriefen und einen Zusammenhang mit politischen Grundfragen nicht herstellten. Auch unter den Abgeordneten ging die scharfe Trennung der Auffassungen zum Zollverein mitten durch den Liberalismus hindurch. Rotteck, Welcker, Itzstein und Rindeschwender stimmten gegen den Beitritt, Duttlinger, Fecht und Christian Friedrich Winter mit der Mehrheit dafür.262 Aber aus der Uneinigkeit in dieser zentralen Frage folgte keine dauerhafte Flügelbildung im badischen Liberalismus, geschweige denn seine Spaltung: Ökonomische Fragen hatten hier bis in die späten 1840er Jahre keine parteibildende Kraft. Das gleiche galt auch für die allgemeinere Debatte über Gewerbefreiheit, Gewerbeordnung und Fabriken, die den gesamten Vormärz durchzog, ohne daß es zu wirtschaftspolitisch entscheidenden Weichenstellungen gekommen wäre; das die Zunftordnung neu regelnde 6. Konstitutionsedikt von 1808 blieb bis zur Gewerbeordnung des Jahres 1862 in Kraft.263 Auf dem Landtag von 1822 scheiterte ein Entwurf zu einer neuen Gewerbeordnung ebenso wie der damalige Gemeindeordnungsentwurf; Rotteck setzte sich als Abgeordneter der Ersten Kammer entschieden gegen die Gewerbefreiheit und für eine auf den Zünften aufbauende Gewerbeverfassung ein; und als die Gewerbefrage 1831 im Zusammenhang mit dem Bürgerrechtsgesetz akut wurde, sprach sich nur eine einzige von 29 Petitionen aus badischen Gemeinden für Gewerbefreiheit aus. 264 Es war wiederum Mathy, der 1832 in seinen »Erläuterungen zu der neuen Gemeindeordnung« eine enge Verbindung zwischen dieser und einer zukünftigen Gewerbeordnung, zwischen politisch-konstitutioneller und wirtschaftlicher Freiheit zu ziehen versuchte: »Freiheit ist das Element der Geistestätigkeit; sie ist auch das Lebensprinzip der Industrie«, 265 doch stand er damit innerhalb des badischen Liberalismus noch isolierter da als in der Zollvereinsfrage. Andererseits hatte das Konstitutionsedikt alle politischen Kompetenzen der Zünfte innerhalb der Gemeinde beseitigt und ließ mit seinen relativ allgemeinen Bestimmungen zu, daß der Zugang zu den Gewerben flexibel und von der Regierung im Zweifelsfall zugunsten der Gewerbefreiheit entschieden wurde. Der Nexus zwischen Meisterrecht und Gemeindebürgerrecht blieb nach dem Bürgerrechtsgesetz umstritten und wurde in der Praxis oft nicht streng gehandhabt. 266 Insofern war die gewerbepolitische Realität des Vormärz in Baden nicht durch eine völlige Stagnation gekennzeichnet, nicht durch 288 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35765-2
einen rigorosen zünftischen Traditionalismus - aber für diese Tatsache kam wiederum dem Liberalismus als ganzem kein Verdienst zu. Die große Mehrheit des Gemeindebürgertums dachte wirtschaftlich eher traditionell und war mit der geltenden Gewerbeverfassung im großen und ganzen einverstanden, und dem mußten auch die liberalen Kammerabgeordneten Rechung tragen. Die wirtschaftspolitische Debatte, die in den 1840er Jahren auch in Baden immer stärker werdende Diskussion um die Vorzüge und Nachteile, die Möglichkeiten und Grenzen einer auf >Fabrikindustrie< beruhenden Gesellschaft lief an der liberalen Bewegung sogar immer mehr vorbei. Mit dem 1841 gegründeten »Badischen Industrieverein« begann zwar die interessenpolitische Organisation des Wirtschaftsbürgertums, doch außer in Mannheim gab es kaum Querverbindungen zum politischen Liberalismus, 267 dessen wesentliche Trägergruppe die industriellen Fabrikanten in Baden ohnehin nicht waren. Im Jahre 1840 diskutierte die Zweite Kammer eine Petition mehrerer Bürgermeister des Amtsbezirkes Schopfheim, die dringend um die Einführung der Gewerbefreiheit bat, aber ihr standen gegenteilige Petitionen aus anderen Gemeinden gegenüber. 268 Den Kommissionsbericht übernahm der gemäßigt-liberale Heidelberger Abgeordnete Posselt. Bereits auf dem Landtag von 1837 hatte Franz Joseph Buß die erste Initiative zu einer Fabrikgesetzgebung in einem deutschen Parlament ergriffen, die ein an England geschultes düsteres Bild der kommenden industriellen Entwicklung malte und mahnte, die »Natur eines ackerbauenden Staates« zu erhalten. 269 In den 1840er Jahren wurden mehrere Motionen um Gewerbefreiheit eingebracht - so von Rettig 1842, von Helbing 1846 und von Helmreich 1848 - , die in der Tendenz jeweils ein Stück >fabrikenfreundlicher< argumentierten, 270 doch die Führer des parlamentarischen Liberalismus und Radikalismus hatten daran keinen Anteil. Gegen die gewerbefreundliche Koalition aus Beamten wie Rettig und gemäßigten Liberalen, die seit 1846 mehr zur Regierungsseite hinneigten wie Helbing und Helmreich, traf sich der lokal verankerte Radikalismus mit dem kleingewerblichen Konservativismus in seiner Skepsis gegenüber Fabrikarbeit und gewerblichem Fortschritt überhaupt. Wenn das »Badische Gewerbeblatt«, eine Beilage zum stramm konservativen »Mannheimer Morgenblatt«, 1845 feststellte: »Die Übermacht des Capitals über die Arbeit ist der Krebsschaden unserer Zeit«, 271 war das von der Rhetorik der »Mannheimer Abendzeitung« oder der »Oberrheinischen Zeitung« nicht zu unterscheiden. Diese Vorgeschichte muß man kennen, um das Verhalten des badischen Liberalismus und Radikalismus in der ökonomischen Krise der Jahre von 1846 bis 1848 verstehen zu können. Als am 29. Dezember 1847 die Maschinenfabrik Keßler in Karlsruhe, die Spinnerei und Weberei in Ettlingen und die Zuckerfabrik in Waghäusel ein Gesuch um staatliche Unterstüt289 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35765-2
zung an den Großherzog richteten, weil ihnen wegen der auch das Haus Salomon Haber in Karlsruhe betreffenden Bankenkrise der Zusammenbruch drohte, zwang diese im ganzen Lande heftig diskutierte >DreiFabriken-Frage< auch die Liberalen dazu, Position zu beziehen. 272 Während Mathy aus wirtschafts- und sozialpolitischen Motiven - die drei Fabriken beschäftigten zusammen immerhin 3.500 Arbeiter - entschieden für eine staatliche Intervention plädierte, vereinigten sich ganz unterschiedliche Vertreter der liberalen Opposition zu einer dezidierten Ablehnung jeder Unterstützung der drei Fabriken: Nicht nur sprach sich Bassermann im Sinne eines radikalen >laissez-faireDrei-Fabriken-Frage< offenbarte, daß die Ausklammerung der Ökonomie zugunsten eines Denkens in rein politischen Konfliktkategorien nicht mehr möglich war und zugleich die Integration aller Interessen des >Volkes< auf Grenzen in der sozialökonomischen Ausdifferenzierung der Gesellschaft stieß. Eine Sensibilität für soziale Staatsaufgaben hatte die kommunalistische Ideologie in ihrer Fixierung auf die Gegner Zentralstaat und Bürokratie kaum entwickelt. Die schwere Agrarkrise hatte außerdem bereits ein Jahr früher gezeigt, daß die noch einmal bekräftigte Option des Radikalismus für die »traditionalen« Interessen ebenfalls in eine Sackgasse führte. 274 Die Mißernte des Jahres 1846 forderte nicht zuletzt die Gemeinden als Verbände bürgerlich genossenschaftlicher Selbsthilfe noch einmal zu sozialpolitischem Engagement nach altem Muster heraus, aber anders als früher erwiesen sich die Gemeinden damit jetzt als überfordert. Getreideaufkauf führte zu Verschul290 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35765-2
dung, die durch Umlagen auf den Gemeindebürgerverband aufgefangen werden mußte. Dabei appellierten gerade auch die Radikalen an die jeweilige Gemeinde, wenn es darum ging, »die Not und den Hunger der Armen zu lindern und zu stillen«. 275 Die Gemeindebehörden reagierten mit herkömmlichen Maßnahmen der >moral economy< wie der Festsetzung von Brotpreisen, 276 und nur in den großen Städten wie Mannheim und Heidelberg organisierte sich die bürgerliche Wohltätigkeit in Unterstützungsvereinen neuer Art; in Heidelberg entstanden 1846 ein »Hülfsverein« und eine Suppenanstalt, die im Dezember schon mehr als 300 Portionen täglich ausgab; 277 in Mannheim wurde unter der maßgeblichen Beteiligung Struves, aber auch vieler Kaufleute und Mitglieder des Gemeinderates im November 1846 ein »Verein zur Förderung des Wohls der arbeitenden Klassen« gegründet, zu dessen konstituierender Versammlung sich mehr als 1.000 Personen einfanden. 278 Doch der Verein hatte Mühe, in der Bürgerschaft und zumal in ihrem vermögenderen Teil das neue Prinzip freiwilliger, nicht korporativ gebundener Armenunterstützung durchzusetzen: Mehrere Bürger, die dem Verein kein Geld zur Verfügung stellen wollten, wandten sich mit der Bitte an den Gemeinderat, dieser möge doch stattdessen eine außerordentliche Gemeindeumlage durchführen, was Struve als Ausweichstrategie heftig kritisierte, aber sogar Mathy verteidigte. Er nannte die Petenten »wohlhabende Bürger«, denn »eigentlich Reiche sind hier nicht in großer Menge«, und plädierte für eine Fortsetzung kommunaler Sozialpolitik im bewährten Rahmen der Gemeindebürgerkorporation: »Diese hat bewiesen, daß sie in schweren Zeiten mit Hülfe der Bürgerschaft ihrer Aufgabe gewachsen ist; der Verein hat noch den Beweis zu liefern, er hat sich noch das allgemeine Vertrauen zu erwerben, welches jene genießt.« 279 Am schlimmsten war die Situation in den Jahren 1846/47 im Odenwald, der ohnehin agrarisch und gewerblich rückständigsten Region des Großherzogtums, wo sich die Folgen von geographischer Randlage und schlechter Bodenqualität, kleinräumiger Besitzstruktur und Bevölkerungsvermehrung so überschnitten, daß hier im Gegensatz zu den meisten anderen ländlichen Gegenden Badens von einem massenhaften ländlichen Pauperismusproblem gesprochen werden muß. 280 In der unmittelbaren Nahrungsnot des späten Vormärz zeigten sich jedoch vor allem die längerfristigen und strukturellen Auswirkungen einer doppelten Belastung der Bürger durch die hohen Geldabgaben an die Grundherrschaft einerseits, an die Gemeinde andererseits. Die Umwandlung von Natural- in Geldabgaben und die Zehntablösung hatten die Lage insofern eher verschärft, anstatt sie zu verbessern; die >fortschrittlichen< Gesetze der 1830er Jahre einschließlich der Gemeindeordnung und des Bürgerrechtsgesetzes verschlimmerten hier offensichtlich die ökonomische Situation. 281 Die Gemeindeordnung hatte die kleinsten Dörfer zu selbständigen Gemeinden mit kostspieliger Verwaltung gemacht; 291 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35765-2
aber während die Gemeindeumlagen deshalb schon sehr hoch waren, erwiesen sich die Gemeinden immer weniger dazu in der Lage, die nötige Unterstützung für die Armen aufzubringen und mußten den Staat um Hilfe bitten - »das soziale System der alten Umlagegemeinde«, hat Rainer Wirtz richtig geurteilt, war in der Krise »überfordert«. 282 Freilich konnte sich auch das staatliche Handeln aus den alten Denkkategorien nur langsam lösen, wie die Diskussion um die Situation der völlig verarmten Gemeinde Rineck im Amte Mosbach (und zugleich in der Standesherrschaft Leiningen) zeigte: Wenn die traditionelle Gemeindeökonomie nicht mehr funktionierte, standen nicht Gewerbeförderungspolitik oder sozialpolitische Unterstützung zur Debatte, sondern die völlige Auflösung der Gemeinde, die im Falle Rinecks dann schließlich 1850 auch erfolgte. 283 Im Frühjahr 1847 hatten sich Lage und Stimmung im Odenwald so weit zugespitzt, daß es zu politischen Unruhen kam, die bereits unmittelbar zur Vorgeschichte der Agrarrevolution des folgenden Jahres gehören. In einem Aufruf, der den »Tag der Revolution« auf den 12. April 1847 festegen wollte, wurde zur Vernichtung des Adels, zur Vertreibung der Juden und aller Könige und Fürsten und zur Ermordung aller Beamten aufgerufen; Gerüchte kursierten, mehrere tausend Menschen aus der Gegend von Buchen, Mosbach, Eberbach und Mudau fänden sich an diesem Tage zusammen. 284 Diese Art der Opposition ging freilich weder von den Gemeinden oder ihren Behörden noch von der etablierten liberalen und radikalen Bewegung aus, die im Odenwald ohnehin nie recht hatte Fuß fassen können, was zumal in der Krise von 1847 nicht verwunderte, denn ökonomische Rezepte zur Verbesserung der Situation in dieser Region hatten die Liberalen nicht anzubieten. So tauchten denn auch, ebenfalls im April 1847, in verschiedenen Odenwaldgemeinden Drohschreiben gegen die Gemeindebehörden auf, für deren Anliegen die parteipolitische Orientierung von Bürgermeister und Gemeinderat überhaupt keine Rolle spielte: »Ich kann nicht mehr unterlassen euch zu sagen welche es noch nicht wissen daß der Gemeinderat und Bürgermeister schläft ... Gemeinderat wir sagen euch wie ihr nicht sorgt für Brot oder Frucht und Kartoffel werdet ihr totgeschlagen bei hellem Tag, wir haben Gemeindevermögen alleweil ist Not«. 285 Hier artikulierte sich, anders als im politischen Radikalismus, zum ersten Mal eine autonome Protestbewegung von Unterschichten. Die Initiative der badischen Regierung in dieser Situation blieb halbherzig; eine Verordnung vom 2 1 . Januar 1847 sah die Bildung von »Unterstützungskommissionen« in jedem Amtsbezirk vor, die über Aufkauf und Verteilung von Getreide wachen sollten, doch der Kauf selbst und alle anderen Maßnahmen blieben in der Zuständigkeit der Gemeinden und wurden jetzt lediglich obrigkeitlich überwacht. 286 Trotzdem schien es so, als könne die Regierung eher als die liberale und radikale Opposition Kapital aus dieser 292 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35765-2
Krise schlagen, und zwar gleich in doppelter Hinsicht, wie Radowitz sofort scharfsichtig bemerkte: Die Hilfe des Staates und das Engagement des Großherzogs verschaffe diesen bei der verarmten Bevölkerung größere Popularität; die Unruhen in den Unterschichten trieben aber gleichzeitig den Mittelstand an die Seite der Regierung und stärkten in ihm »die naheliegende Betrachtung ..., daß in solchen Augenblicken die Worte: Volk, Volksvertreter, Volksfreund, ..., schlechterdings wirkungslos bleiben, und daß es einer schützenden Macht bedürfe«. 287 Die Eigendynamik der politischen Radikalisierung setzte sich zwar auch 1847 fort, da jedenfalls und nur dort, wo Liberalismus und Radikalismus auch zuvor schon ihre Bastionen errichtet hatten, aber sie stand in einem seltsamen Mißverhältnis zur sich verschärfenden ökonomischen Krise; genauer: sie fand zu ihr kaum eine politische Beziehung. Die ökonomische Krise schien den politischen Radikalismus vorerst nicht zu stärken, aber auch nicht zu schwächen, und es war ein kluger und skeptischer Beamter wie Nebenius, der das Dilemma von sozialem und politischem Fortschritt beschrieb: »Die Mittel zum Schutze gegen Bestrebungen zum gewaltsamen Umsturz der socialen Ordnung sind aber von der Art, daß sie zugleich unsere politischen Errungenschaften bedrohen würden«, notierte er in einem Aufsatz über »Sociale Verhältnisse« und zeichnete die »mißliche Alternative«, »entweder zum Schutze der gesellschaftlichen Ordnung Maßregeln ergreifen zu müssen, welche mit dem Vollgenuß aller politischen Freiheiten unverträglich sind und schwere Lasten auf die Gesamtheit wälzen, oder sich der Gefahr preis zu geben, anarchischen Bestrebungen zu unterliegen.« 288 Hier bahnte sich eine >Krise ohne Alternative< an, eine Situation des >nec vitia nostra nec remedia pari possumusGemeinde< und >Liberalisrnus< konnten immer weniger als identisch behauptet werden. Das Zweiparteiensystem blieb aber auch jetzt, in den Jahren 1 8 4 6 / 4 7 , in den meisten Gemeinden weitgehend intakt. Ansätze zu einer Ausdifferenzierung von Liberalismus und Radikalismus gab es kaum, auch wenn in den größeren Städten innerhalb derselben Partei das Meinungsspektrum größer wurde, die einen als gemäßigter, die anderen als radikaler galten. Wem die Radikalisierung zu weit ging, der wechselte in der Regel direkt in das Lager der konservativen oder liberal-konservativen Partei über. So standen sich etwa in Ettlingen und nicht anders in Konstanz oder Offenburg auch 1847 293 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35765-2
noch die Radikalen und Konservativen als relativ festgefügte Formationen gegenüber und bekämpften sich. In einer Eingabe an die Regierungsbehörden, die sich vor allem gegen Philipp Thiebauth, »den Stifter und Beförderer all unseres Unheils in Ettlingen«, richtete, beklagten die Konservativen »das düsterste Bild innerer Zerrissenheit, die Auflösung aller Familien- und Freundesbande« in ihrer Heimatstadt. 289 Ganz ähnlich hatten sich in Heidelberg seit dem Rücktritt Bürgermeister Speyerers im Jahr 1840 eine radikalliberale Partei um Christian Friedrich Winter und eine konservativ-liberale um Speyerers Nachfolger (und Winters Vorgänger) Ritzhaupt etabliert, die keinen Platz für eine eigenständige liberale Mittelpartei ließ; und zwar in vieler Hinsicht sogar: je später, desto weniger, denn in der Situation einer immer mehr zugespitzten dualistischen Konfrontation war jede den Ausgleich suchende Position politisch zum Scheitern verurteilt. 290 Blickt man auf die längerfristige Herkunft beider Parteien, kann man hier durchaus von einem Ausdifferenzierungsprozeß sprechen, denn die Führer der Radikalen wie der Liberalkonservativen hatten zu Beginn des 19. Jahrhunderts gleichermaßen zur Bürgeropposition gegen die alte Stadtherrschaft gezählt. 291 Im Jahre 1847 erreichte der Prozeß der parteipolitischen Durchdringung der Heidelberger Kommunalpolitik dadurch seinen vorläufigen Höhepunkt, daß der Druck der Radikalen den Zweiten Bürgermeister Bissing mit anderen Gemeinderäten, das sogenannte >KleeblattGesinnungseinigung< der Gemeindebehörden war damit erreicht. 292 In Mannheim entwickelte sich dagegen in den letzten zwei Jahren vor der Revolution eine etwas kompliziertere Parteienkonstellation, obwohl die Integrationskraft des Liberalismus trotz seiner immer weiter gehenden Radikalisierung auch hier noch erstaunlich groß war; die Meinungsunterschiede zwischen Mathy und Struve, zwischen Bassermann und Hecker wurden größer, aber ein grundlegendes Zusammengehörigkeitsgefühl ging bis in den Winter 1847/48 hinein nicht verloren; noch im Dezember 1847 deckte der Gemeinderat, vom Stadtamt Mannheim in einer polizeilichen Untersuchung gegen Hecker und Struve um Auskünfte gebeten, seine Mitbürger. 293 Dieser Partei, zu der weiterhin auch Bürgermeister Jolly gehörte und die sich selbst >liberal< nannte und von ihren Gegnern als >radikal< bezeichnet wurde, stand seit etwa Anfang 1847 eine konservative bzw. konservativ-liberale Bürgerpartei gegenüber, die sogenannten »Bürger im engeren Sinne«, die sich teilweise an die bis dahin fast nur auf die Beamtenschaft beschränkte konservative Partei (um das »Mannheimer Morgenblatt«) anschlossen, teilweise aber auch Eigenständigkeit suchten und mit dem »Bürgerfreund« ein eigenes Presseorgan ins Leben riefen.294In den besonders hitzigen Wahlkampagnen des Jahres 1847 - der Ergänzungswahl 294 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35765-2
zum Kleinen Bürgerausschuß im Sommer und den Wahlmännerwahlen im Oktober - mobilisierten die »Bürger im engeren Sinne« zu ihren Versammlungen oft mehrere hundert Bürger, bezogen aber trotzdem deutliche Niederlagen, wie sehr auch das »Mannheimer Morgenblatt« das Ergebnis später schönzureden versuchte, indem es der konservativ-liberalen Partei, die nur 437 Stimmen (im Gegensatz zu 1549 für die Radikalen) erhalten hatte, auch die etwa 1.000 NichtWähler hinzurechnete.295 Von den 437 konservativen Stimmen, so vermuteten wiederum die Radikalen, entfiel der größte Teil auf Staatsdiener, aber es war dennoch unübersehbar, daß ein Teil des gewerblichen Bürgertums der Stadt, vor allem mittlere Gewerbetreibende und Kaufleute, die politisch regierungstreu-konservativ und ökonomisch eher traditional dachten, sich vom radikalen Liberalismus, der die Stadt beherrschte, immer weniger vertreten fühlten, vor allem nicht von den zahlreichen Advokaten und Intellektuellen, die gegenüber dem Handelsbürgertum eine zunehmende Bedeutung bei den Radikalen gewannen.296 Das >Bürgerliche< im Sinne des bürgerlich-gewerblichen Standes wollten die »Bürger im engeren Sinne«, die sich eben deshalb diesen Namen gaben, in den Vordergrund rücken; darin kam eine verstärkte Aufmerksamkeit, ein verstärktes soziales Bewußtsein für ökonomische Belange und Eigeninteressen zum Ausdruck, und diese Tendenz erfaßte wenig später auch die radikale Partei: Der politisch radikalliberale, aber ökonomisch konservativ gesinnte Mittelstand um den Mehlhändler Valentin Streuber - einen Deutschkatholiken, der im November 1847 zum Zweiten Bürgermeister Mannheims gewählt, von der Regierung jedoch aus politischen Gründen nicht bestätigt wurde297 - versuchte kommunalpolitisch eigene Wege zu gehen; von den Konservativen spöttisch als »Mehlhändlerpartei« bezeichnet, strebten die Anhänger Streubers nach verstärktem Gewerbeschutz und Wuchergesetzen.298 Die desintegrierende Wirkung, die von der ökonomischen Krise 1846/47 und der von ihr erzwungenen Ökonomisierung der Politik auf den Liberalismus ausging, wurde dadurch in Mannheim auch kommunalpolitisch spürbar. Aber zu einer eigenen Parteiliste führte das noch nicht; ebensowenig, wie das weiter werdende Spektrum liberaler und radikaler Positionen die Aktionseinheit der Partei schon grundsätzlich in Frage stellte. Gerade auf kommunaler Ebene, das ist noch einmal zu betonen, blieb die Einheit der badischen Opposition bis in die Revolution hinein grundsätzlich gewahrt, obwohl die politische Radikalisierung und der >Zwang zur Ökonomie< künftige Bruchstellen gleich von zwei Seiten her erkennbar werden ließen; und der Radikalismus, nicht der gemäßigte Liberalismus, war am Ende der 1840er Jahre die Haupt- und Grundströmung dieser Opposition. Ein etwas anderes Bild ergibt sich beim Blick auf die gesamtstaadiche Ebene, oder genauer: auf die liberale und radikale Elite vor allem in der 295 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35765-2
Landtagspolitik des Großherzogtums. Es war schon für die Zeitgenossen unübersehbar, daß von dem relativ liberalen Ministerium Bekk seit Ende 1846 der Sog einer Quasi-Parlamentarisierung des Regierungssystems ausging; die liberale Kammermehrheit, die nicht zu unrecht eines ihres wesentlichen politischen Ziele kurz vor der Erfüllung sah, suchte den Ausgleich und die Verständigung mit Bekk. 299 Die Radikalen aber, in ihrer traditionalistischen politischen Mentalität unfähig, aus der dualistischen Konfrontation von Liberalismus und Regierung, Volk und Obrigkeit gedanklich auszubrechen, wollten an der unbedingten Opposition gegen das >ministerielle System< festhalten, und darin kam ein gravierender ideologischer Dissens zum Ausdruck, der nicht zufällig kluge Konservative wie Blittersdorff, für den eine parlamentarische Regierung der Opposition früher ein rotes Tuch gewesen war, nun sehr hellsichtig zu Befürwortern einer liberal gestützten Regierung Bekk werden ließ. Blittersdorff argumentierte schon im April 1846, die Ausbildung eines »rein repräsentativen« Regierungssystems in Baden seit Ludwig Winter sei eine Realität, die nun formell anerkannt werden müsse, um der Regierung überhaupt wieder Autorität und Legitimität im Lande zu verschaffen: »Ein Ministerium Bekk, verstärkt durch liberale Notabilitäten der zweiten Kammer unter Beimischung irgend eines monarchischen Elementes als Garantie für das Ausland« - dabei dachte Blittersdorff unzweifelhaft an sich selber - »ist daher nunmehr an der Zeit... Nur so läßt sich das Ansehen und die Würde der Regierung wieder herstellen«. 300 Die entscheidende strategische Spekulation zielte aber auf die richtige Vermutung, daß ein Teil der Radikalen einer solchen Regierung aus prinzipiellen Gründen die Unterstützung verweigern und »indem eine bürgerliche konservative Partei sich bilden«, 301 die Opposition sich spalten werde. Ohne daß die frühere Einheit von Liberalen und Radikalen schon ganz verloren ging, wurde diese Spaltung in der Landtags- und Elitenpolitik 1847 immer deutlicher. 302 So schienen sich die badischen Zustände in diesem Jahr in vieler Hinsicht sogar zu beruhigen; der Tiefpunkt der wirtschaftlichen Krise war im Herbst 1847 überwunden, ohne daß der politische Radikalismus aus ihr größeres Kapital hätte schlagen können; der Ausgang der Ergänzungswahlen zur Zweiten Kammer im Herbst brachte nicht einen weiteren Durchbruch der Radikalen, den manche befürchtet hatten; 303 »eine viel größere Ruhe und Sicherheit« wurde allenthalben verspürt. 304 »Bei einem unbefangenen Rückblick auf den Gang, welche die hiesige Regierung seit den eingetretenen Veränderungen genommen hat«, zog Radowitz im Mai 1847 eine Zwischenbilanz der Regierung Bekk, »kann nicht füglich in Abrede gestellt werden, daß im Vergleiche zu dem früheren Zustande ein offenbarer Fortschritt sich zeigt.« 305 Und neben dem politischen Dissens über die Haltung zur Regierung tat sich eine zweite und langfristig noch wichtigere, weil 296 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35765-2
durch den Radikalismus selbst hindurchgehende Scheidelinie auf, von der die Konservativen zu profitieren hofften. Die Krise von 1846/47 hatte die >soziale Frage< in die Politik eingeführt, die aber nur von einem Teil der Radikalen um Struve und Hecker programmatisch adaptiert wurde; der klassische politische Radikalismus der Elite, aber auch des lokalen Bürgertums in den Gemeinden verweigerte sich diesem Thema ganz überwiegend - oder besser: es paßte nicht in die traditionellen Schemata seiner Politikund Gesellschaftsdeutung. »Der Communismus leistet«, stellte wiederum Radowitz fest, »der guten Sache unschätzbare Dienste; er ist es der die beiden Bestandteile der destructiven Parthei geschieden hat«. 306 Die Fixierung auf die Karlsruher Landtags- und Regierungspolitik ließ solche Beobachter freilich übersehen, daß die Radikalisierung an der Basis keineswegs schon durch die Ausdifferenzierung der Landtagsmehrheit aufgefangen oder gar in eine Randposition gedrängt worden war; von einer allgemeinen Stimmung der >Ruhe und Sicherheit< konnte in den Gemeinden, wie wir an einigen Beispielen schon gesehen haben, 1847 nicht die Rede sein. Vielmehr traten im Herbst dieses Jahres Bemühungen um eine überregionale Verständigung der radikalen Partei in den Vordergrund, die anders als die immer mehr national ausgreifenden Kommununikationsversuche des gemäßigten Liberalismus - erinnert sei nur an die »Deutsche Zeitung« und an das Heppenheimer Treffen am 10. Oktober 1847 allerdings charakteristischerweise auf die Grenzen des Großherzogtums beschränkt blieben, dafür aber andererseits, und das ist wichtig, die lokale Basis des Radikalismus mit einschlossen oder sogar von ihr ausgingen, während der >nationale< Liberalismus der Gemäßigten jedenfalls in Baden ein Elitephänomen, überwiegend zudem auf Mannheim beschränkt, blieb. Darin liegt bereits ein wesentlicher Unterschied der häufig der Heppenheimer parallelisierten Offenburger Versammlung »entschiedener Verfassungsfreunde« am 12. September 1847, von der die vielbeachteten »Forderungen des Volkes« ausgingen. Das Offenburger Treffen und sein Manifest werden in der Forschung häufig, ja fast durchweg mißverstanden, weil sie ohne die Berücksichtigung des ideologischen und sozialen Kontextes des badischen Radikalismus zu interpretieren versucht werden. Meist erscheint die Offenburger Versammlung als Treffen einer Intellektuellenelite, die ein im modernen Sinne republikanisches, demokratisches Programm entworfen und unmittelbar auf >Revolution< abgezielt habe. Hans-Ulrich Wehler sieht »Volks- und Parlamentssouveränität«, ja »Republik« im Zentrum der »nationaldemokratisch« gesonnenen Offenburger; Wolfgang Hardtwig erkennt in dem verabschiedeten Programm, in dem der »Gedanke der Volkssouveränität« im Mittelpunkt stehe, den Entwurf der »Grundzüge der heutigen parlamentarischen Demokratie«. 307 »Dem gesellschaftlich-politischen Entwicklungs297 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35765-2
stand in Deutschland vorauseilend«, sei das Programm »mehr auf eine Gesellschaft der Zukunft berechnet gewesen«, 308 so Rainer Koch, der dem Treffen außerdem »akademische Unverbindlichkeit« vorwirft: Der angeblich beabsichtigten »Zerschlagung der Ordnung von 1815« habe nicht die Entwicklung eines Alternativmodells entsprochen, die »Frage der Staatsform« sei offen geblieben. Solche Urteile erweisen sich als unangemessen und anachronistisch, ja als falsch, wenn man einen näheren Blick auf die Versammlung und die »Forderungen des Volkes« wirft. Schon die von Mannheim ausgehende Einladung nach Offenburg macht die Kontinuität und den lokalen Bezug deutlich, in dem die Versammlung stand. Hier wurde ausdrücklich an die Tradition der kommunalen Verfassungsfeiern, die soeben, Ende August 1847, wieder in einigen Gemeinden stattgefunden hatten, angeknüpft und von diesen ausgehend an die Notwendigkeit einer gesamtstaatlichen Verständigung über politische Grundsatzfragen appelliert. 309 Vor dem Hintergrund der in den 1840er Jahren ausgebildeten Kommunikationsstrukturen des Liberalismus und einer längeren Vorgeschichte regionaler Versammlungen war dieser Impuls zur überlokalen Absprache im Grunde nicht neu; und die Offenburger war denn auch nicht die einzige Versammlung, die der badische Radikalismus im Herbst 1847 anvisierte: Für den 26. September lud ein Komitee Donaueschinger Bürger alle »Vaterlandsfreunde« zu einer Versammlung in ihre Stadt ein, die nach dem Offenburger Erlebnis aber von der Regierung verboten wurde. 310 Hier war die lokale Verwurzelung der Organisationsbestrebungen noch deutlicher spürbar; Donaueschinger Kaufleute, ein Wirt, ein Arzt, ein Rechtsanwalt ergriffen die Initiative; »bewährte Volksfreunde, nämlich die Herren Hecker und Struve«, sagten ihre Teilnahme zu. 311 Die lokale Verankerung spielte aber auch in Offenburg eine wichtige Rolle. Treffpunkt war der Saal des Gasthauses zum Salmen, das Stammlokal der Offenburger radikalliberalen Partei um Bürgermeister Rée; dort hielt man in geschlossenem Kreis von ca. 250 Teilnehmern zunächst ein Essen ab, an dem neben anderen Bürgern vor allem aus Mannheim und Offenburg unter anderem Hecker, Struve und Brentano, der Mannheimer Gemeinderat Eller, der Heidelberger Professor Kapp als Abgeordneter der Stadt Offenburg teilnahmen, aber auch kleinere und größere Prominenz des kommunalen Radikalismus: Bürgermeister Winter aus Heidelberg, Thiebauth aus Ettlingen, Rée und der Gemeinderat Apotheker Rehmann, vermutlich auch weitere Gemeinderäte, aus Offenburg. 312 Der Saal war nach altbekanntem Muster geschmückt mit Laubgewinden, hinter der Rednertribüne standen die Büsten Karl Friedrichs und des regierenden Großherzogs Leopold, an den Seitenwänden hingen Bilder bekannter badischer Liberaler und Radikaler. Insofern entsprachen der äußere Rahmen der Versammlung und ihr Teilnehmerkreis ganz denjenigen früherer liberaler Feste. 298 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35765-2
Nach dem Essen wurde der Saal für das Publikum geöffnet; Bürger vor allem aus Offenburg und Umgebung strömten auf die Galerie. Apotheker Rehmann eröffnete den politischen Teil der Versammlung; Bürgermeister Rée wurde durch Akklamation zu ihrem Präsidenten gewählt. Darauf folgten Reden Struves, Thiebauths, der sich ausdrücklich auf seine Legitimation durch die Ettlinger Bürgerschaft (bzw. ihres radikalen Teils) berief, Heckers, Kapps und Ellers. Sie beklagten mit den bekannten Argumenten die verfassungspolitischen Zustände in Baden und darüber hinaus in Deutschland; Hecker schilderte, wie die Gemeinden unter dem »Heer von Bureaukraten«, die das Volk bevormunden wollten, litten und forderte die »Selbstregierung des Volkes«, was aber nicht die Abschaffung der Monarchie zugunsten einer Republik meinte, sondern die Abschaffung der Beamtenherrschaft zugunsten der Verwaltung durch gewählte Vertreter des Volkes auf allen Ebenen des Staates. 313 Allerdings spielten unter dem Eindruck der Krise des vergangenen Jahres ökonomische und sozialpolitische Argumente jetzt in den Reden eine weitaus größere Rolle als etwa beim Verfassungsfest von 1843; die Beherrschung der Arbeit durch das Kapital wurde beklagt, aber auch dafür machten fast alle Redner im Sinne eines ganz traditionellen Volksradikalismus das »Vielregieren« verantwortlich: Die Steuern und Abgaben, so etwa Kapp und ganz ähnlich Struve, drückten das Volk nieder und flössen doch nur in die Heere der Beamten und Soldaten - diese aufzuheben müsse also die wirtschaftliche Lage des Volkes bessern. Von Republik und parlamentarischer Demokratie sprachen auch die intellektuellen Köpfe unter den Rednern nicht - Struve forderte ein monarchisches Prinzip »wie in England« - und erst recht nicht die einfacheren Bürger. Dagegen ist die Kontinuität zur liberalen Ideologie und Mentalität des Vormärz - und deren langer Tradition, wie sie im vorhergehenden Kapitel herauszuarbeiten versucht worden ist - sehr auffällig; ja, der Hintergrund der ökonomischen Krisensituation aktualisierte und verstärkte in mancher Hinsicht sogar noch die uralten Denkmuster kommunalistischen Widerstandes gegen die Obrigkeit, die in der Offenburger Versammlung wieder an die Oberfläche traten. 314 So war es denn wiederum mehr als nur taktische Rhetorik, wenn die Initiatoren von einem Treffen »entschiedener Freunde der Verfassung« sprachen und die »Forderungen des Volkes« in einem ersten von zwei Teilen unter der Überschrift »Wiederherstellung unserer verletzten Verfassung« standen. 315 Der Radikalismus stand auch und gerade 1847 im Bewußtsein einer radikalen Verteidigung der badischen Verfassung, er folgte in seinem Selbstverständnis weiterhin der defensiven Ideologie des vormärzlichen badischen Liberalismus; man war nur deshalb besonders >radikalnationaler< Ebene richtete sich keineswegs gegen den Deutschen Bund an sich, der als institutioneller Rahmen eines föderalen und freiheitlichen Deutschlands weiterbestehen sollte, ohne die Karlsbader Beschlüsse und die Bundesbeschlüsse der 1830er Jahre und ergänzt um eine »Vertretung des Volks beim deutschen Bunde«, der insofern nicht einmal in seinem Charakter als Fürstenbund in Frage gestellt wurde. Für Baden blieb eine konstitutionelle, vielleicht eine parlamentarische Monarchie die Idealvorstellung; an >Volkssouveränität< im heutigen Sinne dachte das Offenburger Programm nicht. Seine Forderungen standen überhaupt ganz im Kontext der längerfristigen Prägung und der kurzfristigen Erfahrungen des Liberalismus in Baden und waren nichts weniger als abstrakt oder intellektuell-realitätsfern: Die Forderung nach Pressefreiheit - Artikel 2 der »Forderungen des Volkes« - war eines der Themen des badischen Liberalismus überhaupt; der Kampf für Geschworenengerichte, für das Richten des Bürgers durch den Bürger (Artikel 11), war in Baden wie anderswo lange geführt worden und zählte zum Kernbestand dessen, was auch der rechteste Flügel des Liberalismus anstrebte; das Verlangen nach »persönlicher Freiheit« in Artikel 5 hörte sich sehr allgemein an, war aber unverkennbar durch die Alltagskonflikte zwischen Bürgern und Beamten inspiriert, die zumal in Mannheim, aber auch in anderen Städten die liberale Erfahrung der 1840er Jahre strukturierten: »Die Polizei höre auf, den Bürger zu bevormunden und zu quälen. Das Vereinsrecht, ein frisches Gemeindeleben, das Recht des Volkes sich zu versammeln und zu reden ... seien hinfüro ungestört.« Die gegen die stehenden Heere gerichtete »volkstümliche Wehr Verfassung« (Artikel 7) war ebenfalls eine alte Forderung, die in Baden nicht zuletzt durch Rottecks Schrift aus dem Jahre 1816 »Über stehende Heere und Nationalmiliz« populär geworden war; 318 der Topos des die Verfassung schützenden Bürgers in der politischen Theorie reicht weit in die Geschichte der Frühen Neuzeit zurück 319 ebenso wie der praktische Widerwillen und Widerstand des Volkes gegen die kostspieligen Fürstenheere. 300 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35765-2
Der zwölfte Artikel schließlich: »Wir verlangen volkstümliche Staatsverwaltung«, bündelte geradezu Erfahrung, Mentalität und politische Zielvorstellung des badischen Liberalismus und Radikalismus, wie sie sich in den Gemeinden über knapp zwei Jahrzehnte entwickelt hatten. Die Ressentiments gegen die Herrschaft der >SchreibstubeUrlaubsstreit< von 1841/42 war eine jener typischen >partikularen< Krisen, die nur aus der regionalen Vorgeschichte und politischen Kultur heraus in ihrer einschneidenden Bedeutung verständlich werden können. Der konfessionspolitische Konflikt von 1845 und nur ein Jahr später die schwere Agrarkrise begannen allerdings in eine andere Richtung zu weisen, sie betrafen nicht mehr nur das Großherzogtum Baden, sondern demonstrierten immer stärker die nationale, ja die europäische Dimension der vormärzlichen Krisenverdichtung. Andererseits stand die Verarbeitung dieser Krisen noch unverkennbar unter dem Primat regionaler Erfahrungen und Deutungsmuster, und das gilt gerade auch für die Entwicklung des Liberalismus als politischer Oppositionsbewegung und zumal für den Liberalismus an der Basis, in den 301 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35765-2
Gemeinden und ihrem Bürgertum, wo der Kommunikationshorizont begrenzt und langlebige Traditionen umso wirksamer waren. Hier entstand der Radikalismus der 1840er Jahre nicht als eine autonome Intellektuellenbewegung, sondern als bürgerliche Massenbewegung >von untenVolk< sich auch gegen ihn wenden, ja bei den staatlichen Institutionen Schutz suchen konnte. Zwar schwächte die Agrar- und Gewerbekrise den politischen Radikalismus nicht unmittelbar, aber einen neuen Massenanhang konnte er in der von wirtschaftlicher Not betroffenen Bevölkerung nicht rekrutieren, und den Ansätzen zu einer staatlichen Gewerbe- und Sozialpolitik stellte er seine Skepsis gegen die staatliche >Einmischung< und häufig den Appell an die alten ökonomischen Funktionen der Bürgergemeinde entgegen. 302 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35765-2
Im Zentrum der Radikalisierung des badischen Liberalismus stand, das zeigte die ökonomische Krise ebenso wie der politische Höhepunkt der Offenburger Versammlung im Jahre 1847 deutlich, keine programmatische Veränderung; die Radikalen waren weder moderne Demokraten oder Republikaner noch zielten sie auf parteiliche Kommunalpolitik als Umsetzung eines bestimmten Programms für die Gemeinde. Darin, im fast völligen Fehlen eines eigenständigen kommunalpolitischen Programms, lag mittelfristig eine entscheidende Schwäche. Radikale Politik an der Basis speiste sich vielmehr zuerst aus der Behauptung einer bürgerlichen Autonomie gegen den Zentralstaat und seine bürokratische Herrschaft; sie formte sich in immer schärfer ausgetragenen Konflikten zwischen den liberalen Gemeinden und der staatlichen Bürokratie, und sie war, das machte das Problem der Beamten aus, eine Opposition aus legitimen verfassungsmäßigen Institutionen heraus: aus der Praxis einer demokratischen Gemeindepolitik, wie sie die Gemeindeordnung und das Bürgerrechtsgesetz ermöglicht hatten. Insofern war es tatsächlich, so abstrakt der Begriff zunächst klingt, nicht zuletzt eine >LegitimationskriseErfahrungsrepublikanismus< nachvollziehbar und akzeptabel, während die Herrschaft des Staates und seiner Bürokratie, in den Gemeinden als nur überflüssig und störend empfunden, einen rapiden Legitimationsverlust hinnehmen mußte - eine solche >Umpolung< politischer Legitimität zugunsten der erfahrungsnäheren und demokratischeren Institutionen der >Peripherie< wurde damit nicht zum ersten Mal zu einer wesentlichen Voraussetzung einer Revolution. 321 Auch darin war der badische Radikalismus in den Gemeinden zugleich radikal modern und extrem rückwärtsgewandt; er verteidigte die traditionelle Utopie einer bürgerlich-kommunalen Autonomie; er artikulierte Vorbehalte gegen den säkularen Zentralisierungs-, Verstaatlichungs- und Bürokratisierungsprozeß und klagte dabei auch dessen demokratische Defizite ein. Die in der Gemeinde >eingeübte< Partizipation schwächte nicht unbedingt die Konfliktbereitschaft auf der staatlichen Ebene, 322 zumal auch diese Konfliktbereitschaft der Gemeinden >nach außen< während des Vormärz vielfach erprobt war und sogar zu den zentralen Elementen der Selbstdefinition des lokalen Liberalismus gehörte. Auf der anderen Seite sah man noch keinen Grund, die existierende Verfassung und Verfassungswirklichkeit, die ja auch die Gemeindeautonomie einschloß, prinzipiell überwinden zu sollen; die >defensive< Mentalität des Liberalismus und Radikalismus brauchte ihrem Selbstverständnis nach nicht auf >RevolutionReform< zu zielen, sondern nur auf die >Wiederherstellung< einer verloren geglaubten Ordnung. Deshalb identifizierten sich die badischen Radikalen mit ihrem Staatswesen und übten zugleich scharfe Kritik an seiner Ausge303 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35765-2
staltung, und diese scheinbare Widersprüchlichkeit bestimmte auch den Verlauf der Revolution im Großherzogtum Baden, die in einem besonders wenig und besonders stark revolutionär war, bis in die republikatische Revolution des Frühjahrs 1849 hinein.
