Geld und Gewinn: Zur Erweiterung monetär-ökonomischer Logiken 9783495998953, 9783495998946


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Table of contents :
Cover
Profit aus Glaubenmachen – Gewinn aus Dichtung: Wirtschaft als Wahrheitskampf
Der Markt als Wahrheits(T)raum für den Maschinen-Menschen
Die Dogmengeschichte als Agententhriller, oder wie man eine betrügerische Gegenwart durch detektivische Beweisführung aus der Vergangenheit aufklärt
Agnotologie, Wille zur Ignoranz, Doppelwahrheit, schlüpfrige Pfade des großen Niemand, und der Verlust dichterischer Weisheit
Wille zu Macht, Nihilismus, Immunologie, Anthropotechnik und Heimatverlust aus Seinsvergessenheit
2. Die Entscheidung
Glauben-Machen als Einkommensquelle und Herrschaftsgrundlage feiner Leute
Bedeutung von »feine Leute« und »leisure class« auf sprachlicher Ebene
Die Eigentumsordnung als rechtlich abgesichertes Glaubenmachen durch feine Leute
Finanzkapital, Kreditexpansion und Inflation aller Geldwerte: Glaubenmachen durch abwesende Eigentümer (feine Leute)
Legalisiertes Glaubenmachen als abergläubisches Gehirngespinst aus Imponderabilien und Einnahmequelle der feinen Leute
Werbung als Fabrizierung massentauglicher und trügerischer Überzeugungen im System des Glaubenmachens feiner Leute
Wirtlicher Gewinn aus dichterischer Wahrheit
Machtgewinn.
1. Einleitung
2. Die unternehmerische Mafia als Gegenstand der Forschung
3. Mafia und Macht – eine lange Geschichte
3.1 Die ursprüngliche Mafia
3.2 Von der Subsistenzwirtschaft zu hohen Umsätzen – die Entstehung der unternehmerischen Mafia
3.3 Die unternehmerische Mafia in der wirtschaftlichen Grauzone
3.4 Die Organisationsstruktur der unternehmerischen Mafia – zwischen Netzwerken und Zentralisierung
4. Zum Spannungsfeld »Macht« vs. »monetärer Profit« – ein Ausblick
Gewinnkonzepte und die »Logik des Gewinns«.
Zum Ergänzungsverhältnis von Ordnungspolitik und individualethischer Selbstverpflichtung
1. Kritik an bestehender Wirtschaft und die Wirtschaft als »Black Box«
1.1 Kritik an ungerechter Verteilung
1.2 Kommodifizierungskritik und die Frage nach dem guten Leben
2. Alternative Wirtschaftsakteure und ihre Kritik an den Werten, Normen und »Logiken« der bestehenden Wirtschaft
3. Die systemischen Wirkungen des Marktes
4. Ökonomisierung
5. Fazit: Einbettung und Begrenzung von Märkten
Jenseits der Logik des Marktes.
Vorbemerkung
Einleitung
Der Tausch auf dem Markt
Der Markt, seine Grenzen und ihre Überschreitung
Zur Person Marcel Mauss und zur Intention von Die Gabe
Gabenpraktiken
Potlatsch
Kula-Ring
Die Gabe – Geschenk oder Tauschgegenstand?
Kategorien der Beschreibung des Gabentauschs
Die M.A.U.S.S.-Bewegung
Agape und Gabe bei Paul Ricoeur
Agape und soziale Gerechtigkeit
Würde des Menschen
Das Ende der Arbeit in ökonomischen Utopien.
1. Einleitung
2. Ökonomische Utopien in der Geschichte des ökonomischen Denkens
3. Das Ende der Arbeit in ökonomischen Utopien
3.1 Johann Gottlieb Fichte
3.2 John Stuart Mill
3.3 Karl Marx
3.4 Oscar Wilde
3.5 John Maynard Keynes
3.6 Bertrand Russell
4. Die normativen Grundlagen der Wirtschaftstheorie
Märkte, Nicht-Märkte und gabenökonomische Reziprozitäten: zwischen Effizienz und Effektivität.
Ökonomie als Komplexion diverser Allokationsformen
Das wirtschaftliche Feld: der Nexus verschiedener Allokationsformen
Die Allokationsformen im Einzelnen
Gabenökonomie. Eine Extension des ökonomischen Interaktionsfeldes
E-commerce als Gabenökonomie: digitale Ökonomie. Neue Allokationsformate I
Digitale Ökonomie (II) als hybrides Arrangement von Gaben, Märkten und Nicht-Märkten
Multipler Nexus der Allokation: über die sechsfache Verschränkung von Märkten und Nichtmärkten. Neue Allokationsformate II
Ein joint utility-Argument: Ethik der Aggregation
Und fortan?
Das Verständnis des Gewinns im menschlichen Leben.
1.
2.
3.
4.
5.
Hiding in Plains Sight: Tracing the Anthropocene Mode of Production’s Emergence Between the North American Dust Bowls
The Anthropocene Mode of Production
From an Inland Sea to the Great American Desert
Culture Meets the Plains
The First Wave: the Cattle Kingdom, 1865–1886
The Second Wave: the Sod House Era, 1886–1895
The Third Wave: the Rise of Factory Farming, 1895–1931
The Fourth Wave: the Irrigation Empire, 1950s to Present
Conclusion
Ökonomie im griechischen Staat.
Der griechische Staat in Nietzsches Frühwerk
Einige Vorbemerkungen: Nietzsches Oncken-Lektüre und die quellenorientierte Analyse
Onckens Aristoteles als Ressource für Nietzsche
Arbeit und Würde im griechischen Staat
Zur Entstehung des Staates
Gewinnkonzeption der Ökonomie und Blüten der Gesellschaft
Der griechische Staat und die »Geldaristokratie«
Ausblick
The Immeasurable Value of Autonomy: On the Problem of Accounting for Dignity in the Economic Sphere
The Basic Axioms of Economic Thinking
Limiting the Scope of Goods-Characterization
Example 1: The Obliteration of Love
Example 2: The Destruction of Trust
Two Types of Necessity: Causality and Autonomy
The Source and Worth of Dignity
Autorinnen und Autoren
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Geld und Gewinn: Zur Erweiterung monetär-ökonomischer Logiken
 9783495998953, 9783495998946

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Elementa Œconomica

4

De Gennaro | Schäfer | Schuster (Hrsg.)

Geld und Gewinn Zur Erweiterung monetär-ökonomischer Logiken

https://doi.org/10.5771/9783495998953 .

https://doi.org/10.5771/9783495998953 .

Elementa Œconomica Herausgegeben von Ivo De Gennaro Sergiusz Kazmierski Ralf Lüfter Robert Simon Band 4

https://doi.org/10.5771/9783495998953 .

Ivo De Gennaro | Georg N. Schäfer | Sören E. Schuster

Geld und Gewinn Zur Erweiterung monetär-ökonomischer Logiken

https://doi.org/10.5771/9783495998953 .

Dieser Band wurde publiziert mit Mitteln der Freien Universität Bozen.

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Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-495-99894-6 (Print) ISBN 978-3-495-99895-3 (ePDF)

Band 1 und 2 der Reihe sind beim Verlag Traugott Bautz GmbH erschienen. 1. Auflage 2023 © Verlag Karl Alber – ein Verlag in der Nomos Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, Baden-Baden 2023. Gesamtverantwortung für Druck und Herstellung bei der Nomos Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG. Alle Rechte, auch die des Nachdrucks von Auszügen, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier (säurefrei). Printed on acid-free paper. Besuchen Sie uns im Internet verlag-alber.de https://doi.org/10.5771/9783495998953 .

Vorwort

Mit »Was ist Gewinn?« stellen die Beitragenden des vorliegenden sechsten Bandes der Reihe Elementa Œconomica1 einen zentralen Begriff des Ökonomischen in Frage. Dabei mutet es zunächst über­ flüssig oder gar merkwürdig an, den Begriff des Gewinns oder Verlusts in der Ökonomie zu diskutieren. Die etablierten Wirtschaftswissen­ schaften übersetzen Gewinne und Verluste jeglicher Art vollkommen selbstverständlich in monetäre Renten. Auf diese Weise wird bei­ spielsweise im Zuge der Umweltökonomik die ökologische Dimen­ sion (d.h. die Natur) als externer Effekt in eine monetäre Logik integriert und damit in den Begriffs- und Wirkungsbereich der Wirtschaftswissenschaften gezogen. Vor allem solche Ansätze, die sich selbst als alternativ zum ökonomischen Mainstream verstehen, haben in den vergangenen Jahrzehnten wieder vermehrt auf derartige Verluste als negative Effekte hingewiesen und für eine Internalisie­ rung der entsprechenden Bereiche in die ökonomische Modellierung argumentiert. Die oftmals nicht monetarisierte Care-Arbeit konnte so in den Fokus der öffentlichen Debatte gerückt und auf einen Anschluss an die monetär-ökonomische Logik vorbereitet werden. Es scheint, als hätten die Wirtschaftswissenschaften das Wirtschaftsgeschehen unter Kontrolle: reformiert durch den Druck gesellschaftlicher Debat­ ten und alternativ-ökonomischer Konkurrenz werden Schritt für Schritt soziale und ökologische Probleme in monetäre Logiken inte­ griert, auf dass sie über effiziente Allokationsmechanismen einer Lösung zugeführt werden können. Außerhalb der Wirtschaftswissenschaften wird diese Entwick­ lung allerdings schon länger kritisiert. Dabei argumentieren Forsche­ rinnen und Forscher für den Schutz gewisser Felder vor der Auswei­ tung der monetären Logiken, wenngleich die Unterscheidungslinie zwischen dem Ökonomischen und dem Monetären schwer fassbar bleibt. Im Falle der ökologischen Dimension etwa wird die Umwelt­ 1 Da der erste Band in drei Teilbänden (1.1 – 1.3) erschien, trägt dieser Band die Nummer 4.

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ökonomie als Übergriff des (monetär geprägten) Ökonomischen auf das zu schützende Feld der Ökologie gewertet. Die extra-ökonomische Kritik lässt sich zum Beispiel im Lichte der Diskrepanz zwischen dem desaströsen Zustand der planetaren Umwelt und dem jahrzehntelan­ gen akademischen Erfolg der Umweltökonomik durchaus nachvoll­ ziehen. Im sozialen Bereich wird nach der Einführung des Diagnosis Related Groups (DRG)-Fallpauschalensystems für einen Schutz der Krankenhäuser vor der monetären Logik plädiert. Ein Gewinn für die natürliche Lebenswelt müsse, so der extra-ökonomische Standpunkt, automatisch ein Verlust nach ökonomischem Maßstab sein. Auf diese Weise gehen sowohl die etablierten Wirtschaftswissenschaften als auch ihre Kritiker wie selbstverständlich von einem monetär verfass­ ten Ökonomiebegriff aus. Mit dem vorliegenden Band möchten wir die Konstitution des Gewinns in der Ökonomie grundsätzlich zur Diskussion stellen. Anlass dazu gibt nicht nur die Fragwürdigkeit des Erfolgs einer extraökonomischen Kritik in der Lösung gesellschaftlicher Herausforde­ rungen. Die Reduzierung der Ökonomie auf den monetären Gewinn erfolgte erst im Zuge der Ausdifferenzierung der Wirtschaftswissen­ schaften im 20. Jahrhundert und ist damit eine äußerst junge und, mit Blick auf die ökonomische Ideengeschichte, durchaus strittige Opera­ tion. Von der politischen Ökonomie im antiken Griechenland, die das Monetäre noch als Mittel kannte, über die christliche Heilsökonomie bis hin zur politischen Wohlfahrtsökonomie und dem interdiszipli­ nären Diskurs um eine Gabenökonomie – entlang der Wegmarken des ökonomischen Denkens herrscht eine ausgesprochene Vielfalt an Gewinnkonzepten. Aktuelle Debatten zur Sharing Economy, zur Gemeinwohlökonomie oder zur sozial-ökologischen Erweiterung des Bruttoinlandsprodukts zu einem tatsächlichen Wohlstandsindex zei­ gen zudem die Relevanz alternativer Gewinnkonzepte in der Praxis. So erfuhren in den vergangenen 20 Jahren ökonomische Logiken, die den Begriff des Ökonomischen erweitern, vermehrt Aufmerk­ samkeit. Angesichts sich wiederholender ökonomischer Krisen und eines immer noch erst anbrechenden Kultur- und Naturwandels im Anthropozän mag dies kein Zufall sein. Dennoch bleiben Ressourcen der Philosophie, der Politischen Ökonomie, der ökonomischen Ideen­ geschichte oder der Geschichts- und Literaturwissenschaften zur Ent­ faltung alternativer Gewinn- und Verlustkonzepte, und somit eines neuen Verständnisses des Ökonomischen, bisher weitgehend uner­ schlossen.

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Vorwort

Indem die Beiträge des Bandes die Frage »Was ist Gewinn?« neu stellen, tragen sie zur Erschließung dieser Quellen und somit zu einem neuen Entwurf des Horizonts des ökonomischen Diskurses bei. * Die Herausgeber danken Frau Nika Wiedinger (Berlin) für die Unter­ stützung bei der redaktionellen Betreuung dieses Bandes.

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Inhaltsverzeichnis

Sebastian Berger Profit aus Glaubenmachen – Gewinn aus Dichtung: Wirtschaft als Wahrheitskampf . . . . . . . . . . . . . . . Irene Colombi Machtgewinn.

Über die ökonomischen Ziele der Mafia . . . . . . . . . . . . . .

11

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Tanja von Egan-Krieger Gewinnkonzepte und die »Logik des Gewinns«. Zum Ergänzungsverhältnis von Ordnungspolitik und individualethischer Selbstverpflichtung . . . . . . . . . . . . . .

Marc Frick, Reiner Manstetten Jenseits der Logik des Marktes. Marcel Mauss, die Theorie der Gabe und die Idee einer friedlichen Welt

65

87

Christian E. W. Kremser Das Ende der Arbeit in ökonomischen Utopien. Von nicht-monetären Reichtumskonzepten als normativer Grundlage der Wirtschaftstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

115

Birger P. Priddat Märkte, Nicht-Märkte und gabenökonomische Reziprozitäten: zwischen Effizienz und Effektivität. Ökonomie als weites Feld des Wirtschaftlichen . . . . . . . . . . .

143

Masatoshi Sasaki Das Verständnis des Gewinns im menschlichen Leben. Zur Dialektik des Begriffs Gewinn . . . . . . . . . . . . . . . . .

173

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Inhaltsverzeichnis

Georg N. Schäfer Hiding in Plains Sight: Tracing the Anthropocene Mode of Production’s Emergence Between the North American Dust Bowls . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

195

Sören E. Schuster Ökonomie im griechischen Staat. Nietzsches Oncken-Lektüre und die Gewinnkonzeption des »allgemeinen Genius« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

229

Michaël Suurendonk The Immeasurable Value of Autonomy: On the Problem of Accounting for Dignity in the Economic Sphere . . . . . . .

257

Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . .

283

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Sebastian Berger

Profit aus Glaubenmachen – Gewinn aus Dichtung: Wirtschaft als Wahrheitskampf

Der Markt als Wahrheits(T)raum für den MaschinenMenschen Die Wirtschaftswissenschaft der Moderne befasst sich maßgeblich mit der Frage, was der Markt ist bzw. wie vom Markt zu denken ist. Aus eigener Erfahrung teilen wir hier die Einsicht des Wirtschafts­ philosophen Philip Mirowski (2013), dass die in der Hochschullehre dominierende neoklassische Markttheorie nur noch zu Prestigezwe­ cken als wissenschaftlich wirkendes Feigenblatt der Zunft für die uninformierte Öffentlichkeit und noch weniger informierte Erstse­ mester aufrechterhalten wird. Dies garantiert den Lehrbuchverlagen dank Skaleneffekten mit feuerwerksartigen Scheininnovationen (viele bunte Bilder) und Kartellbildung exorbitante Gewinne, den Universitäten hohe Rankings und Einnahmen dank selbstattestierter Exzellenz bei der rigorosen Vermittlung »geprüften« Wissens, den Business Schools eine »wissenschaftliche« Rechtfertigung der gesell­ schaftlichen Nützlichkeit ihrer Profitgier, den Studenten große Vor­ freude auf hohe diskontierte Cashflows der ihnen als angehenden Nachwuchsökonomen im Bankensektor versprochenen Premiumsa­ läre und den Postgraduierten Programmen nie versiegenden Nach­ schub von Gehirngewaschenen. Dies ist allerdings nicht nur in dem von Mirowski untersuchten US-amerikanischen Hochschulsystem der Fall, sondern auch z. B. in Deutschland, dessen wirtschaftswis­ senschaftliches Lehrmaterial weitestgehend transatlantisch gleichge­ schaltet wurde (Berger 2019). Hier zeigt sich ein faszinierendes Phänomen, das den Einge­ weihten längst bekannt ist und von eloquenteren Federn als jener dieses Autors auf vielfache Art und Weise bereits beschrieben wurde, aber verblüffenderweise keine massentaugliche Empörung oder Zorn

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Sebastian Berger

auslöst, obwohl es doch in der Wissenschaft stattfindet und hier eigentlich völlig fehl am Platz ist. Oder doch nicht? Was hat es damit auf sich, dass eine Glaubensgemeinschaft weitestgehend unge­ plagt von Gewissensbissen und unbehelligt von der moralisieren­ den Cancel Culture ewiger Rechthaber in der Lage ist, ohne allzu große Anstrengung unter dem Deckmantel der »Wissenschaftlich­ keit« einen fabrizierten Schein des Glaubenmachens über die real existierenden Verhältnisse zu breiten? Denn die an allen Orten und in den letzten Winkeln der Welt propagierte Neoklassik hat weder viel über reale Märkte zu sagen, noch ist sie anschlussfähig an heutige Horizonte der performativ führenden und radikal gesellschaftstrans­ formierenden Wirtschaftsforschung des neoliberalen Marktdesigns und der Informationsökonomik. Letztere propagieren ein Verständnis des Marktgeschehens als epistemischen Prozess und Wahrheitsge­ schehen, gegründet auf der Vorstellung vom Markt als potentestem Informationsverarbeitungsprozess. Der große Erfolg dieser Ideen wird ermöglicht durch die Koppelung an das kulturell populärste technische Medium, den Computer und das Internet. Als Verkündiger schlagen Informationsökonomen die Gesellschaft in den Bann ihres Traums und unseres Albtraums vom verdummenden Maschinenmen­ schen im Wahrheitsraum des Marktes (vgl. »Machine Dreams« – Mirowski 2002). Das oben beschriebene neoklassische System des Glaubenmachens steht dazu nicht im Widerspruch, sondern ist ein essentieller Bestandteil der neuen Ordnung, der nur noch von wis­ senschafts- und wahrheitsliebenden Marxisten (vgl. Henry 1990) – motiviert von einem mittlerweile leider etwas antiquiert wirkenden Humanismus und historischen Materialismus als gesellschaftlicher Betrug bestehend aus falschem Bewusstsein skandalösen Ausmaßes gewertet wird.

Die Dogmengeschichte als Agententhriller, oder wie man eine betrügerische Gegenwart durch detektivische Beweisführung aus der Vergangenheit aufklärt Die dogmengeschichtliche Forschung zur informationstheoretischen Wende in der Wirtschaftswissenschaft (Nik-Kah/Mirowski 2017) weist detektivartig nach, wie die Definition des Marktes als potentes­ ter Informationsverarbeitungsprozess in der Zunft der Ökonomen mehr und mehr Verbreitung gefunden hat und somit wie schlafwand­

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Profit aus Glaubenmachen – Gewinn aus Dichtung: Wirtschaft als Wahrheitskampf

lerisch in die geisterhaften Fußstapfen des neoliberalen intellektuellen Projekts Friedrich Hayeks tritt. Infolgedessen wurden bisher bereits sieben hochdotierte sogenannte »Nobelpreise« an Informationsöko­ nomen vergeben. Allerdings deutet auch hier die so perfide wie primitive, da fadenscheinige, neoliberale Namensaneignung Alfred Nobels durch anti-demokratisch gesinnte Zentralbanker (Mirowski 2020) in die Richtung eines ernsten Spiels aus Glaubenmachen in wissenschaftlichen Sphären, welches so präzise das gesellschaftliche Verlangen nach Sedierung durch Sicherung der letzten Wahrheiten trifft, dass es zu keinerlei nennenswerten Immunreaktionen kommt. Marktdesigner treten nun als Marktingenieure auf, die gegen gute Bezahlung versprechen, die vom Auftraggeber gewünschten Markt­ ergebnisse zu erzeugen. Es handelt sich um die erste Generation von Wirtschaftswissenschaftlern, für welche die noblen Millionen des Preises nur noch Peanuts sind im Vergleich zu ihren sonstigen Ein­ künften. Märkte sind dabei verschiedenen Auktionsmodellen nachemp­ funden und empfehlen sich für allerlei öffentliche Aufgaben, so wie die Privatisierung und Kommerzialisierung von Volkseigentum bzw. öffentlichen Gütern, wie die Zuteilung von Mobiltelefonfrequenzen, Flug- und Schulplätzen. (Nik-Kah/Mirowski 2017) Andererseits spielt die Informationsökonomik eine Rolle in der immer komplex­ eren und computerbasierten Plattformökonomie, bestehend aus algo­ rithmischen »Ökosystemen« verschiedener Nutzer und Anbieter. In der Informationsökonomik konkurrieren verschiedene Definitionen von Information, die wiederum an verschiedene Menschenbilder geknüpft sind (siehe Nik-Kah/Mirowski 2019 für die sich wandeln­ den Menschenbilder hin zu einer Art »Homo Non-Sapiens«). Im Übergang von der Information als Ware und Tauschobjekt zur Infor­ mation als Wahrscheinlichkeitsindex wird z. B. die Bedeutung des Wissens des Menschen für die Programmierung des Marktergebnis­ ses immer weniger wichtig. So lässt sich zeigen, dass, je computer­ technischer die Definition von Information wird, desto mehr der Mensch als unwissendes kybernetisches System modelliert wird. Die Konstruktion von Marktergebnissen wird somit vom Menschen und seinem Wissen entkoppelt. Der »Verdienst« des neoliberalen Denk­ kollektivs liegt darin, die Disziplin der Ökonomen davon überzeugt zu haben, den Markt epistemisch zu verstehen im Sinne eines poten­ ten Informationsverarbeitungsprozesses.

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Sebastian Berger

Die sich darin widerspiegelnde neoliberale Denktradition vor allem der österreichischen Schule versteht die im Marketing transfe­ rierte Information nicht nur als Teil effizienter Informationsverarbei­ tungsprozesse, sondern sogar als Basis rationaler Allokation (Steele 1991). Eins der angeführten Argumente ist, dass es Marketing nicht gäbe, wenn es nicht das bestmögliche System wäre. Denn gäbe es ein Besseres, dann wäre es bereits Realität. Diese Argumentation zum Marketing als bester aller Welten erinnert nicht nur an Leibniz, sondern stellt sich auch allen Kritiken entgegen, die besonders im Marketing einen Schlüsselmechanismus des Glaubenmachens erken­ nen, der zudem verschwenderisch und geschmacklos daherkommt. Eine ganz ähnliche Argumentation findet sich bei Verfechtern der Effi­ zienzmarkthypothese. Der Markt ist hier immer effizient im Sinne der Preisbildung durch Verarbeitung aller Informationen und jeder Preis ist in jedem Augenblick der richtige, egal ob er einigen als zu hoch oder zu niedrig erscheint, oder ein Börsencrash gerade die Weltwirtschaft zerstört, oder Spekulation an Terminbörsen die Lebensmittelpreise verdoppelt. Auch hier ist die Idee, dass jenseits des Marktes kein Paradies mit verbotenen Früchten am Wissensbaum wartet, kein richtig oder falsch, echt oder unecht bzw. wahr oder unwahr. Frappierend ist, wie sehr diese Idee vom Glauben an den Wahr­ heitsgehalt des Marktes getragen wird. So verbinden zum Beispiel neoklassische Vertreter der neoliberalen Schule wie Milton Friedman den Glauben an das Funktionieren des freien Marktes mit dem weiteren Glauben, dass alles ehrlich und rechtmäßig zugeht. Die Existenz von Lügen, Betrug, Fehlern oder sonstigen Falschinforma­ tionen bzw. Falschinterpretationen wird dabei geflissentlich unter den Teppich gekehrt. Dennoch scheint sich im neoklassisch grundierten neoliberalen Kosmos eine Kluft aufzutun, da namhafte Vertreter wie Akerlof und Shiller das Problem der asymmetrischen Information problematisieren (siehe die Diskussion in Frigato/Santos Arteaga 2019). Daraus folgern sie nach einem Perspektivwandel Akerlofs zwar nicht mehr zwangsläufig den Zusammenbruch des Marktes, allerdings immer noch das Problem, dass der Markt dadurch qualitativ degradiert wird. Denn ehrliche Hersteller von qualitativ hochwertigen Produkten können sich angesichts der Flut von geschickt beworbenen, aber minderwertigen und billigen Produkten nicht mehr behaupten, da die Mehrheit bestehend aus menschlichen Tölpeln diesen auf den Leim geht. Allerdings schlussfolgern auch sie fatalistisch und marktkonform, dass sich dagegen nichts tun lässt, da es kein besseres

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Profit aus Glaubenmachen – Gewinn aus Dichtung: Wirtschaft als Wahrheitskampf

System gibt. Partielle Hilfe wird allenfalls von Bürgerinitiativen oder Regulierern erwartet, die sich wie Sisyphos immer wieder punktuell gegen ihre Ausnutzung bestehend aus selektiver Informationsweiter­ gabe wehren müssen. Die Interpretation des Marktgeschehens als epistemischer Pro­ zess im Sinne der Rhetorik erlangte auch im US-amerikanischen Diskurs zur Postmoderne einige Bekanntheit (McCloskey 1985). Diese folgt der klassisch liberalen Tradition Adam Smiths, der den Markttausch bereits als rhetorischen Sprachakt ausgelegt zu haben scheint (McCloskey 1996). McCloskey sieht die Rhetorik als Basis einer Kultur der Toleranz, Bescheidenheit und Offenheit, die das wirtschaftliche Denken wieder an das geistig-kulturelle Leben der Gesellschaft bindet, indem der positivistische Wahrheitsanspruch des mechanisch-mathematischen Physikalismus der Neoklassik durch ein humaneres Wahrheitsverständnis des Marktes ersetzt wird. Es handelt sich hier um eine epistemische Definition des Marktes, abge­ leitet aus humanistischen Quellen jenseits informationstheoretischer Fundierung, die trotz so mancher Ähnlichkeiten auf theoretischer und politischer Ebene aber nicht in der Lage war, einen ähnlichen Siegeszug in der Disziplin zu hinzulegen.

Agnotologie, Wille zur Ignoranz, Doppelwahrheit, schlüpfrige Pfade des großen Niemand, und der Verlust dichterischer Weisheit Wie ist also diese Entwicklung der Ökonomie philosophisch einzu­ ordnen? Hierzu argumentiert Philip Mirowski, dass in der »Agnoto­ logie«, d.h. der wissenschaftlichen Produktion von Zweifeln basierend auf einem »Willen zur Ignoranz« und einer »Doppelwahrheit«, die große Herausforderung des Neoliberalismus liegt. Der Mensch wird gemäß dem Willen zum Nichtwissen je nach Grad der computeri­ sierten Definition von Information immer mehr im Nichtwissen seines Nichtwissens gewähnt (Nik-Kah/Mirowski 2019). Erst der Markt kann ihn zu mehr Wissen führen bzw. der Markt bringt Licht ins Dunkel des menschlichen Nichtwissens. Dank Doppelwahr­ heit wird verschleiert, dass der neoliberale Ökonom für sich in Anspruch nimmt, irgendwie über diesem Nichtwissen zu stehen und zu wissen, dass der Markt als Hort der Wahrheit und Freiheit außerhalb demokratischer Verfahren den Menschen zu ihrem eigenen

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Sebastian Berger

Wohl aufoktroyiert werden muss, da sie aufgrund ihrer falschen pro-sozialen Instinkte diesem nie selber freiwillig zustimmen wür­ den. Doppelbödig wird gleichwohl dabei ausgeschlossen, dass all die Nichtwissenden die Freiheit haben sollen, das auf Shopping reduzierte Freiheitsverständnis gar durch demokratische Wahlen oder Referenden abzuwählen. Der erklärte Feind bzw. die Bedrohung wird nicht etwa in der Diktatur oder dem Autoritarismus gesehen, sondern explizit in der Demokratie, die in die Nähe des Totalitarismus und der Verknechtung gerückt wird (siehe dazu Farrant/McPhail/Berger 2012, sowie Mirowski 2020). Wichtige neoliberale Wegbereiter die­ ser Ideen sahen sich in einer Art Kriegszustand (Nik-Kah 2020). Die neoliberale Doppelwahrheit verschleiert, dass der Mensch dem Markt zu geben hat, wonach letzterer verlangt – ganz anders als das, was man die Massen glauben macht, nämlich dass der Markt dem Individuum gibt, wonach das Individuum verlangt. Die Doppel­ wahrheit funktioniert, da der Markt als großer Niemand verkauft wird, dem somit im Gegensatz zu Organisationen und Demokratie phantastische Eigenschaften zugeschrieben werden können. Dabei werden die finanzkräftigen Auftraggeber verschleiert, die hinter den Marktingenieuren und neoliberalen Ideengebern stecken und heute weitestgehend, wie weiter unten noch gezeigt wird, in der Klasse der feinen Leute zu finden sind, so dass die Märkte dementsprechend auch deren Gedankengewohnheiten widerspiegeln. Agnotologie bedeutet, dass der neoliberale Markt dem wissen­ schaftlich produzierten Zweifel, wie z. B. der von Großkonzernen wie Tabak und Öl verbreiteten Propaganda gegen wissenschaftliche Erkenntnisse, ein Forum bietet. Neben der Demokratie ist die öffent­ lich finanzierte Forschung ein erklärter Feind, da sie meist irgendwel­ chen Profitinteressen im Wege steht. Das oben beschriebene System des neoklassischen Glaubenmachens und auch eine sich post-modern pluralistisch gerierende rhetorische Interpretation des Marktgesche­ hens erfüllen eine agnotologische Funktion. Die Marktwirtschaft wird somit zum Kampf um informationstechnische Wahrheiten. Das Marktresultat spiegelt dann immer das optimale Level der menschli­ chen Ignoranz bzw. des Nichtwissens wider. Je ignoranter die Men­ schen, desto mehr kommen sie auf den Geschmack an Zweifeln an wissenschaftlichem Wissen und menschlicher Weisheit. Der schlüpf­ rige Pfad sorgt dafür, dass immer mehr Bereiche der menschlichen Gesellschaft von diesem agnotologischen Medium absorbiert werden. Der Mechanismus ist dabei die geschickte Ausnutzung jeder durch

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Profit aus Glaubenmachen – Gewinn aus Dichtung: Wirtschaft als Wahrheitskampf

Märkte erzeugten Krise zur Implementierung weiterer Märkte (wie z. B. Emissionshandel, Geoengineering, Fracking usw.). Somit denkt auch der Neoliberalismus das negative Feedback mit und wandelt dessen Polung um in selbstverstärkende Rückkopplung. Mirowski serviert seine Verlustbilanz dieses Wahrheitskampfes nicht explizit, sondern eher poetisch durch die Blume seiner Buchtitel und Kapitel­ überschriften. Der Titel »The Knowledge We Have Lost in Informa­ tion« ist ein direktes Zitat aus der ersten Strophe von T.S. Eliots Gedicht »The Rock« (1934): The Eagle soars in the summit of Heaven, The Hunter with his dogs pursues his circuit. O perpetual revolution of configured stars, O perpetual recurrence of determined seasons, O world of spring and autumn, birth and dying The endless cycle of idea and action, Endless invention, endless experiment, Brings knowledge of motion, but not of stillness; Knowledge of speech, but not of silence; Knowledge of words, and ignorance of the Word. All our knowledge brings us nearer to our ignorance, All our ignorance brings us nearer to death, But nearness to death no nearer to GOD. Where is the Life we have lost in living? Where is the wisdom we have lost in knowledge? Where is the knowledge we have lost in information? The cycles of Heaven in twenty centuries Bring us farther from GOD and nearer to the Dust. Das finale Kapitel zur »künstlichen Ignoranz« wird dann auch passend mit einer Strophe des Gedichtes W.H. Audens »Under Which Lyre« (1946) tituliert: And when he occupies a college, Truth is replaced by Useful Knowledge; He pays particular Attention to Commercial Thought, Public Relations, Hygiene, Sport, In his curricula. Athletic, extrovert and crude, For him, to work in solitude

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Sebastian Berger

Is the offence, The goal a populous Nirvana: His shield bears this device: Mens sana Qui mal y pense. Unter die Räder des Neoliberalismus kommen allerdings nicht nur öffentlich finanzierte Wissenschaft und menschliche Weisheit, son­ dern dank des Marktglaubens auch das wohl integrierte wahre Selbst und die Fähigkeit, sozialökologische Ziele zu eruieren (siehe Mirow­ ski 2013). Diese Verluste basieren zudem auf handfesten psycholo­ gischen Mechanismen, die dem Glaubenmachen der Wirtschaftswis­ senschaften zugrunde liegen (Berger 2016).

Wille zu Macht, Nihilismus, Immunologie, Anthropotechnik und Heimatverlust aus Seinsvergessenheit Mirowskis Diagnose des Neoliberalismus beweist, dass sie entgegen dem 2. Hauptsatz der Thermodynamik vermag, mehr Licht als Hitze zu erzeugen, nicht zuletzt aufgrund der philosophischen Lichtblicke, die er seinem sonst eher historischen Ansatz beimischt und die wir hier noch ein wenig weiterverfolgen wollen. Der Glaube an den Markt als Wahrheitsraum aus informationsbasiertem Glauben­ machen entspricht dem, was Nietzsche in seiner Philosophie vom Willen zur Macht einen unvollendeten und passiven Nihilismus nennt (De Gennaro 2019, 354). Dies ist der Versuch, dem Nihilismus durch Glaubenmachen eigentlich nicht sehr lebensdienlicher, da nicht mehr ganz glaubwürdiger Werte auszuweichen. Dabei verkleinert sich der Mensch, da er die im Willen zur Macht mögliche innere dynamisch-kreative Inversion der Polung in den vertikalen Horizont nicht vollzieht, sein Beurteilungsvermögen an computergesteuerte quantitative Werte abgibt und somit in Platons höllische Höhle aus profitversprechendem Willen zum informationsökonomischen Marktdesign einkehrt. Die Doppelwahrheit aus Marktautoritarismus und freiheitsversprechendem Willen zur Ignoranz ähnelt anderen metaphysischen Glaubenssystemen, deren Glaubenmachen weit hin­ ter den von Nietzsche befürworteten starken und lebensdienlichen Illusionen hinterherhinkt und somit bloß schwacher Ausdruck und ein nicht Gewahrwerden des Willens zu Macht widerspiegelt. Zu

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Profit aus Glaubenmachen – Gewinn aus Dichtung: Wirtschaft als Wahrheitskampf

dieser Einordnung passen die ressentimentgeladenen neoliberalen Feindbilder bestehend aus einer unter Totalitarismusverdacht stehen­ den Demokratie und öffentlich finanzierten Wissenschaften. Im infor­ mationsökonomischen Getriebe aus Shopping und Profit der letzten blinzelnden Menschen verkümmern die von Nietzsche als essentiell erachteten dichterischen Musen als nicht mehr benötigte Hebammen der Wahrheit. Mit Sloterdijk (2005; 2013) gedacht, wäre neoliberales Markt­ design Teil des Weltinnenraums des Kapitals und das damit einher­ gehende Selbstverständnis des Menschen als grösstmöglicher Ignora­ mus müsste demnach eine anthropotechnische Immunreaktion sein, mit welcher der Mensch versucht, eine schatzinselartige Sphäre zur schützenden Behausung im Abgründigen herzustellen. Dies ist aber nur dann stimmig, wenn das Selbstbild des unwissenden Menschen als selbstverwüstende Autoimmunreaktion gewertet wird, die einer vorauseilenden Kapitulation gegenüber dem potentesten Informa­ tionsverarbeiter gleichkommt. Es bleibt mehr als fraglich, ob die Informationsökonomie dem von Sloterdijk geforderten, vertikal ins Innere fahrenden nichtautoritären ästhetischen Befehl zur kreativen Menschwerdung aus dichterischer Höherpflanzung nachkommt. Sloterdijk (2005) sieht trotz seiner schaumartig, d.h. radikalpluralistischen Perspektive im Neoliberalismus aufgrund seiner Vor­ gaukelung eines festen Fundaments bestehend aus Geldwerten einen weltlosen Terror, der aus tatenthemmender Asymmetrie und Unila­ teralismus besteht, einem Wahn aus Enthemmung im Außen gleich­ kommt und die negative Rückkopplung ignoriert (ebd., 284–5, 175– 9). Etwas passender müsste man hier sagen, dass der Neoliberalismus diese Feedbacks blind, einer Aktionsethik folgend, als Sprungbrett für weitere autopoietische Enthemmung in nur scheinbar leere Räume umpolt (ebd., 292). Bildung und das Sammeln von Erfahrung werden im informationsökonomischen Neoliberalismus durch Downloading ersetzt. Dieses post-literarische, post-personale und post-akademi­ sche Kognitionsregime macht die »letzten Menschen« zu Barbaren, die dem Verschwendungsimperativ aus Leichtsinn und Konsumismus folgen (ebd., 345, 355–8). Es fehlt am Faustschen Drama der Resi­ gnation, der reflektierten Entsagung, der Selbstzurücknahme, der zweiten Demut, der Erlösung durch unverfügbares Anderes, sowie der Epiphanie des Ungeheuren als Verantwortung (ebd., 296). Sloterdijks Kritik betrifft auch die Kontextlosigkeit und Vernachlässigung des Lokalen in der neoliberal-kapitalistischen Innenraumbildung, so dass

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er der Rückkehr zur postliberalen digitalen Lokalwirtschaft im Solar­ zeitalter des 21. Jahrhunderts eine große Zukunft voraussagt (ebd., 367). In Sloterdijks Kritik (2005) klingen auch Ideen Heideggers an, welche als Revolte gegen die unauthentische Existenz des »Man« im technischen Gehäuse gedeutet werden, als Dachsprengung, die den Einzelnen wieder zum Ungeheuren machen (ebd., 270). Passend zur Diagnose Mirowskis erkennt Heidegger (2013) einen Willen zum Nichtwissen und in diesem eine Heimatlosigkeit basierend auf Seinsvergessenheit.

2. Die Entscheidung Der Wille zum Willen wirkt, nicht wissen wollend sein Gewolltes: Die Heimatlosigkeit. Der Wille zum Willen will das Nicht-wissen – (Seinsvergessenheit). Die Heimat-losigkeit ist die unbedingte Unfreiheit, weil sie schlechthin aus der gewollten Einrichtung des Willens auf das Wollen bestimmt wird und dieses Bestimmen zum ausschließlich bestimmenden macht. [...] Heimatlosigkeit entfaltet sich – die willentliche und dennoch unwis­ sende Verwehrung eines Findens und Sicherns auf der ungewußten Stätte des Gründens für das fügsame Wahren der Wahr-heit des Seyns. Dieses Verwehren entspringt der Seynsvergessenheit und ist sie in der äußersten Entfaltung ihrer Macht. Die Heimkunft – ist, als sei sie überhaupt nicht. Sie bleibt ohne Wirkung und Einfluß. Sie ist überspült von den breiten Gewässern der Heimatlosigkeit. (Heidegger 2013, 829–30)

In der Heimatlosigkeit ohne Heimkunft kann auch keine Wirtlichkeit der menschlichen Wohnstätte gegründet werden. Laut Heidegger (ebd., 814) gerät durch die Einbettung des Menschen in die Maschine der Mensch in das Äußerste seines metaphysischen Wesens und es bereitet sich das schlechthin Unvereinbare vor: einerseits der kybernetische Mensch als Maschinenteil, andererseits der Mensch als Gedächtnis im Ereignis. Von letzterem aus betrachtet sind es nur die niederen, ursprunglosen und selbstvergessenden Kräfte des Menschen, die dem ersteren genügen. Deshalb genügt das Massen­ wesen des Menschen am leichtesten der dürftigen Einförmigkeit

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der Leere des Maschinenganges, weil hier die Mittelmäßigkeit und die Einebnung von Oben und Unten zuhause ist: »Die Ansprüche, die jetzt noch aus dem Sein an den Menschen ergehen, sind die geringsten.« (ebd., 814) Gemäß dem Gedächtnis im Ereignis wird unter dem Titel »Abschied der Gottheit« das Heimweh als Urtrauer beschrieben und vermutet, dass das Wesen des Heimischen selbst und sein Quell, also das Wesen und die Herkunft des Zu-Hause-seins, selbst zu dem geworden sind, was wir suchen (ebd., 819). Zusammengenommen sind diese philosophischen Einsichten von zentraler Bedeutung zur philosophischen Einordnung des neoli­ beralen Glaubenmachens sowie für eine wirtliche Ökonomie, insofern es hier um ein Wissen geht, das in der Lage ist, ein Haus (oikos) zu bauen für das Prinzip (nomos) des Seins im Ganzen. Denn solch ein Wissen ist eine mögliche heimische Stätte (ethos) für das Wohnen des Menschen (De Gennaro 2019, 355). Hingegen kommt eine wirtliche Ökonomie post-metaphysisch im Sinne Heideggers ohne Festlegung auf ein Prinzip aus und besteht aus offenem und lichtendem EreignisDenken als Wesen und Quell des Heimischen (De Gennaro 2019, 365–72).

Glauben-Machen als Einkommensquelle und Herrschaftsgrundlage feiner Leute Diese philosophischen Ansätze zum Verständnis des Glauben­ machens als Nicht-wissen-wollen im informationsökonomischen Marktdesign lassen offen, welche gesellschaftliche Schicht maßgeb­ lich und interessierter Träger bzw. Förderer dieses Systems ist, das den Menschen nun auch schamlos expressis verbis und nicht länger als kleines dreckiges Geheimnis buchstäblich als dumm verkauft. Ebenso, welche strukturelle Funktion, Mechanismen und systemische Notwendigkeit das Glaubenmachen hat. Schließlich antworten sie nicht auf die Frage: Was ist Glaubenmachen eigentlich genau? Thorstein Veblen erkannte dank seines von Charles S. Peirce beeinflussten hermeneutischen Ansatzes (Mirowski 1987) ein »Sys­ tem des Glaubenmachens« (»make-believe«) im inflationären kapita­ listischen Kredit und Kapitalisierungsprozess, der auf Eigentumsord­ nung und Werbung basiert. Die Funktion des Glaubenmachens ist dabei die Sicherung des Ein- und Auskommens der »feinen Leute« durch kapitalistische Bestandsicherung und -vermehrung, die auf

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Unproduktivität und Raub basiert und in Verschwendungsorgien mündet, welche ganze Spezies ausrotten, Ressourcen vernichten und die Lebensgrundlage bedürftiger Mitmenschen verfrühstücken. Unseres Wissens ist Glaubenmachen als Kernbestandteil von Veblens Theorie bisher noch nicht einer tiefergehenden Einordnung vor dem Hintergrund der oben besprochenen Aktualitäten unterzogen worden. Einige Vorarbeiten in diese Richtung sind kürzlich von Frigato/Santos Arteaga (2019) geleistet worden, obwohl der Fokus dort eher auf den gesellschaftlichen Verlusten liegt, die durch das von Veblen aufgedeckte System aus »Gewalt und Betrug« (ebd., 23) und »systemischer Falschheit, Unehrlichkeit und Illusion« erzeugt werden, welches auf den gesellschaftlich »ziemlich niedrigen Durch­ schnitt an Intelligenz und Information« abzielt (ebd., 43). Veblens Theorie erscheint heute erfrischend aktuell und beeindruckend hellund tiefsichtig angesichts des zynischen Zeitgeistes im unvollendeten Nihilismus, der sich an Fake News, Alternativen Fakten und Ver­ schwörungstheorien ausdrückt und abarbeitet (siehe Sloterdijk 2019; Arendt 1967). Seine auf ethnographischen und anthropologischen Studien fußenden Einsichten und Beschreibungen sind stilistisch von höchster Qualität und ein Sprachereignis, das die Mehrheit der Ökonomen bis heute zu überfordern scheint. Genau wie bei Nik-Kah/ Mirowski (2017) ist es Veblens Anliegen, die Gegenwart durch das Aufdecken einer kumulativen Verursachung von Gedankengewohn­ heiten, die zu »Institutionen« werden, aus der Vergangenheit zu erklären. Ein zusätzlicher Verdienst seiner Tiefenforschung ist es allerdings, aufzudecken, dass das oben beschriebene neoliberale Glau­ benmachen nur die Spitze des Eisbergs ist, der aus einem noch viel umfassenderen Systems des Glaubenmachens aus tieferem Ursprung besteht. Angesichts der Kombination aus verheerender Umweltkrise und Verdummung der Massen durch agnotologische Neutralisierung von Wissenschaft, Demokratie und Dichtung wirft Veblens Theorie der feinen Leute die entscheidende Frage auf, ob eine Verbesserung der Lage überhaupt zu erwarten ist, solange diese Klasse das Ruder des Gedankengewohnheiten steuernden Glaubenmachens fest in der Hand hat. Veblens Ansatz basiert auf der Betrachtung von Dynamiken in Gedankengewohnheiten und deren ökonomischen Folgen. Innerhalb dieser Dynamiken kommt Phänomenen aus dem Bereich von Täu­ schung, Betrug, Aberglauben, Einbildung und Fantastik eine bedeu­ tende Rolle zu, die als »Glaubenmachen« zusammengefasst werden.

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Interessant ist Veblens Ansatz, da er die Wirtschaft aus Gedankenge­ wohnheiten heraus analysiert, welche in der Ge-Wohnheit von GeDanken die Möglichkeit einer Ökonomie im Sinne einer hermeneuti­ schen Wirtlichkeit aufzeigt, die dem Menschen als dankend denkende, also dichterische Wohnstätte werden kann. Denn in den von Veblen analysierten »habits of thought« liegt die Bedeutung des Lateinischen »habitare« im Sinne des Wohnens und Sichaufhaltents. Veblens Hermeneutik unterscheidet sich jedoch von jener Heideggers, so dass er nicht den oben skizzierten vom ereignishaften Sein ausgehenden transzendentalen Gedankenweg in Richtung Wirtlichkeit verfolgt hat. Trotz einiger Wirkung Veblens auf die Wirtschaftswissenschaft, ist seiner Sichtweise heute kein so durchschlagender Erfolg beschie­ den wie etwa den marktgläubigen Informationsökonomen, die ihren ideologischen Ursprung in den liberalen Gruppierungen der österrei­ chischen Schule haben. Als Teil der liberalen Tradition betrachtete Veblen diese als Stützen des von ihm aufgespürten Systems des Glau­ benmachens, das sich bis in die sogenannte Wirtschaftswissenschaft fortsetzt (1919, 35): »[...] liberal ideals may seem too much of a dream to any person who ›shuns the scientific use of the imagination‹. [...] Indeed, the best of its imponderables are in a fair way now to drop back into the discard of uncertified make-believe.« Aber was ist nun Glauben-machen und welche Funktion hat es für die Leisure Class bestehend aus feinen Leuten? »Make-believe« wird im Englischen definiert als Glauben oder Einbildung von Dingen, die attraktiv oder aufregend erscheinen, aber nicht real sind. Als Synonyme werden im Englischen die Einbildung, die Fantastik, das Nicht-existente und die Erfindung angegeben.1 Das Konzept des Glaubenmachens ist Teil von Veblens Theorie der feinen Leute (Veblen 1899), die wiederum Basis aller späteren Theorien ist, durch welche sich ebenfalls das Konzept des Glauben­ machens zieht. Die Herrschaft der feinen Leute über die Gesellschaft entwächst ursprünglich einem kumulativen Gedankengewöhnungs­ prozess an deren räuberisches Verhalten, Eigentumsansprüche auf Frauen und sonstige Sklaven, prahlerische Verschwendungssucht und aggressive Durchsetzung ihrer Selbstdeutung als das Maß aller Dinge. Dies geschieht im Zuge der neolithischen Revolution, der damit ein­ hergenden Überschüsse jenseits von existentiellen Grundbedürfnis­ Cambridge Dictionary: https://dictionary.cambridge.org/dictionary/english/ma ke-believe.

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sen und dem Patriarchat. Die feinen Leute erlangen besonders durch demonstrativ verschwenderischen Konsum von nicht selbst Produ­ ziertem jenseits von Grundbedürfnissen als Machtdemonstration den höchstmöglichen gesellschaftlichen Stellenwert. Erkennungsmerk­ mal dieser Klasse ist dabei ihre Unproduktivität im Bereich gesell­ schaftlicher Nutzwerte, wie zum Beispiel aller zur Reproduktion von Gemeinschaft und Haushalt anfallenden Arbeiten. Die Fähigkeit zur Verschwendung wird nach und nach als Zeichen abgekoppelt, als Ausdruck großer Macht gewertet und über einen gesellschaftlichen Gewöhnungsprozess der Gedanken mit hohem Status gleichgesetzt. In einer durch diese Klasse beherrschten Gesellschaft wird dieses Ver­ halten zum kulturellen Vorbild stilisiert und mündet in den status­ orientierten Konsumrausch der Wegwerfgesellschaft (heute z. B. beflügelt durch »Beeinflusser« (Influencer), »Gefeierte« (Celebrities), »Sterne« (Stars), »Königliche« (Royals)). Somit geschieht die Ver­ breitung und Akzeptanz dieser Gedankengewohnheit als werbeindu­ ziertes verschwenderisches Konsumentenverhalten auf Märkten und ist hier feststellbar in psychischen Pathologien, die sich aus materia­ listischer Verschwendungssucht im Statuswettbewerb ergeben. Die feinen Leute bedienen sich dabei des aggressiven Glaubenmachens, um ihren Reichtum, Status und somit ihre Herrschaft zu sichern, die dann den demonstrativen Überkonsum ermöglichen mit selbstver­ stärkendem Statuseffekt. Es handelt sich dabei um eine Art Einbildung oder Massensuggestion, die in der Lage ist, gesellschaftlich wert- und sinnfreie sowie nutzlose oder sogar sozial-ökologisch schädliche Tätigkeiten als hoch wertvoll und prestigeträchtig umzuwerten, umzudeuten und somit zu rechtfertigen und rationalisieren. Dies ist vielleicht die ursprünglichste »Umwertung aller Werte«, die Nietz­ sche zwar philosophisch als im ersten Nihilismus aufkommende lebensdienliche Technik diagnostizierte, aber nicht wie Veblen an der Leisure Class festmachte. Obwohl für 99 % der Menschen der demonstrative Luxuskonsum der feinen Leute niemals auch nur in die Nähe des für sie Möglichen gerät, wird ihnen durch die von den feinen Leuten kontrollierten Medien suggeriert, dass dies erstrebenswert sei und sie an Status gewinnen, wenn sie sich nur gehörig in den Spiralen des Konsumierens der ihnen vorgegaukelten Statussymbole anstren­ gen. Veblens Theorie argumentiert hermeneutisch, dass die Herr­ schaft feiner Leute letztlich auf nichts als einer anhaltenden und weit­ verbreiteten Gedankengewohnheiten durch Glaubenmachen basiert,

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zu der auch die Eigentumsordnung, das Kreditsystem, die Inflation aller Geldwerte und die Werbung zählt. Diese finden Ausdruck und verästeln sich in einem System aus immer neu fabrizierter Fantastik und institutionalisierten Illusionen, deren Ergebnis und Zweck die Erschleichung von Werten wie aufwandfreiem Einkommen für die nicht produktive und somit »ausgehaltene Klasse« (kept class) von verschwenderischen Müßiggängern ist. Im Gegensatz zu gezwungenermaßen »unproduktiven« und oft als faul geschmähten Arbeitslosen oder sich an Muße orientierenden minimalistischen Philosophen, erfahren die sich aushalten lassenden feinen Leute dank ihres verschwenderischen Lebensstils höchstes Ansehen. Dieser kritische Blick auf die Leisure Class zeigt sich heute z. B. auch in Verlautbarungen anti-monarchistischer und republikanischer Proteste in Großbritannien, die darauf hinweisen, dass Händeschüt­ teln und Küsschengeben ein bisschen wenig sind für die Millionen an Steuergeldern, mit denen sich die gefeierten Royals als reichste Fami­ lie des Landes noch bis in den Tod aushalten lassen, wobei sie selber, wenn überhaupt, nur freiwillig Steuern zahlen. Die Demonstranten weisen nach Veblens Art darauf hin, dass es sich beim Staatsbegräbnis für Königin Elisabeth II. um teure Mythenbildung auf Staatskosten handelt, und es irgendwie aus der Zeit gefallen wirkt, wenn der neue König Charles III. für sein Millionenerbe keine Steuern entrichtet, die für dringende Grundbedürfnisse der Untertanen somit auch nicht zur Verfügung stehen. Denn das Land und seine Bevölkerungsmehrheit sind auch wegen der sich aushalten lassenden Monarchie (als Para­ debeispiel der Leisure Class) heute ärmer und der Reichtum ist unglei­ cher verteilt als vor 100 Jahren. Die Obdachlosigkeit im Königreich grassiert, während der Monarch ein üppiges »bedingungsloses Grundeinkommen« bezieht, das den »faulen« Untertanen verwehrt bleibt, und regelmäßig vom Recht gebraucht macht, demokratisch erlassene Gesetze für sich steuerlich zu optimieren. Die Rolle der ver­ storbenen Königin bei der Unterstützung von Despoten, sowie die Verbrechen während und in der Folge des Imperiums, wie z. B. die Errichtung von Konzentrationslagern in Kenia, werden dank der sys­ tematischen Vernichtung von Archivbeweisen in der »Operation Legacy« sowie Medienpropaganda unter den Teppich gekehrt bzw. nur in der kommunistischen Tagespresse berichtet (Gill 2022). Wer dieses System des Glaubenmachen öffentlich durch freie Meinungs­ äußerung auf hochgehaltenen Schildern in Frage stellt, wird wegen Landfriedensbruch verhaftet; eine selten ehrliche Offenbarung der

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Macht der Leisure Class als Herrscher, die sich gleichzeitig als »Die­ ner« des Volkes geriert. Zu den feinen Leuten zählt Veblen v.a. das Militär, Sportler, Regierende sowie Priester, aber auch die abwesenden Eigentümer und Rentiers des Finanzkapitals. Man könnte diese Liste in der auf ver­ schwenderischem Verbrauch von vorhandenen (nicht produzierten) fossilen Ressourcenbeständen basierenden Industrie- und Wegwerf­ gesellschaft noch erweitern. Dennoch liegt dabei die Grenze dieser Klasse und ihres verschwenderischen Konsums wie von Veblen defi­ niert immer in der Menge der heute hauptsächlich auf fossilen Bestän­ den basierenden Überschüsse, die für Erschleichung und Verschwen­ dung zur Verfügung stehen. Allerdings müssen hiervon noch die zerstörerischen Rückwirkungen aus der Umwelt, die sich aus der Überverschwendung ergeben, abgezogen werden, wie Veblens Adep­ ten richtigerweise hinzufügen (Kapp 2011). Somit müsste man die dem Glaubenmachen folgenden Menschen als Komplizen der feinen Leute beim verschwenderischen Leben auf Kosten der Zukunft und zukünftiger Generationen werten. Denn der entropische Effekt dieser Verschwendungsorgien fossiler Bestände auf der bio-physikalischen Zeitachse sorgt dafür, dass die Möglichkeiten des Zukünftigen durch eine von der Leisure Class beherrschte Kultur und Gesellschaft stark eingeschränkt werden. So geht z. B. Sloterdijk (2005, 363) geht sogar davon aus, dass die Zukunft dies als »Ausdruckwelt eines massen­ kulturell globalisierten energetischen Faschismus« beurteilen wird. Als ein sicheres Kennzeichen der Sphären des Glaubenmachens der Leisure Class sieht Veblen den Fachjargon bestehend aus Slang­ wörtern, wie sie zum Beispiel im Sport benutzt werden und den auch selbsthypnotischen Theatereffekt haben, die gesellschaftliche Nutz­ losigkeit der Tätigkeit zu verschleiern. Die Vorgaukelung von nutz­ bringenden Tätigkeiten der feinen Leute wie z. B. die Veranstaltung von Charitygalas und Fundraisern wähnt Vebeln ebenfalls im Bereich des Glaubenmachens aus Selbst- und Fremdtäuschung. Den realen Effekt des Glaubenmachens feiner Leute sieht Veblen in brachliegen­ den kreativen, fürsorglichen und produktiven Potentialen des Men­ schen sowie in der vermeidbaren und gesellschaftlich schädlichen vorschnellen Vernichtung von Ressourcen. Es ist interessant, dass Veblens Analyse den feinen Leuten bescheinigt, dass sie nicht das sind, für das sie sich ausgeben und wohl auch selber halten und für was sie dank ihrer kulturellen Hege­ monie oberflächlich von der Gesellschaft gehalten werden. Denn

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paradoxerweise basiert ihre Feinheit und ihr hoher Status nicht nur im Ursprung sondern bis heute auf Raub, Unproduktivität, Verschwen­ dung, Angeberei und Glaubenmachen. Hier wird Doppelbödigkeit der Gedankengewohnheit im Selbst- und Fremdbild deutlich, deren Fantastik, wie sich noch zeigen lässt, auch auf die Kreditwirtschaft ausdehnt und dort wie Magie erscheint, aber ausschließlich dem Zweck der Sicherung von alten und neuen Kapitalbeständen dient.