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V. Von der Gemeinde zur Republik Die Revolution in Baden 1848/49
1. >Gemeinderevolution< und staatliche Ordnung In seiner dreibändigen Schrift über den »Aufruhr und Umsturz in Baden als eine natürliche Folge der Landesgesetzgebung« wies der konservative Adlige und Abgeordnete der badischen Ersten Kammer Heinrich von Andlaw unmittelbar nach der Revolution auf die Unruhen in den Gemeinden, auf Volksversammlungen und lokale »Volkstribunen«, auf die »kleinen und großen Unordnungen und Skandale« hin und meinte, es müsse »höchst nützlich« sein, »die Einzelheiten aller Lokalvorfälle zu sammeln und niederzuschreiben.« Eine solche Bestandsaufnahme des lokalen Radikalismus in der Revolution »müßte unverkennbar dartun«, leitete Andlaw daraus einen heftigen Angriff auf die vormärzliche Regierungspolitik des Großherzogtums, vor allem des Ministeriums Bekk, ab, »wie der politische Wahnsinn seine Quellen in den grundfalschen Theorien hatte, welche die Regierung seit Jahren zu verwirklichen suchte.«1 Ein verhängnisvoller Ausdruck dieser >Theorien< war für ihn wie für viele Konservative und Liberal-Konservative nach der Revolution die badische Gemeindeordnung des Jahres 1831, und schon Ende April 1848, als mit dem gescheiterten republikanischen Aufstandsversuch Heckers die erste Phase der badischen Revolution ihren Abschluß fand, hatte Andlaw in der Ersten Kammer eine »Umgestaltung der Gemeindeordnung« gefordert: »Die Gemeindeordnung«, lautete seine Diagnose, »hat die Gemeinden in keiner Weise befriedigt, sie hat verwüstend, nicht ordnend, in alle Verhältnisse eingegriffen, weshalb man sie häufig fast allenthalben auf dem Lande >Gemeindeunordnung< nennen hört.«2 Auch beinahe anderthalb Jahrhunderte später ist Andlaws Forderung nach einer Bestandsaufnahme noch nicht erfüllt; eine Untersuchung und Darstellung der badischen Revolution in den Gemeinden, ihrer Ziele und Handlungsformen, ihrer Motive und längerfristigen Ursachen fehlt, Radikalisierung und politisches Verhalten der breiten Masse des Gemeindebürgertums zwischen dem Februar 1848 und der militärischen Niederschlagung der republikanischen Revolution im Sommer 1849 liegen noch weithin im Dunkeln, und das folgende Kapitel wird deshalb auf die Ausfüllung dieser Lücken höchstens einige Schritte zugehen und Richtungen andeuten kön305
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nen, in die eine eingehendere Analyse sich in Zukunft bewegen könnte. Erst kürzlich hat Dieter Langewiesche Baden ein »historiographisch vernachlässigtes Revolutionszentrum« und den Forschungsstand zur badischen Revolution »desolat« genannt 3 - das ist vielleicht etwas übertrieben, denn bei genauem Hinsehen ist die Forschung zur Revolution in anderen deutschen Einzelstaaten und Regionen, überhaupt zur regionalen Verankerung und Differenzierung des Revolutionsgeschehens in Deutschland, gleich unbefriedigend, und neben allgemeinen Darstellungen 4 hat auch die lokalgeschichtliche Forschung in den letzten Jahren aussagekräftige Beiträge zur Gemeinderevolution in einzelnen Städten des Großherzogtums beigesteuert. 5 Aber das Bild der badischen Revolution leidet, wie Langewiesche zu Recht feststellt, an einer einseitigen Fixierung der Forschung auf ihre >spektakulären< und gewaltsamen Höhepunkte, auf die republikanischen Aufstände des Aprils und Septembers 1848 und auf die Revolution im Frühjahr 1849, die wiederum vorzugsweise als militärische Kampagnen wahrgenommen und beschrieben werden; als >Schilderhebung< heroisiert oder als >Putsch< und >Abenteuer< verdammt; und zudem personalistisch verkürzt auf Führungspersönlichkeiten wie Hecker und Struve, deren zeitgenössischer >Mythosbürgerliche Revolution< einer parlamentarischen Elite in Frankfurt, sondern als ein in vielfache >Handlungsebenen< aufgefächertes Ereignis, zu dem ganz unterschiedliche soziale Gruppen ihre jeweiligen Ziele, Handlungs- und Organisationsformen beigesteuert haben; die früher dominierende Problematik der Nationsbildung tritt gegenüber der im weiteren Sinne sozialen Programmatik der Revolution in den Hintergrund; die allzu einfache Formel vom >Scheitern< der Revolution relativiert sich in einer Sichtweise, die der Revolution als fundamentaler >Modernisierungskrise< weit über ihr Ende hinaus dauernde Erfolge zuerkennt. 8 Bei aller Verfeinerung vor allem der sozialgeschichtlichen Revolutionsforschung bleiben aber auch hier Lücken, von denen eine besonders auffällig und letzthin häufiger beklagt worden ist: Die lokale, die gemeindliche Basis der deutschen Revolution von 1 8 4 8 / 4 9 ist bisher kaum systematisch erforscht worden, in der Perspektive einer »Gemeinderevolution« 9 ist sie selten zu 306 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35765-2
sehen versucht worden; und während die Bedeutung der >Peripherie< der Revolution anderswo längst ins Zentrum der Forschung gerückt ist - man denke nur an die französische >Munizipalrevolution< im Sommer 1789 oder an die ohnehin >dezentraler< verlaufende (und gerade deshalb der deutschen besonders gut vergleichbare) Amerikanische Revolution - , fehlen Städte und Gemeinden in den Gesamtdarstellungen der Ereignisse von 1848/49 bis heute, wenn man einmal von den großen Aufständen in Wien und Berlin im Herbst 1848 absieht. 10 Es hieße aber auf halbem Wege stehenbleiben, wollte man die Gemeinderevolution trotz ihrer zweifellos oft hervorgehobenen Bedeutung nur in den Städten oder gar nur in »größeren Städten« 11 untersuchen - auch in den Kleinstädten und Landgemeinden vollzog sich Revolution, trat Gemeindepolitik in eine Phase krisenhafter Zuspitzung. 12 Während die sozialgeschichtliche Revolutionsforschung der letzten beiden Jahrzehnte vor allem nach dem Verhalten und der Organisation sozialer Gruppen wie der Handwerker, der Bauern, der Arbeiter gefragt und dabei von ihrem jeweiligen lokalen Erfahrungs- und Handlungshorizont oft weitgehend abstrahiert hat, stand den Zeitgenossen, wenn auch je nach politischer Couleur in unterschiedlicher Art und Weise, die Bedeutung der Gemeinde für Entstehung und Verlauf der Revolution häufig deutlich vor Augen. In seiner bereits erwähnten Rede vor der Ersten Kammer knüpfte Andlaw seine Hoffnung auf ein Zurückdrängen der Revolution gerade an die Stärkung des ständisch-korporativen Elementes in den Gemeinden, um die »atomenartige Auflösung« der Gesellschaft, »der wir entgegen gehen«, noch aufzuhalten. 13 Umgekehrt interpretierte Lorenz von Stein die Revolution als einen Prozeß der politischen Bewußtwerdung der Gemeinden, durch den die Bürgerschaften wieder gelernt hätten, »daß die Gemeinde ein gesellschaftlicher Körper sei« wie im Mittelalter, zugleich aber ein Austragungsort der aus dem neuen Phänomen der Klassenbildung resultierenden sozialen Konflikte: »Unzweifelhaft - das eigentliche Gebiet der socialen Widersprüche und Kämpfe war zuerst und zuletzt die Gemeinde.« 14 Zunächst ist es wichtig, verschiedene Dimensionen und Bedeutungsebenen des vorderhand plakativen und diffusen Begriffes der >Gemeinderevolution< zu unterscheiden, um das politische Verhalten an der >Basis< genauer differenzieren und nach den Gründen der jeweils gewählten Handlungsoptionen fragen zu können. Erstens geht es darum, in einem ganz allgemeinen und umfassenden Sinne, die lokale Dimension von Politik und Gesellschaft überhaupt in den Blick zu nehmen, ob sie sich nun in Tumulten oder Petitionen, in Vereinen oder informellen persönlichen Kontakten artikulierte. Zweitens und spezifischer kann man nach dem politischen Verhalten der Gemeinden als Bürgerkorporationen fragen: nach der Aktivität der Bürger in ihrer Rolle als Gemeindebürger und vor allem nach der politischen Funktion der Gemeindebehörden in der Revolution. Dabei ist jeweils zu unter307 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35765-2
scheiden, ob sich die Forderungen und Handlungsziele auf die eigene Gemeinde selber richteten oder über sie hinauswiesen, als Forderungen der Gemeinde etwa an die Bürokratie oder Parlamente. Drittens kann >Gemeinderevolution< die Revolution im kleinen Maßstab sein: der Legitimationsverlust der Gemeindebehörden, der Angriff eines Teils der Bürgerschaft auf die etablierte Führung, die revolutionäre Absetzung und Neuwahl von Gemeindebeamten. Das implizierte häufig die allgemeinere Forderung nach einer Änderung, nach einer Demokratisierung der Gemeindeordnungen, und insofern kann man, viertens, die gemeindliche Selbstverwaltung als wichtiges Thema der deutschen Revolution von 1848/49 verfolgen, die Arbeit an neuen Gemeindeordnungen in den Parlamenten. Dieses Spektrum der Bedeutung von >Gemeinderevolution< macht bereits deutlich, daß eine isolierte Behandlung lokaler Ereignisse das Bild der Revolution in der Forschung nur ergänzen, aber noch nicht verändern kann: Die Revolution in den Gemeinden war unauflöslich mit dem >allgemeinen< Revolutionsgeschehen verknüpft, mit dem, was andere Gemeinden taten, mit der einzelstaatlichen und mit der nationalen Handlungsebene. Und insofern konnte die Revolution unter bestimmten Voraussetzungen in einem fünften, wiederum allgemeinen und doch sehr charakteristischen Sinne Gemeinderevolution sein: Die Revolution der Gemeinden, die Revolution des Lokalismus gegen die zentrale Herrschaft, gegen den monarchischen Staat und seinen bürokratischen Verwaltungsapparat. Wenngleich der heutige Wissensstand über das Verhalten von Gemeindebehörden in der Revolution und über die Forderung nach einer Veränderung von Städte- und Gemeindeordnungen unbefriedigend ist, fallen mit Württemberg und der preußischen Rheinprovinz zwei deutsche Regionen als in dieser Hinsicht besonders aktiv ins Auge, in denen, wenn auch im einzelnen in sehr unterschiedlicher Art und Weise, schon im Vormärz und besonders in den unmittelbar der Revolution vorausgehenden Jahren ein politisch selbstbewußtes und handlungsfähiges liberales Bürgertum sich artikulierte und Fragen der Gemeindepolitik und Gemeindeordnung eine wichtige Rolle gespielt hatten. Im östlichen Nachbarstaat des Großherzogtums Baden entzündete sich der unmittelbar in die Revolution überleitende Streit vor allem an der von den Liberalen bekämpften Lebenslänglichkeit der Gemeindebeamten; 15 im Rheinland hatte die neue Gemeindeordnung von 1845 die parteipolitische Mobilisierung in den Gemeinden auf eine im einzelnen noch wenig bekannte Weise stark erhöht, trotz der krassen Zensusbestimmungen des rheinischen Dreiklassenwahlrechts, die einen Großteil der erwachsenen männlichen Bevölkerung von der Partizipation in Gemeindesachen rechtlich oder faktisch ausschlossen, und in der Revolution gerade deswegen: Denn die rheinischen Gemeindevertreter artikulierten nicht nur vom Frühjahr 1848 bis in die Reichsverfassungskampagne des 308 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35765-2
Jahres 1849 hinein nachdrücklich liberale Forderungen gegenüber preußischer Bürokratie und Landtag; sie gerieten vielmehr selber ihrer undemokratischen Legitimation wegen unter erheblichen Druck in ihren Heimatgemeinden, und viele Bürgermeister und Gemeinderäte, nicht nur in den größeren Städten, sondern auch in Landgemeinden, wurden in der rheinischen > Bürgermeisterrevolution< des Frühjahrs 1848 von der unzufriedenen Bevölkerung aus ihren Ämtern verjagt. 16 Preußen war zugleich einer derjenigen deutschen Staaten, in denen während der Revolution die allenthalben zentrale Forderung nach Gemeindefreiheit und >volkstümlicher Verwaltung< von Bürokratie und Parlament aufgegriffen und in ein ganzes Bündel von Selbstverwaltungsgesetzen, die jedoch später der Reaktion zum Opfer fielen, umgesetzt wurde. Hier wie in anderen deutschen Staaten wurde damit zugleich dem § 184 der Frankfurter Reichsverfassung Rechnung zu tragen versucht, der die freie Wahl der Gemeindebehörden und die selbständige Verwaltung der Gemeindeangelegenheiten festlegte. 17 Konnte man eine ähnliche, vielleicht noch heftigere Gemeinde- und >BürgermeisterMärzministeriumReformbeschlüssenur< den Wunsch nach einer »volkstümliche(n) Kreisverwaltung durch geeignete Beteiligung der Bürger an derselben«. 20 Die Revolution war öfters der Zünd funke für die Austragung von Konflikten in den Gemeinden, die auch zum Sturz von Bürgermeistern und Gemeinderäten führten; es gab in der Nachwirkung der Krise von 1846/47 und als Folge längerfristiger sozialer Wandlungsprozesse Probleme mit der traditionellen Gemeindeökonomie; aber im allgemeinen war die Zufriedenheit mit der politischen Verfassung der Gemeinden und mit der sie begründenden Gemeindeordnung groß. Auf der Mannheimer Volksversammlung am 2 7 . Februar 1848 versuchte Bassermann die radikalisierte Menge mit dem Verweis auf die relative Fortschrittlichkeit Badens zur >Besonnenheit< zu bewegen: »Ganz anderen Grund als Baden zu einer heftigen Bewegung hätten die gedrückten Länder von Preußen, Kurhessen, Bayern usw., die nicht wie wir eine freisinnige Gemeindeordnung« und andere Vorzüge genossen. 21 Aber die Revolution in Baden, und das erkannten andere Zeitgenossen sehr wohl, war keine Revolution der ökonomisch Verelendeten und politisch Geknechteten, 22 sondern beruhte gerade auf relativem Wohlstand und einer langen Erfahrung politischer Fortschrittlichkeit - nicht zuletzt in den Gemeinden - , sie war eine Revolution nicht aus Schwäche, sondern aus Stärke und Selbstbewußtsein heraus. Die »Deprivationserfahrungen« (Wehler) des badischen Bürgertums lagen an anderer Stelle: Der Zufriedenheit mit der kommunalen Ordnung, mit der quasi-republikanischen Gemeindeverfassung, stand die immer stärker gewordene Unzufriedenheit mit einer Staatsordnung gegenüber, die mit der demokratischen Ordnung in der Gemeinde nicht übereinstimmte. Diese Differenz auszugleichen war das entscheiden310 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35765-2
de Ziel der >Gemeinderevolutioneingespielten< konstitutionellen System, so Manfred Hettling, die Revolution gedämpft, ja zu einer bloßen Reformbewegung abgemildert, für die das erfolgreiche Ineinandergreifen der Institutionen der lokalen Politik: des Gemeinderates und des Bürgerausschusses, und der >Zentrale< dieses mehrstufigen Konstitutionalismus: der zweiten Kammer des Landtags, die entscheidende Voraussetzung gewesen sei.23 Von den Einwänden gegen ein solches >Wegdefinieren< der Revolution, von der Möglichkeit, die württembergische Revolution auch ganz anders zu interpretieren, einmal abgesehen, kann diese Erklärung für die Dynamik der badischen Ereignisse der späten 1840er Jahre offenbar keine Gültigkeit beanspruchen. Der Erfolg demokratischer Gemeindepolitik nach außen beruhte zwar im Vormärz auf der engen Zusammenarbeit mit der Zweiten Kammer in Karlsruhe, aber zugleich auf einer immer radikaleren Konfrontation mit der zentralen Staatsordnung, mit Regierung und Bürokratie; die Erfahrung demokratischer Gemeindepolitik, daran sei hier nur stichwortartig erinnert, stellte zumal seit 1841/42 die monarchisch-bürokratische Legitimation in Frage. Die Verfassung war im badischen Vormärz mindestens ebenso populär wie in Württemberg, aber das bedeutete gerade keine Zufriedenheit mit den politischen Verhältnissen: Die Verfassung wurde, umgekehrt, umso mehr zum Idealbild einer vom >Volke< ausgehenden politischen Ordnung stilisiert, wie die Realität des politischen Systems von ihr abwich und deshalb abgelehnt wurde. Dennoch bleibt es erstaunlich und auch erklärungsbedürftig, mit welcher Plötzlichkeit und Stärke im Frühjahr 1848 die Republik auf der Tagesordnung stand, mit welcher Schnelligkeit sich der vormärzliche Radikalismus und gemeindliche >Erfahrungsrepublikanismus< in einen >modernenRevolution< überhaupt, sondern stets nur annäherungsweise plausibel machen. Freilich wird in der Forschung ganz 311 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35765-2
überwiegend bestritten, daß republikanische Überzeugungen sich in der Revolution von 1848/49 auf eine breite Massenbasis stützen konnten und eine realistische Erfolgschance hätten haben können: Die Republikaner waren nicht nur eine Minderheit - das ist im Rahmen des Deutschen Bundes gesehen sicher unbestreitbar - , sondern, so Thomas Nipperdey stellvertretend für eine lange vorherrschende Sichtweise, »nicht eigentlich handlungsfähig« und zudem tendenziell totalitär in ihrem Willen, der gemäßigtliberalen Mehrheit mit Gewalt und einer >Erziehungsdiktatur< ihren Willen aufzuzwingen. 24 Aber auch Dieter Langewiesche hat kürzlich noch gemeint, »entschiedene Republikaner« seien selbst in Baden in der Minderheit gewesen und als Beleg auf die geringe Beteiligung an den gewaltsamen Aufstandsversuchen Heckers und Struves verwiesen. 25 Mit dieser - weit verbreiteten - Deutung erliegt man jedoch einem auf gewaltsame Aktionen verengten Revolutionsbegriff 6 und zugleich einem Mißverständnis dessen, was die Zeitgenossen mit der >Republik< anstrebten und wie sie es taten: Republikanismus darf nicht mit Gewaltbereitschaft identifiziert werden; Republikaner war nicht erst, wer bereit war, zu Sense und Gewehr zu greifen; mangelnde Unterstützung eines gewaltsamen Aufstandes bedeutete nicht mangelnde Unterstützung für die Staatsform der Republik. Warum auch sollte ein Kaufmann oder Rechtsanwalt, ein Wirt oder Gemeinderat, der die bürgerliche Ordnung in der eigenen Gemeinde verteidigte und sich in der lokalen Politik, etwa im Volksverein, für die Republik starkmachte, zur Sense greifen und sich Hecker anschließen? Daß die Republik sich »nicht auf dem Wege der Reform erreichen lassen« 27 konnte, hätten die weitaus meisten ihrer Befürworter jedenfalls in Baden im Frühjahr 1848 und seitdem, bis zum Mai 1849, entschieden bestritten. Eben dafür, für die Republik durch Reform, ohne Putsch und Bürgerkrieg, arbeiteten sie, mit auch aus heutiger Sicht und erst recht in ihrem eigenen Handlungshorizont nicht völlig unrealistischem politischen Kalkül, wie das ganz unspektakuläre Zerbröckeln der alten Staatsordnung im Mai und Juni 1849 bewies. Wenn republikanische Überzeugung häufig noch an dem problematischen Kriterium der Bereitschaft zu bürgerkriegsähnlicher Gewalt gemessen wird, verweist das auf eine der gegenwärtig am schwersten wiegenden Lücken der Forschung zur deutschen Revolution von 1848/49: Probleme der Revolutionsideologie und ihrer politisch-sozialen Konstitutionsbedingungen, der Gesinnungsbildung jenseits der organisatorischen Aspekte des entstehenden Parteiensystems verdienten mehr Beachtung; und diese Lücke tritt umso auffälliger hervor, je mehr man einen Blick auf die hochentwickelte und sehr ertragreiche Forschung zur Revolutionsideologie etwa in der Englischen, Amerikanischen und Französischen Revolution wirft, in der im übrigen auch die Frage nach der Genese eines revolutionären Republikanismus intensiv diskutiert worden ist. Gruppierungen wie >KonstitutionelleDemokraten< usw. erscheinen häufig als relativ statische Einheiten - demgegenüber müßte versucht werden, die Dynamik und Veränderung politisch-sozialer Überzeugungen, gerade auch >an der Basismainstream< der zuerst liberalen, dann radikalen Opposition des Vormärz - und das sicherte ihm einen Vorsprung, eine Dominanz in der jeweiligen lokalen politischen Kultur. 29 >Neu< war vielmehr der konstitutionelle Liberalismus, der keine Fortsetzung des gemäßigten Frühliberalismus der 1830er Jahre darstellte, sondern sich vor allem aus den >Konservativen< der 1840er Jahre und daneben einer Minderheit früherer Radikal-Liberaler, die den Schritt zum Republikanismus nicht zu tun bereit waren, formierte. Dieses Grundmuster zeigt sich immer wieder, wenn man lokale Parteikonstellationen sei es in Ettlingen oder Offenburg, Mannheim oder Freiburg aus dem Vormärz in die Revolution hinein weiterverfolgt. Trotz der politischen und sozialen Veränderungen des Parteiengefuges innerhalb dieses Grundmusters der Kontinuität führte die fortgesetzte Verankerung des Radikalismus in der Gemeinde und Gemeindepolitik deshalb in Baden nicht zu einem scharfen Gegensatz zwischen >Bürgertum< und >Volk< in den Handlungsformen der Revolution, wie er jüngst am Beispiel Preußens zu zeigen versucht worden ist. 30 Abgesehen davon, daß eine klare Abgrenzung zwischen >Bürgertum< und >Volk< angesichts der Sozialstruktur der badischen Gemeinden um die Mitte des 19. Jahrhunderts, wie wir schon gesehen haben, kaum möglich ist oder doch nur im Hinblick auf funktionale Rollen, die wechseln konnten - wer zur politisch-sozialen Führungsschicht einer Kleinstadt zählte, war von Karlsruhe oder gar von Frankfurt aus gesehen allemal nur >Volk< - , ist auch ein scharfer Gegensatz in den Handlungsformen und Handlungsräumen nicht erkennbar: Das >Bürgertum< agierte auf der Straße, etwa in Volksversammlungen; und >einfache Leute< handelten nicht in erster Linie gewalthaft und außerhalb der Ordnung, 313 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35765-2
sondern in >legitimen< Formen und Institutionen: durch Petitionen und in Vereinen, in der Gemeindepolitik und in Versammlungen. Indem sie das nicht erkannte, hat die Revolutionsforschung lange übersehen, daß etwa die im März und April 1848 Schlösser stürmenden Bauern keineswegs kurz darauf aus der Revolution >ausschiedenspektakuläre< Handlungsformen zur Erreichung ihrer Ziele wählten, unter denen Vereine eine besonders wichtige Rolle spielten. 31 Der lokalistische Charakter der badischen Revolution und der darin weitergetragene politisch-soziale Traditionalismus bewirkten allerdings, wie sich im März 1848 sehr schnell zeigte und wie es sich im Grunde schon seit dem Antritt der halb-parlamentarischen Regierung Bekk Ende 1846 angedeutet hatte, daß der Radikalismus einen großen Teil seiner Führungsgruppe, seiner gesamtstaatlichen Elite verlor; genauer gesagt: sich ihr verweigerte in dem Maße, in dem die radikalen Führer des Vormärz wie Bassermann, Itzstein, Welcker und Mathy Regierungspolitik zu machen begannen und sich statt zur lokalen Politik immer mehr zur nationalen Handlungsebene hin orientierten. 32 Der Eintritt Mathys in das Ministerium Bekk im März 1848 wurde vom lokalen Radikalismus mit seiner immer noch andauernden prinzipiellen Regierungsfeindschaft nicht akzeptiert; diejenigen, die wie Bassermann ins Frankfurter Parlament wechselten, verloren den vorher so engen Kontakt zu ihren Landtagswahlkreisen schnell; und in der Zweiten Kammer rückten nicht nur Jüngere, sondern zugleich ein gegenüber dem Vormärz neuer Politikertyp nach, der wie der Heidelberger Historiker Ludwig Häusser und der Mannheimer Jurist August Lamey seine parlamentarische Führungsstellung nicht mehr dem >Charisma< und der Popularität an der Basis verdankte, jener engen Kommunikation mit dem radikalisierten Gemeindebürgertum, die im Vormärz Itzstein wohl am stärksten gepflegt hatte. 33 Die Kluft zwischen Gemeinden und Landtagspolitik wurde deshalb während der Revolution ständig größer - und andererseits hatten es Hecker, Struve und Lorenz Brentano leicht, zu Integrationsfiguren zu werden, weil sie sich der Neuorientierung auf das Nationale versagten und dem überwiegend lokalistisch-partikularen Handlungshorizont ihrer Anhänger treu blieben. Kaum etwas ist bezeichnender für die lokalistische Gesinnung des badischen Radikalismus als die Entscheidung des Offenburger Bürgermeisters Rée, sein erst im Mai überzeugend gewonnenenes Mandat in der Frankfurter Nationalversammlung bereits Anfang August 1848 wieder niederzulegen, weil, wie er selber erklärte, »es mir die Pflichten meines Berufes als Ortsvorstand nicht gestatten, auf eine so lange Zeit von meiner Gemeinde getrennt zu sein«. 34 Eine solche Entscheidung wäre einem Bassermann, der seinen Ehrgeiz seit seiner berühmten Motion über die Vertretung der Landtage beim Deutschen Bunde am 12. Februar 1848 3 5 erkennbar auf die 314 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35765-2
nationale Politik verlagerte, wohl nie in den Sinn gekommen - wie umgekehrt Rée es offenbar nicht ernsthaft in Erwägung zog, wegen des Frankfurter Mandats das Bürgermeisteramt abzugeben. Das Problem war nur: Jede Revolution braucht, um erfolgreich zu sein, Führungspersonen und Führungsgruppen,36 und indem der Radikalismus der badischen >CountryPartei< den Rückzug auf das >Land< in so extremer Weise zuspitzte, begab er sich selber eines Teils seiner Erfolgschancen und ging im Mai 1849 mit einem Führungspersonal an die Gestaltung der Republik, das in den Gemeinden anerkannt, aber auch anerkannt mittelmäßig war. Diese Zuspitzung - und damit auch dieses fundamentale Dilemma - lag jedoch in der Logik einer politisch-sozialen Bewegung, die zur Verteidigung der lokalen Autonomie, zur Bewahrung der gemeindebürgerlichen Unabhängigkeit gerade angetreten war. Sie kämpfte in der Revolution einen »letzte(n) Abwehrkampf gegen die Moderne«,37 gegen die sozioökonomische Moderne des Industriekapitalismus und der Klassengesellschaft, aber wesentlich stärker noch gegen die politische Moderne, gegen den bürokratisch-zentralistischen Anstaltsstaat. Wie der deutsche Bauernkrieg des 16. Jahrhunderts in letzter Zeit als Reaktion der Gemeinden auf den politischen Territorialisierungsprozeß, als Bewegung gegen den verstärkten Zugriff der Obrigkeit in der ersten großen Phase neuzeitlicher Staatsbildung verstanden wird,38 so war die Revolution von 1848/49 in Baden die äußerste Konsequenz aus einer gemeindlichen Bewegung, die sich gegen die um 1800 begonnene Phase der Staatsbildung und Staatsverdichtung richtete. Sie geht in diesen Bewahrung suchenden Antriebskräften nicht auf, aber sie war zumal an der sozialen Basis eine defensive Revolution mindestens ebenso wie die früheren >klassischen< Revolutionen des 17. und 18. Jahrhunderts, eine letzte Revolution der Frühen Neuzeit, die auch an den inneren Widersprüchen einer überlebten politisch-sozialen Ordnungsvision scheiterte und trotzdem zum ersten Mal eine moderne deutsche Republik etablierte.