Bedeutung von »feine Leute« und »leisure class« auf sprachlicher Ebene Doch was ist eigentlich diese Leisure Class dem Begriff nach? Das Adjektiv »fein« im deutschen Ausdruck »feine Leute«2 nähert sich dem doppelbödigen Phänomen an. Einerseits finden sich hier positive Assoziationen wie zart, zierlich, schön, rein, und ausgezeichnet. Zugrunde liegt lateinisch »fīnis« (›Ende, Grenze‹), aus dessen über­ tragenem Gebrauch »Äußerstes, höchste Vollendung« abgeleitet wird, oder aber auch »von höchster Qualität«. Andererseits gibt es die Zwiespältigkeit der Bedeutungsebenen. Salopp und abwertend gibt es die Verwendung in »ein feiner Pinkel«, aber auch umgangssprachlich die Bedeutung als »listig, schlau« wie in »ein feiner Plan, Schachzug«.3 Im Wort »fein« klingt also schon die Möglichkeit an, dass es sich bei feinen Leuten womöglich um die schlauen und listigen Puppenspieler in Platons Höhlengleichnis handeln könnte. Wie könnte es sonst sein, dass in einer dem exoterischen Glaubensbekenntnis nach aus Effi­ zienz und Sparsamkeit erwachsenen protestantisch-kapitalistischen Kultur esoterisch grade die verschwenderischste und unproduktivste Klasse als Ideal betrachtet wird, die zudem ihren Wohlstand ganz unchristlich auf den Raub von fremden Überschüssen stellt? Um diesem doppelbödigen Phänomen auf die Schliche zu kom­ men, kann auch ein Blick in die Bedeutung des englischen Ausdrucks helfen.4 Das Nomen »Leisure« gibt es dort seit ca. 1300 als »leisir« in der Bedeutung »free time, time at one’s disposal«, auch »lack of hurry«. Aus dem Altfranzösischen »leisir«, einer Variante von »loisir«, leiten sich die Bedeutungen »capacity, ability, freedom (to do 2 3 4

https://www.dwds.de/wb/fein. https://www.dwds.de/wb/fein. https://www.etymonline.com/word/leisure.

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something); permission; spare time; free will; idleness, inactivity« ab, gleichzeitig auch, vom Lateinischen »licere«, »to be permitted, allo­ wed«. Der Bezug zum geltenden Recht und die Autorisierung durch Machtinstanzen ergibt sich über die Nähe zur »Lizenz«: »licence« wird seit dem späten 14. Jhd als »formal authorization, official per­ mission, permit, privilege«, verwendet. Das lateinische »licentia« im Sinn von »freedom, liberty; unrestrained liberty, wantonness, presumption« geht auf licentem »to be allowed, be lawful« zurück. Hingegen gibt es auch die Bedeutung »excessive liberty, disregard of propriety«, also das Hinausgehen über bestehende Grenzen, die sich im Englischen seit dem 15. Jhd. findet. Daneben ist aufschlussreich der Bezug auf das in »leisure« anklingende Wort »pleasure« aus dem spä­ ten 14. Jhd. »Plesire« bedeutet »source of enjoyment, pleasing quality or thing, that which pleases or gratifies the senses or the mind«, aus dem Altfranzösischen »plaisir«, welches seit dem 12. Jhd. »enjoy­ ment, delight, desire, will« bedeutet und wiederum aus dem Lateini­ schen »placere« »to please, give pleasure, be approved« abgeleitet ist. Frei vor dem Hintergrund von Veblens Theorie interpretiert, könnte man sagen, dass es sich also bei der Leisure Class um eine clevere Klasse handelt, die sich jenseits bestehender Grenzen die Frei­ heit nimmt, das Privileg zu erschleichen, frei zu sein von notwendigen Tätigkeiten, völlig zweckfrei, ohne Hast und ohne Zeitdruck zu leben, während sie gleichzeitig willentlich inaktiv und unbeschäftigt ihre überflüssige Freizeit durch verschwenderischen Konsum vergeudet. Dabei verliert sie jegliches Maß und verschwendet maßlos sowie ent­ grenzt, wobei sie sich von den anderen, produzierenden Menschen aushalten lässt. Wie die Wortherkunft nahelegt, ist diese Art von Freiheit als Freizeitvergnügen (im Unterschied zur »sparenden Muße« aus »freier Zeit«) von Machtinstanzen genehmigt und ermög­ licht. Es besticht dabei die Nähe der feinen Leute zu einer Definition von Freiheit, die wiederum an die oben beschriebene neoliberale Dop­ pelwahrheit erinnert. Denn letztlich handelt es sich bei der Propagie­ rung marktreduktionistischer und autoritärer Freiheit um die Absi­ cherung der Vergnügungsgesellschaft feiner Leute, die sich um den hedonistischen Konsum von Annehmlichkeiten dreht, um die Befrie­ digung ihrer sinnlichen Begehren. In einer nicht vorhersehbaren »Umwertung aller Werte« wird genau dies zum gesellschaftlichen Maß aller Dinge von höchster Qualität umgedeutet. Mit Veblen gedacht, liegt der Kernmechanismus des Glaubenmachens darin, dass grade die Zeitverschwendung im passiv-konsumistischen Nichtstun

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als Ausdruck großer Macht gelesen wird, weil dies der Mehrheit der Menschen, die trotz harter Arbeit am Existenzminimum festkleben oder sogar darunter sinken, verwehrt ist und so wie ein Zauber aus einem Universum von Halbgöttern erscheinen muss. Die Macht des doppelbödigen Glaubenmachens erweist sich dank der Kraft von Gewöhnungseffekten der Gedanken deshalb als so stark, da sie die Gesellschaft von den sonst nicht auszuhaltenden kognitiven Disso­ nanzen entlastet, welche ausgehen von dem wissenschaftlich nach­ gewiesenen, gesellschaftlich schädlichen Verhalten, wie z. B. der aus Hyperkonsum resultierenden Hyperumweltverschmutzung feiner Leute. Diese Flucht vor kognitiver Dissonanz ins neoliberale Glau­ benmachen ist auch ein intellektueller Notausgang ängstlicher Geis­ ter vor dem als Bedrohung wahrgenommenen vollendeten Nihilis­ mus.

Die Eigentumsordnung als rechtlich abgesichertes Glaubenmachen durch feine Leute Wir lassen nun Veblen zu Wort kommen, um Stück für Stück nach­ zuzeichnen, wie er das Glaubenmachen als die eigentliche Einkom­ mensquelle und somit Herrschaftsbasis der feinen Leute aufdeckt und wie er mit diesem Machtmechanismus als theoretischem Konzept und hermeneutischem Erklärungsversuch in allen seinen Werken operiert. Der wichtige Punkt scheint dabei, dass er die Gegenwart der feinen Leute in der Kontinuität der tiefen Vergangenheit (neolithische Revolution) sieht und somit den Bruch der Moderne nicht überbetont bei der Frage, wo die Ursachen des Systems des Glaubenmachens liegen. Zudem ist er in der Lage, einen gesellschaftlichen Träger dieses Systems auszumachen. Dabei sieht er das moderne Geschäftssystem sowie die Gründung von feudalen und demokratischen Staatswesen in der Tradition des Glaubenmachens durch feine Leute und somit auf »Gewalt und Betrug« gegründet: »dreary traffic in competitive force and fraud« (Veblen 1923, 29). Das Ziel dieses Betrugs ist, »to get something for nothing« (ebd.). Die Grundlage für diesen Betrug ist wiederum das Eigentum(srecht) als Glaubenmachen. Property rights sanctioned by immemorial usage are inviolable, as all immemorial usage is, except in the face of forcible dispossession. But seizure and forcible retention very shortly gain the legitimation

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of usage, and the resulting tenure becomes inviolable through habitu­ ation. Beati possidentes. Throughout the barbarian culture, where this tenure by prowess prevails, the population falls into two economic classes: those engaged in industrial employments, and those engaged in such non-industrial pursuits as war, government, sports, and reli­ gious observances. In the earlier and more naive stages of barbarism the former, in the normal case, own nothing; the latter own such property as they have seized, or such as has, under the sanction of usage, descended upon them from their forebears who seized and held it. At a still lower level of culture, in the primitive savage horde, the population is not similarly divided into economic classes. There is no leisure class resting its prerogative on coercion, prowess, and immemorial status; and there is also no ownership. (Veblen 1898, 360–1) So also, under the rule of the same exigencies, the early growth of property rights and of the principles (habits of thought) of ownership may settle on one or another line of material items, according as one or another affords the strategic advantage for engrossing the current technological efficiency of the community. (Veblen 1908a, 525) To these men, soberly trained in a spirit of tangible performance and endowed with something more than an even share of the sense of workmanship, and endowed also with the common heritage of partiality for the rule of Live and Let Live, the disallowance of an outworn and obstructive right of absentee ownership is not likely to seem a shocking infraction of the sacred realties. That customary right of ownership by virtue of which the vested interests continue to control the industrial system for the benefit of the kept classes, belongs to an older order of things than the mechanical industry. It has come out of a past that was made up of small things and traditional makebelieve. (Veblen 1921, 80–1) In fact, the disallowance will touch nothing more substantial than a legal makebelieve. This would, of course, be serious enough in its consequences to those classes called the kept classes whose livelihood hangs on the maintenance of this legal makebelieve. So, likewise, it would vacate the occupation of the »middleman«, which likewise turns on the maintenance of this legal makebelieve; which gives »title« to that to which one stands in no material relation. (Veblen 1921, 159–60)

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Finanzkapital, Kreditexpansion und Inflation aller Geldwerte: Glaubenmachen durch abwesende Eigentümer (feine Leute) The specific marks of the concept the characteristics of the category in the common usage are not physical marks, and the categories with which it is, in usage, related and contrasted are not categories that admit of definition in material terms; because it is, in usage, a pecuniary concept and stands in pecuniary relations and contrasts with other categories. It is a pecuniary term, primarily a term of investment, and as such, as a habit of thought of the men who have to do with pecuniary affairs, it necessarily changes in response to the changes going forward in the pecuniary situation and in the methods of conducting pecuniary affairs. »Capital«, is the usage of current business, undoubtedly has not precisely the same meaning as it had in the corresponding usage of half a century ago; and it is safe to say that it will not retain its present meaning, unimpaired and unimproved, in the usage of ten years hence; nor does it cover just the same details in one connection as in another. Yet business men know what the term means to them. With all its shifting ambiguities, they know it securely enough for their use. The concept has sufficient stability and precision to serve their needs; and, if the economist is to deal with the phenomena of modern life in which this concept serves a use of first-rate importance, he must take the term and the concept as he finds them. It is idle fatigue to endeavour to normalise them into a formula which may suit his prepossessions but which is not true to life. The mountain will not come to Mahomet. (Veblen 1908b, keine Seitenangabe in der online Version) The fabric of credit and capital expansion is essentially a fabric of concerted [inflationary] make-believe resting on the routine credulity of the business community at large. (Veblen 1923, 383, in Kapp 2011, 143) […] they [engineers] are accordingly coming to understand that the whole fabric of credit and corporation finance is a tissue of makebelieve [of absentee ownership]. (Veblen 1921, 75) It all comes into the working scheme of the engineers only as a gratuitous intrusion which could be barred out without deranging the work at any point, provided only that men made up their mind to that effect that is to say, provided the makebelieve of absentee ownership were discontinued. Its only obvious effect on the work which the engineers have to take care of is waste of materials and retardation of the work. So the next question which the engineers are due to ask regarding this timeworn fabric of ownership, finance, sabotage, credit,

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and unearned income is likely to be: Why cumbers it the ground? And they are likely to find the scriptural answer ready to their hand. (Veblen 1921, 75–6)

Legalisiertes Glaubenmachen als abergläubisches Gehirngespinst aus Imponderabilien und Einnahmequelle der feinen Leute An Imponderable is an article of make-believe which has become axiomatic by force of settled habit. It can accordingly cease to be an Imponderable by a course of unsettling habit. (Veblen 1919, 8) Here and now as elsewhere and in other times the stubborn teaching that comes of men's experience with the tangible facts of industry should confidently be counted on to make the outcome, so as to bring on a corresponding revision of what is right and good in that world of make-believe that always underlies any established system of law and custom. (Veblen 1919, 32) Since any such revision of ancient rights and perquisites will necessar­ ily be consequent upon and conditioned by that change, and since the axioms of law and custom that underlie any established schedule of rights and perquisites are always of the nature of make-believe; and the make-believe is necessarily built up out of conceptions derived from the accustomed range of knowledge and belief. (Veblen 1919, 33) Out-worn axioms of this make-believe order become superstitions when the scope and method of workday knowledge has outgrown that partic­ ular range of preconceptions out of which these make-believe axioms are constructed; which comes to saying that the underlying principles of the system of law and morals are there with caught in a process of obsolescence, »depreciation by supersession and disuse.« By a figure of speech it might be said that the community's intangible assets embodied in this particular range of imponderables have shrunk by that much, through the decay of these imponderables that are no longer seasonable, and through their displacement by other figments of the human brain, a consensus of brains trained into closer consonance with the latter-day material conditions of life. Something of this kind, something in the way of depreciation by displacement, appears now to be overtaking that system of imponderables that has been handed down into current law and custom out of that range of ideas and ideals that had the vogue before the coming of the machine industry and the material sciences. Since the underlying principles of the established

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Profit aus Glaubenmachen – Gewinn aus Dichtung: Wirtschaft als Wahrheitskampf

order are of this make-believe character, that is to say, since they are built up out of the range of conceptions that have habitually been doing duty as the substance of knowledge and belief in the past, it follows in the nature of the case that any reconstruction of institutions will be made only tardily, reluctantly, and sparingly; inasmuch as settled habits of thought are given up tardily, reluctantly and sparingly. And this will particularly be true when the reconstruction of unseasonable institutions runs counter to a settled and honorable code of ancient principles and a stubborn array of vested interests, as in this instance. Such is the promise of the present situation, and such is also the record of the shift that was once before made from medieval to modern times. It should be a case of break or bend. (Veblen 1919, 34) The common man is beginning to see these things in the glaring though fitful light of that mechanistic conception that rates men and things on grounds of tangible performance, without much afterthought. As seen in this light, and without much afterthought, very much of the established system of obligations, earnings, perquisites and emoluments, appears to rest on a network of make-believe. (Veblen 1919, 47)

Werbung als Fabrizierung massentauglicher und trügerischer Überzeugungen im System des Glaubenmachens feiner Leute Im Prozess des Glaubenmachens von Werten kommt dem Marketing eine entscheidende Rolle zu, da es in der Lage ist, den Marktpreis für Güter in die Höhe zu treiben und somit die Einkommensflüsse für die angestrebte hohe Marktkapitalisierung zu garantieren und den Gefahren technologisch induzierter deflationärer Tendenzen und eines Falls der Profitrate entgegenzuwirken (Veblen in Kapp 2011). Das System des Glaubenmachens findet somit seine Abrundung in der Werbung als Fabrizierung massentauglicher Überzeugung, wobei grade für letztere interessanterweise nicht der Ausdruck Glauben­ machen verwendet wird, sondern gemäß der angewandten Technik die Nähe zu massentauglichen Fiktionen im Sinne von Groschenro­ manen festgestellt wird. Veblen diagnostiziert auf diese Weise, wie große Reichtümer durch bodenlose aber gut verkaufte Behauptungen entstanden sind (Veblen 1904, 55–7). Etwas später bringt er es auf den Punkt: »It is of the nature of sales publicity to promise much and deliver a minimum: Suppressio veri, suggestio falsi« (Veblen 1923, 321).

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The great end of consistent advertising is to establish such differential monopolies resting on popular conviction. And the advertiser is suc­ cessful in this endeavour to establish a profitable popular conviction, somewhat in proportion as he correctly apprehends the manner in which a popular conviction on any given topic is built up. (*20) The cost, as well as the pecuniary value and the magnitude, of this organized fabrication of popular convictions is indicated by such statements as that the proprietors of a certain well-known household remedy, reputed among medical authorities to be of entirely dubious value, have for a series of years found their profits in spending several million dollars annually in advertisements. This case is by no means unique. The writing and designing of advertisements (letterpress, display, and illustrations) has grown into a distinct calling; so that the work of a skilled writer of advertisements compares not unfavorably, in point of lucrativeness, with that of the avowed writers of popular fiction. The psychological principles of advertising may be formulated somewhat as follows: A declaration of fact, made in the form and with the incidents of taste and expression to which a person is accustomed, will be accepted as authentic and will be acted upon if occasion arises, in so far as it does not conflict with opinions already accepted. The acceptance of an opinion seems to be almost entirely a passive matter. The presumption remains in favor of an opinion that has once been accepted, and an appreciable burden of proof falls on the negative. A competent formulation of opinion on a given point is the chief factor in gaining adherents to that opinion, and a reiteration of the statement is the chief factor in carrying conviction. The truth of such a formulation is a matter of secondary consequence, but a wide and patent departure from known fact generally weakens its persuasive effect. The aim of the advertiser is to arrest attention and then present his statement in such a manner that it is easily assimilated into the habits of thought of the person whose conviction is to be influenced. When this is effectually done a reversal of the conviction so established is a matter of considerable difficulty. The tenacity of a view once accepted in this way is evidenced, for instance, by the endless number and variety of testimonials to the merits of well-advertised but notoriously worthless household remedies and the like. (Veblen 1904, 55–7)

Die in der Textpassage genannte Fußnote 20 (ebd., 56–7) rückt all dies und inbesondere die amerikanische Patentmedizin in die Tradition Elijahs, um dann die Einsichten L. F. Wards zu zitieren, die vor allem den »hinterhältigen, listigen und unmoralischen« Trug und Lug als Basis der Wettbewerbswirtschaft ausmachen, diese somit in der Tradition großwildjagender Urmenschen sieht.

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Profit aus Glaubenmachen – Gewinn aus Dichtung: Wirtschaft als Wahrheitskampf

So acute an observer as Mr. Sombart is still able to hold the opinion that ›auf Schwindel ist dauernd noch nie ein Unternehmen begründet worden‹ (Kapitalismus, vol. II. p. 376). Mr. Sombart has not made acquaintance with the adventures of Elijah the Restorer, nor is he conversant with American patent-medicine enterprise. With Mr. Som­ bart's view may be contrasted that of Mr. L. F. Ward, an observer of equally large outlook and acumen: ›The law of mind as it operates in society as an aid to competition and in the interest of the individual is essentially immoral. It rests primarily on the principle of deception. It is an extension to other human beings of the method applied to the animal world by which the latter was subjected to man. This method was that of the ambush and the snare. Its ruling principle was cunning. Its object was to deceive, circumvent, ensnare, and capture. Low animal cunning was succeeded by more refined kinds of cunning. The more important of these go by the names of business shrewdness, strategy, and diplomacy, none of which differ from ordinary cunning in anything but the degree of adroitness by which the victim is outwitted. In this way social life is completely honeycombed with deception.‹ – ›The Psychologic Basis of Social Economics,‹ Ann. of Am. Acad., vol. III. pp. 83–84. (Veblen 1904, 475–6)

Vor allem Veblens Widerspruch zu Werner Sombart ist interessant, da es sich hier um einen unhinterfragten doppelbödigen Glaubens­ grundsatz der feinen Leute handelt, der deshalb in »besten« Kreisen als gültige Währung für Selbstbeweihräucherung und -täuschung gilt. Ein Beispiel hierfür ist, dass selbst kein geringerer als der ehe­ maligen Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland, Helmut Schmidt, diesen Glaubenssatz öffentlich anlässlich der 6. Effie-Preis­ verleihung 1987 auf Einladung des Gesamtverbandes der Werbeagen­ turen (GWA, heute: Gesamtverband Kommunikationsagenturen) in Frankfurt mit scheinbar kritischer Absicht als eine bewährte Erkennt­ nis propagiert, dabei aber letztlich, das Ausmaß des Glaubenmachens verkennend, diesen noch verstärkt.5

Wirtlicher Gewinn aus dichterischer Wahrheit Zum Schluss wollen wir den Gedanken aufgreifen, dass die heutige Wirtschaft vielleicht mehr denn je ein Wahrheitskampf ist. (Berger 2021; 2020) Allerdings geht es dabei nicht nur um (Un-)Wahrheiten, 5

Minute 1:38 in: https://www.youtube.com/watch?v=8nBeG_h-z2g.

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die auf dem Markt um Geltung ringen oder den neoliberalen Kampf gegen sozial-ökologische hilfreiche wissenschaftliche Wahrheit und Weisheit. Sondern es geht auch um alternative Wahrheitsstandards, die jenseits von Marktwahrheiten ihren Ursprung haben und mit diesen konfligieren. Diese liegen beispielsweise in der poetischen Ökonomie (Berger 2017) als einer der Quellen der wirtlichen Ökono­ mie, welche in der Buchreihe Elementa Œconomica freigelegt werden (De Gennaro/Kazmierski/Lüfter 2013). Hier scheint allerdings eine andere Bedeutung von Wahrheitskampf auf, nämlich jene des Kamp­ fes nicht nur um, für oder gegen Wahrheiten, sondern ein Ringen mit und aus dem im Menschen verorteten Dass der Wahrheit als Ereignis (zum Ereignis-Denken siehe Heidegger 2013). Dabei kommt dem Gewinn aus einer dichterischen Wahrheit eine Bedeutung zu, die nichts mit geldwerten Profiten aus Glaubenmachen zu tun hat, ja sogar von diesem bedroht und verwüstet wird. Der Dichter Ernst Wiechert hat den Gewinn des Lebens als dichterische Wahrheit verstanden und in seinem kleinen Heft »Von den treuen Begleitern« (1952) festgehalten, mit denen Verse von Mathias Claudius (Abendlied), Goethe (Wandrers Nachtlied), Höl­ derlin (Abendphantasie), und Mörike (Verborgenheit) gemeint sind. Dies ist einzuordnen in den Hintergrund von Wiecherts kunstphilo­ sophischer Überzeugung (Berger 2017), dass die Welt nicht aus einem Prinzip zu heilen ist, sondern durch das dichterische Bewegen von Herzen, da die Liebe die größte aller Seinsmächte ist, dank welcher sich Inseln des Trostes als kleine Gemeinschaften Hilfesuchender bilden können, die Rettung aus dem tiefsten Schmerz bieten und aus denen nach und nach eine bessere Welt entsteht. Der Gewinn wäre somit in einer freien(den), tröstenden, liebevollen Herzensbe­ wegung zu sehen, die aus der Melodie der Dichtung hervorgeht und dieser zugrundeliegt. Wiechert bezieht sich bei dieser Liebe zur leidenden Kreatur, die er als »Erneuerung bleibender Werte« versteht, ausdrücklich auf Nietzsches Zarathustra und stellt die For­ derung auf, als Verkündiger dieser höchsten und letzten Weisheit des Orients und Okzidents zu leben. Somit verlegt Wiechert das Wahrheitsgeschehen weg vom Wissen hin zur Liebe. Dies reiht sich ein in seine Kritik der Beschleunigung durch Technisierung, Kommer­ zialisierung, politischer Fragmentierung und Geldgier. Jedoch legen die im folgenden zitierten Passagen nahe, dass Wiechert am Ende sei­ nes Lebens über diese kunstphilosophischen Einsichten hinausgeht, wenn er den letzten Gewinn des Lebens in dem sieht, was aus der

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Profit aus Glaubenmachen – Gewinn aus Dichtung: Wirtschaft als Wahrheitskampf

Dichtung spricht und umschrieben wird mit »Unsterblichkeit« des »Herzblutes«, »unerschöpfliche Speise«, eine »höhere geoffenbarte Natur«, das »Heilige«, und das »Wunder der Schöpfung, Schönheit und Sehnsucht, Frommsein und Friede«. Damit ist allerdings nicht gemeint, dass diese Dichtung wie ein Wunder den Wahrheitskampf gegen neoliberales Glaubenmachen gewinnen kann. Ganz im Gegenteil meint Wiechert, dass seine pädagogischen Bemühungen weitestgehend und bis auf wenige Aus­ nahmen gescheitert sind und dass die westliche Welt, insbesondere Deutschland, die Botschaft des Bösen geöffnet hat, weshalb sie dem Untergang geweiht ist. Vor diesem Hintergrund ist Wiecherts Beschwörung und todesmutiger Einsatz für den beginnlichen Zauber einer besseren Welt Ausweis einer heroischen Haltung aus Tapferkeit und dem Vonsichweisen der das Mark des Menschen zerfressenden Angst vermittels einer auch von Goethe in größter Not beschworenen freien und unbezwingbaren Herzensbewegung, deren Gewinn in jenem Ganzen liegt, welches den Schatz der »treuen Begleiter« aus­ macht (für Wiecherts Denkweisen vom Ganzen siehe Berger in press). Das eigentlich Edle dieser Haltung liegt darin, dass es ohne Aussicht auf Ruhm und Ehren oder gar die Rettung des Abendlandes um den sich immer wieder erneuernden und nie versiegenden Anspruch geht, der von dem Guten ausgeht und darin besteht, den »schmalen Raum in seinem Gesicht zu gewinnen, auf dem sich Gott ausruhen konnte, wenn seine Füße müde waren.« (Wiechert 1950, 183; für eine umfassendere Darstellung dieser Interpretation Wiecherts siehe Berger 2020b). Ja, dieses haben wir noch erkannt: dass unser letzter Gewinn niemals aus dem Wissen stammt, sondern aus dem, das einmal in einem Vers oder in einer Melodie in unser Herzblut hineingeflossen ist. Niemals, ausser in einem Menschenauge, hat Gott sich uns tiefer und bleibender geoffenbart. (Wiechert 1952, 9) Ich will es gern sagen, da ich darum gefragt werde: dass ich zeit meines Lebens, auch auf den dunkelsten Wegen, nur die Hand habe ausstrecken brauchen, um jemanden zu finden, der unsichtbar neben mir gegangen ist. Niemals bin ich ganz verlassen gewesen. So einfach und ärmlich mein Elternhaus im Irdischen und wohl auch im Geistigen war, so konnte es mir doch auf meine Reise mitgeben, was auch der Ärmste seinen Kindern mitgeben kann: das ganze Wort Gottes. Und so kümmerlich die Schule meine Seele auch versorgen mochte, doch

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konnte sie mir mitgeben, was sie vielleicht nur für eine geistige Mitgift ansah, aber was sich dem hungrigen Gemüt in eine unerschöpfliche Speise verwandelte, das Wort der Dichter. Und wenn es auch nicht alle Worte und alle Dichter waren, so war es doch die Bereitschaft zu ihnen allen, der Schlüssel zum Tempeltor, und mir mochte nun überlassen bleiben, ob ich ihn in ein tiefes Wasser warf oder das Heiligtum öffnete. [...] (ebd., 3) Sie [diese Verse] sind mir wie die Natur, aber wie eine höhere, geoffen­ barte Natur. Sie sind der Schlacken und des Makels alles Menschlichen entkleidet. Sie sind das Letzte, was ein Menschenmund auszusagen vermag. [...] Aber ein Glück ohne Maßen überströmte mich. Dass ich es so nachsprechen durfte. Dass es in diese Worte eingefangen und eingeschlossen war: das Wunder der Schöpfung, Schönheit und Sehnsucht, Frommsein und Friede [...] (ebd., 6) Wir aber fühlen als einen tiefen Trost, als einen Trost des richtigen Weges, dass diese Verse uns geblieben sind, wie auch Schmerz und Lust sich verwandeln mögen. Sie sind geblieben, wie die Jahre uns bleiben, die einmal unser waren. Sie sind gewesen, aber nicht gelöscht. Sie sind das Element, in dem wir sind, die Verse sind die Verse dieses Elements, und sie ausstreichen wäre dasselbe, als ob wir das Blut aus uns fortströmen lassen wollten, das damals, in jenen Jahren, unsre Adern erfüllt hat. Das Unsterblich eines Verses ist nicht geringer als das Unsterbliche des Blutes. (ebd., 7)

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Profit aus Glaubenmachen – Gewinn aus Dichtung: Wirtschaft als Wahrheitskampf

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Machtgewinn. Über die ökonomischen Ziele der Mafia

1. Einleitung Many believe you enter Cosa Nostra for money. This is only part of the truth. Do you know why I entered Cosa Nostra? Because before in Palermo I was Mr. Nobody. Afterward, wherever I went, heads lowered. And this for me was worth any price.1

Mit diesen Worten möchte der »pentito«2 Marino Mannoia auf den wahren Grund hinweisen, weshalb er sich einer kriminellen Organisation wie der Cosa Nostra (it. Bezeichnung für die siziliani­ sche Mafia)3 überhaupt angeschlossen hat. Dass er Geld als einen möglichen Grund anführt, lässt erahnen, dass die Mafia dem Ökono­ mischen nicht fremd ist. Gleichzeitig betont er, Geld sei nicht das einzige Motiv seines Beitritts gewesen. Doch was heißt das genau? Inwiefern ist die Mafia ein wirtschaftlich relevantes Phänomen, wie kann sie überhaupt zur Bereicherung eines Individuums beitragen, und wieso ist es relevant, dass sie mehr als Geld für seine Mitglieder anzubieten hat? Seit dem Ende des 20. Jahrhundert haben sich Forscherinnen und Forscher vermehrt mit den Fragen beschäftigt, was das Unter­ nehmerische an der Mafia und was das Spezifikum des mafiosen 1 Übernommen aus Paoli (2008, 152), die sich wiederum auf eine Anhörung des Staatsanwalts Roberto Scarpinato stützt. 2 »Pentito« heißt auf Italienisch zunächst einmal Überläufer. Damit bezeichnet man ehemalige Mafiamitglieder, die diese Mitgliedschaft bereuen (aus dem It. »pentirsi«, bereuen) und mit der Justiz kollaborieren. 3 Der Begriff »Cosa Nostra« (dt.: »Unsere Sache«) stammt nach einer Hypothese von John Dickie (vgl. 2013) wahrscheinlich aus den USA der Nachkriegszeit: Die emigrierten Sizilianerinnen und Sizilianer verwenden den Ausdruck, um sich von anderen ethnischen Gruppen zu differenzieren.

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Unternehmertums ist (vgl. u.a. Arlacchi 1989; Becchi/Rey 1994; Dalla Chiesa 2015; Lupo 2004). Das wissenschaftliche Interesse spiegelt die Entwicklungen der mafiosen Organisationen wider, die in den Siebzigerjahren damit beginnen, die monetären Profite aus dem Drogenhandel in legale Aktivitäten – insbesondere in der Bauindus­ trie aber auch der Gastronomie und im Tourismus – zu reinvestieren. Das unternehmerische Engagement zwischen legalem und illegalem Markt gewährt der Mafia somit nicht nur eine Erweiterung ihrer Ein­ flusssphäre. Auch die erhebliche Vergrößerung der Geldeinnahmen ist ein wichtiges Produkt dieses Engagements und lässt die Mafia nicht unberührt. Der italienische Soziologe Dalla Chiesa behauptet (vgl. 2012, 15), es habe sich infolgedessen für die Mafia eine »organische Verbindung zur Dimension des Gewinns«4 etabliert. Gerade aufgrund der zunehmenden Verwicklung zwischen Mafia und Profit spielt die Bedeutung von Gewinnen für die Mafiaforschung eine wichtige Rolle. Dies tritt in zahlreichen Abhandlungen aus der Mafiologie zutage, in denen nach dem ultimativen Ziel des mafiosen Wirtschaftens gefragt wird. Insbesondere stellen u.a. Pino Arlacchi (1989), Ada Becchi und Guido M. Rey (1994), Nando Dalla Chiesa (2012), Letizia Paoli (2008) und Rocco Sciarrone (2002) dabei eine Rangordnung zwischen Macht- und Kapitalakkumulation. Der explizite Verweis auf »Macht« und »Machtakkumulation« als unter­ nehmerisches Ziel kann für das Infragestellen des Gewinnbegriffs neue Perspektiven aufzeigen: Werden von Unternehmen nur konkret fassbare und quantifizierbare »monetäre Renditen« erwirtschaftet, oder kann auch so etwas wie »Macht« erwirtschaftet werden? Um diese Frage geht es in der vorliegenden Arbeit, die mittels einer Analyse von Entstehung, Funktionen und Zielen der unternehmeri­ schen Mafia das Primat monetärer Gewinne im Kapitalismus zur Diskussion stellen möchte. Der Beitrag ist wie folgt strukturiert: In Kapitel 2 wird zunächst die Relevanz der unternehmerischen Mafia als Gegenstand der For­ schung festgestellt. Dabei wird ebenfalls beobachtet, dass es an einem einheitlichen Paradigma zur Beschreibung der unternehmerischen Mafia mangelt. Kapitel 3 versucht, in Anlehnung an den Werken von Arlacchi, Dalla Chiesa und Sciarrone diese Ergebnisse auf einen gemeinsamen Frei übersetzt aus dem Italienischen, im Original als »connessione organica con la dimensione del profitto« vorzufinden.

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Machtgewinn.

Nenner zu bringen. Um ein tieferes Verständnis der ökonomischen Strukturen innerhalb der Mafia zu gewinnen, wird zunächst in Abschnitt 3.1 der Begriff der Mafia etymologisch und historisch erör­ tert. Den politischen und kulturellen Gründen, die zur Entstehung der unternehmerischen Mafia geführt haben, widmet sich Abschnitt 3.2, und schließlich wird sowohl auf die Märkte, in denen die unternehme­ rische Mafia tätig ist, als auch auf die unternehmerische Mafia als Organisation eingegangen. Diese Analyse wird zeigen, dass die unternehmerische Mafia in letzter Instanz Macht erwirtschaftet, während monetäre Erträge zwar eine erhebliche Rolle spielen, aber nie über die Rolle als bloßes Zwischenziel hinausgehen. Ausgehend von dieser Beobachtung wird im Kapitel 4 ein Blick auf das Spannungsfeld zwischen Profit und Macht in der Ökonomik geworfen, um weitere Forschungsperspektiven zu skizzieren. Dabei wird festgestellt, dass obwohl die Begriffe »Gewinn« und »Macht« oft gepaart in Schlagzeilen oder Buchtiteln5 gemeinsam auftauchen, ihre Beziehung in der ökonomischen Ideengeschichte noch nicht systematisiert worden ist. Eine solche Systematisierung könnte allerdings zum besseren Verständnis von Phänomenen wie der Mafia beitragen und könnte beispielsweise mit einer Analyse des Distributionsproblem beginnen. Da Macht ein mehrdeutiger Begriff ist6, bedarf es vorab einer kurzen Eingrenzung dessen, was im Verlauf dieses Aufsatzes unter »Macht« verstanden wird. Den folgenden Kapiteln soll die Webersche Definition von Macht zugrunde gelegt werden. Dies erweist sich als sinnvoll, da Weber nicht nur für die Soziologie oder die Politikwis­ senschaft sehr relevant ist,7 sondern auch für die wirtschaftswissen­ schaftliche Debatte rund um die Rolle der Macht in der Ökonomik 5 Bei EconBiz ergibt die Suche »power profits« über 10000 Ergebnisse, »People, Power and Profits«, »Power, Profit and the Pandemic«, »Power, Profit, and Inflation«, »Power, Productivity and Profit« sind nur einige Beispiele. Vgl. https://www.econbi z.de/Search/Results?lookfor=power+and+profits&type=AllFields. 6 Zur Schwierigkeit, den Machtbegriff zu untersuchen, vgl. u.a. Faber, Ilting, und Meier (1982); Anter (2012, 13f); Krause und Rölli (2015). Max Weber definiert in dieser Hinsicht Macht als »amorph« (vgl. Weber 2013, 211). 7 Anter (vgl. 2012, 35) verweist auf ca. 10 repräsentative sozialwissenschaftliche Studien zum Thema Macht, die Weber heranziehen. Faber (vgl. 1982, 934) betont, dass Weber in der aktuellen Debatte stets herangezogen wird, teils als grundlegend, teils als kritikwürdig.

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(vgl. u.a. Berger/Nutzinger/Matiaske 2008; Skidelsky/Craig 2016). Im Weberschen Sinne wird über Macht gesprochen als die »Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel worauf diese Chance beruht« (Weber 2013, 210). Deutungen von Macht wie etwa bei Hannah Arendt oder Talcott Parsons, die Macht als Fähigkeit sehen, etwas zu tun oder zu wirken, bleiben außen vor.8 Auch soll vorweg auf den Mafiabegriff kurz eingegangen wer­ den, wobei eine umfangreichere Auseinandersetzung Gegenstand des Abschnitts 3.1 ist. Als Protagonistin von Literatur und Filmen wird die Mafia mit unterschiedlichen Bildern assoziiert, die zwischen Phantasie und Realität schwanken. Die Mafia ist weder eine Fiktion, noch stimmt die Realität mit den filmischen Darstellungen überein. Um das Phänomen »Mafia« klarer umzureißen, hat sich in Italien ein eigenständiger Forschungszweig etabliert, die sogenannte »mafiolo­ gia« (dt. »Mafiologie«). Die Mafiologie arbeitet interdisziplinär und bedient sich hauptsächlich soziologischer, rechtswissenschaftlicher und erst neuerdings auch wirtschaftswissenschaftlicher Ansätze, um die folgenden Fragestellungen zu behandeln: Ist »Mafia« mit »orga­ nisierter Kriminalität« oder eher mit »Gangstern« gleichzusetzen? Ist die Mafia eine Organisation? Ist sie ein politisches Gebilde oder ein wirtschaftliches Phänomen? Ist sie strukturiert oder nicht? Wie ist ihr vorzubeugen? (vgl. u.a. Petersen 1994; Hessinger 2002; Dalla Chiesa 2012). Auf einige dieser Fragen wird im späteren Verlauf der Arbeit eingegangen. Vorab sei von der Definition von »Mafia« wie in Serenata (2014, v) auszugehen: »criminal organizations originally routed in the South of Italy whose influences have been extending in the northern regions of Italy and in other foreign countries as well.« Diese Definition, die erst einmal beim Verständnis des folgenden Kapitels helfen soll, wird allerdings im Laufe des Abschnitts 3.1 noch einmal aufgegriffen und hinterfragt. Außerdem fokussiert sich der vorliegende Beitrag primär auf Cosa Nostra und ’Ndrangheta, die zwei ältesten mafiosen Organisationen in Italien (Paoli 2008; Serenata 2014) – weitere Gruppierungen, wie die neapolitanische Camorra oder die Sacra Corona Unita aus Apulien, werden nur marginal heran­ gezogen. Die Gegenüberstellung zwischen den Theorien, die Macht als »power over« und den Theorien, die Macht als »power to« interpretieren, ist auf Lukes (vgl. 1974) zurückzu­ führen.

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2. Die unternehmerische Mafia als Gegenstand der Forschung Um Modelle des ökonomischen Verhaltens mafioser Organisatio­ nen entwerfen zu können, bedient sich die Mafiologie an unter­ schiedlichen Primär- und Sekundärquellen, unter anderem polizei­ lichen Ermittlungen, gerichtlichen Schriftstücken, Presseberichten, aber auch Interviews mit Opfern oder Kronzeugen sowie an nichtmafiosen Unternehmerinnen und Unternehmern (Cesoni 1995; Lupo 2004). Aufgrund des breiten Spektrums an Quellen und Auswer­ tungsmethoden kommen Forschende zu unterschiedlichen Beschrei­ bungen und Interpretationen davon, mit welchen Beweggründen die unternehmerische Mafia operiert und welche sozioökonomischen Kontexte die Entwicklung des mafiosen Wirtschaftens begünstigen (vgl. u.a. ebd.; Arlacchi 1989; Dalla Chiesa 2012; Paoli 2008). Es ist auch unklar, ob es bei der Mafia überhaupt von einem »Unterneh­ men« die Rede sein kann, oder ob Oberbegriffe wie »Staat« oder »Sekte« oder »kriminelle Organisation« besser auf sie zutreffen. Von Arlacchis These des Mafiosos als Schumpeter-Unternehmer bis hin zu Gambettas Betrachtungen der Mafia als Schutzindustrie sind die Ansätze vielfältig. Bevor die unternehmerische Mafia aus eigenstän­ diger Perspektive betrachtet wird, werden als nächstes die wichtigsten Beiträge kurz dargestellt. Pino Arlacchi (1989) gilt als Pionier auf dem Gebiet, da er als erster die Mafia als wirtschaftlichen Akteur untersucht und vom Ausdruck »unternehmerischer Mafia« überhaupt Gebrauch macht (vgl. Dalla Chiesa 2012; Paoli 2008).9 Arlacchi ist der Überzeugung, die Mafia hätte von dem Nachkriegsboom profitiert und in der freien Marktwirtschaft eine Opportunität zur Expansion gesehen. Den Mafioso vergleicht er mit dem Schumpeter-Unternehmer, dessen Innovationskraft primär in der »Einverleibung der mafiosen Methode in die Produktion von Gütern und Diensten« bestünde. Das gestattet der Mafia »in den Genuß eines monopolistischen Profits zu gelan­

In diesem Sinne bricht er mit den bisherigen Schwerpunkten der Mafiologie, wo die Mafia lediglich in seinen kulturalistischen, anthropologischen und politischen Aspekten beleuchtet, wobei das Ökonomische an der Mafia vernachlässigt wurde. Dieser Punkt wird in 3.1 näher betrachtet. 9

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gen, der anderen ökonomischen Einheiten verwehrt bleibt« (Arlacchi 1989, 95).10 In den darauffolgenden Jahren nimmt insbesondere Diego Gam­ betta diesen Faden wieder auf, allerdings mit kritischem Blick. Er sieht die Mafia nicht als Produkt eines wirtschaftlichen Wunders, sondern unterentwickelter Gesellschaften, die durch ein geringes Vertrauen in die Institutionen gekennzeichnet sind. Die Marktwirtschaft und der Wettbewerb würden die Unabhängigkeit von den bestehenden Machtstrukturen fördern und eher zur Beseitigung der Mafia beitra­ gen (vgl. Cesoni 1995).11 Auch Raimondo Catanzaro stellt sich Arlac­ chi kritisch gegenüber und behauptet, eine unternehmerische Mafia hätte schon im 18. Jahrhundert existiert, weil die Mafia »Gewalt« als »unternehmerisches Instrument« seit ihren Ursprüngen einsetzt.12 Die mikro- und makroökonomischen Analysen stützen sich insbesondere auf den Aufsatz von Gary S. Becker, »Crime and Punish­ ment: An economic approach«, in welchem die Normenverletzung als das Produkt einer rationalen Kosten-Nutzen-Analyse erklärt wird (vgl. Becker 1968; Lucarelli/Perone 2018). Die Mafia wird auch im Sammelwerk von Gianluca Fiorentini und Sam Peltzman als rationaler Akteur betrachtet – zu erwähnen ist der Beitrag von Anna­ lise Anderson (1995), die die Transaktionenkostentheorie auf die Mafia anwendet. Sciarrone (vgl. 2002) interessiert sich für die Gründe, die eine Expansion der unternehmerischen Mafia auf neuen Gebieten begüns­ tigen. Aus den Expansionsstrategien der Mafia lässt sich dem Autor zufolge erschließen, dass sie eher ein »power syndicate« – eine Organisation, die mittels Erpressung territoriale Kontrolle ausübt – sei als ein »enterprise syndicate« – eine Organisation, die Profite aus illegalen wirtschaftlichen Tätigkeiten wie Prostitution oder Drogen­ handel erzielt (vgl. Dalla Chiesa 2012, 30). Arlacchi wird von u.a. Santino und La Fiura kritisiert – beide weisen die von Arlacchi unternommene Unterscheidung zwischen ursprünglicher und unternehme­ rischer Mafia zurück und plädieren für eine Betrachtung des mafiosen Wirtschaftens als »polymorphe Ökonomik« (vgl. Dalla Chiesa 2012, 24). 11 Dieser Auffassung war übrigens auch Adam Smith, der den vollkommenen Wett­ bewerb als die Emanzipation von der politischen Tyrannei sah. 12 Vgl. Dalla Chiesa 2012. Daran anschließend gibt es eine Reihe an Theorien, die die mafiose Wirtschaft als ein Hindernis für die ökonomische Entwicklung betrachten – in dieser Hinsicht sei insb. auf den Essay von Pietro Grasso Le imprese tra sicurezza e legalità in La Spina (2008) hingewiesen. 10

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Die Unterscheidung zwischen »power syndicate« und »enter­ prise syndicate«, die auf Alan A. Block (vgl. 1983) zurückzuführen ist, wird von Dalla Chiesa (vgl. 2012) aufgehoben. Er betrachtet die Mafia als einen Unternehmen-Staat13, das heißt eine Organisation, die seit ihren Ursprüngen gegen den Zentralstaat operiert und ihn zu ersetz­ ten versucht (vgl. ebd.). Das Unternehmen sei für die Mafia ein Ins­ trument, wodurch sie die Gesellschaft, indem sie operiert, mitgestal­ tet. Die unternehmerische Mafia agiere somit als ein »Botschafter« (vgl. ebd., 42), der zur Durchsetzung des mafiosen Interesse aktiv beiträgt. In dem Sinne beschränkt sich ihr Handlungsfeld nicht auf ein paralleles und illegales Wirtschaftssystem, sondern beeinflusst auch die legalen Sphären der Gesellschaft. Dieser skizzenhafte Überblick zeigt, wie viele unterschiedliche Auffassungen es über die unternehmerische Mafia gibt. Doch welche der oben geführten Auffassungen bildet deren Wirklichkeit besser ab? Um die Beweggründe und Handlungen der unternehmerischen Mafia besser verstehen zu können und etwas Ordnung ins theoreti­ sche Gewirr zu bringen, erweist es sich als sinnvoll, einen Schritt zurückzugehen und sich die Frage nach den Ursprüngen der Mafia zu stellen. Denn ohne die Ursprünge der Mafia zu verstehen, können ihre ökonomischen Ausprägungen auch nicht begriffen werden. Des­ halb wird als Nächstes auf die frühen Jahre des Mafiaphänomens zurückgeblickt. Die Schilderung wird sich primär auf das Pionierwerk von Arlacchi (1989) stützen, wobei auch weitere der obengenannten Werke, insbesondere die von Sciarrone (2002) und Dalla Chiesa (2012), als Ergänzung herangezogen werden.

3. Mafia und Macht – eine lange Geschichte 3.1 Die ursprüngliche Mafia Die meisten Menschen wissen ... [sic] ziemlich genau, was sie sich unter der Mafia vorzustellen haben: eine Geheimgesellschaft zu ver­ brecherischen Zwecken, zentralisiert, straff geleitet, mit Initiationsri­ ten und Statuten. Darüber sind sie ja sowohl in der Fachliteratur als auch in den Tageszeitungen, in Kriminal- und Sensationsromanen und in den Krimi-Serien des Fernsehens ausreichend informiert worden. 13

Frei übersetzt aus dem Italienischen (»impresa-stato«).

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Aber wer sich einmal die Mühe macht, den Fakten nachzugehen und die Kette der tertiären und sekundären Quellen zurückzuverfolgen, der erhält schließlich ein völlig anderes Bild. Der wird … [sic] zu der Überzeugung kommen, daß der Angeklagte Mini wahrscheinlich gar nicht lügt, wenn er auf die Frage, ob er Mitglied der Mafia sei, antwortet [...] ›Ich weiß nicht, was das bedeutet.‹ Er kennt zwar Individuen, die er mafiosi [sic] nennt, aber nicht weil sie Mitglieder eines Geheimbundes wären, sondern weil sie sich auf eine bestimmte, nämlich mafiose Weise verhalten.14

Mit diesen Worten fasst der Soziologe Henner Hess seine ethnologi­ schen Studien über die sizilianische Mafia zusammen und er plädiert dafür, die Mafia nicht als Organisation zu betrachten, sondern als eine Verhaltensweise. Diese These gilt als erste allgemein akzeptierte Definition der Mafia und findet eine Bestätigung in der Etymologie der Wörter »Mafia« und »’Ndrangheta«, von denen insbesondere ab dem 19. Jahrhundert ausgiebig Gebrauch gemacht wurde. »Mafia« wird im Sizilien des 19. Jahrhunderts als Bezeichnung für Männer verwendet, die besonders überlegen, selbstbewusst und tüchtig sind (vgl. ebd., 1f; Arlacchi 1989, 31). Selbst wenn das Wort »Mafia« aus dem sizilia­ nischen Dialekt stammt, wird die sizilianische Mafia häufig »Cosa Nostra« genannt, um sie von anderen Gruppen mafioser Prägung zu unterscheiden wie der kalabrischen ’Ndrangheta. Deren Bezeichnung bedeutet im kalabrischen Dialekt »Ordnung von Heldentum und Tugend« (Arlacchi 1989, 30). Heldentum, Tugend, Tüchtigkeit hängen in den südlichen Regio­ nen Italiens im 19. Jahrhundert mit dem Begriff der »Ehre« zusam­ men. Ein ehrenhaftes Verhalten bildet den Dreh- und Angelpunkt des Normensystems dieser Gesellschaften und ist geschlechtsabhängig: Männer werden für würdig erachtet, wenn sie mutig, schlau und gleichzeitig skrupellos handeln. Schamhaftigkeit und Jungfräulichkeit werden hingegen von Frauen erwartet (vgl. Arlacchi 1989, 31–4). Rache zu verlangen, gilt als erwünschtes Mittel, Konflikte zu lösen und die eigene Ehre zu verteidigen. Der Fall, dass eine adäquate Vergeltung unmöglich ist, bringt eine Stigmatisierung und häufig sogar den Ausschluss aus der Gemeinschaft mit sich (vgl. ebd.).

Hess 1988, V. Übernommen aus Arlacchi (1989, 29). Mini ist ein Angeklagter in einem Mafiaprozess (vgl. ebd.).

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Ein ehrenhaftes Verhalten ist zwar eine notwendige Bedingung für das Vorliegen mafiosen Verhaltens, aber keine hinreichende: Arlacchi (ebd.) beschreibt die Mafiosi als diejenigen, die als besonders ehrenhaft anerkannt werden, weil sie sich im »Kampf« gegen andere Ehrenmänner behaupten können, und denen deshalb eine gewisse »Macht« zugesprochen wird. Der Mafioso errichtet somit »ein Mono­ pol der physischen Gewalt« (ebd., 42). Dieser Ansicht ist auch der Historiker Pitré: »[...] Die Mafia ist das Bewußtsein des eigenen Seins, die übertriebene Vorstellung von der Macht des Individuums, ›einzige und alleinige Entscheidungsgewalt jeden Gegensatzes, jeden Zusammenstoßes von Interessen und Ideen‹; daher die Unfähigkeit, die Überlegenheit und, schlimmer noch, die Anmaßung anderer zu ertragen.« (Pitré 1969, 292, übernommen aus Arlacchi (1989, 31)) Aus den Worten Pitrés und den Ergebnissen Arlacchis lässt sich schlussfolgern, dass ein Ehrenmann lediglich nach der Anerkennung seiner Macht als Mafioso bezeichnet werden kann. Mit anderen Worten ist Macht für die Mafia ein konstitutives Element. Der Erhalt der erworbenen Machtstellung wird somit zu einer der wichtigsten Aufgaben eines Mafiosos – eine Aufgabe, auf die sich sowohl sein Sozial- als auch sein Berufsleben richtet. Denn einerseits geht der Mafioso beim Aufbau von Beziehungen strategisch vor: Er pflegt ein Netzwerk von Verwandten und Freunden, die sogenannten »Cosca« oder »’Ndrina«. Andererseits, obwohl »Mafioso« Arlacchi zufolge keine Berufs­ bezeichnung ist, soll die berufliche Laufbahn des Mafiosos trotzdem mit seinen Machtzielen übereinstimmen: Als Haupttätigkeit wählt er sich daher häufig die des Händlers, Viehzüchters oder Landpächters (vgl. Arlacchi 1989, Kap. 7). Arlacchi merkt diesbezüglich an, dass Eigentum nur bis zu einem gewissen Grad für den Mafioso nützlich sein kann. Einerseits wird der Mafioso respektiert, weil er nicht auf die handwerkliche Bewirtschaftung des Grunds und Bodens angewiesen ist. Andererseits können große Vermögenssummen schwierig zu rechtfertigen sein (Arlacchi 1989, 60). Also scheint in der ursprüng­ lichen Mafia die politische Berufung einen höheren Stellenwert als die Geldakkumulation zu sein. Aus großer Macht folgt aber selbst für den Mafioso große Verant­ wortung (Arlacchi 1989; Hess 1988). Die Mafiosi erfüllen nämlich wichtige politische Aufgaben, um eine atomare und gewalttätige Gesellschaft zusammenzuhalten. Erstens bieten sie den Einwohnerin­ nen und Einwohnern ihres Kontrollgebiets Schutz im Gegenzug für

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Geldbeträge oder andere Vergütungsformen, die unter der Bezeich­ nung »pizzo« (dt.: »Schutzgeld«) bekannt sind. In dieser Hinsicht operiert die Mafia wie ein Rechtsstaat, der Steuern erhebt (vgl. ebd., 46–7). Zweitens übernimmt der Mafioso die Rolle eines Vermittlers innerhalb der Gemeinschaft sowohl im Falle einer Verletzung der anerkannten Normen als auch im Falle eines Ehrenkampfes zwischen zwei angehörigen Fraktionen. Drittens vermittelt er zwischen der Gemeinschaft und den staatlichen Autoritäten, die zu dem Zeitpunkt kein Interesse daran haben, sich in den südlichen Gebieten Italiens durchzusetzen. Der süditalienischen Bevölkerung wird zur Zeit des bourbonischen Reichs, welches bis 1860 auf dem Königreich beider Sizilien herrscht, für die Regelung gesellschaftlicher Kontroversen große Autonomie überlassen. Diese Konzession fußt darauf, dass die süditalienischen Regionen peripher gelegen sind. Auf solche Privilegien wollen die Bevölkerungen Kalabriens und Siziliens nicht verzichten. Außerdem führt der weit verbreitete Analphabetismus zu Missverständnissen zwischen den staatlichen Behörden und der Bevölkerung (vgl. Hess 1993, 26f). Diesbezüglich bezeichnet Arlacchi (ebd., 52) die Mafiosi als »Vertreter des Staates«: Hierbei vergleicht er die Mafia mit einem Wahlmann, da sie sich nicht als Ziel setze, einen neuen Staat zu gründen, sondern versuche, ihre Macht innerhalb des existierenden Staates zu festigen (vgl. ebd., 54). Arlacchi (ebd.) spricht von einer »sozialen Notwendigkeit« der Mafia. Dabei knüpft er an Hobsbawm an, der die Mafia auch als eine notwendige Gegebenheit im sozialen Integrationsprozess einer fragmentierten und gewaltsamen Gesell­ schaft sieht: [...] [P]aradoxerweise milderte also der Terror die traditionelle Tyran­ nei. [...] Für die Feudalherren war es [das Mafiasystem, I.C.] ein Mittel, Eigentum und Autorität zu sichern, für die ländliche Mittelklasse eines, um sie zu gewinnen. (Hobsbawm 1979, 63f)

So ist der ursprüngliche Mafioso zusammenfassend als ein Vermittler zu betrachten, der mit Zuckerbrot und Peitsche arbeitet – er hat einen »doppelten Charakter«, wie Sciarrone (vgl. 2002) beobachtet. Denn einerseits setzt er sich für die Einhaltung der Eigentumsrechte ein und bietet Schutz an. Andererseits greift er punitiv auf Erpressung und Enteignung zurück. Hiermit beeinflusst er zwar auch die wirtschaftli­ chen Geschehnisse, aber seine Aufgaben sind primär politisch – er ist Unternehmer der Gewalt, genau sowie andere politischen Gebilde es

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sind. Es kann daher bei der ursprünglichen Mafia noch nicht die Rede von einer unternehmerischen Mafia sein. Für das Vorhaben der vorliegenden Arbeit bleibt an dieser Stelle zu klären, wieso die Mafiosi den Sprung von Vermittlern in einer pseudo-feudalen Gesellschaft zu Unternehmern schaffen. Wie kommt es, dass Hess 1988 von einer »Verhaltensweise« und von »einzelnen Mafiosi« spricht, während 2006 die italienische NGO »SOS Impresa« die Neuschöpfung »Mafia SpA« (dt. »Mafia GmbH«) hervorbringt? (vgl. Hess 1988; Calderoni 2014)

3.2 Von der Subsistenzwirtschaft zu hohen Umsätzen – die Entstehung der unternehmerischen Mafia Die Entwicklung eines mafiosen Unternehmertums begründet Arlac­ chi mit einem Bedeutungsverlust der Mafia, der in den Dreißiger­ jahren des letzten Jahrhunderts ihren Ursprung hat und politische, wirtschaftliche und kulturelle Ursachen aufweist (vgl. Alracchi 1989, 65f). Was den politischen Aspekt betrifft, spielt es eine wichtige Rolle, dass sich der italienische Staat in den südlichen Gebieten mit der Zeit deutlich besser als im 19. Jahrhundert gegen die Mafia behaupten kann. Dies hat seinen Beginn im Faschismus, denn das totalitäre Regime trifft Maßnahmen gegen alle sozialen Gruppierungen, die mit dem Zentralstaat konkurrieren. Das Aufstreben einer politischen und wirtschaftlichen Kohäsion, insbesondere mit Blick auf die südlichen Regionen Italiens, stellt aller­ dings auch nach dem Sturz des Faschismus und der Volksabstimmung für die Demokratie 1946 eine Priorität der Regierung dar (vgl. ebd., 70). Die Autoritäten bemühen sich darum, dem Verbrechertum in Kalabrien und Sizilien vorzubeugen, unter anderem auch durch die Errichtung einer Anti-Mafia-Kommission 1962 (vgl. ebd., 71). Die Mafiosi werden somit für den italienischen Staat von notwendigen Vermittlern zu bloßen Devianten. In ökonomischer Hinsicht führt der Wirtschaftsboom dazu, dass zahlreiche Individuen in die nördlichen Regionen Italiens abwandern, wo die Nachfrage nach Arbeitskräften aufgrund der raschen industri­ ellen Entwicklung hoch ist (vgl. ebd.). Dies hat eine Zersplitterung der Cosche und ’Ndrine und mithin eine »Legitimationskrise« (ebd., 70) der territorialen Macht der Mafia zur Folge. Im Bereich der Kultur ist festzustellen, dass der Nachkriegsboom eine Änderung der Sitten

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mit sich bringt, die sich auch auf die Gemeinden in Südkalabrien und Westsizilien auswirkt: Die Erreichung des Überflusses ist es nunmehr, an der sich die Ehre eines Individuums bemisst. Während großer Reichtum in der traditionellen Gesellschaft noch ein Hinder­ nis für den Machterwerb eines Ehrenmannes darstellt, wird er in der Nachkriegsgesellschaft Voraussetzung für die Inanspruchnahme eines hohen gesellschaftlichen Rangs (vgl. ebd., 124). Die traditionelle Mafia erfährt also eine Krise, weswegen Hobsbawm (1979, 77) im Jahr 1979 davon ausgeht, die ’Ndrangheta werde bald »absterben«. Doch Hobsbawms Prognosen erweisen sich nicht als zutreffend – im Gegenteil: Die ehrenwerte Gesellschaft verzeichnet eine kräftige Erholung von der Krise (Arlacchi 1989). In den Siebzigerjahren sieht die Mafia im produktiven sowie im finanziellen Sektor die Möglich­ keit, ihre Überlebenschancen zu erhöhen: Insofern sie von der Gesellschaft ausgeschlossen sind, wird die Bedeu­ tung des Reichtums für die Mafiosi wichtiger als für die anderen Gruppen der Bevölkerung, da für sie das Geld und die Akkumulation den einzigen Weg für die Wiedereroberung der Macht und der Ehrbar­ keit bieten. (Arlacchi 1989, 91)

Anders ausgedrückt stellt der Machterwerb für die ehrenwerte Gesell­ schaft den Beweggrund dar, sich unternehmerisch einzubringen und Gewinne zu erzielen. Arlacchi macht dies deutlich: Es ist »[...] das Machtstreben, und nicht die Gewinnsucht, die in letzter Analyse den Unternehmer-Mafioso auszeichnet.« (ebd., 124) Diese Behauptung repräsentiert einen weiteren Eckpunkt der vorliegenden Analyse insoweit, dass die Mafia primär ein politisches Interesse für die Märkte entwickelt. Weniger auf die Herstellung von Gütern und das Anbieten von Dienstleistungen zielt die Mafia dabei allerdings ab, sondern vor allem auf die Kontrolle dieser Prozesse. La Spina (vgl. 2008) stellt in dieser Hinsicht das Bild des Mafiosos als Vermittler und als soziale Notwendigkeit auf den Kopf. Die unternehmerische Mafia trägt ihm zufolge nicht zum Wohlstand und zu gesellschaftlicher Ordnung bei, sondern begünstigt unter anderem die Arbeitslosigkeit und bremst die ökonomische und die soziale Entwicklung (vgl. La Spina 2008; Dalla Chiesa 2012) in den Gebieten, wo sie tätig ist – diesbezüglich redet er von »sozioökonomische Kosten« der Mafia (Dalla Chiesa 2012, 37). Nachdem nun die Gründe der Entstehung einer unternehmerischen Mafia dargelegt worden sind, werden im Folgenden sowohl die ökonomischen Aktivitäten der

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Mafia und ihre bevorzugten Märkte als auch die Struktur mafioser Unternehmen näher erläutert.