2. Zwischen Republik und Ordnungswahrung. Revolution und Gemeinden im Frühjahr 1848 Die Revolution begann in den großen Städten - ohne die städtischen Volksund Bürgerversammlungen und die von ihnen verabschiedeten Petitionen, in denen die >Märzforderungen< an Parlamente und Regierungen artikuliert wurden, ist der Beginn der Revolution nicht nur in Baden kaum denkbar. Am 27. Februar 1848 versammelten sich nach einer Schätzung des Stadtdirektors Kern etwa 4.000 Menschen in Mannheim und beschlossen unter der Leitung von Hecker, Itzstein und Bassermann eine Petition an die Zweite 315 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35765-2
Kammer, die viele andere Gemeinden sich in den folgenden Tagen und Wochen zum Vorbild nahmen. 39 Unter dem noch sehr allgemein gefaßten Grundsatz »Wohlstand, Bildung und Freiheit für alle Klassen der Gesellschaft, ohne Unterschied der Geburt und des Standes« (also nicht ausdrücklich: des Besitzes oder Vermögens!) rückte die Versammlung Volksbewaffnung mit freier Offizierswahl, Pressefreiheit, Schwurgerichte nach englischem Vorbild und die »sofortige Herstellung eines deutschen Parlamentes« als dringendste, sofort zu erfüllende Forderungen in den Mittelpunkt. Die Frage der künftigen Staatsform stellte sich hier noch nicht, aber das Gerücht eines möglichen Anschlusses des Großherzogtums an die französische Republik kursierte sofort, und wie wenig der radikalisierten Basis an der nationalen Idee lag, zeigt die Tatsache, daß erst auf Drängen von Bassermann und Itzstein die auf der Mannheimer Versammlung vorgeschlagene Lossagung vom Deutschen Bunde abgelehnt und dafür das Verlangen nach einem deutschen Parlament eingesetzt wurde. 4 0 Am folgenden Tage, dem 28. Februar, traten mit einer Sitzung des Großen Bürgerausschusses auch die Mannheimer Gemeindebehörden in die Revolution ein, und damit etablierte sich ein charakteristisches Nebeneinander zweier lokaler Handlungszentren, die nicht immer in konfliktfreiem Verhältnis zueinander standen. 41 Zunächst einmal lag eine Art Arbeitsteilung auf der Hand: Die Versammlungen formulierten die allgemeinpolitischen Ziele, die Gemeindebehörden definierten die Ziele der Revolution innerhalb der Gemeinde. So beschloß der Mannheimer Bürgerausschuß, beim Innenministerium die sofortige Entlassung des verhaßten Regierungsdirektors Schaaf zu fordern die auch gewährt wurde - ; außerdem sollten die Gemeindebehörden für die schnellstmögliche Bewaffnung der Bürgerschaft sorgen. Das war wiederum eine praktische Konsequenz der Beschlüsse des Vortages und deutete an, daß die Gemeindebehörden unter dem Druck der neuen, revolutionären Handlungsformen und Institutionen stehen würden. Die anderen großen Städte folgten innerhalb der nächsten Tage nach; in Heidelberg fanden schon am 27. und 28. Februar Versammlungen in den Vereinslokalen der »Harmonie« und der »Eintracht« statt, am 29. folgte eine Volksversammlung, die eine an der Mannheimer orientierte Petition beschloß; 42 am selben Tage hatte Freiburg seine Bürgerversammlung; 43 wiederum einen Tag nach Karlsruhe. Am 1. März konnten Deputationen dieser Städte und zahlreicher anderer Gemeinden, insgesamt mehrere tausend Personen, die mit vielen Unterschriften gezeichneten Petitionen bereits persönlich, um den politischen Druck zu erhöhen, in die Hauptstadt bringen und der Ständeversammlung übergeben. 44 Typisch für Karlsruhe war, daß Oberbürgermeister Daler erst bei den Staatsbehörden anfragte, wie eine Petition der Bürgerschaft aufgenommen werden würde, bevor er nach ihrem Einverständnis der Versammlung den Entwurf vorlegte. In den mehr 316 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35765-2
oder minder regierungstreuen Städten verstärkte ein solches Verhalten aber nur die politische Polarisierung innerhalb der Bürgerschaft - zur selben Zeit ertönten bereits »in allen Kneipen« der Residenzstadt Hochrufe auf die deutsche Republik. 45 Auf die größeren Städte blieb die Revolution jedoch nicht beschränkt; fast überall im Großherzogtum und besonders im See- und Oberrheinkreis waren die französischen Ereignisse der Funke, der unmittelbar, ohne die Aktivität der städtischen Zentren Badens abzuwarten, ein Feuer der Unruhe und der Mobilisierung entfachte. Schon am 26. Februar forderte ein Erlaß des Innenministeriums alle Ämter zur Berichterstattung über die Situation in ihrem Bezirk auf, und dabei zeigte sich, daß in den letzten Februar- und ersten Märztagen fast überall Gemeindeversammlungen abgehalten wurden - als Mittel der Mobilisierung und Artikulation von Forderungen einerseits, zur Beruhigung der Bevölkerung durch die Gemeindebehörden andererseits, aber diese beiden Funktionen ließen sich häufig gar nicht genau trennen. 46 Die Beamten versuchten, auf die Gemeindebehörden Einfluß zu nehmen und sie in Besprechungen auf die Aufrechterhaltung der Ordnung zu verpflichten, was den Behörden auch meist zugesichert wurde 47 - aber die daraufhin einberufene Bürger- oder Volksversammlung konnte dann trotzdem eine Petition mit radikalen Forderungen verabschieden. Aus dieser »Erfahrung« heraus, »daß die größeren Volksversammlungen durchaus nicht geeignet sind, das Volk zu belehren und seinen Willen zu erforschen«, erwuchs der Vorschlag des Bezirksamtes St. Blasien, besondere »Amtsversammlungen« einzuberufen, die der Bevölkerung, so das Kalkül, als Ventil dienen könnten und dennoch unter der genauen Kontrolle der staatlichen Behörden stünden. 48 Die politische Stimmung in den kleineren Städten und auf dem Lande namentlich im Süden des Großherzogtums ging in der Tat innerhalb weniger Tage über die relativ gemäßigten Forderungen der Mannheimer Petition hinaus. Bereits am 2. März erging eine Einladung zu einer Volksversammlung in Stockach, zu der sich am 9. März etwa 6.000 Teilnehmer aus dem ganzen Seekreis einfanden, die unter dem Vorsitz des Meßkircher Bürgermeisters Vital Emmert, eines bekannten Radikalen, auch die Forderung nach der Republik erhoben. 49 In den folgenden zehn Tagen fanden täglich meist mehrere kleinere Volksversammlungen in der Bodensee- und Südschwarzwaldregion statt, auf denen die Volksbewaffnung gefordert und die Bildung von Vereinen und politischen >Komitees< in den Gemeinden angeregt wurde. 5 0 Dabei konnte die politische Initiative durchaus auch von den Gemeindebehörden ausgehen, wenn etwa der Gemeinderat und Bürgerausschuß von Emmendingen in einer außerordentlichen Sitzung eine Petition beschlossen und diese einer auf den nächsten Tag einberufenen Gemeindeversammlung zur Genehmigung vorlegten. 51 In jedem Fall war es 317 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35765-2
das Merkmal revolutionärer Politik des Frühjahrs 1848, daß letztlich nur die direkte Partizipation aller Bürger politischen Entscheidungen Legitimität verleihen konnte. Die Phase der ländlichen und kleinstädtischen Mobilisierung durch Volksversammlungen dauerte bis zum Aufstand Heckers im April 1848 an, und meistens diskutierten die Versammlungen ausdrücklich die Frage >Republik oder konstitutionelle Monarchien und entschieden sich dabei häufig, wie etwa eine Versammlung in Säckingen am 16. April 1848, für die Republik. 52 Aus der politisch wichtigsten Stadt der Region, aus Konstanz, hatte der Amtmann noch am 2. März »die Ehre zu berichten, daß es vorerst hier noch ruhig ist«, 53 aber zwei Tage später beschlossen auch die Konstanzer auf einer Bürgerversammlung eine Petition an die Kammer ähnlich der Mannheimer, und am 5. März konstituierte sich unter der Führung von Bürgermeister Hüetlin ein Ausschuß zur Aufrechterhaltung von Sicherheit und Ruhe in der Stadt, der nicht zuletzt unter dem Einfluß Hüetlins eine gemäßigte, die Forderungen nach Republik abzuwehren suchende Linie verfolgte, dem aber auch entschiedene Republikaner wie (seit dem 10. März) der Redakteur der »Seeblätter«, Joseph Fickler, angehörten. 54 Dabei war es grundsätzlich eine offene Frage, ob sich die radikal-liberalen Bürgermeister der mittelgroßen badischen Städte wie Konstanz im Frühjahr 1848 für die Republik oder gegen sie entscheiden würden. Gustav Rée in Offenburg, ein junger Anwalt wie sein Konstanzer Kollege und im Vormärz grundsätzlich in politischer Übereinstimmung mit diesem, neigte, wir kommen gleich darauf zurück, zur selben Zeit der Republik zu. Und die Einrichtung von Ausschüssen und Komitees, die nach dem Konstanzer Vorbild viele südbadische Gemeinden im März 1848 vollzogen, konnte wie die Gemeindepolitik überhaupt im Frühjahr 1848 sehr ambivalent sein: Sie zielte auf die Aufrechterhaltung von Ordnung im Sinne der Abwehr überstürzter Gewaltsamkeit - aber daran waren alle Gemeindebehörden gleich welcher Couleur interessiert - , war aber zugleich unausweichlich ein Forum revolutionärer Politik schon dadurch, daß die Ausschüsse die Agenda der Revolution diskutierten und ihr zusätzliche Öffentlichkeit in der Gemeinde verschafften; vielerorts, wenn auch nicht in Konstanz, setzten sie außerdem die Gemeindebehörden unter verstärkten Handlungsdruck. 55 Während die Landbevölkerung des Seekreises in ihrer Mehrheit offenbar schnell einem - wenn auch noch diffusen - Republikanismus zuneigte, war die Stimmung in Konstanz selber etwas zurückhaltender, obwohl es auch hier starke Sympathien für die Republik gab. Auf einer Bürgerversammlung am 13. März wurden sechs Abgeordnete der Stadt für die Teilnahme an der bevorstehenden Offenburger Versammlung gewählt, darunter Fickler, der Arzt Eduard Vanotti und der Kaufmann Nepomuk Katzenmayer, die eindeutig der radikalen Seite zuneigten. Aber während die »Mannheimer 318 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35765-2
Abendzeitung« mit einem Zehntel der Teilnehmer nur eine winzige Minderheit der Bürgerversammlung auf der konstitutionell-monarchischen Seite sah, meinte der Konstanzer Amtmann gleichzeitig einen Vorsprung der Konstitutionellen erkennen zu können. 56 Zwei Tage später, am 16. März, besuchte Karl Mathy, im Auftrage der Regierung auf der Reise durch verschiedene Orte des Seekreises, eine Sitzung des Konstanzer Komitees, auf der er versuchte, von der Republik abzuraten. Mathy konnte befriedigt an Bekk berichten, daß der »Kern der Bürgerschaft«, wie Hüetlin auf dieser Sitzung erklärte, keine Republik wolle, 57 aber offensichtlich war die Bürgerschaft, wenn auch mit schwer feststellbarer Gewichtsverteilung, gespalten. Angesichts der wenigen Tage und Wochen, seit denen die Staatsformfrage überhaupt diskutiert wurde, war die Meinungsbildung, wie man sicher unterstellen kann, bei vielen noch im Fluß; und bemerkenswert ist vielmehr die Schnelligkeit und Stärke, mit der die Frage, »ob ... die constitutionelle oder die republikanische Partei siegen werde«, 5 8 in Konstanz wie anderswo in Baden überhaupt in den Vordergrund des revolutionären Denkens und der revolutionären Politik rückte. Der landesweiten Bündelung - und möglicherweise der Entscheidung dieser in nahezu jeder Gemeinde diskutierten und die Bürger spaltenden Frage sollte nach der Vorstellung führender badischer Radikaler und Liberaler erneut eine Volksversammlung in Offenburg dienen, zu der auf den 19. März 1848 ein Aufruf einlud, den Gemäßigte wie Welcker ebenso wie eindeutig der Republik zuneigende Radikale wie Hecker und Struve unterzeichnet hatten. 59 Damit wurde bewußt an die Volksversammlung vom September des Vorjahres anzuknüpfen versucht, und das kleine Offenburg lief immer deutlicher Mannheim den Rang als heimliche Hauptstadt der Opposition ab. Dahinter stand mehr als die günstige geographische Lage, die gute Erreichbarkeit mit Pferdewagen oder Eisenbahn: Der Radikalismus war in den späten 1840er Jahren seinem Schwerpunkt nach >kleinbürgerlicher< und kleinstädtischer geworden; Mannheim symbolisierte geographisch und politisch die Öffnung zur Nation, Offenburg den Wunsch nach Beharrung in der überschaubaren kleinstaatlichen Welt. Offenbar um ein Verbot der Versammlung durch die Staatsbehörden zu vermeiden, wandte sich Bürgermeister Rée bereits am 1 1 . März mit einem ausfuhrlichen Schreiben an das Offenburger Bezirksamt, in dem er Anzeige über das beabsichtigte Treffen erstattete und es vieldeutig als »einen Zusammentritt von allen Freunden des Vaterlandes zum Schutze der leider in mehreren Teilen unseres Landes gestörten öffentlichen Ordnung und der Rechte des Volkes« bezeichnete, 60 als ob Ordnungswahrung und Volksrechte zwei Seiten derselben Medaille seien. Die Beruhigung der Gemüter, urteilte Rée weiter, könne durch niemanden besser gewährleistet werden als die Unterzeichner des Aufrufes, und die »würdige Haltung« der Offenburger 319 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35765-2
Bürgerschaft garantiere, »daß sich eine Volksversammlung innerhalb der Schranken des Gesetzes und der Ordnung bewege«. Er wagte es sogar, mit derselben Begründung 200 Gewehre beim Innenministerium anzufordern und zerstreute durch diese offensive Taktik tatsächlich Bedenken und Befürchtungen innerhalb der Bürokratie.61 Was war hier List des selber mit der Republik sympathisierenden Bürgermeisters, was ernste Sorge vor gewalttätigen Ausschreitungen in der Stadt? Die Schwebelage des bürgerlichen Selbstverständnisses in der Revolution, die diese Frage so schwer beantwortbar macht, war zugleich eines seiner charakteristischsten Merkmale. Genau deshalb waren die Ängste vor den ungeordnet sich in Offenburg zusammenrottenden, bewaffneten Pöbelhaufen ungerechtfertigt: Die Teilnahme an der Offenburger Versammlung wurde, wie schon im Vorjahr und ganz entsprechend der >lnszenierung< der vormärzlichen Verfassungsfeste, in den meisten Orten zu einer offiziellen Angelegenheit der Gemeinde gemacht; Ausschüsse und Delegationen wurden gewählt, denen sich weitere Bürger anschlossen, und als geschlossener, ja demonstrativ festlicher Zug reiste man in die Versammlungsstadt. Die Bürger hatten ihre beste Kleidung angelegt, die Wagen waren festlich geschmückt, und selbst der skeptische Berichterstatter der Augsburger »Allgemeinen Zeitung« erkannte nur »lauter wohlgekleidete Städter und Bauern«, »darunter kein Zerrissener, kein Zerlumpter, kein Betrunkener«.62 »Die Versammlung glich einem schönen Volksfeste«, ironisierte der Wieslocher Arzt Adolf Kußmaul die betont freundlich-optimistische Stimmung des 19. März aus eigenem Erleben, »alles schwelgte in wonniger Erwartung des Mannasegens, den der plötzlich angebrochene Völkerfrühling über das Vaterland ausschütten werde.«63 Trotz der offenkundig starken republikanischen Tendenzen in der versammelten Menge, die nach unterschiedlichen Schätzungen der Zeitgenossen 3.000 bis 15.000 Personen umfaßte, hielt sich auch Hecker angesichts dieser Stimmung zurück; die meisten Redner, die vom Balkon des Rathauses sprachen, erklärten sich mindestens vorläufig für die konstitutionelle Monarchie.64 Die in einer engeren Vorberatung formulierten und von der Volksversammlung mit einigen Änderungen und Ergänzungen angenommenen Beschlüsse wichen einer eindeutigen Festlegung in der Staatsformfrage aus aber insofern die mit dem Stichwort >Republik< verbundenen Erwartungen und verfassungsrechtlichen Vorstellungen noch diffus und flexibel waren, entsprach diese Offenheit durchaus dem pragmatischen, jedenfalls an der konkreten Konflikterfahrung orientierten Politikverständnis des Gemeindebürgertums. »Der Kampf der Volksherrschaft und der Einherrschaft hat begonnen«65 - aber ob Volksherrschaft und Monarchie nicht zu verbinden wären, blieb noch eine offene Frage. Die konkreten verfassungspolitischen Forderungen richteten sich jedenfalls nicht auf den Großherzog, sondern 320 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35765-2
zielten in drei Richtungen, die auch in den folgenden fünfzehn Monaten von entscheidender Bedeutung für das Programm des badischen Radikalismus und Republikanismus blieben: Erstens besaß der administrative Apparat, »mehrere Mitglieder der Regierung und der größte Teil der Beamten«, nicht »das Vertrauen des Volkes« - das war gegenüber dem Vormärz keine neue Diagnose. Zweitens drückten die Beschlüsse das wachsende Unbehagen an der Ersten, adlig dominierten Kammer aus, nicht an ihrer Politik, sondern an ihrer Existenz aufgrund geburtsständischer Privilegien schlechthin; und während die Vorlage nur unbestimmt eine »Revision der Verfassung« in diesem Punkte gefordert hatte, radikalisierte die Versammlung den Beschluß mit dem eindeutigen Zusatz: »Das Volk will nur eine Kammer.« 66 Diese Forderung hatte aber gravierende verfassungstheoretische und verfassungspolitische Implikationen und entwickelte ebenso wie die dritte nach einem Rücktritt derjenigen durch »Wahlbeherrschung und Wahlverfälschung« zu ihrem Mandat gekommenen Abgeordneten der Zweiten Kammer, die »sich als blinde Werkzeuge in den Händen jeden Ministeriums erwiesen haben«, also keine wahren Vertreter des »Volkes« waren, in der Folgezeit, wie wir noch sehen werden, eine ganz erhebliche politische Dynamik. 67 - Vorläufig jedoch war der Beschluß über den Aufbau einer zentral koordinierten Vereinsorganisation »Vaterländischer Vereine«, wie die radikalen Vereine in Baden zunächst hießen, das konkreteste Ergebnis der Offenburger Versammlung. Jede Gemeinde wurde aufgefordert, einen solchen Verein, »dessen Aufgabe es ist, für die Bewaffnung, die politische und soziale Bildung des Volkes sowie für die Verwirklichung aller seiner Rechte Sorge zu tragen«, ins Leben zu rufen, und bei der Wahl eines »Central-Ausschusses« der Vereine, der die vier badischen Kreise repräsentieren sollte, setzte sich sehr deutlich der lokale, ja der kommunalpolitische Radikalismus durch: Der Heidelberger Bürgermeister Winter gehörte ebenso zu diesem Ausschuß wie sein Meßkircher Amtskollege Emmert, wie Rée und sein enger Vertrauter, der Gemeinderat und Apotheker Rehmann aus Offenburg; dabei waren aber auch Brentano, Struve und als Obmann Friedrich Hecker. 68 In einem trotz des friedlichen Ausgangs der Offenburger Versammlung immer nervöseren politischen Klima, das durch den >falschen Franzosenalarm< noch einmal zusätzlich angeheizt wurde, 69 fanden nur eine Woche später zwei weitere große Volksversammlungen in Heidelberg und Freiburg statt. Die Heidelberger Versammlung vom 26. März 1848 gab sich zwar noch gemäßigter als die Offenburger, stellte aber in ihren Beschlüssen immerhin fest, »daß das deutsche Volk für die nordamerikanische Verfassung reif ist und sie wünscht.« 70 In der radikaleren Freiburger Versammlung am selben Tage wurde das damit vorsichtig umschriebene Wort auch ausgesprochen: Vor mehreren tausend Menschen auf dem Domplatz, von denen 321 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35765-2
nur der geringere Teil aus Freiburg selber stammte, forderte Struve, der sich bereits auf seinen entsprechenden Antrag im fünf Tage später zusammentretenden Frankfurter >Vorparlament< vorbereitete und dafür nach einem plebiszitären Mandat suchte, die Versammlung solle sich für eine deutsche Republik erklären. Viele Teilnehmer verließen die Versammlung daraufhin, aber die große Mehrheit der Verbliebenen stimmte mit Handzeichen für die Republik. 71 Immer stärker verdichteten sich jetzt die Gerüchte, Hecker und Struve planten die Ausrufung der Republik und ihre gewaltsame Durchsetzung im Süden des Großherzogtums. Am 8. April ließ Karl Mathy ganz eigenmächtig die treibende Kraft der Konstanzer Republikaner, Joseph Fickler, auf dem Karlsruher Bahnhof verhaften und unterschätzte damit vermutlich die Sympathie, die Popularität, die Fickler in seiner Heimatstadt und mehr noch in der Landbevölkerung des Umlandes genoß - jedenfalls rief die Verhaftung große Empörung hervor und ließ das Ansehen der Regierung wie der gemäßigten Liberalen auf einen vorläufigen Tiefpunkt sinken. Obwohl Bürgermeister Hüetlin politisch immer mehr zum Gegner Ficklers geworden war, verurteilte der Konstanzer Gemeinderat in einer Eingabe an das Innenministerium die Verhaftung des »hiesige(n) Gemeindebürger(s)« scharf und warnte, daß »Tausende der Männer aus dem Volke, namentlich aus der Klasse der Landleute, allerwärts im Seekreise und auch in anderen Teilen des Landes, all dasjenige als gegen sich selbst gerichtet betrachten, was in irgendeiner Weise von der Staatsregierung gegen Josef Fickler gewirkt werden möchte.« 72 Währenddessen ließ Mathy als Mitglied des Mannheimer Gemeinderats von diesem und dem Kleinen Bürgerausschuß in einer noch am 8. April eilig zusammengerufenen Sitzung eine Erklärung verabschieden, die sein Vorgehen rechtfertigte, sich gegen »Unordnung«, »Anarchie« und »Bürgerkrieg« aussprach und zur Verteidigung »unserer freien Staatseinrichtungen und der bürgerlichen Ordnung« aufrief.73 Mit diesem klaren politischen Bekenntnis waren die Mannheimer Gemeindebehörden deutlich über das hinausgegangen, was auch Rée oder Hüetlin an Gewalt und >Anarchie< abstieß. Die in der Erklärung des Gemeinderats und Bürgerausschusses ganz ausdrücklich formulierten wirtschaftlichen Interessen des Mannheimer Handelsbürgertums 74 schienen diesem mit der Republik unvereinbar, und weil die lokale Elite Mannheims sich anders als die der kleinen und mittleren Städte auf diese Weise vom Republikanismus abgrenzte, hatte die Stadt spätestens jetzt ihre über den Vormärz hinweg stets ausgebaute und noch am 27. Februar 1848 eindrucksvoll bestätigte Führungsrolle in der badischen Opposition für die gesamte weitere Revolutionszeit verloren. »Das Proletariat wird stets größer und forscher« - »die Bourgeoisie fürchtete sich«: 75 Eine solche von modernen Klassenspannungen geprägte sozialökonomische Polarisierung stand dem politischen Fortschritt jetzt im Wege; die Republik war auch 322 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35765-2
insofern die Staatsform der mittelständischen Bürgergesellschaft, wie sie in den kleineren Städten noch kaum gebrochen weiterexistierte; sie konnte von >Proletariern< allein nicht gemacht werden, sondern brauchte die aktive Unterstützung lokaler Führungsgruppen - also von Bürgern> die der Gewaltanwendung in der Regel abgeneigt waren, für die >FreiheitOrdnung< vorstellbar war. Das wiederum unterschätzte Hecker, als er wenige Tage später, am 11. April, in Konstanz eintraf und auf einer Volksversammlung am folgenden Tage gegen das Votum Hüetlins zu einer allgemeinen Erhebung für die Republik aufrief und damit das Startzeichen für seinen Freischarenzug durch das südliche Baden gab. 76 Schon die Konstanzer Bürgerwehr versagte sich Hecker zum großen Teil; mit nur etwa 50 bewaffneten Anhängern brach er am 13. April auf und versuchte mühevoll, weitere Teilnehmer zu finden, die gegebenenfalls auch zum Kampf bereit waren. In Briefen an die Bürgermeister und Gemeinderäte >beauftragte< Hecker die Gemeinden, ihr Aufgebot zu stellen, aber schon die Mechanismen der revolutionären Politik selbst standen oft gegen den Versuch einer autoritären Befehlsdurchsetzung >von obenprovisorischer Regierung< geschehen: Die Bürgermeister beriefen über diese Frage erst einmal eine Gemeindeversammlung ein, die sich meist gegen den Anschluß an den bewaffneten Zug aussprach.77 Aber auch von sich aus verweigerte sich die weitaus größte Zahl der Bürgermeister und Gemeinderäte zumal in den Städten wie Stockach, Schopfheim oder Lahr dem Ansinnen Heckers.78 Ein Erfolg gelang den Aufständischen in dieser Hinsicht nur in den Landgemeinden des Amtsbezirkes Konstanz, dessen Bürgermeister sich am 17. April im Konstanzer Rathaus versammelten, die Regierung des Seekreises für abgesetzt erklärten und den mit den Radikalen durchaus sympathisierenden Regierungsdirektor Peter dazu bewegten, seine Stelle niederzulegen und die Funktion eines republikanischen >Statthalters< zu übernehmen.79 Die Revolutionäre und die Staatsbehörden trugen in diesen Tagen geradezu ein Tauziehen um die Gemeindebehörden aus, deren Verhalten von beiden Seiten als für den weiteren Verlauf des Aufstandes entscheidend angesehen wurde. In mehreren Verordnungen und Rundschreiben forderten das Innen- und das Justizministerium die lokalen Beamten immer wieder dazu auf, dem Verhalten der Gemeindebeamten und insbesondere der Bürgermeister besondere Aufmerksamkeit zu schenken und gegebenenfalls sofort nach § 21 der Gemeindeordnung eine einstweilige Suspendierung vom Dienste zu verfügen.80 Die lokalen Beamten riefen schon seit dem 12. April die Bürgermeister ihrer Ämter zusammen, erklärten ihnen »das Gefährliche und Strafbare eines solchen Treibens«, was unmißverständlich eine Drohung mit rechtlichen Sanktionen war, und ließen die Bürgermeister >Protokolle< unterschreiben, in denen diese versprachen, dem Aufstand 323 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35765-2
entgegenzutreten, sich dabei gegenseitig zu unterstützen und mit den Staatsbehörden bei der Aufrechterhaltung der Ordnung zusammenzuarbeiten. 81 Wer dabei nicht mitmachte, dem drohte sofortige Verhaftung: Das erfuhr Bürgermeister Kaltenbach in Sulzburg bei Müllheim, der am 20. April und erneut zwei Tage später auf dem Marktplatz die Bürger seiner Gemeinde dazu aufgefordert hatte, sich Hecker anzuschließen - einige Tage später wurde er verhaftet ebenso wie schon am 19. April der als entschiedener Republikaner bekannte Donaueschinger Bürgermeister Raus. 82 Raus war immerhin so populär, daß eine Gemeindeversammlung noch am selben Tag seine sofortige Enlassung forderte und Deputierte aus den umliegenden Ortschaften den Behörden derart mit »üble(n) Folgen für Donaueschingen« drohten, daß der Bürgermeister drei Tage später wieder freigelassen werden mußte. 8 3 Zwar gingen im April und Mai 1848 auch zahlreiche von Gemeinderäten und Bürgerausschüssen unterzeichnete Loyalitätsadressen in Karlsruhe ein, die aber vor allem aus kleinen Gemeinden des vom Aufstand gar nicht berührten Nordostens des Großherzogtums stammten. 84 Die Stimmung im Seekreis auch nach der endgültigen Niederlage des Aufstandes gab ein Bericht des Amtes Villingen treffender wieder: »Die Bürgerschaft selbst von oben bis herunter ist in ihren Ansichten sehr geteilt, so daß wir von dieser Seite wenig Unterstützung zu erwarten haben.« 85 Nicht jeder Republikaner aber wollte zum Gewehr greifen, und der massive Druck des Staatsapparates auf die Gemeindebehörden hat andere vermutlich erfolgreich davon abgehalten. Das klägliche Scheitern Heckers bedeutete darum nicht, daß die Mehrheit der badischen Bevölkerung die Republik ablehnte - im Gegenteil: Die Sympathien für die Republik wuchsen im April noch an, und während des Heckerzuges, als die beginnende Gegenoffensive der Staatsbehörden den Radikalismus unter Hochverratsverdacht zu stellen begann, wurden diese Sympathien sogar deutlicher als zuvor artikuliert, vor allem in Freiburg und Offenburg. Die Ereignisse in diesen Städten sind nicht zuletzt deshalb bemerkenswert und bezeichnend für den lokalen Radikalismus in Baden, weil die Gemeinden hier als Bürgerkorporationen handelten und unter der Führung ihrer gewählten Gemeindebehörden Erklärungen zur Frage der Staatsform abgaben. Die Legitimität der Republik in der Gemeinde sollte, wenn nur genügend Gemeinden diesen Schritt vollzögen, die Republik in Baden >von unten< und friedlich unausweichlich werden lassen - diese Idealvorstellung verband sich wohl damit. In Freiburg stimmten schon am 11. April, noch vor Beginn des Heckerzuges, 9 2 0 Bürger - etwas weniger als zwei Drittel der Bürgerschaft - auf einer Gemeindeversammlung einer Erklärung zu, die sich gegen jeden Versuch eines gewaltsamen Umsturzes aussprach, aber zugleich feststellte: »Beide Staatsformen, jene der constitutionellen Monarchie wie jene des Freistaates sind vernünftig ... Das Bestre324 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35765-2
ben der freiheitlichen und volkstümlichen Ausbildung der erstem ziert daher den wahren Vaterlandsfreund ebenso als das in gesetzlicher Weise unternommene Erstreben der letztern.«86 Nur drei Tage später, als der Freischarenzug von Freiburg noch weit entfernt war, erschienen erneut 900 Bürger zu einer Gemeindeversammlung, auf der zunächst der Aufruf Heckers und Struves vom 12. April verlesen und daraufhin ein von Bürgermeister Rotteck eingebrachter Antrag mit nur einer Gegenstimme angenommen wurde, der die Neutralität der Bürgerschaft gegenüber dem Unternehmen Heckers feststellte: Man wolle ihm, wenn er denn in der Bevölkerung des Seekreises Anklang finde, »kein Hindernis entgegensetzen, also auch nicht feindselig entgegentreten«, sich aber als Bürgerschaft insgesamt »von jeder Teilnahme an der Bewegung« lossagen. Einzelnen Bürgern wurde es jedoch ausdrücklich freigestellt, sich der revolutionären Bewegung anzuschließen, »worüber diese mit ihrem Gewissen zu Rate gehen mögen«. 87 Für den Innenminister Bekk, der umso mehr tobte, als er von der Freiburger Gemeindeversammlung und ihrem Beschluß erst drei Tage später, am 17. April, aus der Zeitung erfuhr, war das nur »schwer zu begreifen«: Die gesamte Bürgerschaft einer der größten Städte des Landes sympathisierte offen mit der Republik und war sich anscheinend nur noch darüber uneins, ob gewaltsame Mittel zu ihrer Erkämpfung gerechtfertigt seien.88 Bekk forderte die lokalen Behörden auf, »dahin zu wirken, daß die wohlgesinnten Bürger Freiburgs sich verbinden« und aus ihrer Passivität erwachten, aber die Stimmung in der Stadt war in diesen Tagen so, daß zwei Drittel der Bürgerschaft Hecker »mit Sehnsucht« erwarteten, die übrigen in »untätiger Furcht«.89 Erst nachdem die in die Stadt eingerückten Freischaren am 24. April vor den Regierungstruppen kapituliert hatten, wagten es die konstitutionell und konservativ gesinnten Bürger der Stadt wieder, in Flugschriften und in der Presse die Radikalen und die ihnen nachgebende Gemeindeführung unter dem gemäßigt-liberalen Bürgermeister Rotteck anzugreifen.90 Am Abend des 18. April hatten bereits einige Dutzend Radikale unter Führung der Studenten Franz Volk und Karl Heinrich Schaible in Offenburg versucht, auf eigene Faust die Republik zu proklamieren; sie organisierten eine Versammlung in der >PostFreiheit< und >Ordnung< in der zeitgenössischen Wahrnehmung eine konsequente Handlungsoption. Selbst die Regierung war sich nun unsicher, ob sie Rée wegen seiner Förderung der Republik verfolgen oder ihm für seine Beschwichtigung des gewaltsamen Aufstandes noch dankbar sein sollte.94 - Am 29. August 1848 feierte Offenburg das Geburtstagsfest des Großherzogs »auf die altherkömmliche Weise«, aber das änderte, wie die folgenden Monate zeigen sollten, an der radikalen Gesinnung der Bürger nichts.95 Wo die Gemeindebehörden die lokalen Republikaner nicht aktiv unterstützten, wurde deren politischer Druck und Massenanhang doch so stark, daß man sie zumindest gewähren lassen mußte. In Sinsheim führte der Apotheker Mayer die örtliche republikanische Partei an und hielt mit dieser im April 1848 fast täglich gut besuchte Versammlungen im Rathaus ab, dessen Nutzung Mayer zu untersagen der Gemeinderat sich nicht traute, weil er sich damit offen gegen den Willen eines großen Teils der Bürgerschaft gestellt hätte.96 Am Morgen des 24. April versuchten Mayer und seine Anhänger, es dem Freiburger und Offenburger Vorbild gleichzutun, proklamierten die Republik in Sinsheim und zogen, etwa 120 Mann stark, mit Gewehren und Sensen bewaffnet nach Heidelberg, nachdem das Gerücht sich verbreitet hatte, Heidelberg und Mannheim befänden sich in vollem Aufstand.97 Unterwegs schlossen sich in den Dörfern einige hundert bewaff326 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35765-2
nete Bauern dem Sinsheimer Zug an, der nicht zuletzt dank der Fürsprache des Heidelberger Bürgermeisters Winter ungehindert in die Stadt eingelassen wurde. Nach einigem Hin und Her verjagte die Bürgerwehr die Aufständischen wieder, und Winter geriet ins Kreuzfeuer der Kritik seiner Gegner, weil er sich den Republikanern nicht entschieden entgegengestellt hatte. 98 Dieser Heidelberger Ostermontags-Zwischenfall ließ zugleich noch einmal, wie schon im Seekreis zwei Wochen zuvor, die Konflikte zwischen Stadt und Land hervortreten; die Landbevölkerung war, das zeigte auch die >Agrarrevolution< gegen die Grund- und Standesherren, viel eher zur Gewaltanwendung bereit als die städtischen Bürger, die deshalb aber nicht unbedingt weniger radikale politische Überzeugungen hatten." Die heftige Auseinandersetzung innerhalb der Heidelberger Bürgerschaft nach dem Einmarsch der Sinsheimer unterstrich ein zweites: Die größten Städte des Großherzogtums waren in politischer und sozialökonomischer Hinsicht zu stark differenziert, um ein relativ einheitliches, quasi-korporatives Eintreten der Bürgerschaft für die Republik wie in den Kleinstädten von der Größe und Sozialstruktur Offenburgs noch zu ermöglichen. In Mannheim erschreckte das Bürgertum am 2 6 . April wegen der von den Unterschichten ausgehenden bewaffneten Tumulte in der Stadt, die zur Entsendung eines außerordentlichen Regierungskommissärs, zur Einquartierung nassauischer Truppen und zur Erklärung des Kriegszustandes über Mannheim führten. Der Gemeinderat zeigte sich angesichts der Unruhen hilflos; »die dortige Bürgerschaft«, urteilte die »Allgemeine Zeitung«, »hat sich ein Proletariat großgezogen über welches sie jetzt nicht mehr Herr werden kann.« 100 Die Republik hatte dort die größeren Chancen, wo die lokalen Führungsgruppen sie nicht als Gefährdung ihrer politischen und sozioökonomischen Vorrangstellung wahrnehmen mußten. Darüber hinaus gab es für die Gemeindebehörden, das mußte Mannheim wie viele andere Städte erfahren, ganz konkrete Gründe, sich der Gewaltanwendung eines Teils der Radikalen entgegenzustellen, auch wenn man politisch mit ihnen übereinstimmte: Die Regierung drohte bei Unruhen mit der Besetzung durch Truppen, deren Einquartierung auch eine erhebliche materielle Belastung für die Gemeindekasse bedeutete, und um die fremden Soldaten wieder loszuwerden, verabschiedeten auch liberal und radikal dominierte Gemeinderäte Eingaben, in denen sie in unterwürfigem Ton versicherten, in Zukunft alles zur Wahrung der öffentlichen Ordnung in der Gemeinde tun zu wollen. 101 Schon seit dem 1. April 1848 verpflichtete ein »Gesetz über die Entschädigungspflicht der Gemeindeangehörigen« die Gemeinden dazu, für die bei bewaffneten oder unbewaffneten »Zusammenrottungen« entstandenen Schäden und Eigentumsverletzungen zu haften. 102 Deshalb war auch die Einrichtung von Bürgerwehren im Frühjahr 327 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35765-2
1848 in jeder Hinsicht ein zweischneidiges Schwert. Das Gesetz über die Errichtung einer Bürgerwehr im Großherzogtum Baden war noch vor der Revolution vorbereitet worden und hatte in dem Mitte März der Zweiten Kammer vorgelegten Entwurf die »Mitwirkung zur Erhaltung der gesetzlichen Ordnung im Innern« als eine Hauptaufgabe der Bürgerwehren bezeichnet: 103 Das erregte unter den veränderten Umständen des März 1848 das Mißfallen der Radikalen, die unter maßgeblichem Einfluß Heckers als des Kommissionsvorsitzenden in dieser Sache die immer noch vieldeutige Formulierung durchsetzten, der Bürgerwehr obliege »die Verteidigung des Landes, der Verfassung und der durch die Gesetze gesicherten Rechte und Freiheit gegen innern und äußern Feind«. 104 Die Bürgerwehr wurde deshalb von allen Parteien für ihre Interessen zu instrumentalisieren versucht, was zum Teil zu heftigen Konflikten in den Gemeinden führte. Für die Konstitutionellen und Konservativen ein Mittel zur bürgerlichen Abwehr von Aufruhr und Republik, versuchte der Radikalismus in der Bürgerwehr die Einlösung seiner Forderung nach Volksbewaffnung zu sehen und damit die Alternative zum stehenden Heer. Zwei Motive verbanden sich mit der radikalen Inanspruchnahme der Bürgerwehr: Die hohen Kosten eines stehenden Heeres, die als steuerliche Belastung die Bürger drückten, sollten vermieden werden; der Bürger sollte zugleich, dem klassischen Ideal des Bürgersoldaten folgend, seine Freiheit mit Waffen verteidigen, denn »ein bewaffnetes Volk könne niemals tyrannisiert werden«. 105 Aber auch dort, wo wie in Offenburg die Bürgerwehr unter der Führung des radikal-republikanischen Gemeinderates gebildet wurde, 106 war das noch lange nicht gleichbedeutend mit der Bereitschaft, sich als Bürgerwehr etwa dem Heckerzug anzuschließen. Die korporative Organisation der Bewaffnung wirkte insofern begrenzend trotz der republikanischen Sympathien, aber zu einer anderen Art der Bewaffnung wären die meisten Bürger überhaupt nicht bereit gewesen. Das Gleichgewicht zwischen Revolution und Ordnungswahrung mußte für den weitaus größten Teil des Gemeindebürgertums, und erst recht für die Gemeindebehörden, im Frühjahr 1848 gewahrt bleiben, aber es wäre falsch, aus der fehlenden Gewaltbereitschaft auf die Schwäche des Radikalismus und Republikanismus in Baden zu schließen. Die Republik stand, und das ist nur mit der langen vormärzlichen Vorgeschichte des Liberalismus und Radikalismus erklärbar, im März und April mit erstaunlicher Schnelligkeit auf der politischen Tagesordung; trotz des Scheiterns von Hecker war zu dieser Zeit vermutlich die Mehrheit der Bevölkerung mindestens in der südlichen Landeshälfte für die Republik. Spekulationen, ob Heckers Aufstand Mitte April den günstigsten Zeitpunkt vielleicht schon verpaßt hatte, 107 gehen in die Irre, weil am gemeindebürgerlichen Selbstverständnis vorbei, das zu keiner Zeit einen gewaltsamen Umsturz für die Republik zu 328 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35765-2
machen bereit war - auch nicht im folgenden Frühjahr, als die Republik >aus Versehen< kam und nur noch verteidigt werden mußte. Die nach heutigem Urteil unrealistische Erwartung des März und April 1848, die Republik sei schon sehr nahe, beruhte nicht zuletzt auf den Erfahrungen und Erfolgen des vormärzlichen Radikalismus vor allem seit 1842: Man dominierte die öffentliche Meinung, die Regierung schien in die Ecke gedrängt, kraftlos und verfassungspolitisch nahezu überflüssig; bei der nächsten Gelegenheit werde sie, wenn nur genügend Gemeinden sich für die Republik erklärten, wie ein überreifer Apfel vom Baum fallen. Die Gemeinden brachten den Republikanismus hervor, aber das war auch seine Schwäche, denn eine horizontale Verbindung >republikanischer< Gemeinden war noch kein republikanischer badischer Staat; und trotz der Rede von Vaterland und Nation blieben dann immer noch die Restriktionen der vom lokalen Radikalismus unterschätzten und ungeliebten nationalen Politik.