3.3 Die unternehmerische Mafia in der wirtschaftlichen Grauzone Der Übergang von den substanziellen zu den kapitalistischen Modi der Produktion erfolgt bei der Mafia ohne den entsprechenden kultu­ rellen Paradigmenwechsel, den Europa im 16. Jahrhundert mit der Aufklärung vollzogen hat. Galbraith zufolge führt die Aufklärung zu einer zunehmenden gesellschaftlichen Verurteilung der Gewalt als Mittel der Konfliktlösung insbesondere im wirtschaftlichen Bereich, etwa bei Verletzung von Eigentumsrechten (vgl. Galbraith 1987a, 33). Im Gegenteil dazu ist am Ende des 20. Jahrhunderts die Anwendung von Gewalt in der wirtschaftlichen Sphäre für die Mafia tolerabel und sogar erwünscht. Arlacchi zufolge verschafft die Gewaltbereitschaft der Mafia nicht nur kompetitive Vorteile auf legalen Märkten, sondern auch den Zugang zu illegalen Märkten, die durch »a permanent tension between trust and violence« (Arlacchi 2002, 210) gekenn­ zeichnet sind. Nach den gängigen Interpretationen des Kreislaufes mafiosen Kapitals (vgl. Paoli 2008; Dalla Chiesa 2021) etabliert sich die unternehmerische Mafia zunächst auf illegalen Märkten und reinves­ tiert dann die Profite in die legale Wirtschaft. Dieser Vorgang ent­ spricht aber nach Arlacchi nicht den historischen Geschehnissen. Seine Rekonstruktion der ökonomischen Tätigkeiten der Mafia in den Siebzigerjahren zeigt, wie sie zunächst auf legalen Märkten – doch oft illegalerweise – das notwendige Kapital anschafft, um sich auf dem Drogenmarkt zu positionieren. Insbesondere ist es die Bauindustrie, die als Sprungbrett für die Mafia dient (vgl. Arlacchi 1989; Sciarrone/Storti 2014). Des Weiteren sichert die Mafia dank ihrer persönlichen Beziehungen zu Politikerinnen und Politikern eine große Menge an Liquidität, insbesondere durch den Missbrauch von öffentlichen Geldern. Erst dann kann die Mafia den Drogenmarkt infiltrieren, wodurch sie noch höhere Geldeinnahmen erzielen kann, die sie wiederum in den Bausektor reinvestiert oder in weitere Sek­ toren wie Gastronomie und Tourismus sowie in den Finanzmarkt (vgl. ebd.).

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Infolge ihres Eintritts in illegale Märkte, die nicht eine lokale, sondern eine globale Dimension haben, erweitert sich der Horizont der mafiosen Macht. Mit der wirtschaftlichen »Expansion« der Mafia setzt sich Sciarrone auseinander, insbesondere untersucht er die Wechselwirkungen zwischen der Präsenz der Mafia auf einem Gebiet und standortspezifischen Gegebenheiten (vgl. Sciarrone 2002; Sciar­ rone/Storti 2014). Da er dabei auf den Zusammenhang zwischen mafiosen Zielen und den damit einhergehenden Expansionsstrate­ gien eingeht, werden seine Befunde wiedergegeben. Zunächst einmal stellt er infolge der transnationalen Präsenz der Mafia fest, sie sei kein Spezifikum des italienischen Südens – wie von der These der »Nicht-Exportabilität« der Mafia behauptet, die ihren Hauptvertreter in Gambetta hat. Auch stelle nicht die Auswanderung von Mafiosi allein den Grund für eine Expansion dar – die Migration in die nördliche Regionen Italiens und Europas oder nach Amerika, etwa infolge des Wirtschaftswunders, oder der Exilgang infolge der Mafia-Kriege in den Neunzigerjahren mag teilweise dazu geführt haben, dass sich die Mafia auch in den Zielorten verbreite. Dies hängt allerdings mit lokalen Bedingungen zusammen: it is not true that mafia groups have formed wherever Southern Italian immigrants are to be found (for example, it has not occurred in South America). Conversely, Italian mafia groups are reported in areas where there has been no immigration from Southern Italy, such as the Costa del Sol in Spain. (Sciarrone/Storti 2014, 42)

Auch die Theorie des Tintenfisches, der zufolge die Mafia ein Tentakel – ein Glied – einer größeren Macht wäre, kann die Ausbreitung der Mafia nicht erklären: Die in dieser Arbeit bereits skizzierten Geschichte der Mafia zeigt, wie sie Unterwerfung mit Ehrenverlet­ zung gleichsetzt. Die Mafia sei vielmehr eine der vielen Mächte, die in einer demokratischen Gesellschaft koexistieren (vgl. Bobbio 1984). Viel plausibler scheint für Sciarrone also die Theorie »der Koloni­ sierung und der Nachahmung« zu sein, wobei mit »Kolonialisierung« eine strategische Entscheidung der Mafia und mit »Nachahmung« die Übernahme mafioser Methoden vonseiten kleinerer lokaler Akteure gemeint ist (vgl. Sciarrone 2002). Die Entscheidung, neue Gebiete zu »kolonialisieren«, fußt laut Sciarrone auf zwei unterschiedlichen Motiven: Auf globaler Ebene der Gewinnsucht, auf lokaler Ebene dem Machterwerb. Jedoch lässt sich diese Auffassung schwer beweisen. Denn die die wirtschaftliche

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Expansion auf neuen Marktsektoren weltweit führt auch zur Entste­ hung neuer territorialen Siedlungen (vlg. ebd.; Sciarrone/Storti 2014), die wiederum ganz geeignet für Geldwäsche sind.15 So werden zum Beispiel in Deutschland Profite aus dem illegalen Markt in Hotels und Pizzerien reinvestiert (vgl. Sciarrone 2002; Sciarrone/Storti 2014).16 Es lässt sich schlussfolgern, dass die Globalisierung eine Expan­ sion der Mafia begünstigt, und dass die Mafia das Fehlen einer staatlichen Autorität auf dem Markt gezielt ausnutzt (vgl. Sciarrone 2002, 73). Bobbio (1984) weist darauf hin, dass eine multipolare, globale Welt, wo es an einer oberen Instanz mangelt, Fruchtboden für die Mafia ist. Paradoxerweise hängen aber die Hauptprofiteure – die Mafiabosse – an Ihren Herkunftsgebieten fest, die in ihren Augen wichtiger sind als die globale Marktführung: […] largely neglecting profit maximation strategies, the leaders of mafia families – especially in Calabria – have bought large pieces of land in their communities of residence. (Paoli 2008, 153)

3.4 Die Organisationsstruktur der unternehmerischen Mafia – zwischen Netzwerken und Zentralisierung Nachdem die Mafia der Ursprünge, die daraus entstandenen unter­ nehmerischen Mafia und ihre Expansionsstrategien auf neue Märkte beschrieben worden sind, widmet sich dieser Abschnitt der Frage, welche Organisationsform die unternehmerische Mafia annimmt. Obwohl die Definition der Mafia als Verhaltensweise durchaus auf die ursprüngliche Mafia zutrifft, wurde sie insbesondere nach Anhörungen von ehemaligen Mafiamitgliedern im Rahmen des soge­ nannten Mammutprozesses17 gegen Cosa Nostra relativiert (vgl. An dieser Stelle widerspricht sich Sciarrone selbst, weil er behauptet, Reichtum würde zu neuen Siedlungen führen, was wiederum Ziel ist (vgl. Sciarrone 2002, 78). 16 Nach Sciarrone/Storti (2014, 292f) ist Deutschland ein attraktives Ziel für Geld­ wäsche. Die Behörden hätten das Problem nämlich zur Nebenaufgabe gemacht, nicht zuletzt weil eine schwache Regulierung neue Investor:innen und Unternehmer:innen nach Deutschland zieht. 17 Bezeichnung einer Reihe an Prozessen gegen die Mafia in den Achtzigerjahren, die zur Verhaftung und Verurteilung zahlreicher Mafiabosse führte, gleichzeitig aber auch den Tod der Staatsanwälte Giovanni Falcone und Paolo Borsellino zur Folge hatte. Beide hatten maßgeblich zu den Ermittlungen beigetragen (vgl. Paoli 2008, 203f). 15

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Dalla Chiesa 2012; Paoli 2008; Paul/Schwalb 2011). Aus den Erfah­ rungsberichten von Kronzeugen wie Tommaso Buscetta tritt hervor, dass die Mafia nicht die Summe vereinzelter Mafiosi ist, die sich auf einer bestimmten Art und Weise verhalten. Vielmehr weist die Mafia straffe Strukturen und feste Beitrittsritualien18 auf. Daraus schlussfol­ gern Paul/Schwalb, dass die unternehmerische Mafia nicht eine Form der organisierten Kriminalität ist, sondern eine kriminelle Organisa­ tion, das heißt ein »dauerhafte[s], nach außen geschloßen[es] und intern gegliederte[s] Gebilde.« (Paul/Schwalb 2011, 126) Dennoch wäre es ein Irrtum zu glauben, dass die Mafia mit netzwerkförmigen und informelleren Strukturen inkompatibel wäre. Dokumente aus dem Mammutprozess zeigen, dass jedes Segment des Heroinmarktes – Import, Verarbeitung, Distribution und Transport – in den Achtzigerjahren zwecks der Geheimhaltung und der Risi­ kominimierung von unterschiedlichen Cosche getrennt kontrolliert wird (vgl. Paoli 2008, 146f). Es wird in dem Kontext bewusst auf die Kommunikation zwischen den unterschiedlichen Herstellungsstufen verzichtet – keine zentrale Instanz ist also vorhanden, die über alle Informationen von der Anschaffung des Rohmaterials bis zur Vermarktung verfügt. Somit soll es den Behörden erschwert wer­ den, die Produktionskette zurückzuverfolgen. Darauf bezugnehmend schreiben neue-institutionenökonomische die Mafiaoperationen als transaktionenkostenminimierend (vgl. Paul/Schwalb 2011; Ander­ son 1995). Gambetta merkt diesbezüglich an, dass eine Zentralisie­ rung auf eine Schwächung der Strukturen der Mafia hindeuten würde: If such centralization were to come about, however, it would have to be interpreted as a sign of weakness, a retreat. [...] Centralization would make the mafia more secretive and stronger but at the same time more fragile: to strike a blow would become harder, but fewer blows could finish it off. (Gambetta 1996, 254–5)

Wie lassen sich Gambettas Aussagen mit denen von den Kronzeu­ gen vereinbaren? Da die Mafia in einem komplexen System an der Schnittstelle zwischen Legalem und Illegalem, Politischem und Ökonomischem agiert, muss sie Arlacchi zufolge zum einen sicher­ stellen, dass ihre Mitglieder ihr treu bleiben – das gelingt ihr durch Zentralisierung. Zum anderen zwingt sie die Konkurrenz mit dem Um Cosa Nostra beizutreten, wird beispielsweise ein Tropfen Blut auf ein religiöses Bild fallengelassen, das im Anschluss verbrannt wird.

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Staat zur Flexibilität, insbesondere was die Beziehungen nach außen betrifft. Sie sei daher eine »problem-solving organisation« im Sinne von Perrow.19 Und gerade dank ihrer Fähigkeit, Innen- und Außenbe­ ziehungen aufzubauen, aufrechtzuerhalten aber auch zu zerstören, bezeichnet Sciarrone die Mafia als grausames »Erfolgsmodell«. Mit anderen Worten weiß die Mafia, Sozialkapital zu akkumulieren und einzusetzen (Sciarrone 2002, 52), was nicht zuletzt ihrer Bereitschaft zur Gewaltanwendung zu verdanken ist. Aus der erfolgten Darstellung der unternehmerischen Mafia ergibt sich, dass der Faktor »Macht« ihr Wirtschaften durchdringt, und zwar als Grund, Mittel, und nicht zuletzt Ziel ihrer ökonomi­ schen Tätigkeiten. Die Mafia ist primär als politisches Gebilde entstanden. Sie hat sich durch ihre territoriale Macht und als Konkurrent des italienischen Nationalstaats behauptet. Die Geburt einer unternehmerischen Mafia in den Siebzigerjahren hat sich infolge des Machtverlusts auf der territorialen Ebene zugetragen. Ihre expansive Unternehmenspolitik hat primär zum Ziel, neue Gebiete (sowohl territoriale als auch Marktgebiete) unter ihre Kontrolle zu bringen. Obwohl es, wie in Kapitel 2 gezeigt, in der Mafiologie unter­ schiedliche Sichtweisen auf die unternehmerische Mafia gibt, wird in vielen Werken die gleiche Frage erörtert, ob es sich beim vorrangigen Ziel der Mafia um »Macht« oder »monetären Profit« handelt. Dass die Akkumulation von Geld zumindest eine große Rolle für die Mafia spielt, lässt sich dabei als Konsens erkennen. Jedoch »[…] war und ist ihr Ziel nicht die Bereicherung als solche; erstrebt und verteidigt wird ebenso politische Macht, ja, territoriale Hoheit [...]«, wie Paul/Schwalb (2011, 36) anmerken. Ähnlicher Meinung ist auch Dalla Chiesa, der zwar von einer Pluralität der Ziele spricht – die Vermehrung des Reichtums auf der einen, der Erwerb von Macht auf der anderen Seite – gleichzeitig aber auch betont, die Macht habe für die Mafia stets die »ontologische Priorität« (Dalla Chiesa 2012, 42). Selbst die Ökonomin Becchi und der Ökonom Rey erkennen an, »the mafia is ready to sustain high costs to avoid losing power on the

19 Bezeichnung des Soziologen der Organisation Charles Perrow, nach der die Form einer Organisation von der jeweiligen Kerntechnologie bedingt ist (vgl. Dalla Chiesa 2012, 55f).

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territory and, to pursue this objective, it can even sacrifice if necessary, the strategies of business developement« (Becchi/Rey 1994, 75).20 Es lässt sich schlussfolgern, dass es mindestens eine Organisa­ tion gibt – die unternehmerische Mafia – die in der Herstellung von (legalen und illegalen) Gütern und Dienstleistungen involviert ist, bei der aber die Gewinnmaximierung von sekundärer Bedeutung ist. Was hat das für die ökonomische Theorie zu bedeuten? Sollten »Gewinn« und »Macht« als zwei getrennte Konzepte untersucht werden, sodass die Ökonomik nur das Monetäre zu betrachten hat, wobei »Macht« den anderen Sozialwissenschaften überlassen wird? Oder sind so etwas wie »Machtgewinne« für die Ökonomik auch relevant, und wenn ja, nur bei der Betrachtung von Sonderfällen wie kriminellen Organisationen? Im folgenden Kapitel werden diese Fragen aufgegriffen und es wird dafür plädiert, »Macht« als ökonomische Kategorie zu betrach­ ten, die mit monetären Gewinnen stets in Wechselwirkung steht.

4. Zum Spannungsfeld »Macht« vs. »monetärer Profit« – ein Ausblick Seit die Physiokraten den Markt als die Lösung, den »Leviathan zu zähmen« (Mosca 2018, 8) emporgehoben haben und erst recht, nachdem Böhm-Bawerk behauptet hat, ökonomische Gesetzte wären Machtfaktoren stets überlegen, ist Macht eine »Lücke« (Rothschild 2008) in den orthodoxen Wirtschaftswissenschaften. Diese ziehen es nämlich vor, von freiwilligen und friedlichen Tauschverhältnissen auszugehen und sie behandeln Machtphäno­ mene allenfalls als Abweichung zu der perfekten Konkurrenz. Gegen die realitätsferne und machtfreie Ökonomik haben sich zahlreiche Stimmen erhoben, aber »a systematic reconstruction of the notion of power in the history of economic thought has never been made« (Mosca 2018, 6). Das Fehlen dieser Systematik erschwert es, die Beziehung zwi­ schen Macht und Gewinn zu rekonstruieren. Außerdem wird in der Debatte rund um Macht und Ökonomik explizit auf Macht als 20 Übersetzung übernommen aus Paoli (2008, 152). Weitere kriminelle Organisatio­ nen operieren auch so, indem Sie nicht ein Gebiet, sondern eher die »Umwelt« der Geschäfte kontrollieren.

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Medium bzw. Einflussfaktor wirtschaftlicher Prozesse, auf die Bezie­ hungen zwischen ökonomischen oder politischen Organisationen oder auf die Macht der ökonomischen Theorie eingegangen (Mosca 2018, 10f). Macht als mögliche Zielsetzung und seine Verknüpfung zum Gewinnbegriff wird nur implizit als Thema behandelt, obwohl es von Verfechtern einer Einbettung der Macht in die Ökonomik wie Rothschild (vgl. 1971) und Galbraith (vgl. 1973) eingeräumt wird, dass Macht ein Ziel ökonomischer Tätigkeiten sein kann.21 Da die Entwicklung einer Systematisierung von Macht im Hinblick auf den Gewinnbegriff den Rahmen dieser Arbeit spren­ gen würde, lassen sich nur einige Denkanstöße für die weitere For­ schung aufzeigen. Ein mögliches Untersuchungsfeld kann das Distributionspro­ blem sein, da in diesem Zusammenhang sowohl Macht als auch Profit herangezogen werden (vgl. Huber 1973). Bereits Thomas Hobbes und Adam Smith waren über die Machtasymmetrien zwischen den Klassen besorgt und betrachteten Reichtum als eine Quelle der Macht. Insbesondere die Renditen aus dem privaten Eigentum ermöglichten den Landbesitzern, die eigenen Interessen gegen andere Klassen durchzusetzen (Kurz 2018, 109f). Diese Beobachtung ist, genau betrachtet, bereits im antiken Denken vorhanden – etwa bei Aristoteles, der im Eigentum die Voraussetzung für die Beteiligung am politischen Leben sieht (vgl. Priddat 2012).22 Diese Überlegungen lassen sich auch auf monetäre Profite über­ tragen. Vergütet mit Profiten können Investorinnen und Investoren sowie Geschäftsführerinnen und Geschäftsführer nicht nur ihr politi­ sches Interesse durchsetzen, sondern sogar auch eine wirtschaftliche Ordnung beeinflussen – Themen, die zum Beispiel Karl Marx oder Thorstein Veblen beschäftigt haben. Die politische Macht hat Marx zufolge ihren Ursprung in den vorhandenen ökonomischen Verhält­ nissen, da die regierende Klasse mit der ökonomisch herrschenden Klasse, sprich den Kapitalisten, übereinstimmt (vgl. Galbraith 1987b, 134f; Skidelsky 2019, 20'08-20'15). 21 So Rothschild: »one can find situations where the workings of the market are used to derive power which may then be used for economic or non-economic ends or may even be an aim in itself.« (Rothschild 1971, 16). 22 Priddat (2012, 97) zieht E. Will heran, der die Entstehung des Geldes in der Antike erörtert und Geld primär als ein Teil der sozialen Verhältnisse sieht, »[…] in denen Quantitäten nur ein materieller Aspekt irrationaler Machtverhältnisse waren.«

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Laut Veblen sind es Businessleute, die Marktgeschehnisse maß­ geblich lenken können. An dieser Stelle sei auf die Lesart der Theorie Veblens von Johnatan Nitzan und Shimshon Bichler (vgl. 2009) hin­ gewiesen, die insbesondere die Veblersche Unterscheidung zwischen Business und Unternehmen hervorheben. Während Letzteres der Ort ist, wo zwecks des allgemeinen Wohlstands produziert wird, ist Ersteres der Ort von Gewinnen und Macht, die die Produktion lenken. Dabei verwendet Veblen Begriffe wie »Kreativität« oder »Sabotage«. Während in einem Unternehmen neue Güter kreativ hergestellt werden, wird im Business über die Art dieser Güter entschieden. Nitzan und Bichler sind deshalb der Überzeugung, dass Businessmen nur durch Interferenz in die Produktion Profite erzielen können und kommen zu dem Schluss, dass Profite ein Ausdruck von Macht (»symbolic representation of power«, ebd., 7) sind. Es gebe demnach keine Trennung zwischen politischen und wirtschaftlichen Prozessen: Instead, there is a single process of capital accumulation/state forma­ tion, a process of restructuring by which power is accumulated as capital. To study the accumulation of capital is to study the formation and transformation of organized power under capitalism. (Nitzan/ Bichler 2009, 10)

Es kann somit festgehalten werden, dass monetäre Gewinne nicht nur zum Wohlstand, wie Milton Friedman überzeugt war,23 führen, son­ dern vielmehr zukünftige Produktionsprozesse einschränken. Hans Albert bringt dies auf den Punkt: Die ökonomische Funktion der sozialen Verhältnisse besteht nicht nur in einer Erweiterung, sondern auch in einer Einschränkung der Verwendungsmöglichkeiten von Gütern. […] Jede Erweiterung der Verfügungsgewalt eines Wirtschaftssubjekts über Güter […] ist iden­ tisch mit einer Vergrößerung seiner sozialen Macht, denn, […] in der Möglichkeit, die eigene Situation in der Gesellschaft zu gestalten, [liegt, I.C.] immer auch die Möglichkeit, die Situation anderer Perso­ nen zu beeinflußen. (Albert 2012, 112)

Das ist einer der Kerngedanken von Fred Hirsch (vgl. 2005), dem zufolge die Knappheit von natürlichen Ressourcen stets von einer Knappheit an sozialen Ressourcen begleitet wird – Macht und sozialer Status sind auch Güter, die der gleichen Knappheit ausgesetzt sind. »The Social Responsibility of Business Is To Increase Its Profits«, so Friedman (vgl. 2007).

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Diese Güter, die Hirsch »positionelle Güter« (ebd., xi) nennt, folgen dem »zero-sum«-Prinzip (ebd., 53): Wenn ich Macht besitze, impli­ ziert dies, dass ich ein weiteres Individuum in seiner Möglichkeit einschränke, ebenfalls Macht auszuüben. An positionellen Gütern als Einschränkung der ökonomischen Möglichkeiten könnte die zukünf­ tige Forschung auch anknüpfen. Die Feststellung, dass Macht für die unternehmerische Mafia das ultimative Ziel ist, unterminiert die übliche Definition von Unter­ nehmen als Organisationen, die Produktionsfaktoren für die Maxi­ mierung monetärer Gewinne einsetzen.24 Die Dialektik zwischen Macht- und Gewinnstreben wird also für die Konnotation, Kontextua­ lisierung oder sogar Legitimität von Gewinnen relevant. Und sie zu erkennen, kann dabei helfen, kriminelle Organisationen wie die Mafia besser zu verstehen. Ob sich diese Dialektik nur in der Schattenwirtschaft abspielt? Galbraith (1973, 5) glaubt das nicht. »That the modern conglomerate always pursues profit over aggrandizement is believed by none.«

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Gewinnkonzepte und die »Logik des Gewinns«. Zum Ergänzungsverhältnis von Ordnungspolitik und individualethischer Selbstverpflichtung

1. Kritik an bestehender Wirtschaft und die Wirtschaft als »Black Box« Es gibt eine Vielzahl an theoretischen Debatten zur Kritik am beste­ henden Wirtschaften. Zwei derzeit populäre Perspektiven der Kritik möchte ich im Folgenden kurz darlegen und auf ihren gemeinsamen blinden Fleck hinweisen.

1.1 Kritik an ungerechter Verteilung In der Praktischen Philosophie werden systematisch Fragen des guten Lebens von Fragen der Gerechtigkeit unterschieden. Die Frage der Gerechtigkeit bzw. Fairness der Verteilung der monetären und damit der materiellen Früchte des arbeitsteiligen Wirtschaftsprozesses bil­ dete immer schon eine wesentliche Dimension der Kritik der beste­ henden Wirtschaft, wenn nicht lange Zeit ihr Zentrum. Als Beispiel für eine solche, leicht erweiterte, Position kann John Rawls Theorie der Gerechtigkeit angeführt werden. Nach Rawls sollen so genannte Grundgüter gleich verteilt werden, es sei denn, eine ungleiche Vertei­ lung kommt den am schlechtesten Gestellten zugute. Zu den Grund­ gütern zählt Rawls neben Einkommen und Vermögen beispielsweise auch die soziale Basis der Selbstachtung, Macht und Privilegien von Ämtern und Positionen und die Freiheit der Berufswahl (Rawls 2003). Rawls Hauptargument gegen den Fokus auf Glück oder das gute Leben lautet, dass Konzeptionen des guten Lebens vielfältig sind und es unmöglich ist, eine von allen geteilte Bestimmung des guten Lebens zu finden. Folglich erscheint es als ein Gebot der

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Gerechtigkeit, die Güter und Chancen gerecht zu verteilen, die den einzelnen Individuen die Freiheit verschaffen, ein gutes Leben nach ihren Vorstellungen zu führen. Jeder Versuch dagegen, das gute Leben zu definieren, ist mit der Gefahr verbunden, bevormundend zu wirken und so die individuelle Freiheit einzuschränken. Rawls spricht daher auch vom »Faktum des vernünftigen Pluralismus« (Rawls 2003, 192–3). Die Verteilungsfrage ist heute von besonderer Aktualität, da das mit hohem Aufwand aufbereitete empirische Datenmaterial die Vermutung stetig wachsender Einkommens- und Vermögensdispa­ ritäten bestätigt (Piketty 2014). Bei der Beantwortung der Frage, was als gerechte Verteilung von Einkommen (und Vermögen) gilt, kann entweder auf die Frage nach der Leistungsgerechtigkeit und damit auf Fragen des moralischen Verdienstes verzichtet werden. Bei­ spielsweise glaubt Rawls, sein bekanntes Differenzprinzip ohne einen Rückgriff auf die Kategorie des moralischen Verdienstes rechtfertigen zu können (Rawls 2003, 120ff). Rawls so genanntes Differenzprinzip, nach dem eine ungleiche Verteilung von Gütern und Chancen nur dann gerechtfertigt ist, wenn die Ungleichheit die am schlechtesten Gestellten besserstellt, beruht auf der Annahme, dass Ungleichheit zu einem gewissen Grad das ökonomische Wachstum ankurbeln kann und somit einen Vorteil auch für die Schlechtgestellten bietet, da es einen Brennpunkt zwischen Gleichheit und Effizienz darstelle (Rawls 2003, 192–3). Ulrich Thielemann dagegen postuliert, dass eine Einkommenspolitik das Ziel einer fairen Verteilung haben solle. Die »Unsichtbarkeit« der marktlichen »Verkettungen« und Abhän­ gigkeiten stelle bezüglich der Bestimmung dessen, was als gerechte bzw. faire Verteilung zu gelten hat, jedoch hohe Anforderungen an die Urteilskraft (Thielemann 2012). Bei aller Unsicherheit über das Maß an Ungleichheit, das als gerecht zu beurteilen ist, lassen sich die jetzigen Einkommens- und Vermögensdisparitäten kaum mehr plausibel als leistungsgerecht beurteilen. Es bleibt jedoch klä­ rungsbedürftig, welcher Stellenwert einer fairen Einkommensvertei­ lung für die Bestimmung der Gerechtigkeit (und Sinnhaftigkeit) der Marktverhältnisse zukommt. Beim Versuch diese Frage zu beantwor­ ten, stößt man unweigerlich auf Verkettungen zwischen Fragen der Gerechtigkeit und solchen des guten Lebens. Bereits Aristoteles defi­ nierte bezüglich der staatlichen Verfassung: »Daß nun aber die beste Verfassung notwendig diejenige ist, deren Einrichtung dazu führt, daß es mit jedem einzelnen aufs beste bestellt ist«. Er führt dann aber fort:

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Gewinnkonzepte und die »Logik des Gewinns«.

»Wer die beste Verfassung so, wie man sollte, untersuchen will, muss zuerst bestimmen, welche Lebensform am erstrebenswertesten ist« (Aristoteles Politik 2005, 11, griechische Berliner Akademie-Ausgabe 1831, 1323, a14, 1–2). In Anlehnung an Aristoteles vertritt Martha Nussbaum die Position, dass unter anderem Fragen der gerechten Ver­ teilung nur dann beantwortet werden können, wenn vorher bestimmt wird, was das Objekt der Verteilung für die Menschen leistet, welche Tätigkeiten es unterstützt oder hemmt. Außerdem könne die funk­ tionale Rolle, die Güter für den einzelnen Menschen spielen, sehr unterschiedlich sein (Nussbaum 2000a, 35–6). Selbst John Rawls gesteht zu, dass eine Theorie der Gerechtigkeit notwendig auf einer »schwachen Theorie« des Guten aufbaut. Ein weiterer Schwachpunkt ist, dass liberale Kritiker der heu­ tigen wirtschaftlichen Entwicklung, die sich ausschließlich auf die Verteilung materieller Ressourcen fokussieren, das Marktgeschehen zumeist als »Black Box« betrachten, indem die Verteilung allein als Ergebnis des Marktgeschehens begriffen wird und damit der Produk­ tionsprozess selbst der Reflexion entzogen wird (Jaeggi 2013, 1–2).

1.2 Kommodifizierungskritik und die Frage nach dem guten Leben Auf der anderen Seite gibt es derzeit eine lebhafte Debatte über die sogenannten »moralischen Grenzen« des Marktes. Die Kommodifi­ zierungskritik stützt sich in erster Linie auf teleologische Argumente, die sich auf das gute, menschliche Leben beziehen. So kritisiert Michael Sandel, dass marktliche Werte zunehmend nicht-marktliche Werte verdrängen. Einige unserer »guten Dinge des Lebens« würden durch die Kommodifizierung, also die Umwandlung zur Ware, kor­ rumpiert. Denn Märkte würden Güter nicht nur allozieren, sondern zudem die Einstellung zu den Gütern auf eine bestimmte Art verän­ dern. Sie würden zum Instrument für Profit degradiert. Für diese Diagnose ist es notwendig, die entsprechenden »guten Dinge« zu bewerten. Wir müssen die Bedeutung dieser Dinge für ein gutes Leben klären (Sandel 2012, 9–10). Deswegen kritisiert Sandel auch die Verbannung von Fragen des guten Lebens aus unseren politischen Debatten (ebd., 13). In der Folge wird ausschließlich die Frage in den Blick genom­ men, ob, und wenn ja welche, spezifischen Märkte aus moralischen

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Gründen nicht bestehen bleiben bzw. entstehen sollten. Die zentrale Frage lautet also: Was soll und was soll nicht ver- und gekauft werden und folglich der monetären Logik entzogen werden (Radin 1996; Satz 2010; Sandel 2012)? Stark angelehnt an Michael Walzer kriti­ siert Sandel heute das Eindringen der monetären Logik des Marktes in gesellschaftliche Sphären »jenseits des Bereichs materieller Güter« (Sandel 2012, 10f). Sandel reduziert die Frage nach den moralischen Grenzen des Marktes, ebenso wie Walzer, auf die Frage nach ethisch nicht wünschenswerter Kommodifizierung. Die Kommodifizierungs­ kritik nimmt damit zwar die marktförmig organisierten Handlungs­ zusammenhänge selbst in dem Sinne in den Blick, dass sie ihre Neu­ tralität gegenüber Gütern zurückweist. Sie bleibt jedoch in dem Sinne eine ökonomie-externe Kritik, als sie lediglich den Ausschluss bestimmter Güter bzw. Bereiche vom Marktgeschehen fordert, die als legitim verbleibenden Märkte jedoch wiederum der kritischen Refle­ xion entzieht. Darin gleicht sie der liberalen, allein auf die materielle Verteilungsfrage fokussierenden Kritik.

2. Alternative Wirtschaftsakteure und ihre Kritik an den Werten, Normen und »Logiken« der bestehenden Wirtschaft Es gibt inzwischen eine Vielzahl von Akteuren alternativer Wirt­ schaftsweisen, die unsere bestehende Wirtschaft kritisieren und Alternativen entwickeln. Bei der ethischen Frage nach der Sinnhaf­ tigkeit unseres Wirtschaftens knüpfen Akteure alternativer Wirt­ schaftsweisen vorwiegend an Debatten des guten Lebens an. So wird beispielsweise von der Solidarischen Ökonomie eine Orientierung des Wirtschaftens an den Bedürfnissen der Menschen gefordert und der Orientierung am monetären Gewinn als Alternative gegenüber gestellt (Giegold/Embshoff 2008, 12; Voß 2008, 63–4; Embshoff et al. 2017, 344–5). Diese Orientierung an den Bedürfnissen der Men­ schen soll zu einer höheren Lebensqualität beitragen (Embshoff et al. 2017, 345). In philosophischer Terminologie geht es hierbei um die Ausrichtung unseres Wirtschaftens an dem Ziel eines guten Lebens. Stellen wir uns die Frage nach dem Sinn unseres Lebens, so fragen wir nach dem Wesentlichen, das unser Leben ausmacht/ausmachen sollte. Wir entwerfen eine Konzeption des guten Lebens, das wir als Zweck an sich betrachten (Ulrich 2001, 23f). Schon Aristoteles

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Gewinnkonzepte und die »Logik des Gewinns«.

sah in der »eudamonia« (wörtlich »einen guten Dämon haben«, im übertragenen Sinne gelingendes Leben) etwas, das »stets um seiner selbst willen und niemals zu einem darüber hinausliegenden Zweck« anzustreben sei (Aristoteles 1969, 15). Habermas unterscheidet zwar zu Recht zwischen »moralisch-praktischen Diskursen« zu Fragen der Gerechtigkeit und »ethisch-existentiellen Diskursen« zu Fragen des guten Lebens, um damit die unterschiedlichen Anforderungen an die praktische Vernunft deutlich zu machen. Denn während in Fragen der Gerechtigkeit der autonome Wille vollständig in die praktische Vernunft internalisiert wird und Habermas daher einen Konsens für möglich erachtet, ist diese Möglichkeit in Fragen des guten Lebens nicht gegeben. Trotzdem gibt es auch in diesen Fragen intersubjektive Aspekte und Vernunft und Wille bestimmen sich daher durchaus gegenseitig (Habermas 1991, 93ff). So weist auch Peter Ulrich auf die Begrenztheit des Orientierungsanspruchs in Fragen des guten Lebens hin – begrenzt durch die »legitimen moralischen Ansprüche des Individuums in seiner Singularität« (Ulrich 2019, 3). Auch Benhabib zweifelt den Sinn der Trennung zwischen Fragen der Gerechtigkeit und Fragen des guten Lebens nicht an, betont aber zu Recht, dass nur aus der geringeren Universalisierbarkeit in Fragen des guten Lebens nicht automatisch die philosophische Beschränkung auf die Gerechtigkeit folgt. In nur scheinbarem Widerspruch zu Habermas hält auch Benhabib in Fragen des guten Lebens intersubjektive Debat­ ten und Reflexion für möglich. Politische Diskurse sollten daher nicht von vornherein auf Fragen der Gerechtigkeit beschränkt werden (Benhabib 1992, 74–5). Hinzu kommt, dass wir bei Fragen nach der richtigen Gestaltung unseres Wirtschaftens um Antworten auf Fragen des guten Lebens nicht herum kommen. Die Tatsache, dass mit diesen Antworten stets ein geringerer Geltungsanspruch verbunden ist als im Falle von Gerechtigkeit, sollte uns zwar stets bewusst sein, ist aber kein Grund davor zurückzuschrecken. Schließlich bedeutet dies anderer­ seits nicht, dass der Begründungsanspruch ganz aufgegeben wer­ den muss. Ernst Tugendhat kritisiert zu Recht den »eigentümlichen Zustand« der Ethik, nach dem nur entweder eine absolute Begrün­ dung gegeben werden kann oder der Begründungsanspruch ganz aufgegeben werden müsse (Tugendhat 1993, 25, 69). In diesem Sinne macht auch Konrad Ott deutlich, dass die alleinige Konzentration auf zureichende im Sinne von zwingenden Begründungen fehlgeht und es durchaus »gute«, aber nicht zwingende Begründungen geben

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kann (Ott 2001, 63–7). Er vertritt stattdessen ein pluralistisches Begründungskonzept, wonach dem Begründungsbegriff auf unter­ schiedlichen Konkretisierungsebenen der Ethik auch ein jeweils ande­ rer Status zukommt. Je allgemeingültiger die zu begründenden Aus­ sagen sind, desto anspruchsvoller muss der Begründungsanspruch gefasst werden (ebd., 68–9). Die Begründungen beziehungsweise Plausibilisierung der normativen Grundlagen einer ökonomischen Theorie ist stets aus der Perspektive eines Teilnehmers an Diskur­ sen formuliert. Sie ist daher stets als vorläufig in Bezug auf die Weiterführung der Diskurse zu begreifen und damit stets durch Defizite gekennzeichnet. Man fängt dabei jedoch nie bei Null an, sondern bezieht sich immer schon auf bereits stattgefundene Diskurse und vorgebrachte Argumente. Die häufig behauptete Dichotomie zwischen einem absoluten Gültigkeitsanspruch auf der einen und vollkommener Beliebigkeit auf der anderen Seite geht daher fehl (Egan-Krieger 2014, 274). Ein erwägenswerter Ausgangspunkt für die demokratisch geführte Debatte bietet der Fähigkeitenansatz von Martha Nussbaum. Sie erhebt den Anspruch, mit ihrer Konzeption des guten Lebens den soeben skizzierten Anforderungen gerecht zu werden. Für die Ausgestaltung ihrer Konzeption des guten Lebens stützt sich Nussbaum auf Amartya Sens Unterscheidung zwischen »capabilities« (Fähigkeiten) und »functionings« (Tätigkeiten). Den Begriff der Fähigkeiten definiert Nussbaum als »been enabled to per­ form functionings«. Sie macht damit einen Unterschied zwischen der Möglichkeit, bestimmte Tätigkeiten auszuüben und der tatsächlichen Ausübung dieser Tätigkeiten. Die Bedeutsamkeit dieser Unterschei­ dung verdeutlicht sie durch folgende Feststellung: »There is a great difference between fasting and starving« (Nussbaum 1999, 42–4). In welchem Maße diese Fähigkeiten von Einzelnen genutzt werden, ist diesen selbst überlassen. In diesem Sinne stellt Nussbaum eine Liste von Fähigkeiten zusammen, deren Gewährleistung ein gutes menschliches Leben nach der je eigenen Konzeption ermöglichen soll. Sie greift bei der Bestimmung ihrer Konzeption des guten Lebens auf Aristoteles zurück, der die spezifischen Bedingungen unseres Menschseins und unseres Selbstverständnisses zum Ausgangspunkt nimmt. Diese Überlegungen können nach Nussbaum nur aus einem historischen Kontext und persönlicher Erfahrung vorgenommen werden (Nussbaum 1995, 69–72). Diese »interne Rekonstruktion« erfolge damit zwar immer aus einem innerhistorischen Standpunkt, sei aber nicht einer bestimmten Tradition oder Kultur verhaftet (Nuss­

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baum 2000a, 46). Ebenso wenig sei sie aus biologischer Forschung abgeleitet, die Aussagen über »die Natur des Menschen« machen würde (Nussbaum 1999, 40). Dass es dennoch möglich ist, eine gemeinsame Vorstellung davon zu entwickeln, was es bedeutet, ein Mensch zu sein, sieht Martha Nussbaum darin begründet, dass wir andere Menschen über viele Unterschiede in Zeit, Raum, Kultur usw. hinweg als Menschen erkennen. Als Quellen für die Rekonstruktion kämen beispielsweise Mythen und Geschichten in Frage (Nussbaum 1995, 73–4). Nussbaums Minimalkonzeption des Guten ist letztlich das Ergebnis einer langjährigen, kulturübergreifenden Diskussion. Zweifelsohne ist es eine normative, das heißt wertende Konzeption. Nussbaum spricht daher auch von einer »freestanding moral idea«, die nicht auf bestimmten metaphysischen oder theologischen Welt­ bildern basiere (Nussbaum 2000b, 76, 83). Die Abkehr vom monetären Gewinn als obersten Handlungsziel im Wirtschaften hin zu einem weiteren Begriff von Gewinn, der letztlich auf mehr Lebensqualität abzielt, ist mit Blick auf die Frage nach der Sinnhaftigkeit unseres Wirtschaftens zu begrüßen. Sowohl die Gemeinwohlökonomie mit ihrem alternativen Gewinn- bzw. Erfolgsbegriff des »Gemeinwohls« als auch die Solida­ rische Ökonomie mit ihrer Rede vom guten Leben für alle verweisen dabei auf die zweite, zentrale Frage der Philosophie: die Gerechtig­ keit. Dem Begriff des Gemeinwohls kann in diesem Sinne vorgehal­ ten werden, eine angebliche Konfliktfreiheit zu suggerieren. Ulrich spricht pointiert von einer »Kollektivzielfunktion« (2019, 2). Fragen der Verteilungsgerechtigkeit entstehen jedoch dann, wenn sich konfli­ gierende Ansprüche gegenüberstehen. In der Gemeinwohlökonomie findet eine Konkretisierung in Gerechtigkeitsaspekten vor allem in der entwickelten »Gemeinwohlmatrix« statt. Darin finden sich unter anderem Forderungen auf Ebene der materiellen Verteilungsgerech­ tigkeit, wie eine maximale Einkommensspreizung (Felber 2010, 33). Sen kritisiert die materielle Gerechtigkeit (oder auch Ressourcenge­ rechtigkeit) dafür, dass sie ausschließlich auf die materiellen Grund­ lagen blickt und nicht darauf, was Menschen damit konkret anfangen können. Nach dem Fähigkeitenansatz sollte die Verteilungsgerech­ tigkeit auf die Fähigkeiten bezogen werden, bestimmte Tätigkeiten auszuüben. Sen unterscheidet zwischen Tätigkeiten (»functionings«), also Dingen, die Personen gerne tun oder sein würden, beispielsweise gut ernährt und gesund sein, sowie Fähigkeiten. Fähigkeiten bezeich­ nen die Möglichkeiten, bestimmte »functionings« auch wirklich zu

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erreichen (Sen 1985, 197–201). In diesem Sinne sei eine Fähigkeit eine Art von Freiheit: die substantielle Freiheit (Sen 1999, 75). Sen hat daher neben dem »Prozess-Aspekt« von Freiheit, der nach ihm die Autonomie in Entscheidungen aber auch politische Rechte beinhaltet, den »opportunity-Aspekt« von Freiheit hervorgehoben. Er bezeichnet die Befähigung, unsere gesetzten Ziele auch tatsächlich erreichen zu können (Sen 1999, 17; 1993, 522ff.). Er umfasst nach Sen die persönlichen und sozialen Umstände, die darauf eine Auswirkung haben (Sen 1999, 17). Darunter fasst Sen auch die ökonomischen Umstände. So hält er fest: The usefulness of wealth lies in the things that it allows us to do – the substantive freedoms it helps us to achieve. (ebd., 14)

Unter den Bedingungen der Marktwirtschaft jedoch – und die Gemeinwohlökonomie definiert sich als marktwirtschaftlicher Ansatz (Felber 2010, 144) – kommt dem Einkommen auch nach dem Fähigkeitenansatz eine wichtige Rolle für unsere substantielle Freiheit zu. Darüber hinaus wird die gleichberechtigte Teilhabe in der Gemeinwohlökonomie und in besonderem Maße auch in der Solida­ rischen Ökonomie als unabdingbare Grundbedingung von Gerechtig­ keit angesehen. So werden in der Gemeinwohlökonomie die demo­ kratische Mitbestimmung in Unternehmen von Mitarbeitern, aber auch von Kundinnen in der »Gemeinwohlmatrix« positiv beurteilt (ebd., 144). In der Solidarischen Ökonomie wird ebenfalls die demo­ kratische Mitbestimmung in wirtschaftlichen Arbeitszusammenhän­ gen eingefordert. Darüber hinaus wird auch der gemeinsame Besitz der Produktionsmittel angestrebt (Embshoff et al. 2017, 344). Der gemeinsame Besitz der Produktionsmittel soll dabei die demokrati­ sche Mitbestimmung aller sichern. Laut Nancy Fraser erfordert die gleichberechtigte Teilhabe zwei Bedingungen, um nicht nur formal, sondern auch faktisch zu bestehen. Zum einen müsse die gerechte Verteilung materieller Ressourcen die Unabhängigkeit der Teilneh­ menden gewährleisten (objektive Bedingung). Zum anderen müsse die gegenseitige soziale Anerkennung der Gesellschaftsmitglieder als gleichwertig gewährleistet sein (intersubjektive Bedingung) (Fra­ ser 2003, 54f). Die intersubjektiven Bedingungen werden in der Solidarischen Ökonomie ebenfalls eingefordert. So soll nach eigener Deklaration keine Diskriminierung aufgrund von Geschlecht, Reli­ gion, Behinderung etc. erfolgen (Embshoff et al. 2017, 344).

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Zusätzlich zu den philosophischen Fragen der Sinnhaftigkeit und der Gerechtigkeit unseres Wirtschaftens wird von Akteuren alternativer Wirtschaftsweisen zurecht auch eine gesellschaftstheore­ tische Ebene angesprochen. Akteure alternativer Wirtschaftsweisen nehmen naturgemäß auch die marktförmig organisierten Handlungs­ zusammenhänge in den Blick. Damit machen sie den blinden Fleck der gängigen materiellen Gerechtigkeitskritik und der Kommodifi­ zierungskritik sichtbar. Kennzeichnend für alle Ansätze ist, dass sie die bestehenden Wirtschaftsstrukturen mit ihren ausgemachten »Logiken«, wie der »Gewinnlogik« und der »Logik der Konkurrenz«, scharf kritisieren (Felber 2010, 7). Auch die Solidarische Ökonomie begreift sich als Alternative zur konkurrenz- und profitorientierten Wirtschaftsform. Die Solidarität, definiert als die Orientierung an den Bedürfnissen der Kooperationspartner, soll die vom Markt angeblich vorgegebenen Handlungslogik ersetzen (Giegold/Embshoff 2007, 12; Voß 2015, 18). Diese »Logiken« werden beispielsweise von der Gemeinwohlökonomie verantwortlich gemacht für eine Vielzahl an attestierten Krisen: u.a. die Sinnkrise, die Verteilungskrise, die Kli­ makrise sowie die Demokratiekrise (Felber 2010, 7). Die »Logik« des Gewinns und der Konkurrenz sollen »außer Kraft gesetzt wer­ den« (ebd., 19). In der Konzeption der Gemeinwohlökonomie wird gefordert, dass sie durch Gemeinwohl und Kooperation ersetzt wer­ den (ebd., 24). Dabei betont Felber, dass die Gemeinwohlökono­ mie dennoch eine Form der Marktwirtschaft ist (ebd., 144). Diese »Umpolung« unserer Wirtschaft soll dadurch erreicht werden, dass ein kultureller Wandel zu veränderten Konsumentscheidungen führt und rechtliche Rahmenbedingungen geschaffen werden, die Unter­ nehmen belohnen, die sich besonders fürs Gemeinwohl einsetzen (ebd., 34). Damit wird eine Veränderung in den Marktinteraktions­ verhältnissen selbst angestrebt. Die Solidarische Ökonomie verlangt ein Wirtschaften auf Basis freiwilliger Kooperation, Selbstorganisa­ tion und gegenseitiger Hilfe (Embshoff et al. 2017, 344–5). Die Selbstorganisation soll nach basisdemokratischen Regeln erfolgen (Habermann et al. 2008, 54). In der Bewegung der Solidarischen Ökonomie finden sich unterschiedliche Strömungen. Während man­ che vor allem, wie die Gemeinwohlökonomie, eine Veränderung in den Marktinteraktionsverhältnissen anstreben, plädieren andere für eine weitgehende Aufhebung dieser. So zielt beispielsweise die Bewegung der Umsonstökonomie mit ihrem Slogan »Teilen, nicht

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tauschen!« auf eine Ersetzung des Marktes durch andere Koordinati­ onsmechanismen ab (ebd., 55). Um beurteilen zu können, ob und in welchem Ausmaß die Ansprüche an eine anders bestimmte Sinnhaftigkeit unseres Wirt­ schaftens innerhalb bestehender Marktinteraktionsverhältnisse ver­ wirklicht werden können, werden im Folgenden die Handlungszu­ sammenhänge auf Märkten genauer analysiert.