3. Gemeindeämter und Gemeindewahlen. Begrenzter Elitenwechsel in der lokalen Politik Der Versuch der badischen Bürgermeister und Gemeinderäte, die im Frühjahr 1848 stets prekäre Balance zwischen republikanischer Sympathie und Ordnungswahrung in der eigenen Gemeinde zu halten, zwischen den radikalisierten Begehren eines großen Teils der Bürgerschaft und den Erwartungen der staatlichen Bürokratie, sich wieder verstärkt als ihr Vollzugsorgan an der Basis zu verstehen, ließ ein Potential für vermehrte Konflikte um die innergemeindliche Machtverteilung entstehen, das jedoch in den weitaus meisten Orten nicht zu solchen Dimensionen anwuchs, die zu einem Austausch der Gemeindebehörden geführt hätten: Anders als etwa in der vehementen >Bürgermeisterrevolution< der preußischen Rheinprovinz blieben spektakuläre Entmachtungen, Rücktritte, Neuwahlen in der revolutionären Gemeindepolitik des Großherzogtums Baden weitgehend aus; mindestens bis in das Frühjahr 1849, in vieler Hinsicht auch noch in der Revolution des Mai und Juni 1849, herrschte Kontinuität vor; und dieses Gesamtbild gilt es zu betonen, bevor sich im folgenden das Augenmerk stärker auf solche Fälle richtet, in denen aus zum Teil ganz unterschiedlichen Gründen, die stark von der jeweiligen lokalen Vorgeschichte der 1830er und 1840er Jahre bestimmt waren, dennoch ein Wechsel der Gemeindebehörden erfolgte. Die schon im Vormärz erreichte demokratische Legitimation der Gemeindebehörden, ihre Abhängigkeit von der jeweiligen Mehrheitspartei in der Gemeinde, hielt den Druck der Bürgerschaft auf ihre gewählten Vertreter trotz der 1 8 4 8 / 4 9 noch einmal fortschreitenden Radikalisierung 329 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35765-2
in Grenzen; dieser Druck richtete sich vielmehr nach außen, auf die Veränderung der staatlichen Ordnung einerseits, auf sehr traditionelle, ökonomisch-soziale Ziele der Bürgergemeinde andererseits. 108 Zudem fiel keine reguläre >Welle< von Bürgermeisterwahlen auf die beiden Revolutionsjahre: Die letzten Wahlen in dem durch die Gemeindeordnung seit 1832/33 etablierten Sechsjahresturnus hatten vielerorts 1844/45 stattgefunden und bereits damals, wie im vorigen Kapitel verfolgt wurde, häufig radikalere Bürgermeister und Gemeinderäte in ihre Ämter gebracht, die nun selber die weitergehende Radikalisierung der Bürgerschaft mitvollzogen oder sogar aktiv unterstützten wie Christian Friedrich Winter in Heidelberg, Gustav Rée in Offenburg oder Wilhelm Schneider und die ihn stützende Partei Philipp Thiebauths in Ettlingen. Andere dezidiert liberale oder radikale Bürgermeister wie Karl Hüetlin in Konstanz oder Friedrich Weisbrod in Weinheim hielten sich trotz starker, zum Teil mehrheitlicher republikanischer Kräfte in der Bürgerschaft stärker zurück, ohne sogleich mit der Regierung zu sympathisieren, und behielten trotzdem ihr Amt durch die gesamte Revolutionszeit hindurch. 109 Und dort, wo die revolutionäre Mobilisierung zu einem Wechsel der Gemeindebehörden führte, geschah das nicht immer im Sinne einer Radikalisierung, eines >LinksrucksBürgermeisterrevolution< unterscheiden: eine erste zu Beginn der Revolution im Frühjahr, vor allem im März und April 1848; eine zweite, eher noch schwächere, im Spätherbst und Winter 1848/49, die vor allem seit dem Jahreswechsel von einer Kampagne der republikanischen Presse gegen noch amtierende regierungstreue Bürgermeister in kleineren Gemeinden begleitet und zu fördern versucht wurde. Die in der ersten Phase der Revolution vor allem in Südbaden etablierten >Komitees< oder >Wohlfahrtsausschüsse< vermochten die regulären Gemeindebehörden nicht zu verdrängen und kooperierten sogar vielfach, wie in Konstanz, mit diesen; in den größeren Städten der nördlichen Landeshälfte, in Karlsruhe, Mannheim und Heidelberg, scheiterten eher zaghafte Versuche, einen solchen Ausschuß neben dem Gemeinderat und zu seiner Kontrolle ins Leben zu rufen. 110 In der ehemaligen Reichsstadt Zeil zwang eine Gemeindeversammlung den Bürgermeister Hartig im März 1848 zum Rücktritt, der aber offenbar vor allem wegen seiner unzuverlässigen Amtsführung und auch vom gemäßigteren Teil der Bürgerschaft gefordert worden war.111 Radikalisiertem politischem Druck mußten dagegen zur selben Zeit mehrere Bürgermeister und Gemeinderäte im Amtsbezirk Philippsburg 330 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35765-2
weichen; auch in der Amtsstadt selber legten Bürgermeister, Gemeinderat und Kleiner Bürgerausschuß ihre Mandate nieder, nachdem ihnen eine Gemeindeversammlung das Vertrauen der Bürgerschaft entzogen hatte. 112 Der Stockacher Bürgermeister Sebastian Straub, der erst 1844 sein Amt übernommen hatte, im Vormärz als radikal galt und mit Hecker eine enge, freundschaftliche Korrespondenz führte, verweigerte sich im Frühjahr 1848 aktiv der weiteren Radikalisierung und den republikanischen Bestrebungen im Seekreis, die auch von Teilen des Gemeinderates und des Bürgerausschusses unterstützt wurden, und legte deshalb Ende April sein Amt nieder. 113 Bei den Bürgermeisterwahlen in Donaueschingen, die hier regulär im Frühjahr 1848 stattfanden, zeigte sich die Radikalisierung des Ortes in der Wahl des entschieden republikanischen Kandidaten Raus. 114 Das politische Instrument der Gemeindeversammlung aller Bürger, von dem im Frühjahr 1848 fast alle badischen Gemeinden Gebrauch machten, verstärkte in der Revolution die plebiszitären und egalitären Elemente in der Gemeindepolitik: Auch dort, wo die Gemeindeversammlung dem Rat und Ausschuß nicht das Vertrauen entzog, sahen sich diese Gremien vermutlich einem verstärkten Legitimationsdruck gegenüber der Bürgerschaft als ganzer ausgesetzt. In einigen Städten artikulierte sich auf diese Weise zugleich das Begehren nach einer institutionellen Demokratisierung der Gemeindepolitik: nach einer Abschaffung des durch das Gesetz von 1837 gegen den Willen vieler Liberaler eingeführten Instituts des Großen Bürgerausschusses, und dabei richtete sich das Unbehagen, wie man den vorgebrachten Begründungen entnehmen kann, sowohl gegen die nicht mehr für zeitgemäß gehaltene Ungleichheit der Wahlchancen aufgrund des Steuerkapitals, wie sie das Dreiklassenwahlrecht festlegte, als auch gegen das Recht des Großen Ausschusses zur Wahl der übrigen Gemeindebehörden, also gegen die indirekte Wahl, gegen eine >Aristokratisierung< der Gemeindepolitik: Die Gemeindeversammlung müsse, forderte etwa die »Mannheimer Abendzeitung«, »selbst wieder die Souveränitätsrechte ausüben«. 115 Die Forderung, das Gemeindewahlrecht durch eine Ausdehnung auf alle (männlichen, erwachsenen) Einwohner zu erweitern und damit entweder vom Gemeindebürgerrecht abzulösen oder dieses entsprechend auszudehnen, erhob der badische Radikalismus und Republikanismus dagegen zu keinem Zeitpunkt: Der Bürgerverband, die Gemeindekorporation blieb auch für ihn die nicht in Zweifel gezogene Grundlage der lokalen und staatlichen Politik. Nachdem der konservative Freiburger Bürgermeister Wagner am 7. März unter dem Druck der Liberalen seinen Rücktritt erklärt hatte und daraufhin sämtliche Gemeinderatsmitglieder ebenfalls ihr Mandat niederlegten, 116 richteten einige liberale Bürger, die sich im Kreise der Lesegesellschaft darüber beraten hatten, drei Tage später einen Antrag an das Stadtamt, der eine Neuwahl des Bürgermeisters durch Urwahl und außerdem 331 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35765-2
eine Gemeindeversammlung forderte, um dort über eine Abschaffung des Großen Ausschusses beschließen und zugleich in einer Petition die Aufhebung des Gemeindegesetzes vom August 1837 verlangen zu können. l l 7 Von 1.532 stimmberechtigten Bürgern der Stadt erschienen eine Woche später immerhin 1.027, also etwas mehr als zwei Drittel, zu der anberaumten Gemeindeversammlung, sprachen sich »fast mit Stimmeneinhelligkeit« für die Abschaffung des Großen Bürgerausschusses aus und formulierten in der Petition, »daß in heutiger Zeit eine vorzügliche bürgerliche Berechtigung, welche sich auf das Steuerkapital stützt, und eine Einteilung der Bürger nach Steuerklassen nicht mehr paßt; die Gemeinde will, daß jeder Bürger gleiches Stimmrecht ausüben könne.« 118 Offensichtlich von der Märzeuphorie angesteckt, genehmigte die Regierung des Oberrheinkreises diesen Gemeindebeschluß noch am selben Tage und ohne sich beim Innenministerium rückzuversichern; 119 bei den am 27. und 28. März abgehaltenen Bürgermeistcrwahlen siegte der Breisacher Amtmann Joseph v. Rotteck - der Neffe Karl v. Rottecks, der von 1833 bis zur Wahl Wagners 1839 schon einmal Freiburger Bürgermeister gewesen w a r - mit der überwältigenden Mehrheit von 1.016 der 1.100 abgegebenen Stimmen. 120 In ganz ähnlichen Bahnen verlief zwischen April und Juli 1848 die Entwicklung in Durlach bei Karlsruhe, wo der Druck der Radikalen auf den gemäßigt-konservativen Bürgermeister Wahrer und den ihm folgenden Gemeinderat in dem Maße zunahm, wie Wahrer sich gegen die revolutionäre Stimmung des >zeitgemäßen Fortschritte sperrte. Die Radikalen, die eine Mehrheit der Durlacher Bürgerschaft hinter sich wußten, zielten hier von vornherein auf eine Auflösung des Großen Bürgerausschusses, in dem sie ein »Werkzeug der Reaktion und der Stillstandspartei«, das »durchaus nicht die Gesinnung der Bürger vertritt«, sahen, 121 und erreichten schließlich Ende Juni den Rücktritt Wahrers und des gesamten Gemeinderates. Wie in Freiburg beschloß auch hier eine Gemeindeversammlung die Aufhebung des Großen Bürgerausschusses; aus den unmittelbaren und direkten Neuwahlen im Juli ging der Wirt Eduard Kraft mit 500 zu 145 Stimmen als Sieger hervor, den die »Mannheimer Abendzeitung« als ebenso »bieder und besonnen« wie »entschieden republikanisch« charakterisierte 122 - das waren im zeitgenössischen Selbstverständnis des Gemeindebürgertums in der Tat keine Gegensätze, sondern geradezu komplementäre Eigenschaften. - A b e r obwohl die radikale Presse gelegentlich, wenn auch nicht sehr vehement, forderte, die »ursprünglichen Bestimmungen des Gemeindegesetzes überall« wiederherzustellen, also den Großen Ausschuß in allen Städten des Großherzogtums wieder abzuschaffen, 123 fand das Freiburger und das Durlacher Beispiel auch in den radikalsten Städten zunächst kaum Resonanz. Ein wesentlicher Grund dafür lag darin, daß das Institut des Großen Ausschusses in der Revolution wie schon im Vormärz von allen Parteien 332 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35765-2
opportunistisch beurteilt wurde, je nachdem, ob sie sich von seiner Existenz eine Stärkung ihrer eigenen Machtposition in der Gemeinde erwarten konnten; und ob die Radikalen oder ihre Gegner von der >Mediatisierung< der Gemeindepolitik durch einen Ausschuß profitierten, hing ganz von der konkreten lokalen Situation ab. 124 Die grundsätzlich gegen den Großen Ausschuß vorgebrachten Argumente in Freiburg und Durlach waren insofern nur ein Teil der Wahrheit. In Bruchsal stand der 1844 gewählte und ursprünglich zur Opposition zählende Bürgermeister Schmidt im Frühjahr 1848 zunehmend gegen die Revolution und damit auch gegen den radikalrepublikanischen Gemeinderat, und dieser Konflikt veranlaßte ihn zum Rücktritt, den in der darauf folgenden unruhigen Stimmung in der Gemeinde auch die Schmidt politisch entgegenstehenden Gemeinderäte erklärten. 125 Die Anhänger des sehr populären Bürgermeisters erreichten daraufhin die Auflösung des Großen Bürgerausschusses und verhinderten damit eine weitere Radikalisierung der Bruchsaler Gemeindepolitik: Bei den unmittelbaren Wahlen wurde Schmidt sogar einstimmig wiedergewählt. In Karlsruhe blieb der Ausschuß zwar unbestritten, doch geriet der Gemeinderat Advokat Ziegler wegen seiner demokratisch-republikanischen Sympathien unter Beschüß, erklärte seinen Rücktritt und wurde bei den darauffolgenden Gemeinderatswahlen im Dezember 1848 nicht wiedergewählt. 126 Hier wie in anderen eher gemäßigt-regierungstreu dominierten Gemeinden, die angesichts der Revolution den Radikalismus erst recht perhorreszierten, konnte die >Gemeinderevolution< also gerade das Gegenteil einer weiteren politischen Radikalisierung bedeuten, doch blieben auch dies, auf's ganze gesehen, Ausnahmen. Eine (wenn auch äußerst aufschlußreiche) Ausnahme blieb genauso der Angriff der konservativen Partei auf eine etablierte radikale Gemeindefìihrung, der von dem Bedeutungsgewinn plebiszitärer Politik und unmittelbarer Bürgerpartizipation in der Revolution profitierte: In Wiesloch versuchten die hier wie vielerorts im Nordosten des Großherzogtums als > Aristokraten« bekannten Konservativ-Regierungstreuen im März 1848, die revolutionäre Stimmung und die Unzufriedenheit vieler Bürger auszunutzen, um die herrschende radikale Partei im Gemeinderat, die durch einen entsprechend gesinnten Großen Ausschuß >abgesichert< war, anzugreifen. Auf einer geschickt inszenierten Gemeindeversammlung am 27. März, die später von den Radikalen als »durch Gewaltstreich zusammengebrachte Anhäufung von Anträgen« charakterisiert wurde, 127 machten sich die Konservativen zum Fürsprecher der ökonomisch-sozialen Probleme vor allem der ärmeren Bürger und verbanden damit einen Angriff auf die bisherige Gemeindeführung: Zwischen Anträgen auf Verteilung der Allmende - für viele ein besonders attraktiver >Lockvogel< - , auf das Ende der Unterstützung unehelicher Kinder durch die Gemeindekasse, auf Zahlungsaufschub 333 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35765-2
für ärmere Patienten bei den Apothekern und auf eine Verweigerung der Bürgeraufnahme von Juden >versteckten< sie die Anträge auf eine Aufhebung des Großen Ausschusses und auf Auflösung und Neuwahl des Gemeinderates und kleinen Bürgerausschusses, mit denen sich die Gemeindeversammlung wie mit allen übrigen Anträgen einverstanden erklärte. 128 »Eine gewisse Anzahl Bürger in der Gemeinde Wiesloch«, beschrieben die Gemeinderäte der Fortschrittspartei die Taktik ihrer Gegner, »welche seit einigen Jahren aristokratische Ansichten verteidigte, suchte die ärmere Klasse dadurch für sich zu gewinnen, daß man ihnen die Austeilung der Stadtgüter zum Genusse in Aussicht stellte, was beim Lichte der Neuzeit betrachtet, von jener Seite her, wie eine hohe aristokratische Gnade und machiavellistische Concession erscheinen möchte.« 129 Das war wohl nicht zu bestreiten - aber die Radikalen verschmähten normalerweise die gleichen Mittel nicht, um ihre Anhängerschaft zu rekrutieren; und in Wiesloch hatten sie es offenbar versäumt, die Legitimation ihrer Herrschaft durch die Gewährung materieller Anreize - wenn schon nicht durch genuine politische Überzeugung - hinreichend breit abzusichern. Auch in diesem Fall wurde die Genehmigung, die ursprüngliche Fassung der Gemeindeordnung wiederherzustellen, anstandslos erteilt und im übrigen die Neuwahl der Gemeindebehörden angeordnet, 130 aber der Konflikt zog sich noch über mehr als ein Jahr hin, in dem die, wie sie es sahen, manipulativ entmachteten Gemeinderäte bei den Staatsbehörden immer wieder gegen die Beschlüsse der Gemeindeversammlung intervenierten. 131 Nach dem gescheiterten Aufstand Heckers kehrte seit dem Mai 1848 jedoch allgemein eine stärkere Ruhe in den Gemeinden ein; zum Teil erzwungen durch die rigorose Verfolgung der an Heckers Zug Beteiligten oder mit ihm Sympathisierenden, stärker aber wohl durch eine davon unabhängige Erschöpfung der ersten revolutionären Energien - eine >Revolutionsflaute< im Sommer 1848 läßt sich in den meisten deutschen Staaten beobachten. Wo sich im Vormärz ein lokales Konfliktpotential aufgebaut hatte, war es im März oder April schnell aufgebrochen; außerdem richtete sich das politische Interesse danach auf die »Verrechtlichung der Revolution«, 132 auf die Arbeit des Frankfurter Parlamentes und die Fortschritte der badischen Zweiten Kammer bei der Verwirklichung der Reformbeschlüsse des 2. März. Erst als in der Folge des zweiten republikanischen Aufstandes im September und angesichts einer wachsenden Unzufriedenheit mit den nur zäh erreichten Ergebnissen der >Verrechtlichung< im Herbst und Winter eine neue Radikalisierungsdynamik die breite Bevölkerung erfaßte - darauf wird im übernächsten Abschnitt ausführlicher zurückgekommen - , vermehrten sich auch solche Konflikte in der gemeindlichen Politik wieder, in denen die Parteien um die Herrschaft in den Gemeindebehörden stritten, und immer stärker wurden diese Konflikte von der republikanischen Presse 334 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35765-2
aufgegriffen und in eine allgemeine Kritik an einigen Bestimmungen der Gemeindeordnung überfuhrt, die unmittelbar auf die entsprechenden Bestrebungen der republikanischen Revolution des Frühjahrs 1849 verweist. Dabei stand auch weiterhin die Einrichtung des Großen Bürgerausschusses in manchen Orten im Mittelpunkt des Interesses, doch blieb die mit ihm verbundene Grundsatzfrage nach einer Demokratisierung der Gemeindepolitik nach wie vor parteipolitischen Opportunitätsgesichtspunkten untergeordnet. In der Festungsstadt Rastatt, die im Vormärz nie durch besonderen Oppositionsgeist aufgefallen war, endeten die Ergänzungswahlen zum Großen Ausschuß im Januar 1849 mit einem klaren Sieg der Radikalen, die im »Bürgerverein« ihre organisatorische Basis und in dem Spediteur Müller ihren führenden Kopf hatten. Sein Namensvetter, der Bürgermeister Müller, der vom »Vaterländischen Verein« unterstützt wurde, trat daraufhin zurück. 133 Die Liberal-Konservativen setzten sich jetzt dafür ein, die Wahlen entweder für nichtig zu erklären - dafür ließen sich aber offenbar keine formalen Beanstandungsgründe finden - oder, diese Strategie erschien erfolgversprechender, den Großen Ausschuß ganz aufzulösen und abzuschaffen. Anfang Februar gingen Unterschriftenlisten für ein entsprechendes Begehren in der Stadt herum, auf denen der Auflösungswunsch damit begründet war, daß »der große Bürgerausschuß eine Behörde sei, welche den einzelnen Bürger bevormunde, ihn eines seiner wichtigsten Rechte, nämlich des Stimm- und Wahlrechts beraube und ihm nicht diejenige rege Teilnahme an den öffentlichen Angelegenheiten gestatte, welche für unsere Zeit zu wünschen wäre«. 134 Damit stimmten die Radikalen sogar grundsätzlich überein, und deshalb erhielt der Antrag genügend Unterschriften, um eine Gemeindeversammlung einberufen und über den Großen Ausschuß abstimmen zu können. Auf dieser Gemeindeversammlung jedoch, in der machtpolitisch entscheidenden Situation also, drängte die Parteienpolarisierung den radikalen Wunsch nach stärkerer unmittelbarer Bürgerpartizipation in den Hintergrund: 276 Anhänger der »Vaterländischen« votierten für die Abschaffung des Ausschusses, 332 Anhänger der Radikalen stimmten erfolgreich für seine Beibehaltung. 135 In dieser zweiten Phase der >Gemeinderevolution< traten jedoch Bürgermeisterwahlen und an ihnen sich entzündende Konflikte gegenüber dem Problem des Großen Bürgerausschusses immer stärker in den Vordergrund. Vor allem in zahlreichen kleineren Gemeinden, aber auch in der größten Stadt des Großherzogtums, in Mannheim, lief im Winter oder Frühjahr 1849 die sechsjährige Amtszeit des Bürgermeisters aus; dazu kamen einige unter dem wachsenden Radikalisierungsdruck erfolgte Rücktritte. 136 Im politisch den ganzen Vormärz hindurch und trotz der spezifischen Mobilisierung durch die >Agrarrevolution< auch noch im Frühjahr 1848 gegenüber dem Rheintal und dem Süden des Landes rückständigen Nordosten hatte 335 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35765-2
sich seit dem Herbst 1848 ein Stimmungsumschwung zugunsten der Republikaner vollzogen, der sich einerseits in der Vereinsbildung manifestierte, 137 dessen Ernte andererseits - und wiederum organisatorisch durch die jeweiligen Volksvereine unterstützt - in radikalen Siegen bei Bürgermeisterwahlen eingefahren wurde, durch die viele der regierungstreuen >Amtsbürgermeister< ihren Posten verloren. In Sinsheim besiegten die hier so genannten Demokraten die Konstitutionellen bei den Gemeinderatswahlen Anfang Dezember 1848; 138 in der kleinen Nachbargemeinde Richen lösten ebenso wie in Walldorf, Dossenheim und Tauberbischofsheim im März 1849 entschiedene Demokraten die bisherigen regierungstreuen oder gemäßigtliberalen Bürgermeister ab. 139 In der radikalisierten ländlichen Politik bedeutete >Demokrat sein< nicht zuletzt, wie es der Ideologie des badischen Liberalismus seit dem Vormärz entsprach, für das >Volk< und gegen die >Regierung< zu sein; und die Wahlerfolge der >Demokraten< im Winter und Frühjahr 1849 gründeten deshalb wesentlich auf der konkreten Erwartung, die neuen Bürgermeister würden »den Einflüsterungen der Beamten kein Gehör geben«. 140 Diese Wahrnehmung spitzte sich im Verlaufe der Revolution noch einmal zu, als in den ersten Monaten des Jahres 1849 wie schon im Vormärz mehrere gewählte Bürgermeister von den Staatsbehörden aus politischen Gründen nicht bestätigt wurden. Teilweise konnten dafür formalrechtliche Gründe vorgeschoben werden wie in dem kleinen Ort Rust bei Ettenheim, wo der siegreiche Kandidat der Radikalen noch kein volles Jahr sein Bürgerrecht angetreten hatte; daß aber ohne eine Wiederholung der Wahl der unterlegene regierungstreue Kandidat in das Amt eingewiesen wurde, konnte als »arger Hohn auf die Gemeindeordnung« und erneute Bestätigung der demokratische Entscheidungen mißachtenden Bürokratenherrschaft empfunden werden. 141 Eine erheblich verstärkte Sensibilisierung für dieses Problem hatte bereits seit dem Januar 1849 die Mannheimer Bürgermeisterwahl bewirkt. Ludwig Jollys zweite sechsjährige Amtszeit lief Ende 1848 aus, er kandidierte erneut, hatte aber in Lorenz Brentano einen prominenten und dezidiert radikalen, ja republikanischen Gegenkandidaten, der sich bei der Wahl durch den Großen Bürgerausschuß am 1 1 . Januar mit 109 zu 88 Stimmen durchsetzen konnte. 142 Mit dem Hinweis auf die Funktion Brentanos als Vorstand des Landesausschusses der Volksvereine in Baden lehnte das Stadtamt seine Bestätigung ab, und trotz mehrfacher Beschwerden und Rekurse der Mannheimer Gemeindebehörden, trotz des ungünstigen Eindrucks, den dieser Vorgang im ganzen Land von der ohnehin immer mehr an Vertrauen verlierenden Regierung erweckte, wurde diese Ablehnung von allen Instanzen bis hinauf zum Karlsruher Staatsministerium bestätigt. 143 Immerhin wurde nicht Jolly als Bürgermeister eingesetzt, sondern eine neue Wahl angeordnet, bei der am 2 0 . April wiederum Brentano, 336 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35765-2
wenn auch mit der geringfügig knapperen Mehrheit von 118 zu 100 Stimmen, siegte - doch diese Wahl erhielt erneut nicht die amtliche Bestätigung, 144 und es nützte vorläufig auch nichts, daß die Radikalen auf den § 184 der inzwischen in Baden verkündeten Reichsverfassung hinwiesen, der den Gemeinden ein uneingeschränktes Wahlrecht ihrer Vertreter garantierte. Ì4S Vermutlich hätte Brentano bei einer unmittelbaren Wahl noch besser abgeschnitten, aber die Mannheimer Radikalen verzichteten auf eine entsprechende Forderung, weil die Ausschaltung des Großen Ausschusses ihnen wenig genützt hätte und einem direkt gewählten Bürgermeister Brentano ebenso die Bestätigung versagt worden wäre. »Der Wille einer Bevölkerung von 24.000 Seelen muß sich fügen dem Willen, ja vielleicht den Launen eines oder einiger Bureaukraten«: 146 In dieser anscheinend strukturell vorgegebenen Mißachtung des Volkswillens in einem monarchisch-bürokratischen Staat sah der Radikalismus das Kernproblem, und insofern trug auch die konkrete kommunalpolitische Erfahrung im >Fall Brentano< dazu bei, die Alternative der Republik für viele erneut ein Stück plausibler zu machen. Die häufig noch fehlende Unabhängigkeit der Gemeindebehörden, die mangelnde Selbständigkeit der Gemeinden gegenüber dem Staat war auch einer jener Punkte, die der republikanische »Volksführer« im Frühjahr 1849 im Rahmen einer regelrechten Pressekampagne immer wieder hervorhob, um den politischen Druck auf >Amtsbürgermeister< und überhaupt auf Gemeindevorgesetzte, die nicht mehr im Einklang mit dem Willen der Mehrheit der Bevölkerung standen, zu erhöhen. 147 Vielen Bürgermeistern in kleineren Gemeinden wurde vorgeworfen, ungerechtfertigt hohe Gebühren zu kassieren und sich so auf Kosten der ärmeren Bürger zu bereichern; 148 in den ehemals grund- und standesherrlichen Gemeinden amtierten trotz der Abschaffung der Vorrechte der Grund- und Standesherren durch die Grundrechte der Paulskirche die von den Adligen mitbestimmten Bürgermeister weiter: Für alle diese Gemeinden forderten die Radikalen vollständige Neuwahlen. 149 Auf diese Weise wurde das kommunalpolitische Programm der republikanischen Mairevolution vor allem seit dem Jahresbeginn 1849 konkret vorgeformt - es beruhte nicht auf den staatsrechtlichen Dogmen einer Gemeindetheorie, sondern auf der gemeindlichen Konflikterfahrung der Revolution und des Vormärz. Und diese Konflikte wiesen, das erwarteten die republikanischen Zeitgenossen ganz ausdrücklich, von der Gemeinde über diese hinaus: Durch »heftige und leidenschaftliche Lokalkämpfe«, prognostizierte die »Oberrheinische Zeitung« im Januar 1849, erwerbe sich »das Volk die politische Erfahrung, woran es ihm anfangs gefehlt«, und »alle diese vereinzelten Bewegungen« könnten sich in eine »Allgemeine« vereinigen. 150
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4. Revolutionsideologie und Republikanismus an der Basis Entsteht republikanische Gesinnung und republikanische Politik aus der Anwendung abstrakter Prinzipien oder aus längerfristiger Konflikterfahrung im konstitutionellen und >spätabsolutistischen< Staat? Während die »Neue Rheinische Zeitung« im Januar 1849 über die badischen Radikalen spottete: »Man wird durch das constitutionelle Staatsleben so wenig Republikaner, als man durch fleißiges Spazierengehen schwimmen lernt«, 151 erkannte sie damit trotz ihrer dogmatischen Verachtung des >kleinbürgerlichen< Charakters der badischen Revolution doch, daß diese als der (nach ihrem Standpunkt grundsätzlich unmögliche) Versuch zu verstehen war, praktische Konsequenzen aus jener für den vormärzlichen Konstitutionalismus charakteristischen und kaum irgendwo schärfer als in Baden ausgeprägten Doppelsituation einer breiten und erfolgreichen Partizipation einerseits, von politischer Repression und Bevormundung andererseits zu ziehen. »Es ist ein großer Irrtum zu glauben, daß die republikanische Bewegung in Baden aus Nichts aufgetaucht in Nichts zurückgefallen sei«, urteilte deshalb Carl Morel unmittelbar nach dem Scheitern des Aprilaufstandes aus dem Schweizer Exil und prophezeite damit zugleich gegen triumphierende Konstitutionelle und deprimierte Radikale, daß die Geschichte des badischen Republikanismus noch nicht zu Ende sei: »Wer es weiß, wie eine ziemlich feste politische Überzeugung im Volke Wurzel gefaßt hatte, wie sehr einfache Staatseinrichtungen allgemeines Volksbedürfnis geworden, (...) wie die Streiter der Republik gleichsam aus dem Boden heraus wuchsen, - wer all dies gesehen hat«, gab er sich sehr optimistisch, »der wird, wenn die Reaktion auch jetzt gesiegt zu haben scheint, an einer baldigen Erhebung nicht zweifeln, und nicht nur in Baden.« 152 Wenn der Republikanismus »aus dem Boden«, aus dem Alltag der Gemeindepolitik »herauswuchs«, konnte das freilich auch heißen, daß er diesen hinter sich ließ und die gemeindebürgerlichen Probleme und Konflikte Kontinuität gegenüber dem politischen Paradigmawechsel bewiesen. Die Gemeindepolitik hatte sich ja bereits im Vormärz verändert - und insofern sie sich nicht oder nur wenig verändert hatte, nämlich im Hinblick auf den traditionell-rechtlichen und sozioökonomischen Handlungsraum der Bürgerkorporation, tat sie das auch 1848/49 nicht, im Gegenteil: Der Partizipationsschub des Frühjahrs 1848 löste eine Lawine von Petitionen aus, die unberührt von der Frage nach Staatsform oder Nation traditionelle, lokalistische Probleme der Bürgergemeinden, ja einzelner Bürger zur Sprache brachten. Am 1. Mai 1848 berichtete die Petitionskommission der Zweiten Kammer, und das ist ein ebenso willkürlich herausgegriffenes wie typisches Beispiel, über Petitionen der Gemeinden des Bezirks Offenburg, das Branntweinkesselgeld betreffend; über mehrere Petitionen wegen der 338 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35765-2
Eisenbahntarife für Transitgüter; über eine Petition des Kaufmanns Rauch in Grafenhausen um den »Schutz seiner Nahrung«; über acht die Hagelversicherung betreffende Petitionen 152 - der >Alltag< der Gemeinden änderte sich insofern in der Revolution nicht, und solchen Petitionen war auch nicht anzusehen, ob sie von republikanischen oder konstitutionell-konservativen Bürgern verfaßt waren. Von der Bedeutung der Probleme, die in diesen Eingaben zur Sprache kamen, kann man auch nicht einfach auf Grenzen der revolutionären Politisierung schließen, denn dieselben Bürger mochten nach Unterzeichnung einer solchen Petition über die Frage >Republik oder konstitutionelle Monarchie>< streiten, allenfalls also auf ein eigentümlich gespaltenes politisches Bewußtsein, auf eine fortbestehende Dissoziation zweier Welten bürgerlicher Erfahrung und bürgerlichen Handelns innerhalb desselben Milieus und geographischen Ortes. Aber das wiederum war nicht unbedingt eine badische, auch nicht eine deutsche Besonderheit: Die Verbindung von >moral economy< und politischem Radikalismus prägte alle, auch die erfolgreichsten, bürgerlich-republikanischen Bewegungen des 17. bis 19. Jahrhunderts und war sogar eine wesentliche soziale Bedingung ihres Erfolges. Bestrebungen, die sich auf eine grundsätzliche Revision von Gemeindeordnung und Bürgerrechtsgesetz richteten, fehlten deshalb, wie vorn schon erwähnt, in der badischen Revolution fast völlig; nur hier und da geriet zunächst der Große Bürgerausschuß im Interesse einer weiteren Demokratisierung der Gemeindepolitk unter Beschuß, und es war auch eher untypisch, wenn Bürger in Mannheim und Freiburg sich dafür einsetzten, daß die Sitzungen des Gemeinderates in Zukunft öffentlich abgehalten würden - und bezeichnend, daß die Gemeinderäte beider Städte dieser Forderung keineswegs bereitwillig nachgaben. In Mannheim hatte der »Vaterländische Verein« Anfang Juni 1848 vorgeschlagen, die Protokolle der Ratssitzungen ebenso wie die Ergebnisse mündlicher Verhandlungen des Gemeinderates mit den Staatsbehörden in den lokalen Zeitungen zu veröffentlichen, aber der Gemeinderat verwies in seinem Beschluß vom 6. Juni, obwohl mit dem Grundsatz der Öffentlichkeit »völlig einverstanden«, auf eine Reihe formaler und sachlicher Hinderungsgründe: Da ein großer Teil der Beratungen persönliche Angelegenheiten betreffe, sei Öffentlichkeit hier »untunlich«; was aber von »allgemeinem Interesse« sei, werde auch weiterhin wie bisher schon in die Presse gelangen. 154 Im Dezember 1848 wurde dieselbe Forderung von 136 Bürgern auch an den Freiburger Gemeinderat herangetragen, der die Gewährung der Öffentlichkeit, nachdem er sich beim Mannheimer Gemeinderat über dessen Entscheidung informiert hatte, ebenfalls versagte. 155 Und selbst als eine erneute Eingabe im März sich auf den durch die Frankfurter Nationalversammlung ausgesprochenen Grundsatz der Öffentlichkeit der Gemeindeberatungen berief, wehrte der Gemeinderat das noch 339 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35765-2
mit dem Hinweis auf die bisher fehlende Publikation dieser Beschlüsse im Reichsgesetzblatt oder im Badischen Regierungsblatt ab. 156 Für die Gemeinden standen während der Revolution, was ihre inneren Angelegenheiten betraf, ökonomische und finanzielle Probleme weitaus stärker im Vordergrund als Partizipationsfragen. Die im November 1844 nach langer Diskussion schließlich zustandegekommene Verordnung über die »Führung und Stellung der Gemeinderechnungen«, im Grunde eine letzte Ergänzung zur Gemeindeordnung von 1831, 1 5 7 wurde vor allem in den kleineren Gemeinden des Großherzogtums als viel zu kompliziert empfunden; dazu kam der in der ökonomischen Krise seit 1846 gewachsene Finanzbedarf der Gemeinden, der die Bürgerumlagen in die Höhe trieb: Beiden Problemem diente die Revolution als Ventil, um in Petitionen immer wieder die Vereinfachung des Gemeinderechnungswesens und überhaupt eine dauerhafte Sicherung der Gemeindefinanzen zu fordern. 158 Im Januar 1849 erging eine neue Verordnung über das Gemeinderechnungswesen, die sich sogar in der Präambel ausdrücklich auf die vielfachen Beschwerden über die bisherigen Vorschriften berief,159 aber ungleich schwieriger war die Frage der gestiegenen Bürgerumlagen zu behandeln. Von keiner Seite wurde die Revolution zum Anlaß genommen, mit dem offensichtlich ökonomisch überforderten System der Bürger- und Umlagegemeinde radikal zu brechen; im Gegenteil: In der Revolution wurden >konservative< Forderungen nach einer wirkungsvolleren Abschottung der Bürgergemeinde nach außen heftig wie kaum je zuvor artikuliert. Diese Forderungen richteten sich nicht nur auf eine Erhöhung der Bürgerannahmegelder, also auf die Erschwerung des Zugangs zum lokalen Bürgerverband, 160 sondern teilweise auch auf eine wieder stärker akzentuierte innere Differenzierung des Gemeindebürgertums entlag der Linie, die bis 1832 die Ortsbürger von Schutzbürgern und Hintersassen getrennt hatte: So bekundeten Durlacher Bürger im Frühjahr 1848 ihren Widerstand gegen das (nach dem Bürgerrechtsgesetz ja nicht plötzlich vollzogene, sondern sukzessiv zu geschehende) Einrücken der ehemaligen Schutzbürger in die Bürgergenußberechtigung und versuchten die Rechtsfiktion eines rein privatrechtlichen Bürgerverbandes noch einmal gegen den 1832 durchgesetzten öffentlich-rechtlichen Charakter der Gemeinde zu beschwören. 161 Aber das war eine Ausnahme, denn zur Erlangung und Sicherung kommunalpolitischer Macht kam es eher darauf an, wie wir am Beispiel Wieslochs oder auch Ettlingens gesehen haben, der Unterschicht zusätzliche materielle Vorteile zu gewähren anstatt die bestehenden zu verweigern. Erfolg hatten diese und andere Bemühungen um eine Rückwärtsrevision des Bürgerrechtsgesetzes in der Revolution jedenfalls nicht. Die ganze Ambivalenz >bürgerlicher< Mobilisierung in den Gemeinden bekamen jedoch, nicht zuletzt im Zusammenhang mit Bürgerrechtsfragen, 340 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35765-2
die badischen Juden zu spüren 162 - und zumal in diesem Fall war diese Ambivalenz ein Erbe des Vormärz, in dem der ländliche Radikalismus seine Vorbehalte, ja seine offene Feindschaft gegenüber den Juden nie abgelegt hatte. »Von den Rechten der christlichen Glaubensgenossen/ Sind die Juden teilweis ausgeschlossen,/ Man arbeitet an ihrer Emancipation,/ Doch halte ich meinesteils nicht viel davon«, dichtete etwa der »Altvogt Andres« 1843 in seinen Lobgesang auf die badische Verfassungsurkunde hinein und wußte auch, warum er dagegen war: Weil die Juden »in unsre bürgerliche Gesellschaft nicht passen.« 163 Während die staatsbürgerliche Gleichberechtigung der Juden durch verschiedene Gesetze der Revolutionsjahre weithin erreicht wurde, blieb das Problem der gemeindebürgerlichen Emanzipation bis 1862 ausgeklammert, und zwar von Landtag und Regierung aus ganz bewußt, denn angesichts der den Juden »ungünstigen« Stimmung des Frühjahrs 1848, so stellte der Abgeordnete Zittel fest, empfehle sich ein schnelles Vorangehen in dieser Frage nicht. 164 Damit spielte Zittel auf die zahlreichen antijüdischen Pogrome im März und April an, bei denen in vielen badischen Gemeinden, vor allem im ländlichen und kleinstädtischen Nordosten, jüdische Bürger bedroht und ihre Häuser angegriffen worden waren. 165 Von den Gewaltausbrüchen erschreckt, verteidigten die Gemeinden allerdings auch häufig sehr dezidiert ihre jüdischen Mitbürger; in Mannheim, wo nach dem Urteil der »Deutschen Zeitung« »nicht die Juden, wohl aber Jeder, der sich unterfangen würde, sie zu verletzen, Gefahren ausgesetzt« war, 166 erschien schon am 8. März ein unter anderem von Hecker, Itzstein, Mathy und Bassermann unterzeichneter Aufruf zum Schutz der Juden, in Tauberbischofsheim stellte der dortige Bürgerverein die Juden (und die Beamten!) unter seinen besonderen Schutz, in Breisach erklärten sich die christlichen Bürger ebenfalls mit ihren jüdischen Mitbürgern solidarisch. 167 Unter der Oberfläche der für Aufsehen sorgenden Unruhen, die auch schnell wieder aufhörten, vollzogen sich aber in mehreren Orten Nordbadens subtilere Angriffe auf die gemeindebürgerlichen Rechte von Juden. Nach den Krawallen in Bretten am 6. März drängte ein großer Teil der Bürgerschaft, unterstützt vom Gemeinderat und offensichtlich sogar vom Bezirksbeamten, die jüdischen Bürger am folgenden Tage unter Androhung weiterer Gewalt gegen sie zu einer schriftlichen Erklärung des Verzichts auf ihre Rechte, insbesondere auf ihren Anteil am Bürgergenuß. Gegen die spätere Behauptung des Gemeinderates - erst 1850 wurde der >Verzicht< von den Staatsbehörden für nichtig erklärt - , »die hiesigen Israeliten nötigten uns im eigentlichen Sinne des Wortes zur Annahme des Verzichts«, stellten die Brettener Juden fest, daß die Aufforderung zur Verzichterklärung sogar vom Gemeinderat ausgegangen sei.168 In Heideisheim bei Bruchsal stellte ein unter ähnlichen Umständen zustandegekommener Vertrag zwi341 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35765-2
schen der Gemeinde und den jüdischen Bürgern und Einwohnern deren >Verzicht< auf den Allmendgenuß fest,169 während man sich in Walldorf erst gar nicht die Mühe eines Vertrages machte, um den jüdischen Bürgern ihren Bürgernutzen zu entziehen. Hier intervenierten die Staatsbehörden immerhin schneller und entschiedener, aber ihre Feststellung, dem >Verzicht< komme keinerlei Wirkung zu, sorgte im Januar und Februar 1849 angesichts der noch andauernden revolutionären Mobilisierung und dem sogar fortschreitenden Legitimationsverlust der Staatsbehörden nur für weitere Unruhen in der Stadt, gegen die auch die Drohung mit militärischer Einquartierung kaum etwas nützte. 170 Andererseits konnte die Revolution, vor allem in den größeren Städten, einen Fortschritt für die gemeindebürgerliche Gleichberechtigung der Juden bedeuten, auch wenn Konflikte innerhalb der Bürgerschaft dabei nicht ausblieben. In Freiburg erhielt am 27. Februar 1849 der Rechtsanwalt Naphtali Näf als erster Jude überhaupt das städtische Bürgerrecht durch den Gemeinderat verliehen, der sich dafür auf die inzwischen in Baden als Gesetz verkündeten Grundrechte der Paulskirche berufen konnte. Prompt traf eine Eingabe der Freiburger Handelskammer ein, die als eine »in ihren Interessen bedrohte Genossenschaft« vor einer »gänzliche(n) Umwälzung der bestehenden Verhältnisse« warnte, die aus der Entscheidung des Gemeinderats folgen müsse. 171 Ein Flugblatt mit derselben Stoßrichtung argumentierte, es sei nicht Aufgabe der Gemeindebehörde, »für allgemeine religiöse Tendenzen zu schwärmen«, sondern sie habe sich »für die politischen und bürgerlichen Zwecke der Stadt und ihrer Bürger zu interessieren; was das Wohl, den Verdienst, die Gewerbe erhebt und vergrößert, das ist ihre Sache.« 172 Gegen diesen Widerstand verteidigte der Gemeinderat seine Entscheidung zunächst erfolgreich auch gegenüber den Staatsbehörden aber am 16. Juni 1850 entzog er Näf, da die Grundrechte als Rechtsgrundlage durch das Scheitern der Revolution unwirksam geworden waren, das Bürgerrecht wieder. 173 Die Grundrechte ermöglichten zum ersten Mal auch den Zugang jüdischer Bürger zu den Ämtern eines Bürgermeisters und Gemeinderates. Bereits am 16. August wurde in Mannheim der Obergerichtsadvokat Elias Eller, schon seit längerem ein profilierter Vertreter der Mannheimer Radikalen, in den Gemeinderat gewählt; das Stadtamt erklärte die Wahl zunächst für ungültig, das Staatsministerium bestätigte sie Anfang 1849 jedoch. 174 In Karlsruhe gelangte ebenfalls 1848 ein jüdischer Bürger in den Gemeinderat, und sogar im kleinen Dorf Untergimpern im Amt Neckarbischofsheim wählten die Bürger im November 1848 einen jüdischen Mitbürger zum Ratschreiber. 175 Das waren gewiß Ausnahmen, aber zumal die Mannheimer Wahl und die Freiburger Bürgerrechtsentscheidung bestätigten doch, daß es auch einen positiven Zusammenhang zwischen Revolution und gemeinde342 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35765-2
bürgerlichem Fortschritt geben konnte, zwischen lokalem Liberalismus und Judenemanzipation, freilich als dezidiert vertretene Politik kaum außerhalb der großen Städte. Die Frage der jüdischen Gemeindebürgerrechte in der Revolution zeigt insofern vor allem, daß sich in dieser Hinsicht die politischen Parteien nicht grundsätzlich schieden - hier blieben andere Differenzierungslinien: zwischen Stadt und Land, zwischen Bürgern und Bauern, zwischen verschiedenen Regionen des Großherzogtums, wichtiger. Der revolutionäre Republikanismus fand sein Programm anderswo als in der Gemeinde - und nur deshalb konnte er massenwirksam erfolgreich sein, wie das auch schon für den vormärzlichen Liberalismus galt, weil er solche Difïerenzierungslinien ebenso wie Interessenstandpunkte überbrückte, oder genauer: sie ausklammerte - und damit langfristig wieder an Integrationskraft verlor. Das Verhältnis des frühen Republikanismus zu seiner politischen, sozialen und ökonomischen >Umwelt< war also vielschichtig und kompliziert. Es gab Elemente der Abgrenzung, der Differenz, und >Republikanismus< war nie eine >totale< Ideologie, die eindeutige Handlungsanweisungen für alle nur denkbaren Probleme sei es des gemeinde-, sei es des staatsbürgerlichen Lebens zur Verfügung gestellt hätte. Es gab aber auch, das war für die Genese und den breitenwirksamen Erfolg des Republikanismus entscheidend, Elemente der Symbiose, der gegenseitigen funktionalen Inanspruchnahme: Die Forderung nach der Republik hatte in Baden nicht zuletzt deshalb einen so großen Erfolg, weil in ihr die Konsequenz langjähriger kommunaler Konflikterfahrung gesehen werden konnte und weil das Schlagwort der >Republik< übergreifende, aber zum Teil auch ganz unterschiedliche Erwartungen und Interessen verschiedener sozialer Gruppen zu bündeln vermochte: >materielle< und >ideelle< Interessen, städtische und ländliche, anti-adlige und anti-bürokratische; die Interessen lokaler Eliten gegen die Bürokratie, von Unterschichten gegen lokale Führungsgruppen, und einer lokalen Elitefaktion gegen eine andere. Der badische Republikanismus der Revolutionszeit war, wie der frühe populäre Republikanismus in anderen Ländern, immer auch ein Mittel zur Erreichung >traditionaler< Ziele anders hätte er in einer weithin traditionalen, vorindustriellen Umwelt vermutlich nie zur Massenbewegung werden können. Insofern ist Dieter Langewiesche zuzustimmen: Die Republik implizierte für den Radikalismus mehr als eine Verfassungsform176 und drängte damit über das im engeren Sinne politische Paradigma des >klassischen Republikanismus< der Generation Rottecks hinaus; aber der soziale Gehalt des Republikanismus lag häufig weniger in einem >modernen< Aufgreifen der >sozialen Frage< als in einer neu formulierten Verteidigung alter Lokalinteressen sozialer und ökonomischer Art. Ja, je entschiedener die >soziale Frage< in einem neuen Sinne aufgegriffen wurde, desto umstrittener wurde der Repu343 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35765-2
blikanismus, desto mehr ließ seine Integrationskraft nach. In dieser defensiven und doch zugleich moralisch-utopisch überhöhten Ausrichtung 177 setzte der badische Republikanismus der Revolution den vormärzlichen Liberalismus und Radikalismus nahtlos fort. Und gerade wegen dieser Kontinuität ist die neuerdings wieder stärker diskutierte Frage, ob die Entscheidung zwischen >Republik< und >konstitutioneller Monarchie< in der Revolution scharf polarisierte oder Kompromisse zuließ, 178 nicht eindeutig zu beantworten. Weil die Anhänger der Republik keine putschistischen Abenteurer waren, sondern eine Strategie >evolutionärer Modernisierung< verfolgten, wie Langewiesche richtig betont hat, 179 verlangte die Staatsformfrage zumal in den ersten Monaten der Revolution nicht unbedingt ein dogmatisiertes Bekenntnis; 180 wie hätte das auch möglich sein sollen, da die Republikaner der Revolution bis 1847 fast ausnahmslos entschiedene Verteidiger der konstitutionellen Monarchie gewesen waren? Die Revolution bewirkte zunächst einmal einen Selbstverständigungsprozeß; die Erfahrung demokratischer Politik in den Gemeinden und die ständigen Konflikte mit dem bürokratischen Staat hatten die Bereitschaft zur Republik ermöglicht; man wollte die Herrschaft des Volkes, Volkssouveränität: Das konnte im Prinzip eine parlamentarische Monarchie sein, sofern sie eine Volksregierung und >volkstümliche Verwaltung< einschloß; und insofern es damit auf den staatlichen >Unterbau< mehr ankam als auf seine Spitze, wuchs die Bereitschaft, es auf den Versuch mit einer Republik ankommen zu lassen. Während in der Frankfurter Paulskirche die Suche nach einem verfassungspolitischen Kompromiß immer mehr in den Vordergrund trat, verlief die Entwicklung in den Gemeinden in die gerade entgegengesetzte Richtung einer immer schärferen Zuspitzung der Alternative Republik oder Monarchie. Die Revolutionsdynamik, die wachsende Konfrontation der Parteien transformierte erstaunlich schnell bereits im Frühjahr 1848 und erneut seit dem Herbst desselben Jahres die allgemeinere Forderung nach einem Volksstaat in die spezifischere nach der Republik. Und an dieser Stelle stößt man zugleich, allen sozialen Implikationen zum Trotz, auf den genuin politischen Kern des badischen Republikanismus: Die Republik, erklärte »ein schlichter Bürger« im April 1848 seine Sympathie für diese Staatsform in einem Artikel des »Offenburger Wochenblattes«, sei »diejenige Staatsform, wo das Volk selbst regiert, d.h. wo es sich die Gesetze selbst macht und sich seine Beamten selbst wählt«; die Monarchie dagegen - hier hatte die begriffliche Zuspitzung bereits stattgefunden - sei die Staatsform, »in der man dem Bürger geradezu diesen oder jenen Beamten aufhalsen, dieses oder jenes vorschreiben kann, ohne ihn vorher auch darüber zu hören«, eine Staatsform für »mundtote Bürger, die nicht wissen, was für sie nützlich und zweckmäßig; ist.« 181 Vermutlich ist die Frage nach den Entstehungsbedingungen republikani344 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35765-2
scher Gesinnung, das zeigt auch die ungleich weiter entwickelte Forschung zum englischen, amerikanischen, französischen Republikanismus, immer nur in Annäherungen zu beantworten. Es gab offenbar, aber dieser Nexus ist noch nicht hinreichend geklärt, eine spezifische Eigendynamik revolutionärer Prozesse; ob in Holland und England im 17. Jahrhundert oder in Amerika und Frankreich im 18.: Revolution und Republikanismus gehören in der Frühen Neuzeit immer eng zusammen, 182 und die Stärke des badischen Republikanismus unterstreicht insofern die >Frühneuzeitlichkeit< der badischen Revolution. Neben den hier besonders betonten längerfristigen und strukturellen Ursachen wird man, auch das zeigt der internationale Vergleich, kurzfristige und >kontingente< Faktoren aber nicht vernachlässigen dürfen - dazu zählen auch Einflüsse von außen. Ohne das unmittelbare Vorbild der französischen Februarrevolution, ohne den Sturz des >Bürgerkönigs< beim westlichen Nachbarn wäre die Forderung nach der Republik im Baden des >bürgerfreundlichen< Großherzogs vermutlich nicht so schnell aufgegriffen worden. Aber die zweite französische Republik war nur als Ereignis Vorbild, nicht als Struktur form: Verfassungs- und sozialpolitisch dominierte, das ist bekannt, das amerikanische Vorbild, 183 gerade auch im Radikalismus des französischen Nachbarstaates Baden. Die Attraktivität Amerikas beruhte nicht zuletzt auf seiner lokalistisch-dezentralen Ordnung, seiner Selbstverwaltung; was wollten die badischen Gemeinden mit einer Republik, wenn diese, wie in Frankreich, den bürokratisch-zentralistischen Staat des Ancien Regime ungebrochen fortsetzte? Der programmatische >Weg zur Republik< in Baden läßt sich an der Veränderung der Programme und Forderungskataloge des Frühjahrs 1848 gut verfolgen. Die ersten Petitionen der Städte Ende Februar und Anfang März enthielten vor allem konkrete Forderungen wie Pressefreiheit, volkstümliche Bewaffnung, Schwurgerichte: »Forderungen des Volkes«, 184 aber noch nicht die Forderung nach Volksherrschaft. Dieser Begriff rückte erst einige Wochen später ins Zentrum, vor allem mit den Beschlüssen der Offenburger Versammlung vom 19. März, in denen aber von der >Republik< noch ebensowenig die Rede war wie von der Abschaffung der Monarchie. Der Antrag Struves im Frankfurter >Vorparlament< am 3 1 . März, der sich teilweise eng an den Offenburger Forderungen orientierte, dachte den Begriff Republik, vermied aber ihn auszusprechen: »Aufhebung der erblichen Monarchie (Einherrschaft) und Ersetzung derselben durch frei gewählte Parlamente, an deren Spitze frei gewählte Präsidenten stehen«, so der 15. und letzte, grundsätzlichste Punkt in Struves erfolglosem Antrag, »alle vereint in der föderativen Bundesverfassung nach dem Muster der nordamerikanischen Freistaaten.« 185 Obwohl als nationales Programm formuliert und vorgelegt, konnte sich Struves Antrag übrigens von einer spezifischen Diktion, die den südwestdeutschen Erfahrungen folgte, nicht 345 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35765-2
freimachen: Die für ihn im Sinne des badischen Radikalismus zentrale Forderung nach der »Aufhebung des stehenden Heeres von Beamten« etwa konnte man so in Preußen gar nicht verstehen. 186 - Erst im April 1848, dafür stehen die Freiburger und Offenburger Bürgerversammlungen dieses Monats ebenso wie der Aufstand Heckers, setzte sich der Begriff der >Republik< durch und wurde zum nun immer mehr polarisierenden Schlagwort für umfassende verfassungs- und gesellschaftspolitische Forderungen. Welche konkreten Erwartungen verbanden sich mit diesem Schlagwort, und wie sollte die erstrebte Republik aussehen? Materielle Erwägungen spielten bei vielen eine wichtige Rolle: Die ökonomische Krise seit 1846 hatte die finanziellen Belastungen der Bürger erhöht; den Sinn der Abgaben für die Gemeinde mochte man einsehen, aber die >stehenden Heere< der Beamten und Soldaten verschlangen Steuern, die in einer Republik überflüssig schienen, in der das Volk sich selber verwaltete und bewaffnete. »Viele Bauern und Kleinbürger«, so war die Stimmung schon auf der Offenburger Versammlung im März, »halten eine Republik für die beste Regierungsform, weil sie die wohlfeilste sei.« 187 Es war bezeichnend, daß Robert von Mohl in seiner »An die Arbeiter« gerichteten Flugschrift »Republik oder nicht?« Anfang April 1848 praktisch ausschließlich diese materiellen Argumente aufgriff und darzulegen versuchte, daß eine Republik keineswegs »billiger« sei. 188 Es war allerdings auch zu kurz gegriffen. Die >Unterdrückung< durch Beamte und die ständischen Vorrechte des Adels waren in den Gemeinden eine ebenso täglich spürbare Erfahrung wie hohe Steuern und Abgaben; und daraus entwickelte sich das Konzept der >Volkssouveränität< als eines zentralen Merkmals der Republik, in dem zugleich verfassungs- und gesellschaftspolitische Vorstellungen unauflöslich miteinander verknüpft waren. Der vormärzliche Liberalismus und Radikalismus hatte in dem Dualismus >Volk gegen Regierung< gelebt, der seinerseits den älteren Gegensatz von >Untertanen versus Obrigkeit< fortgesetzt, aber zugleich jene zuerst in den Gemeinden sich vollziehende >Umpolung< von Legitimität ermöglicht hatte, aus welcher der Republikanismus nun die Konsequenz zog: Die Souveränität lag beim Volk, die Regierung konnte nur eine Regierung des Volkes sein, der alte Dualismus sollte damit entfallen. Von hier aus konnten weitere Forderungen schnell abgeleitet werden, wie es in typischen Worten der Abgeordnete Baum tat, als er am 30. Oktober 1848 seine Motion für die Einberufung einer verfassunggebenden Versammlung in der Zweiten Kammer begründete: »Fassen wir nur eine und zwar eine Hauptfolge des Grundsatzes der Volksherrlichkeit ins Auge, nämlich das Aufhören der Vorrechte aller Staatsangehörigen, oder mit anderen Worten das Einfuhren des reinen Bürgerthums, wornach von einem Standesunterschied keine Rede mehr sein darf, so fällt damit die in unserer Verfassung enthaltene, erste 346 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35765-2
Kammer ohne weiteres weg.« 189 Die Vision einer ständefreien, einer homogenen bürgerlichen Gesellschaft, eines monistischen >Volkes< war ein unabdingbarer Bestandteil des republikanischen Entwurfes, der insofern die Utopie der >klassenlosen Bürgergesellschaft< noch übersteigerte; Stände sollte es nicht mehr geben, Klassen auch in Zukunft nicht; und die politische Folgerung daraus war ein möglichst einfach gestalteter Staatsaufbau. Der Republikanismus der Revolution brachte also auch in Baden das Konzept der ständischen >Mixed Constitutionklassische Republikanismus< der Generation Rottecks ausgegangen war, zum Einsturz. Dahinter stand ein fundamentaler Paradigmawechsel des politisch-sozialen Denkens, denn der Liberalismus der Gründergeneration der konstitutionellen Verfassung des Großherzogtums Baden hatte auf ein Einkammersystem nicht aus reinen Zweckerwägungen verzichtet, sondern weil er es aufgrund seines Gesellschaftsbildes gar nicht denken konnte, wie schon Baum sehr scharfsichtig in der Zweiten Kammer bemerkte: »Zur Zeit der Entstehung unserer Verfassung glaubte man«, erinnerte er, »eine ständische Verfassung ohne Zweikammersystem und namentlich ohne Ausscheidung der beiden Kammern nach verschienenen Ständen, nach privilegierten und nichtprivilegierten Kasten, sei gar nicht möglich.« 190 Das galt, solange das >Volk< ein Teil, ein Stand unter anderen war; wenn das Volk >alles< war, bedurfte es einer politischen Vertretung anderer Stände: des Fürsten und des Adels, nicht mehr; und das bedeutete die Republik. »Gehört das Volk zum Volke oder zum Fürsten? Kann der Fürst ohne Volk, oder kann das Volk ohne Fürst bestehen?« 191 Dieser Gedankengang, dieser politische >Lernprozeß< gewissermaßen, hatte ganz ähnlich im Zentrum des englischen und amerikanischen Republikanismus gestanden; und auch die Konflikte um das Einkammersystem waren hier auf verfassungstheoretischer wie auf praktisch-politischer Ebene mit denselben Argumenten schon ausgetragen worden. 192 »Fort mit Bekk, fort mit seinen Knechten, den Kammermitgliedern, keinen Wahlzensus, keine indirekten Wahlen, keine erste Kammer, ein freies unumschränktes Volk, dessen Glück nicht von den Launen eines Einzelnen abhängt; eine Verfassung, wie in Nordamerika«: 193 So oder ähnlich drückte die auf Verständlichkeit bei nicht Gebildeten achtende Sprache der republikanischen Presse die gleichen Überlegungen drastischer aus. Die Forderung nach einer Abschaffung des Zensus (beim passiven Wahlrecht) und nach direkten, unmittelbaren Wahlen hatte gleichfalls im vormärzlichen Radikalismus noch kaum eine Rolle gespielt und trat erst mit der Radikalisierung der Revolution im Winter und Frühjahr 1849 stark in den Vordergrund. 194 Der badische Republikanismus zweifelte zwar nie daran, daß auch eine Repräsentation legitime Herrschaft des Volkes darstellte, aber in seiner >plebiszitären< Komponente kamen doch nicht nur das Schweizer Vorbild und die kurzfristige Erfahrung, welche enorme politische Wirkung die 347 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35765-2
unmittelbare Partizipation in Volksversammlungen seit dem März 1848 entfaltet hatte, zum Ausdruck. Sie spiegelte auch noch die alte Vorstellung wider, daß eine Republik im Grunde auf solch einer unmittelbaren Partizipation und permanenten Mobilisierung ihrer Bürger beruhte; eine Vorstellung, die durch die Gemeindepolitik des Vormärz genährt worden war. Nicht zufällig argumentierten die Gegner der Republik in Baden immer wieder, Republiken seien nur in kleinen Staaten erfolgreich und »in solchen, die an Selbstverwaltung gewöhnt sind«; 195 die Republik sei eine unpraktikable Staatsform, denn in ihr »werde alles durch Volksversammlungen geregelt; die meisten einfachen Leute aber könnten nicht öffentlich reden«. Es werde, charakterisierte der Konstanzer Friedrich Hundeshagen in seinem Plädoyer für »Die Reform und nicht die Republik« diese als die Staatsform permanenter Bürgermobilisierung, »noch beschwerlicher sein, alle paar Tage oder Wochen, nebst der Gemeindeversammlung, der Volksbewaffnung und Exerzieren auch noch Volks- oder Bezirksversammlung zu halten.« 196 Der oft diffuse Wunsch nach einer direkteren Form politischer Herrschaft prägte das Wunschbild der Republik in Baden mit, das insofern dem Bild einer vergrößerten Gemeinde ähnlich war. Die >Entdeckung< und übersteigerte Propagierung eines einheitlichen >VolkesVolkes< nährten diese Hoffnung noch einmal; und hinter dem Angriff auf >GeldsäckeRepublik< insofern keinen Gegensatz zur weit von der konkreten Erfahrung des Alltags entfernten Monarchie im engeren staatsrechtlichen Sinne, denn »es sind viele Republikaner unter uns«, bekannten die ungenannt gebliebenen Bürger aus dem Seekreis, »die unsern Großherzog für den besten aller deutschen Fürsten halten und ihm gerne einen größeren Wirkungskreis und mehr Selbstständigkeit wünschen; alle ihre Bestrebungen, der ganze Haß dieser Leute zielt zunächst auf den Adel und deren Speichellecker, die schlechten Beamten.« 198 Darauf folgten illustrierende Beispiele, wie sich »Angestellte der elenden Scheiberzumpft« mit Schikanen gegen die bäuerliche Bevölkerung, mit der Verfolgung und »Inquisition« gegen die Freischärler des Aprilaufstandes unbeliebt machten: Die >Republik< meinte hier zuallererst die ungestörte Selbstbestimmung der lokalen Gesellschaft. Wo die grund- oder standesherrliche Doppelherrschaft von Adligen und Beamten fehlte, richtete sich die ganze Abneigung des Radikalismus gegen die Staatsdiener, gegen ihre als >kastenartig< empfundene Trennung von der übrigen Gesellschaft, gegen eine Polarisierung also, die ja nicht zuletzt vom Liberalismus und Radikalismus des Vormärz aufgebaut und propagiert worden war. »Nur wer wahrhaft Freund des Volkes, kann forthin Beamter sein«; 199 das Beamtentum sollte aus dem »Volk« hervorgehen und wie dieses »dem Fortschritt wirklich huldigen«. Mindestens sollten die materiellen Vorrechte der Beamten eingeschränkt werden, vor allem die Pensionen geringer sein und überhaupt nur »verdiente(n) Personen« zustehen, wie es etwa ein Ergänzungsantrag auf der Offenburger Volksversammlung im März 1848 forderte. 200 Die Frage der Beamtenbesoldungen und -pensionen wurde im Herbst 1848 auch in der Zweiten Kammer diskutiert; 201 und bis weit in den gemäßigten Liberalismus hinein war in Baden die Überzeugung verbreitet, das >alte< System bürokratischer Herrschaft sei gescheitert: Der »Polizeistaat« der Frühen Neuzeit, der seit 1815 noch auf die Spitze getrieben schien, hatte »die freie Entwicklung des Volksgeistes und der Volksinteressen fortwährend ängstlich unterbunden«, doch die Revolution sollte das Fanal für sein Ende sein. »Wir alle waren Zeuge«, stellte ein Vortrag im Heidelberger »Vaterländischen Verein« im September 1848 fest, »wie die große Lüge des Polizeistaats zu Grab getragen, endlich einmal einer freien Selbsttätigkeit und Entwicklung unseres Volks alle Barrieren geöffnet wurden.« 202 In ihren schon lange währenden Konflikten mit den lokalen Beamten konnten die Gemeinden im Frühjahr 1848 sogar Erfolge verbuchen, an die vorher nicht zu denken gewesen wäre. Der vor allem wegen seiner massiven Wahlbeeinflussungsversuche zugunsten der Regierung verhaßte Offenbur349 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35765-2
ger Oberamtmann Lichtenauer wurde durch den Druck der Gemeinden Offenburg und Schutterwald im März 1848 dazu gezwungen, seine Stelle niederzulegen - eine entsprechende Forderung der Gemeinde Schutterwald war noch im September 1847 völlig ergebnislos geblieben. Am 20. März, also nur einen Tag nach der großen Volksversammlung in der Stadt, versammelte der Gemeinderat die Offenburger Bürgerschaft, die einstimmig Lichtenauer das Vertrauen entzog und eine Deputation aus Mitgliedern der Gemeindebehörden bestimmte, um bei der Regierung seine Entlassung zu beantragen. Die Regierung gab nach und schlug Bürgermeister Rée selber als neuen Oberamtmann vor, der den Wechsel in den Staatsdienst aber ablehnte. »Sie haben in den jüngsten Tagen auf das Erhebendste den Bund besiegelt, den sie mit dem Bürgerthume geschlossen haben«, dankte daraufhin der Gemeinderat Rée dafür, daß er es vorzog, Bürgermeister zu bleiben. 203 Der Haß auf die Beamten war allgemein, unter der Bürokratie litten Stadt und Land, Bürger und Bauern, lokale Eliten und Unterschichten und genau darin lag eine wesentliche Funktion der Beamtenfeindschaft auch in der Revolution: Sie deutete die Gesellschaft in der einfachen Gegenüberstellung von >innen< und >außen< und bot damit eine Integrationsideologie des Lokalismus, die umso dezidierter vertreten wurde, je schwieriger diese Integration angesichts der ökonomischen Krise und der zunehmenden klassengesellschaftlichen Polarisierung schien. Wenn die republikanische Offenburger Oberschicht weiter an die »Entfaltung der Kräfte unseres Bürgerthums« glaubte, während andere begannen, »Bürger« auf »Würger« zu reimen, 204 bedurfte es einer >AusweichstrategieMittelstandGeldsackGeldsack< sein, soll er auf das schwarze Brett der Republik kommen?« 212 Die Konzentration auf den politischen Grundkonflikt ermöglichte den Republikanismus und machte ihn integrationsfähig, die Zuspitzung auf das Sozialökonomische, wie sie ein Teil der Republikaner wollte, gefährdete ihn. Wenn der Klassenkonflikt so stark in den Vordergrund getreten war, daß die Konsequenz lautete: »Darum wollen wir lieber keine, als eine Geldsacksrepublik«, 213 kapitulierte der Republikanismus vor den gesellschaftlichen Veränderungen, anstatt auf ihnen aufzubauen. Patrice Higonnet hat in seiner vergleichenden Analyse der Ursprünge des revolutionären Republikanismus in Amerika und Frankreich argumentiert, der Erfolg der Amerikanischen Revolution gründe auf ihren Anfängen in den traditionellen Idealen von Tugend und Gemeinschaft und ihrer erfolgreichen Transformation in eine individualistische und pluralistische Ideologie, während die Aporien und das Scheitern des französischen Republikanismus in der umgekehrten Bewegung vom Individualismus des Jahres 1789 zu den korporatistischen Gemeinschaftsidealen der Jakobiner wurzelten. 214 Teilte der südwestdeutsche Republikanismus also die günstigen Ausgangsbedingungen des amerikanischen, weil er wie dieser mit einer starken 351 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35765-2
Traditionsbindung begann, von korporativen und >kommunalistischen< Idealen geprägt war? Weil der Republikanismus der badischen Revolution auch durch die gewaltsame Intervention von außen scheiterte, läßt sich diese Frage nicht eindeutig beantworten, aber viel spricht dafür, daß ihm der Ausbruch aus der vormärzlichen Ideologie, der Schritt in einen pluralistischen Individualismus nicht leichtgefallen wäre.