3. Die systemischen Wirkungen des Marktes Will man die Trennung zwischen der Ökonomie auf der einen und der externen Kritik auf der anderen Seite überwinden, stellt sich die Frage, was genau wir unter »dem Markt« verstehen und inwiefern dieser durch eine näher zu bestimmende systemische Steuerung geprägt ist. Was macht die »Logik des Gewinns« bzw. die »Logik der Konkurrenz« aus? Dabei geht jede theoretische Fassung dessen, was den Markt aus­ macht, über eine reine Deskription hinaus. Eine sozialwissenschaft­ liche Theorie kann niemals wertfrei sein (vgl. Egan-Krieger 2014, Kap. 1; Thielemann 2010, 9ff; Sandel 2013, 121–40; Myrdal 1971; Ulrich 2016, 101ff). Die hier angedeutete Theorie des Marktes setzt sich daher den Anspruch, ethisch reflektiert zu sein. Sie will explizit nicht nur klären, was der Markt »ist«, sondern ebenso thematisieren, welche Bedeutung dem Markt zukommt und mithin, welche ethischen Fragen sich im Zusammenhang mit dem Markt stellen. Sie erhebt damit den Anspruch auch die normativen Ordnungen, die mit Märk­ ten verbunden sind, zu explizieren und damit der Kritik zugänglich zu machen. Ganz im Sinne der ökonomischen Standardauffassung soll hier unter dem Markt zunächst das Geflecht von Tauschbeziehungen verstanden werden, in dem Güter und Dienstleistungen durch das Zusammenspiel von Angebot und Nachfrage alloziert werden. Der Tausch ist dabei stets ein geldvermittelter Tausch (Herzog 2016, 16). In der ökonomischen Theorie wird davon ausgegangen, dass ein Markt im Prinzip stets pareto-superiore Veränderungen hervorbringt und deshalb in der Tendenz zu einem pareto-optimalen Gleichgewicht führt. Diese Annahme ist bereits in der Konzeption des Marktes als geldvermittelter Tausch impliziert. Denn mit Tausch ist stets ein freiwilliger Tausch, im Sinne von gewaltfrei, gemeint. Zudem werden in der ökonomischen Theorie die Marktteilnehmer als homines oeco­ nomici konzipiert, die einem Tausch nur dann zustimmen, wenn er für

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sie vorteilhaft, oder zumindest nicht unvorteilhaft, ist. Entsprechend dieses Konzeptes muss ein Tausch per definitionem pareto-effizient sein. Dies gilt selbstverständlich nur für den Idealtyp Markt (sensu Weber). Dagegen glaubt kaum ein/e Ökonom/in heute daran, dass alle realen Märkte die Eigenschaften eines »idealen Marktes« aufwei­ sen. Ganz im Gegenteil: Ein Großteil der ökonomischen Theorie beschäftigt sich heute mit »Marktversagen« oder auch »Verzerrungen des Marktes«. Das »Versagen« des Marktes wird dabei als Abwei­ chung vom Idealtyp des Marktes definiert. Damit wird dieser Idealtyp zum normativen Referenzpunkt. Das Marktprinzip selbst kann folg­ lich nicht versagen (Egan-Krieger 2021). Der logische Idealtyp des Marktes (die Marktlogik) stellt eine ahistorische Interaktionslogik dar, die mehr oder weniger verwirklicht sein kann. Die Frage, die sich dann stellt, lautet, ab wann wir von einem sich selbst regulierenden Markt mit einer spezifischen systemischen Steuerung sprechen. Während in traditionellen Gesellschaftsformen wirtschaftliche Tätigkeiten noch in moralische und institutionelle Kontexte eingebun­ den waren, fand mit der Industrialisierung zunehmend eine Entkopp­ lung des modernen Wirtschaftssystems von der Lebenswelt statt. Diese Entwicklung wurde von Karl Polanyi als »große Transforma­ tion« bezeichnet. Der entscheidende Schritt ist für Polanyi dabei der von einzelnen Märkten zu einer Marktwirtschaft und von geregelten Märkten zu einem selbstregulierenden Markt. Den Ausgangspunkt dieser Transformation sieht Polanyi im Fernhandel (Polanyi 1978, 89–91). Schon lange vor der industriellen Revolution bildete sich in den spätmittelalterlichen Handelsstädten eine wohlhabende Kauf­ mannsschicht, die ihren Wohlstand und die daraus resultierende poli­ tische Macht dem Fernhandel verdankte (Ulrich 1993, 92). Polanyi weist darauf hin, dass zu dieser Zeit noch kein nationaler Binnen­ markt existierte. Sowohl der Fernhandel als auch die lokalen Märkte beschränkten sich auf Stadtgemeinden. Nationen waren recht locker zusammengefügte politische Einheiten. Zudem war der Fernhandel streng getrennt von den lokalen Märkten. Während sich die lokalen Märkte an den Bedürfnissen der Erzeuger ausrichteten und in strenge städtische Marktordnungen eingebettet waren, war der Fernhandel nicht in die örtlichen Vorschriften eingebunden. Der Fernhandel entzog sich den lokalen Marktordnungen. Es blieb nach Polanyi nur die Möglichkeit, den Fernhandel weitgehend von lokalen Märkten fernzuhalten. Diesem Zweck diente beispielsweise das Verbot des Einzelhandels für fremde Kaufleute. Ein nationaler Binnenmarkt

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entstand erst durch staatliches Eingreifen: Im Zuge des Merkantilis­ mus des 15. und 16. Jahrhunderts wurden die Barrieren zwischen dem Fernhandel und den lokalen Märkten abgeschafft. Der neu entstandene zentralisierte Staat zerstörte damit den bis dahin vor­ herrschenden Partikularismus des örtlichen Handels (Polanyi 1978, 93ff). Doch auch die so entstandenen Binnenmärkte waren in strenge Marktordnungen eingebettet, der Merkantilismus zerstörte nie die Schutzmaßnahmen für die Produktionsfaktoren Arbeit und Boden. Max Weber macht deutlich, dass es sich zwar um eine in jeder Hinsicht kapitalistische Form der Organisation, aber dennoch um eine ganz und gar traditionalistische Wirtschaft handele, wenn man die Vorstellungen über Lebensführung, Höhe des angestrebten Profits, Maß von Arbeit etc. betrachte (Weber 2004 [1920], 51–2). Der Feudalismus und das Zunftwesen bedingten noch, dass Arbeit und Boden Teil der gesellschaftlichen Organisation waren. Im Rahmen des Zunftwesens waren Motive und Umstände der Arbeit in die allgemeine gesellschaftliche Struktur eingebettet (Polanyi 1978, 104). Erst im Zuge der Industriellen Revolution gelang es nach Polanyi den Großkaufleuten aufgrund ihrer wachsenden politischen Macht, die Binnenmärkte für den Fernhandel zu öffnen und damit die traditio­ nellen Marktordnungen abzuschaffen. Die komplizierten Maschinen, die in den industriellen Produktionsstätten verwendet wurden, waren teuer und konnten daher nur rentabel sein, wenn in großem Maßstab und ohne Unterbrechung produziert wurde. Dies war nach Polanyi nur dann gewährleistet, wenn die Produktion nicht aus Mangel an den beteiligten Produktionsfaktoren, also auch Arbeit und Ressourcen, unterbrochen werden musste. Damit sei es erforderlich gewesen, dass alle Produktionsfaktoren käuflich waren (ebd., 68–9). Es entstand ein Binnenmarkt, der vom Wettbewerbsprinzip gesteuert wurde und es zog das ein, was Max Weber als »Geist des modernen Kapitalismus« bezeichnet (Weber 2004 [1920], 53). Menschliche Arbeit, Boden und Kapital konnten nun käuflich erworben werden. Diese sozial-ökonomischen Entwicklungen können mit Jür­ gen Habermas auch als Entkopplung von System und Lebenswelt beschrieben und interpretiert werden. Die Lebenswelt ist ein kulturell überlieferter und sprachlich organisierter Vorrat an Deutungsmus­ tern. Sprache und Kultur sind damit für die Lebenswelt konstitutiv. Sie lassen sich nicht den drei formalen Weltbegriffen, der objektiven, sozialen und subjektiven Welt, zuordnen (Habermas 1981, 189–90). Während die Lebenswelt für die Verständigung konstitutiv ist, sind

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die drei formalen Welten Gegenstand der Verständigung. Die Lebens­ welt ist durch die drei strukturellen Komponenten Kultur, Gesellschaft und Person gekennzeichnet (ebd., 208). Sie ist notwendig immer intersubjektiv. Ihre Grenzen lassen sich nicht transzendieren; sie ist ein nicht hintergehbarer Kontext (ebd., 199–202). Sie kann nie als Ganzes, sondern nur in Ausschnitten im verständigungsorientierten Handeln thematisiert werden (ebd., 189). Den drei strukturellen Komponenten der Lebenswelt entsprechen die drei Funktionen, die die Sprache für die Reproduktion der Lebenswelt hat: kulturelle Reproduktion, soziale Integration und Sozialisation (ebd., 209). Die kulturelle Reproduktion sichert die Kontinuität der Überlieferung und die Kohärenz des Wissens. Die soziale Integration sorgt für die Koordinierung von Handlungen über legitim geregelte interpersonale Beziehungen und für die Stabilisierung von Gruppenidentitäten. Die Sozialisation sorgt für die Abstimmung von individuellen Lebens­ geschichten und kollektiven Lebensformen (ebd., 212–3). Mit der zunehmenden Rationalisierung der Lebenswelt differenzieren sich die strukturellen Komponenten und ihre Reproduktion geschieht in Form einer rationalen Verständigung anstelle von einem bloß zugeschriebenen Einverständnis. Es findet damit ein Traditionsver­ lust statt. Parallel zur Rationalisierung der Lebenswelt findet nach Habermas eine Ausdifferenzierung und Spezialisierung von Subsys­ temen wie Staat und Wirtschaft statt. Die Ökonomie gliedert sich aus der staatlichen Ordnung aus. Das kapitalistische Wirtschaftssystem markiere den Übergang zu dieser Systemdifferenzierung (ebd., 247– 54). Mit der Entstehung eines sich selbst regulierenden Marktes wird im Bereich der Wirtschaft die normative Sozialintegration von der funktionalen Systemintegration abgelöst. Das monetär gesteuerte Subsystem Wirtschaft kann sich nach Habermas nur konstituieren, indem es den Austausch mit seinen sozialen Umwelten über das Medium Geld regelt. Geld wird somit zum intersystemischen Aus­ tauschmedium und erlangt strukturbildende Effekte. Die Subsysteme verselbständigen sich zu autonomen Systemen, die von normativen Kontexten abgelöst sind. Dies wird aus der Per­ spektive der Lebenswelt als Versachlichung empfunden. Das Gesell­ schaftssystem entzieht sich dem Vorverständnis der kommunikativen Alltagspraxis. Es findet eine Entkopplung von System und Lebenswelt statt. Dies hat zunächst nur eine Differenzierung von verschiedenen Typen der Handlungskoordinierung zur Folge. Die systemische Koor­ dination des Subsystems Wirtschaft führt zu einer Entlastung von

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Kommunikationsaufwand und ermöglicht dadurch eine Erhöhung der koordinierbaren Komplexität (ebd., 256–8). Die oben skizzierte Markttheorie und Habermas’ Gesellschafts­ theorie ermöglichen uns nun, den eigentümlichen Zwangzusammen­ hang zu beschreiben, der uns als »Sachzwang« begegnet. Die sys­ temische Handlungskoordination nimmt im Markt die Form des Wettbewerbs an. Der Wettbewerb ist dabei die Resultante des Wech­ sels der Tauschpartner. Tausch und Wettbewerb sind zwei Dimensio­ nen ein und desselben Prozesses. Wenn die Möglichkeit besteht, neue Tauschbeziehungen einzugehen und alte aufzulösen, dann findet Wettbewerb statt. Jeder Wechsel des Tauschpartners übt einen, wenn auch marginalen, Wettbewerbsdruck auf andere Marktteilnehmer aus (Thielemann 2010, 148ff). Im Interaktionszusammenhang Markt ist der Wettbewerb die Form der systemischen Handlungskoordination. Solange Wirtschaftssubjekte im Markt verbleiben wollen (etwa, weil sie auf die Einkommenserzielung zur Sicherung ihres Lebensunter­ halts angewiesen sind), sind sie angehalten, ihre Selbstbehauptung im Wettbewerb zu sichern. Andernfalls werden sie als Arbeitnehmer entlassen oder gehen als Unternehmer in Konkurs. Durch diese Handlungsstrategie übt jeder Marktteilnehmer einen unintendierten und nur marginalen Zwang auf seine Mitbewerber aus. Diese Wech­ selwirkungen kumulieren sich im Markt jedoch zu einem dauerhaften Wettbewerbsdruck, der uns als systemischer Zwang begegnet, wett­ bewerbsfähig zu sein und zu bleiben (Ulrich 2016, 148–52). Welche Auswirkungen diese systemischen Wirkungen des Marktes haben, wird im Folgenden dargelegt.

4. Ökonomisierung Die bestehende Marktwirtschaft mit ihrer immanenten monetären Logik und dem damit verbundenen Wettbewerbsprinzip stellt damit kein wertneutrales Instrument zur effizienten Produktion dar. Die ständig geforderte Selbstbehauptung im Wettbewerb bedingt eine strukturelle Asymmetrie der Verwirklichungschancen verschiedener Lebensentwürfe. Es existiert ein Zwang hin zu wettbewerbsorientier­ ten Lebenskonzepten (Ulrich 2016, 240ff). Schon Max Weber hat hervorgehoben, dass der Kapitalismus nicht mehr auf die subjektive Aneignung einer bestimmten ethischen Maxime angewiesen sei. Vielmehr gelte: »Der heutige, zur Herrschaft im Wirtschaftsleben

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gelangte Kapitalismus also erzieht und schafft sich im Wege der ökonomischen Auslese die Wirtschaftssubjekte – Unternehmer und Arbeiter – deren er bedarf« (Weber 2004 [1920], 37). »Wer sich in seiner Lebensführung den Bedingungen kapitalistischen Erfolges nicht anpaßt, geht unter oder kommt nicht hoch« (ebd., 56). Ganz in diesem Sinne weist auch Harmut Rosa darauf hin, dass Märkte sich keinesfalls neutral gegenüber verschiedenen Konzeptionen der Lebensführung verhalten (Rosa 2012, 154). Die scheinbare ethische Neutralität des Wettbewerbs habe dazu geführt, dass gesellschaftliche Anerkennungsverhältnisse zum einen dynamisiert und zum anderen de-ontologisiert würden (vgl. auch Shamir 2008). Dieses Verständnis impliziert, dass eine »fortwährende Angst vor dem persönlichen Scheitern« entsteht (vgl. auch Bude 2014). Individuelle Akteure geraten so unter den Druck, ihre Wettbewerbsfähigkeit aufrechtzu­ erhalten beziehungsweise zu verbessern. »Damit aber gewinnt das Wettbewerbsprinzip – entgegen der Vermutung, dass die freie Kon­ kurrenz die Pluralität und Heterogenität von Lebenskonzeptionen fördere – eine geradezu determinierende Kraft über die gesellschaft­ lich dominanten Konzeptionen gelingenden Lebens« (Rosa 2006, 94–100). Die Ökonomisierung beschränkt sich jedoch nicht auf eine Ökonomisierung des Selbst, sie umfasst ebenso eine Ökono­ misierung der Politik. Diese zeigt sich beispielhaft und besonders eindrücklich bei den derzeit verhandelten Freihandelsabkommen. So sieht CETA eine sog. Ratchet-Klausel vor, die besagt, dass nur mehr solche Regulierungen zulässig sind, die die »Konformität« mit den Freihandelsabkommen und damit mit dem Grad der »Offenheit« der Märkte mindestens »nicht verringern« (Fritz 2015, 7, 16f). Das Prin­ zip Wettbewerb soll zum Gesellschaftsprinzip erhoben werden. Da Marktfreiheit zum Prinzip erhoben werden soll, soll sich der demo­ kratische Rechtsstaat von nun an vor dem »Marktvolk« (Streeck 2013, 188ff) dafür rechtfertigen, dass er reguliert. Da jede Marktregulierung mit einem »Handelshemmnis« korrespondiert, läuft dies, in innerlich konsequenter Weiterentwicklung, auf eine Abschaffung substantiel­ ler demokratischer Politik hinaus. In diesem Sinne argumentiert auch Wendy Brown in Anlehnung an Foucault, dass eine spezifisch »neoliberale Vernunft« die wesentlichen Bestandteile der Demokratie in etwas Ökonomisches umwandelt und sie damit zerstört (Brown 2015, 15).

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5. Fazit: Einbettung und Begrenzung von Märkten Die systemischen Wirkungen des Marktes und die auf ihnen beru­ hende Ökonomisierung scheinen auf den ersten Blick die Idee der Gemeinwohlökonomie mit ihrem Wunsch, das Unternehmens­ ziel »Gewinnmaximierung« sowie die »Logik des Gewinns« durch Gemeinwohl zu ersetzen, illusorisch zu machen. Ist die häufig anzu­ treffende Rede von der »Unmöglichkeit« einer politischen Regulie­ rung ebenso wie einer hohen ethischen Ansprüchen genügenden Geschäftstätigkeit also doch angebracht? Handelt es sich um eine »utopische« Position, die durch eine »pragmatischere« ersetzt wer­ den sollte (Scherer/Palazzo 2007, 22)? Habermas‘ Verständnis des Marktes als »normfreie« Sozialität scheint dies nahe zu legen (Haber­ mas 1981, 171, 307). Demnach wäre ein anderes als strategisches Handeln im Markt undenkbar. Habermas selbst hat jedoch später erläutert, dass er damit lediglich zum Ausdruck bringen wollte, dass die funktionale Handlungskoordination in letzter Instanz die funktionale Integration des Systems bestimmt und nicht eine soziale Integration über kommunikatives Handeln erfolgt (Habermas 1985, 257). Die Tatsache, dass in einem sozialen Interaktionszusammen­ hang wie dem Markt die Handlungskoordination systemisch über den Wettbewerb erfolgt, schließt keineswegs Handlungstypen aus, die auf kommunikativem Wege auf eine Verständigung abzielen (Jütten 2013, 589ff; Ulrich 2016, 168). Mithin ist der Markt in diesem Sinne kein normfreier Interaktionszusammenhang. Während Habermas´ Unterscheidung zwischen System und Lebenswelt dualis­ tischer Natur ist, muss der Markt und mit ihm jeder andere soziale Interaktionszusammenhang dialektisch konzipiert werden. Im Prinzip kann sich also jeder Unternehmer (bzw. allgemein jeder Marktteilnehmer) entscheiden, trotz der systemischen Wirkun­ gen (»Sachzwänge«) des Marktes ethisch legitim zu handeln. Es handelt sich somit keineswegs um eine »unmögliche« Handlungs­ option. Vielmehr ist die Frage, ob die Handlungsfolgen, die aus den systemischen Wirkungen des Marktes resultieren, Grund genug sind, eine zunächst als ethisch legitim beurteilte Handlung nicht vorzunehmen. Dies ist eine normative Frage, deren Beantwortung eine Abwägung verschiedener legitimer Ansprüche erfordert. Auch das Interesse eines Unternehmers an der Selbstbehauptung im Wett­ bewerb muss bei dieser Abwägung berücksichtigt werden. Der poten­ tielle Konflikt zwischen legitimer Norm und Erzielung von Profit ist

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daher keine Frage der Möglichkeit bzw. »Unmöglichkeit« von Ethik, sondern eine Frage der Zumutbarkeit (Ulrich 2016, 164ff). Damit existiert für Unternehmen, wollen sie zum Beispiel entsprechend der Gemeinwohlökonomie wirtschaften, bereits unter den jetzigen wirtschaftlichen Bedingungen ein Handlungsspielraum. Dieser ist jedoch durchaus begrenzt. Nicht nur ist der Markt dialektisch mit Blick auf die in ihm vor­ kommenden Handlungstypen zu denken. Weiterhin ist das Ausmaß, in dem die funktionale Systemintegration über den Wettbewerb erfolgt, graduell bestimmt. Damit ist die Frage nach den »moralischen Grenzen« des Marktes (Satz 2010; Sandel 2013) nicht nur eine »sphä­ rische« Frage, sondern letztlich stets eine Frage nach dem Maß der Entfaltung des Wettbewerbs – auch innerhalb der Marktinterakti­ onsverhältnisse. Anders als in Habermas´ Begriff der Kolonialisie­ rung der Lebenswelt, der ein Eingreifen der Systemimperative des Marktes in die Lebenswelt beschreibt, so dass diese »an der Integrität der Lebenswelt […] ihre Grenze« nicht mehr finden (Habermas 1981, 507), ist somit auch eine Ökonomisierung im Markt denkbar. Es besteht somit sowohl die Möglichkeit einer Begrenzung (versus Aus­ weitung bzw. Extension), als auch die Möglichkeit der Einbettung (versus Intensivierung) des Marktes. Es geht mithin auch um die Frage, welche Rolle marktfremde Gesichtspunkte (Thielemann 2000, 12ff; Thielemann 2010, 34ff; Ulrich 2016, 159ff) auch innerhalb von Märkten spielen sollten. Diese Idee lässt sich konzeptionell als Ein­ bettung von Märkten fassen (Streeck 2007; Deutschmann 2015, 550ff). Dass in den empirisch vorfindbaren Marktinteraktionsbeziehun­ gen auch andere Wertgesichtspunkte als allein der relative Markt­ vorteil präsent sind, zeigt sich darin, dass ein kapitalistisch radikali­ siertes Management seine Aufgabe zunehmend darin erblickt, diese rentabilitätsfremden Gesichtspunkte aktiv aus den Unternehmen zu eliminieren. Zudem ist der aktuelle Prozess der »Globalisierung« in hohem Maße geprägt durch eine zunehmende Intensivierung der nationalen wie internationalen Marktbeziehungen. Dies wird schon allein durch die Vielzahl an »Freihandelsabkommen« deutlich, die zwischen Staaten verhandelt und abgeschlossen werden. Die Intensität des Wettbewerbs als Resultante des Wechsels eines Tauschpartners kann – neben der ethisch begründeten Selbstbe­ schränkung eines Unternehmers – nur über eine Einschränkung des Eingehens und Auflösens von Tauschvertragsbeziehungen in Form

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von nicht abdingbaren Nebenbedingungen erfolgen (Thielemann 2010, 204). Diese nicht abdingbaren Nebenbedingungen können nur in Form von rechtlichen Normen vorgegeben werden. Philosophieund rechtstheoretisch geht es dabei um ein Ergänzungsverhältnis von Moral und Recht. Nach Habermas haben sich moralische und rechtliche Regeln gleichzeitig aus der traditionalen Sittlichkeit ausdif­ ferenziert. Zwar bleibt dem positiven Recht über die Legitimität der Rechtsgeltung ein Bezug zur Moral eingeschrieben, jedoch ist die Moral auch in hierarchischer Hinsicht nicht dem Recht übergeordnet. Beide beziehen sich auf die Frage, wie interpersonale Beziehungen vor dem Hintergrund intersubjektiv anerkannter Normen legitim geord­ net werden können. Sie beziehen sich jedoch auf unterschiedliche Ebenen: Während die Moral eine Form des kulturellen Wissens dar­ stellt, gewinnt das Recht zugleich Verbindlichkeit auf institutioneller Ebene. Die Konstituierung eines Rechtssystems wird nach Habermas notwendig, um die Defizite auszugleichen, die durch den Verlust einer traditionalen Sittlichkeit entstehen. Eine Vernunftmoral, die sich kritisch von einer traditional eingewöhnten Praxis ablöst, soll zwar weiterhin der Orientierung im Handeln dienen, disponiert jedoch nicht schon zum richtigen Handeln. Sie würde daher in ihrer Wirk­ samkeit beschränkt bleiben, wenn sie nicht auf einer anderen Ebene in ihrer Internalisierung gestärkt würde. Die Institutionalisierung eines Rechtssystems dient somit der handlungswirksamen Ergänzung der Vernunftmoral. Diese Begründung ist wohlgemerkt keine moralische, sondern eine funktionale (Habermas 1991, 135–46). Im Kontext der modernen Marktwirtschaft lässt sich zusätzlich ein moralisches Argument für die Institutionalisierung rechtlicher Normen formulieren. Die zunehmende Intensivierung des Wettbe­ werbs in Märkten bedingt nämlich, dass der Spielraum für zumut­ bare, ethisch legitime unternehmerische Handlungen immer enger wird. Wie bereits erläutert, ist diese Aussage jedoch nicht so zu lesen, dass unabhängig von den bestehenden Marktbedingungen als ethisch legitim beurteilte Handlungsoptionen lediglich nicht zumut­ bar wären. Vielmehr hat eine Abwägung der moralischen Ansprüche verschiedener Akteure ergeben, dass die Erfüllung der Ansprüche einiger Akteure für das Unternehmen nicht zumutbar ist. Mithin ist die betreffende Handlungsoption im moralischen Sinne nicht zumutbar und somit auch nicht moralisch geboten. Dennoch kann die Begrenzung des Wettbewerbs dazu führen, dass den an sich berechtigten moralischen Ansprüche von Stakeholdern Genüge getan

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werden kann, ohne dass dadurch unzumutbare Auswirkungen für das Unternehmen entstehen. Von daher ist es im wohlverstandenen, auf­ geklärten Interesse von ethisch integer agierenden Unternehmen, sich selbst politisch für eine staatliche, rechtliche Regulierung des Mark­ tes im Sinne einer Einbettung des Marktes bzw. einer Begrenzung des Wettbewerbs zu engagieren. Nur wenn der Wettbewerbsdruck begrenzt ist, ist auch eine individuelle ethisch begründete Selbstbe­ grenzung der Unternehmen zumutbar (Ulrich 2016, 173). Allerdings kann mit diesen Maßnahmen niemals eine »Umpolung« (Felber 2010) einer Marktwirtschaft erreicht werden, da die beschriebenen systemischen Wirkungen dem Markt inhärent sind. Sie lassen sich innerhalb von Märkten nicht gänzlich aufheben und durch andere systemische Wirkungen ersetzen. Sie lassen sich lediglich im oben definierten Sinne begrenzen. Von daher sind die Bemühungen in der Solidarischen Ökonomie, nicht-marktliche, wirtschaftliche Interakti­ onsweisen zu erproben, zwar auf der einen Seite nicht alternativlos, auf der anderen Seite jedoch eine zu begrüßende Ergänzung. Wenn neben der Einbettung des Marktes auch eine Begrenzung des Marktes angestrebt wird, braucht es dazu alternative, nicht-marktliche Wirt­ schaftsweisen, die die Produktion in den vom Markt ausgeklammer­ ten Bereichen gewährleisten können. Welche Verbreitung und welche Verortung eingebettete Märkte auf der einen und nicht-marktliche Wirtschaftsweisen auf der anderen Seite erfahren sollten, um in Zukunft ein sinnhaftes und gerechtes Wirtschaften zu ermöglichen, lässt sich nicht vorab in der Theorie bestimmen. Dafür sind sowohl eine umfassende demokratische Willensbildung als auch ein umfas­ sendes wirtschaftliches Experimentieren notwendig.

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Marc Frick, Reiner Manstetten

Jenseits der Logik des Marktes. Marcel Mauss, die Theorie der Gabe und die Idee einer friedlichen Welt

Vorbemerkung Die folgenden Gedanken stellen eine Weiterentwicklung von Überle­ gungen dar, die sich in dem Buch Die Gabe als drittes Prinzip zwischen Markt und Staat von Marc Frick (2021) finden. Material aus diesem Buch ist in den folgenden Text eingearbeitet worden, ohne dass es durch bibliographische Belege gekennzeichnet ist.

Einleitung Der Begriff Gabe wurde durch den französischen Soziologen und Ethnologen Marcel Mauss (1872–1950) prominent, der in den zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts, als politische Ausein­ andersetzungen oft unter den Kampfbegriffen »freier Markt« oder »Kommunismus« geführt wurden, auf vernachlässigte Potenziale des friedlichen und solidarischen Zusammenlebens der Menschen aufmerksam machen wollte. Im Anschluss an unsere Wiedergabe entscheidender Gedanken von Mauss wenden wir uns der Bedeutung von Gabenbeziehungen für unsere Zeit zu. Wir kommen zu dem Ergebnis, dass es zwar eine Überforderung wäre, vom Konzept der Gabe Lösungen für die drängenden Probleme unserer Zeit zu erwarten. Aber blickt man auf die Interaktionen in den gegenwärtigen Wirtschaften und Gesellschaften unter dem Gesichtspunkt eines Gabentausches, so zeigen sich zukunftsweisende Potenziale für ein menschenwürdiges Miteinander jenseits aller Berechnung und jenseits der Kriterien von Erfolg und Leistung.

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Marc Frick, Reiner Manstetten

Der Tausch auf dem Markt Die Waren sind Dinge und daher widerstandslos gegen den Menschen. Wenn sie nicht willig, kann er Gewalt brauchen, in andren Worten, sie nehmen. Um diese Dinge als Waren aufeinander zu beziehn, müssen die Warenhüter sich zueinander als Personen verhalten, deren Willen in jenen Dingen haust, so daß der eine nur mit dem Willen des andren, also jeder nur vermittelst eines, beiden gemeinsamen Willensakts sich die fremde Ware aneignet, indem er die eigne veräußert. Sie müs­ sen sich daher wechselseitig als Privateigentümer anerkennen. Dies Rechtsverhältnis, dessen Form der Vertrag ist, ob nun legal entwickelt oder nicht, ist ein Willensverhältnis, worin sich das ökonomische Verhältnis widerspiegelt. (Marx 1968, 99)

Mit diesen Formulierungen charakterisiert Karl Marx Tauschvor­ gänge in modernen liberalen Marktwirtschaften. Der Markttausch als Interaktion zwischen Menschen ist keineswegs selbstverständlich. Dinge können ihre Besitzer aufgrund von Diebstahl, Raub oder Krieg wechseln oder, in den Worten von Marx, weil Menschen Gewalt brauchen. Markttausch dagegen bedeutet Gewaltverzicht, Verzicht auf Diebstahl, Raub oder Krieg. Wenn Menschen Dinge als Waren aufein­ ander beziehen, findet der Besitzerwechsel der Dinge nur vermittelst eines,beiden gemeinsamen Willensakts statt, derart, dass jeder… sich die fremde Ware aneignet, indem er die eigne veräußert. Aneignung des Fremden und Veräußerung des Eigenen setzen voraus, dass die Beteiligten sich zueinander als Personen verhalten, deren Willen in jenen Dingen haust. Ein solches Person-Sein ist, Marx zufolge, nicht an bestimmte Eigenschaften eines Subjektes gebunden, sondern drückt ein gesellschaftliches Verhältnis aus. Die Form dieses Verhält­ nisses ist der Vertrag. Person-Sein dieser Art setzt eine Pluralität von Individuen voraus, die sich als Gleiche in wechselseitiger Aner­ kennung begegnen. Im Markttausch allerdings sind Gleichheit und Anerkennung beschränkt auf ein Rechtsverhältnis: Die Besitzer der getauschten Dinge sind füreinander Personen nur, insofern sie sie sich wechselseitig als Privateigentümer anerkennen. In der Institution des Privateigentums ist eine Instanz mitgedacht, die auf dem Markt unsichtbar präsent ist: der Staat, der die Einhaltung von Verträgen verbürgt und ihre Verletzung bestraft. Das Rechtsverhältnis der Tauschpartner auf dem Markt ist ein »Verhältnis wechselseitiger Fremdheit« (Marx 1968, 102). Tausch­ partner nehmen einander im Rahmen des Rechts als gleich wahr.

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Jenseits der Logik des Marktes.

Aber gleich sind sie nur, insofern sie einander als freie und vertrags­ fähige Partner im Tausch anerkennen. Soweit sie sich als abstrakte Rechtspersonen begegnen, nehmen Akteure auf dem Markt zwar eine symmetrische Position ein, aber ansonsten können beträchtliche Asymmetrien bestehen, was Lebensumstände und Wohlergehen, sozialen und ökonomischen Status, Interessen, Wünsche, Sorgen und Ängste der am Tausch Beteiligten betrifft. Asymmetrien können sich auch auf die Machtpositionen und Abhängigkeiten der Tauschpart­ ner beziehen.

Der Markt, seine Grenzen und ihre Überschreitung In den ökonomischen Standardtheorien entstehen Marktbeziehun­ gen gleichsam von selbst, wenn man den Menschen die Freiheit gewährt, gemäß ihren Interessen in Austauschverhältnisse einzutre­ ten. Adam Smith sah daher die Marktwirtschaft als »System der natürlichen Freiheit« (Smith 1978, 582) an. Indes ist die moderne Marktwirtschaft keineswegs natürlich. Märkte gab und gibt es zwar in den unterschiedlichsten Kulturen auf der Erde, aber es ist kei­ neswegs selbstverständlich, dass, wie in modernen Gesellschaften, ökonomische Interaktionen primär den Charakter von Marktbezie­ hungen tragen, und erst recht ist es nicht selbstverständlich, dass politische Entscheidungen und wirtschaftlicher Druck andersartige, nicht-marktförmige wirtschaftliche Beziehungen zurückdrängen, wie dies in West-und Mitteleuropa sowie in Nordamerika seit dem Aus­ gang des 18. Jahrhunderts der Fall war. Karl Polanyi (2019) hat darauf aufmerksam gemacht, dass derartige Prozesse zwar Produk­ tivität und Konsummöglichkeiten insgesamt gesteigert, gleichzeitig aber fundamentale Änderungen in der Struktur zwischenmenschli­ cher Beziehungen herbeigeführt haben. Persönliche Vertrautheit wird ersetzt durch Versachlichung und Berechnung, die Anteilnahme am Leben Anderer schwindet mit zunehmender Individualisierung, die Achtsamkeit im Umgang mit den Dingen der Lebenswelt wird ersetzt durch einen Blick, der einseitig auf Nutzen und Gewinn fixiert ist: Die Logik des Marktes bedroht tendenziell zwischenmenschliche Beziehungen. Derartige Gesichtspunkte stellten den Ausgangspunkt für die Überlegungen von Marcel Mauss dar.

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Zur Person Marcel Mauss und zur Intention von Die Gabe Marcel Mauss (1872–1950) war Neffe und Mitarbeiter Émile Durk­ heims (1858–1917), der zu den Gründungsfiguren der wissenschaft­ lichen Soziologie gehört. Neben vielen anderen Arbeiten veröffent­ lichte Mauss 1923–1924 seinen Essay »Die Gabe. Form und Funktion des Austauschs in archaischen Gesellschaften« (Mauss 1990). Mit der Gründung des Institut d’ethnologie de l’université de Paris im Jahr 1925 initiierte er eine eigenständige französische Ethnologie. Mauss‘ Arbeiten werden geprägt von einem Interesse an der Stellung und Bedeutung des sozialen Lebens im menschlichen Leben insgesamt (Mauss 2006, 358f). Offen für Erkenntnisse aus der Sozio­ logie, der Psychologie, den Geschichtswissenschaften, der Ökonomie, den Religionswissenschaften und der Philosophie ebenso wie aus der Ethnologie ging Mauss stets vom Primat des Sozialen vor dem Politischen und dem Ökonomischen aus. Für sein eigenes politisches Engagement spielten die Dreyfus-Affäre, seine Freundschaft zum sozialistischen Politiker Jean Jaurès und insbesondere Erfahrungen aus dem Ersten Weltkrieg eine entscheidende Rolle. Mauss ging es um die Sicherung des Friedens und um tiefgreifende gesellschaftliche Veränderungen, aber er lehnte radikale Brüche ab. So plädierte er 1922 dafür, zugleich »die Republik von heute [zu] erhalten und die Republik von morgen auf[zu]bauen« (Mauss 1997). Zu den zahlreichen Fehl­ leistungen des Bolschewismus zählte er insbesondere, dass dieser die notwendigen Veränderungen von oben durchzusetzen versuchte, statt gemeinsam mit den Menschen alternative Praktiken zu entwickeln, so dass die Bolschewisten beispielsweise »genau das zerstört [hätten], was die Ökonomie ausmache: den Markt« (ebd., 541). Mauss’ Anliegen als politischer Intellektueller, seine gesell­ schaftliche Utopie und seine wissenschaftliche Arbeit finden sich in Die Gabe miteinander verbunden wieder. Mit seinem theoretischen Ansatz will er herausarbeiten, auf welchem Fundament die von ihm erhoffte Gesellschaft aufgebaut werden könnte. Während er einer ökonomisch geprägten Berechnungslogik innerhalb einer begrenzten Tausch-Sphäre ihr eigenes Recht zubilligt, sieht er ein fundamentales Problem moderner Gesellschaften darin, dass diese Logik mit der entsprechenden Struktur zwischenmenschlicher Beziehungen über alle Grenzen hinaus zu expandieren und andere Beziehungsmuster zu überformen droht. Unter der Vorherrschaft eines »kalten Nütz­ lichkeitsrechnens« verlieren seiner Überzeugung nach soziale Werte

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wie Solidarität, Großzügigkeit, Vertrauen und Anerkennung ihre Wirkmächtigkeit. Zugleich war Mauss gezeichnet von der Erfahrung, dass die Interaktionen auf internationalen Märkten alleine Kriege nicht verhindern können. Anders als auf nationalen Märkten gibt es auf der globalen Ebene keine Instanz, die wie der Staat mit seinem Gewaltmonopol effektiv Vertragstreue von Handelspartnern und friedliche Beilegung von Streitigkeiten durchsetzen kann. Die im Ersten Weltkrieg einander feindlich gegenüberstehenden Mächte waren vor Kriegsbeginn durch mannigfache Handelsbeziehungen untereinander verbunden. Die Hoffnung, dass zwischenstaatlicher Handel zur Friedenssicherung beitragen könnte – eine Hoffnung, der bereits Immanuel Kant in seiner Schrift »Zum ewigen Frieden« mit der Formulierung: »Es ist der Handelsgeist, der mit dem Krieg nicht zusammen bestehen kann« Ausdruck verliehen hatte (Kant 1975, 226) –, wurde fragwürdig. Mauss suchte nach einer Antwort jenseits der Marktlogik. Gegenkräfte, so nahm er an, waren durchaus vorhanden. Sein Anliegen war es, solche Kräfte, die, weitgehend aus älteren Gesell­ schaftsformen stammend, unter der beherrschenden Logik des Mark­ tes unerkannt blieben, in die öffentliche Wahrnehmung zu rücken und sie für die friedliche Weiterentwicklung der Gesellschaft fruchtbar zu machen. Nicht aus der Rationalität der Marktbeziehungen, sondern aus vom Markt her gesehen irrationalen Beziehungsmustern sollten entscheidende Impulse für eine bessere Gesellschaft hervorgehen. Erst unsere westlichen Gesellschaften haben, vor relativ kurzer Zeit, den Menschen zu einem »ökonomischen Tier« gemacht. Doch sind wir noch nicht alle Wesen dieser Art. Sowohl in den unteren wie auch in den höheren Klassen ist die reine irrationale Ausgabe eine geläufige Praxis; sie ist noch immer charakteristisch für die wenigen Fossile unseres Adels. Der homo oeconomicus steht nicht hinter uns, sondern vor uns – wie der moralische Mensch, der pflichtbewusste Mensch, der wissenschaftliche Mensch und der vernünftige Mensch; und es ist noch nicht sehr lange her, seit er eine Maschine geworden ist – und gar eine Rechenmaschine. (Mauss 1990, 173)

Lange Zeit war der Mensch etwas anderes als der homo oeconomicus – wie kommt Mauss zu dieser Behauptung? Was fasziniert ihn an dem, was er die reine irrationale Ausgabe nennt? Die eigentliche Entdeckung von Mauss, die Gabe in ihrer funda­ mentalen Bedeutung für das menschliche Zusammenleben, war, strenggenommen, keine eigene Entdeckung – und Mauss hat auch nie

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den Anspruch erhoben, er habe das Konzept der Gabe erfunden. Das Material für seine Theorie bezog Mauss aus Publikationen bedeuten­ der Ethnologen wie Franz Boas oder Bronislav Malinowski (z. B. Boas 1905; Malinowski 1922; vgl. Liebersohn 2011). Allerdings stellte er deren Ergebnisse in einen neuen Kontext, indem er sie in seine Theo­ rie der Gabe integrierte. Gesellschaften, wie sie Boas und Malinowski untersucht hatten, nennt Mauss »vormoderne« Gesellschaften. Mit der Bezeichnung vormodern will er solche Gesellschaften keineswegs als rückständig kennzeichnen. Vielmehr sieht er, dass in ihnen kom­ plexe Formen des Zusammenlebens zutage treten, die in modernen Gesellschaften durch institutionell gefestigte Organisationsformen wie die klar definierten Sphären des Marktes und des Staates über­ formt worden sind. Es sind die Praktiken der Gabe, die, so lautet seine These, in vormodernen Gesellschaften die Organisation des Zusam­ menlebens gewährleisten. Das Prinzip der Gabe ist für Mauss keineswegs exotisch, obwohl die Gesellschaften, die er betrachtet, meist fern von Europa ange­ siedelt sind. Denn Gabenpraktiken gehören auch zur Geschichte Europas, wie er an Beispielen aus der Imperium Romanum sowie aus den Beziehungen zwischen Germanenstämmen zeigt. Mauss zufolge waren Verträge bei den Römern keineswegs bloße Rechtsverhältnisse von der Art, wie Marx sie für den Markttausch beschrieb, sondern stellten ein komplexes »System der geistigen Bindungen« (Mauss 1990, 129) dar. Dass die Gabe nicht ein durch den Markttausch über­ wundenes Prinzip war, bestätigte für Mauss seine eigene persönliche und intellektuelle Biographie: Marcel Mauss partizipierte im republikanischen Frankreich der Jahr­ hundertwende an einem Gaben-Netzwerk, das nicht weniger elabo­ riert war wie die von Malinowski und Boas beschriebenen Muschel­ kreise oder der Austausch von Decken. Es begann als familiäre Gewohnheit gegenseitiger Unterstützung (›unser Familienkommunis­ mus‹, wie er es später nannte) und entwickelte sich später zum bestim­ menden Stil eines der wichtigsten wissenschaftlichen Unternehmen des zwanzigsten Jahrhunderts, das um Émile Durkheim organisiert war. (Liebersohn 2011, 140, eigene Übersetzung)

Mauss empfand auch seine wissenschaftliche Arbeit als eine Gabe an seine Zeit – uneigennützig gegeben, in der Hoffnung, dass sie als Verpflichtung zur Mitwirkung am Aufkommen einer besseren Gesellschaft wirksam werden würde.

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Gabenpraktiken Das überragende Interesse von Mauss bei der Abfassung von Die Gabe war die Idee eines dauerhaften Friedens, der bei Staaten und Nationen ansetzt, aber auch die alltäglichen Interaktionen zwischen Individuen umgreifen sollte. Er sah ritualisierte Umgangsformen und sich wiederholende Praktiken, wie sie sich in den von ihm betrachteten Ethnien fanden, als ein Potenzial an, das tendenziell gewaltbereite Akteure dauerhaft daran hinderte, aufeinander loszuschlagen. Die Handlungsmuster, die Mauss in Die Gabe darstellt, haben gemein­ sam, dass sie, obwohl sie die Spuren von gewaltsamen Konflikten an sich tragen, dennoch gewaltlose Begegnungen ermöglichen. Die Gesellschaften haben in dem Maße Fortschritte gemacht, wie sie selbst, ihre Untergruppen und schließlich ihre Individuen fähig wurden, ihre Beziehungen zu festigen, zu geben, zu nehmen und zu erwidern. Zuerst mußten die Menschen es fertigbringen, die Speere niederzulegen. Dann konnte es ihnen gelingen, Güter und Personen auszutauschen, und zwar nicht nur zwischen Clans, sondern zwischen Stämmen und Nationen und vor allem zwischen Individuen. Und erst dann konnten sich die Leute Interessen schaffen, sie gegenseitig befriedigen und sie verteidigen, ohne zu den Waffen zu greifen. Auf diese Weise haben es die Clans, Stämme und Völker gelernt – so wie es in der Zukunft in unserer sogenannten zivilisierten Welt die Klassen, Nationen und Individuen lernen werden – einander gegen­ überzutreten, ohne sich gegenseitig umzubringen, und zu geben, ohne sich anderen zu opfern. Dies ist eines der Geheimnisse ihrer Weisheit und ihrer Solidarität. (Mauss 1990, 181f)

Für das Verständnis der anschließend beschriebenen Vorgänge, deren gemeinsame Züge Mauss unter dem Titel Gabentausch anspricht, ist entscheidend, dass an ihnen mindestens zwei, potenziell im Konflikt stehende Akteursgruppen teilhaben. Was immer von Seiten der einen Akteursgruppe geschieht, ist im Gabentausch dazu da, von einer zwei­ ten (oder auch dritten und vierten) Akteursgruppe wahrgenommen und in Zukunft durch eigene Handlungen erwidert zu werden. Allen Akteursgruppen gemeinsam ist eine Welt von Symbolen, die ihre Verständigung untereinander ermöglichen.

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Potlatsch In einem Bericht von Franz Boas aus dem Jahre 1895 geht es um ein Fest, zu dem die Kwakiutl (eine Ethnie an der Westküste Nordame­ rikas) benachbarte Clans und Ethnien eingeladen haben. Die Gäste werden bewirtet und mit Geschenken bedacht. Aber es geschieht noch etwas Anderes: »Am 24. November beobachtete er (Boas), wie X-ixeqala, ein Häuptling der Kwakiutl nach Tanz und Gesang um ein Feuer herum aufstand und die Zerstörung seines eigenen Reichtums ver­ kündete: Er nannte eine Kupferplatte nach der anderen und erklärte, dass sie ›tot im Wasser unseres Strandes liegen‹. Laut Boas meinte Xix-eqala damit, dass der Clan diese so genannten Coppers zerbrochen hatte, die einen Wert von 1500 bis 4000 Hudson-Bay-Decken hatten: ein Kapital, das auch heute noch nach Reichtum klingt. Diese Demonstrationen überschüssigen Reichtums waren Teil eines größe­ ren Wettbewerbs um Status. Zerstörung, Austausch und zeremonielle Gewalt kanalisierten den Ehrgeiz der Krieger, Ehre anzuhäufen und ihre Rivalen zu besiegen« (Liebersohn 2011, 97). Bei einem Potlatsch bewirtet eine Ethnie eine andere, von ihr eingeladene Ethnie und stat­ tet sie so reichlich mit Geschenken aus, dass sie ihren eigenen Lebens­ unterhalt und im Extremfall sogar ihre Existenz gefährdet. Über die Gabe von Geschenken hinaus können weitere kostbare Gegenstände zerstört werden – eine Demonstration von Leistungsfähigkeit und Überfluss. Die eingeladene Gemeinschaft aber wird zu anderer Zeit ihrerseits einladen müssen. Dabei erwarten die, die zuvor die Gast­ geber waren, noch üppiger bewirtet und noch reichlicher beschenkt zu werden. Bei solchen Festen werden auch politische Ränge, Erbfolge, Heiratsbeziehungen innerhalb der jeweiligen Stämme festgelegt und die intertribalen Beziehungen geregelt – oft in Verbundenheit mit den verstorbenen Vorfahren, die als anwesend vorgestellt werden. Die Gäste fungieren dabei als Zeugen, sie bestätigen die Übergabe von Titeln und Privilegien und signalisieren durch ihre Anwesenheit und die Annahme der Gaben, dass sie die im Potlatsch vollzogene Verän­ derung der Rangordnung anerkennen (Hamberger 2012, 132f). Ten­ denziell kann beim Potlatsch, wie unser Beispiel zeigt, die Existenz, zumindest aber der Wohlstand des einladenden Stammes aufs Spiel gesetzt werden. Der einladende Stamm präsentiert sein Leben unter den Augen des eingeladenen Stammes in seiner Ganzheit wie eine Art Opfer. Das Darreichen der Geschenke ist dabei nur ein, allerdings ein unerlässlicher Teil der Gesamthandlung. Die Beschenkten aber

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wissen, dass sich die Rollen umkehren werden. Es wird in der Zukunft an ihnen sein, ihrerseits das Spiel des Lebens zu inszenieren, mit Exzessen, die alles, was sie erlebt haben, womöglich noch überbieten. Der Gabenempfänger begibt sich dabei jeweils in ein Abhängigkeits­ verhältnis gegenüber seinem Gastgeber, das er erst durch eine größere Gegengabe wieder aufheben kann. Die Pflicht zur Erwiderung prägt somit den gesamten Potlatsch (vgl. Mauss 1990, 100).

Kula-Ring Der Kula-Ring, ein weiteres Gabenphänomen, das Eingang in Mauss’ Essay findet, prägt die Beziehungen, in denen zahlreiche Seefahrer­ völker der nordöstlich von Australien gelegenen Inseln Melanesi­ ens zueinander stehen. Das Ritual, das 18 Inselgemeinschaften des Massim-Archipels umfasst, macht regelmäßige Besuche der Völker untereinander notwendig, die oft lange Anreisen erfordern. Es lässt sich beobachten, dass dabei (ganz im Sinne des Wortes kula, das Ring bedeutet) bestimmte Gegenstände ringförmig zwischen den Völkern ausgetauscht werden. Bei diesen Gegenständen, den soge­ nannten vaygu’a, handelt es sich in der Regel um zwei Arten von Gaben: mwali, Armreifen aus Muscheln, und soulava, Halsketten aus Perlmutt. Mwali- und soulava-Gaben verbleiben dabei nicht für immer im Stamm, sondern müssen zu vorgeschriebenen Zeitpunk­ ten weitergegeben werden. Sie zirkulieren in einer entgegengesetz­ ten Kreisbewegung zwischen den Kula-Partnern der melanesischen Inseln und binden diese in einen sich stets weiterbewegenden Strom an Gegenständen ein. Ihre Bedeutung ist dabei nicht durch ihren »Gebrauchswert« bestimmt. Vielmehr verfügen sie über eine eigene Geschichte, eine Persönlichkeit und einen klangvollen Namen und bilden den ganzen Stolz des Stammes, wenn sie von den Häuptlingen von einer Expedition mitgebracht werden und so lange im Stamm verbleiben, bis sie beim nächsten Kula-Ritus weitergegeben werden müssen (Mauss 1990, 59). Sie bringen dem, der sie mit sich führt, Ansehen und schaffen ein Geflecht aus Verpflichtungen zwischen den Stämmen, da ihr Empfang und ihre Weitergabe von zahlreichen Riten und Zeremonien begleitet werden müssen, die das Band zwischen den Tauschpartnern wieder und wieder erneuern. Die im Kula zirku­ lierenden Gaben beeinflussen somit die soziale Ordnung innerhalb der Stämme, etablieren Verbindungen zwischen den Stämmen und

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ermöglichen Austausch und Verhandlung über die Riten des Kula hinaus. Nach Ansicht der sie praktizierenden Völker sollte eine gute Kula-Beziehung »wie eine Ehe« sein. Ähnlich lautet das Sprichwort in Papua: »Einmal im Kula, immer im Kula« (vgl. Malinowski 1922) – die etablierte Beziehung ist auf Dauer angelegt und wird daher auch immer wieder erneuert. Potlatsch und Kula-Ring stellen Aktivitäten und Beziehungen zwischen Gemeinschaften dar, die nach den Maßstäben einer moder­ nen Wirtschaftsgesellschaft befremdlich erscheinen. Denn die Gegen­ stände, die im Spiel sind, sind kostbar, in ihnen stecken knappe, u.U. lebenswichtige Rohstoffe sowie produktive Arbeit, die für andere, aus Nutzenerwägungen ergiebigere Aktivitäten nicht mehr zur Verfügung steht. Betrachten wir unter diesem Gesichtspunkt den Kula-Ring: Es geht darum, im Rahmen eines Rituals eine Gabe, eine rote Muschel­ scheiben-Halskette oder ein weißes Muschelarmband, als Geschenk einem Empfänger zu übergeben, ohne dass man erwartet, dafür etwas zu erhalten. Nicht nur für den Geber, sondern auch für den Empfänger ist ein messbarer Nutzen nicht ersichtlich. Letzterer braucht nicht bzw. er darf nicht einmal das Geschenk durch eine Gegengabe erwidern. Aber er darf es auch nicht auf Dauer behalten. Es ist dazu bestimmt, zur rechten Zeit an andere, die am Kula-Ring partizipieren, nach bestimmten Regeln weitergegeben zu werden. Nutzenerwägungen spielen beim Kula und erst recht beim Potlatsch, zumindest nach dem Augenschein, keine Rolle, man könnte im Gegenteil von über alles Maß hinausgehenden Interesse- und Selbstlosigkeit auf der Geberseite sprechen. Die Akte der Verschwendung und die ausgeteil­ ten Geschenke stellen für die Gebenden ein wirkliches Opfer an Arbeitszeit und lebensnotwendigen Ressourcen dar, ohne dass die Empfänger mit ihnen die Mühsal ihres Alltags erleichtern könnten, im Gegenteil: Was sie empfangen, stellt für sie einen Druck dar, weil sie in der Schuld der Geber stehen: Das, was in dem empfangenen oder ausgetauschten Geschenk ver­ pflichtet, kommt daher, dass die empfange Sache nicht leblos ist, (…) denn die Sache selbst hat eine Seele. Woraus folgt, dass jemand etwas geben soviel heißt, wie jemand etwas von sich selbst geben. (…) Etwas von jemand annehmen heißt, etwas von seinem geistigen Wesen annehmen, von seiner Seele; es aufzubewahren wäre gefährlich und tödlich, und zwar nicht allein deshalb, weil es unerlaubt ist, sondern weil diese Sache (…), weil diese Wesen (…) magische und religiöse Macht über den Empfänger haben. (Mauss 1990, 33, 35f)

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Was wir Sache nennen, ist in Gabengesellschaften keineswegs ein beliebiger Gegenstand, der erst durch bestimmte positiv oder negativ bewertete Eigenschaften ein Interesse hervorrufen kann. »Sicher hatten ursprünglich die Sachen selbst Persönlichkeit und Kraft. Die Sachen sind nicht jene leblosen Objekte, als welche sie das Justiniani­ sche und unser eigenes Recht verstehen « (ebd., 125). Schließlich war die res ursprünglich nicht die rohe und lediglich berührbare Sache, das einfache Transaktionsobjekt, zu dem sie geworden ist. »[…] Die res muss ursprünglich vor allem das gewesen sein, was anderen Freude bereitet.« (ebd., 126)

Mauss verwendet für Handlungszusammenhänge wie den Kula-Ring oder den Potlatsch den Ausdruck Gabentausch. Seine Komponenten lassen sich in dem Dreischritt Geben – Nehmen – Erwidern ausdrü­ cken. Das gilt auch dann, wenn das Erwidern sich nicht auf die gebende Instanz bezieht, sondern, wie der Kula-Ring zeigt, in eine ganz andere Richtung weist.

Die Gabe – Geschenk oder Tauschgegenstand? Der Ausdruck Gabentausch mit seinen Komponenten Gabe und Tausch drückt eine gewisse Verlegenheit aus: Ist, was gegeben und empfangen wird, Gabe im Sinne des Geschenks, oder ist es nicht doch am Ende Ware im Sinne eines allerdings ungewöhnlichen Tausches? Was Mauss Gabe nennt, wird von den Beteiligten zweifellos als Geschenk aufgefasst. Somit wird eine für alle Gabenbeziehungen fun­ damentale Asymmetrie sichtbar, die sich in den Rollen von Gebendem und Nehmendem ausdrückt. Wer in der Rolle des Gebenden ist, kann eine Großzügigkeit manifestieren, die die Empfangenden im Moment des Empfangens mit Dank quittieren, der sie aber nichts Gleichwerti­ ges gegenübersetzen können und dürfen. Die Geber demonstrieren Macht und fordern Anerkennung ein, während sich die Empfangen­ den sich in der Rolle der Abhängigen, Nicht-Mächtigen befinden. Aber zugleich ist das Schenken und Empfangen von Gaben in ein gleichsam in die Zeit ausgebreitetes Regelsystem eingebettet, das als Tausch zu bezeichnen ist – als eine Bewegung von Hingabe und Rückkehr – sei es desselben Gegenstandes, sei es eines anderen, der – nach Monaten oder häufiger erst nach Jahren –, an seine Stelle treten muss, aber seinerseits bestimmten Bedingungen unterliegt.

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Die Maßstäbe und Regeln jedoch, nach denen getauscht wird, sind aus moderner Sicht befremdlich. Zunächst gehört zum Gaben­ tausch, dass ein oft beträchtliches Zeitintervall zwischen der ersten Gabe und ihrer Erwiderung durch eine Gegengabe liegt. Mit der Länge des Zeitintervalls hängt ein prinzipielles Unwissen zusammen. Ob eine Gabe erwidert wird, ist bis zum Moment der tatsächlichen Erwiderung stattfindet offen. Jeder Potlatsch könnte der letzte sein, der Kula-Ring könnte jederzeit eine Unterbrechung erfahren und sich nie mehr schließen lassen. Paradoxerweise verstärkt dieses Unwissen bei allen Beteiligten das Bemühen, die Gabenbewegung nie zum Still­ stand kommen zu lassen, und aufgrund dieses allseitigen Bemühens baut sich innerhalb der Rivalität der Beteiligten, die sich etwa im Pot­ latsch drastisch äußert, zugleich ein lange Zeiträume überbrückendes Vertrauen auf.