5. Dynamik und Kontinuität der Revolution. Radikalisierung und Parteientwicklung 1848/49 Nach der vor allem durch die Arbeit der Paulskirche und der auf sie gesetzten Hoffnungen bestimmten >ruhigen< Revolutionsphase des Sommers 1848 spitzte sich die politische Entwicklung im Herbst erneut zu. Die Annahme des von Preußen eigenmächtig geschlossenen Waffenstillstandes von Malmö durch die Frankfurter Nationalversammlung am 16. September öffnete nur noch ein Ventil aufgestauter Unzufriedenheit in den radikal und demokratisch gesinnten Teilen der Bevölkerung, die sich in einer stärkeren politischen Mobilisierung außerhalb der Parlamente Luft machte. Die Revolution sollte weitergetrieben oder doch zumindest gesichert werden gegen die jetzt immer deutlicher sich abzeichnenden Konturen einer schleichenden Restaurierung der vormärzlichen Verhältnisse. Drei Tage nach dem Frankfurter Aufstand vom 18. September begann Gustav Struves Versuch, erneut in Baden eine Republik zu proklamieren, im Oktober folgten die Aufstände in Wien und Berlin. Zugleich begann die Paulskirche nach dem Abschluß der Debatte über die Grundrechte am 19. Oktober mit der Beratung der künftigen Verfassungsorganisation Deutschlands, die die Sensibilität und das Interesse der Bevölkerung für die Verfassungsfrage erhöhte und damit auch in den Einzelstaaten des Deutschen Bundes die Alternative >Republik oder konstitutionelle Monarchie>< noch einmal stark in den Vordergrund rückte. Die badische Septemberrevolution war insofern kein erneuter Schildbürgerstreich eines etwas versponnenen Mannheimer Anwalts, sondern stand im Kontext einer über Baden weit hinausreichenden Revolutionsdynamik; sie artikulierte zum ersten Mal eine erneut wachsende Mobilisierung und Aktionsbereitschaft des Radikalismus an der Basis; und trotz ihrer schnellen Niederschlagung verpuffte sie nicht einfach wirkungslos, sondern bildete geradezu den Auftakt zu einer kontinuierlich über den Herbst und Winter bis in das Frühjahr 1849 hinein sich steigernden Radikalisierung in den Gemeinden, die sich zunächst vor allem in der Kampagne für die Auflösung der noch vormärzlichen Zweiten Kammer und die Einberufung einer Kon352 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35765-2
stituierenden Versammlung, dann, seit dem Jahreswechsel, insbesondere in der Vereinsbewegung artikulierte. Daß inzwischen auch der Landtag über eine weitgehende Verfassungsreform, ja über eine Annäherung an die republikanische Staatsform diskutierte - das wird im nächsten Abschnitt verfolgt - , nahm der Radikalismus der Gemeinden im Winter 1849 schon kaum mehr wahr. Und wenn die konstitutionellen »Vaterländischen Vereine« als ihren zentralen Programmpunkt das »Festhalten der errungenen Freiheit« verkündeten, 215 mußten sich die Radikalen offensichtlich fragen, welche errungene Freiheit damit denn gemeint sei, die in ihrem Alltag jedenfalls bisher nicht zu verspüren war: Die materiellen Lasten drückten noch immer, das Ministerium Bekk amtierte weiter, der Adel saß noch in der Ersten Kammer, und nicht zuletzt herrschten die Beamten noch und machten sich in der Verfolgung der Sympathisanten des Struve-Aufstandes weiter unbeliebt. In den Monaten um die Jahreswende herum verlor die Landtagspolitik mit großer Geschwindigkeit jene Legitimität im größten Teil der badischen Bevölkerung, die die Bürokratie schon lange verloren hatte; die Gemeinden lösten sich weiter vom Zentralstaat ab; und darin lag die entscheidende mittelfristige Vorbedingung der republikanischen Revolution im Mai 1849 und ihres inneren Erfolges. Während im Juli 1848 die »Abspannung im Volke so groß« zu sein schien, »daß selbst die einflußreichsten Wühler, wie z.B. der Constanzer Bürgermeister, nun nicht mehr im Stand sind in den ihnen untergebenen Gemeinden Versammlungen zu Stande zu bringen«, 216 brachte der Weinheimer Amtmann im November desselben Jahres in einem ausführlichen Bericht an das Innenministerium seine ganz Wut und Verbitterung über die republikanische >Unterwühlung< der Stadt zum Ausdruck. Die kleine Stadt an der Bergstraße, an der Eisenbahnlinie von Mannheim und Heidelberg nach Frankfurt gelegen, sei die »durchwühlteste Gemeinde von ganz Deutschland«: »Die Verworfenheit hat einen Höhepunkt erreicht, wie ihn selbst die Geschichte Frankreichs kaum aufzuweisen vermag.« Statt Beten, Lesen und Schreiben zu lehren, pflanze man hier den Kindern das Heckerlied und den Ruf »Es lebe die Freiheit, es lebe die Republik« ein. 217 Der drastische Superlativ beruhte freilich auf einem perspektivischen Irrtum, denn vermutlich hätten viele Beamte zur gleichen Zeit ihrem eigenen Amtsort den Titel der »durchwühltesten Gemeinde« verliehen - und der »Höhepunkt« der republikanischen Mobilisierung war im November 1848 noch lange nicht erreicht. Andererseits waren die Gemeinden, das darf bei aller Zuspitzung der politischen Situation in der zweiten Jahreshälfte nicht übersehen werden, im Sommer nicht völlig passiv geblieben; Anfang Juli etwa fand in Laufenburg an der Grenze zur Schweiz eine Volksversammlung zur Bildung demokratischer Vereine statt, an der sich über 3.000 Menschen beteiligten; 218 in Ettlingen trafen sich auf Einladung Philipp Thiebauths und Bür353 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35765-2
germeister Schneiders Delegationen von Gemeinden der Umgegend am 16. Juli zu einem demokratischen >KongreßGemeinderevolutionmassenhaft< nicht gewesen, aber er hatte trotz einer Verweigerung des bewaffneten Kampfes breite republikanische Sympathien offenbart; und in den nördlicheren Kleinstädten hatte ein Teil des radikalisierten Stadtbürgertums mit den Eisenbahnzerstörungen sogar die bis dahin unangetastete Schwelle zur Gewalt überschritten. 356 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35765-2
Wie schon im Vormärz irrte die Regierung, wenn sie die Gemeindebehörden und den >besseren< Teil der Bürgerschaft für ihre Sache gegen eine vermeintlich sozialen Unterschichten oder Außenseitern der Gemeinde anzulastende politische Unruhe einnehmen zu können glaubte; die lokalen Eliten behielten auch im Herbst und Winter 1848/49 die Führung der republikanischen Partei in den Gemeinden. Und gerade die Verfolgung und Verhaftung von Beteiligten an den April- und Septemberaufständen und die darauf folgende Solidarisierung der Bürgerschaften und der Gemeindebehörden wurde seit dem Herbst 1848 selber zu einem wesentlichen Faktor der politischen Radikalisierung in Baden:237 Auch wenn man gegen Gewalt war - daß Mitbürger wegen ihres Eintretens für die Republik im Gefängnis saßen, war für viele ein Schock, und die Gemeindebehörden übernahmen zumeist die Führung, wenn die Bürger sich in zahlreichen Eingaben immer wieder für die Freilassung der Gefangenen ihres Ortes einsetzten. »Der Riß zwischen dem badischen Volk und den großherzoglichen Behörden«, warnten Villinger Wahlmänner nach dem Hecker-Aufstand, »ist schon längst weit genug, ohne daß derselbe noch erweitert zu werden braucht durch Fortsetzung eines Riesenprozesses«.238 Die Rückkehr eines Mitbürgers aus der Haft gestaltete sich dann, wie nach Thiebauths Entlassung Ende November 1848 in Ettlingen, zu einem Fest: Thiebauth wurde mit einem Fackelzug und Ständchen des Gesangvereines geehrt, vor seiner Wohnung ertönte ein mehrfaches >Hoch< der versammelten Menge, und der Wirt dankte in einer kleinen Ansprache seinen Anhängern und forderte sie zugleich zu weiterem Einsatz für die Sache der Freiheit auf239 Der Aufstand Struves blieb auch insofern nicht Episode, als sich die politische Mobilisierung und Radikalisierung im Großherzogtum Baden seitdem beinahe kontinuierlich bis in das Frühjahr 1849 hinein steigerte darin waren sich schon die allermeisten zeitgenössischen Beobachter einig. Rechnete man auf Regierungsseite im Oktober und November die politische Unruhe vorsichtig-optimistisch den Nachwehen des Septemberaufstandes zu - »Die Stimmung der Bevölkerung ist noch immer sehr ungünstig«, hieß es Anfang November aus dem Oberland240 -, vermehrte sich seit Dezember 1848 bereits der Eindruck, »die Aufregung im badischen Oberlande, namentlich auf der Strecke von Freiburg über Lörrach bis Waldshut«, nehme »bedeutend zu«: »Der Tadel gegen die badische Regierung sowie die Sympathien für die Republik werden offen ausgesprochen.«241 Wiederum etwa zwei Monate später, im Februar 1849, verstärkte sich allgemein die Erwartung, ein neuer republikanischer Aufstand stehe kurz bevor; im März war »die Spannung ... aufs Höchste gestiegen, die Gemüter sind erhitzt, aufgeregt und die Partei der Volksvereine erwartet nur eines Winkes, um loszubrechen, da ihre Existenz auf dem Spiele steht.«242 Die ersten Monate des Jahres 1849 waren eine >diszipliniertekonstituierendeMotion Baum< vom 30. Oktober selber ein Thema der Landtagspolitik; 247 zweitens konnten die Radikalen seit dem Januar 1849 aus den nun für Baden verkündeten Grundrechten des deutschen Volkes den Schluß ziehen, daß die badische Erste Kammer so wie bisher auf keinen Fall weiterbestehen dürfe, da der § 7 der Grundrechte den Adel als Stand für abgeschafft erklärt hatte; 248 und drittens machte die ideologische Radikalisierung, der verfassungspolitische >Lernprozeß< des Republikanismus, wie er im vorigen Abschnitt skizziert worden ist, die Frage einer Konstituierenden Versammlung immer mehr zu einem Symbol für die Frage nach der zukünftigen staatlichen und gesellschaftlichen Ordnung überhaupt, zum Symbol für die Forderung nach Einkammersystem, Volkssouveränität und Republik. »Wie lange soll denn unsere badische Verfassung den bereits eingeführten Grundrechten in's Angesicht schlagen?« - das war zu Beginn des Jahres 1849 ein offenbar weitverbreitetes 358 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35765-2
Gefühl im badischen Radikalismus. »Darum nochmals: Eine constituierende Versammlung! « 249 Da die Kampagne sich zuerst an dem Unmut über die vormärzliche Zusammensetzung der Zweiten Kammer entzündet hatte, begann sie im Herbst 1848 mit dem Versuch der Radikalen, die Abgeordneten gleich welcher Partei zum Rücktritt aus der Kammer zu bewegen und die anschließend fällige Ersatzwahl durch einen Wahlboykott zu verhindern, um den Landtag auf diese Weise zu einem arbeitsunfähigen Rumpfparlament zu machen. Diese Strategie wurde freilich zunächst nicht konsequent verfolgt im November etwa kandidierte Thiebauth im Wahlbezirk Durlach, dessen Mandat durch den Austritt des Abgeordneten Bleidorn freigeworden war, gegen Häusser und unterlag dem Heidelberger Historiker klar 250 - und war auch im Frühjahr 1849 nicht immer erfolgreich: Wenn wie bei der Wahl für den Amtsbezirk Heidelberg am 27. März 1849 die erforderlichen drei Viertel der Wahlmänner erschienen, konnte der Boykott der radikalen Partei, was die Zusammensetzung des Landtags anging, sogar für diese kontraproduktiv sein. 251 Auf der anderen Seite verbuchten die Republikaner einen auch symbolisch bedeutsamen Erfolg, wenn der Boykott wie in Mannheim am 2. April 1849 gelang und der aus Frankfurt eingetroffene Kandidat Bassermann bei dieser Gelegenheit auf dem Rathaus als »Volksverräter« beschimpft wurde. 252 In den radikal dominierten Gemeinden setzten sich die Gemeindebehörden häufig an die Spitze der Austritts- und Boykottkampagne. Gemeinderat, kleiner und großer Ausschuß in Mosbach etwa beschlossen im Oktober 1848, den Abgeordneten Schaaf, der »seinen Sitz in der Kammer nur einem langjährigen Druck serviler Beamtenherrschaft und dem Einfluß des grundherrlichen Adels, aber keiner freien Wahl der Bürger verdankt«, zum Rücktritt aufzufordern, und luden deshalb alle Gemeindevorstände des Wahlbezirks ein, Gemeindeversammlungen in dieser Sache abzuhalten und Delegationen für ein Treffen in Mosbach zur Verabschiedung einer Adresse an Schaaf zu wählen. 253 Auf diese Weise verstärkten sich zugleich Mechanismen plebiszitärer Politik in den Gemeinden: Der Gemeinderat oder eine Gemeindeversammlung faßten häufig Beschlüsse, nach denen die örtlichen Wahlmänner sich »gebunden« fühlen sollten, an der Abgeordnetenwahl nicht mehr teilzunehmen. Der Gengenbacher Gemeinderat erließ am 22. April 1849 »namens der Urwähler« eine Aufforderung an die Wahlmänner, »bei der demnächst stattfinden sollenden Ersatzwahl für die Gesellschaft im Ständehause« - diese verächtliche Bezeichnung brachte, nota bene, den Legitimitätsverlust des Landtags auf den Punkt - »nicht zu wählen«, um über eine Konstituierende Versammlung »die Volkssouveränität zur Wahrheit machen« zu können. 254 Insofern die indirekten Wahlen prinzipiell immer weniger akzeptiert wurden, lag der Appell an die Urwähler in der 359 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35765-2
Frage des Wahlboykotts nahe; in Mannheim wie in Heidelberg fanden solche >Urwählerversammlungenex officio< zu unterstützen - in Heidelberg hatte Winter in seiner Funktion als Bürgermeister zu dieser Versammlung der Urwähler eingeladen. 255 Die Initiative konnte aber durchaus, obwohl das offenbar seltener vorkam, von den Wahlmännern selber ausgehen, die freilich häufig zugleich Mitglied in einem der Gemeindegremien waren. In dem ganz klar republikanisch dominierten Offenburg trafen sich die 32 Wahlmänner der Stadt am 26. März 1849 und beschlossen einstimmig eine an den staatlichen Wahlkommissär gerichtete Erklärung, »nach unserer Überzeugung und unseren Pflichten für des Volkes Sache keinen Abgeordneten in diese zweite Kammer der Landstände wählen« zu können. 256 Dabei konnten sich die Wahlmänner, deren Unterschriftenliste von Bürgermeister Rée und seinem Vertrauten, dem Apotheker und Gemeinderat Rehmann angeführt wurde, wiederum auf entsprechende Beschlüsse des Gemeinderates und der beiden Ausschüsse berufen. 257 Rehmann seinerseits war zugleich Vorsitzender des Offenburger Volksvereins, Rée und zwei weitere Gemeinderäte als >Beigeordnete< im erweiterten Vorstand - bei einer so starken politisch-kulturellen Dominanz und institutionellen Verflechtung des lokalen Republikanismus hatten es die »Vaterländischen« schwer, sich wirkungsvoll zu widersetzen, 258 doch in jedem Fall war die Auseinandersetzung über Wahlboykott und Konstituierende Versammlung ein Kristallisationskern parteipolitischer Konfrontation in der Gemeinde. Den eigentlichen Höhepunkt der Bewegung für eine Konstituierende Versammlung bildete dann jedoch die seit dem November 1848 propagierte und insbesondere in den ersten beiden Monaten des neuen Jahres eine erhebliche Dynamik entfaltende Petitionskampagne, mit der unübersehbar an den durch die >Motion Zittel< um Gleichstellung der Deutschkatholiken ausgelösten Petitionensturm in der Krise von 1845/46 angeknüpft wurde. 259 Noch einmal aber ließen sich die Radikalen die Initiative nicht entreißen; die von den »Vaterländischen Vereinen« maßgeblich unterstützten Petitionen gegen Kammerauflösung und Konstituierende Versammlung blieben hinter den republikanischen Petitionen nicht nur zahlenmäßig klar zurück, sondern konnten auch nicht jenen mitreißenden Schwung einer landesweiten Mobilisierung entwickeln, der die Kampagne der Gegenseite auszeichnete. Die Propaganda der »Vaterländischen« verfiel immer wieder in mattes Klagen über die vermeintliche Zwangsindoktrination der >RotenMotion Zittel< im Jahre 1846 hinausginge, doch sind mindestens an der zweiten Zahl erhebliche Zweifel anzumelden: Bei einer erwachsenen männlichen katholischen Bevölkerung des Großherzogtums von, grob geschätzt, 200.000 Personen, von denen mindestens ein Drittel als politisch radikal und republikanisch, teilweise mit nachklingenden deutschkatholischen Sympathien, einzustufen ist und einem Bußschen Verein niemals beigetreten wäre, würde eine Mitgliederzahl von 100.000 eine nahezu totale Organisierung aller überhaupt dafür in Frage kommenden Personen bedeutet haben, was an sich schon höchst unwahrscheinlich ist. 323 Viele Vereine bildeten sich offenbar nur, um eine Petition zu verabschieden, und lösten sich dann wieder auf oder blieben politisch passiv.324 In jedem Fall aber blieb die katholische Vereinsbewegung, und darin wiederholte sich das Jahr 1846, in politischer Hinsicht bedeutungslos, ohne spürbaren Einfluß auf die parteipolitische Auseinandersetzung sowohl in den einzelnen Gemeinden als auch im Prozeß der revolutionären Radikalisierung Badens insgesamt. 325 Für die Entwicklung der Volksvereine und damit für die weitere Mobilisierung und Organisierung des Republikanismus wurde der Jahreswechsel 1848/49 noch einmal zu einer entscheidenden Zäsur. Der junge Renchener Beamte Amand Goegg, gerade 28 Jahre alt, berief auf den 26. Dezember 1848 eine Versammlung in seine Heimatstadt ein, um die Volksvereine neu zu beleben und in einer einheitlichen, landesweiten Organisation zusammenzufassen. 326 Die Versammlung wählte einen in Mannheim ansässigen »Landesausschuß« unter dem Vorsitz Lorenz Brentanos und rief am 7. Januar 1849 zur Neugründung von Volksvereinen im ganzen Großherzogtum auf, der rechtlich, mochte sich das Innenministerium auch sträuben, nach der Verkündung der >Grundrechte des deutschen Volkes< nur schwer noch etwas entgegenzusetzen war. 327 Der Landesausschuß wies zugleich darauf hin, »daß für diese Organisation die bestehende Landeseinteilung in vier Kreise keinen passenden Anhaltspunkt biete« und daß »durch Vermehrung der Kreise eine Erleichterung der Kommunikation und Zentralisierung der einzelnen Vereine bezweckt werde.« Er schlug deshalb acht Kreisvereine: Tauberbischofsheim, Heidelberg, Durlach, Offenburg, Freiburg, Lörrach, Donaueschingen (an dessen Stelle später Hüfingen trat) und Konstanz, vor, denen wiederum je sieben bis zehn »Bezirksvereine« zugeordnet sein sollten. 328 Das bewußte Hinwegsetzen über die verhaßte staatlich-bürokratische Verwaltungsgliederung und der planmäßige, mehrstufige Aufbau der Organisation signalisierten, unausgesprochen und doch unverkennbar, die Alternative einer republikanischen Landeseinteilung und -Verwaltung, an deren Spitze sich der Landesausschuß als Regierung im Wartestand befand. 371 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. 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Die rasche und nahezu flächendeckende Ausbreitung der republikanisch-demokratischen Volksvereine seit dem Januar 1849 wurde durch diese Zentralisierungsbestrebungen maßgeblich gefordert ebenso wie durch eine aktive republikanische Presse, die von Tag zu Tag die Fortschritte in der Vereinsbildung registrierte und die Orte, die noch ohne Volksverein waren, dadurch zu ermuntern suchte, sich dieser Bewegung schnell anzuschließen: »Wir haben hier vor uns eine Landkarte von Baden, und haben auf derselben jedesmal die Ortschaften angestrichen, in denen Volksvereine sich gebildet«, vermerkte die Heidelberger »Demokratische Republik« am 8. Mai befriedigt. »Unser ganzes Land ist bald rot und nur hie und da erblickt man noch ein Dorf oder Städtlein, das noch nicht unterstrichen werden konnte.« 329 Aber die teilweise bis heute wiederholte zeitgenössische Sichtweise, in welcher der Erfolg der Volksvereine das Ergebnis einer geschickten Steuerung und Manipulation >von oben< durch ihren Initiator Amand Goegg gewesen sein soll - Selbststilisierung der Republikaner und Kritik ihrer Gegner konnten hierin übereinstimmen - , erweist sich bei näherem Hinsehen nicht nur als maßlos übertrieben, sondern ignoriert auch die jeweiligen lokalen Voraussetzungen der Gründung und Attraktivität von Volksvereinen. 330 Der Erfolg der Vereinsbewegung beruhte in erster Linie auf der zunehmenden Radikalisierung, auf der wachsenden Unzufriedenheit in den Gemeinden im Winter und Frühjahr 1849; aber dabei standen die Volksvereine in einer langen Kontinuität lokaler Parteibildung, zum Teil auch in unmittelbarer Kontinuität lokaler Parteiorganisation. Die Dynamik der Revolution gründete auf Kontinuität: Bisherige Lesegesellschaften, Bürgervereine oder »demokratische Gesellschaften« schlossen sich der neuen Organisation an und benannten sich damit in Volksverein um, 331 und auch solche Bürgervereine, die sich wie die Heidelberger »Harmonie« nicht ausdrücklich in einen politischen Verein verwandelten, konnten sich dem Sog der parteipolitischen Fesdegung immer weniger entziehen. 332 Auch an der republikanischen >Basis< schien sich angesichts der gescheiterten Aufstände im April und September und des zunehmend Ungewisser werdenden Schicksals von Revolution und Reichsverfassung ein Bewußtsein für die Notwendigkeit formalisierter und zentralisierter Organisation zu verstärken - so argumentierte jedenfalls ein Aufruf Offenburger Bürger zur Gründung eines Volksvereins in dieser Stadt. 333 Selbst dort, wo wie in Ettlingen die parteipolitische Polarisierung schon seit langem so deutlich war und so tief den Alltag bestimmte, daß eine formale Vereinsbildung gar nicht mehr nötig erschienen war, entstanden jetzt Volksvereine - der Vorsitzende des Ettlinger Volksvereins war, >natürlichGeld< (auch um andere materielle Güter wie Holz aus dem Gemeindewald) oder um >Personen< ging, mit einem übergeordneten politischen Programm beruhte die Attraktivität der Volksvereine und des Republikanismus insgesamt gerade auf dem Lande und in kleineren Städten. In Wertheim bildete die Brüskierung einer Delegation von Bürgermeistern durch den Fürsten zu Löwenstein-Wertheim, einen der großen Standesherren, dem sie eine Bittschrift überbringen wollten, den Anstoß zur Gründung eines Volksvereins. 337 Die Volksvereine brachten weitverbreitete Stimmungen zum Ausdruck, und sie agierten, das war genauso wichtig, nicht als versteckte Verschwörerzirkel im Hinterzimmer, sondern besetzten, wie es schon die Schilderung der Rohrbacher Gründung zeigte, öffentliche Räume und identifizierten sich erfolgreich mit Symbolen der gemeindebürgerlichen Korporation als ganzer. Das macht auch das folgende Beispiel der Feier des Wertheimer Volksvereins aus Anlaß der Verkündung der Grundrechte des deutschen Volkes am 2 1 . Januar 1849, einem Sonntag, deutlich. 338 Nach dem Gottesdienst ertönte der Choral »Ein feste Burg ist unser Gott« vom 373 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35765-2
Turm der Stadtkirche, darauf versammelten sich die Republikaner am Rathaus, um mit einem festlichen Marsch durch die Stadt zum Gasthaus >Zum Ochsen< zu ziehen. Eine Kapelle ging voran, darauf folgten Fahnenträger; ein Mitglied des Volksvereins trug ein gedrucktes Exemplar der Grundrechte in einem goldenen Rahmen, daran schlossen sich mehrere Bürgermeister des Amtsbezirks Wertheim an, darauf folgte die Menge und am Schluß der Turnverein mit einer Fahne. Im Gasthaus wurden die Grundrechte verlesen und an jeden Teilnehmer verteilt. Diese Form der kommunalen >lnszenierung< des Republikanismus erinnerte an das Verfassungsfest des Jahres 1843 - nur die Forderung nach der Republik war an die Stelle der Verteidigung der konstitutionellen Monarchie getreten. Die Volksvereine waren im Frühjahr 1849 Ausdruck der politisch-kulturellen Dominanz des Republikanismus an der Basis. Damit verstärkten sie zugleich die plebiszitäre Komponente der lokalen Politik, den Wunsch nach unmittelbarer Partizipation der Bürger, der seit Beginn der Revolution immer wieder hervorgetreten war. Der Wertheimer Volksverein versuchte nach der Feier des 2 1 . Januar an die »Mitbürger auf dem Lande« zu appellieren, ebenfalls Volksvereine zu gründen, und berief sich dabei bewußt auf einen mythisierten Zustand germanischer Urdemokratie in den Dörfern, an den jetzt wieder angeknüpft werden sollte: »Denket zurück an Eure Väter«, mahnte dieser Aufruf die umliegenden Landgemeinden, »welche sich unter ihren alten Lindenbäumen versammelt und beraten haben, über das engere Wohl der Gemeinde so wie über das des Vaterlandes.« 339 Diesem Zweck dienten auch die zahlreichen regionalen Volksversammlungen, die auf Initiative der Volksvereine im Frühjahr 1849 in allen Landesteilen abgehalten wurden und insbesondere für die Mobilisierung der Landbevölkerung eine wichtige Rolle spielten. Auf zwei der größeren Versammlungen, im Wiesental bei Schopfheim am 15. April und in Adelsheim eine Woche später, erschienen je 6.000 Teilnehmer 340 - von solchen Zahlen konnten die »Vaterländischen« nur träumen, und sie sind wie der Erfolg der Volksvereine überhaupt ein wichtiges Indiz für den Rückhalt in der Gesellschaft, den die republikanische Revolution wenige Wochen später genoß. Gerade in kleinen Landorten trat die Bürgerschaft häufig geradezu kollektiv dem Volksverein bei, im Oberland, wo man das Problem der >Amtsbürgermeister< kaum kannte, oft einschließlich des Bürgermeisters und Gemeinderates bzw. unter deren Führung. 341 Frauen organisierten sich teilweise in einem dem örtlichen Volksverein zugeordneten »Jungfrauenverein« und verdienten sich mit diesem politischen Engagement den Titel »Bürgerinnen«. 342 Obwohl die Volksvereine im Gegensatz zu den Vaterländischen darauf achteten, sozial möglichst offen zu sein - in der Regel durfte jede männliche Person, unabhängig vom Besitz des Gemeindebürgerrechts, 374 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35765-2
ab 18 Jahren (also unterhalb der gesetzlichen Volljährigkeit) beitreten 343 - , lag ihre Führung keineswegs in den Händen von >homines noviZivilkommissär< für seinen Bezirk und dann auch Abgeordneter der Konstituierenden Versammlung. 345 Viele Bürgermeister und Gemeinderäte übernahmen zudem untergeordnete Ämter im Volksverein oder gehörten ihm als einfaches Mitglied an; Volksverein und Gemeindebehörden arbeiteten oft Hand in Hand wie auch in Offenburg oder Ettlingen, und es scheint eher die Ausnahme gewesen zu sein, daß die Vereine als »örtliche Gegenbehörden« 346 fungierten. Aber solche Konflikte, in denen die Volksvereine die nicht republikanisch gesinnten Gemeindebehörden unter massiven Druck zu setzen versuchten, kamen im Frühjahr 1849 durchaus vor. Der »Märzverein« in Ihringen bei Emmendingen vertrat die Auffassung, die Beschlüsse des Vereins sollten für die Gemeindeverwaltung maßgebend sein; Bürgermeister und Gemeinderäte seien deshalb »entbehrlich«; 347 in Endingen forderte der republikanische »Märzverein« den Bürgermeister, der sich in der Gemeinde gegen den Verein gestellt hatte, zum Rücktritt auf.348 Die lokale Machtkonstellation war also entscheidend; wo die Gemeindebehörden in der Hand der Konstitutionellen waren, nutzten diese ihre Stellung und ihre Legitimation, um die Aktivität der Republikaner in der Gemeinde zurückzudrängen. 349 Ein möglichst exaktes Bild von der Mitgliederzahl der badischen Volksvereine im Frühjahr 1849 zu gewinnen ist schwierig, nicht nur deshalb, weil die Grenzen der informellen republikanischen Zirkel und Bürgervereine zu den offiziell dem Landesausschuß angeschlossenen Volksvereinen immer, auch in dieser Phase, fließend blieben. Da die Gründung der Volksvereine sich als eine sehr dynamische Bewegung bis in den Monat Mai hinein fortsetzte, ist schon die Zahl der Vereine schwer zu bestimmen. 350 Amand Goegg und Florian Mördes, zwei führende Organisatoren der Volksvereinsbewegung, haben von mindestens 400 Vereinen mit 30.000 bis 35.000 Mitgliedern zum Zeitpunkt der Offenburger Versammlung am 13. Mai 1849 gesprochen, 351 und obwohl man ihnen eine >großzügige< Schätzung unterstellen könnte, erscheinen diese Zahlen als sehr realistisch. Vergleicht man sie mit der (unsichereren) Zahl der Mitglieder der Vaterländischen 375 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35765-2
Vereine, ergibt sich ein Verhältnis von 8:1 bis 5:1 - in jedem Fall ein erdrückendes Übergewicht der organisierten Republikaner. Mitte April 1849 fanden, der Einteilung der Landesorganisation in acht Kreise entsprechend, Kreiskongresse der Volksvereine statt, anläßlich derer, verstreut in der republikanischen und regionalen Presse, relativ genaue Angaben über die Zahl der Mitglieder und der Mitgliedsvereine veröffentlicht wurden. Danach organisierten die Kreise zu diesem Zeitpunkt 2.000 (BezirkTauberbischofsheim) bis knapp 5.000 (Bezirk Heidelberg) Mitglieder in je 25 bis 50 Ortsvereinen; 352 und in vielen bis dahin noch nicht organisierten Gegenden wie der Region um Adelsheim bildeten diese Kreiskongresse erst die Initialzündung für Vereinsgründungen in der zweiten Aprilhälfte und im Mai. Rechnete man außerdem die noch schwerer erfaßbaren Bürger- und Lesevereine hinzu, käme man für den organisierten badischen Republikanismus an der Schwelle der Mairevolution auf noch höhere Zahlen, als Goegg und Mördes sie genannt haben. Zumal angesichts der geringeren Bevölkerungszahl des Großherzogtums lag der Organisationsgrad damit erheblich über dem des benachbarten Königreichs Württemberg; er war sogar, folgt man für Württemberg der Schätzung Boldts, in Baden ungefähr doppelt so hoch. 353 Obwohl es auch Amtsbezirke ohne einen einzigen Volksverein gab, 354 überzogen die Vereine das Großherzogtum mit einem relativ gleichförmigen und flächendeckenden Netz. Man kann darüber streiten, ob die Mitgliedschaft etwa jedes zehnten männlichen Erwachsenen in einem Volksverein in der Mitte des 19. Jahrhunderts >viel< oder >wenig< ist - Konkurrenz mußten die badischen Republikaner damit jedenfalls im eigenen Lande nicht furchten; sie besetzten, das war noch wichtiger als bloße Zahlen, >strategisch wichtige< Positionen in den Gemeinden; und die Sympathien für den Republikanismus gingen im Frühjahr 1849, nach einer beispiellosen Phase politischer Mobilisierung und Radikalisierung, über die organisierte Anhängerschaft offensichtlich noch weit hinaus. Denn sogar die konstitutionelle »Badische Zeitung« schätzte im März 1849, daß die Republikaner etwa ein Viertel der badischen Bevölkerung ausmachten, »und daß drei Viertel mit unserer constitutionellen Verfassung sehr wohl zufrieden sind und nicht von Ferne an die Republik denken, vielweniger darnach streben.« 355 Diese drei Viertel >Zufriedenen< muß man aber zunächst einmal, das zeigt auch der Vergleich mit Parteibildungsprozessen in anderen Revolutionen, in zwei Gruppen unterteilen: Einerseits gab es diejenigen, die sich, mehr oder weniger aktiv handelnd, bewußt als konstitutionelle Gegenpartei zu den Republikanern verstanden, andererseits eine große Gruppe der eher Unpolitischen, Schwankenden, Passiven, jene Gruppe also, die immer geneigt ist, den jeweiligen Status quo zu verteidigen und die deshalb, gäbe es eine Republik, diese auch nicht bekämpfen würde. Vielleicht zählte die »Mannheimer Abendzeitung« diese 376 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35765-2