Kategorien der Beschreibung des Gabentauschs Die Differenz zwischen Gabentausch und wirtschaftlichen Austausch­ beziehungen unserer Tage beschreibt Mauss folgendermaßen: In den Wirtschafts- und Rechtsordnungen, die den unseren vorausge­ gangen sind, begegnet man fast niemals dem einfachen Austausch von Gütern, Reichtümern und Produkten im Rahmen eines zwischen Individuen abgeschlossenen Handels. Zunächst einmal sind es nicht Individuen, sondern Kollektive, die sich gegenseitig verpflichten, die austauschen und Verträge abschließen; die am Vertrag beteiligten Personen sind moralische Personen: Clans, Stämme, Familien, die einander gegenübertreten, sei es als Gruppen auf dem Terrain selbst, sei es durch die Vermittlung ihrer Häuptlinge, oder auch auf beide Weisen zugleich. Zum anderen besteht das, was ausgetauscht wird, nicht ausschließlich aus Gütern und Reichtümern, beweglichem und unbeweglichem Habe, wirtschaftlich nützlichen Dingen. Es sind vor allem Höflichkeiten, Festessen, Rituale, Militärdienste, Frauen, Kin­ der, Feste, Märkte, bei denen der Handel nur ein Moment und der Umlauf der Reichtümer nur eine Seite eines weit allgemeineren und weit beständigeren Vertrags ist. Schließlich vollziehen sich diese Leis­ tungen und Gegenleistungen in einer eher freiwilligen Form, durch Geschenke, Gaben, obwohl sie im Grunde streng obligatorisch sind, bei Strafe des privaten oder öffentlichen Kriegs. Wir haben vorgeschla­ gen, all dies das System der totalen Leistungen zu nennen. (Mauss 1990, 21f)

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Mit dem Begriff System der totalen Leistungen oder der totalen Dar­ bietungen (prestations totales) möchte Mauss am Gabentausch etwas hervorheben, was im Markttausch schlechterdings abwesend ist. Es handelt sich um eine Gleichzeitigkeit von ökonomischen, religiösen, juristischen und familiären Dimensionen in der Gabe. Gegeben von Individuen, transzendiert sie das Individuelle und entfaltet eine umfassende Bedeutung für die ganze Familie, den Clan oder Stamm. Aber lässt sich überhaupt erfassen, was diese Totalität ausmacht? Schon die Art, wie der Gabentausch beschrieben wird, ist unein­ deutig. Das lässt sich am Beispiel des Potlatsch zeigen. Einer der Gewährsleute von Mauss, Franz Boas »beschrieb den Potlatsch als Darlehen; der Empfänger eines Geschenks bei einem Potlatschfest musste es laut Boas in einem Jahr mit hundertprozentigen Zinsen zurückzahlen. Familien mit Rang und Ehrgeiz weihten ihre Söhne in die Potlatsch-Wirtschaft ein, indem sie ihnen zunächst kleine Beträge liehen, die sie ihrerseits weiterverleihen konnten, um auf diese Weise Erfahrung, Ansehen und Kapital zu gewinnen« (Liebersohn 2011, 101). Kapital, Darlehen, Zinsen sind Kategorien einer modernen Wirtschaft. Durch die Brille des Marktes gesehen, erweist sich der Pot­ latsch als kaum geeignet, um uns Heutigen Impulse für eine bessere Gesellschaft zu bieten: Kapital wird vernichtet, Eingeladene werden unter Druck gesetzt, um mit Zinsen jenseits aller ökonomischen Vernunft für Empfangenes zu zahlen. Mit deutlich mehr Verständnis beschreibt Pierre Bourdieu derar­ tige Gabenpraktiken: Das ökonomische Universum setzt sich aus mehreren ökonomischen Welten zusammen, von denen jede ihre eigene ›Rationalität‹ besitzt und Dispositionen zugleich voraussetzt und nach sich zieht, die ›ver­ nünftig‹ (eher als rational) und auf die zu jeder dieser Welten gehören­ den Regelhaftigkeiten abgestimmt sind, auf die ›praktische Vernunft‹, die für jede von ihnen jeweils kennzeichnend ist. Gemeinsam ist den Welten, die ich beschreiben möchte, daß das ›interessensfreie‹ Handeln im Interesse der sozialen Akteure liegt, was paradox erscheint. (Bourdieu 1998, 162)

Die Besonderheit der Gabenpraktiken liegt für Bourdieu darin, dass Eigeninteresse und Machtansprüche in ihnen ausschließlich in sym­ bolischer Form präsent sind. Darin aber werden sie zugleich verschlei­ ert und kommuniziert. Worum es geht, ist nur für jene erkennbar, die aufgrund ihrer Sozialisierung oder Bildung über die notwendi­ gen »Wahrnehmungskategorien« (ebd.) verfügen. Entscheidend für

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dieses Verständnis ist ein umfassender Kapitalbegriff, den Bourdieu für die Analyse der sozialen Welt fruchtbar macht (vgl. Bourdieu 1992, 49). Soziales Handeln wird als »Kampf um die Erhaltung von sozialen Positionen« (Rehbein/Saalmann 2009, 135) verstanden, dessen Mittel unterschiedliche Formen des Kapitals darstellen – also jene Dinge, die als »wertvoll« angesehen werden. Diese Wertzu­ schreibung ist abhängig vom kulturellen Kontext. Nur wer dessen Regeln kennt, versteht, was wertvoll ist und worum sich das »rationale ökonomische Kalkül« in ihm bemüht. In Gabenpraktiken mögen materielle Interesse und Gewinnstreben durchaus eine Rolle spielen, aber sie treten nicht in Erscheinung. Das, worum es offensichtlich geht, sind vielmehr Faktoren, die die eigene soziale Position im Blick der Anderen bestätigen oder stärken: Prestige und Ehre: Ebenso werden auch die ökonomischen Beziehungen nicht als solche erfaßt und konstituiert, d.h. als Beziehungen, die vom Gesetz des Interesses geprägt werden, sondern sie bleiben immer wie unter dem Schleier der von Prestige und Ehre geprägten Beziehungen verborgen. Es ist, als ob diese Gesellschaft sich weigerte, sich der ökonomischen Realität zu stellen, sie als Realität zu erfassen, die anderen Gesetzen unterliegt als denen, die für die Familienbeziehungen gelten. (Bourdieu 1976, 45)

Was Mauss in Die Gabe beschreibt, klassifiziert Bourdieu mithilfe der Kategorie der symbolischen Ökonomie. Indem in einem Akt demons­ trativer Großzügigkeit Dinge verschenkt oder sogar vernichtet wer­ den, wird gleichzeitig symbolisches Kapital akkumuliert. Das durch demonstrative Interessenlosigkeit erworbene symbolische Kapital dient dem eigenen Interesse, indem sein Erwerb Anerkennung her­ vorruft und Machtansprüche legitimiert. Eine solche symbolische Ökonomie hat durchaus Ähnlichkeiten mit einer Marktökonomie, allerdings geht es nicht um materiellen Nutzen und Gewinn, sondern um Status und Ehre. Mauss wäre mit der Beschreibung des Gabentauschs in Kate­ gorien des symbolischen Kapitals wohl nicht ganz einverstanden gewesen. In solchen Beschreibungen fehlt, was für ihn am Gaben­ tausch wesentlich ist. Für Mauss wird darin eine Art Selbsttranszen­ denz manifest: Berechnung und einklagbare Ansprüche dürfen nicht angesprochen werden, alle Grenzen des eigenen Interesses und des Interesses der eigenen Ethnie werden – zumindest in der Außendar­ stellung – überschritten im Rahmen eines festlichen Ereignisses, das, indem es Ansehen und Anerkennung verleiht, die eigene Existenz

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und die Existenz der Gemeinschaft im Ganzen feiert – und zugleich gefährdet. Mögen Selbstlosigkeit und Großzügigkeit manchmal nur die Hülle unausgesprochener selbstischer Motive sein, so gibt es doch in jedem Gabentausch reale Momente des Kontroll- und Identitäts­ verlustes, Momente des Durchlebens von Extremen. Der Wechsel der Rollen vom Gebenden zum Empfangenden im Laufe der Zeit, von der Position exzessiver Macht in die Position extremer Abhängigkeit zeigt einen kreativen Umgang mit Asymmetrie an. Asymmetrie erweist sich als konstituierender Bestandteil jeder Gabenpraxis. In Gaben­ praktiken ereignet sich ein Changieren von demonstrativ zur Schau gestellter Macht und nahezu totaler Abhängigkeit. Ohne existenzielle Beteiligung der Individuen mit ihrer ganzen Persönlichkeit und der Ethnien mit ihrem gesamten Leistungsvermögen wären solche Prakti­ ken nicht möglich. Es ist diese Totalität, die den Unterschied zwischen Markt und Gabe ausmacht. Ein Gesichtspunkt, der für Mauss in allen unterschiedlichen Gabenpraktiken von bleibendem Wert war, ist das Vertrauen. Ethnien oder Individuen, die sich in immer wiederholten Ritualen des Gaben­ tauschs begegnen, bauen untereinander Vertrauen auf. Durch das prinzipielle Unwissens, ob eine Erwiderung erfolgt, und die langen Zeiträume, die zwischen Gabe und Gegengabe liegen, wird dieses Vertrauen immer eine Art Verheißung für eine Zukunft, in die der Gewaltverzicht der Gegenwart projiziert wird. Auf diese Art wird Frieden gestiftet, nicht aufgrund von Berechnung, sondern aufgrund einer Hoffnung, die keine letzte Sicherheit bietet, aber keineswegs irrational ist.

Die M.A.U.S.S.-Bewegung Mauss wollte zeigen, dass die im Gabentausch wirksame Moral und Ökonomie »unterschwellig auch noch in unseren eigenen Gesell­ schaften wirken« (Mauss 1990, 19). Mit der Gabe glaubte Mauss, »einen der Felsen gefunden zu haben, auf denen unsere Gesellschaften ruhen« (ebd.). Ist man fähig, die Gabe zugleich als ur-menschliche Praxis und als Felsen auch der gegenwärtigen Gesellschaft zu würdigen, so »kön­ nen wir durchaus einige moralische Schlußfolgerungen bezüglich einiger der Probleme ziehen, vor die uns die Krise unseres Rechts und unserer Wirtschaft stellt«, heißt es bei Mauss. Er fährt fort: »Diese

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neue Moral wird eine glückliche Mischung von Wirklichkeit und Ideal sein. So kann und soll man zu archaischen und elementaren Prin­ zipien zurückkehren; man wird dann Handlungsmotive entdecken, die zahlreiche Gesellschaften und Klassen noch kennen: die Freude am öffentlichen Geben; das Gefallen an ästhetischem Luxus; das Vergnügen der Gastfreundschaft und des privaten oder öffentlichen Festes« (ebd., 162f). In der Nachfolge solcher Impulse entstand 1981 um Alain Caillé die M.A.U.S.S.-Bewegung (Mouvement Anti-Utilitariste dans les Sciences Sociales), die langfristig die Gesellschaft von der Vorherr­ schaft der Denkformen einer modernen Marktgesellschaft lösen will. Als ein »Gegenmittel« wird die Gabe ins Spiel gebracht. Ausgehend von Mauss versteht die Gruppe gelingende soziale Interaktion im Dreischritt des Gabentausches, im Geben – Nehmen – Erwidern. Paradigmatisch ist dabei die Struktur des Potlatsch, der als Ausdruck von Großzügigkeit, Spontaneität, und Selbsttranszendenz gilt. Im Einklang mit Mauss werden die Ursprünge der das Soziale prägenden Moral in einer »paradoxen Verpflichtung zur Generosität« verortet (Moebius 2010, 174f; vgl. auch Caillé 2008). Eng verbunden mit M.A.U.S.S sind die Arbeiten von Frank Adloff. Sein eigenständi­ ger Beitrag ist ein Menschenbild, das er homo donator nennt. In entschiedener Abgrenzung zum Homo oeconomicus konzipiert er den Menschen als ein von Beginn an in ein Netz aus Akten des Gebens, Nehmens und Erwiderns verwobenes Wesen; ein Wesen, dessen Unabhängigkeit und Freiheit sich nur in Anerkennung seiner Abhängigkeiten (von Mitmenschen und der Natur) denken lässt. Die Erkenntnis der Tatsache, dass es neben dem eigenen Geben immer auch darauf ankomme, zu bekommen und zu nehmen, führt zur Abkehr von der Vorstellung, die Abhängigkeit von anderen jemals überwinden zu können (Adloff 2018, 224). Dies zu verstehen, heißt dann, die Bedingungen zu erkennen, unter denen die eigene Entfal­ tung möglich wird, und die Bedeutung zu begreifen, die die eigenen Gaben (beispielsweise der Fürsorge) für die Entfaltung anderer haben (ebd.). Auf der Grundlage dieses Menschenbildes erarbeitet Adloff schließlich seine politische Vision, die er titelgebend die Politik der Gabe nennt. Um diese Vision recht einschätzen zu können, scheinen uns folgende Überlegungen angebracht. In einer Perspektive, wie sie vom Markttausch ausgeht, ist der Regelfall der Homo oeconomicus, dessen Gesellschaftsideal eine Gesellschaft von unabhängigen Indi­

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viduen darstellt, die nur das Interesse an freiem Warenverkehr in Rechtssicherheit gemeinsam haben (vgl. Manstetten 2018, 209–15). Asymmetrie und Abhängigkeit erscheinen als Ausnahmen, für die nicht der Markt, sondern der Staat zuständig ist. Aus einer Gabenperspektive dagegen erscheinen auch in moder­ nen Gesellschaften asymmetrische Beziehungen als Grundmuster des gesellschaftlichen Zusammenlebens. In den Blick geraten ökonomi­ sche Ungleichheit, Machtungleichgewichte und zwischenmenschliche Praktiken, die von Überschuss auf der einen, Abhängigkeiten auf der anderen Seite geprägt sind. Offensichtlich ist diese Grundstruktur da gegeben, wo Eltern für Kinder oder Erwachsene für pflegebedürftige Angehörige sorgen, aber auch das Ehrenamt setzt in allen seinen Ausprägungen Asymmetrie voraus. In solchen Verhältnissen läuft der Dreischritt Geben – Empfangen – Erwidern nicht so ab, dass die Erwiderung der Gabe durch eine Gegengabe an die ursprüngliche Geberinstanz vollzogen wird. Wie beim Kula-Ring kann man – normalerweise – davon ausgehen, dass die, die zunächst Gaben empfangen, sich zu anderer Zeit und an anderen Orten als die Gebenden erweisen werden. Als Gabenpraktiken, die aus der Logik der Berechnung herausfallen, lassen sich auch Rücksichtnahmen und Freundlichkeiten im Alltag interpretieren. Ökonomisch durchaus ins Gewicht fällt, was an Arbeit informell oder in Vereinen im Rahmen des Ehrenamtes geleistet wird. Es waren dann sogar ausgerechnet Wirtschaftswissenschaftler, die, als sie sich in den Siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts mit der Organisation der Blutspende in Ländern wie Deutschland beschäftigt hatten, überrascht feststellten, dass das für Transfusionen benötigte Blut in Ländern, wo es als wird Gabe gespendet wird, von besserer Qualität war als anderswo, wo es die Spender nach Art einer Ware gegen Bezahlung anboten (vgl. Titmuss 1997; Solow 1971; Arrow 1972). Als ein weiteres wichtiges Beispiel kann man die Generierung von Wissen außerhalb des Wissenschafts­ betriebes sowie die Verbreitung von Wissen in Internet-Medien wie Wikipedia, die in aller Regel ohne jede Entlohnung stattfindet, anfüh­ ren. Asymmetrie im Geben und Wiedergeben kennzeichnet auch – oft wenig bemerkt – einen Aspekt normaler Tauschakte. Man erlebt nicht selten, dass Menschen ihr Bestes leisten, obwohl sie mäßig oder schlecht dafür belohnt werden oder obwohl sie den gleichen Gewinn oder Nutzen auch mit weitaus geringerem Einsatz erreichen könnten. Wie oft würde der Dienst nach Vorschrift auf Dauer die

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Produktivität eines Unternehmens oder die Leistungsfähigkeit einer Klinik oder einer Pflegeeinrichtung gefährden! Würden nicht Men­ schen oft mehr leisten als das, wozu sie vertraglich verpflichtet sind, so wäre die Funktionsfähigkeit ganzer Bereiche moderner Gesellschaften bedroht. Allerdings gehen solche »Gabenpraktiken« in modernen Gesellschaften nicht immer aus freier Großzügigkeit hervor, nicht immer werden sie mit der ihnen zustehenden Dankbarkeit (und falls möglich, mit Gegengaben) beantwortet. Stets liegt die Möglichkeit der Selbstausbeutung der Gebenden nahe, wenn sie nicht gar von den Nutznießern ihrer Leistungen bewusst ausgebeutet werden. In vielen asymmetrischen Situationen moderner Gesellschaften sind staatliche Instanzen involviert. Der Sozialstaat und vergleichbare Institutionen der Fürsorge (z. B. die großen Kirchen) können durchaus als Geber innerhalb einer Gabenpraxis konzipiert werden. So sah Mauss die französische Gesetzgebung der Sozialversicherung als praktische Verwirklichung der Gabenlogik an und forderte eine gesell­ schaftlich organisierte Absicherung aller gegen Arbeitslosigkeit, Krankheit, Alter und Tod (Mauss 1990, 160). Gabenpraktiken finden sich schließlich im Verkehr zwischen Staaten. Globale Institutionen suchen Hungersnöte, Pandemien, Naturkatastrophen oder Schuldenkrisen in bedürftigen Ländern auf­ zufangen – manchmal durch Gaben, manchmal aber auch innerhalb der Marktlogik in Form rückzahlbarer Anleihen. Allerdings sind sowohl Handlungen des Sozialstaates als auch zwischenstaatliche internationale Hilfsmaßnahmen oft nur als defekte Gabenpraktiken zu verstehen. Defekt sind sie, insofern ihnen Entscheidendes fehlt: persönliche Hinwendung auf beiden Seiten, d.h. eine Anerkennung der Würde der beteiligten Personen, Gruppen oder Nationen, die über das Formale hinausgeht. In einer echten Gaben­ perspektive müsste sich beispielsweise der Gegensatz der Rollen von unabhängigem Leistungsträger einerseits, Sozialhilfeempfänger andererseits unterlaufen lassen. Menschenwürde – in Gabengesell­ schaften sprach man von Ehre – müsste sich gerade auf dem Sozialamt in Solidarität und Großzügigkeit der einen ebenso wie in Empfangs­ bereitschaft und Dankbarkeit der anderen Seite bewähren. Ähnliches wäre für die Kooperation von Geber- und Empfängerstaaten in Kri­ sensituationen geltend zu machen. Was überdies den asymmetrischen Interaktionen außerhalb der Familie, des Freundeskreises und des Vereins in der Regel fehlt, ist ein Wesenszug aller Gabenpraxis: eine rituelle Ordnung und der damit

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verbundene Charakter des Festlichen, der sich zu gegebener Zeit in herausgehobenen Ereignissen manifestiert. Dass die Vergabe von Sozialleistungen in der Bundesrepublik Deutschland oder ein Erlass von IWF-Rückzahlungen für bedürftige Staaten im Rahmen eines Freudenfestes für alle Beteiligten stattfinden könnte, ist (noch) nicht vorstellbar. Der Homo donator unserer Gesellschaft kennt – trotz des Konsumrausches der Advents- und Weihnachtszeit in christlich geprägten Kulturen – solche Feste der ganzen Gemeinschaft kaum. Das Fest ist privat, auch das Schenken und Empfangen, die großzügige Einladung und die großzügige Erwiderung sind privat. Ohne das Fest aber, ohne die gemeinschaftlich geteilten Symbole, die dem Fest Bedeutung verleihen, bleibt die Gabe in unserer Gesellschaft fragil. Die Vorstellungen von Bewegungen wie M.A.U.S.S oder Ideen wie der Homo donator sind nicht frei von einer gewissen Sozialromantik. Es ist indes ein Verdienst von Mauss und seinen Nachfolgern, an Gabenpotenziale in modernen Gesellschaften zu erinnern und damit Anstöße für eine andere, tiefer blickende Wahrnehmung von gesell­ schaftlichen Asymmetrien sowie für einen kreativen und mitmensch­ lichen Umgang mit ihnen zu geben. Asymmetrien können nämlich auch in modernen Gesellschaften nicht einfach durch Institutionen des Marktes oder egalitäre Maßnahmen des Staates ersetzt werden. Nicht wenige Asymmetrien tragen sogar, oft unbemerkt, zum Zusam­ menhalt der Gesellschaft bei. Andererseits ist der Graben zwischen modernen und vormodernen Gesellschaften vielleicht doch tiefer, als Mauss und seine Nachfolger wahrhaben wollten. Wo in einer vormodernen Gabengesellschaft Gebern und Empfängern die Rollen im Spiel der Asymmetrie eindeutig zugewiesen sind, finden sich in einer modernen Gesellschaft oft Arroganz, Gleichgültigkeit oder Herzenshärte auf Seiten der Geber, Gefühle der Demütigung, Ent­ würdigung und Scham, zuweilen aber auch eine gewisse Anspruchs­ mentalität, auf Seiten der Empfänger. So erscheint statt des Festes der bürokratische Akt.

Agape und Gabe bei Paul Ricoeur Dass der Markt als alleiniges Paradigma für die friedliche Organisa­ tion der Weltgesellschaft nicht geeignet ist, lässt sich am Konzept des Interesses verdeutlichen. Hirschman (1987) hat darauf aufmerksam gemacht, dass zum geistigen Erbe der europäischen Neuzeit die Idee

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gehört, das Interesse als friedensstiftende gesellschaftliche Energie einzusetzen. Wo Akteure ihre Motivation vom Interesse bestimmen lassen, können Konflikte prinzipiell durch Verhandlungen und Kom­ promisse beendet werden. Es lässt sich zeigen, dass sich die friedliche Verfolgung von Interessen und die Berücksichtigung der Interessen der Anderen langfristig für alle auszahlt. Dabei wird allerdings ange­ nommen, die entscheidende Triebkraft hinter einem Interesse sei die Erlangung eines Vorteils. Das Bild des Marktes, auf dem Wettbewerb und Konkurrenz unter den Akteuren nicht nur geduldet werden, sondern sich sogar als Stimulus für wirtschaftlichen und technischen Fortschritt erweisen, lässt sich auch auf Staaten erweitern: Vor allem im 20. Jahrhundert hat sich gezeigt, dass aus Kriegen oft auch die Sieger geschwächt hervorgehen bzw. dass sie zumindest davon nicht profitieren. Verhandlungen, Kompromisse und Verträge, an die sich alle Beteiligten halten, bringt dagegen Frieden, Wohlstand und wirt­ schaftlichen und gesellschaftlichen Fortschritt. Allerdings wird die Bedeutung von Asymmetrien und Abhän­ gigkeiten in einer solchen Sicht oft unterschätzt. Dazu kommt die tendenzielle Verharmlosung menschlicher Motivationen. Hinter dem Schein gegenseitiger Anerkennung auf dem Weltmarkt können sich Motivationen verbergen, die die Gegenseitigkeit aufheben und durch totale Dominanz ersetzen wollen. Solche Motivationen, wie man sie etwa von machtlüsternen Despoten, extremen Nationalisten und religiösen Fanatikern kennt, können das Spiel internationaler Markt­ beziehungen mit der Gewalt des Krieges jäh abbrechen lassen. Dieses Thema greift Paul Ricoeur (1913–2005) in seiner Theorie von der Gabe auf. Ricoeur geht von der menschlichen Urerfahrung des mit Waffen geführten Kampfes aus, der ein Kampf auf Leben und Tod ist. Seine Triebkraft ist ein auf beiden Seiten unvereinbares Verlangen nach Anerkennung, das den Kampf ständig anheizt, ohne dass selbst ein Sieg einer der beiden Seiten es dauerhaft stillen könnte. Gewalt erzeugt Gegengewalt. Wo Krieg herrscht, sind oft »Rech­ nungen offen« zwischen feindlichen Parteien, für deren Einlösung Akte der Rache vorgenommen werden. Der Zirkel der Gewalt wird endlos fortgesetzt, wenn er nicht, in den Worten Ricoeurs, durch befriedete Erfahrungen wechselseitiger Anerkennung durchbrochen werden kann. Solche Erfahrungen gibt es in der Realität durchaus, aber Ricoeur mahnt zur Vorsicht. Sie bieten keine »Lösung der Ratlo­ sigkeit vor dem Begriff Kampf (…), noch weniger eine Lösung der

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in Frage stehenden Konflikte.« Es wird sich nie um endgültigen Frie­ den, sondern nur befristete »Waffenstillstände, Aufheiterungen, man könnte sagen: Lichtungen handeln«. (Ricoeur 2006, 274). Derartige Lichtungen sind in den Augen Ricoeurs als Vorwegnahme und Bilder eines wahren Friedens kostbar. Sie nach Möglichkeit zu verwirklichen ist eine existenzielle Aufgabe für alle Menschen. Ricoeurs eigener Zugang zur Gabe setzt an bei der Frage nach der Möglichkeit solcher befriedeter Erfahrungen. Wie kann eine Lichtung wirklich werden, in welcher Begrifflichkeit lässt sie sich angemessen darstellen? Es bietet sich der Begriff der Gerechtigkeit an. Aber »auf die Frage, wie der von Gewalt erzeugte und von der Rache wiederentzündete Streit zu beenden ist, ist Gerechtigkeit (…) keine erschöpfende Antwort«. Denn »Gerechtigkeit ist auf die Idee der Äquivalenz zu beziehen […]« (ebd., 276). Gerechtigkeit herzustellen heißt folglich stets, den Blick auf Ungleichheit und Gleichheit zu richten. Aber wenn es um Gleichheit geht, muss ausgerechnet werden, wann Gleichheit gegeben ist und wann nicht. Aber nicht einmal die Prinzipien eines entsprechenden Verfahrens sind eindeutig, wenn die Beteiligten eines Krieges zu Friedensverhandlungen zusammenkommen. Der Versuch, Gerechtigkeit in diesem Sinne zu erreichen, »trägt angesichts der Vielzahl von Legitimierungsprinzipien […] den Keim zu neuen Kon­ flikten in sich« (ebd., 276). Ein Gegenprogramm zu einer rechnenden Gerechtigkeit entwirft Ricoeur auf der Basis der Gabenpraxis. Seine Auffassung stellt aller­ dings eine kritische Korrektur der von Mauss überkommenen Ideen dar. Ricoeurs Einwand bezieht sich auf die die Beziehung von Gabe und Gegengabe, deren Regelung sowohl in vormodernen als auch in modernen Gesellschaften allzu oft Momente von Berechnung enthält: »Was auch immer die archaischen Ursprünge der Ökonomie der Gabe sein mögen, die Gabe ist in unseren Gesellschaften, die ansonsten von der Warenökonomie beherrscht werden und wo alles seinen Preis hat, noch präsent, aber gesellschaftlichen Codices unterworfen, die die Beziehung zwischen Gabe und Gegengabe regeln« (ebd., 281). Innerhalb des Dreischritts Geben – Nehmen – Erwidern lassen diese gesellschaftlichen Codices die Gegengabe als verpflichtend erschei­ nen. Ist aber die Motivation zur Gegengabe eine beidseitig angenom­ mene Verpflichtung, so erweist sich die erste Gabe als eine (auch) von berechnendem Kalkül bestimmte Handlung. Ein Geschenk, das erst durch seine Erwiderung anerkannt wird, verliert den Charakter des Geschenks. Folglich sieht Ricoeur etwa den Potlatsch nicht als

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authentische Gabenpraxis an, da derartige Praktiken sich in der Regel nicht von »der Last potentieller Konflikte trennen [lassen]« (ebd., 306). Ricoeurs eigene Interpretation der Gabe lehnt die verpflichtende Gegenseitigkeit ab, die wahre Gabe löst sich aus dem Dreischritt Geben – Empfangen -Erwidern (ebd., 286). Stattdessen postuliert Ricoeur zwei voneinander unabhängige Zweischritte. Das Darbieten der ersten Gabe und ihr Empfangen mit Dank ist der erste Schritt, das Empfangen mit Dank und das eigenständige Darbieten einer weiteren Gabe – zu anderer Zeit und keineswegs zwingend an den ersten Geber – der zweite Schritt. Jeder Schritt kann auch dann stattfinden, wenn der vorhergehende oder nachfolgende unterbleibt. Die Motivation, die solche Schritte ermöglicht und idealerweise dann doch zu einer ununterbrochenen Folge von Schritten führt, benennt Ricoeur mit dem Ausdruck Agape. Agape wird in der christlichen Tradition als selbstlose und uneigennützige Liebe verstanden, im jüdischen Den­ ken entspricht ihr die Haltung des Chassid, der sein Leben gestaltet gemäß dem Motto: »Meines ist deines, deines ist deines« (vgl. Agus 2001, 97). Die Agape wird angetrieben vom Bedürfnis zu geben, ohne einen Gedanken daran, ob sie im Gegenzug irgendwann etwas bekommt (vgl. Ricoeur 2006, 276f). Die Agape fängt immer von Neuem an, Vergangenheit belastet sie nicht, Zukunft bekümmert sie nicht. Ihr Geben resultiert nicht aus einer Verpflichtung. So überwin­ det sie alle Impulse zur Rache, denn sie lehrt die Fähigkeit, sich von Kränkungen freizumachen. Das bedeutet, sie nicht beiseitezuschieben oder zu verdrängen, sondern »nach einem Wort Hannah Arendts über das Verzeihen, sie stehen zu lassen« (ebd., 277). Die Agape kennt keine Gegengabe, jede Gabe ist vielmehr eine für sich stehende Geste. Es gibt daher in gewisser Weise nur die jeweils neue erste Gabe – was für einen Außenstehenden als zweite und dritte Gabe erscheinen würde, ist innerhalb der Praxis der Agape stets ein Neuanfang mit der ersten. »Genaugenommen hat man sich die erste Gabe als Modell der zweiten und die zweite Gabe als eine Art, wie ich sagen möchte, zweite erste Gabe vorzustellen« (ebd., 301). Ricoeurs Zugang stellt die Gabe nicht nur in einen Gegensatz zum Markt, sondern er unterscheidet sich auch von anderen Zugän­ gen zur Gabe, die den Nutzen oder Gewinn herausstellen, den man durch den Erwerb von symbolischem Kapital erreichen kann. Stattdes­ sen »fällt der Akzent eher auf die Großherzigkeit des ersten Gebenden als auf die Forderung zu erwidern« (ebd., 289).

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Jenseits der Logik des Marktes.

Das Unwissen über die Wahrscheinlichkeit einer Gegengabe und der unbestimmt lange Zeitraum bis zu einer solchen Gegengabe bewahren jeder Gabe ihre Uneigennützigkeit und jedem Geber seine Großherzigkeit. Die Geber von Eröffnungsgeschenken hoffen im Akt des Gebens nicht auf eine spätere Gegengabe, sondern konzentrie­ ren ihre Bemühungen darauf, ihr Gegenüber von der Annahme zu überzeugen. Will Großherzigkeit keine Macht demonstrieren, keine Anerkennung einfordern, so konzipiert Ricoeur komplementär dazu eine Haltung der Dankbarkeit, die frei ist von Unterwürfigkeit und dem Gefühl der Abhängigkeit. Wo bisher die Pflicht zur Erwiderung herrschte, überbrückt nun die Dankbarkeit den Abstand zwischen den Begriffspaaren Geben – Empfangen und Empfangen – Erwidern (ebd., 303). Daher können Gaben nicht mit Preisen versehen werden, und es muss zwischen den einzelnen Gaben ein zeitlicher Abstand liegen: Der Abstand den sie [die Dankbarkeit] zwischen die beiden Paare legt, ist im Vergleich zur Äquivalenz des Rechtsverhältnisses, aber auch der des Verkaufs ein Abstand der Ungenauigkeit. Eine doppelte Ungenauigkeit: hinsichtlich des Werts und der Zeit. Im Reich der Dankbarkeit sind der Wert der ausgetauschten Geschenke und der Warenpreis inkommensurabel. […] Auch für die angemessene Frist bis zur Gegengabe gibt es kein genaues Maß: das ist der Niederschlag der Agape, die nichts erwartet. (ebd., 303)

Ricoeur ist sich darüber im Klaren, dass, was immer in der Welt von heute an Gabenpraxis existiert, den oft kriegerisch geführten und mit den Waffen unserer Zeit immer destruktiver wirkenden Kampf um Anerkennung nicht beenden kann. Erst recht will Ricoeur kein Politik- und Wirtschaftsmodell für die Zukunft anbieten. Das Beste an den heute vorfindlichen Gabenformen ist für ihn, dass sie überhaupt da sind: »Vielleicht bleibt der Kampf um Anerkennung unendlich: doch die Erfahrung tatsächlicher Anerkennung im Austausch von Gaben, vor allem in seiner festlichen Gestalt, bringen dem Kampf um Anerken­ nung die Gewißheit, daß seine Motivation, die ihn vom Machthunger unterscheidet und vor der Faszination schützt, weder Schein noch eitel ist«. (ebd., 306)

Die Botschaft der Gabe macht, Ricoeur zufolge, Hoffnung darauf, dass das Risiko der ersten Gabe glückt, dass das Angebot der Anerkennung dem Konflikt vorgezogen und das Vertrauen auf ein befriedetes Miteinander nicht enttäuscht wird.

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Es ist daran zu erinnern, dass die erste Gabe eines Menschen nie im Vollsinn erste Gabe ist, denn es geht ihr immer schon ein Empfangen und ein Empfangen-Haben voraus. Alle Menschen haben ihr Leben und die Wurzeln ihrer Begabungen empfangen, ohne dass sie selber etwas dafür gegeben hätten, alle Menschen empfangen in jedem Augenblich ihres Lebens unendlich Vieles aus der Natur, Luft zum Atmen, Wasser, Landschaft, das Mitleben mit Tieren und Pflanzen und vieles mehr, ohne dass es die Möglichkeit einer Gegen­ gabe, eines Erwiderns gäbe. Die Großherzigkeit der Agape wäre in diesem Horizont nichts Anderes als Ausdruck der Dankbarkeit für diese ursprüngliche Vor-gabe. Tätige Antwort darauf wäre die Scho­ nung und Pflege der natürlichen Lebensgrundlagen und der Versuch, darauf stets neu mit einer ersten großherzigen Gabe gegenüber den Mitmenschen zu antworten.

Agape und soziale Gerechtigkeit Es ist deutlich geworden, dass unter den Begriffen Gabe und Gaben­ praxis durchaus heterogene Phänomene gefasst werden, und es ließe sich durchaus argumentieren, dass ein exzessiver Potlatsch, ein Fest im Rahmen des Kula-Rings und die Leistung von Sozialhilfe an Anspruchsberechtigte zu wenig gemeinsam haben, als dass man sie in einer einheitlichen Begrifflichkeit zusammenführen könnte. Dieser Einwand gewinnt vor allem an Gewicht, sofern man versucht, die Gabe für die Transformation moderner Gesellschaften fruchtbar zu machen. Welche Art von Gabe ist jeweils gemeint? Insbesondere wäre das Verhältnis der so unterschiedlich erscheinenden Praktiken, die unter dem Etikett Gabe angesprochen werden, zu Ideen sozialer Ver­ teilungsgerechtigkeit zu untersuchen. Wenn man dem Verteilungs­ diskurs entgegenhalten kann, dass er oft in Sackgassen des abstrakten Rechnens und Aufrechnens mündet, so bietet der Gabentausch hier keine Lösung, da die unklare Begrifflichkeit eindeutige Lösungen prinzipiell auszuschließen scheint. Oder kann die Idee der Gabe selbst etwas anbieten, das sich an derselben Verbindlichkeit orientiert, wie sie die Idee der Gerechtigkeit erfordert? Hier kommt Ricoeurs Versuch, die Gabe im Horizont der Agape zu interpretieren, ins Spiel. Wir haben gesehen, dass Ricoeur eine Sprache für Erfahrungen wechselseitiger Achtung und Zuwendung anbietet, die sich als paradigmatisch für gelingende Interaktionen

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erweisen. Zugleich stellt er nicht den Anspruch, Modellen sozialer Gerechtigkeit etwas Gleichwertiges gegenüberzustellen. Denn mit dem Ausdruck Lichtungen macht er deutlich, dass solche Erfahrungen nicht geeignet sind, eine ganze Gesellschaft aus dem Dickicht des Unfriedens und der Ungerechtigkeit herauszuführen. Während es ein Missverständnis der Intention Ricoeurs wäre, würde man von der Gabe in seinem Sinne Impulse für eine große Transformation der Weltgesellschaft erwarten, so bieten seine Gedan­ ken doch Ausblicke bei der Suche nach Auswegen aus den Dilemmata unserer Gegenwart. Ricoeur erinnert daran, dass Großzügigkeit und Dankbarkeit, jenseits von Egoismus und Altruismus, die Beziehungen der Men­ schen friedvoller und ihre Interaktionen glücklicher gestalten kön­ nen – und er macht deutlich, dass dies gelegentlich auch wirklich geschieht. In einer vom Individualismus geprägten Gesellschaft, die Unabhängigkeit, Leistung, Berechnung von Kosten und Nutzen sowie Erfolg als oberste Werte in den Mittelpunkt der Persönlichkeitsbil­ dung stellt, bietet die Gabenperspektive einen alternativen ethischen Entwurf dar, der für die Erziehung und Kultivierung des Charakters bedeutsam ist. Die Werte des Individualismus behalten als Basis für persönliche Freiheit ihre Bedeutung, erscheinen aber gewisser­ maßen als Sekundärtugenden gegenüber Großzügigkeit, Solidarität, Zugewandtheit und Dankbarkeit. In einem individualistischen Kon­ text wird die Pflege dieser Werte oft vernachlässigt. Dabei sind sie nicht nur innerhalb von Gabenpraktiken bedeutsam, sondern die in ihnen wirksame Agape kann auch den Auseinandersetzungen über Gerechtigkeit eine Richtung bieten, die, wenn nicht zu einer Lösung, wenigstens zu einer respektvollen Weise des Disputierens führt.

Würde des Menschen In die Verfassung eines liberalen Rechtsstaates wie Deutschland ist als oberstes Prinzip eine Dimension der Menschlichkeit eingeschrieben, die aus einer Marktperspektive heraus nicht zu verstehen ist. Es heißt im Grundgesetz, Artikel 1, Absatz 1: »Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.« Was der Staat zu achten und zu schützen ver­ pflichtet ist, die Würde des Menschen, ist außerhalb aller Berechnung. Denn, wie Immanuel Kant feststellt: »Im Reiche der Zwecke hat

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alles entweder einen Preis oder eine Würde. Was einen Preis hat, an dessen Stelle kann auch etwas anderes als Äquivalent gesetzt werden; was dagegen über allen Preis erhaben ist, mithin kein Äquivalent verstattet, das hat eine Würde« (Kant 1974, 68). Würde steht nicht nur außerhalb des Markttausches, sondern außerhalb all dessen, was auch nur Spuren von Berechnung an sich trägt. Wenn der Staat die Verpflichtung hat, die Menschenwürde »zu achten und zu schützen«, wird er auf eine Praxis festgelegt, die wie die Gabenpraxis im Sinne von Ricoeur ohne Kalkül darauf abzielt, jedem Menschen die Aner­ kennung seiner Würde zu bestätigen. Folglich ist es zu wenig, wenn ein Staat negativ durch das Recht einen Rahmen setzt, innerhalb dessen Verletzungen der Menschenwürde geahndet werden. Er hat vielmehr die Aufgabe, positiv dazu beizutragen, dass die Menschen in seinem Zuständigkeitsbereich sich nicht nur als Träger oder Emp­ fänger von Leistungen, sondern schon in ihrem reinen Existieren als eine Gabe füreinander erfahren können. Jedoch stellt diese Aufgabe eine Überforderung der Organe gegenwärtig bestehender Staaten dar. Angesichts der Gewalttätigkeit, Härte oder Gleichgültigkeit, mit der Menschen einander allzu oft begegnen, darf man selbst in funktionierenden demokratischen Rechtsstaaten vom Staatsapparat mit seiner gewöhnlichen Trägheit und Ineffizienz kaum erwarten, dass seine Vertreter mit den Bedürftigen in einer Gabenpraxis der Würde zusammen kommen. Wenn der erste Artikel des Grundgeset­ zes in Deutschland den Staat auf den Schutz und die Achtung der Menschenwürde verpflichtet, dann sind nicht nur die politischen, rechtlichen und administrativen Institutionen angesprochen, sondern vor allem die Gesellschaft, in deren Diskursen und Interaktionen sich das Leben des Staates vollzieht. Und damit stellt sich die Frage, inwieweit eine Gesellschaft fähig ist, Praktiken und Lebensformen zu entwickeln, in denen Menschenwürde in wechselseitiger Aner­ kennung der Würde des Anderen gelebt wird. Für eine vielleicht unzulängliche, aber unumgängliche Antwort steht seit Marcel Mauss die Lehre von der Gabe. Diese Lehre schult unseren Blick für Prakti­ ken, die ein ganz anderes Bild des Menschen und des menschlichen Zusammenlebens zeichnen, als es uns die Prägung durch die Figur des Homo Oeconomicus erwarten lässt. Mauss vermittelt uns in Die Gabe eine Art des Hinsehens, die zwischenmenschliche Praktiken als wirklich erscheinen lässt, in denen Menschen ihre eigene Lebendig­ keit als soziale, mit anderen verbundene und auf andere angewiesene Wesen entfalten. Solche Praktiken der Gabe taugen zwar kaum als

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Blaupausen für die Neuerrichtung einer besseren Gesellschaft, sind aber für ein gutes Zusammenleben in gegenwärtigen und zukünftigen Gesellschaften unverzichtbar.

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Das Ende der Arbeit in ökonomischen Utopien. Von nicht-monetären Reichtumskonzepten als normativer Grundlage der Wirtschaftstheorie

1. Einleitung In letzter Zeit ist das Interesse an einer »Philosophie der Arbeit« (Aßländer/Wagner 2017) wieder erstarkt. Motiviert ist dieses von einer »Krise der Arbeit« (Castel 2011), welche allenthalben behauptet wird und welche die Frage nach der »Zukunft der Arbeit« (Cholbi/ Weber 2019) mit einer gewissen Dringlichkeit aufwirft. Die Antwor­ ten, welche auf diese Frage aktuell formuliert werden, lassen sich dabei grob zwei Grundpositionen zuordnen: einer pessimistischen und einer optimistischen Sicht auf die Zukunft der Arbeit (vgl. Herzog 2019, 9). Die pessimistische Sicht beklagt das Aufkommen neuer, prekärer Formen von Arbeit, welche die klassische Form der vergesellschafte­ ten Arbeit, d.h. die Lohnarbeit, zu verdrängen drohen. Von »Bullshit Jobs« (Graeber 2018) ist dann beispielsweise häufig die Rede. Immer lauter werden deswegen die Rufe nach einer »Rettung der Arbeit« (Herzog 2019), welche darauf abzielen, die »öffentliche Arbeitswelt [...] so zu gestalten, dass sie unseren Vorstellungen von der Würde und den Rechten der Einzelnen und vom Wohl der Gesellschaft als ganzer entspricht« (ebd., 13). Viel Aufmerksamkeit erhält dabei die Frage nach einer gerechten Verteilung von »schlechter Arbeit« (Schmode 2021, 349) in der Gesellschaft, die nach der Demokratisie­ rung von Arbeitsprozessen im Unternehmen und die nach »Sinn und Anerkennung von Arbeit« (Sindermann 2021) – um nur drei aktuelle Beispiele zu nennen. In einem krassen Widerspruch hierzu steht die optimistische Sicht, unter die sich die mehrenden Stimmen all derjenigen subsum­ mieren lassen, die ein »Ende der Arbeit« (Rifkin 2005) prophezeien.

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Der technische Fortschritt – in Deutschland unter dem Stichwort Industrie 4.0 diskutiert – führe zu weiterer Automatisierung und Digi­ talisierung, was – so die weitverbreitete Hoffnung – in absehbarer Zeit zu einer »Null-Grenzkosten-Gesellschaft« (Rifkin 2016) führen werde. Diese eröffne der Menschheit ungeahnte Möglichkeiten: Wir stehen heute […] vor einem Epochenumbruch. Die ›Automa­ tion‹, lang ersehnt, könnte nun zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit tatsächlich ein erfülltes Leben ohne Lohnarbeit […] ermöglichen. Die alte Arbeitswelt […] bröckelt dahin […]. Was lockt, ist ein Leben in selbstbestimmtem Tun ohne Entfremdung, ohne Konditionierung und Eintönigkeit. (Precht 2019, 9)

Das »Ende der Arbeitsgesellschaft« (Gorz 2010) mache den Weg frei für eine Multiaktivitätsgesellschaft. Mit der Erwartung eines radi­ kalen Rückgangs der zur materiellen Reproduktion der Gesellschaft notwendigen Arbeitszeit geht daher gerade – wenig überraschend – ein gesteigertes Interesse an Theorien der Muße und der freien Zeit einher (vgl. bspw. Priddat 2019a; Ritschel 2021). Entweder würden also prekäre Formen von vergesellschafteter Arbeit zunehmend Verbreitung finden oder die gesamtgesellschaft­ lich notwendige Arbeitszeit werde zurückgehen. In einem sind sich jedenfalls die pessimistische und die optimistische Sicht auf die Zukunft der Arbeit einig: In jedem Fall werde die Lohnarbeit an Bedeutung verlieren. Darin besteht die Krise der Arbeit, von der eben gerade die Rede war. Die Debatte über die Zukunft der Arbeit korrespondiert dort, wo sie optimistisch ein »Ende der Arbeit« voraussagt, mit einem utopi­ schen Diskurs in der Geschichte des ökonomischen Denkens. Öko­ nom*innen haben sich schon seit jeher mit der Frage beschäftigt, wie eine Volkswirtschaft gestaltet sein muss, damit sie nicht mehr wirt­ schaftlich übertroffen werden kann. Solche Visionen einer perfekten Wirtschaft lassen sich als ökonomische Utopien interpretieren. In ihrer Gesamtheit können sie in Anlehnung an Francis Fukuyama (1992; 1993) als ein Diskurs über das »Ende der ökonomischen Geschichte« (Fitoussi 2009) verstanden werden. Viele der ökonomi­ schen Utopien malen dabei das Bildnis einer Wirtschaft des Über­ flusses, welche keine Armut mehr kennt, in der Elend und Not unwi­ derruflich der Vergangenheit angehören. Sie beschreiben insofern einen Zustand der materiellen Bedürfnislosigkeit, in dem sich die dinglichen Bedürfnisse des Menschen jederzeit befriedigen lassen.

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Diese – wie man sie auch nennen kann – materialen Utopien sagen für gewöhnlich einen starken Rückgang der sozialen Arbeitszeit vor­ aus.1 Wenn ein jeder hätte, dessen er bedürfe, sei es nun durch Stei­ gerung der Produktivität in Folge technischen Fortschritts, politischer Eingriffe wie z. B. Umverteilungsmaßnahmen oder einer Reduktion der menschlichen Ansprüche, müsse nicht mehr so viel gearbeitet werden. Materiale Utopien transportieren insofern auch stets die Vor­ stellung eines »Endes der Arbeit«. Was tut der Mensch aber, wenn er weniger arbeiten kann, wenn er freie Zeit zur Muße hat? Tatsächlich versuchen materiale Utopien auch auf diese Frage eine Antwort zu geben. Da der Mensch in diesen von der Notwendigkeit befreit ist, sich sein täglich Brot im Schweiße seines Angesichts verdienen zu müssen, kommen sie nicht umhin, zu beschreiben, was der Mensch tun wird, sobald die materielle Reproduktion nicht mehr zu seinen drängendsten Sorgen gehört. Da sie einen Zustand beschreiben, in dem sich das Wirtschaften weitestgehend erübrigt hat, lässt sich das von ihnen beschriebene Tätig-Sein auch als das verstehen, worin das menschliche Leben seine Erfüllung findet. Nach dem Ende der Arbeit bleibt sozusagen für den Menschen als Zeitvertreib nur noch übrig, wofür er – in einem uneigentlichen Sinne – »geschaffen« wurde, woraus er seine Exis­ tenzberechtigung bezieht, was sein genuiner Bestimmungsgrund ist. Materiale Utopien verarbeiten deswegen immer auch die Vorstellung von einem gelungenen Leben. In ihnen manifestiert sich insofern, was Ökonom*innen über das Telos des menschlichen Wesens dachten. In der Verwirklichung dieses gelungenen Lebens ist dann auch das finale Ziel des Wirtschaftens zu sehen. Aufgabe des Wirtschaftens ist es folglich, einen Zustand der materiellen Bedürfnislosigkeit her­ beizuführen, damit die Menschen bestimmten Aktivitäten nachgehen können, in denen sie sich selbst verwirklichen. Nicht umsonst wird deswegen in materialen Utopien regelmäßig Zeitgewinn für Muße Was als eine ökonomische Utopie gelten kann, ist abhängig davon, was man unter dem Wort ›ökonomisch‹ zu verstehen geneigt ist. Es lassen sich deswegen materiale von formalen Utopien unterscheiden. Materiale Utopien beschreiben einen fiktiven Gesellschaftszustand der materiellen Bedürfnislosigkeit. Mit formalen Utopien hin­ gegen geht zwar ebenfalls die Fiktion eines wirtschaftlich wünschenswerten Gesell­ schaftszustandes einher, dieser zeichnet sich allerdings durch das größtmögliche Maß an allokativer Effizienz aus. Im Folgenden soll es ausschließlich um materiale Utopien gehen, weil formale Utopien nicht notwendigerweise ein Ende der Arbeit vorsehen. Für die Herleitung des Begriffs der ökonomischen Utopie und seiner Unterscheidung in eine materiale und eine formale Spielart vgl. Kremser (2020, 82–104). 1

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als wahrer Reichtum – im Gegensatz zu einem bloß monetären Reichtum – verstanden. Materiale Utopien versuchen deswegen eine Antwort auf die Frage zu formulieren, warum der Mensch überhaupt wirtschaftet. Die Antwort besteht in dem Hinweis, dass der Mensch zu mehr als der bloßen materiellen Reproduktion »gemacht« ist. Materiale Utopien beschreiben einen ökonomischen Zustand, in dem mit dem Wirtschaften alle potenziellen Ablenkungen aus dem Weg geräumt wurden, welche den Menschen davon abhalten könnten, sein wahres Potenzial zu entfalten, und der sich vom aktuellen qualitativ in einem Maße unterscheidet, dass man nicht umhinkommt, ihn als einen echten Gewinn für die Menschheit zu betrachten. Da materialen Utopien, um das Vorhergesagte zusammenzufas­ sen, beschreiben, worin das Gute für den Menschen besteht und warum er wirtschaftet, werden in ihnen die normativen Grundlagen der Wirtschaftstheorie greifbar. Diesen nachzuspüren, hat sich der vorliegende Aufsatz vorgenommen. Das Vorgehen ist dabei wie folgt: In einem ersten Schritt soll zunächst ein Vorschlag dafür unterbreitet werden, wie sich der Begriff der ökonomischen Utopie sinnvoll mit Leben füllen lässt. Anschließend kann in einem zweiten Schritt geschildert werden, wie sich materiale Utopien – als Unterkategorie ökonomischer Utopien – das Ende der Arbeit ausmalen. Hierfür sollen mehrere Beispiele vorgestellt werden. In einem dritten Schritt kann schließlich ergründet werden, was sich aus den besprochenen, materialen Utopien hinsichtlich der normativen Grundlagen der Wirtschaftstheorie ableiten lässt.

2. Ökonomische Utopien in der Geschichte des ökonomischen Denkens2 Allzu häufig wird der Ökonomik vorgeworfen, sie hätte keinen Sinn für das Utopische. Ihre Beschäftigung mit rein materiellen Dingen gipfele in einem profanen Realismus, der keinen Platz ließe für die Beschäftigung mit der Frage: Was wäre wenn? Das ökonomische Denken, so der Vorwurf weiter, sei Feind des utopischen, weil es mit dem Verweis auf wirtschaftliche Sachzwänge und der ökonomischen Funktionslogik die Möglichkeit einer fundamental anders gearteten Wirtschaftsorganisation verneine (vgl. Ebert/Glaeser 2015, 9f). Die­ 2

Für die folgenden Ausführungen vgl. auch Kremser (2021, 269f).

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Das Ende der Arbeit in ökonomischen Utopien.

ser Vorwurf erweist sich bei näherem Hinsehen rasch als haltlos. In der Geschichte des ökonomischen Denkens wurden zahllose ökono­ mische Utopien entworfen, die sich in ihrer Gesamtheit als Diskurs zum Ende der ökonomischen Geschichte deuten lassen. Was soll aber im Folgenden unter einer ökonomischen Utopie verstanden werden? Von der illusionistischen Verwendung des Uto­ piebegriffs, die vor allem im alltäglichen Sprachgebrauch verbreitet ist, gilt es eine wissenschaftliche zu unterscheiden. In der Utopie­ forschung, dem interdisziplinären Forschungsfeld, das vom Inhalt des Utopiebegriffs handelt, werden mehrere Utopiebegriffe unter­ schieden. Für den hier verfolgten Zweck erweist sich der klassische Utopiebegriff als geeigneter Ausgangspunkt, bei dem beginnend eine Vorstellung davon gewonnen werden kann, was eine ökonomische Utopie sein könnte. Der klassische Utopiebegriff stellt den von Thomas Morus im Jahr 1516 veröffentlichen Staatsroman Utopia in das Zentrum der Begriffsbestimmung. Für ihn ist die Idee grundlegend, dass Morus, indem er seinen Roman auf diesen Namen taufte, nicht bloß ein neues Wort schuf, sondern mit ihm auch gleich eine ganze Gattung des politischen Denkens begründete. Unter einer Utopie im Sinne des klassischen Utopiebegriffs versteht Richard Saage deshalb, »Fik­ tionen innerweltlicher Gesellschaften, die [...] sich entweder zu einem Wunsch- oder Furchtbild verdichten, das auf Fehlentwicklungen der eigenen Gesellschaft reagiert« (Saage 2008, 10f). Nach dem klassi­ schen Utopiebegriff ist also für die Utopie der Entwurf eines fiktiven idealen politischen Gemeinwesens konstitutiv. In Analogie zum klassischen Utopiebegriff sollen nun im Folgen­ den Fiktionen idealer Wirtschaften als ökonomische Utopien bezeich­ net werden. Viele der ökonomischen Utopien malen das Bildnis einer Wirtschaft des Überflusses, welche keine Armut mehr kennt, in der Elend und Not unwiderruflich der Vergangenheit angehören. Diese materialen Utopien – wie man sie auch nennen kann – beschreiben insofern einen Zustand der materiellen Bedürfnislosigkeit.

3. Das Ende der Arbeit in ökonomischen Utopien Ein konstitutiver Bestandteil materialer Utopie bildet dabei die Ankündigung eines Endes der Arbeit. Zwar wird in den seltensten Fällen davon ausgegangen, dass die Menschen vollständig aufhören

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werden zu arbeiten, allerdings werden sie – so die Prognose – weniger arbeiten müssen. Gleichzeitig werde sich – so die Vorhersage weiter – die Qualität der Arbeit ändern, so dass sie nicht mehr wirklich als Arbeit angesehen werden könne, schließlich verliere sie ihren leidvollen Charakter. Monotonie und Anstrengung würden dann der Vergangenheit angehören. Der moderne Dualismus von Arbeit und Freizeit löse sich also zu guter Letzt in Wohlgefallen auf. Dies ermögliche es dem Menschen, ein Leben zu führen, in dem er sich selbst verwirklicht. Dass materiale Utopien für gewöhnlich mit der Vorstellung eines Endes der Arbeit einhergehen, soll nun anhand einer Reihe von Beispielen illustriert werden. Bei deren Autoren handelt es sich um Johann Gottlieb Fichte, John Stuart Mill, Karl Marx, Oscar Wilde, John Maynard Keynes und Bertrand Russell.

3.1 Johann Gottlieb Fichte3 Wie muss die gesamtgesellschaftliche Arbeit organisiert und unter den Bürgern eines Staates verteilt werden, damit ein jeder zu arbeiten hat? Diese Frage bemüht sich Johann Gottlieb Fichte (1762–1814) im Geschlossenen Handelsstaat zu beantworten. Fichtes Antwort besteht nun in dem Vorschlag, die Arbeit so zu verteilen, dass jeder Mensch ein angenehmes Leben führen kann, frei von materiellen Zwängen. Für Fichte folgt hieraus, dass die gesellschaftlich notwendige Arbeit so aufzuteilen ist, dass jeder möglichst wenig zu arbeiten braucht. Auf diese Weise soll Zeit für den Menschen gewonnen werden, die dieser frei von der Notwendigkeit, zur eigenen oder gesellschaftlichen Reproduktion beitragen zu müssen, für die eigene Muße verwenden kann (vgl. Fichte 1845 [1813], SW 4, 441; James 2018, 174). Für Fichte steht fest, dass der Mensch einen Anspruch auf Muße hat – verstanden als »Lebenkönnen ohne Arbeit« (Fichte 1834 [1812], NW 2, 560) –, weil es dem Menschen als autonomem Vernunftwesen ansonsten nicht möglich wäre, sich selbst Zwecke zu setzen (vgl. ebd., 535f). Fichte sieht in der »freien Selbsttätigkeit« (Fichte 1845 [1796], SW III, 39), die er vor allem ethisch versteht (vgl. Hirsch 2003, 173), das Potenzial des Menschen, welches dieser zu entfalten hat. So dient die Muße letztlich der sittlichen Selbststeigerung (vgl. Dierksmeier 2006, 16). Fichte glaubt daran, dass es den Menschen in Folge 3

Für die folgenden Ausführungen vgl. auch Kremser (2020, 117–31).