Gruppe deshalb ihrerseits schon zu den Republikanern, als sie Anfang Mai feststellte, »wenigstens zwei Drittel der Bevölkerung« jedenfalls im badischen Oberland seien für die Republik. 356 Eine vermutlich recht realitätsnahe Annäherung an das sehr schwierige Problem der revolutionären Parteibildung, des >alignment< jenseits formaler Partei-Organisationen, die gerade den Blick der deutschen Forschung auf die Revolution von 1 8 4 8 / 4 9 zu einseitig prägen, 357 stellte die Beschreibung der Parteiverhältnisse in Ettlingen dar, wie sie eine Eingabe der konstitutionell-konservativen Bürgerpartei im Sommer 1848 formulierte: »Der Stand der hiesigen Bürgerschaft ist folgender«, wurde dort dem Innenministerium mitgeteilt: »Ein Dritteil ist durchaus radikal und nunmehr republikanisch gesinnt. Ein Dritteil steht in der Mitte, ist ganz und gar untätig und gleicht einem Fähnlein, das vom Winde hin und hergetrieben wird; und ein Dritteil ist konservativ oder konstitutionell monarchisch gesinnt.« 358 Auch das war freilich ein parteiliches Urteil; die Ettlinger Republikaner waren den Konservativen seit der Eroberung der Gemeindebehörden im Jahre 1845, wie wir schon gesehen haben, eher überlegen, und ihr Anhang wuchs im Herbst und Winter 1848/49 weiter. In jedem Fall bedeutete ein Viertel bis ein Drittel der Bevölkerung (und das war eine im doppelten Sinne >konservative< Schätzung!) eine sehr breite Anhängerschaft für den Republikanismus in Baden, zumal wenn man bedenkt, daß republikanische Revolutionen des 17. bis 19. Jahrhunderts immer nur von einer mehr oder minder aktiven Minderheit >gemacht< und erst nach ihrem Erfolg durch das Hinüberziehen der >disaffectedldassische< deutsche Vier- oder Fünfparteiensystem heraus, dessen Anfänge man öfters im Vormärz und in der Revolution von 1848/49 gesucht hat. 360 Das Parteiensystem der Gemeinden ebenso wie Badens insgesamt blieb in seiner Grundstruktur dualistisch, geprägt durch den Konflikt zwischen >Opposition< und >LoyalitätRadikalen< und >Konservativenmainstream< der liberalen Opposition des vorangegangenen Jahrzehnts gegenüber einer konservativ-regierungstreuen Gegenpartei gebildet hatte, transformierte sich dieser Radikalismus 1 8 4 8 / 4 9 in den revolutionären Republikanismus, der aus eben dieser Kontinuität seine Stärke an der Basis bezog: Er brachte den Vorsprung in der Anhängerschaft, den Vorsprung hinsichtlich der politisch-kulturellen Dominanz in den Gemeinden bereits aus dem Vormärz mit. Nicht die Radikalen oder Republikaner waren in Baden also die >Abspaltunggemäßigter Radikaler< wie Bassermann und Itzstein, die der weiteren Radikalisierung, als sie die Verfassungsform des Großherzogtums in Frage zu stellen begann, nicht zu folgen bereit war und deshalb, wie es sich schon seit 1 8 4 6 / 4 7 angedeutet hatte, auf die Seite der konservativ-regierungstreuen Bürgerpartei wechselte. 362 Damit wird zugleich die relative Schwäche der »Vaterländischen« in der badischen Revolution besser erklärbar. Sie trugen nicht nur weiter an ihrer aus dem Vormärz herrührenden strukturellen Unterlegenheit gegenüber den Radikalen in den Gemeinden, sondern mußten eine in der Revolution noch zunehmende politische Heterogenität überbrücken. »Gutmütige Schwärmer für konstitutionelle Monarchie sind die geringere Zahl«, spottete die »Republik« im März 1849 über die Mitglieder der »Vaterländischen Vereine«. »Weitaus die Mehrzahl bilden teils Angstmänner, die in ihrer gespenstischen Furcht vor Unruhe und Unordnung sich an diese Vereine, als die einzigen Rettungsanker, anklammern, teils alte Servile vom reinsten Wasser, die so lange den konstitutionellen Mantel umhängen, bis die Zeiten für sie wieder besser werden.« 3 6 3 Daß dieser Spott ins Schwarze traf, wußte auch ein so kluger Beobachter wie Ludwig Häusser, der die badischen »Konstitutionellen« als ein Zweckbündnis derjenigen »Liberalen und Altkonservativen« bezeichnete, »die entschlossen waren, dem demagogischen Treiben entgegenzuwirken«. 3 6 4 Die >Entschlossenheit< reichte allerdings, das stellten die Liberal-Konservativen nach der Revolution immer wieder selbstkritisch fest, verglichen mit den Republikanern gerade aufgrund dieser 378 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35765-2
Heterogenität nicht besonders weit; für den Beamten Christoph Trefurt waren »die Anhänger der Ordnung meist ein ungeordneter Haufe von vielen geist- und prinziplosen Menschen«, und ganz ähnlich schimpfte Friedrich Daniel Bassermann in seinen »Denkwürdigkeiten« über die Passivität und den Opportunismus des konstitutionellen Bürgertums in der Revolution. 365 In Baden brachte die Revolution also nicht den Konservativismus hervor; 366 die >Konservativen< der 1840er Jahre in Baden waren immer konstitutionell gewesen und orientierten sich in der Revolution, ob nun aus Opportunismus oder Überzeugung, eher etwas weiter nach >linksProblem< war vielmehr, daß der >MittelstandkleinbürgerlicherakademischerJugendGroßstädte< wie Mannheim und Heidelberg, im Kern eine Bewegung der >EtabliertenReformBremser< wurde oder zu einem zwar gutgemeinten Entgegenkommen, das über politische Legitimität aber immer weniger verfugte und sich dieser Tatsache nicht einmal voll bewußt war. Das war eine wesentliche Erfahrung der badischen Revolution zwischen dem Herbst 1848 und dem Frühjahr des darauffolgenden Jahres. »Wären alle Gesetze, die die badische Regierung und Volksvertretung im Sommer und Herbste des Jahres 1848 erstrebten, zur Verabschiedung gelangt, so hätte Baden eine Verfassung gehabt, wie sie etwa Rotteck vorschwebte«, hat Leonhard Müller vorgerechnet: »eine parlamentarische Regierung, eine aus dem allgemeinen Stimmrecht hervorgehende Volksvertretung, freie Presse, freisinnige Gemeindegesetzgebung, volkstümliche Verwaltung und Rechtspflege, nach dem Einkommen bemessenes Steuersystem.«369 Nein, eine solchermaßen reformierte badische Verfassung wäre Rotteck sogar in vielem zu demokratisch gewesen - und dennoch: Alle diese Gesetze einschließlich des Versuches zur Landtags- und Verfassungsreform 1849 reichten offenbar nicht mehr aus, die Unzufriedenheit eines großen Teils der Bevölkerung abzustellen, denn viele Reformgesetze wurden verabschiedet oder standen kurz vor dem Abschluß, ohne die Radikalisierung des Winters und Frühjahrs 1849 und die auf ihr beruhende Mairevolution verhindern zu können. Die Reformversuche zeigten vielmehr, daß die Politik der Karlsruher Regierung und der Zweiten Kammer jede Glaubwürdigkeit an der radikalisierten, republikanischen Basis verloren hatte, die diese Reformbemühungen nicht einmal mehr ernsthaft zur Kenntnis nahm. In der republikanischen Presse, in der lokalen Publizistik, in der Artikulation des Gemeindebürgertums in Petitionen und Volksversammlungen fanden die Versuche einer grundlegenden Reform der lokalen Verwaltung im Herbst 1848 und einer einschneidenden Änderung der Verfassung, insbesondere des Landtags, im Frühjahr 1849 so gut wie überhaupt keine Beachtung mehr; die Minimalforderung auf dem Weg zu Volkssouveränität und Republik hieß jetzt: Auflösung der Kammern und Neuwahl einer Konstituierenden Versammlung. Für Kompromisse, auch wenn sie über im Vormärz lange gehegte Wünsche sogar noch hinausgingen, blieb in dieser politischen Situation kein Raum mehr. Die Diskussion über die Verwaltungsreform, die bis zur erfolgreichen Verabschiedung des Gesetzes »die Einrichtung und den Geschäftskreis der Verwaltungsbehörden betreffend« im April 1849 führte, ohne daß das Gesetz jedoch noch in Kraft treten konnte, zeigt das besonders deutlich.370 380 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35765-2
Die >volkstümliche Verwaltung< gehörte zu den Märzversprechen der badischen Regierung gegenüber den Forderungen der Zweiten Kammer und war zumal in Baden alles andere als eine abstrakte staatsrechtliche Maxime angesichts der vormärzlichen Konflikte zwischen Bürokratie und Gemeindebürgertum, angesichts der immer schärferen Konfrontation von >Beamten< und >Bürgernkosmetischen< Verbesserungen der Verwaltungsorganisation weit hinausging: Man hielt das System bürokratischer Herrschaft überhaupt, wie es sich mit dem frühneuzeitlichen Staat herausgebildet und im >Reformabsolutismus< seit der Rheinbundzeit einen vorläufigen Höhepunkt erreicht hatte, für gescheitert. »Das bürokratische Beamtentum hat sich überlebt, hierin sind alle Stimmen einig«, resümierte der Karlsruher Korrespondent der Augsburger »Allgemeinen Zeitung« schon im Mai 1848 und kritisierte einen Beamtenstand, der »alles im Staate war«, der mit »kleinen und großen Schikanen« »bis ins innerste Hausleben des Bürger- und Bauernstandes« eingriff und der »vom Minister bis zum Polizeibüttel hinab eine einzige Kette bildete worin das Land gebunden lag«. 373 Heinrich von Andlaw, wahrhaftig kein Liberaler, stellte im April 1848 in der Ersten Kammer in deutlichen Worten das Scheitern des bürokratischen Systems fest und konnte sich dabei der Zustimmung nicht nur der meisten übrigen Abgeordneten, sondern im Prinzip auch der Regierung um Bekk sicher sein: »Das Kunstgebäude der Vielregiererei ist eingestürzt vor der Gewalt der Empörung«, zeigte Andlaw durchaus Verständnis für eines der Ziele revolutionärer Bewegung der zurückliegenden Wochen. »Es zeigte sich deutlich, daß das bürokratische Regiment keine Wurzeln im Volke gefaßt hatte (...). Das Räderwerk ist abgenutzt, es bewegt sich noch in einer Papierregierung ohne Wirkung und Folge, in Proklamationen, welche das Volk verachtet.« 374 381 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35765-2
Bei Konservativen wie Andlaw spielte die Enttäuschung darüber, daß ein noch so engmaschiges Beamtennetz den revolutionären Aufruhr nicht hatte verhindern können, eine wesentliche Rolle als Motiv der Bürokxatiekritik er schlug demgemäß eine Rückkehr zu »korporativen < Organisationsformen vor und knüpfte seine Hoffnung besonders an die Gemeinden. 375 Wie illusorisch das angesichts des kommunalen Radikalismus und Republikanismus auch immer sein mochte: Lag darin nicht sogar ein Berührungspunkt mit diesem; trafen sich die Extreme nicht teilweise im Wunsch nach der >Wiederherstellung< einer kommunalistisch-korporativen Ordnung der bürgerlichen Gesellschaft, wenn auch mit ganz unterschiedlicher politischer Zielsetzung? In jedem Fall begriffen die Beteiligten die Verwaltungsreform nicht einfach als solche, sondern als Abrechnung mit dem, wie sie glaubten, >veralteten< bürokratischen Staat überhaupt, 376 und die bis in den Konservativismus hineinreichende Bürokratiekritik in der badischen Revolution holte insofern nach, was in Preußen schon zur Reformzeit Steins und Hardenbergs die Diskussion bestimmt hatte: die für überlebt gehaltene bürokratische Herrschaft des Absolutismus, den »Formenkram und Dienstmechanismus«, wie Stein sich ausdrückte, 377 durch eine Beteiligung der >Nation< an der Staatsverwaltung zu ersetzen. Die >Nation< freilich, die mündige politische Gesellschaft, nach der die preußischen Reformer damals vergeblich gesucht hatten, gab es in Baden zum Zeitpunkt der Revolution schon fast zwei Jahrzehnte - und sie war zu einem großen Teil mit einer >Beteiligung< an der Verwaltung inzwischen nicht mehr zufrieden, sondern wollte die Volkssouveränität. Darin lag der entscheidende Bruch zwischen Konservativen, gemäßigten Liberalen und Bürokratie einerseits, dem kommunalen Republikanismus andererseits: Als die einen das Angebot eines im alten Sinne >bürgerlichen< Staates auf der mittleren Ebene machten, hatten die anderen den Gemeindehorizont, die Beschränkung auf die lokale Demokratie hinter sich gelassen und zielten auf die Republik. Kurz bevor Bekk am 20. Juli 1848 der Zweiten Kammer den Gesetzentwurf über die Verwaltungsreform vorlegte, 378 hatte der Waldkircher Oberamtmann Winter im Juni auf eigene Faust gehandelt und mit den Bürgermeistern des Amtsbezirks die Schaffung eines »Bezirksrates« abgesprochen, der aus vier nach dem Vertrauen der Bürgermeister gewählten Männern bestehen und sich zweimal monatlich mit beratender Funktion für die Angelegenheiten des Bezirks im Amthause versammeln sollte. 379 Die Waldkircher Initiative ging »von der Überzeugung« aus, »daß eine volkstümlichere Staatsverwaltung das dringendste Bedürfnis unserer Zeit ist«, und dagegen hatten auch die Freiburger Kreisregierung und das Innenministerium nichts einzuwenden außer dem Hinweis, daß es sich bei diesem Bezirksrat nur um eine informelle Institution handeln könne, die nicht im rechtlichen Sinne an der Verwaltung mitwirken dürfe, solange das vorbe382 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35765-2
reitete Gesetz noch nicht vorliege. 380 Der Waldkircher Bezirksrat blieb jedoch eine Ausnahme, die einen entsprechend liberalen Amtmann und kooperationswillige Gemeindebehörden voraussetzte - Bedingungen, die angesichts der scharfen Konfrontation zwischen Beamten und Gemeinden in den meisten Gegenden des Großherzogtums gar nicht mehr gegeben waren. Nach der von Ende Juli bis Anfang Oktober reichenden Sitzungspause des badischen Landtags legte August Lamey, der junge Mannheimer Jurist, der eben erst als Ersatzmann für die Stadt Karlsruhe in die Zweite Kammer gekommen war, am 9. Oktober den Kommissionsbericht über den Gesetzentwurf vor. Lamey begrüßte wie alle Abgeordneten den radikalen Ansatz des Gesetzes; das »Todesurteil« für die bisherigen Kreisregierungen und Bezirksämter, das damit gesprochen wurde, erschien ihm als selbstverständliche Notwendigkeit. 381 Er bezeichnete die Verwaltungsreform bewußt als »Fortbau auf der Gemeindeverfassung«, der denselben »freisinnige(n) Geist« wie diese atme, und sah in ihr den ersten Schritt zu einer »gänzliche(n) Umgestaltung der seitherigen Beamtenherrschaft (...), auf welcher sich die rein volkstümliche Regierungsweise in stetigem und nachhaltigem Entwicklungsgange zeit- und naturgemäß ausbilden kann.« 382 Was eine »rein volkstümliche Regierungsweise« bedeuten könnte, ließ er wohl absichtlich offen, da sie ihm ohnehin erst in der Zukunft möglich schien - und ignorierte damit, daß viele im Lande mit diesem Begriff bereits die Republik in der Gegenwart assoziierten. Das Gefühl eines notwendigen Endes der bürokratischen Herrschaft bestimmte auch die ausführliche Debatte in der Zweiten Kammer; volle zwei Wochen der zweiten Oktoberhälfte beschäftigte sich der Landtag praktisch ausschließlich mit der Verwaltungsreform. 383 Der Bürokratie müsse, so der Abgeordnete Christ, in dem Sinne ein Ende gemacht werden, daß das »bürgerliche Element« in die Verwaltung mit hineingezogen werde; 384 der alte, politische Eigenschaftsbegriff des >Bürgertums< erhielt überhaupt noch einmal eine emphatische Bedeutung, die er in der politisch-sozialen Sprache der Gemeinden schon weitgehend verloren hatte. Der radikale protestantische Pfarrer Friedrich Lehlbach, als Ersatz für Hecker in die Zweite Kammer gewählt, erhoffte sich von dem Gesetz ganz konkret eine Verminderung der »Vielschreiberei« und der Zahl der Beamten und damit eine Antwort auf die vielfachen Wünsche nach einer »wohlfeilen«, die Bürger finanziell weniger belastenden Verwaltung; der Entwurf, so gab er eine allgemeine Stimmung unter den Abgeordneten wieder, entspreche »dem Prinzip der Selbstverwaltung und der Selbstregierung, welche ja überall jetzt gefordert wird und welche ein wesentliches Bedürfnis des freien Bürgerthums, ein Stolz eines freien Bürgers sein muß.« 385 Trotz der langen und gründlichen Diskussion der einzelnen Paragraphen war die Überein383 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35765-2
Stimmung der Kammer mit den Intentionen Bekks und den Grundzügen seines Vorschlags unübersehbar. Das Gesetz über den Geschäftskreis der Verwaltungsbehörden, das nach langem Hin und Her - das übliche Ritual der Abstimmung mit den Wünschen der Ersten Kammer brauchte Zeit, und im übrigen trat im Januar 1849, als die Petitionsbewegung an Schwung gewann, die Frage der Parlaments- und Verfassungsreform bereits beherrschend in den Vordergrund am 17. April 1849 im Regierungsblatt veröffentlicht wurde, ohne schon sofort in Kraft zu treten, erklärte die vier Kreisregierungen und die Bezirksämter für aufgehoben und setzte zwölf neu zu bildende Kreisverwaltungen an ihre Stelle. 386 Sie sollten aus einem Kreisamt als dem bürokratischen Teil und den neugeschaffenen Institutionen der Kreisversammlung und des Kreisausschusses als dem bürgerlich-repräsentativen Teil bestehen. Die Mitglieder der Kreisversammlung wurden danach direkt und ohne Zensus oder abgestuftes Klassenwahlrecht »vom Volke« ( § 5 ) gewählt; auf je 2.000 bis 3.000 Einwohner sollte ein Mitglied der Kreisversammlung bestimmt werden. Diese Versammlung sollte freilich nur einmal jährlich für einen Tag zusammentreten und im übrigen durch den sechs- bis achtköpfigen Kreisausschuß vertreten werden, den die Kreisversammlung aus ihrer Mitte oder aus anderen Bürgern des Bezirkes wählte und der einmal monatlich tagen sollte. Besonders wichtig war natürlich die Bestimmung der Kompetenzen dieser Institutionen. Der § 19 des Gesetzes bestimmte zwar, scheinbar großzügig, die Kreisversammlung könne »alle Angelegenheiten oder Interessen des Kreisverbandes in Beratung nehmen, und darüber Beschlüsse fassen«, aber schon die darauffolgende Ergänzung, nach der »allgemeine Landesangelegenheiten« vom Wirkungskreis der Versammlung »ausgeschlossen« waren, mußte diejenigen enttäuschen, die bereits im Vormärz für ein >allgemeinpolitisches Mandat< der Gemeindebehörden eingetreten waren und ein solches Recht von einem regionalen Repräsentativgremium erst recht erwarteten. Die spezifischen Kompetenzen von Kreisversammlung und Kreisausschuß lagen vor allem in jenen sozialen, ökonomischen und infrastrukturellen Aufgaben, die seit der Krise der 1840er Jahre die Fähigkeiten der einzelnen Gemeinden erkennbar überforderten: im Straßenbau, der Einrichtung von Armen-, Waisen- und Krankenhäusern, der Fürsorge für Arme und uneheliche Kinder sowie der Schlichtung von Streitigkeiten über das Gemeindebürgerrecht, die Gemeindeumlagen und Gewerbebefugnisse. 387 Es ist schwer zu beurteilen, wie sich diese Institutionen bei einer Verwirklichung der Reform entwickelt hätten, und angesichts der politischen Dynamik, die seit der Gemeindeordnung 1831 von den Gemeindebehörden ausgegangen war, sollte man das Potential solcher Repräsentativinstitutionen auf mittlerer Verwaltungsebene, waren sie einmal geschaffen, 384 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35765-2
nicht unterschätzen. Aber es war doch deutlich, daß der im Gesetz festgelegte, ganz traditionelle Aufgabenkatalog Kreisversammlung und -ausschuß von der politischen Artikulation >nach oben< eher abhalten sollte und bei weitem nicht das traf, was der Republikanismus mit volkstümlicher Regierung und Verwaltung meinte. Vielmehr schien sich das ursprüngliche Motiv der Regierung für eine neue Gemeindeordnung seit 1819: nämlich alle die Beamten nur unbeliebt machenden Streitigkeiten über politisch im Grunde irrelevante Dinge aus der Bürokratie >auszuklammern< und den Bürgern zu überlassen, hier zu wiederholen. Die politische Vollzugsmacht hätte weiterhin eindeutig beim Kreisamt als Unterbehörde des Ministeriums des Innern gelegen. Fragen der politischen Machtverteilung führten denn bei der Beratung des Gesetzes auch sofort zu Auseinandersetzungen in der Kammer. Der § 24 des Entwurfes sah in der Fassung Lameys vor, daß das Kreisamt auf Antrag eines Viertels aller Gemeindebürger und mit Zustimmung des Kreisausschusses beschließen könne, sämtliche Gemeindebehörden einer Gemeinde: Bürgermeister, Gemeinderat und Ausschüsse, zu entlassen und ihre Neuwahl anzuordnen. 388 Diese Bestimmung wurde von mehreren Abgeordneten als entschieden dem Geiste des Gesetzes zuwiderlaufend kritisiert; radikale Abgeordnete wie Junghanns fürchteten offensichtlich, damit bekäme die Bürokratie ein Instrument in die Hand, politisch mißliebige Gemeindebehörden unter dem Mantel eines demokratischen Verfahrens zu beseitigen, obwohl diese möglicherweise das Vertrauen von drei Vierteln der Bürger genössen. 389 Bekk trat in diesem Punkte den Rückzug an und verzichtete auf alle Befugnisse des Kreisamtes bei diesem Entlassungsverfahren, aber während Junghanns und andere auch dann noch eine Gefährdung der demokratischen Gemeindeverfassung sahen, wenn der Vertrauensentzug nur von Gemeindebürgern und Kreisausschuß festgestellt würde, nahm Brentano eine sehr bezeichnende Gegenposition ein: Er verteidigte diese Möglichkeit des >impeachment< der Gemeindebehörden als gerade besonders demokratisch; »es muß der Wählerschaft das Recht zustehen, sobald sie mit ihren Gewählten unzufrieden ist, ihnen das Mandat abzukündigen, und ich bedaure nur«, spielte er auf die noch nicht erfolgte Auflösung der Zweiten Kammer an, »daß nicht bei allen Versammlungen, die sich auf Wahl gründen, die Wähler ein solches Recht haben.« 390 Der Paragraph blieb erhalten und bestimmte schließlich, daß der Kreisausschuß auf Antrag eines Drittels der Gemeindebürger beschließen könne, daß in einer Gemeinde sämtliche Gemeindebehörden neu gewählt werden 391 - dem konnte man einen konservativen Sinn geben oder darin mit Brentano eine plebiszitärdemokratische Komponente der Verfassung sehen. Die Erprobung in der Realität fand nicht mehr statt, aber gescheitert war die Verwaltungsreform, soweit sie eine Antwort auf den Wunsch der Bevölkerung nach einer
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Beseitigung des lokalen Beamtenregiments geben sollte, schon vor der Verkündigung des Gesetzes: am Desinteresse der republikanischen Bewegung, die seit dem Herbst 1848 auf eine andere politische Ebene als die der Kreisverwaltung zielte. Es nützte schließlich auch nichts mehr, daß Bürokratie und Landtag darauf reagierten und unter dem doppelten Druck >von unten< und >von außenverfassunggebende< Versammlung wörtlich und im radikalsten Sinne zu verstehen, die Frage einer neuen Verfassung für das Großherzogtum auf, die Frage nach der Staatsform, und das hieß wiederum: das Verlangen nach Volkssouveränität und Republik. Baum sah das badische Volk in einem historischen Reifungsprozeß begriffen, der das Stadium der konstitutionellen Monarchie als der »Bildungsstufe des Volkes« nicht mehr angemessen hinter sich gelassen habe; »Volkssouveränität« sei die Basis der Reichsverfassung, und darauf müsse auch die badische Verfassung gebaut werden: »die bisherige steht deshalb jetzt ohne Grundlage in der Luft und kann durchaus nicht mehr als haltbar erscheinen.« 392 Angesichts der hohen symbolischen Bedeutung der Verfassung für den Liberalismus und Radikalismus im Vormärz, ja bis unmittelbar an die Schwelle der Revolution, war das eine bemerkenswerte Konsequenz, 393 die nachzuvollziehen gerade diejenigen Schwierigkeiten hatten, die wie der Mannheimer Abgeordnete Soiron bis 1846/47 zur radikalen Opposition gezählt, sich aber in der Revolution nicht auf die Seite der Republikaner geschlagen hatten: Soiron appellierte im Februar 1 8 4 9 , als die Zweite Kammer die Motion Baums und den dazu von Ludwig Häusser eingebrachten Kommissionsbericht diskutierte, die badische Verfassung von 1818 nicht so leichthin aufzugeben, und erinnerte an das Verfassungsfest von 1843: »Alle, die sich jetzt so vornehm über sie (die Verfassung; P.N.) hinwegsetzen«, hielt Soiron den Republikanern entgegen, »Alle haben sie hochgepriesen und nur das noch hinzuverlangt, was noch nicht verwirklicht sei, was aber jetzt alles verwirklicht ist.« 394 Aber die Forderungen waren inzwischen weitergegangen; die Republikaner verleugneten ihren vormärzlichen Verfassungsenthusiasmus denn auch nicht, sondern antworteten la386 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35765-2
konisch, es komme »oft im Leben vor«, so Lorenz Brentano, »daß Dasjenige, was vor einigen Jahren etwas ganz Ausgezeichnetes war, in kurzer Zeit nicht mehr brauchbar ist, und so ist es unserer Verfassung auch ergangen.« 3 9 5 Deshalb scheuten sich die Abgeordneten auch gar nicht, schon im Oktober 1848 ganz unbefangen über Volkssouveränität und Republik zu diskutieren und Vor- und Nachteile einer möglichen neuen Verfassung abzuwägen. Selbst ein eher Gemäßigter wie Wilhelm Helmreich fand zwar das badische Volk zu einer Republik im strengen Sinne noch nicht reif, plädierte aber für einen erblichen Präsidenten; am »Wesen der Republik« führte für ihn kein Weg mehr vorbei. 396 Wenn die Herrschaft »naturgemäß im Volke ruhte, und die Fürsten sich dieselben von den Völkern übertragen ließen, oder anmaßten«, 397 anstatt wie in der konstitutionellen Monarchie Teile ihrer ursprünglichen Souveränität dem Volk zu überlassen, war weder eine >oktroyierte< Verfassung wie die badische noch eine vereinbarte wie die württembergische von 1819 mehr möglich, und die Dynastie stand damit zur Disposition. Tatsächlich stellte der Abgeordnete Junghanns, nicht zufällig während der ersten Aussprache über die >Motion Baumbürgerliche< Lösung - in Preußen bildete dasselbe Wahlrecht seit 1850 schließlich die Grundlage der Zweiten, der Volkskammer! 388 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35765-2
Jedenfalls lag der Vorschlag der Regierung ganz auf der Linie der Konstitutionellen; Ludwig Häusser, wiederum Berichterstatter für die Zweite Kammer, lobte den Entwurf rundum.407 Angesichts der massiven Forderungen nach Konstituierender Versammlung und Einkammersystem geriet sein Bericht zu einer aufschlußreichen verfassungshistorischen und verfassungstheoretischen Vorlesung über die Vorzüge des Zweikammersystems, das er den Gefahren für die Freiheit, die aus der »Allmacht einer einzigen Versammlung« angeblich resultierten, entgegenhielt. Absichtlich berief er sich dabei immer wieder auf die USA, also auf das Vorbild des badischen Republikanismus, um diesen gewissermaßen mit seinen eigenen Waffen zu schlagen, und zitierte in diesem Zusammenhang bezeichnenderweise John Adams und seine quasi-aristokratische, noch halb in ständischem Denken befangene Rechtfertigung des Senats als stabiles Element der Verfassung gegen die >gefährlichen< Leidenschaften des Volkes.408 Während Häusser für das Wahlrecht zur Zweiten Kammer eine »möglichst unbeschränkte demokratische Gleichheit« befürwortete, bereiteten ihm die Prinzipien, nach denen eine Erste Kammer zeitgemäß zu bilden war, große Schwierigkeiten. Eine geburtsständische Vertretung kam nicht mehr in Frage, dagegen sprach die »ganze Volksentwicklung«; eine berufsständische Vertretung nach »Interessen« und Korporationen schien ihm sinnvoll, doch dafür war die Gesellschaft wiederum noch nicht weit genug entwickelt - also sei der Maßstab der Steuerpflichtigkeit, ein Zensus- oder Klassenwahlrecht, vorübergehend am besten geeignet.409 Die gewundene Argumentation Häussers hatte eine ironische Pointe: Besser hätte er die grundsätzlichen Vorbehalte der republikanischen Bewegung gegenüber einer Ersten Kammer nicht bestätigen können. Obwohl der Heidelberger Historiker selber die anvisierte Erste Kammer als »Vertretung des Bürgertums in seinen ausgedehntesten Grenzen« bezeichnete,410 war sie offensichtlich eine im neuen und engen, klassenbezogenen Sinne >bürgerliche< Umdefinition der bisherigen ständischen Vertretung, die Ablösung des Geburtsstandes durch den bürgerlich-kapitalistischen >Vermögensstandständischen< Sprache des Radikalismus seit der Mitte der 1840er Jahre: eine Vertretung der >GeldaristokratieElitenverlustsReichsverfassungskampagne< im Mai und Juni 1849. Aufstandsbewegungen in anderen deutschen Staaten gingen der badischen Mairevolution voraus und konnten ihr als Vorbild dienen wie der sächsische Maiaufstand und besonders, der geographischen und >landsmannschaftlichen< Nähe wegen, die republikanische Bewegung in der Pfalz, die mit der Volksversammlung in Kaiserslautern am 2. Mai 1849 einen beim südöstlichen Nachbarn genau beobachteten, eindrucksvollen Anfang erlebte und sich später, im Kampf mit der Gegenrevolution, unmittelbar mit der badischen Revolution verband. 412 Aber wie die pfälzische und sächsische Revolution nicht einfach eine kurzfristig erklärbare Antwort auf die Gefährdung der Reichsverfassung nach der Ablehnung der Kaiserkrone durch Friedrich Wilhelm IV. waren, sondern in ihrer besonderen Ausprägung die jeweilige regionale Konflikttradition spätestens seit dem Vormärz fortsetzten, blieb auch das Verhältnis der badischen Revolution zur >Reichsverfassungskampagne< ambivalent. Das war schon deshalb so, weil anders als in der bayerischen Pfalz der eigene Fürst gar nicht mehr zur Annahme der Reichsverfassung bewegt werden mußte - am 1 1 . April 390 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35765-2