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Das Ende der Arbeit in ökonomischen Utopien.

dieser moralischen Selbstvervollkommnung eines Tages möglich sein werde, einen Zustand zu erreichen, in dem sie freiwillig nur noch dem Sittengesetz gemäß handeln. Gesetze, welche zur Einhaltung der Androhung von Strafe bedürfen, würden dann obsolet. Fichte stellt also eine Zukunft des Menschen in Aussicht, in der nur noch Moralität anstatt bloßer Legalität herrscht (vgl. Fichte 1845 [1793], SW VI, 102; Willms 1967, 165). Die von Fichte im Geschlossenen Handelsstaat unterbreiteten wirtschaftspolitischen Vorschläge dienen also dem Zweck, die materi­ ellen Mittel zur Verfügung zu stellen, die nötig sind, damit der Mensch ein mußevolles Leben führen kann, um sich seiner Selbstkultivierung und -veredlung zu widmen (vgl. Batscha 1970, 90; Frischmann 2006, 52; Stahl 2018, 53). Dabei habe nicht nur die vom einzelnen Bürger zu leistende Arbeit in ihrem zeitlichen Umfang abzunehmen, sie habe sich auch in ihrem Charakter zu wandeln. Der Mensch soll nicht unter seiner Arbeit leiden, sie soll ihm vielmehr Freude bereiten. Das ist ein Recht, das ihm qua Menschsein zusteht: Es ist nicht ein bloßer frommer Wunsch für die Menschheit, sondern es ist die unerläßliche Forderung ihres Rechts, und ihrer Bestimmung, daß sie so leicht, so frei, so gebietend über die Natur, so echt menschlich auf der Erde lebe, als es die Natur nur irgend verstattet. Der Mensch soll arbeiten; aber nicht wie ein Lasttier, das unter seiner Bürde in den Schlaf sinkt, und nach der notdürftigen Erholung der erschöpften Kraft zum Tragen derselben Bürde wieder aufgestört wird. Er soll arglos, mit Lust und mit Freudigkeit arbeiten, und Zeit übrig behalten, seinen Geist, und sein Auge zum Himmel zu erheben, zu dessen Anblick er gebildet ist. Er soll nicht gerade mit seinem Lasttier essen; sondern seine Speise soll von desselben Futter, seine Wohnung von desselben Stalle sich ebenso unterscheiden, wie sein Körperbau von jenes Körperbaue unterschieden ist. Dies ist sein Recht, darum weil er nun einmal ein Mensch ist. (Fichte 1845 [1800], SW 3, 422f)

Unter einem solchen Leben, das neben der täglichen Arbeitszeit auch Freizeit für die individuelle Persönlichkeitsentwicklung übrig lässt, versteht Fichte wahren Wohlstand, hierin erweist er sich als treuer Anhänger des aufklärerischen Glaubens an die menschliche Perfektibilität (vgl. Nakhimovsky 2011, 150). Für eine wohlhabende Nation gilt deswegen, dass nicht nur eine Handvoll ihrer Bürger in den Genuss eines solchen Lebens gelangen soll, sondern alle:

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[...] der innere wesentliche Wohlstand besteht darin, daß man mit mindest schwerer, und anhaltender Arbeit sich die menschlichsten Genüsse verschaffen könne. Dies soll nun sein ein Wohlstand der Nation; nicht einiger Individuen, deren höchster Wohlstand oft das auffallendste Zeichen, und der wahre Grund ist, von dem höchsten Übelbefinden der Nation; er soll so ziemlich über Alle in demselben Grade sich verbreiten. (Fichte 1845 [1800], SW 3, 423)

Wenn es also um den Wohlstand der Nation geht, soll dieser daran gemessen werden, ob jedes Gesellschaftsmitglied die Gelegenheit erhält, seine Individualität im größtmöglichen Maße zu entwickeln (vgl. Nakhimovsky 2011, 5). Hierfür hat der Staat Sorge zu tragen. Es lässt sich somit festhalten: Im Geschlossenen Handelsstaat entwirft Fichte das Bild einer Wirtschaft, in der sich einerseits die Bedürfnisse der Menschen jederzeit problemlos befriedigen lassen und sich andererseits die hierfür gesellschaftlich notwendige Arbeits­ zeit auf ein Minimum beschränkt. Der Geschlossene Handelsstaat ist damit nicht nur eine materiale Utopie; er umfasst auch die Verheißung eines Endes der Arbeit.

3.2 John Stuart Mill4 Als ein weiteres Beispiel für eine materiale Utopie in der Geschichte des ökonomischen Denkens kann John Stuart Mills (1806–1873) Schilderung des stationären Zustandes angeführt werden, die er in seinen 1848 erschienenen Principles of Political Economy entwirft. Die Idee eines stationären Zustandes war in der klassischen Ökonomik weit verbreitet, so sehr sogar, dass sich sicherlich ohne Übertrei­ bung behaupten lässt, dass es sich bei ihr um einen Gemeinplatz handelte. Insofern stellt es nichts Außergewöhnliches dar, dass sie sich auch in Mills wirtschaftstheoretischem Werk wiederfinden lässt. Das Bemerkenswerte an Mills Konzeptualisierung des stationären Zustandes ist nun aber, dass er ihn unter geändertem Vorzeichen neu interpretiert: Während dieser in den Schilderungen früherer Ökonomen eher einer apokalyptischen Schreckensvision glich, avan­ ciert er in seiner Darstellung zur Utopie (vgl. Brodbeck 2018, 51). Anstatt nämlich davon auszugehen, dass die Menschen im stationären Zustand unter Armut leiden und im Elend leben werden, war Mill 4

Für die folgenden Ausführungen vgl. auch Kremser (2020, 131–41).

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vielmehr der Auffassung, dass sie sich in nicht allzu ferner Zukunft materieller Bedürfnislosigkeit erfreuen würden. Jeder hätte dann, dessen er bedürfe. Niemand würde mehr den Wunsch hegen, noch mehr haben zu wollen. Der stationäre Zustand lässt bei Mill insofern die »Verwirklichung eines Ideals sozialen Lebens« (Schefczyk 2010, 128) in greifbare Nähe rücken: But the best state for human nature is that in which, while no one is poor, no one desires to be richer, nor has any reason to fear being thrust back, by the efforts of others to push themselves forward. (Mill 1965 [1848], CW III, 754)

Der Eintritt in den stationären Zustand bedeutet für Mill aber kei­ neswegs, dass der Mensch einfach aufhören könne, zu arbeiten. Es werde auch in Zukunft das Los des Menschen bleiben, für seinen Lebensunterhalt sorgen zu müssen. Hierauf werde er aber – und darauf kommt es an – deutlich weniger Lebenszeit verwenden müssen (vgl. ebd., 756). Auch Mill glaube also an ein Ende der Arbeit. Obwohl der stationäre Zustand keine wirtschaftliche Verände­ rung mehr zulässt, heißt das Mill zufolge nicht, dass für die Mensch­ heit keine weitere Entwicklung mehr denkbar sei. Das Stationäre impliziere deswegen keine Statik. Mill betont vielmehr, dass sich die Menschheit, sobald sie in materieller Fülle leben würde, auf die Verwirklichung ideeller Ziele konzentrieren könne. Das Ende des Wirtschaftswachstums wird so zur notwendigen Voraussetzung für alle weiteren Fortschritte der Menschheit: It is scarcely necessary to remark that a stationary condition of capital and population implies no stationary state of human improvement. There would be as much scope as ever for all kinds of mental culture, and moral and social progress; as much room for improving the Art of Living, and much more likelihood of its being improved, when minds ceased to be engrossed by the art of getting on. (ebd.)

Wenn die weitere Verbesserung der ökonomischen Lebensumstände nicht länger drängen würde, könnte der Mensch – ohne fortan durch die materielle Reproduktion abgelenkt zu werden – all seine Kräfte darauf verwenden, sich selbst weiterzuentwickeln. Mill glaubt auch fest – ähnlich wie Fichte – an die Perfektibilität des Menschen, d.h. die menschliche Fähigkeit, sich selbst zu vervollkommnen (vgl. auch hierzu Mill 1965 [1828], CW XXVI, 428–33; Robson 1968; O’Connor 1997, 485f; de Mattos 2000, 115; Henning 2009; Kuenzle/Schefczyk 2009, 32ff, 179ff). Entsprechend meint er urteilen zu können, dass das

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»gegenwärtige sehr frühe Stadium der menschlichen Verbesserung« (Mill 1965 [1848], CW III, 754) noch nicht der Abschluss der Ent­ wicklung der Menschheit sei. Den »ultimative[n] Menschentypus« (ebd.) gelte es noch zu realisieren. Endzweck des Menschen sei schließlich »soziale Perfektion« (ebd.). Es ist unverkennbar, dass Mill mit seiner anthropologischen Bestimmung der menschlichen Natur der Fortschrittstheorie der Aufklärung folgt (vgl. López 2012; Persky 2016). Worin besteht nun aber dieser moralische Fortschritt, für den der Mensch geschaffen sei und den er zu verwirklichen habe? Vom täglichen Überlebenskampf befreit würde dem Menschen im statio­ nären Zustand die Möglichkeit eröffnet, sich intensiv der ›Kunst zu leben‹ zu widmen. Mills positive Einschätzung des stationären Zustandes ist dabei aufs Engste mit seinem moralphilosophischen Denken verknüpft (vgl. Buckley 2011, 137). Bekanntlich gilt Mill als Begründer eines qualitativen – im Gegensatz zu einem bloß quantitativen – Utilitarismus (vgl. Kuenzle/Schefczyk 2009, 37f). Besonders eindrücklich erweist sich dies am Umstand, dass er nicht davor zurückscheut, zwischen höheren und niederen Tätigkeiten zu unterscheiden; man denke nur an seinen berühmten Ausspruch, nach dem es besser sei, ein unglücklicher Sokrates als ein glückliches Schwein zu sein (vgl. Mill 1969 [1861], CW X, 212). Die ›Kunst zu leben‹ ist bei Mill aus diesem Grund auch nicht einfach gleich­ bedeutend mit ›eine schöne Zeit haben‹. Dem Menschen werde es in Zukunft nicht nur ein Anliegen sein, sich selbst zu kultivieren, sondern auch die Menschheit zu vervollkommnen. Die Welt zu ver­ bessern, werde den Menschen ein Vergnügen bereiten und innerstes Bedürfnis sein. Einen Vorgeschmack davon gebend, wohin die Reise für die menschliche Gattung gehen könnte, schreibt Mill: Genuine private affections, and a sincere interest in the public good, are possible, though in unequal degrees, to every rightly brought up human being. In a world in which there is so much to interest, so much to enjoy, and so much also to correct and improve, every one who has this moderate amount of moral and intellectual requisites is capable of an existence which may be called enviable […]. All the grand sources, in short, of human suffering are in a great degree, many of them almost entirely, conquerable by human care and effort; and though their removal is grievously slow – though a long succession of generations will perish in the breach before the conquest is completed, and this world becomes all that, if will and knowledge were not wanting, it

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might easily be made – yet every mind sufficiently intelligent and generous to bear a part, however small and inconspicuous, in the endeavour, will draw a noble enjoyment from the contest itself, which he would not for any bribe in the form of selfish indulgence consent to be without. (ebd., 216f)

Mill zufolge ist dem Menschen, der nötige Freiraum zu gewähren, um sich in seiner eigenen Individualität zu entdecken, seine Persönlich­ keit zu entfalten (vgl. Mill 1977 [1859], CW XVIII, 261). Das bildet für ihn letztlich den Inhalt von sozialer Perfektion (vgl. Harris 1956). Wie bei Fichte, so zeigt sich auch bei Mills stationärem Zustand: Materiale Utopien gehen häufig mit der Vorstellung eines Endes der Arbeit einher.

3.3 Karl Marx5 Auch Karl Marx’ (1818–1883) Vorstellung einer höheren Phase des Kommunismus, die er in seinem Werk an unterschiedlichen Stellen andeutet, kann als materiale Utopie gedeutet werden. Der soziale Antagonismus, der zwischen dem Proletariat und der Bourgeoisie angesichts des zu verteilenden, gesamtgesellschaftlich produzierten Surplus zu allen Zeiten herrschte, werde im Kommunismus – so die marxsche Prophezeiung – zu guter Letzt aufgehoben und mit ihm alle Klassengegensätze. Ermöglicht werde dies durch materiel­ len Reichtum ungeahnten Ausmaßes, wenn »alle Springquellen des genossenschaftlichen Reichtums voller fließen« (Marx 1987 [1875], MEW 19, 21). Da von allem mehr als genug vorhanden sein werde und ein jeder von allem so viel haben könne, wie er wolle, sei der Streit um die gesellschaftliche Distribution der Produktion schlussendlich beigelegt. Sei in der ersten Phase der kommunistischen Gesellschaft das Einkommen eines jeden Gesellschaftsmitgliedes noch abhängig von seinem individuellen Beitrag zur kollektiven Produktion gewe­ sen, gelte in der höheren Phase des Kommunismus die Parole: »Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen« (ebd., 21)! Für die materielle Versorgung der Gesellschaftsmitglieder durch die Gesellschaft sei fortan nicht die von diesen erbrachte Leistung entscheidend, sondern deren Bedürfnisse. 5

Für die folgenden Ausführungen vgl. auch Kremser (2020, 142–52).

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Die komfortable Situation, in der sich die Gesellschaft dann materiell befinden werde, befriede nicht nur den Klassenkonflikt, sondern ermögliche es dem Menschen auch, ein Leben in Muße zu führen (vgl. hierzu auch Priddat 2005; 2008; 2018; 2019b; Frambach 2018, 37f). Aus diesem Grund stellt »disposable time« für Marx den »wahren Reichtum« einer Gesellschaft dar (vgl. Marx 1968 [1905– 1910], MEW 26.3, 252). Es handelt sich bei ihr um Zeit, die nicht durch unmittelbar produktive Arbeit absorbiert wird, sondern zum enjoyment, zur Muße, [so] daß sie zur freien Tätigkeit und Entwicklung Raum gibt. Die Zeit ist der Raum für die Entwicklung der faculties etc. (ebd.)

Seine neu hinzu gewonnene Freizeit könne der Mensch nutzen, zum einen, um die von ihm produzierten Güter zu genießen, zum anderen für »free activity, die nicht wie die labour durch den Zwang eines äußren Zwecks bestimmt ist, der erfüllt werden muß« (ebd., 253). Die Menschen könnten sich so auf »die Entwicklung der reichen Individualität« (Marx 1983 [1857–1858], MEW 42, 244) konzentrie­ ren. Marx geht es letztendlich um die »Selbstverwirklichung des Individuums« (ebd., 512), wenn er schreibt: In fact aber, wenn die bornierte bürgerliche Form abgestreift wird, was ist der Reichtum anders, als die im universellen Austausch erzeugte Universalität der Bedürfnisse, Fähigkeiten, Genüsse, Produktivkräfte etc. der Individuen? Die volle Entwicklung der menschlichen Herr­ schaft über die Naturkräfte, die der sog. Natur sowohl wie seiner eignen Natur? Das absolute Herausarbeiten seiner schöpferischen Anlagen, ohne andre Voraussetzung als die vorhergegangene historische Ent­ wicklung, die diese Totalität der Entwicklung, d. h. der Entwicklung aller menschlichen Kräfte als solcher, nicht gemessen an einem vor­ hergegebnen Maßstab, zum Selbstzweck macht? Wo er sich nicht reproduziert in einer Bestimmtheit, sondern seine Totalität produziert? (ebd., 395f)

Immer dann, wenn Marx ausführt, dass der materielle Wohlstand Verwendung für »die künstlerische, wissenschaftliche etc. Ausbildung der Individuen« (ebd., 601) finden solle, wird offenkundig, dass es ihm zufolge die Bestimmung des Menschen ist, sich allseitig zu bilden (vgl. Scherf 1986, 102). Blieb dies im Kapitalismus lediglich einer kleinen Gesellschaftsschicht vorbehalten, soll es im Kommunis­ mus schließlich allen Gesellschaftsmitgliedern möglich werden (vgl. Hansjürgens 2005, 147).

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Diese Gesellschaftsformation, bei der die »freie Entwicklung eines jeden« zur »Bedingung für die freie Entwicklung aller« anderen werde (vgl. Marx/Engels 1977 [1848], MEW 4, 482) und die sich Marx als eine große Genossenschaft denkt, die er auch als »Verein freier Menschen« (Marx 1962 [1867], MEW 23, 92) oder als »Assozia­ tion freier ›Produzenten‹« (Marx 1976 [1868], MEW 18, 62) bezeich­ net, werde schließlich durch die Verkürzung des Arbeitstages möglich: Das Reich der Freiheit beginnt in der Tat erst da, wo das Arbeiten, das durch Not und äußere Zweckmäßigkeit bestimmt ist, aufhört; es liegt also der Natur der Sache nach jenseits der Sphäre der eigentlichen materiellen Produktion. Wie der Wilde mit der Natur ringen muß, um seine Bedürfnisse zu befriedigen, um sein Leben zu erhalten und zu reproduzieren, so muß es der Zivilisierte, und er muß es in allen Gesellschaftsformen und unter allen möglichen Produktionsweisen. Mit seiner Entwicklung erweitert sich dies Reich der Naturnotwendig­ keit, weil die Bedürfnisse; aber zugleich erweitern sich die Produktiv­ kräfte, die diese befriedigen. Die Freiheit in diesem Gebiet kann nur darin bestehn, daß der vergesellschaftete Mensch, die assoziierten Produzenten, diesen ihren Stoffwechsel mit der Natur rationell regeln, unter ihre gemeinschaftliche Kontrolle bringen, statt von ihm als von einer blinden Macht beherrscht zu werden; ihn mit dem geringsten Kraftaufwand und unter den, ihrer menschlichen Natur würdigsten und adäquatesten Bedingungen vollziehn. Aber es bleibt dies immer ein Reich der Notwendigkeit. Jenseits desselben beginnt die menschliche Kraftentwicklung, die sich als Selbstzweck gilt, das wahre Reich der Freiheit, das aber nur auf jenem Reich der Notwendigkeit als seiner Basis aufblühn kann. Die Verkürzung des Arbeitstags ist die Grundbe­ dingung. (Marx 1964 [1894], MEW 25, 828)

Der Mensch werde weiterhin arbeiten müssen. Die gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit könne aber deutlich gesenkt werden. Das vom Menschen zu erbringende Arbeitspensum werde aber nicht nur quan­ titativ abnehmen. Gleichzeitig werde sich auch die Qualität der durch das einzelne Gesellschaftsmitglied zu leistenden Arbeit wandeln (vgl. Hansjürgens 2005, 151). Sie werde nämlich ihren Produktcharakter gänzlich verlieren (vgl. Priddat 2008, 39) und »einen ganz andren, freien Charakter« (Marx 1968 [1905–1910], MEW 26.3, 253) anneh­ men, der sich durch eine »viel höhere Qualität« (ebd.) auszeichnet. Der Mensch werde sich nicht mehr wie ein »Arbeitstier« (ebd.) schin­ den. Stattdessen werde die Arbeit als erstes Lebensbedürfnis zum Ausdruck seiner Persönlichkeit (vgl. Ambrosi 2019, 150). Es werde ihm zukünftig freistehen, je nachdem wie es ihm beliebt, »morgens zu

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jagen, nachmittags zu fischen, abends Viehzucht zu betreiben [und] nach dem Essen zu kritisieren […], ohne je Jäger, Fischer, Hirt oder Kritiker zu werden« (Marx/Engels 1978 [1845–46], MEW 3, 33). Im Kommunismus sei deswegen jede Form von entfremdeter Arbeit schließlich aufgehoben (vgl. Ambrosi 2019, 159). Aus diesem Grund kennt die höhere Phase des Kommunismus bei Marx als materiale Utopie auch ein Ende der Arbeit; so wie es auch schon bei Fichte und Mill der Fall gewesen ist.

3.4 Oscar Wilde In seinem Essay Der Sozialismus und die Seele des Menschen vertraut Oscar Wilde (1854–1900) darauf, dass der Sozialismus – worunter er vorrangig die Abschaffung von Privateigentum versteht – in Bälde »das Problem der Armut [...] gelöst« (Wilde 1982 [1891], 68) haben wird. Ein »jedes Glied der Gemeinschaft« werde »so viel« haben »als es braucht« (ebd., 32). In ihm »wird es keine Menschen geben, die in stinkenden Höhlen und stinkenden Lumpen leben und kranke Kinder in unmöglicher und widerwärtiger Umgebung aufziehen. [...] Jedes Mitglied der Gesellschaft wird an der allgemeinen Wohlfahrt und dem Gedeihen der Gesellschaft teilhaben« (ebd., 9). Der Sozialismus bei Wilde lässt sich insofern als materiale Utopie interpretieren. Dieser werde es den Menschen erlauben, sich auszuprobieren und zu entdecken, sprich: ihre Individualität auszuleben. In der gegenwärtigen Gesellschaft gebe es einige wenige Menschen, denen es möglich sei »die Vollendung dessen zu erreichen, was in ih[nen] ist« (ebd., 7). Dabei handele es sich aber lediglich um »Ausnah­ men« (ebd.): Entweder stehen [die Menschen] nicht unter dem Zwange, für ihren Lebensunterhalt zu arbeiten, oder sie sind imstande, ein Tätigkeitsfeld zu wählen, das ihnen wahrhaft entspricht und ihnen Freude macht. Das sind die Dichter, die Philosophen, die Forscher, die Geistmenschen – mit einem Wort, die wirklichen Menschen, die Menschen, die sich selbst verwirklicht haben und in denen die ganze Menschheit eine teilweise Verwirklichung findet. Andrerseits gibt es sehr viele Menschen, die nicht im Besitz von Privateigentum und immer in Gefahr sind, in Not und Hunger zu sinken; so sind sie gezwungen, die Arbeit von Lasttieren zu tun, Arbeit zu tun, die ihnen ganz und gar nicht entspricht, zu der sie aber durch die unerbittliche, unvernünftige,

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entwürdigende Tyrannei der Not gezwungen werden. Das sind die Armen, und bei ihnen gibt es keine Grazie, keine Anmut der Rede, keine Bildung oder Kultur oder Verfeinerung der Genüsse, keine Lebensfreude. (ebd., 10f)

Was vorher nur einigen wenigen möglich gewesen sei, solle nun für alle erreichbar werden: die Möglichkeit, an sich selbst zu arbeiten. Dies möglich zu machen, sei die historische Mission des Sozialismus. Er sei »lediglich darum von Wert, weil er zum Individualismus führt« (ebd.). Die Menschen würden ihre Persönlichkeit »vollständig verwirklichen« (ebd., 17) können. Sie werde »sehr wundervoll sein« (ebd., 22) und der »eines Kindes« (ebd.) gleichen. Wilde verspricht dem Menschen nicht weniger als das Erreichen von Vollkommenheit: Unter einem vollkommenen Menschen verstehe ich einen, der sich unter vollkommenden Zuständen ausleben kann, einen, der nicht verwundet oder zerbissen oder verkrüppelt oder in ewiger Gefahr ist. (ebd., 21)

Wilde malt sich dieses Leben, das er dem Menschen in Aussicht stellt und das er auch als »christusgleich« (ebd., 28) bezeichnet, wie folgt aus: Er mag ein großer Dichter sein oder ein großer Forscher; ein junger Student oder ein Schafhirt auf der Heide, ein Dramatiker wie ein Shake­ speare oder ein gottdenkender Mensch wie Spinoza, ein spielendes Kind im Garten oder ein Fischer, der seine Netze auswirft. (ebd., 28)

Die Muße werde aber nicht so sehr durch die Abschaffung des Pri­ vateigentums ermöglicht als vielmehr durch den vermehrten Einsatz von Maschinen. »Von mechanischen Sklaven, von der Sklaverei der Maschine hängt die Zukunft der Welt ab« (ebd., 35). Durch diese solle die Arbeit »besorgt werden« (ebd., 33). So werde es möglich, alle körperliche Arbeit zu substituieren, an der Wilde nichts Würdevolles finden kann: Es ist geistig und moralisch genommen schimpflich für den Menschen irgend etwas zu tun, was ihm keine Freude macht, und viele Formen der Arbeit sind ganz freudlose Beschäftigungen und sollten dafür gehalten werden. (ebd., 33)

Alle schlechte Arbeit solle also von Maschinen übernommen werden: Jede rein mechanische, jede eintönige und dumpfe Arbeit, jede Arbeit, die mit widerlichen Dingen zu tun hat und den Menschen in abstoßen­

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den Situationen zwingt, muß von der Maschine getan werden. Die Maschine muß für uns in den Kohlengruben arbeiten und gewisse hygienische Dienste tun und Schiffsheizer sein und die Straßen reini­ gen und an Regentagen Botendienste tun und muß alles tun, was unangenehm ist. (ebd., 34)

Der Mensch werde dann nur noch Arbeit zu erledigen haben, in der er seine Individualität voll ausleben kann, in der er sein Menschsein vollendet, deswegen kann auch genau genommen nicht mehr von ›Arbeit‹ im eigentlichen Sinne des Wortes die Rede sein, schließlich gibt es kein Arbeitsleid mehr. Damit ist das Ende der Arbeit besiegelt. Wenn überhaupt »arbeiten« müsse nur noch die Maschine: Es ist durchaus kein Zweifel, daß das die Zukunft der Maschine ist, und ebenso wie die Bäume wachsen, während der Landwirt schläft, so wird die Maschine, während die Menschheit sich der Freude oder edler Muße hingibt – Muße, nicht Arbeit, ist das Ziel des Menschen – oder schöne Dinge schafft oder schöne Dinge ließt oder einfach die Welt mit bewundernden und genießenden Blicken umfängt, alle notwendige und unangenehme Arbeit verrichten. (ebd.)

Dem Menschen bleibe dann nichts anderes übrig, als das Dasein eines Künstlers zu führen (vgl. ebd., 63). Dass Wilde sowohl eine materiale Utopie entwirft als auch ein Ende der Arbeit voraussagt, stellt ihn in eine Reihe mit Fichte, Mill und Marx.

3.5 John Maynard Keynes6 Als weiteres Beispiel für eine materiale Utopie lässt sich auch John Maynard Keynes’ (1883–1946) Essay Economic Possibilities for our Grandchildren aus dem Jahr 1930 anführen. Inmitten der Weltwirt­ schaftskrise beschäftigt sich Keynes in diesem mit der zukünftigen Entwicklung des volkswirtschaftlichen Produktionspotenzials. Dabei wagt er eine Prognose über die ökonomische Lebensrealität der Menschen in einhundert Jahren, d.h. im Jahr 2030. Es ist folglich die Frage, worin die wirtschaftlichen Möglichkeiten der Enkelkinder seiner Generation bestehen, die er in diesem Essay zu beantworten sucht. Keynes provokante These – bedenkt man zumindest die zeit­ historischen Umstände, unter denen er sie aufstellt – lautet hierbei, 6

Für die folgenden Ausführungen vgl. auch Kremser (2020, 152–63).

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dass die große Depression eben keinen Beweis dafür darstelle, dass das Ende des Kapitalismus unmittelbar bevorstehe, sondern vielmehr als ein Anzeichen dafür zu werten sei, dass er gerade erst so richtig an Fahrt aufnimmt. Ausgehend von dieser Schlussfolgerung wagt Keynes einen Blick in die Zukunft. Dabei kommt er zu dem Schluss, dass im Jahr 2030 das wirtschaftliche Problem – die Befriedigung der grundlegenden Bedürfnisse des Menschen wie nach Nahrung, Kleidung und Obdach – gelöst sein werde (vgl. Walterkirchen 2012, 146): I would predict that the standard of life in progressive countries one hundred years hence will be between four and eight times as high as it is today. […] I draw the conclusion that, assuming no important wars and no important increase in population, the economic problem may be solved, or be at least within sight of solution, within a hundred years. This means that the economic problem is not – if we look into the future – the permanent problem of the human race. (Keynes 2013 [1930] a, CW IX, 325f)

Keynes entwirft also mit Economic Possibilities for our Grandchildren eine materiale Utopie. Dass das ökonomische Problem gelöst sein werde, bedeute allerdings keineswegs, dass die Menschheit gänzlich aufhören könne, zu arbeiten. Auch in Zukunft werde menschliche Arbeit für den gesamtgesellschaftlichen Produktionsprozess vonnö­ ten sein. Diese werde sich aber auf das geringstmögliche Maß beschränken. Keynes beziffert die Länge des zukünftigen Arbeitstages auf drei und die der Arbeitswoche auf 15 Stunden: For many ages to come the old Adam will be so strong in us that everybody will need to do some work if he is to be contented. We shall do more things for ourselves than is usual with the rich today, only too glad to have small duties and tasks and routines. But beyond this, we shall endeavour to spread the bread thin on the butter – to make what work there is still to be done to be as widely shared as possible. Three-hour shifts or a fifteen-hour week may put off the problem for a great while. For three hours a day is quite enough to satisfy the old Adam in most of us. (ebd., 328f)

Abgesehen davon, dass sich die für die menschliche Arbeit aufgewen­ dete Zeit reduzieren würde, werde sich auch der Charakter der Arbeit fundamental ändern. Sie werde merklich ihre Qualität verbessern. Die Menschheit werde nicht mehr aus wirtschaftlicher Notwendigkeit heraus arbeiten, sondern vielmehr, um sich die Zeit zu vertreiben.

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Dies stelle nicht nur ein Zugeständnis an den »alten Adam in den meisten von uns«, d.h. die psychologische Disposition, unentwegt arbeiten zu wollen, sondern auch an die Selbstverwirklichung dar (vgl. Ambrosi 2019, 150). Keynes geht somit auch von einem Ende der Arbeit aus. Die Lösung des ökonomischen Problems werde es der Mensch­ heit erlauben, sich der Verwirklichung höherer Ideale zuzuwenden, weil sie ihres traditionellen Zwecks – der materiellen Reproduktion – beraubt sein werde. Dann könne die Menschheit die geistigen Fähigund Fertigkeiten, die bisher ausschließlich zum Zweck des Selbster­ halts kultiviert worden seien, dank der komfortablen Situation, in der sie sich materiell von nun an befinde, freisetzen, um sie für die Verfolgung dessen, was Keynes als ›gutes Leben‹ bezeichnet (vgl. Skidelsky 2010, 202), dienstbar zu machen: Thus for the first time since his creation man will be faced with his real, his permanent problem – how to use his freedom from pressing economic cares, how to occupy the leisure, which science and compound interest will have won for him, to live wisely and agreeably and well. The strenuous purposeful money-makers may carry all of us along with them into the lap of economic abundance. But it will be those peoples, who can keep alive, and cultivate into a fuller perfection, the art of life itself and do not sell themselves for the means of life, who will be able to enjoy the abundance when it comes. (Keynes 2013a [1930] a, CW IX, 328)

Die neu gewonnene Muße werde es dem Menschen aber nicht nur ermöglichen, sich in der ›Kunst zu Leben‹ zu üben. Sie werde ihn auch in die Lage versetzen, sich gemeinsam mit seinen Mitmenschen an der Lösung kollektiver Probleme zu probieren, mit denen sich die Menschheit in ihrer Gesamtheit seit Anbeginn der Zeit konfrontiert sehe. Im Vorwort zu den Essays in Persuasion, in denen später auch Economic Possibilities for our Grandchildren veröffentlicht wurde, schreibt Keynes: [...] the day is not far off when the economic problem will take the back seat where it belongs, and [...] the arena of the heart and head will be occupied, or reoccupied, by our real problems – the problems of life and of human relations, of creation and behaviour and religion. (ebd., xviii)

Diese Worte, die sich einer prophetischen, fast schon eschatologi­ schen Sprache bedienen, zeigen: Keynes war der Auffassung, dass die ökonomische Praxis letztlich nur ein Mittel zu einem Zweck sei.

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Dieser bestehe in der Entwicklung menschlicher Potenziale. Diese Vorstellung zeugt zweifellos von einem gewissen Maß an Idealismus und beweist, dass Keynes zu den Vertretern eines aufgeklärten Huma­ nismus gezählt werden kann (vgl. Andrews 2010). Abschließend lässt sich festhalten: Auch Keynes – genauso wie Fichte, Mill, Marx und Wilde vor ihm – entwirft mit Economic Possibilities for our Grandchildren eine materiale Utopie, die ein Ende der Arbeit vorsieht.

3.6 Bertrand Russell Im Gegensatz zu vielen anderen meint Bertrand Russell (1872–1970) in Lob des Müßiggangs nicht, dass der technische Fortschritt erst in Zukunft die materiellen Voraussetzungen dafür schaffen werden, dass der Mensch weniger wird arbeiten können, sondern dass er dies bereits getan habe. So betont er mehrfach, dass sich »[d]ank der modernen Technik […] der Arbeitsaufwand, der zum Erstellen des Lebensbedarfs für jedermann erforderlich ist, ungeheuer herab­ setzen« (Russell 2019 [1935], 16) ließe – und zwar jederzeit. Dank ihr »wäre es möglich, allen Menschen Freizeit und Muße gleichmäßig zuzuteilen, ohne [einen] Nachteil für die Zivilisation« (ebd.) befürch­ ten zu müssen. Beides brauche heute »nicht mehr das Vorrecht kleiner bevorzugter Gesellschaftsklassen zu sein« (ebd., 15). Russell beziffert die weiterhin gesellschaftliche notwendige Arbeitszeit für jedermann auf vier Stunden pro Tag (vgl. ebd., 20), womit auch er ein Ende der Arbeit für die nahe Zukunft voraussagt. Wenn aber »[m]it den modernen Produktionsmethoden […] die Möglichkeit gegeben [ist], dass alle Menschen behaglicher und sicher leben können« (ebd., 32), warum sieht sich der Mensch überhaupt noch dazu gezwungen, weiterhin arbeiten zu müssen? Russell kann sich dies nur damit erklären, dass es die Menschen »vorgezogen« hätten, »dass sich manche überanstrengen und die anderen verhun­ gern« (ebd.). Die derzeitige Organisation der Wirtschaft stünde dem Ziel gegen, die Arbeitszeit zu reduzieren. Die Früchte des technischen Fortschritts würden fehlgeleitet, um Arbeitsplätze zu rationalisieren, anstatt die Arbeitszeit zu reduzieren. Russell folgert hieraus, »dass der Weg zu Glück und Wohlfahrt in einer organisierten Arbeitsein­ schränkung zu sehen ist« (ebd., 12), denn dann »hätte jedermann genug zum Leben und es gäbe keine Arbeitslosigkeit« (ebd., 20).

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Da Russells Vorschläge zu einer organisierten Arbeitseinschränkung dazu dienen, eine Gesellschaft zu schaffen, in der die Bedürfnisse der großen Massen der Menschen jederzeit befriedigt werden können, lassen sie sich als eine materiale Utopie auffassen. Hinsichtlich der hierfür notwendigen Reduktion der Arbeit ist Russell gewillt zuzugeben, »dass kluges Nützen von Freizeit und Muße das Ergebnis von Zivilisation und Erziehung ist. Wer zeit seines Lebens täglich lange gearbeitet hat, wird sich langweilen, wenn er plötzlich untätig sein muss« (ebd., 12). Um dieser Gefahr einer mög­ lichen Lethargie des von seiner traditionellen Hauptbeschäftigung unvermittelt befreiten Menschen zu begegnen, schlägt Russell neue Ziele für Erziehung und Bildung vor. Beide sollten »anstreben, Nei­ gungen und Interessen zu wecken, die dem Menschen eine gescheite Verwendung seiner Mußezeit ermöglichen« (ebd., 28). Was schwebt da Russell konkret vor? Er gibt die folgende Antwort: Ich denke dabei nicht in erster Linie an Dingen, die man als ›anspruchs­ voll‹ bezeichnen könnte. Bauerntänze kennt man heute nur noch in entlegenen ländlichen Gebieten, aber die Impulse, die zur Entstehung und Pflege dieser Tänze führten, können in der menschlichen Natur nicht erstorben sein. Die Unterhaltung der Stadtbewohner ist überwie­ gend passiv geworden; man sieht sich Filme an, geht zu Fußballspielen, hört Radio und so fort. Das ergibt sich aus der Tatsache, dass ihre aktiven Kräfte völlig von der Arbeit absorbiert werden; bei mehr Muße würden sie auch wieder an Unterhaltungen Vergnügen finden, bei denen sie aktiv mitwirken. (ebd.)

Russell rechnet damit, dass dieser aktive Zeitvertreib, obwohl er nicht anspruchsvoll zu sein braucht, doch auf allen Feldern des zwischenmenschlichen Miteinanders zivilisatorische Fortschritte zei­ tigen werde: Wenn auf Erden niemand mehr gezwungen wäre, mehr als vier Stunden täglich zu arbeiten, würde jeder Wissbegierige seinen wissen­ schaftlichen Neigungen nachgehen können und jeder Maler könnte malen, ohne dabei zu verhungern, und wenn seine Bilder noch so gut wären. Junge Schriftsteller brauchten nicht durch sensationelle Reißer auf sich aufmerksam zu machen, um wirtschaftlich so unabhängig zu werden, dass sie die monumentalen Werke schaffen können, für die sie heute, wenn sie endlich so weit gekommen sind, gar keinen Sinn und keine Kraft mehr haben. Menschen, die sich als Fachleute für eine besondere wirtschafts- oder staatspolitische Phase interessieren, werden ihre Ideen entwickeln können, ohne dabei im luftleeren aka­

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demischen Raum zu schweben, was der Arbeit der Volkswirtschaftler an den Universitäten so häufig einen wirklichkeitsfremden Anstrich gibt. Die Ärzte werden Zeit haben, sich mit den Fortschritten auf medizinischem Gebiet vertraut zu machen, die Lehrer werden sich nicht mehr erbittert bemühen müssen, mit routinemäßigem Methoden Dinge zu lehren, die sie in ihrer Jugend gelernt und die sich in der Zwischenzeit vielleicht als falsch erwiesen haben. Vor allem aber wird es wieder Glück und Lebensfreude geben, statt der nervösen Gereiztheit, Übermüdung und schlechten Verdauung. Man wird genug arbeiten, um die Muße genießen zu können, und doch nicht bis zur Erschöpfung arbeiten müssen. Wenn die Menschen nicht mehr müde in ihre Freizeit hineingehen, dann wird es sie auch bald nicht mehr nach passiver und geistloser Unterhaltung verlangen. Mindestens ein Prozent wird sich wahrscheinlich in der Zeit, die nicht mit berufstätiger Arbeit ausgefüllt ist, Aufgaben von allgemeinen Interesse widmen, und da ihr Lebensunterhalt nicht von dieser Beschäftigung abhängt, werden sie dabei ungehindert eigene Wege beschreiten können und nicht gezwungen sein, sich nach den Maßstäben zu richten, die ältere Pseudowissenschaftler aufgestellt haben. Aber die Vorteile der Muße werde nicht nur an diesen Ausnahmefällen zu erkennen sein. Die normalen Männer und Frauen werden, da sie die Möglichkeit haben, ein glückliches Leben zu führen, gütiger und toleranter und anderen gegenüber weniger misstrauisch sein. (ebd., 30f)

Das hat nun Russell aber mit Fichte, Mill, Marx, Wilde und Keynes gemeinsam: Auch bei ihm geht die materiale Utopie mit einem Ende der Arbeit Hand in Hand. Nachdem ein paar Beispiele für ein Ende der Arbeit in ökonomischen Utopien vorgestellt wurden, soll nun der Frage nachgegangen werden, was diese über die normativen Grundlagen der Wirtschaftstheorie verraten.

4. Die normativen Grundlagen der Wirtschaftstheorie7 Was lässt sich aus der Zusammenschau der Visionen der wirtschaft­ lichen Zukunft von Fichte, Mill, Marx, Wilde, Keynes und Russell lernen? Allen diesen Visionen ist zunächst gemeinsam, dass sie das Bild eines wirtschaftlichen Zustandes der materiellen Bedürfnislosig­ keit entwerfen; eine Welt frei von Armut und Not. Das macht sie zu materialen Utopien. Darüber hinaus sagen sie ausnahmslos eine 7

Für die folgenden Ausführungen vgl. auch Kremser (2020, 215–7).

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starke Reduktion der Arbeitszeit voraus. Gleichzeitig prognostizieren sie für die noch verbleibende, gesellschaftlich notwendige Arbeit eine qualitative Besserung, die im Verlust ihres leidvollen Charakters besteht. Der Mensch werde also in Bälde kaum noch arbeiten müssen und das, was er zu arbeiten habe, könne kaum als ›Arbeit‹ gelten. Alle diese Visionen von der ökonomischen Zukunft kennen somit ein Ende der Arbeit. Schließlich wissen sie noch davon zu berichten, was der Mensch mit seiner neu gewonnenen Freizeit anstellen wird. Seine Muße werde er nutzen, um sich selbst zu verwirklichen. Auf diese Weise leiste er nicht nur einen Beitrag zu seinem Wohlergehen, sondern auch zu dem der Menschheit. Materiale Utopien – das lässt sich hieraus mitnehmen – handeln von den Gründen, aus denen der Mensch wirtschaftet bzw. aus denen er eigentlich wirtschaften sollte. In ihnen wird insofern der ethische Gehalt der Wirtschaftstheorie greifbar. Sie helfen zu vergegenwärti­ gen, dass sich die Ökonomik ursprünglich auf einem normativen Fundament gründete. Warum ist es aber überhaupt wichtig, sich dieses Umstandes wieder bewusst zu werden? Für lange Zeit – von der Antike bis zu den Anfängen der Moderne – war die Ökonomik gemeinsam mit der Ethik und der politischen Philosophie unter der Trias der praktischen Philosophie vereint. Sie war deswegen eine normative Disziplin. Dies änderte sich zu Beginn des letzten Jahrhunderts allmählich. In der historischen Retrospektive stellt sich dieser Prozess als Paradigmenwechsel dar, der in der Emanzipation der Ökonomik von den übrigen Disziplinen der praktischen Philosophie hin zu einer von ihrem Selbstverständnis den Naturwissenschaften nahestehenden Wissenschaft bestand. Aus diesem Grund hat sich unter den zeitgenössischen Vertreter*innen der ökonomischen Zunft auch die Auffassung durchgesetzt, dass das Wirtschaftssystem eine eigene Funktionslogik besitzt, die es lediglich positiv zu analysieren gelte. Normative Urteile werden dabei als von außen an die Wissenschaft Herangetragenes und ihr Wesensfremdes betrachtet. Nach dieser Meinung hat sich Ökonom*innen darauf zu beschränken, technische Vorschläge dafür zu unterbreiten, wie die normativen Ziele, die aus anderen gesellschaftlichen Sphären, hauptsächlich der Politik, stammen, erreicht werden können. Es ist die Wirtschaft zu untersuchen, so wie sie ist, nicht wie sie sein sollte. Diese normative Taubheit hat aber die Ökonomik sprachlos gemacht, wenn es um Fragen der Gesellschafts- und Zukunftsgestal­ tung geht. Es fehlt ihr das Vokabular, um solche Fragen überhaupt

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noch adäquat erörtern zu können. Anstatt bei der Lösung der drängen­ den Probleme unserer Zeit – wie beispielsweise der sich immer mehr beschleunigenden Klimakatastrophe oder der zunehmenden globalen Ungleichheit – mitzuwirken, droht die heutige Ökonomik deswegen von den aktuellen Ereignissen und Entwicklungen übermannt zu wer­ den. Sich daran zu erinnern, dass die Ökonomik ursprünglich eine normative Disziplin war und jederzeit wieder sein kann, hilft sich von einem Primat der Werturteilsfreiheit, das vermutlich ohnehin bloß einen positivistischen Deckmantel darstellt, befreien zu können. Dafür braucht man sich nur vor Augen zu führen, dass es in der Wirt­ schaft vorrangig darum geht, menschliche Bedürfnisse zu befriedigen. Die Ökonomik leistet hierzu einen wichtigen Beitrag, indem sie nach den Gründen für den ›Wohlstand der Nationen‹ fahndet. Sie verfolgt damit ein zutiefst normatives Ziel. Sich dessen rückzuversichern, dabei können materiale Utopien und das von ihnen transportierte Bild eines Endes der Arbeit helfen. Dazu sind sie imstande, weil sie eine Erzählung – durchaus im Sinne von einem Narrativ – dafür anbieten, warum der Mensch überhaupt wirtschaftet. Unabhängig davon, ob ein Ende der Arbeit realistisch erscheint oder nicht, in jedem Falle macht eine ökonomische Utopie doch deutlich, dass das Wirtschaften zuallererst der Verwirklichung menschlicher Potenziale dienen sollte. Ziel des Wirtschaftens sollte die Befriedigung der menschlichen Bedürfnisse sein, so dass sich der Mensch anderen Aufgaben widmen kann als der des Wirtschaftens. In ihnen kommen auf diese Weise die meta-ökonomischen und vor allem normativen Voraussetzungen der Wirtschaftstheorie zum Vorschein. Gerne gerät in Vergessenheit, dass die Wirtschaft für die Men­ schen da ist, nicht umgekehrt. Monetärer Reichtum ist, wenn über­ haupt, nur ein Mittel zu einem Zweck und dieser Zweck besteht eben in der Entfaltung menschlicher Möglichkeiten. Das ist wahrer Reichtum. Die Zweckmittelbeziehung zwischen Menschen und Wirt­ schaft wieder zurechtzurücken, dazu können ökonomische Utopien und das mit ihnen transportierte Bild eines Endes der Arbeit einen Beitrag leisten.

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Birger P. Priddat

Märkte, Nicht-Märkte und gabenökonomische Reziprozitäten: zwischen Effizienz und Effektivität. Ökonomie als weites Feld des Wirtschaftlichen

Ökonomie als Komplexion diverser Allokationsformen Für die Einordnung des Ökonomischen wird im wirtschaftsethischen Kontext eine klare Unterscheidung zwischen dem Ökonomischen und allen Normen, Ordnungen, Moralen gesetzt. Jens Beckert nennt es, prototypisch für viele andere, das Sittliche. Er versucht damit ein wirtschaftliches Feld zu markieren (Beckert 2011), in dem nicht die Märkte dominieren, sondern alle Formen des Wirtschaftlichen, d. h. auch alle Nicht-Märkte als Wirtschaftsformen integrierbar sind. Es sind verschiedene Allokationsformen, die alle, auch wenn sie nicht-effizient auftreten, zur Ökonomie gehören. Sie hat eine viel breitere Dimension, breiter auch als die plurale Ökonomie (Priddat 2020a; Fridrich/Hedtke/Ötsch 2020) und die alternative Ökonomie (Habermann 2016, 2018; Helfrich/Bollier 2019) vermuten lassen. Die Befürchtung, dass die moderne Marktökonomie alle Bereiche der Gesellschaft ›ökonomisiert‹ (Priddat 2013), lässt sich nur der Tendenz nach, nicht aber empirisch aufrechterhalten. Allokation ist ein allgemeiner ökonomischer Begriff. Damit ist eine Form der Leistungszuordnung gemeint. Dass wir es gewohnt sind, allein die Märkte ihrer Effizienz wegen als wirtschaftliche Allokationsform anzusehen, ist eine Ideologie der modernen ökono­ mischen Wissenschaft (kritisch: Habermann 2018; Kennedy 2019; Spread 2019). Marktwirtschaft als »Allokation der Ressourcen über Konkurrenzpreise« (Richter 2017, 1) ist nur eine Form der Allokation im großen Spektrum anderer Formen, die sich im Gegensatz dadurch auszeichnen, dass sie – als non-markets – ohne Preise und ohne Wettbewerb auskommen. D. C. North spricht mit Bezug auf Karl

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Birger P. Priddat

Polanyis Differenzierung zwischen reziprozitären, redistributiven und exchange-Systemen (Priddat 2020b) von verschiedenen Alloka­ tionssystemen (North 1977). Dave Elder-Vass nennt die Ökonomie einen Versorgungszu­ sammenhang, zu dem weitaus mehr Aktivitäten als nur marktliche zählen: karitative Gaben, Freiwilligkeitsarbeiten, Blut- und Organ­ spenden, rituelle Geschenke zu Geburtstagen und anderen Anlässen, Hilfe für Freunde und Freundinnen, Nachbarn, Arbeitskollegen und sogar unbekannte Passanten, Vermächtnisse, die Schaffung digitaler Ressourcen, die dann im Internet kostenlos mit anderen geteilt wer­ den (einschließlich zum Beispiel Webseiten, Rat in Internetforen, Wikipedia-Einträge, Videos bei YouTube und Open Source Software), sowie und möglicherweise am wichtigsten das Teilen von Ressourcen und die Sorgearbeit im Haushalt. (Elder-Vass 2018, 52, vgl. Priddat 2016a und 2021) Inwieweit alle diese Phänomene Allokationsformen sind, muss untersucht werden, aber sie sind wirtschaftlicher Art, ohne bereits gleich in Marktmaßstäben bemessen zu werden: es sind nicht-kon­ traktuelle bzw. genauer: nicht-transaktionale Leistungsbeziehungen. Doch ist womöglich die Idee, die Wirtschaft über die Versorgung zu deuten, zu eng gefasst, da viele Bedürfnisse nicht auf einen Bedarf hin ausgerichtet sind. Spätestens in der modernen Konsumgesellschaft des 20. Jahrhunderts, die auf Bedürfniserweiterung ausgelegt ist, ist der Bedarf hochvariant und kommunikationsabhängig (Hohnsträ­ ter/Krankenhagen 2019). Eindeutig aber ist das Feld wirtschaftlicher Aktivitäten weit über das ausgefaltet, was wir effiziente Marktwirt­ schaft nennen. Dazu gehört z. B. auch der große Bereich der öffentli­ chen Güter, wie die soziale Dimension der (kommunalen) Daseins­ vorsorge (Elder-Vass 2018; Priddat 2016c;2021). Elder-Vass betont zudem eine gabenökonomische Dimension, die in der gewöhnlichen Ökonomik nicht auftritt und die wir vor allem im e-commerce wieder­ finden.

Das wirtschaftliche Feld: der Nexus verschiedener Allokationsformen Ich schlage eine Herangehensweise vor, die non-markets nicht als dem Ökonomischen gegenüber fremd, sondern als andere, als eigene Formen der Allokation deutet – und damit eindeutig als Formen des

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Märkte, Nicht-Märkte und gabenökonomische Reziprozitäten

Ökonomischen. Allokation hat die Bedeutung der Zuordnung von Gütern und Leistungen; je nach der Form der Zuordnungen ergeben sich andere Wirtschaftsgestalten. Indem wir uns angewöhnt haben, das Ökonomische fast aus­ schließlich mit einer spezifischen Allokationsform – der effizienten Allokation der Märkte – zu assoziieren, lassen wir gemeinhin alle anderen weiterhin parallel geltenden Allokationsformen außer Acht, die als gemeinsames Merkmal aufweisen, weder effizient noch markt­ lich zu sein, dennoch eine ökonomische Formation zu bilden. Dazu gehören in einem ersten Spektrum: die Allokationsform der Reziprozität (A1); die Allokationsform der Redistribution (A2), die Allokationsform der Markteffizienz (A3), die Allokationsform des Angebotes öffentlicher Güter (A4) und die Allokationsform der Institutionen (A5). Allerdings fehlen noch weitere bedeutsame Allokationsformen: die Allokationsform der Marktmacht (A6), und die Allokationsform des ökologischen Nexus (A7) die Allokationsform der Unternehmensorganisation bzw. allge­ meiner ihrer governance (A8) die Allokationsform der Plattformökonomie (A9). Die Einteilung lehnt sich im ersten Angang an Karl Polanyis Great Transformation an; er hatte drei Allokationsformen unterschieden: A1: Reziprozität, A2: Distribution und A3: exchange (Polanyi 1973), die er historisch, d. h. diachron, aufreihte. Er wollte zeigen, dass in der Moderne allein A3 übriggeblieben ist aus einer Vormoderne, in der A1 und A2 dominierten, und dass dem modernen Markt-Kapitalismus somit bestimmte Qualitäten abhandengekommen sind. Dabei bleibt aber übersehen, dass A1 und A2, wie auch A4 und A5, heute noch alle parallel gelten und existieren und insgesamt die Ökonomie ausmachen – als breites Spektrum des Ökonomischen bzw. als weites ökonomisches Feld. Nico Stehr spricht an anderer Stelle von einem In-between: The Simultaneity of the Non-simultane­ ous (Stehr 2022). Um den Sachverhalt zu vergenauern: die diachrone Reihe, die Polanyi aufmacht, die systemisch eine Nicht-Simultani­ tät bezeichnen soll, existiert in der modernen Wirtschaft simultan, d. h. synchron.

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Birger P. Priddat

Wenn man Allokation als Leistungszuordnungen betrachtet, dann ist die Tatsache, dass Leistungen tatsächlich, in welcher Form auch immer, zugeordnet werden, das allgemeinere ökonomische Kri­ terium als nur die geschichtlich herausgebildete Sonderform der effi­ zienten Marktallokation, die als quasi-transhistorische Suprastruktur die anderen Allokationsformen verdeckt – in Absehung von histo­ rischer Konstellativität und Dynamik. In der Marktallokation ist der Gewinn über monetäre Renten erfasst. Die non-markets hingegen generieren keinen monetären Gewinn (Profit), dafür andere Vorteile, Werthaftigkeiten oder Vor­ teilhaftigkeiten: vornehmlich gesicherte Versorgung, unabhängig von den eigenen Einkommen oder Einnahmen, aber auch Reputa­ tion, Anerkennung, Grundversorgung, Hilfen etc.. Im Kontrast zum Markttausch (exchange) kommen diese Zusicherungen als Redistri­ bution bzw. über Formen der Reziprozität (mutally care) ins Spiel. Die neuen Allokationsformen, z. B. sharing economy, sind keine Alternativen zum Kapitalismus (Sundararajan 2006; Dobusch 2019), sondern bereits immer schon synchron in einer breiteren Wahrneh­ mung des wirtschaftlichen Feldes vorhanden gewesen (wie z. B. die commons, die Genossenschaften, die Stiftungen, die Kollektivgüter etc.). Was nicht bedeutet, dass nicht neue Allokationsformen jen­ seits des Marktes arrangiert werden (Helfrich/Bollier 2019; Bruni/ Zamagni 2013; Tirole 2017; Habermann 2016). Und dass man gabenökonomische Reziprozitäten entdeckt, die weder tausch- noch transaktionsökonomisch analysiert sind (the mesh: Gansky 2010). Die Geschichte der Ökonomie ist eine der Transmutationen und Metamorphosen, eine Geschichte der Entfaltung eines spezifischen breiten kulturellen Feldes. Wir befinden uns z. B. gerade an einem neuen Spielbeginn, in dem neue Wirtschaftsformate jenseits des Kapitalismus und Sozialismus entworfen werden. Noch sind es meis­ tenteils konkrete Utopien (Kremser 2020), aber viele Änderungen in Wirtschaft und Gesellschaft bringen neue Allokationsformen mit sich, wie etwa die digital transformation völlig neue Formen der Plattformökonomie entfaltet (Elder-Vass 2018; Staab 2019; Müß­ gens/Priddat 2022). Und wie die ökologische Ökonomie andere Maßstäbe einführt, die sich weder in Preis noch Gewinn ausmünzen lassen (Charbonnier 2022; kritischer Chakrabarty 2022).

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Märkte, Nicht-Märkte und gabenökonomische Reziprozitäten

Die Allokationsformen im Einzelnen Die Allokationsform der Reziprozität: A1 – Reziprozität zeigt sich als soziale Form: geben – nehmen – erwi­ dern; sie beruht auf impliziten oder informellen Arrangements der Interaktion. Im Gegensatz zum Tausch muss eine Gabe nicht sofort oder nicht gleichwertig gegengegeben werden. Gegengeschenke wer­ den nicht nach ihrem Wert verrechnet. Es bleibt offen, wann und wieviel zurückgegeben wird, und ob. Man ist sich etwas schuldig, aber indem man schuldig bleibt, bleibt eine Beziehung stabil. Natürlich existieren reziprozitäre Allokationen auch heute; in den Familien, unter Freunden, in Vereinen, Stiftungen etc. (Priddat 2016a). Die Form einseitiger Gaben finden wir in öffentlichen Gütern, sozialen Transferzahlungen, Spenden etc. (A4). Was in den Familien und Verwandtschaftssystemen klassische Gabenökonomie blieb, ist auf den Staat übertragen eine moderne Form, die die klassische familiale Reziprozität über die neuzeitliche Form landesväterlicher Güte auf die Gesellschaft überträgt, mit völlig neuen (Wohlfahrts-) Formaten (A2 und A4). Weil die Gesellschaft keine Familie ist, ent­ stehen rechtliche Ansprüche aus politischen Setzungen. Die gaben­ ökonomische Reziprozität verwandelt sich in eine Form politischer Ökonomie (siehe dazu gleich ›öffentliche Güter‹). A1b – Über lange Zeit war in Europa die städtische Wirtschaft ständisch organisiert; wir notieren es als eine spezifische reziprozitäre Koordinationsform, in der Geben und Nehmen proportioniert und kontrolliert wurde (A1b). Im Unterschied zu den sozialen Formen reziprozitärer Interaktion ist die Stände-, Gilden- oder Zunftöko­ nomie institutional ausgestaltet: sie hat Marktform, ist aber stark kontingentiert, rationiert und geregelt (ein A1b/A5-Hybrid). Es sind kontrollierte Markt-Regime (›Polizey‹). A1c – Zur Zivilökonomie (Bruni/Zamagni 2013) zählen alle gesell­ schaftlichen, d.h. weder marktliche noch staatliche Formen von Leistungsarrangements (Helfrich/Bollier 2019). Dazu gehören careOrganisationen, sharing organisations, Selbsthilfe, Genossenschaf­ ten, commons etc., aber auch Stiftungen. Und es gibt neue zivil­ gesellschaftliche Kooperationsformen: Seit der Kreditkrise haben alternative Finanzmechanismen wie peer-to-peer-Kredite und crowd­

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funding, die sich auf alteingesessene gemeinnützige Institutionen wie friendly societies und credit unions beziehen, explosionsartig zuge­ nommen. Es wird die Ansicht vertreten, dass das Wachstum dieser Mechanismen darauf zurückzuführen ist, dass konventionelle Finan­ zierungen Unternehmer nicht effektiv finanzieren (Collins et al. 2013, 12). Das gemeinsame Merkmal dieser neuen Mechanismen ist, dass sie durch den Einsatz neuer digitaler Technologien die Finanzierung von Projekten direkt durch Einzelpersonen ermöglichen, ohne dass Finanzinstitute zwischengeschaltet sind. Da Intermediäre – Banken, Vermögensverwalter oder Versicherer – eine treuhänderische Pflicht haben, die in der Maximierung der Rendite für ihre Anleger/Einleger besteht, versäumen sie es oft, langfristige Projekte zu finanzieren, die keine sofortige Rendite versprechen. Durch die Ermöglichung von Direktinvestitionen, die nicht auf kurzfristige Gewinne ausge­ richtet sind, werden die neuen Finanzmechanismen häufig mit der Finanzierung von Projekten in Verbindung gebracht, die die Gemein­ schaften langfristig unterstützen. Glaubt man der Behauptung, dass Reziprozität eine wichtige Grundlage der Finanzwirtschaft ist, dann ist das Kriterium für die Bewertung einer Investition, ob es zu einem gegenseitigen Austausch kommt, und nicht, ob die Rendite für den Investor maximiert wird. Dieser Ansatz würde nicht nur die finanzi­ elle Grundlage dieser neu entstehenden, nicht gewinnorientierten Finanzmechanismen rechtfertigen, sondern auch dem Konzept der intergenerationellen Gegenseitigkeit Rechnung tragen, wie es von Stern (2008) befürwortet (Johnson 2015; vgl. auch die care-econ­ omy von Eisler 2020). Der Optimismus Johnsons gegenüber den kooperativen Konzepten der Marktkommunikation ist inzwischen ergänzt worden durch die Investitionen in cyber-money, die spekulativ anreizen (und deshalb bereits wieder kritisch gesehen werden (De La Riva 2022)). Aber es sind auf Gemeinschaftlichkeit abzielende Initiativen, zwischen Markt und Staat.