hatte das Großherzogtum die Verfassung angenommen - , es also >nur< noch auf den Kampf um die Realisierung der Reichsverfassung ankam.413 Aber selbst das stand für den Radikalismus und Republikanismus nicht im Vordergrund - die Reichsverfassung war für ihn und damit für die dominierende Strömung der badischen Opposition vielmehr Mittel zum Zweck: zum Zweck der endlichen Verwirklichung der badischen Staatsreform, auf die man seit dem März 1848 gewartet hatte. Insofern hatten jene Kritiker auf der Seite der Konstitutionellen recht, die dem badischen Republikanismus diese Instrumentalisierung der Reichsverfassung sofort vorwarfen. »Denn das muß wieder und wieder gesagt werden«, stellte der badische Korrespondent der Augsburger Allgemeinen schon am 20. Mai 1849 fest, »es handelt sich in Baden nicht um die Anerkennung und Durchführung der Reichsverfassung, sondern einzig und allein um Einführung der Republik.«414 Als einen »einigermaßen honneten Vorwand«, als »Mantel«, den sich die republikanische Bewegung rasch umhängte, bezeichnete Ludwig Häusser in seinen »Denkwürdigkeiten« den Kampf für die Reichsverfassung in Baden.415 Beide irrten zwar, wenn sie an jenes zielstrebige und aktive Hinarbeiten auf die Republik mittels eines gewaltsamen Umsturzes glaubten, das sich schon im April und September des Vorjahres als unmöglich erwiesen hatte - die Republik fiel den badischen Republikanern im Mai 1849 in den Schoß, und entsprechend unvorbereitet, ja teilweise hilflos, reagierten sie. Aber in der Tat stand der Kampf für die Reichsverfassung im Frühjahr 1849, wie zahllose Artikel in der jeweiligen Parteipresse zeigen, vor allem auf der Fahne der Konstitutionellen, der »Vaterländischen«, die bereits seit 1847/48 der nationalen Entwicklung jenen Primat einzuräumen bereit waren, den der lokale Radikalismus bestritt, weil er dem Handlungs- und Erfahrungshorizont seiner Anhängerschaft nicht entsprach. Die Reichsverfassung war gut, solange sie als Legitimationstitel für innerbadische Reformen dienen konnte: Das galt in einem konkreten Sinne, wenn etwa der § 184 des überarbeiteten Grundrechtekatalogs die Selbstverwaltung der Gemeinden feststellte,416 aber auch ganz allgemein, sofern die Aufregung um die Reichsverfassung dazu genutzt werden konnte, die seit dem Herbst 1848 immer wieder erhobenen Forderungen nach einer Abschaffung der Stände, nach einer >Konstituierenden Versammlung< und nach >VoIkssouveränität< - ob unter einem präsidentenähnlichen Fürsten oder in einer >echten< Republik, war nach wie vor zweitrangig - endlich ihrer Verwirklichung näherzubringen. Gerade diese Konzentration auf die innerbadische Reform machte die Mairevolution in der Bevölkerung akzeptabel oder doch mindestens zu einer Alternative, die man nicht rundheraus ablehnen konnte: Sie beruhte auf den seit längerer Zeit gehegten Wünschen vor allem des kleinstädtischen Radikalismus. Die republikanische Revolution in Baden war deshalb kein 391 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35765-2
Putsch oder Gewaltstreich einer kleinen Schar politischer Hasardeure, keine blanquistische Machtergreifung einer kleinen Clique um Lorenz Brentano und Amand Goegg; ein Bekk ablösendes Ministerium Brentano hätte spätestens seit dem März 1849 ohnehin den Wünschen einer Mehrheit der badischen Bevölkerung entsprochen. Sie war auch nicht in erster Linie der militärische Kampf um ihre eigene Selbstbehauptung, zu dem nicht zuletzt eine reichhaltige Memoiren- und Erinnerungsliteratur die badische Mairevolution auf eine Weise stilisiert hat, die in vielen auf Truppenbewegungen und Gefechte konzentrierten Darstellungen bis heute fortwirkt. 417 Die politisch-sozialen Ziele der Revolution, ihr ideologisches Fundament, vor allem aber ihr Vollzug in den Gemeinden, ihre Akzeptanz und Legitimität in der Bevölkerung sind demgegenüber vernachlässigt worden. 418 In dieser Perspektive war die badische republikanische Revolution nur die Konsequenz, die das radikalisierte Gemeindebürgertum aus der politischen Entwicklung seit dem Vormärz zog - und diese Vorgeschichte erhöhte ihre Erfolgschancen, wie sie zugleich auf andere Grenzen des badischen Republikanismus verweist, als sie durch die militärische Entscheidung innerhalb weniger Wochen gezogen wurden. Daß sich die Situation in Baden weiter zuspitzte, daß die Unruhe in der Bevölkerung noch einmal wuchs, war in den ersten Maitagen unübersehbar, und es ist erstaunlich, wie sehr sich ein informierter Beobachter wie der preußische Gesandte v. Arnim in seiner Beurteilung der Stimmung verschätzte: Immer wieder meinte er feststellen zu können, die »Wühlerpartei« habe ihren Einfluß im Volke verloren, ein Aufstand sei unwahrscheinlicher als früher, und noch am 6. Mai glaubte er, zu der bevorstehenden Volksversammlung in Offenburg werde sich kaum mehr »als ein großer Haufen des gegenwärtig hier noch immer sehr zahlreichen Lumpengesindels zusammenfinden«. 419 Dabei begann am selben Tage, ähnlich dem Beginn der Revolution vierzehn Monate zuvor, mit Beschlüssen, Aufrufen und Adressen der größeren Städte eine neue Welle der Mobilisierung und des Protests. In Mannheim versammelten sich Gemeinderat und Bürgerausschuß am 6. Mai und protestierten gegen die bayerischen Truppen, die auf dem Weg in die aufständische Pfalz das Großherzogtum durchquerten; »alle deutschen Gemeinden und Bürger« wurden aufgefordert, sich diesem Beschluß anzuschließen. 420 Am folgenden Tag kam es zu kleineren Unruhen in der Stadt, als das Gerücht umging, in Mannheim stationierte Soldaten sollten nach der bayerischen Pfalz ausrücken; wiederum versammelte sich der Gemeinderat, der von einer vor dem Rathaus versammelten Menschenmenge unter Druck zu setzen versucht wurde. 421 Die Unruhe im radikalen Teil der Mannheimer Bürgerschaft nahm zu, und die Nervosität wuchs allgemein. Am 7. Mai versammelte sich die konstitutionell ausgerichtete Karlsruher Bürgerwehr und verabschiedete 392 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35765-2
eine an alle badischen Bürgerwehren gerichtete Erklärung, die ebenfalls gegen die Truppendurchzüge protestierte und die Bereitschaft zur vorbehaltlosen Verteidigung der Reichsverfassung ausdrückte. 422 Ausdrücklich namens des Gemeinderates und Bürgerausschusses unterstützt durch eine Ansprache Bürgermeister Winters, machte die radikale Heidelberger Bürgerwehr am folgenden Tag mit ihrem Beschluß noch deutlicher, daß dabei die Anwendung von Gewalt nicht ausgeschlossen sein sollte, obwohl ihr die Verfassung »nur als das geringste Maß gerechter Forderungen« galt. Kleinere Unruhen folgten; Welcker wurde mit Steinwürfen verfolgt; er und Gervinus als Führer jener Konstitutionellen, die nach Ansicht Vieler das Volk >verraten< hatten, erhielten eine Katzenmusik. 423 Aber auch in ländlichen Gegenden stieg die Spannung zur gleichen Zeit an. In Mosbach verweigerten zwei zu den Republikanern zählende Gemeinderäte den Eid auf die badische Verfassung, weil sie den darin enthaltenen Schwur der Treue zum Fürsten nicht leisten wollten; 424 im Bezirk St. Blasien ging Anfang Mai das Gerücht, alle jungen Männer sollten unter Androhung eines >Volksgerichts< zu einem Zug nach Karlsruhe aufgefordert werden, um den Großherzog zur Abdankung zu zwingen; auch Mutmaßungen über einen bewaffneten Zug von Mannheim in die Hauptstadt im Falle entsprechender Beschlüsse der Offenburger Versammlung kursierten, während das Innenministerium noch naiv meinte, »zu einem solchen gewaltsamen Versuche« sei »kein sichtbarer Anlaß vorhanden«. 425 Mit dem, was einige Tage später geschah, hatte aber niemand gerechnet, obwohl genauen Beobachtern schon einige Wochen früher aufgefallen war, wie »auch in unserem Heere sich allmählich der Geist der Freiheit zu entfalten beginnt« : 426 Am 11. Mai begann eine Meuterei der Soldaten in der Bundesfestung Rastatt, die am folgenden Tag bereits fest in der Hand der Aufständischen war; in den unmittelbar darauffolgenden Tagen schlössen sich die Soldaten in den anderen badischen Garnisonen Karlsruhe, Lörrach, Freiburg, Mannheim und Bruchsal an. 427 Die Bedeutung dieses Militäraufstandes für den weiteren Verlauf der badischen Revolution ist schwer zu beurteilen. Einerseits bildete diese neue, scheinbar unkontrollierbare Dimension der Vorgänge unzweifelhaft den wesentlichen Auslöser für die Flucht des Großherzogs und der Regierung, die vor den Forderungen der Offenburger Versammlung und ihrer höflich im Schloß vorstellig werdenden Deputation allein sicher nicht gewichen wären, und schuf damit das Vakuum, in das der Landesausschuß leicht eintreten konnte. Andererseits hatte der Militäraufstand alleine, der sich nicht zuletzt an konkreten Mißständen in der Behandlung der Soldaten durch die Offiziere entzündete, weder ein konzises politisches Programm noch erst recht gestalterische Kraft; und der Machtverlust der Regierung war im Mai so weit fortgeschritten, daß ihr Auseinanderfallen vor der erneuten revolutionären Bewegung 393 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35765-2
seit dem 12. Mai auch ohne die militärische Erhebung durchaus denkbar gewesen wäre. Die republikanische Bewegung jedenfalls profitierte von der Rastatter Erhebung, aber der Soldatenaufstand blieb ihr im Grunde fremd; bewußt für sich zu nutzen verstand der Landesausschuß ihn kaum. Insofern war die Offenburger Landesversammlung der Volksvereine, die am 12. Mai mit einem Delegiertenkongreß begann und am Tag darauf mit einer Volksversammlung fortgesetzt wurde, die wichtigere Zäsur. Mit ihr knüpfte der Radikalismus bewußt an die beiden Offenburger Versammlungen im September 1847 und im März 1848 an, und wie ihre Vorgänger verabschiedete auch diese Versammlung ein Programm, das keine abstrakten Staatsgrundsätze formulierte, sondern die Forderungen und Interessen des radikalen Gemeindebürgertums und des >Erfahrungsrepublikanismus< bündelte; Forderungen, die zum Teil weit in die Zeit des Vormärz zurückwiesen, zum Teil erst ein Ergebnis der Revolutionsdynamik des vorausgegangenen Jahres waren. Das Wort >Republik< vermied man; es gab inzwischen heftige Differenzen im Landesausschuß der Volksvereine über die Frage einer sofortigen Proklamierung der badischen Republik, die Amand Goegg befürwortete, die Lorenz Brentano aber zurückwies. Für die Mehrheit war die Staatsform keine enge, dogmatische Frage - als entscheidend galt der »Grundsatz der Volkssouveränität«, 428 wie er seit dem Herbst 1848 zu einem Leitbegriff der badischen republikanischen Bewegung geworden war. Von den 16 Punkten des Programms richtete sich nur der erste auf Reichsverfassung und >nationale< Politik, alle anderen bezeichneten jene Forderungen der badischen Staatsreform, die nun schon seit Monaten erhoben worden waren: Das Ministerium Bekk sollte entlassen und durch ein Ministerium Brentano ersetzt werden; die Kammern waren aufzulösen und eine »Verfassunggebende Landesversammlung« neu zu wählen. Der wirtschafts- und sozialpolitische Teil des Programms forderte die unentgeltliche Aufhebung aller Grundlasten, die Einführung einer progressiven Einkommensteuer und die »Enrichtung einer Nationalbank für Gewerbe, Handel und Ackerbau zum S c h u z e gegen das Übergewicht der großen Kapitalisten«. 429 Nach wie vor bildete die Autonomie der lokalen Politik gegenüber dem Zentralstaat eine der wichtigsten Forderungen des Radikalismus: Als gäbe es die liberale Gemeindeordnung nicht, hieß es im zehnten Programmpunkt, die Gemeinden müßten »unbedingt selbständig erklärt werden«, hinsichtlich der Verwaltung des Gemeindevermögens und der Wahl ihrer Gemeindevertreter: Jedes staatliche Aufsichts- und Bestätigungsrecht in dieser politischen Sphäre sollte aufhören; und weil die bisherigen Gemeindebehörden vermeintlich unter starkem Einfluß der Beamten gewählt worden waren, forderte das Offenburger Programm zugleich, alle Gemeindebehörden im ganzen Lande »alsbald« neu wählen zu lassen. Diese starke Betonung 394 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35765-2
kommunalistischer Autonomie wurde in einem weiteren Punkt radikalisiert, der doch ganz in der vertrauten Tradition des antibürokratischen Affektes stand: »Die alte Verwaltungs-Bürokratie muß abgeschafft werden«; das System bürokratischer Beamtenherrschaft sollte ganz verschwinden, nicht etwa nur reformiert oder eingeschränkt werden; an seine Stelle müsse »die freie Verwaltung der Gemeinden oder anderer Körperschaften treten«. 430 Das war zugleich eine eindeutige Antwort auf das gerade verabschiedete Verwaltungsreformgesetz - aber es war eine illusionäre Forderung umso mehr, als der Radikalismus und Republikanismus sich seit 1846/47 einer modernen sozialpolitischen Programmatik zu öffnen begonnen hatte, deren Verwirklichung die ohnehin an die Grenzen ihrer ökonomisch-sozialen Leistungsfähigkeit gestoßene Bürgergemeinde endgültig überfordert hätte. Dennoch galt dieses Ziel eines bürgerlich-kommunalistisch organisierten Flächenstaates, einer kommunalistischen Republik den Zeitgenossen nicht nur als erstrebenswert, sondern offenbar auch als erreichbar und realistisch dieser Erwartungshorizont, diese traditionalistische Utopie des frühen deutschen Liberalismus ging jedoch mit dem Scheitern der Revolution endgültig zu Ende, nachdem die >ZivilkommissärsOrdnung< in ihrer Gemeinde fürchteten. 431 Diese Ängste, die in der Bürokratie freilich noch stärker waren, erwiesen sich erneut als unbegründet: Wie schon 1847 und 1848 gestaltete sich die Versammlung als ein fröhliches Volksfest, zu gewaltsamen Unruhen kam es nicht, und ein Beobachter stellte fest: »Vom Proletariate aber, wie man es im Norden Deutschlands in Volksversammlungen anzutreffen pflegt, nirgends eine Spur.« 432 Nach unterschiedlichen Angaben waren am 13. Mai zwischen 20.000 und 40.000 Menschen in Offenburg versammelt, 433 eine Anzahl, die relativ gut mit der geschätzten Mitgliederzahl der badischen Volksvereine und mit der Zahl der Unterschriften für die Kammerauflösung übereinstimmt: Insofern scheint das unmittelbar mobilisierungsfäige Potential des badischen Radikalismus seit dem Spätherbst 1848 relativ konstant geblieben zu sein. Da es sich offiziell um einen Landeskongreß der Volksvereine handelte, der an die Kreiskongresse des Vormonats anknüpfte, wird ein großer Teil der Anwesenden tatsächlich den Volksvereinen und insbesondere seinen lokalen Führungsgruppen angehört haben. An die Ereignisse der 48 Stunden zwischen dem 12. und 14. Mai 1849 braucht hier nur kurz erinnert zu werden: Noch am ersten Tag des Kongresses begab sich eine dreiköpfige Delegation, zu der Bürgermeister Rée und 395 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35765-2
der Freiburger Volksvereinsvorsitzende Karl v. Rotteck jr. gehörten, nach Karlsruhe, um eine Amnestie, das Einkammersystem und den Rücktritt des Ministeriums Bekk-Mathy zu fordern: 434 Das war der Minimalkonsens, in dem die immer mehr auseinanderstrebenden Handlungsoptionen der republikanischen Bewegung zusammenfinden konnten, der aber zugleich breiter Unterstützung in der Bevölkerung sicher sein konnte. Die Forderungen wurden nicht erfüllt; der Landesausschuß begab sich am Abend des 13. Mai zunächst nach Rastatt; in der Nacht floh der Großherzog und mit ihm die Regierung nach Nordwesten über den Rhein nach Mainz, weniger aus Angst vor der Offenburger Bewegung als aus Sorge über sich verdichtende Anzeichen für einen Aufstand der Soldaten in der Karlsruher Garnison. 435 Aber politisch stand die Angst vor der Absetzung, möglicherweise der Verhaftung, hinter der Flucht des Fürsten, also die Angst vor einer perhorreszierten Republik - und insofern kann man diese Flucht durchaus als ein verfassungspolitisches Mißverständnis bezeichnen: Großherzog und Regierung erwarteten von den Republikanern die Republik in einem modernen Sinne, der mit der Monarchie völlig unvereinbar war, während die Mehrheit der badischen republikanischen Bewegung an einer Abdankung des Fürsten gar kein überragendes Interesse hatte: Politisch schien er ohnehin nur noch eine Nebenrolle zu spielen, die so oder so auf eine rein repräsentative Funktion hinauslief; die Regierung bestimmte de facto schon seit längerem die Grundsätze der Politik; und auf ihren Rücktritt und auf die Beseitigung der Bürokratie kam es an, wenn Volksstaat und Volkssouveränität verwirklicht werden sollten. So dachte jedenfalls Brentano und mit ihm die überwiegende Mehrheit des kommunalen Radikalismus. Das >Mißverständnis< der Flucht erst zwang diese traditionellen Republikaner, den neuen Republikbegriff zu verwirklichen. In seiner Angst vor völliger >Anarchie< in der badischen Hauptstadt beschloß der keineswegs radikal gesinnte Karlsruher Gemeinderat noch am Morgen des 14. Mai, eine Abordnung nach Rastatt zu schicken und den Landesausschuß zur Übernahme der Geschäfte und zur Sicherstellung der Ordnung in die Stadt zu bitten. 436 Das ließ sich Brentano nicht zweimal sagen; nach einer kurzen Ansprache vom Balkon des Rastatter Rathauses fuhr der Landesausschuß nach Karlsruhe und hielt unter dem Jubel der Bevölkerung einen feierlichen Einzug in die Stadt. Obwohl bei dieser Art der Begrüßung in der relativ konservativen Residenzstadt die Hoffnung auf Sicherheit und Ordnung eine größere Rolle spielte als revolutionäre Euphorie, 437 war sie doch nicht selbstverständlich: Sie setzte voraus, daß einer Gruppe von Männern, die formell nur an der Spitze einer Vereinsorganisation standen, politischer >Legitimitätsglaube< entgegengebracht wurde, und das war nur möglich, weil derLandesausschuß in der Sicht eines großen Teils der Bevölkerung bereits seit Monaten in die Rolle einer Gegenregierung 396 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35765-2
hineingewachsen war in dem Maße, wie die Legitimität der Regierung Bekk verfiel. Aber der Landesausschuß, das war bezeichnend für sein Selbstverständnis als Vertretung einer von den Gemeinden ausgegangenen >Basisbewegung< ebenso wie für die Erwartungen, die von dieser an ihn gerichtet wurden, verstand sich nicht einfach als neue, das Ministerium Bekk ablösende Regierung: Er bezog nicht das Schloß und die Amtsstuben der Ministerien, sondern richtete seinen Arbeitssitz im Karlsruher Rathaus ein, von wo aus Brentano sich noch am selben Tage mit einer Ansprache an die Bevölkerung wandte. 438 Hier wurde freilich sofort ein Dilemma, hier wurden die inneren Widersprüche einer Oppositionsbewegung, die halb wider Willen zur Macht gelangt war, deutlich: Der Landesausschuß wollte keine Regierung, sondern eher ein Verwaltungsausschuß des Landes sein, dessen eigentliche Politik in den Gemeinden gemacht wurde, war aber zugleich gezwungen, die >Geschäfte< der Regierung zu führen und mußte zumal angesichts der krisenhaften Bedingungen, unter denen seine Arbeit von der ersten Stunde an stand, auch wie die Regierung eines Zentralstaates handeln. Noch am ersten Tag bildete er eine »Exekutivkommission«, die eine Art Ressortverteilung vornahm; Lorenz Brentano selber war als »Präsident« der Kommission zugleich für das Äußere und Innere zuständig, Amand Goegg für die Finanzen, Ignaz Peter für Justiz; erst zwei Wochen später akzeptierte man für sich selber die Bezeichnung »Regierung«, aber immer noch mit dem Zusatz »provisorisch«. Die Spannungen innerhalb des Landesausschusses wuchsen und wurden schnell auch nach außen erkennbar. Goegg und der radikal-republikanische Flügel warfen Brentano >Halbheit< und Verrat an den Zielen der republikanischen Bewegung vor, 439 aber der finanziellen und bald auch der militärischen Zwangslage, die Revolution nach außen verteidigen zu müssen, hätten auch sie sich nicht entziehen können, und die bloße Proklamierung einer Republik wäre noch kein politisches Programm gewesen. So war die Regierung des Landesausschusses gekennzeichnet durch Aufrufe und Appelle zur Bewältigung der doppelten Zwangslage einerseits, durch den Versuch einer mindestens partiellen Verwirklichung der Offenburger Beschlüsse andererseits: Das Offenburger Programm vom 13. Mai 1849 wurde zu einer Art Regierungsprogramm des Landesausschusses und der Provisorischen Regierung. 440 Wichtiger als die Karlsruher Ereignisse war jedoch für den Erfolg der republikanischen Revolution, wie der lokale Radikalismus auf sie reagieren würde, ob die republikanische Partei in den großen und kleineren Städten sie unterstützen und auf kommunaler Ebene, in einer Art republikanischen Gemeinderevolution, nachvollziehen würde. Das war in der Tat der Fall; und mehr noch: Die Gemeinden reagierten nicht erst auf die Aufrute und Verordnungen des Landesausschusses seit dem 14. Mai, sondern machten 397 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35765-2
ihre eigene Revolution teilweise schon früher oder zeitlich parallel, aber ohne schon von dem Karlsruher Machtwechsel zu wissen, und das unterstreicht noch einmal die Stärke der lokalen Verankerung des badischen Radikalismus und seine politisch-kulturelle Dominanz an der Basis. Mit großen Erwartungen waren die Delegationen vieler Gemeinden nach Offenburg gereist, und unabhängig von den dort gefaßten Beschlüssen kehrten sie häufig in einer Stimmung republikanischer Euphorie zurück, die dann eine mitreißende Eigendynamik entfalten - aber aus demselben Grund auch labil sein konnte. In einem feierlichen Zug marschierten die Ettenheimer Republikaner, größtenteils Mitglieder des Bürgervereins »Patriotenkammer«, aus Offenburg kommend am Abend des 13. Mai in ihrer Heimatstadt ein; einer von ihnen trug eine rote Fahne; den Mitbürgern verkündeten sie: »Jetzt geht's los, jetzt haben wir die Republik«. 441 Kurz darauf, gegen acht Uhr, begaben sich 100 Männer der schon lange überwiegend republikanisch gesinnten Bürgerschaft Ettenheims vor und in das Amthaus, verkündeten dem Amtmann die Beschlüsse der Offenburger Volksversammlung und forderten erfolgreich die Freilassung der politischen Gefangenen, die noch wegen der Eisenbahnzerstörung im September 1848 einsaßen. Die nächste Station war das Rathaus, von wo aus namens des Gemeinderates alle waffenfähigen Männer von 18 bis 30 Jahren aufgefordert wurden, sich am 14. um vier Uhr morgens vor dem Rathaus einzufinden. 442 Ein verhaßter Steuereinnehmer wurde abgesetzt, aber sein republikanischer Nachfolger wartete in seinem Büro vergeblich auf ahlungswillige Bürger. 443 In Weinheim, ebenfalls eine republikanische Hochburg, begann die Revolution erst am Vormittag des 14. Mai, nachdem Soldaten die Nachricht von der Flucht des Großherzogs mitgebracht hatten. 444 Während ein Beamter des Bezirksamtes sofort floh, versuchte der Amtmann v. Kraft-Ebbing, die Gemeindebehörden auf seine Seite zu ziehen; man beschloß, eine Sicherheitsmannschaft aufzustellen. Absprachen dieser Art waren häufig, aber sie bedeuteten keine politische Festlegung der Gemeindebehörden zugunsten der alten Bürokratie; es ging beiden jedoch nach wie vor um die Vermeidung gewaltsamer Ausschreitungen, und die Bewaffnung der Bürger war ohnehin ein Ziel der Revolution. Einen Tag später kehrten die aus der Bruchsaler Haft befreiten Weinheimer Eisenbahnzerstörer in die Stadt zurück, und diese Rückkehr wurde wie ein republikanisches Fest gefeiert: Im vierspännigen Wagen zogen sie in Weinheim ein, begleitet von Jubel und Musik, Gesang und Tanz. Mit der Freilassung der gefangenen Mitbürger war bereits eine in den Gemeinden als ganz zentral erachtete Forderung der Revolution erfüllt. - In Haslach wiederum, ein drittes Beispiel aus jenen kleineren Städten, die von der republikanischen Euphorie im Mai 1849 besonders stark erfaßt wurden, war die Rückkehr von der Oftenburger Versammlung das entscheidende Signal: »Von jetzt ab tobte die Revolution 398 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35765-2
in unserem kleinen Städtchen wie ein alles mit sich reißender Strom«, erinnerte sich der Schriftsteller Heinrich Hansjakob, damals ein zwölfjähriger Junge, später an die Stimmung in Haslach: »Neun Zehntel der Haslacher Menschen, die Weiber und Mädchen mitgerechnet«, seien »republikanisch verrückt geworden«. Alle arbeiteten für die Revolution: Die Hutmacher walkten Heckerhüte, die Frauen nähten Blusen, Schuster und Sattler fertigten Tornister und Patronentaschen, »und uns Knaben blieb nur das Zuschauen und das Rupfen der Hähne und Hennen«, um Federn an die Heckerhüte stecken zu können. 445 Diese Form der revolutionären Begeisterung war nur im kleinstädtischen und ländlichen Milieu möglich, aber auch die größeren badischen Städte vollzogen den Regimewechsel für sich nach. In Mannheim fand noch am 14. Mai eine Volksversammlung statt, die offiziell die Offenburger Beschlüsse für die Stadt Mannheim anerkannte; hier wie auch in Freiburg am selben Tage wählte man einen »Sicherheitsausschuß«, eine Institution, die wie schon die Bürgerwehren seit dem März 1848 in einer Schwebelage zwischen Ordnungsinteressen und revolutionärer Gegenbehörde blieb. 446 Viel hing von dem jeweiligen Verhalten der Gemeindebehörden ab. Ob sie die Revolution tür ihre Gemeinde anerkannten oder nicht - sie waren in dieser Situation einer besonders starken plebiszitären Mobilisierung gezwungen, dem jeweiligen Mehrheitswillen der Bürgerschaft zu folgen, wenn sie nicht ihre Ämter verlieren wollten. Der Heidelberger Gemeinderat und Bürgerausschuß verabschiedete am 14. Mai eine Erklärung, die den Bürgerwehrbeschluß der Vorwoche und den Willen zur vorbehaltlosen Unterstützung der Reichsverfassung bekräftigte, sich in der Frage der Anerkennung des Karlsruher Machtwechsels freilich zurückhielt. 447 Wiederum agierten kleinere Städte schneller und entschiedener: Noch am Morgen des 14. Mai um acht Uhr, also bevor der Landesausschuß nach Karlsruhe gekommen war und sogar vor dem Bekanntwerden der Flucht des Großherzogs, faßten Gemeinderat und kleiner Bürgerausschuß von Baden-Baden auf einer außerordentlichen Sitzung den Beschluß, sich den Zielen und dem Programm der Offenburger Landesversammlung »zu unterwerfen«; 448 im Verlaufe desselben Tages »unterwarf« sich auch der Durlacher Gemeinderat in einer offiziellen Erklärung der »provisorischen Regierung«, die es im Selbstverständnis des Landesausschusses zu diesem Zeitpunkt ja noch gar nicht gab. 449 Das feierliche Pathos symbolischer >Selbstinszenierung< der republikanischen Gemeinderevolution wurde besonders anläßlich der Bereitstellung bewaffneter Aufgebote der Bürgerwehr in den folgenden Wochen deutlich. So trat der Brettener Bürgermeister Beutemüller am 6. Juni 1849, eine rote Fahne in der Hand, aus dem Rathaus heraus, der Gemeinderat zog geordnet hinter ihm her, und Beutemüller hielt eine Rede an die vor dem Rathaus versammelten Soldaten. Für die zahlreichen kleineren Versamm399 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35765-2
lungen, die in diesen Wochen in Bretten (wie vielerorts) stattfanden, hatte man eigens eine Tribüne erbaut, die ringsum mit roten Rosen verziert war. 450 Die Lahrer Gemeindebehörden dagegen mußten dem Druck der radikalisierten Bürgerschaft weichen. Schon am 10. Mai hatte eine Gemeindeversammlung stattgefunden, auf der Bürgermeister Groß entschieden für die Anerkennung der Reichsverfassung eintrat, aber auch vor »Sansculottismus« und »Freischarenputschen« warnte. Die Versammlung erhob die Anerkennung der Reichsverfassung einstimmig zum Gemeindebeschluß, aber vier Tage später genügte das nicht mehr: Auf einer erneuten Gemeindeversammlung in Lahr am Mittag des 14. Mai versuchte Groß, die Bürgerschaft von einer formellen Anerkennung der Offenburger Beschlüsse abzubringen, stieß damit aber auf so starken Widerstand, daß er und der gesamte Gemeinderat den Rücktritt erklärten; vier Tage später wurde der Kaufmann Wilhelm Schubert, ein entschiedener Republikaner, der inzwischen bereits das Amt des Zivilkommissärs versah, zum neuen Bürgermeister von Lahr gewählt. 451 Sogar der Karlsruher Gemeinderat beschloß, »in Rücksicht auf die in den öffentlichen Zuständen eingetretene Veränderung«, am 16. Mai seinen Rücktritt, blieb aber vorläufig geschäftsfuhrend im Amt. 452 Wie sehr die republikanische Revolution in den Gemeinden eine von den Offenburger und Karlsruher Ereignissen unabhängige Dynamik entfalten konnte, zeigte die Entwicklung im nordbadischen Philippsburg: Schon am Morgen des 13. Mai kam es zu Tumulten, als der Bürgermeister Heintz auf Geheiß des Amtmanns Kirchgeßner Plakate mit der Reichsverfassung und den Grundrechten, die gegenüber dem Amtsgebäude angeschlagen worden waren, abnehmen ließ. Die Mitglieder des Volksvereins hängten die Plakate wieder auf; sie und viele andere Anhänger der Radikalen bewegten sich zum Rathaus, setzten den Bürgermeister kurzerhand ab und ernannten den bisherigen Gemeinderat Maurer, der ihrer eigenen Partei angehörte, zum provisorischen Bürgermeister. 453 »Zum ersten Mal macht ein deutsches Land den revolutionären Übergang von der Monarchie zur Republik durch«, hat Veit Valentin das Gefühl der Zeitgenossen in den Tagen der badischen Mairevolution zu resümieren versucht: »das ist einfacher, als es sich die meisten vorher gedacht haben.« 454 Jedenfalls lagen die Konservativen ebenso wie die äußerste linke Opposition gegen Brentano und den Landesausschuß offensichtlich falsch, wenn sie die Akzeptanz der Republik allein auf »revolutionären Terrorismus« zurückführten. 455 Friedrich Engels' Urteil, mit Ausnahme der »wenigen Adeligen, Beamten und Bourgeois« sei »das ganze Land ungeteilt für die Bewegung gewesen«, 456 ist zwar übertrieben, aber in der Tat wurde die republikanische Mairevolution in den Gemeinden mehrheitlich entweder unterstützt oder doch hingenommen; eine spätestens seit dem Herbst 1848 aufgestaute 400 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35765-2
Unzufriedenheit entlud sich, die die Flucht des Großherzogs und der Regierung zum Teil gar nicht mehr abwartete. Die Erwartungen, die sich in den kleinen Städten mit Republik und Volkssouveränität verbanden, blieben diffus und zugleich sehr konkret auf lokale Konfliktlagen bezogen: Der verhaßte Bezirksbeamte sollte verschwinden, möglicherweise auch die Gemeindebehörden, wenn sie noch mit diesem kooperierten, ausgewechselt werden. Viele meinten, die Zeit des Steuerzahlern sei in einer Republik endgültig vorbei, da man einer Regierung und der >stehenden Heere< der Beamten und Soldaten nicht mehr bedürfe. 457 Die Behauptung und Sicherung lokaler, kommunaler Freiheit und Autonomie gegenüber allen Ansprüchen und Einmischungen einer >Zentrale< blieb insofern im Frühjahr 1849 das wichtigste Ziel des republikanischen Radikalismus, der im Augenblick seiner >Machtergreifting< so wenig wie früher eine >totaleProletariats< im modernen Sinne noch glauben, »wenig Reichtum, wenig Armut, lauter Mittelstand und Mittelmäßigkeit«; 459 befreit von Fürst, Beamtentum, Armee und Steuern, wollte man die verklärte lokale Autonomie und kleinbürgerliche Selbständigkeit verteidigen und bewahren, deren Gefährdung von der Ausdehnung des bürokratischen Anstaltsstaates und von der gewerblich-industriellen Entwicklung des Vormärz, also >von außen