Die Allokationsform der Redistribution: A2 – meint alle umverteilenden Politiken. Die redistributive Alloka­ tion ist eine besondere Form der politischen Ökonomie, in der über die Politik und über Gesetzgebungen Ausgleichzahlungen an einkom­ mensschwache oder einkommenslose Bürger geleistet werden. Oder, wie in der Corona-Krise, an alle, die, durch staatliche Regelungen

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Märkte, Nicht-Märkte und gabenökonomische Reziprozitäten

aufgenötigte, Umsatz- oder Einnahmenausfälle haben. Was bei A1 als zivilgesellschaftlicher Modus selbständig verteilend entstanden ist, und heute neue Allokationsformen generiert: Genossenschaften, commons, sharing, etc. (A10), wird hier in A2 politisch gesetzt (sekun­ däre Verteilung). Eine aktuell diskutierte Form der Umverteilung ist das bedingungslose Grundeinkommen und generell natürlich das Sozialsystem.

Die Allokationsform der Markteffizienz: A3 – gilt als die Standardform der Allokation, wenn wir, wie heute üblich, darunter effiziente Marktallokation verstehen, d. h. ein Optimierungssystem auf der Basis von Preisinformationen im Wettbewerbsmodus. Standardform deshalb, weil in der Ökonomik Rationalität, Gleichgewichte und Optimierung einen methodischen Nexus bilden; alles andere wird als nicht-ökonomisch klassifiziert. D. h. das Ökonomische wird nicht heterogen über die diversen Arten von Leistungsbeziehungen aufgefasst, sondern formal über rationales Verhalten und Modellierungsfähigkeit formatiert. Implizit liegt hier eine ökonomische Pädagogik vor, die allen Marktteilnehmern lehren möchte, rational zu agieren, möglicherweise sogar eine Ethik der Effizienz. Eben damit wird aber das ökonomische Feld begrenzt (Kennedy 2018; Spread 2019; Priddat 2016b; 2019).

Die Allokationsform des Angebotes öffentlicher Güter: A4 – bezeichnet mit den öffentlichen Gütern einen Hybrid aus Umverteilung (A2) und Reziprozität (A1) (A4/A1/A2-Hybrid). Da jeder Bürger die öffentlichen Güter frei nutzen kann, ohne notwendig dafür zahlen zu müssen (Nutzerkollektiv > Zahlerkollektiv (Steuer­ zahler)), sind es Geschenke an die Nichtzahler, aber nicht freiwillig zivilgesellschaftlich (wie A1c), sondern politisch, als Umverteilungs­ institution, regelhaft gesetzt (A2) (Priddat 2008; 2016a). Damit ist der Hybridcharakter sogar noch erweitert auf A5: als gewährleistende institutionale Qualität (A4/A1/A2/A5-Hybrid). Es fragt sich, ob die Nomination Geschenke angemessen ist. Strukturell gabenökonomisch fassbar wäre es angemessener, von Überlassungen zu reden oder sozialen Infrastrukturen. Die öffentli­

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chen Güter, die man selber nutzen will, können nur genutzt werden, wenn sie anderen ebenfalls zugänglich sind (joint utility, auf Deutsch klassisch der Gemeinnutzen) (Tirole 2017). In dem Sinne sind sie Geschenke nur an die, die sie nicht mitfinanzieren. Von der konzep­ tionellen Verfassung her sind alle Bürger gleich berechtigt, öffentliche Güter zu konsumieren. Das Markt- und Effizienzprinzip ist eindeutig ausgesetzt. Bei den Gesundheitssystemen zeigt sich, in der Corona­ krise besonders, dass eine bestimmte Quantität an Daseinsvorsorge bereitgehalten werden muss, wenn der Versorgungsauftrag ernst genommen werden soll. D. h., es muss gewährleistet sein, dass jeder den Anspruch, versorgt zu werden, im Normalfall auch realisiert bekommt. Die Allokation, die hier gefordert wird, ist die der effekti­ ven Leistungskoordination jenseits des Marktprinzips. Das entfaltet, wenn es hochkommt, wertvolle Effektivität bzw. Wirksamkeit, ist aber kein konkurrenzmoduliertes Preisoptimierungsprogramm.

Die Allokationsform der Institutionen: A5 – umfasst die Institutionen i. e. S., die ein rule following als Regelverhalten benötigen. Nach D. C. North gehören dazu formelle Institutionen (Gesetze etc.) wie informelle: in einem weiteren Sinne alle Normen, Regeln, Ordnungen (North 2005; Priddat 2004). Insti­ tutionen bilden eine große Gruppe von Nicht-Märkten im wirtschaft­ lichen Feld. Wenn erwartet wird, dass alle sich an die Regeln halten (Erwartungsgleichgewicht), haben wir es mit einem Interaktionsmus­ ter zu tun, das nicht durch Maximierung gekennzeichnet ist, son­ dern durch gleichgerichtetes Verhalten: ein spezifischer reziprozitärer modus collectivus. Die Regel erscheint als Anreiz, sich regelgemäß zu verhalten, ohne ein Bewusstsein oder eine notwendige Einsicht auszubilden, ein gemeinsames Projekt zu veranstalten, d. h. ohne normative Bedingungen, wenn auch in normativer Funktion.

Die Allokationsform der Marktmacht: A6 – ist zum einen eine ökonomische Allokationsform (A6a), die als Monopol bzw. Oligopolmarkt das Gegenteil der wettbewerblich generierten Markteffizienz darstellt. Es sind genau die Marktallokati­ onsformen, gegen die Adam Smith seine Political Economy entworfen

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Märkte, Nicht-Märkte und gabenökonomische Reziprozitäten

hatte, gegen die absolutistischen Reste im Wirtschaftsgeschehen. Zum anderen ist es eine Allokationsform (A6b), die auf eine forcierte Kooperation von Regierung und Märkten hinausläuft; manche nen­ nen es eine Umverteilung nach oben (also eine negative Variante von A2), als Kohabitation von Politik/Marktinteressen, die über Lobbies Einfluss nehmen, was ebenfalls wettbewerbsfern vonstatten geht (A6b). Monopole sind nicht stabil, sie haben temporäre Existenz, bis sie (kartellrechtlich, politisch) aufgelöst werden, oder in neuen Wettbewerbssituationen untergehen.

Die Allokationsform des ökologischen Nexus: A7 – diese Allokationsform lässt sich gut als ökologisches Regime bezeichnen: anders als die Kohabitation von Politik und Märkten (A6b) haben wir es zum einen mit einer (A7a) Kohabitation von Recht und Märkten zu tun (das Umweltrecht qua Gesetz über die Politik) und zum anderen (A7b) mit öko-ökonomischen Komplexitäten, die die Natur und ihre Parameter als legitime Mitspieler im wirtschaft­ lichen Feld (Latour 2018) beanspruchen. Der Klimaprozess weist auf eine notwendige Limitation, die die offene Zukunft der Wachs­ tumspfade der Ökonomik schließen muss (Charbonnier 2022; Cha­ krabarty 2022). Bevor sich eine klimasensible Ökonomie entwickelt, werden wir es mit politisch-gesetzlich-rechtlichen Regelungen, eine erweiterte Form der politischen Ökonomie, zu tun bekommen.

Die Allokationsform der Unternehmensorganisation bzw. allgemeiner ihrer governance: A8 – ist eine Allokationsform, die erst seit Coase für die Ökonomie eine besondere Aufmerksamkeit fand: Unternehmensorganisationen sind Leistungskoordinationsinstanzen, die nicht-marktlich arbeiten (ohne interne Preise und ohne internen Wettbewerb). Sie sind non-marktes within markets. Eigentlich eigene Allokationsformen nicht des Marktes, sondern innerhalb des Marktes, notwendig zu seiner wettbewerblichen Konstitution, aber selber, als Organisatio­ nen, intern nicht-wettbewerblich organisiert. Sie sind überhaupt Organisationen, keine Märkte. Neuerdings ausgeweitet wird diese Allokationsform auf die governance (A8b; Wieland 2007; 2018). In

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der relationalen Ökonomie von Josef Wieland z. B. wird das kulturelle und gesellschaftliche Feld in die governance der Organisationen einge­ woben (Wieland 2007; 2018). A8 ist die häufigste nicht-marktliche Allokationsform, die vornehmlich nur in Märkten vorkommt bzw. von der Angebotsseite her die Märkte überhaupt erst konstituiert. Die Governance-Theorie begrenzt sich nicht auf Unternehmen. Der Begriff der Governance-Gesellschaft steht dafür, »Markt und Staat als mögliche Governance-Strukturen zur Steuerung ihrer Transaktionen zu betrachten. Aber nicht als die einzigen oder dominanten. Eine Theorie der Governance-Gesellschaft geht weiterhin nicht von der Dichotomie von Markt oder Staat aus, sondern von einer Gesellschaft freier Bürger, die sich entscheidet, welche ihrer Aufgaben sie durch welche Governance-Struktur erledigen möchten« (Wieland 1999, 122). Die Aufhebung der Dichothomie von Markt und Staat gilt ebenso für die Aufhebung der Dichothomie von market und nonmarket, die sich in ein Spektrum von hybriden Allokationsformen aufhebt. Das Spektrum allfälliger Allokationsformen jenseits des Marktprinzipes ist breit.

Dazu gehört die Allokationsform der Plattformökonomie: A9 – Plattformen sind – genau umgekehrt als wie in A8, wo Unter­ nehmen in Märkten operieren – Unternehmen, die Märkte anbieten (Staab 2019; Seemann 2021). Die Plattform ist der Markt; er hat die Besonderheit, einer privaten Firma zu gehören. Philipp Staab spricht deshalb von einem »proprietären digitalen Kapitalismus« (Staab 2019). Solche organisierten Märkte bekommen eine Vertriebs­ infrastruktur, für die beteiligten Firmen zahlen, deren Valenz aber das, was sie zahlen, weit übersteigt: gleichsam ein Geschenk der Plattform, an dem beide gewinnen. Es sind paradoxe Figurationen: gabenökono­ mische preislose (Geschenke) wie profitable Transaktionen zugleich. In ihrer digitalen Extension wird die Ökonomie hybrid: excessive profitably and beyond profit together. Eine erste Summe: Alle nicht-marktlichen Allokationsformen (A1, A2, A4, A5, A6b, A7) operieren weder über Tausch noch über Transaktionen, sind nicht preislich sortiert, noch im Wettbewerbsmo­ dus. Transaktionen sind immer Güter/Geld-Relationen, also mone­ täre Instanzen, die deshalb für nicht-marktliche Beziehungen und Interaktionen erst einmal wenig brauchbar erscheinen. Dass in den

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Märkte, Nicht-Märkte und gabenökonomische Reziprozitäten

Transaktionen reziprozitäre Beziehungen entstehen und gelten kön­ nen, ist an anderer Stelle untersucht (Priddat 2016b; 2019): die Transaktion kann in einen sympathetischen Mutualismus umschla­ gen, indem sich die Partner gegenseitig Geschenke anbieten, wenn die anonyme Vertragsbeziehung in eine freundschaftliche umschlägt (vgl. van Berkel 2020). A8 ist noch ein eigener Modus: eine Orga­ nisation als Geschäft, d. h. eine intern wettbewerbsferne Organisa­ tion als extern wettbewerblicher for-profit-business. Ihre Wissensfor­ men beruhen auf je eigenen Medien und Kommunikationsweisen (Mirowski/Nik-Khah 2017); jedenfalls sind die Preise nicht die einzigen Informationen bzw. oft gar keine Information (Elder-Vass 2018, 174f). Deshalb sind sie aber nicht sogleich moralischer Art. Wir bewe­ gen uns mit ihnen in einem Gelände des Ökonomischen, das die Markt-Effizienz-Theorie der Ökonomik uns auszusparen angewöhnt hat (um es als unleugbare Phänomene der Ethnologie, der Sozio­ logie, der Politik zu überlassen, und damit für die Ökonomik die eigene Methodologie sichernd). Es sind aber Allokationsformen, somit genuin dem Ökonomischen zuzuordnen. Die verschiedenen Allokationsformen haben ihre je eigenen Leistungszuordnungslogiken, sind aber nicht gegeneinander aus­ tauschbar. Wenn man die effizienten Marktallokationen in den Mit­ telpunkt stellt (A3), blendet man aus, welche Leistungsdimensionen durch parallel operierende andere Allokationsformen erbracht, aber nicht berechnet werden. Dabei ist es möglich, dass die Leistungser­ stellung in den anderen non-market-Allokationen eine Bedingung der Möglichkeiten von markteffizienten Allokationen ist; so eindeutig bei den öffentlichen Gütern (A4), davon besonders die Bildungsgüter; in vielen innerfamilialen reziprozitären Leistungen (A1), die Teile der Familien für die Arbeitsmärkte freistellen. Aber genauso sind unabhängige Allokationsmuster möglich, allerdings nicht als Ersatz der Marktwirtschaft, sondern in komplementärer Einbettung und Nachbarschaft. Ihnen gemeinsam ist: sie sind alle nicht-kontraktuelle Leistungserstellungen. Also, wenn auch nicht-marktlich, ökonomi­ sche Relationen. Viele Hybride existieren, so z. B. das Dreiecksverhältnis im Sozialrecht zwischen pflegebedürftigen Menschen, Pflegekassen und Pflegediensten. Zwischen Bedürftigen und Pflegekassen gibt es einen Vertrag, der die Kostenübernahme regelt; zwischen Pflegekassen und Pflegediensten gibt es einen Vertrag, der die Pflegleistung entgilt. Und

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zwischen Pflegediensten und Bedürftigen gibt es einen Leistungs­ vertrag. Es ist ein kontraktuelles institutionales Arrangement, aber ohne Marktpreise, sondern nach politisch sozialrechtlich festgelegten Entgelten – ein non-market – aber mit Vertragsrelationen, auch ohne Wettbewerb. Die neuen Narrative der Postwachstumsökonomie sind meisten­ teils krisenassoziierte politische Erwartungshaltungen und nur in Ausnahmen durchdachte ökonomische Theorien. Wir haben es mit dem neu aufschwingenden Narrativ zu tun, dass es nicht-kapitalis­ tische Wirtschaftsformen geben könne, gemeinwirtschaftlicher Art (Felber 2018) oder über commons, die kollektiv bewirtschaftet werden (Helfrich/Bollier 2019; Habermann 2016). Wie mit der sharing economy haben wir es mit Allokationsformen zu tun (Sundararajan 2016; Dobusch 2019), die A1 und A2 zuzuordnen sind. Wenn wir hier von einem neuen Narrativ sprechen, gehen wir davon aus, dass es noch weitere Modelle/Konzeptionen geben wird, die in diesem kooperativen Modus des Wirtschaftens entworfen werden. Es gibt hier mehr Metaphern als ausgereifte Konzeptionen, und es gibt hierbei mehr Konzeptionen als ausgereifte, nachhaltige Praxis. Wir werden experimentieren müssen. Im weiten wirtschaftlichen Feld haben wir es mit einer liberalen Diversität von Allokationsformen zu tun, die nicht mehr automatisch auf ihre Effizienz oder Optimalität geprüft werden, sondern erst einmal darin ausreichend beschrieben sind, wenn sie ihre spezifi­ schen Interaktionsformen und Handlungsziele nennen können. Das Ökonomische ist im Grunde erst einmal eine Art und Weise, den Lebensunterhalt zu besorgen, d. h. sich und seine Familie, seinen Stamm, seine Kommune, sein Land zu versorgen. Liberal heißt diese Diversität, weil sie keine Allokationsform prämiert, sondern den jeweiligen Nexus bestimmen und beschreiben will. Deshalb gibt es keinen rationalitätspädagogischen Kern (wie A3 neoklassisch gerne verwendet wird) und auch keine missionarische Methodologisierung der Welt, sondern ganz liberal erst einmal nur eine Koexistenzbeob­ achtung.

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Märkte, Nicht-Märkte und gabenökonomische Reziprozitäten

Gabenökonomie. Eine Extension des ökonomischen Interaktionsfeldes Scheinbar in der Historie und in die Ethnologie versunken, spielt die Gabenökonomie für die moderne Ökonomie keine Rolle, wohl aber in der Wirtschaftsphilosophie, worin sie eine eigene, vornehmlich fran­ zösische, Linie ausgebildet hat (Henaff 2009; 2014). Karl Polanyis’ alte Vermutung, dass die Ökonomie drei Zustände bzw. Allokations­ muster kenne: Reziprozität, Redistribution, exchange (Polanyi 1973; Priddat 2020b), wird inzwischen historisch nach- und konzeptionell aufgearbeitet (Priddat 2021). Die Gabenökonomie ist seitdem kein bloßes Derivat ethnologischer und anthropologischer Forschung von vorgeschichtlichen Ethnien mehr, sondern eine Ökonomie der ver­ wandtschaftssystemischen Produktions-, Kredit- und (Priddat 2016a; Müßgens/Priddat 2022). Was in diesem Abschnitt entfaltet wird, ist eine Extension der A1-Struktur, was gabenökonomisch noch wenig geübt ist. Die Dimension des Ökonomischen, die die gabenökonomische Wirtschaftsphilosophie bis heute mit umfasst: Freundschaften, Fami­ lien, Verwandtschaften, öffentliche Güter, Sozialverhalten (fairness), Stiftungen, Formen gemeinschaftlicher Produktion etc. Aber auch obligatorische Formen reziprozitärer Korruption sind noch wenig erforscht, am ehesten in der Wirtschaftssoziologie und Ethnologie (Krul 2016; vgl. auch Bomke 2021). Gestützt werden diese Forschun­ gen durch neue Ansätze zur Reziprozitäts- und Altruismus-Ökono­ mie in der spieltheoretischen Ökonomie (Bowles et al. 2006; Falk 2003 thematisiert explizit einen homo reciprocans, der den homo oeconomicus ersetze. Vor allem: Malemendier et al. 2014). Und durch eine kooperationsausgerichtete Sozialökonomie (Kriegler 2019). Die Gabenökonomie ist weder politisch (noch politische Ökono­ mie) noch ethisch noch ökonomisch (im Sinne einer pure economics), sondern ein Hybrid, der geschlossene Verwandtschaftssysteme, die Innen/Außen bzw. wir/die Anderen-Unterscheidungen und hierar­ chische Binnenstrukturen kennt, meistens noch in Ritualformen und in symbolisches Kapital eingebunden. Gabenökonomie ist in der Anthropologie/Ethnologie ein Oberbegriff von Interaktionsformen innerhalb und zwischen Clans: es geht wesentlich um symbolischen Austausch (z. B. von symbolischem Kapital im Sinne Bourdieus (Kamm/Seele 2015)). Streng ökonomisch betrachtet, aus dem Blick­ winkel einer Standardökonomie, ist das soziologisches Terrain. Aber

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die imaginären Güter, die in den Reziprozitätsmustern anfallen, stam­ men aus Leistungsbereichen, für die erhebliche Ressourcen aufge­ wendet werden (ähnlich wie heute z. B. in den digital markets (Priddat 2014, Kap. 2; Elder-Vass 2018, Teil III; Müßgens/Priddat 2022)). Wir hatten das bereits unter der Rubrik nicht-kontraktueller Leistungszuweisungen verbucht. Der Gewinn ist in den reziprozitä­ ren Strukturen nicht vordringlich der materielle Vorteil, sondern die Gewährleistung einer Beziehung, die wiederum ihre eigenen Loyali­ täten/Obligationen birgt (z. B. die Verpflichtung, gegenzuschenken). Aber eben nicht, wie im Tausch, sofort, sondern dann, wenn man kann, oder wenn der andere es braucht (Zeit und Menge/Qualität sind nicht äquivalenztheoretisch definiert). Der Gewinn ist die Beziehung, d. h. die Herstellung von Beziehbarkeit. Sogleich wird offensichtlich, dass wir das in der Struktur der Netzwerke wiederfinden: man kann Kontakte nutzen, bleibt aber selber eine Adresse. Wann und wie oft das aktiviert bleibt, ist offen. Wir haben es mit einem Dispositiv zu tun. Netzwerke sind eine moderne Version der relationalen Rezipro­ zität. Die Herkunft der Gabenökonomie aus der Ethnologie verdeckt aber nur ihre Präsenz in der heutigen Wirtschaft. Wir haben es bei der Gabenökonomie eindeutig mit einer leistungszuweisenden Ökonomie zu tun, die aber different zur modernen Standard- und Marktinterpretation ist. Zum Beispiel sind die Nutzen ungewiss: man weiß nicht, welches Gegengeschenk kommen wird und ob überhaupt (die Güterallokation von Lebensmitteln hingegen läuft in gabenöko­ nomischen Gesellschaften parallel, ohne größere symbolische Bedeu­ tung). Reziprozitäre Ökonomien oder Gabenökonomien umfassen soziale Transaktionen, die weder tauschäquivalent noch bepreist sind. Deshalb ist der Terminus gift-exchange irritierend, weil es wohl um so etwas wie Tausch, aber nicht um dessen bemessbare Äquivalenz geht (non-priced interactions). Wir haben es nicht mit Märkten, sondern mit ritualisierten Interaktionswelten zu tun, die Bindungen, Verpflichtungen und Loyalitäten bezeugen bzw. nachhaltig erhalten (nicht nur zwischen Menschen, sondern auch zwischen Menschen, Ahnen, Geistern und Göttern). Es geht um an Leistungsaufwendun­ gen gekoppelte Formen sozialer Bindungen, Soziologie, Ökonomie und Religion sind gleichsam ineinander verwoben. Gabenökonomische Reziprozität ist, im Unterschied zum Äqui­ valententausch, eine Form des Gebens/Schenkens, ohne direkte Responserwartung. In manchen Kulturen wird das Gegengeschenk

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Märkte, Nicht-Märkte und gabenökonomische Reziprozitäten

erwartet, in anderen bleibt es ein Dispositiv, das später, oft Generatio­ nen später, beantwortet wird. Verpflichtungen werden bewusst lange offengehalten, um die damit eingeleitete Beziehung zu extemporie­ ren: system of debt exchange, bzw. reciprocial debts. Bei Begleichung fiele die soziale Relation flach, d. h. der ganze soziale Bindungswert. Wir haben es generell mit nicht-monetarisierbaren Schuldrelationen zu tun. Die gabentheoretische Wirtschaftsphilosophie bzw. -soziologie ist für die Erklärung und Prognose der sharing economy bedeutsam, d. h. für jene Formen der Wirtschaft, die einem non-market-Muster folgen, in dem nicht die Effizienz, sondern die Effektivität primor­ dinale Geltung hat. Für die Ökonomie ist es methodisch kaum aus­ zuhalten, keine Effizienzprofile durchsetzen zu können; aber eine Versorgungsökonomie, in der es lediglich darum geht, einigermaßen versorgt zu sein (im modernen Nachschatten der antiken chreia: dessen, was man braucht), verfügt über einen viel breiteren ökonomi­ schen Raum als die modern economics (Priddat 2016a; Bruni/Zama­ gni 2013). Das Polanyi’sche Spektrum von reziprozitärer, redistribu­ tiver und exchange-Ökonomie ist keine bloße historische Sequenz, sondern existiert weiterhin parallel. Elinor Ostroms commons (Ost­ rom 2006) sind ebenso ökonomische Projekte wie es sozialistische Planungsökonomien waren, deren historisches Scheitern kein Grund ist, sie konzeptionell zu begraben, d. h. nicht als allokative bzw. Leistungssysteme anzusehen. Die Kritik, dass sie ineffizient seien, berechtigt nicht, sie nicht als Ökonomien anzusehen.

E-commerce als Gabenökonomie: digitale Ökonomie. Neue Allokationsformate I In den Internetmärkten ist die Gabenökonomie inzwischen selbstver­ ständlich, nur dass es noch nicht so kategorisiert wird. Die Empörung über Facebook, von Cambridge Analytica ausgenutzt worden zu sein, verkennt, dass es das normale Geschäft von Facebook ist, die gratis gelieferten persönlichen Daten zu verkaufen. Wir schenken den BigData-Konzernen unsere persönlichen Bewegungs- und Begehrlich­ keitsdaten. Wenn diese Daten, die Hunderte von Millionen Nutzern Facebook, Google, Amazon, Twitter etc. liefern, von den Konzernen bezahlt werden müssten (Information = Wissen als Ware), würde das datenökonomische Geschäft so kostenträchtig werden, dass die

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Dimension der digitalen Ökonomie erheblich kleiner ausfallen würde. »Verkaufen ist mit erheblichen Transaktions- und Marketingkosten verbunden. Und bei digitalen Produkten, deren übliche Grenzkosten nahezu bei null liegen, ist Verschenken eine erheblich günstigere Methode der Verbreitung« (Elder-Vass 2018, 211; mit Bezug auf Clippinger/Bollier 2006). Diese alte, scheinbar ›vormoderne‹ Form der Gaben-Ökonomie wird in der digitalen Welt hochaktuell. Die neue Marktlogik heißt: alle Nutzer des Netzes, der Cloud, sind frei. Jeder kann alle Infor­ mation, alle Daten nutzen. Das Internet ist ein großes öffentliches Gut. Deshalb ist es anscheinend auch legitim, dass einige die Daten intensiver nutzen als andere. ›Intensiver nutzen‹ heißt, über Algo­ rithmen Myriaden von Daten stochastisch auszuwerten, auf Muster hin, die man dann individuell verteilt für seine Geschäfte nutzen kann. Diesen Aufwand können nur wenige leisten (vgl. Priddat 2014, Kap. 2; Elder-Vass 2018, Teil III). Die Offenheit der Daten ist keine Garantie, sie auch effektiv nutzen zu können. Die Knoten dieser Netze sind asymmetrisch valent: es gibt rezeptionsstarke Knoten und viele passive. Ähnlich wie auf den Standardmärkten bilden sich auch hier oligopolitische/monopolistische Strukturen heraus. Wer kann die mannigfaltigen Netzkommunikationen stochastisch nutzen und zu Informationen verdichten? Wer kann die informationale Wertschöp­ fung betreiben und sich aneignen? Das ist kein Markt, weil keine Preise (Tauschwerte) gelten. Es finden keine monetären Verrechnungen statt, weil der Wert der Daten aus Gratisaneignungen entstanden ist (das ist eine andere Mehrwert­ generierung, eine andere Ausbeutung, als Marx sie analysierte). Wenn die Daten in der Big-Data-Ökonomie letztlich für persön­ liche, sehr spezifische Angebote genutzt werden, erscheint dieses Angebot, das einen besser zu kennen scheint als man sich selber, wie ein Geschenk (Hutter 2021; Priddat 2014, Kap. 2), auf das man für gewöhnlich freudig eingeht. In diesem Sinn werden in den Güter­ märkten der digitalen Ökonomie zwei kreuzweise sich überlagernde Geschenke getätigt: die geschenkten Daten auf der eine Seite und die daraus algorithmisch generierten Gegengeschenke, die äußerst persönlichen Angebote. Als ob einen der Anbieter im tiefsten Inners­ ten versteht. Hier laufen atavistische ökonomische Muster, mit einer eigenen Tiefengrammatik, inmitten der hypermodernen Ökonomien (vgl. Schulz-Nieswandt 2019).

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Märkte, Nicht-Märkte und gabenökonomische Reziprozitäten

Digitale Ökonomie (II) als hybrides Arrangement von Gaben, Märkten und Nicht-Märkten Die digitale Ökonomie hat eine gabenökonomische Dimension, die die Standardökonomie nicht im Blick hat, die aber notwendig ist, um die neue Komplexität der Verschränkung von Märkten und NichtMärkten in der digitalen Transformation zu verstehen. Nennen wir es den digitalen Nexus. Michael Hutter hat als erster in der Netzökonomie eine morali­ sche Verschuldungsökonomie entdeckt: Die Vielfalt und die Dichte der Netzwerke, die in den vergangenen Jahr­ zehnten entstanden, sind vielleicht das stärkste Anzeichen der media­ len Veränderung, die die Digitalisierung mit sich bringt. In diesen Netzwerken wird der Austausch selten über Zahlungen koordiniert. Die Teilnehmer sind verbunden durch gegenseitige Verpflichtungen: Danksagungen, Quellenzitate, vor allem aber wertende Kommentare übernehmen die Rolle der Schuldscheine. Hier entsteht eine Moral, die dem Problem der Schöpfung und Verwertung digitaler Inhalte angemessen ist. Die gesellschaftliche Koordination durch Schuldver­ hältnisse war durch die Erfolge der Gütermärkte im vergangenen Jahr­ hundert eher in Vergessenheit geraten. Unter den Bedingungen digital vermittelter Kommunikation entfalten Bindungen wie Dankbarkeit und Schuld neue Möglichkeiten, kreative Prozesse gemeinschaftlich zu organisieren. (Hutter 2012, 9f)

Im Netz entsteht eine Gaben-Tausch-Ökonomie (vgl. Elder-Vass 2018, Teil III, insbesondere Kap. 10), die sich auf einen reziprozitären Verpflichtungsmodus eingeschwungen hat. Hutters Erklärung macht den Währungscharakter deutlich: die Verpflichtung zu antworten, ist ein Schuldenbegleichungsvorgang. In der modernen Ökonomie, die vornehmlich auf freiwilligen, häufig nutzenangereizten Transak­ tionsverträgen beruht, weist das auf eine neue deontische Dimen­ sion: wenn die Nutzer der Netzkommunikation sich gegenseitig verpflichtet fühlen, zu antworten bzw. zu kommentieren, bilden sie dynamische communities, die in den Kommunikationen immer wieder neue Varianten, Foki, Bedeutungen einspielen (in der Ambiguität zwischen sharing und commodification; Dobusch 2019). Das sind keine anreizgenerierten, sondern obligatorische Reaktionen. Sind das legitimierte Reziprozitäten? Weit entfernt, eine Tau­ schökonomie zu simulieren, beruht sie auf unmessbaren, asymmetri­ schen Ein- und Austrägen.

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Alle Informationen, die Google, Amazon, Yahoo, Facebook etc. nutzen, sind Gratisgeschenke der Nutzer an die Firmen (Elder-Vass 2018, Teil III; Priddat 2021). In der jetzigen Fassung haben wir es mit asymmetrischer Reziprozität zu tun: die Datengeschenke werden von Google et al. profitabel genutzt, die Geber/Nutzer bekommen hingegen lediglich ihre individuell zugeschnittenen Angebote, d. h. einen Service, den sie nicht bestellt haben, aber ›dankbar‹ annehmen, als einen unverhofften geschenkten comfort of life. Durch diese dank­ bare Akzeptanz (in der Hutter’schen Diktion) verfällt der Blick dafür, dass sie längst bezahlt haben: über einen unfreiwilligen Kontrakt, den sie post hoc ›legitimieren‹, ohne die Preise zu wissen. Innerhalb der Märkte läuft eine marktferne Transaktionswelt, die den Anschein einer reziprozitären Moralökonomie hat, obwohl sie auf einer (ausge­ prägten) Wertschöpfungsasymmetrie beruht. Es gibt keine Preise, nur vage Verrechnungsanmutungen: Anstelle von wertäquivalenten Tauschaktionen werden wertunbe­ stimmte asymmetrische Transaktionen eingeführt, die lose gekop­ pelte Schuldökonomien aufbauen. Das ist identisch mit klassischen reziprozitären Mustern der Gabenökonomie, die für die Pause bzw. zeitliche Differenz, bis ein Gegengeschenk eben irgendwann einmal rückgegeben wird, einen Schuldzustand entstehen lassen. Es geht dabei um Bindung, nicht um Effizienz; weder um Märkte noch um Preise.

Multipler Nexus der Allokation: über die sechsfache Verschränkung von Märkten und Nichtmärkten. Neue Allokationsformate II Doch zeigt sich, wenn man genauer analysiert, dass die gabenöko­ nomische Dimension in einen komplexen Wirtschaftsnexus einge­ bunden ist. Sehr viele Nutzungen im Internet sind gratis, preis­ los. »Googles Suchmaschine agiert nicht auf einem herkömmlichen Markt. Nutzer sind keine Kunden, denn sie bezahlen nicht für ihre Suchanfragen« (Staab 2019, 30). Googles Gratisofferte einer Such­ maschine ist ein Geschenk an die Nutzer. Philipp Staabs Differen­ zierung zwischen Kunden und Nutzer weist auf die Differenz einer market- und einer non-market-Ökonomie hin: Kunden zahlen in Transaktionen, Nutzer nehmen die Gaben entgegen, for free. Doch ist diese gabenökonomische Dimension eingebettet in eine gleichsam

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Märkte, Nicht-Märkte und gabenökonomische Reziprozitäten

klassische Ökonomie: Google, wie auch andere Big-Data-Konzerne, lässt sich die Suchmaschine über Werbung bezahlen. Um den gaben­ ökonomisch dimensionierten non-market Suchmaschine herum ist ein Markt aufgestellt. Der Zusammenhang ist aber komplexer. Google verkauft den werbenden Firmen den Zugang (Markt 1) zu dem non-market der Suchmaschinennutzer. Markt (1) und der Suchmaschinen-non-mar­ ket bilden zusammen eine Infrastruktur für einen zweiten Markt, der die reellen Transaktionen bedient (Markt 2) – das, was man nach der Suche kauft, bzw. aufgrund der dortigen Werbung. Wir haben es mit einem triangulären double market/non-market-Hybrid zu tun. Google erhöht ständig die Varianz seines Angebotes, d. h. Google erhöht die Attraktivität für seine Nutzer, bindet sie und lockt neue an (z. B. über Maps, aber auch mit dem gesamten App Store). Durch diese erhöhte Wirkung kann mehr Werbung an die Firmen verkauft werden; die Investitionen in die gabenökonomische Dimension erhöhen Umsatz und Profit aus dem Werbungs-Markt (Markt 1). Google kann die Preise für Werbung erhöhen, weil Google über seinen non-market die Anzahl der user erhöht hat (vgl. Staab 2019, 31f). Bisher sprachen wir von reziprozitären, d. h. letztlich bilateralen Strukturen. Jetzt zeigt sich eine Verschränkung von Gaben- und Marktökonomie im Sinne einer triangulären Allokation zwischen Anbieter und Nutzern (non-market), zwischen Anbietern und Firmen als Werbekunden (Markt 1), zwischen Firmen und Kunden (Markt 2); mit einer in diesem Prozess sich vollziehenden Nutzer/KundenTransformation. Wenn die Firmen, die bei Google Werbung platzie­ ren, zugleich noch Kunden auf der Plattform (bei Google im App Store; bei Amazon direkt) sind, haben wir es mit einem dritten Markt (Markt 3) zu tun. Die Plattform ist der Markt; er hat die Besonderheit, einer privaten Firma zu gehören. Philipp Staab spricht deshalb von einem »proprietären digitalen Kapitalismus« (Staab 2019). An dieser nunmehr quartären Struktur sehen wir leicht, dass die gabenökonomische Dimension nur ein Viertel ausmacht und wir es mit einer komplexen Form der Markt-/Nichtmarkt-Verschränkung zu tun haben. Die Gratis- bzw. Geschenkofferten im Internet bilden den Kern der digitalen und der Plattformökonomien. Hier entstehen die Daten/Informationen, die die Big-Data-Konzerne als Kompen­ sation ihrer Gratisnutzungsangebote verstehen und entsprechend nutzen: Wachstum vor Profit.

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Das legitimatorische Argument der Big-Data-Konzerne läuft darauf hinaus, dass für die geschenkten Daten etwas zurückgege­ ben wird. Die Daten werden nicht einfach geschenkt oder illegitim genutzt, sondern sind reziprozitär eingebunden. Nur deshalb kann von einem non-market gesprochen werden im Sinne einer preislosen Allokation. Ein bloßes Geschenk wäre einseitig, ein Transfer ohne Respons. Non-markets können die Form eines preislosen matching haben, ein spezifisches market design (über die Theorie des matching im Konzept des market design vgl. Roth 2010; 2018; kritisch Rillin­ ger 2022). Wenn die Big-Data-Konzerne die Daten der Transkationen der Markt 2-Kunden verwenden, verwerten sie sie, indem sie für die Märkte 1 genauere Werbungsrelationen aufzeigen bzw. spezifischer anbieten können mit entsprechenden Preisvariationen. Der Kreis schließt sich, wenn wegen der erfolgreichen Werbung mehr Kunden bei den werbenden Firmen kaufen (Markt 2), sodass sich die steigen­ den Werbungskosten für die Firmen rechnen. Wenn sich dann noch die Firmen auf den Plattformen des Anbieters platzieren, verdienen die Plattformfirmen bzw. diese Firmen-Märkte an den Provisionen (Markt 3). Damit ist das Argument, die Konzerne gäben den Kunden etwas zurück, nicht von der Hand zu weisen. Nur sind das alles Leis­ tungen, die aus den drei eigentlich klassischen Märkten kommen. Neu ist der Umstand, dass diese Märkte über die Informationen/Daten, die aus dem Kaufverhalten der Kunden und aus den Suchverhalten der Nutzer generiert werden, nur nützlich werden durch die Verschrän­ kung der drei Märkte mit den gabenökonomisch dimensionierten non-markets. Man darf dabei nicht übersehen, dass das Geschenk der Daten an die Big-Data-Konzerne als Gegengeschenk auftritt, da man viele Dienste und Leistungen im Internet gratis nutzen kann. Suchmaschinen, Apps, Maps etc. sind for free. Auch die Angebots­ strukturierung und -listung durch Amazon, wie die dadurch mögliche bequeme Komparatistik. Die gabenökonomische Struktur entsteht aus den Gratisofferten im Internet, die die Nutzer unvermittelt in einen Zustand der Schuld versetzen, die aber uno actu aufgehoben wird durch die Begleichung der Gratisnutzungen durch Daten. Es ist eine Art impliziter Rezipro­ zitätsvertrag, den die Nutzer nicht bewusst eingehen, aber gelten lassen. Es ist ihr Gegengeschenk, das sie von der Schuld erlöst. Jaron Lanier weist darauf hin, dass hier das kapitalistische Sys­ tem aussetzt: Google et al. müssten, wenn es ökonomisch zuginge,

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Märkte, Nicht-Märkte und gabenökonomische Reziprozitäten

für jede Informationsnutzung und -verwertung an die Nutzer zah­ len, d. h. ihnen die jeweiligen Nutzungsrechte abkaufen. Erst dann wären wir wieder in einem klassischen Markt (Lanier 2014). Auch Raghuram Rajan spricht sich für eine customer ownership aus (Rajan 2020, 497): jeder Nutzer und Konsument soll Eigentümer seiner Daten sein. Allerdings weist Rajan darauf hin, dass »die meisten nicht in der Lage sein werden, die eigenen Daten zu verwalten, wo aber ein Bedürfnis entsteht, entsteht ein Markt« (ebd.); er meint damit »Informationsversorger« und »gebührenpflichte Bargaining Bots« (ebd., 498). Wenn Eigentumsrechte an Daten durchgesetzt wären, würden auch noch andere Märkte entstehen. Wenn einem die eigenen Daten gehörten, dann würden sie transaktionabel und man könnte sie Unter­ nehmen gegen Zahlung überlassen. Dann aber wäre man danach garantiert von den eigenen Daten ausgeschlossen. Wir haben es, wenn wir in die Komplexion des Quadrupels zurückgehen, mit weiteren Märkten zu tun (Markt 4 für das externe Datenmanagement; Markt 5 für den Dateneigentumverkauf). Der digitalökonomische Nexus könnte sich zu einem sechsfach verschränkten Gebilde aus 5 Märkten und einem kernbildenden non-market auswachsen. Vor allem würde durch die bisher nur erör­ terte Möglichkeit des Dateneigentumverkaufs, die gabenökonomi­ sche Dimension – die Produktion positiver Externalitäten der Daten durch digitale Such- und Kaufhandlungen – in einen Markt transfor­ miert (Markt 5). Die Daten würden nicht mehr verschenkt, sondern handelbar. Im sechsfach verschränkten digital-ökonomischen Nexus verschwände der reziprozitäre non-market und wir hätten es nicht mehr mit einem market/non-market-Hybrid zu tun, sondern mit einem verschränkten multiplen Marktfeld. Wir haben es bei der Frage des Dateneigentums mit zwei Mög­ lichkeiten zu tun, die beide in Marktlösungen enden. Gewöhnlich erklären die Big-Data-Konzerne sich als Eigentümer der Daten. Die meisten dieser Daten haben die Benutzer niemals willentlich an Internetfirmen übertragen, sie bilden ein kollektives Gut, das aber nicht als Gemeineigentum verfügbar ist. Die Firmen entscheiden, wie und ob die Gemeinschaft von der Nutzung dieser Daten profitiert. Sie pochen auf ihr Eigentum an ihren Daten. Vorausschauend versuchen die Internetunternehmen daher, ihre Nutzer dazu zu bewegen, sich ausdrücklich zu registrieren und eingeloggt zu bleiben. Damit werden

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die Daten aus unklaren Besitzverhältnissen den Nutzungsbedingun­ gen der Konzerne unterstellt. (Hoffmann/Schölkopf 2015, 14). Im Grunde läuft diese Strategie darauf hinaus, dass die Konzerne sich von Nutzern und Kunden die Zugriffsrechte zuschreiben lassen, d. h. sie verschenken. Oder anders gesagt: was vordem illegitime Aneignung von Daten war und nur funktional eine Gabe, wird jetzt in ein intendiertes Geschenk verwandelt, das ein zweites Mal geschenkt wird. Damit wird die illegitime Aneignung verrechtlicht und bleibt kostenfrei. Die zweite Möglichkeit, die Zueignung der Daten den Nut­ zern/Kunden, ist kostenträchtig, wenn die Nutzer/Kunden sie dann den Unternehmen zur Verfügung stellen bzw. die Nutzungsrechte verkaufen. Die schenkende Registrierung in Möglichkeit 1 wird hier zum kostenträchtigen Kauf der Nutzungsrechte. In dieser zweiten Möglichkeit wird ein neuer Markt eröffnet (Markt 5), in der ersten Möglichkeit wird der Marktspielraum der Big-Data-Konzerne legali­ siert. Doch gibt es noch eine ganz andere Argumentation: die Preis­ gabe privater Daten und Informationen ist die Bezahlung für die Nutzung des Internets. In diesem Sinne ist das Internet überhaupt nicht kostenlos, es wird nur in anderer Währung bezahlt. Diese Argumentation bleibt allerdings in einem bilateralen Transaktionsmodell gefangen, während wir es, wie wir zeigen konn­ ten, mit einem quartären Nexus von drei Märkten und einem NichtMarkt zu tun haben, der sich zu einem sechsfach verschränkten digital-ökonomischen Nexus ausfalten kann. Wenn man den Zusam­ menhang ökonomisch reflektiert, ist das Gratis-Nutzungsangebot im Internet längst durch andere Geschäftsmodelle finanziert. Auf der Anbieterseite haben wir es nicht mit reinen Gaben zu tun, sondern mit Gratisangeboten (für die Nutzer: non-market), die andere bezahlen (Markt 1 und Markt 3). Allein bei den Nutzern werden externe Effekte erzeugt, die als Daten/Informationen von den Konzernen genutzt werden (um die Daten nutzen zu können, braucht man informations­ systemische Infrastrukturen und vor allem Investitionen). Es gibt keine direkte market-relation zwischen Nutzern und Anbietern, aber indirekte Beziehungen: Wenn die Daten der Nutzer dazu führen, dass sie verstärkt Kunden werden bei den Firmen, die dafür an die Anbieter zahlen, finanzieren sie mittelbar die Gratisofferten. Das System der quartären Allokation beruht auf einer Transformation der Nutzer in Kunden. Man kann es revers testen: Wenn Nutzer nur die

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Märkte, Nicht-Märkte und gabenökonomische Reziprozitäten

gabenökonomische Gratisnutzung verwenden würden, aber aversiv auf Werbung und daran gekoppelte Transaktionen reagieren würden, würde das System zusammenbrechen. Die Gratisnutzung im Netz, die gabenökonomische Dimension, ist ein teaser, der letztlich wieder auf Märkte zurückführt (Märkte 1 und 3). Deshalb ist Laniers Argumentation verkürzt: Es geht nicht um schliche bilaterale Relationen, sondern um komplexe market/nonmarket-Verschränkungen. Nennen wie diese Komplexion den digital economic nexus; sie hat einen gabenökonomischen Kern.

Ein joint utility-Argument: Ethik der Aggregation Michael Sandel sieht eine andere Dimension, die wir bisher nicht berührt haben: »Wer über Fitness-Armbänder und sein Smartphone individuelle Gesundheitsdaten an seine Krankenkasse sendet, könne für dieses Entgegenkommen und einen entsprechend gesunden Lebensstil mit der Reduzierung seiner Beiträge belohnt werden. Oder mit einer frühen Diagnose einer Krankheit« (Sandel in Wagner 2016) Doch sind das alles noch bloß individuelle Anreize. Ein anderer Dis­ kurs läuft auf öffentliche Interessen an diesen Kooperationsformen heraus: »Je mehr Kunden ihre Daten hergeben, desto informativer werden die daraus generierten Wissensformen, etwa zur Entwicklung frühzeitiger Präventivprogramme, die allen zugutekämen« (ebd.). Selbst wenn kein individueller Nutzen aus der Datenhergabe generiert wird, nützt er allen zusammen über die statistischen Mus­ terauswertungen – eine joint utility als Ethik der Aggregation. Das aber ist ein neues Argument: Aus der ungefragten Datenentnahme wird jetzt eine Wohlfahrtsidee: Selbst wenn Big-Data dir persönlich nichts nützt (private utility), ist das allgemeine großflächige Daten­ sammeln immerhin anderen, d. h. über die statistische Musteraus­ wertung allen nützlich (joint utility). Diese neue Ethik des Aggregates entwickelt sich als Kehrseite der Transparenz: Wenn von den Kon­ zernen gefordert wird, dass sie offenlegen sollen, welche Daten sie erheben und wie verwenden, wird nun reziprok erforderlich, dass auch alle Individuen (Nutzer wie Kunden) ihre Daten transparent machen, also offenlegen sollen, um aus den großen Datenclustern Muster zu erkennen, die allen zugutekommen können. Die Diskussion um Apps, die Coronainfizierte identifizieren können, zeigt den Sinn dieser Technologien.

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Die Gabenökonomie hat ihre komplementäre Rolle im weiten Feld der Ökonomie. Viele Nicht-Märkte existieren neben den Märk­ ten. Manche sind eng verwoben, auf eine komplexe Art, z. B. im digitalen Nexus. Das eigentliche Forschungsfeld ist das der diver­ sen Allokationsformen und ihrer Rechtfertigungsordnungen. Die Bemühungen um eine alternative Ökonomie sollten, bevor sie neue Modelle erwägen, prüfen, ob es nicht längst non-markets gibt, jenseits von Preisen und Wettbewerben, die ihren Ansprüchen nahekommen. Und welche alternativen Allokationsformen künftig möglich sein werden – eine andere Dimension der Innovationen und der Start-ups (vgl. die Relation von Innovation und commons bei Potts 2019). Die non-marktes und ihre gabenökonomischen Abteilungen las­ sen sich nicht monetär in Profiten/Gewinnen ausweisen, aber sie haben andere Währungen: Reputation, Anerkennung, Versorgungs­ sicherung, Hilfsbereitschaft, care etc. Non-market-Werte bzw. Wert­ schöpfungen lassen sich nicht valide monetär übersetzen. Wir haben es in der Ökonomie mit multiplen, polyvalenten Systemen zu tun, die neben den monetär ausweisbaren Gewinnen und Nutzen der Marktökonomie parallele Vorteilsräume aufweisen, die dual, d. h. nicht additiv, gelten. Gegeneinander nicht verrechenbar, sind sie hin­ gegen miteinander verschränkt. Sie bilden heterogene Komplexionen, verknüpfen das monetär Rechenbare mit anderen Wertigkeiten, oder ersetzen die Rechenbarkeit durch ihre hochwertigen anderen Valen­ zen.

Und fortan? Wirtschaftsminister Habecks in Davos geäußerte Idee, angesichts der Energiepreissteigerungen im Frühjahr 2022 eine Instanz zu schaffen, die Energiepreise deckelt, um kooperativ eine nichtantagonistische Kostenstruktur zu bekommen, möglicherweise auch nur vorüberge­ hend, wäre eine Governancestruktur, die das monetär Rechenbare in einem kooperativen Fairnessmodus hält, um dem Machtspiel Russlands gegenzusteuern. Diese Hybridstruktur weist auf das unge­ heure Potential, das die experimentelle Setzung von anderen oder alternativen Allokationsformen birgt, vor allem im hybriden Bereich der Kombinationen verschiedener Formen. Wichtig dabei ist die Leistungserstellung, nicht vordringlich die profitable Form.

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Märkte, Nicht-Märkte und gabenökonomische Reziprozitäten

Bei den öffentlichen Gütern, die teilweise einer Privatisierungs­ reform unterzogen wurden, stellte sich oft heraus, dass zugunsten der Profitabilität die Qualität sank (so z. B. auch bei Reinigungsdiensten im öffentlichen Behördenbereich). Nichts spricht gegen eine Kosten­ effizienz bei non-marktes, aber die Leistungsqualität muss das Leit­ kriterium bleiben. Der Profit stört diese Leistungsdimension. Viele non-market-Arrangements wollen als ihr vornehmstes Kriterium Gegenseitigkeit und eine gewisse Form von verlässlicher Gemein­ schaftlichkeit. Jenseits des Gewinns sind das ebenso gültige ökonomi­ sche Praktiken, die in einer allgemeinen ökonomischen Theorie zum Bestand zu zählen haben. Die große Erzählung, dass der Kapitalismus alle Lebensbereiche ökonomisiere, ist eine Tendenz, aber keine allum­ fassende, denn man vergisst dabei, dass andere Allokationsformen als die marktlichen bereits längst schon als ökonomische Formen exis­ tieren. Und es kommen, forciert durch die Digitalisierung der Gesell­ schaft, ständig neue hinzu. Das gilt nicht bloß für den e-commerce, sondern auch für alle anderen Allokationsweisen, die über Apps und intelligente Programme ihre Leistungsdimensionen optimieren, ohne deswegen in den Sog einer Profitabilität zu geraten. Es reicht aus, gut zu sein (und sei es mithilfe von besten (Entlastungs-)Technologien).

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Masatoshi Sasaki

Das Verständnis des Gewinns im menschlichen Leben. Zur Dialektik des Begriffs Gewinn

Unter dem Himmel der Stadt, der mit aufgewirbeltem Staub schmutzig war, versammelte sich am Lotterieschalter eine Gruppe von Jungen.1 (aus Kondo, Hokorihukumachi (1948)) … (1) In der Nachkriegszeit schrieb der japanische Tanka-Dichter2 Yoshimi Kondo (1913–2006) dieses Gedicht in einer Stadt. (1) Der starke Wind wirbelte Staub auf und der Himmel in der Stadt schien schmut­ zig. In der so dunklen und tristen Stadt strömte eine Gruppe von Jungen, schon von Geldgier getrieben, zum Lottoschalter. In der Welt vertrauen die Menschen der Lotterie den Traum vom großen Geld an, wo die magische Kraft des »Gewinns« wirken muss. Aus der Sicht von Wissenschaft und Technik, die dem Positivismus anhängt, soll Irrationales in das Gebiet der Poesie verbannt werden, aber die Poesie sei, so Dilthey, Darstellung und Ausdruck des Lebens und erschließe dessen Verständnis. In Japan findet man eine dichterische Einstellung, die Diltheys Ansicht eingenommen hat. Das ist die Tanka-Dichtung durch »Lebensbeschreibung«. Es sollte möglich sein, das Verständnis von Gewinn im menschlichen Leben in der TankaDichtung durch Lebensbeschreibung festzuhalten. In diesem Aufsatz möchte ich mittels einer phänomenologischen Interpretation einiger 1 Alle in diesem Beitrag zitierten Übersetzungen aus dem Japanischen stammen vom Verfasser. 2 Tanka heißt auf Deutsch »Kurzgedicht« und hat im Japanischen grundsätzlich eine Gedichtform mit 31 (5–7–5–7–7) Moren. Bei der Übersetzung ins Deutsche wird es als fünfzeiliges Gedicht übersetzt.

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Tanka-Gedichte durch Lebensbeschreibung eine Möglichkeit zeigen, wie sich die Menschlichkeit in der modernen Gesellschaft, die von gierigem Gewinnstreben getrieben wird, zurückgewinnen ließe.

1. Das Fabrikgelände, auf dem Maschinen wie ein Sturm tobten, betrat ich, und sah dort nicht einmal den Schatten eines Menschen. (aus Tsuchiya, Sankokushu (1935)) … (2) Der japanische Tanka-Dichter Bunmei Tsuchiya (1890–1990)3 schrieb das Gedicht schon in den dreißiger Jahren des vorigen Jahr­ hunderts. (2) Als er das Fabrikgelände betrat, wo Maschinen lärmten, konnte er dort nicht einmal die Schatten der arbeitenden Menschen sehen. Es wurde bereits festgestellt, dass die Mechanisierung damals so weit vorangeschritten war, dass sie den Menschen nicht mehr benötigte. In der damaligen Gesellschaft fand er schon die »Tyrannei durch mechanische Technologie« und sie war sehr erschreckend. Er hatte Angst vor der ungehemmten, mechanischen Technologie, die sich vor ihm entfaltete. Es ist unnötig zu erwähnen, dass eine solche Situation jetzt noch weiter fortgeschritten ist. In der heutigen Zeit bewundern wir die Entwicklung von Wissenschaft und Technik und können kraft ihrer ein bequemes Leben führen. Daher wird in unserer Gesellschaft die wissenschaftlich-technische Zivilisation vor allem von den Menschen, die fanatisch an den Positivismus oder den Technizismus glauben, besonders hochgeschätzt, und jeder sucht eifrig nach der Nützlichkeit einer Sache. Horkheimers und Adornos Betrachtung in der Dialektik der Aufklärung (1947) zufolge wurde die Aufklärung als »fortschreitendes Denken« (Adorno 1997, 19) – also Wissenschaft und Technik – mit dem Ziel entwickelt, den Menschen zum Herrscher der Natur zu machen. In der Dialektik der Aufklärung schreiben sie: »Was die Menschen von der Natur lernen wollen, ist, sie anzuwenden, um sie und die Menschen vollends zu beherrschen. Nichts anderes gilt« (Adorno 1997, 20). Schließlich geht es dem 3

Seine Poetik wird später besprochen. Siehe Abschnitt 4.

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Menschen bloß darum, die Natur für sich selbst zu nutzen. Unter dem Gesichtspunkt der Aufklärung – also im Zeitalter der Technologie – wird ausschließlich die Nützlichkeit verfolgt. Auch Heidegger wies in Die Frage nach der Technik (1953) darauf hin, dass die moderne Technik die Natur ausschließlich für den Menschen nutzt. Nach der heideggerschen Betrachtung verlangt die moderne Technik, dass die Natur zum Wohl des Menschen beiträgt (vgl. Heidegger 2000, 15). Außerdem wird dabei, nach Heideggers Einsicht, der Mensch selbst bereits dazu provoziert, die Natur für sich zu nutzen (vgl. ebd., 18). So verstehen wir, basierend auf der Diskussion von Horkheimers, Adornos und Heideggers Einsicht, dass der Mensch im Zeitalter der Technologie dazu getrieben ist, die Natur zu beherrschen und zu nutzen. Auch in der heutigen Zeit besteht die Ansicht, dass die Menschen bestrebt sind, natürliche Dinge für den Menschen zu nutzen sowohl im Hinblick auf die Naturwissenschaften als auch auf die technologische Entwicklung. Darüber hinaus bringen die Fortschritte in Wissenschaft und Technik in diesem Fall wirtschaftliche Vorteile bzw. Gewinne, was eine Art starke Struktur der Herrschaft in der Gesellschaft schafft. In unserem Zeitalter der Technologie verschafft die Entwicklung der Technologie denjenigen, die über die Technologie verfügen, einen Vorteil gegenüber denen, die nicht über die Technologie verfügen, und gibt den ersteren Überlegenheit, wodurch eine Beziehung zwischen dem Herrscher und den Beherrschten hergestellt wird (vgl. Adorno 1997, 14–5). Diejenigen, die nicht über die Technologie verfügen, haben keine andere Wahl, als denen zu gehorchen, die die Technologie haben. Im heutigen Zeitalter der Informationstechnologie z. B. hat eine große Zahl von gewöhnlichen Benutzern auf der ganzen Welt keine andere Wahl, als den Entscheidungen einer sehr kleinen Anzahl von Giganten mit technologischer Kontrolle zu folgen. Wenn solche technologischen Fortschritte wirtschaftliche Vorteile haben, wie z. B. erhöhte Produktivität, erhalten das Technologiesystem und diejeni­ gen, die es betreiben, die soziale Macht, andere zu dominieren. Der einzelne Mensch ist angesichts der Wirtschaftsmacht in der Gesell­ schaft völlig machtlos. Mit anderen Worten: Die Technologie entmün­ digt den einzelnen Menschen, indem sie sich mit wirtschaftlichen Werten bzw. Gewinnen verbindet, und das menschliche Individuum verschwindet im System der Technologie. Im Zeitalter der Technolo­ gie entsteht durch die Verbindung der technologischen Fortschritte mit wirtschaftlichen Werten bzw. Gewinnen eine Beziehung zwischen

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denen, die Technologie haben und Wohlstand gewinnen, und denen, die dies nicht tun, d. h. eine bestimmte Beziehung, in der die Starken die Schwachen dominieren. Die Grundtendenz der Betonung auf Nützlichkeit und des Strebens nach Gewinn, verbunden mit dem Wunsch nach Herrschaft, dominiert nun die Gesellschaft. Diese Tage, in denen wir leben, dominiert bereits ohne Aussehen, ohne Heimat die Welt des Ölkapitals. (aus Kondo, Kansei (1960)) … (3) Eine solche Tendenz können wir beispielsweise beim Ölkapital erken­ nen. Der japanische Tanka-Dichter Yoshimi Kondo, der unter der Leitung von Tsuchiya die Tanka-Dichtung erlernt und sich auch sozia­ len Themen zugewendet hatte, schrieb 1960 so ein Tanka-Gedicht. (3) Es ist das unsichtbare, heimatlose Ölkapital, das bereits unsere Zeit und unsere Gesellschaft beherrscht. Riesiges Kapital, das Ressourcen belegt und riesige Gewinne daraus macht, hat nicht nur wirtschaftlich, sondern auch gesellschaftlich große Macht und strebt weiter endlos nach Gewinnen.

2. Wie Horkheimer und Adorno in der Dialektik der Aufklärung beton­ ten, befinden sich die heutigen aufgeklärten Menschen nicht in »einem wahrhaft menschlichen Zustand« (Adorno 1997, 11), sondern in »einer neuen Art von Barbarei« (ebd., 11) bzw. der »Naturverfallen­ heit« (ebd., 14). In dieser Ära der fortgeschrittenen Wissenschaft und Technik verschafft die Entwicklung der Technologie, wie bereits oben ausgeführt, denen, die über die Technologie verfügen, einen Vorteil gegenüber denen, die sie nicht haben, und wenn technologische Fortschritte wirtschaftliche Vorteile bzw. Gewinne bringen, erhält der Manipulator der Technologie die wirtschaftliche Macht, andere zu kontrollieren. Nun, hier besteht eine Art dominante Beziehung zwischen denen, die im Besitz neuester Technologie sind und reich werden, und denen, die der Entwicklung hinterherlaufen. Man kann sagen, dass eine solche Situation der neuartige, barbarische Zustand ist, in den die Menschen im Zeitalter der Technologie geraten, gleich­

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zeitig aber auch ein natürlicher Zustand, der dem gegenwärtigen Zeitalter eigen ist. Die Problematik im Zeitalter der Technologie finden wir nicht nur in dieser neuen Art der Barbarei. Während die technologischen Fortschritte das Leben der Menschen angenehmer machen, verursacht die Unterdrückung durch Herrschaft »die Fixierung der Instinkte« ebd., 52) und verringert die angeborenen Fähigkeiten des Menschen. Horkheimer und Adorno haben in der Dialektik der Aufklärung fest­ gestellt: Je komplizierter und feiner die gesellschaftliche, ökonomische und wis­ senschaftliche Apparatur, auf deren Bedienung das Produktionssystem den Leib längst abgestimmt hat, um so verarmter die Erlebnisse, deren er fähig ist. […] Die Regression der Massen heute ist die Unfähigkeit, mit eigenen Ohren Ungehörtes hören, Unergriffenes mit eigenen Händen tasten zu können, die neue Gestalt der Verblendung, die jede besiegte mythische ablöst. (ebd., 53f)

Wenn die sozialen, wirtschaftlichen und wissenschaftlichen Systeme, auf die die Menschen eingestellt werden, komplizierter und subtiler werden, werden die physischen bzw. sensorischen Erfahrungen der Menschen selbst immer ärmer. Die Degeneration der modernen Menschen in der von Wissenschaft und Technik dominierten Zeit zeigt sich in der Ohnmacht und Inkompetenz, nicht zu hören, was schwer zu hören ist, und nicht zu fangen, was schwer zu fangen ist. Diese Tendenz ist in der heutigen Zeit, in der die Technologie weiter fortgeschritten ist, besonders stark zu bemerken. In Bezug auf Arbeit und Leben sowie Unterhaltung und Freizeit gibt es immer weniger Sachen, die die Menschen selbst tun können. Künftig wird beispiels­ weise die Automatisierungstechnik mit künstlicher Intelligenz einen solchen Rückschritt weiter vorantreiben. Heidegger hingegen sah in Die Frage nach der Technik die wesent­ liche Problematik des Menschen darin, dass der Mensch im System der modernen Technik dazu provoziert wird, die Natur ausschließlich für den Menschen zu nutzen. Ursprünglich bzw. eigentlich sollte der Mensch die Natur so darstellen können, wie sie ist, aber im System der modernen Technik kann der Mensch die Natur nur als »nützlich« sehen. Das ist nach Heidegger nichts anderes, als dass der Mensch seinem eigenen Wesen nicht mehr begegnet. In diesem Sinne bezeichnete Heidegger diese Situation als die »Gefahr« der modernen Technik (vgl. Heidegger 2000, 28–9). Wenn die Fortschritte der modernen Technik in der Gesellschaft wirtschaftliche Werte bzw.

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Gewinne bringen, kann diese gefährliche Tendenz immer stärker werden, denn der Mensch wird von der Suche nach Gewinn getrieben und taucht zunehmend in das System der modernen Technik ein, um Gewinn zu machen. Wie wir schon oben gesehen haben, sind Wissenschaft und Technik in der heutigen Zeit unweigerlich eng mit der Wirtschaft verbunden, und die Fortschritte in Wissenschaft und Technik kön­ nen wirtschaftliche Vorteile bzw. Gewinne erzeugen. So wie die Unternehmen mit fortschrittlicher Technologie gedeihen, werden die Gewinne in der modernen Gesellschaft besonders mit dem Fortschritt von Wissenschaft und Technik zunehmen. Unnötig zu erwähnen, dass Gewinne die magische Kraft haben, Menschen anzutreiben, und wenn es keine besonderen Einschränkungen gibt, streben die Menschen normalerweise nach Gewinnen. Andererseits kaschieren Wissenschaft und Technik menschliche Schwächen, indem sie das Unmögliche im Menschen möglich machen. Elektrische Lichter ermöglichen es uns, im Dunkeln zu sehen, Flugzeuge ermöglichen es Menschen, in den Himmel zu fliegen, Computer ermöglichen uns, viele Berechnungen schneller durchzuführen, und jetzt trifft künstli­ che Intelligenz bei schwierigen Entscheidungen und Vorhersagen. Auf diese Weise haben die Menschen die Illusion, dass Wissenschaft und Technik alles können, was die Menschen wollen, und diese Illusion ist endlos. Daher werden die Menschen immer arroganter und gieriger, wenn Wissenschaft und Technik, die menschliche Schwächen verber­ gen, mit jenen magischen, wirtschaftlichen Gewinnen verbunden werden, die die Menschen grenzenlos antreiben. Auf diese Weise dominiert die arrogante und gierige Grundstimmung die menschliche Gesellschaft im Zeitalter der Technologie. Das Geheimnis der Stadt, die Reichtümer aus der ganzen Welt sammelt und einen Willen zum Reichtum hat, zeigt sich, als würde man auf einem Friedhof spazieren gehen. (aus Kondo, Ihosha (1969)) … (4) An der Wall Street, wo die Leute selten gehen, erheben sich überall die Mauern der Gebäude dunkel gegeneinander. (ebd.) … (5)

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Als der Tanka-Dichter Yoshimi Kondo New York, ein Finanzzentrum der Welt, besuchte, fand er dort eine einzigartige Atmosphäre und schrieb so Tanka-Gedichte. (4) Das Geheimnis bzw. die unheimliche Ruhe der Stadt, die Reichtümer aus aller Welt ansammelte und eine unstillbare Gier nach Reichtum oder Gewinn hatte, glich dem Geheimnis bzw. der Unheimlichkeit eines Friedhofs. Es war nach dem Eindruck Kondos auch wie die Stille einer riesigen Ruine. (5) Überall in dem Finanzviertel Wall Street, in dem kaum Menschen unterwegs waren, erheben sich die Mauern riesiger Gebäude, um sich gegenseitig abzustoßen. Das Finanzviertel, in dem sich Reichtümer aus aller Welt versammeln und die Gier nach Reichtum oder Gewinn wirbelt, zeigt sich als ein geheimnisvoller, unheimlicher, unmenschlicher Ort. Wie wir bereits erfahren haben, ist das derzeitige Wirtschaftssys­ tem in Verbindung mit Fortschritten in Wissenschaft und Technik zu einem rationalen System geworden. Im Wirtschaftssystem kann der tatsächliche Preis, der für die Erzielung eines Gewinns gezahlt wird, gering sein. Die Menschen können in manchen Fällen ohne großen Aufwand große Gewinne erzielen. Wenn das tatsächliche Gefühl für den Preis des Gewinns schwach ist, ist das Gefühl der Befriedigung des Erwerbs von Gewinn gering und der innere Wohlstand wird nicht erkannt. Das Gewinnstreben hört dann nie auf und eskaliert. So wurde die economic bubble – man kann leicht einen großen Gewinn erzielen, als würde man mit nassen Händen viel Hirse auf einmal greifen – geboren, aber wie wir alle wissen, platzte sie bald. Die economic bubble, die nicht real ist, ist nach dem Prinzip des Schicksals der Wohlhabenden dazu bestimmt, zu gegebener Zeit zu platzen. Nicht wenige Menschen haben sich ihr Leben mit der economic bubble verrückt gemacht. Die Situation in der economic bubble z. B. zeigt sich auch als eines der Phänomene, die durch die neue Art von Barbarei hervorgerufen werden. Dort wird die Ungleichheit der Menschen immer größer, der menschliche Geist wird tief erschöpft und die Gesellschaft desolat. Wenn wir diese kritische Situation der modernen Gesellschaft vernünftig betrachten, sollten wir fragen: Dürfen die Menschen so bleiben wie sie sind? Ist es nicht notwendig, irgendwie die Ansichten über Wohlstand und Gewinn zu ändern?

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3. Die Tendenz, die zu den Problemen in der modernen Gesellschaft führt, hat beispielsweise der japanische Ästhetiker Masakazu Nakai (1900–1952) schon in der frühen Nachkriegszeit erfasst. Laut Nakai wurden nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs durch den Fortschritt des Wiederaufbaus in verschiedenen Teilen der Welt einzelne Men­ schen in »einen riesigen Mechanismus, eine große Organisation im mechanischen Zeitalter« (Nakai 1981, 103) versetzt. Die Transforma­ tion durch mechanische Technologie, die in den 1950er Jahren in der Welt zu beobachten war, sei auf den »riesigen Mechanismus« zurückzuführen, und das Wesen des mechanischen Zeitalters liege im Kontrollsystem durch diesen Mechanismus. Nakai sagt: »Die Zeiten haben sich bis zu dem Punkt geändert, an dem wir uns unwohl fühlen, ob die Menschen den Mechanismus dominieren oder ob der Mechanismus die Menschen kontrolliert« (ebd., 120). Nakai zufolge erfasst der Künstler jedoch die Probleme des mechanischen Zeitalters – Standardisierung des Menschen, Verflachung von Werten usw. –, als ob ein kleiner Vogel instinktiv um das Herannahen eines Sturms wüsste (vgl. ebd., 137). Die Kunst drücke das »Stöhnen« und »Schreien« aus, wenn ein Mensch die »Leere« und »Kälte« im mecha­ nischen Zeitalter empfinde, in dem »universelle Mechanismen« wie »kalte Tauschbeziehungen« entstanden seien (Nakai 1981, 123). Auch Heidegger denkt, wie Hölderlin im Gedicht Patmos, »wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch«, und sieht eine der Möglichkeiten eines solchen Rettenden in der Kunst. Das Wesen der Technik ist laut Heidegger in erster Linie nicht technisch, sodass die Reflexion über die Technik und die Auseinandersetzung mit der Technik im Bereich stattfinden sollten, der sich einerseits auf das Wesen der Technik bezieht und sich andererseits noch grundlegend von ihm unterscheidet, und ein solcher Bereich zeigt sich als nichts anderes denn als Kunst (vgl. Heidegger 2000, 36). Heidegger zufolge trug in der Vergangenheit nicht nur die Technik den Namen »techne«, »techne« bedeutete auch die Poiesis der schönen Künste (vgl. ebd., 35). Im System der modernen Technik wird der Mensch dazu getrieben, Naturdinge ausschließlich als »nützlich« zu entbergen, und hat nicht mehr die ursprüngliche Möglichkeit des »Entbergens«, die Kunst kann aber als Poiesis die ursprüngliche Möglichkeit des Entbergens beim Menschen wieder heraufbeschwören, die der modernen Technik ausgeliefert ist.

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So finden wir gerade in der Kunst eine der Möglichkeiten, der Krisensituation im Zeitalter der Technologie zu entkommen. Die Kunst entspricht nicht den Maßstäben von Nützlichkeit und Prakti­ kabilität und ist von Natur aus für die Ökonomie ungeeignet. Mit anderen Worten: Die Kunst taucht nicht in die Wertvorstellungen und Grundstimmungen ein, die die moderne Gesellschaft beherrschen, sie folgt ihnen nicht. Eigentlich sollte die Kunst im wahrsten Sinne nie auf Nützlichkeit, Praktikabilität oder wirtschaftlichen Gewinn abzielen. Zwar können Künstler auch vom Verkauf von Kunstwerken profitieren, um zu leben, aber das eigentliche Ziel in der Kunst ist es, schöne Dinge zu schaffen, d. h. Poiesis. Sie sollte nichts mit der Betonung der Nützlichkeit oder dem Streben nach »Gewinn« zu tun haben. Die historische Tatsache, dass die Künstler, die ein Meisterwerk hinterließen, zu Lebzeiten nicht immer wohlhabend waren, ist der Beweis dafür. Gerade an diesem Punkt können wir einen bestimmten Grund dafür erkennen, dass die Menschen durch die Kunst vor den Problemen im Zeitalter der Technologie bewahrt werden können. Unter solchen Künsten erkennt Heidegger in Die Frage nach der Technik die Bedeutung der Poiesis insbesondere in der Dichtung. Die Dichtung bringe das Wahre in das Schöne (vgl. Heidegger 2000, 36). Nach Heideggers Verständnis in Hölderlin und das Wesen der Dichtung (1936) enthüllt der Dichter die Sache, wie sie ist, indem er das »wesentliche Wort« findet und die Sache mit diesem Wort benennt (vgl. Heidegger 2012, 41). So sollten wir die Sachen erfahren, die als solche in der Dichtung herausgestellt werden, wo der Dichter die Sache mit dem wesentlichen Wort benennt. Mit anderen Worten: Die Dichtung als Poiesis offenbart die Sache als solche. Wenn der Mensch im Zeitalter der Technologie in der Situation ist, in der er die Dinge ausschließlich als »nützlich« entlarvt und den Dingen nur so begegnet, enthüllt die Dichtung die Wahrheit der Dinge und zeigt sie uns. Im Zeitalter der Technologie, in dem sich der Mensch ausschließ­ lich auf den Nutzen konzentriert und gierig nach Gewinn strebt, können wir also in der Dichtung eine Möglichkeit erkennen, die Sache als solche zu entbergen, d. h. eine Möglichkeit, sich von der vorein­ genommenen Wertvorstellung zu trennen und daher vor sozialen Problemen in diesem Zeitalter bewahrt zu werden. Ursprünglich bzw. eigentlich wird eine solche Kraft in Kunstwerken wie jenen der Dich­ tung anerkannt. Nach Heideggers Auffassung in Der Ursprung des

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Kunstwerkes (1935/36) trennt uns das Kunstwerk vom Gewohnten (vgl. Heidegger 2003, 54), also von den bisherigen Wertvorstellun­ gen und Grundstimmungen in der Gesellschaft. Und in der Dichtung als Kunstwerk wird die Sache, wie oben erwähnt, so entborgen, wie sie ist. Zudem scheint gerade die Poesie weit entfernt vom Streben nach »Gewinn« in der Welt zu sein. Wie viele Dichter auf der Welt können Gedichte verkaufen und Gewinn machen, um zu leben? Zum Beispiel schreiben Dichter in Japan normalerweise Gedichte, während sie als Lehrer, in Unternehmen oder in der Landwirtschaft arbeiten, um zu leben. Reine Poesie sollte nicht von der Betonung der Nützlichkeit oder dem Streben nach »Gewinn« beeinflusst werden. Auf diese Weise werden wir die Sache und damit die Welt durch die Dichtung anders als zuvor verstehen. Oder wir können in einigen Fällen durch die Dichtung neue Wertvorstellungen bzw. neue Paradigmen erwer­ ben. Dazu brauchen wir aber vor allem die Kraft, gegen die Tendenz bzw. Grundstimmung in der Gesellschaft – besonders gegen die magische Kraft des Gewinns – auf die Stimmen der Dichter zu hören.

4. Es war Dilthey, der versuchte, das menschliche Leben gerade durch Dichtung zu verstehen. Die Dichtung zeigt sich, seiner Ansicht nach, als »die Darstellung und der Ausdruck des Lebens« (Dilthey 2005, 115), die Dichtung stellt die Wirklichkeit des Lebens dar und drückt das Lebenserlebnis aus. Darüber schreibt Dilthey in Das Erlebnis und die Dichtung (1905): Es ist dann der Kunstgriff der größten Dichter, das Geschehnis so hinzustellen, daß der Zusammenhang des Lebens selbst und sein Sinn aus ihm herausleuchtet. So erschließt uns die Poesie das Verständnis des Lebens. Mit den Augen des großen Dichters gewahren wir Wert und Zusammenhang der menschlichen Dinge. (Dilthey 2005, 127)

Ferner bezeichnete Dilthey in Das Wesen der Philosophie (1907) die Dichtung als »Organ des Lebensverständnisses« (Dilthey 1990, 394). Der Interpretation Diltheys nach drückt die Dichtung für den Empfänger – Leser, Zuhörer und Zuschauer – das Vorkommnis so aus, dass die wesentlichen Dinge des Lebens hervortreten. Nach der diltheyschen Lebensphilosophie können wir also durch Dichtung die Phänomene des menschlichen Lebens verstehen.

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Ein Dichter, der versuchte, das menschliche Leben auf die gleiche Weise zu verstehen wie Diltheys Lebensphilosophie, erschien im modernen Japan. Der Tanka-Dichter Mokichi Saito (1882–1953) befürwortete das Prinzip der »Lebensbeschreibung« in der TankaDichtung und versuchte, einen tieferen Blick in die Realität des Lebens zu werfen und den Zustand des Lebens in der Tanka-Dichtung zu beschreiben. Saito definiert die Idee der »Lebensbeschreibung« in der Tanka-Dichtung wie folgt: Daß man in den wahren Zustand hineinsieht und das aus einer Quelle schöpfende Leben von Natur und Selbst beschreibt, das heißt ›Lebens­ beschreibung‹ in der Tanka-Dichtung. Man dürfte hier den wahren Zustand in verschiedenen europäischen Sprachen beispielsweise als so etwas wie das Reale verstehen. Oder man dürfte ihn auch leicht verständlich die Phase der Wirklichkeit nennen. Natur dürfte man in jenem Sinne verstehen, von dem z. B. Rodin lebenslang demütig und doch kraftvoll gesprochen hat. (Saito 1973a, 804)

Die »Lebensbeschreibung« bedeutet, der Bestimmung Saitos zufolge, die Phase der Wirklichkeit des Lebens tief einzusehen und den Zustand des Lebens jenes Selbst zu Wort zu bringen, das sich ursprünglich mit der Natur vereinigen könnte. Mit dem Begriff »Leben« meinte Saito das Phänomen, das aus den Worten »Alltags­ leben« oder »Leib und Leben« spricht, oder er nannte als den zu beschreibenden Gegenstand die »Lebenstotalität« oder »Lebensganz­ heit«, die sich konkret als Berge und Flüsse, Pflanzen, Tiere, Fische und Muscheln, Individuum, Gruppe, Gesellschaft, Staat, Welt der Vorstellungen, Gefühle usw. zeige (vgl. Saito 1973b, 209–10). Es macht das Prinzip der »Lebensbeschreibung« im Sinne Saitos aus, das Leben als diese konkrete Wirklichkeit auszudrücken, und in der Tanka-Dichtung ist es notwendig, verschiedene Vorurteile zu beseitigen und die Realität des Lebens unmittelbar anzuschauen (vgl. ebd., 195). Saito hat von seiner dichterischen Einstellung her eine Gemeinsamkeit bzw. Verwandtschaft zwischen seiner Lebensbe­ schreibung und der diltheyschen Lebensphilosophie erkannt. Von der Lebensbeschreibung her das Leben als konkrete Wirklichkeit so zur Sprache zu bringen, wie es ist, bedeutet, das Leben des Selbst unmittelbar zu verstehen und das Lebensverständnis dann sprachlich zu artikulieren. Saito stimmte von der Lebensbeschreibung her der diltheyschen Lebensphilosophie zu, die die Dichtung als »Darstellung und Ausdruck des Lebens« ansah (vgl. ebd., 190).

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Saito versuchte weiter, die Beziehung der Tanka-Dichtung mit dem Leben noch radikaler zu verstehen. In seiner Poetik schreibt er: Die Tanka-Dichtung muß sogleich »die Erscheinung des Lebens« sein. Daher muß die echte Tanka-Dichtung genau wie das Selbst sein. Wenn man ein Gedicht verfaßt, kommt das Selbst nämlich als eine Tanka-Dichtung zum Vorschein. Ein echter Dichter würde nicht davor zurückschrecken abzumagern, um ein Gedicht zu verfassen. (Saito 1973a, 10f)

Radikal behauptete Saito, dass die echte Tanka-Dichtung so sein müsse, als ob sie das Selbst als solches wäre, als ob das Selbst durch ein Gedicht ins Leben gerufen werden könnte. Der Ansicht Saitos zufolge könnte sich die echte Tanka-Dichtung, die der wahre Dichter verfasst hat, als nichts anderes zeigen denn als das Gedicht, als das das Selbst geboren würde, eben als die Erscheinung des Selbst als solche. Diese Ansicht vertrat der japanische Tanka-Dichter Bunmei Tsuchiya noch deutlicher. Tsuchiya zufolge zeigt sich der »Ausdrucksakt« eigentlich als unmittelbar und ursprünglich zum Leben gehörend und als nichts anderes denn als ein wichtiger Akt des Lebens als solchen. Folgte man der Ansicht Tsuchiyas, müsste man die Lyrik als den Ausdrucksakt betrachten, der eigentlich und ursprünglich aus dem Leben kommt; radikal gesagt, müsste sie für einen Akt des Lebens als solchen gehalten werden. Insofern kann man die Tanka-Dichtung als Lyrik eines Lebensaktes als solchen betrachten. Von dieser Einstellung her sagte Tsuchiya über die Idee der Tanka-Dichtung in einem Vortrag: In der Tat ist es so, wie uns die Tanka-Dichtung geschichtlich gezeigt hat und auch gegenwärtig zeigt, daß sie die Literatur des Lebens ist und daß das Leben sich als nichts anderes denn als Literatur zeigt. ... Tatsächlich finden wir es nicht genug, die Tanka-Dichtung für einen Ausdruck des Lebens zu halten. Ich glaube, es ist die Eigenart der Tanka-Dichtung und unser zum Ziel gesetzter Weg, daß die TankaDichtung das Leben als solches sein sollte. (Tsuchiya 1986, 124)

Gerade Tsuchiya verstand die Tanka-Dichtung als »das Leben als solches« und strebte nach der Tanka-Dichtung als »dem Leben als solchem«. Mit anderen Worten: Es ist »das Leben als solches«, von der Lebensbeschreibung her über das Thema Leben zu dichten. Es sind die Worte, mit denen Tsuchiya sich in seinem Leben nach seinem Lebensgefühl gefragt und auf die Frage geantwortet hat, die er in seinen Gedichten zum Ausdruck bringt, und das zeigt sich als

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Dichtung in der Gestalt von Worten, mithilfe derer er in seiner Zeit auf die Frage: »Wie sollte man leben?« antworten wollte.4 In der dichterischen Einstellung von Saito und Tsuchiya, wonach die echte Tanka-Dichtung gerade eine Erscheinung des Selbst als solchem oder des Lebens als solchem sein sollte, können wir die radikale Einstellung erkennen, die auf die Vereinigung des Dichtens mit dem Leben zielt. Die Verwirklichung der »Vereinigung des Dich­ tens mit dem Leben« lässt sich als Auszeichnung der großen Dichter ansehen. Bei den großen Dichtern wird die Internalisierung des Lebensverständnisses durch die Vereinigung oder Verschmelzung des Dichtens mit dem Leben vollständig realisiert und das Verstehen des Lebens aus diesem selbst erfüllt – eben das, wonach Diltheys Lebensphilosophie strebte. Die auf diese Weise verfassten Gedichte zeigen sich als nichts anderes, denn als Gedichte, in denen der Dichter durch die Verschmelzung mit seinem Leben die Wirklichkeit seines Lebens radikal einsieht und sein Lebensverständnis zur Sprache zu bringen versucht. Wenn das Phänomen »Gewinn« genau das ist, was im mensch­ lichen Leben verstanden werden sollte, muss es eine gewisse Bedeu­ tung haben, das Verständnis jenes Phänomens in den Werken der Tanka-Dichtung durch Lebensbeschreibung zu erforschen, das mit »Gewinn« irgendwie zu tun hat. Und in den Werken der Tanka-Dich­ tung durch Lebensbeschreibung, das heißt in den Werken, die radikal nach dem menschlichen Leben fragen, liegt eine Gelegenheit, den Begriff »Gewinn« für die Menschen zurückzuerobern. Wie wurden »Gewinn« oder verwandte Phänomene in der Tanka-Dichtung durch Lebensbeschreibung verstanden? Was können wir aus diesem Ver­ ständnis lernen? Zunächst wollen wir uns versichern, wie Bunmei Tsuchiya sein Leben verstanden und sich selbst befragt hat. Ich habe nie so viel gegessen, daß ich es genossen habe, und im kalten Regen endet der März. (aus Tsuchiya, Sankokushu (1935)) … (6)

4

Vgl. Kondo 2000, 256.

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Edle Menschen gingen mit edlen Menschen, wohlhabende Menschen mit ihren Frauen und Kindern, während ich mit gegrillten Ginkgos in der Hand ging. (ebd.) … (7) Nach Miyamasuzaka komme ich und kaufe Pferdefleisch; Stehen hier in der Schlange Wohlhabende Leute? (ebd.) … (8) Bestieg ich in einem ausreichend wohlhabenden Haus den Miniaturhügel im Garten, sah ich von dort aus ein größeres, wohlhabenderes Haus. (ebd) … (9) Was habe ich mir vierzig Jahre lang erhofft? Um den Wunsch, gierig zu essen, kümmere ich mich nicht. (ebd.) … (10) Der Tanka-Dichter Bunmei Tsuchiya wurde in eine arme Bauernfami­ lie geboren und ist in der Familie eines Verwandten aufgewachsen (6). Er lebte nicht immer sorgenfrei. Er konnte daher nicht genug und genießend essen und für ihn endete damals der März als Ende des Schuljahres im kalten Regen. Als er am Ende des Schuljahres hungrig dem kalten Regen ausgesetzt war, musste er sich noch trauriger fühlen. (7) Ein Spaziergang durch die Stadt zeigte ihm deutlich seine Umstände. Ein Mensch aus einer guten Familie ging mit einem aus einer guten Familie spazieren und ein wohlhabender Mensch ging mit seiner Frau und seinen Kindern spazieren, während er, ein armer Mensch, mit gegrillten Ginkgos in der Hand ging, die er gekauft hatte – ein billiger Snack, den meistens die einfachen Leute kaufen. (8) Als er einkaufen ging, musste er seine Umstände und die Kluft zwischen Arm und Reich erkennen. Eines Tages kam er den Hügel herunter und kaufte Pferdefleisch im Laden, aber er fragte sich dort, ob die Leute, die in der Schlange warteten, wohlhabend wären. Er hatte früher einen Roman über einen Mann gelesen, der Pferdefleisch aß, als er

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arm war. Pferdefleisch wurde damals in Japan insbesondere von den Armen gegessen. Auf diese Weise musste er, auch wenn es ihm nicht gefiel, seine Armut erkennen. (9) Als er den Miniaturhügel bestieg, der sich im Garten eines ausreichend wohlhabenden Hauses befand, sah er von dort aus ein noch größeres, reicheres Haus. Erneut wird deutlich, dass der Reichtum der Menschen auf der Welt grenzenlos ist. Die Menschen haben endlose Wünsche und streben nach noch größeren Gewinnen. So entsteht eine Kluft zwischen Arm und Reich unter den Menschen in der Welt. (10) Zwar wuchs er in einer armen Familie auf und konnte nicht genug essen, also ist es kein Wunder, dass er den Wunsch hatte, viel zu verdienen und viel zu essen, aber er war nicht besessen von diesem Wunsch. Er fragte sich, mit was für einem Verlangen er bisher vierzig Jahre gelebt hatte. Große Gewinne zu machen, reich zu sein und viel zu essen war kein entscheidender Wunsch, kein festes Ziel in seinem Leben. Sein Leben lang erkannte er, dass die Ziele des menschlichen Lebens außerhalb finanzieller Befriedigung zu finden sind. Wie Tsuchiya in seiner Dichtung verstan­ den hat, wollen die Menschen nicht Gewinn machen und reich sein, nur weil sie arm sind. Die menschlichen Wünsche müssen anderswo gefunden werden.

5. Der Begriff »Gewinn« muss aus der Perspektive der historischen Entwicklung der Menschheit dialektisch weiterentwickelt werden. Wenn wir die schädlichen Auswirkungen des Gewinnstrebens in der modernen Gesellschaft ernst nehmen, sollten wir unsere Auffassung von »Gewinn« vernünftigerweise ändern. Wir brauchen ein neues Paradigma für »Gewinn«. Hören wir hier den Stimmen der Dichter zu, die mit dem Prinzip der Lebensbeschreibung lebendig und radikal Tanka-Gedichte geschrieben haben. Wie wurden »Gewinn« oder verwandte Phänomene in der Tanka-Dichtung durch Lebensbeschrei­ bung verstanden, die versuchte, das menschliche Leben radikal zu verstehen und das menschliche Leben in Frage zu stellen? Welche Art von Einstellung war für »Gewinn« oder verwandte Angelegenheiten in der Tanka-Dichtung erforderlich, um die Frage zu beantworten: »Wie sollte man leben?«

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In der Munitionsindustrie hast du Gewinn gemacht und mich am Meer namens Hoi in einem erstklassigen Gasthaus mit köstlichem Essen verwöhnt. (aus Tsuchiya, Zokuzokusein­ anshu (1973)) … (11) Nach dem Krieg warst du noch wohlhabend, in den späteren Jahren bist du jedoch in Armut gestorben, daran erinnere ich mich am Meer. (ebd.) … (12) Bunmei Tsuchiya blickte auf das Leben seines Freundes zurück, der früher als Geschäftsmann tätig war, und schrieb diese TankaGedichte. (11) Der Freund, der in der Munitionsindustrie hohe Gewinne erzielt hatte, lud Tsuchiya damals zu einem köstlichen Essen in einem Luxusgasthof am Meer namens Hoi ein. Wer damals in der Munitionsindustrie viel Geld verdiente, lebte im Gegensatz zu dem armen Tsuchiya ein wahrhaft luxuriöses Leben. Während Tsuchiya, der als Lehrer arbeitete, nicht wohlhabend war, erzielten andere in der Rüstungsindustrie hohe Gewinne. (12) Auch nach dem Krieg verdiente der Freund viel, aber später starb er in Armut. Tsuchiya blickte aufs Meer und dachte über das traurige Leben seines Freundes nach. Diejenigen, denen es gut geht, werden sicherlich untergehen. Wer viel verdient, wird irgendwann arm. Es gibt nichts in der mensch­ lichen Welt, was sich nicht ändert. Alles ändert sich. Das zeigt sich als die Wahrheit der Menschenwelt. Dies hat Tsuchiya im Leben seines Freundes erkannt. Was bedeutet es im menschlichen Leben, ausschließlich Gewinn zu machen, um reich zu werden? Bringt es den Menschen wirklich Glück? Diese Frage müssen wir uns auch stellen. Sowohl mein Freund als auch ich fühlen uns den ganzen Tag wohlhabend, denn wir sind in einem richtig frühlingshaften Duft an der felsigen Küste. (aus Tsuchiya, Sankokushu 1935)) … (13)

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Das Verständnis des Gewinns im menschlichen Leben.

Wenn ich die Erde siebe und Blumenzwiebeln pflanze, die im Frühling blühen, fühle ich mich wohlhabend wenn auch nur für den einen Moment. (ebd.) … (14) Obwohl Bunmei Tsuchiya nie ein sorgloses Leben führte, fühlte er sich doch in manchen Augenblicken wohlhabend. (13) Als er und sein Freund das Meer im Frühling besuchten und im richtig frühlingshaf­ ten Duft an der Felsenküste waren, fühlten er und sein Freund sich allein schon dadurch den ganzen Tag wohlhabend genug. Der Duft am Strand im Frühling, der endlich nach dem kalten Winter kam, bereicherte Tsuchiyas Gefühle. Auch wenn die Menschen finanziell nicht reich sind, kann es Momente in ihrem Leben geben, in denen sie sich wohlhabend fühlen. (14) Tsuchiya fühlte sich schon wohlhabend, als er die Erde durchsiebte und die Frühlingsblumenzwiebeln pflanzte, während er auf den kommenden Frühling wartete. Sich um das Blumenbeet zu kümmern und sich auf die im Frühling blühenden Blumen zu freuen, ließ ihn sich wohlhabend fühlen, wenn auch nur vorübergehend. Tsuchiya war zwar finanziell nicht reich, er spürte jedoch den Reichtum seines Geistes, als er sich auf die Blumen freute. Dort wurde eine gewisse Dimension des Reichtums bzw. Gewinns erfahren. Gesund und alt ist der Mann und hat ein faltiges Gesicht, das von Gier geschnitzt ist, das Gesicht strahlt vor der Orchidee. (aus Tsuchia, Sankokushu 1935) … (15) Nähert er sich mit dem starken alten Körper der Orchidee, sieht auch der wohlhabende Mensch recht ruhig aus. (ebd.) … (16) Wir finden, dass vor schönen und duftenden Blumen der Unterschied zwischen reichen und armen Menschen keine Rolle spielt. (15) Auf einer Orchideenausstellung betrachtete ein wohlhabender und gesun­ der alter Mann eine Orchidee und sein tief runzeliges Gesicht, das von Gier gezeichnet zu sein schien, sah nach dem Eindruck Tsuchiyas vor der Orchidee strahlend aus. Der alte Mann schien sehr wohlhabend

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Masatoshi Sasaki

zu sein und bisher gierig nach Gewinnen zu streben. (16) Der wohl­ habende alte Mann mit starkem Körper näherte sich und betrachtete die Orchideen, aber vor den schönen und duftenden Orchideen sah der reiche Mann mit Gier unerwartet sehr ruhig aus. Interessanterweise sind vor den schönen und duftenden Blumen selbst die wohlhabenden Menschen ganz ruhig. Vor wunderschönen Dingen gibt es keinen Unterschied zwischen Arm und Reich. Dort spielt es keine Rolle, ob man Gewinn macht oder nicht bzw. ob man reich ist oder nicht. Das Herz für Blumen ist seit einiger Zeit knapp bei den jungen Menschen, die Hunger nicht mehr kennen. (aus Tsuchiya, Seinankoshu 1984)) … (17) Vor schönen und duftenden Blumen sind sogar diejenigen ruhig, die voller Gier sind, und es gibt dort keinen Unterschied zwischen Arm und Reich. (17) Bei heutigen jungen Menschen, die nicht mehr arm und nicht mehr hungrig sind, ist das Interesse an schönen Blumen im Gegenteil arm geworden. Obwohl die modernen Menschen der Armut und dem Hunger entronnen sind, werden ihre Herzen immer ärmer. Während die modernen Menschen finanziell reich sind, sind sie weniger begeistert von schönen Dingen und ärmer in ihrem Geist, bescheidene Freude und Glück in ihrem Leben zu finden. Menschlicher Wohlstand muss in einer anderen Dimension liegen, als große Gewinne zu machen, viel zu verdienen und viel zu essen. Man weiß: Schließlich gibt es nichts in der Welt der Menschen, was sich nicht ändert. Mit dem Verständnis dieses Grundprinzips muss der Begriff »Gewinn« für das menschliche Leben erfasst werden. Selbst wenn wir materielle oder monetäre Gewinne verfolgen, werden sich diese Gewinne im Laufe der Zeit ändern und wir werden uns dann leer fühlen. »Gewinn« wird zwar durch menschliche Aktivitäten erzielt, aber es muss sich um »inneren Wohlstand« handeln, der wesentlich wertvoller ist als nur Vorteile und Annehmlichkeiten.

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Das Verständnis des Gewinns im menschlichen Leben.

Eines Tages mit dem Charakter, bescheiden zu bleiben, sollten wir eine Nation sein, die den Frieden für immer bewahrt. (aus Kondo, Hokorihukuma­ chi.1948)) … (18) Wir finden dieses Tanka-Gedicht in Yoshimi Kondos Gedichtsamm­ lung, die kurz nach dem Zweiten Weltkrieg erschienen ist. (18) Durch dieses Gedicht appelliert Kondo: Wir müssen eine Nation sein, die für immer friedlich ist, indem wir danach streben, Bescheidenheit zu einer nationalen Charakteristik zu machen. Dies gilt nicht nur im politischen, sondern auch im wirtschaftlichen Sinne. Wir müssen eher bescheiden sein, politisch und wirtschaftlich, als gierig. Kondo betonte auch in anderen Werken die Notwendigkeit, »kleines Leben« oder »armes Leben« zu schützen. Wenn wir ein wenig Glück – Ruhe bzw. Gelassenheit – darin finden können, ein kleines Leben zu schützen, d. h. bescheiden zu leben, zeigt sich dies als einer der Gewinne im menschlichen Leben im Sinne der Bereicherung unseres Lebens. Reicht es uns nicht, ein wenig Glück zu haben? Ist es nicht besser, davon zu leben, »zu wissen, dass wir genug haben«? Wir sind hier an die Lehre von Laotse erinnert: »Reich ist, wer weiß, dass er genug hat.« Wenn einer weiß und zufrieden ist, dass er bereits hat, was er braucht, ist er geistig reich, auch wenn er finanziell arm ist. Wenn wir verstehen, dass wir bereits haben, was wir eigentlich brauchen, zeigt es sich als nichts anderes denn als »Gewinn« im Leben. Wenn aufgrund der Einsicht, dass es nichts gibt, was sich nicht ändert, und dass der Wohlhabende sicherlich untergehen muss, ein Wertesystem verwirklicht wird, das Bescheidenheit zur Tugend macht, zeigt es sich als ein kostbarer »Gewinn«, zu wissen, dass man genug hat, um bescheiden zu leben. In der aufgeblähten menschlichen Zivilisation mit den bemerkenswerten Fortschritten von Wissenschaft und Tech­ nik ist es auch erforderlich, die Anschauung der Werte zu ändern oder den Lebensstil zu ändern. Ein Beispiel dafür ist das, was wir in der heutigen Corona-Pandemie erlebt haben. In der langen Geschichte der Menschheit kann eine solche Änderung auch notwendig sein. Das Überdenken des Begriffs »Gewinn« muss eine der Gelegenheiten für eine solche Veränderung sein. Gegenwärtig quält eine große Macht die Menschen in ihrer Nachbarschaft mit dem Versuch, ihre eigenen Gewinne auszudehnen, aber solch eine Großmacht sollte wissen, dass sie schon ausreichend hat. Wir müssen die Gefahr des Wohlstands,

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Masatoshi Sasaki

das Ergebnis des Strebens nach Gewinn, erkennen, nämlich dass der Wohlstand nicht ewig anhält, sondern schließlich dekadent werden kann. Und nicht zu wissen, dass der Wohlstand irgendwann auf die Dekadenz zusteuert, ist noch gefährlicher. Yoshimi Kondo, der auch Architekt war, schaute einmal in den Himmel und schrieb ein Tanka-Gedicht. (19) Weit oben fliegen künstliche Satelliten, die von fortschrittlicher Wissenschaft und Technik geschaffen wurden, unbemerkt und regelmäßig, während die Menschen auf der Erde ver­ zweifelt versuchen, ihr Leben und den Frieden der Welt zu schützen. Unabhängig davon, wie weit Wissenschaft und Technik fortschreiten, müssen die Menschen selbst ihr Leben und den Frieden in dieser Welt schützen. »Gewinn« kann erst in einem solchen menschlichen Leben sinnvoll sein. Künstliche Satelliten fliegen weit über uns völlig vergessen, andererseits schützen die Menschen miteinander das Leben und den Frieden auf Erden. (aus Kondo, Kansei 1960)) … (19)

Literaturangaben Adorno, Theodor W. (1997): Gesammelte Schriften, Bd. 3, Dialektik der Aufklä­ rung, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Dilthey, Wilhelm (1990): Gesammelte Schriften, Bd. 5, Die geistige Welt: Ein­ leitung in die Philosophie des Lebens; Hälfte 1, Abhandlungen zur Grundlegung der Geisteswissenschaften, 8. Aufl., Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Dilthey, Wilhelm (2005): Gesammelte Schriften, Bd. 26, Das Erlebnis und die Dichtung: Lessing, Goethe, Novalis, Hölderlin, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Heidegger, Martin (2000): Gesamtausgabe, Bd. 7, Vorträge und Aufsätze, Frankfurt a.M.: Vittorio Klostermann. Heidegger, Martin (2003): Gesamtausgabe, Bd. 5, Holzwege, 2. Auflage, Frank­ furt a.M.: Vittorio Klostermann. Heidegger, Martin (2012): Gesamtausgabe, Bd. 4, Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung, 3. Auflage, Frankfurt a.M.: Vittorio Klostermann. Kondo, Yoshimi (1960): Kansei, Tokyo: Shiratamashobo. Kondo, Yoshimi (1969): Ihosha, Tokyo: Tankakenkyusha. Kondo, Yoshimi (1993): Hokorihukumachi, Tokyo: Tankashinbunsha. Kondo, Yoshimi (2000): Kondo Yoshimi shu, Bd. 7, Tokyo: Iwanamishoten.

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Das Verständnis des Gewinns im menschlichen Leben.

Nakai, Masakazu (1981): Nakai Masakazu zenshu, Bd. 3, Tokyo: Bijutsushup­ pansha. Saito, Mokichi (1973a): Saito Mokichi zenshu, Bd. 9, Tokyo: Iwanamishoten. Saito, Mokichi (1973b): Saito Mokichi zenshu, Bd. 10, Tokyo: Iwanamishoten. Tsuchiya, Bunmei (1935): Sankokushu, Tokyo: Iwanamishoten. Tsuchiya, Bunmei (1973): Zokuzokuseinanshu, Tokyo: Shiratamashobo. Tsuchiya, Bunmei (1984): Seinankoshu, Tokyo: Ishikawashobo. Tsuchiya, Bunmei (1986): Shintankanyumon, Tokyo: Chikumashobo.

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Georg N. Schäfer

Hiding in Plains Sight: Tracing the Anthropocene Mode of Production’s Emergence Between the North American Dust Bowls

During the »Dirty Thirties,« North America’s Great Plains were plagued for an entire decade by the Dust Bowl, a series of interlinked environmental, social and economic crises. After years of crop booms on the plains, which were fueled by exceptional global crop prices, the staggering speed of mechanizing agriculture, and deceptively good climatic conditions (by the region’s standards), agricultural production in parts of the Grain Belt came to a sudden standstill. Millions of acres of fertile native grassland that had been plowed up in order to keep up with the boom’s demand were suddenly turned into barren land by severe droughts, pest infestations and dust blizzards of biblical proportions. During this »worst hard time« (Egan 2007), life on the plains would resemble the plot of a grim Climate Fiction novel and foreshadow what life in a further emerged Anthropocene might look like. With nowhere to go in a country itself still in the midst of a global economic crisis, many had no option but to stay with the trouble. Those who had the means to leave joined the largest migration movement in American history. Like the emblematic Joad family from John Steinbeck’s 1939 Grapes of Wrath, they would finally leave the severe environment of the plains in search of a better life out west, often only to find inhospitable camps in a society which was hostile and exploitive towards migrants in the contrastingly pristine California. In the blink of an eye, the Great Plains turned from the United States’ new paragon of prosperity and progress—the »last agricultural frontier« and a phenomenal model of industrial agriculture—into the seemingly never-ending nightmare of a landscape which became almost uninhabitable overnight. How could a textbook project of Western cultivation, which transformed supposedly unproductive

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grassland through hard labor and modern technology, result in one of the most severe environmental catastrophes of modern times? For the environmental historian Donald Worster, the Dust Bowl was the unintended but unavoidable operational accident or perverse result of a larger culture enterprise at work: [The Dust Bowl] came about because the culture was operating in precisely the way it was supposed to. […] Some environmental catas­ trophes are nature’s work, others are the slowly accumulating effects of ignorance or poverty. The Dust Bowl, in contrast, was the inevitable outcome of a culture that deliberately, self-consciously, set itself that task of dominating and exploiting the land for all it was worth. (Worster 2004, 4)

What are these cultural drivers that unleashed an event of planetary scale? Admittedly, this culture that triggered the North American Dust Bowls is a well-studied research object, foremost and best analyzed by Worster himself (1985; 1986; 1999; 2004; 2020). So why reconstruct and query it once more? What about this historical event remains unanswered? What has changed since then? While the cultural production conditions that made the 1930s Dust Bowl possible—its social, political and ecological dynamics—are indeed well researched, the cultural drivers of another, yet connected humanenvironmental crisis is still in its inception: the Anthropocene, the human geological epoch.1 Yet, in the context of the Anthropocene concept, historic humandriven ecological crises appear in a new light, especially those leading towards as well as feeding into the Anthropocene’s formative Great Acceleration (Steffen et al. 2015) as the Dust Bowl does. For this reason, this explanatory study will examine how far the both the cultural dynamics leading to the Dust Bowl as well as the measures taken to cope with its effects can help trace the cultural production conditions of the Anthropocene. The article will argue that the Dust Bowl served as a foundational crisis for this mode of produc­ tion and that the resultant evolution and intensification of modern agribusiness on the Great Plains have significantly contributed to the emergence of Holmes et al. 2020’s Anthropocene Mode of Production 1 This does not refer to the empirical basis of the geological Anthropocene. For a definition of the geological Anthropocene, its empirical basis and the work of the Anthropocene Working Group, see Zalasiewicz et al. 2021 and https://www.anthro pocene-curriculum.org/the-geological-anthropocene.

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Hiding in Plains Sight

(AMP). To do so, the article will explore the Great Plains’ geologic and anthropogenic transformation of planetary proportions. After intro­ ducing the plains’ geological formation, environment, and Indigenous history, this article will trace three waves of Euro-American boom and bust settlement leading up to the Dust Bowl. Within this context, strategic state interest, the emergence of factory farming, and the plains’ connection to the world market as well as an exploitive idea of man and nature will be identified as key drivers of each wave of settlement. Against this background, the New Deal measures which aimed to counter the 1930s Dust Bowl, and the global post-war expansion era are analyzed as a fourth wave of settlement on the plains and as formative developments of the AMP, thus putting the concept into an even broader context.

The Anthropocene Mode of Production In their 2020 article, Brian Holmes et al. argue that »the Anthro­ pocene, conceived as an ongoing state change in the earth system, has its own mode of production, which has never been adequately discussed.« (Holmes et al. 2020, 2). The authors define this »Anthro­ pocene mode of production« (AMP), with reference to Freeman and Louca 2002 and Perez 1983, as a techno-economic paradigm: the AMP […] is a reaction to a fundamental crisis like the Great Depression or World War II. The new paradigm is considered consti­ tuted »when particular forms of production and consumption cohere into a relatively stable and socially embedded pattern of economic growth over a limited period of time. […] [The techno-economic paradigm] then expands from its initial sites of origin to saturate the entire world economy« (ibid., 2). Holmes et al. identify the AMP’s techno-economic paradigm as »governmental coordination of scien­ tific research and industrial development for military and economic ends« (ibid., 2). Yet, this coordination effort does not significantly distinguish the Anthropocene’s techno-economic paradigm since it would be true for most Euro-American techno-economic paradigms since the early modern era (Ott 2008). However, the AMP’s objective, the »quest for superpowers« (Holmes et al. 2020, 2) and its eventual achievement, clearly draw a line in the sediment of political economy. The dynamics of the AMP become clearer when one takes a closer look at the genesis of this mode of production. In their case study, Holmes

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et al. explore the different stages in the genesis of the AMP through the example of the US American Tennessee Valley Authority (TVA). The TVA was initiated as part of the New Deal in 1931, the first year of Franklin D. Roosevelt’s (FDR) presidency. The agency’s purpose was—like many other New Deal institutions’—to tackle the two big crises of the decade: economic recession and the environ­ mental problems of the Dirty Thirties. In the case of the TVA, the mission was to improve the region’s economy and environment through multipurpose river-basin development, inter alia to provide navigation improvements, hydroelectric power, flood control, soil conservation, irrigation or fertilizer production. Yet, as »dreamship of the New Deal«, the TVA’s scope was unlike many other government projects of that time (ibid., 3–4). Through a massive network of hydroelectric dams and long-distance transmission lines, TVA’s team of bureaucrats, scientists and engineers would strive to create a superpower: an abundance of energy and environmental control that would not only aim at offering a quantitative jump and thus relief for the symptoms of the 1930’s ecological and economic problems, but through its unprecedented dimensions, a qualitative new level; a progressive way forward for humanity. Due to the new scale of TVA’s technocratic organization and the staggering superpower it created, the early modern vision to overcome the scarcity and uncertainties of the first nature through the perfection of the environment through science seemed feasible. In the words of David Lilienthal, one of the directors of TVA: »There is almost nothing, however fantastic, that (given competent organization) a team of engineers, scientists, and administrators cannot do today. Impossible things can be done, are being done in this mid-20th century.«2 Interestingly enough, Lilienthal points to the mode of organiza­ tion as a decisive element to achieve the impossible. The already apparent technocratic tendencies of this emerging techno-economic paradigm would only become stronger facing a second fundamental crisis, World War II, further shaping the AMP. After proposing a solution for the problems it set out to solve—economic depression and the environmental crisis—its superpower would now become a strategic war weapon, turning the TVA into »a powerhouse of the US war machine in the 1940s« (ibid., 5). By rapidly adding more dams to the TVA’s capacity, the network would devote more of its increasing 2

Cited after Holmes et al. 2020, 5.

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Hiding in Plains Sight

power to the production of aluminum and military-grade nitrates. Yet even this significantly increased power would not be enough when the TVA’s superpower was utilized to create another superpower: the atomic bomb. In the shadow of war-time secrecy, new facilities for industrial-scale uranium enrichment for the experimental production of plutonium were set up. Additional coal-fired generators were set up to feed the project’s immense appetite for energy, as well as a parallel site on the other side of the country, in the Columbia River basin. The combined superpower of both river-basin development schemes, enabled through a »›centrally controlled and coordinated production system‹ on a hitherto unprecedented scale«, would now create the potential for the Manhattan Project’s superpower, a »quasi-cosmic form of energy – a new ›superpower‹ «. (ibid., 6) This new superpower came at a price; a »Faustian bargain« (ibid., 7). On the one hand, the gigantic project required an enormous amount of secrecy, but on the other hand, the requirement for society to blindly accept this secrecy would enable abuse of state secrecy dangerous for a democratic society. Another requirement of a techno-economic paradigm—that it would saturate the entire world economy—came after World War II, most effectively through »super­ power plans« like the Marshall Plan or the World Bank. From India, Europe, Latin America, Africa to the Middle East, the TVA was exported as role model of a »superior production process« through projects all over the world (ibid., 8). The AMP is thus characterized as: an ever-expanding pattern that has gradually imposed itself on global landscapes. It’s a pattern of accelerated technological growth, where the state helps turn scientific invention into corporate output for strategic and military ends. What’s historically new here is not only the science, or the technology. Rather, it is the newfound capacity of state administrations to coordinate the relations between science and industry, creating powerful teams, the kind that Lilienthal said could do »impossible things.« This organizational capacity of the wartime state, absorbed and perfected by global-scale corporations, lies at the origin of the Anthropocene mode of production. And it has effectively done something that was formerly considered impossible. It has dis­ rupted the earth’s biogeochemical cycles, to the point where it is now threatening what Earth system scientists call the ›safe operating space for humanity‹. (ibid., 9)

As the following will explore, all these characteristics of the AMP, especially the state’s capacity to coordinate science and industry, are

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also evident within the Great Plains’ agricultural transformation. From a Holocene grassland landscape, it has been turned into one of the most anthropocenic landscapes in the world, as a reaction to the Dirty Thirties and World War II through the emergence of and con­ tribution to an Anthropocene Mode of Production that has changed agriculture like no other event since its rise in the early Holocene. The following will explore how the 1930s Dust Bowl emerged and how it served as a foundational crisis for the AMP, focusing on the measures taken to cope with the Dust Bowl, and how the reaction to the ecological crisis of the Dirty Thirties shaped this mode of production. In this way, we will locate the plains’ »regional agency within a larger process of earth system transformation« (ibid., 2).

From an Inland Sea to the Great American Desert For an understanding of the 1930s Dust Bowl’s ecological dimension and the impact this to-be-defined culture had on the plains, a good starting point is the Great Plains’ environment and the geological formation process that shaped it. From a geological perspective, the story of the Dust Bowl is based on two geological events: it begins in Earth’s deep time and concludes with the anthropogenic transformation of the Great Plains, a model that eventually spread all over the world. The first event is from the Great Plains’ »eerily different Meso­ zoic past« (Worster 2004, 67), when the later Dust Bowl land was covered for millions of years by a vast inland sea, providing an environment for ancient turtles or plesiosaurs, and tropical forests at its swampy edges. The radical transformation to the environment of today’s Great Plains began about 60 million years ago with a geologic mountain building period that eventually created the Rocky Mountains. This process drained the water of the inland sea and constituted the Rocky Mountains as the Great Plains’ eastern border and as a massive rain-shadow of the Midwest, thus fundamentally changing the region’s formerly moist climate (Webb 2022, 13f).

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Hiding in Plains Sight

Figure 1: The North American Great Plains marked within the territory of the United States. Starting from the northern border to Canada, the US part is located in the states Montana, North and South Dakota, parts of Minnesota and Iowa, Wyoming, Nebraska, Colorado, Kansas, Oklahoma, New Mexico and Texas at its very south. Map by JCarriker, Wikimedia Commons, Creative Commons license CC BY-SA 3.0. Original in color.

By the end of the region’s geologic formation process, the Great Plains transformed from an inland sea to one of the most level landforms on the planet providing ecological niches only to well-adapted plants and animals. Even in average years, the semi-arid climate provides barely enough precipitation for most farming. Additionally, the soils are too dry for most trees to grow. The Great Plains’ open landscape is also where three major weather empires meet: cold winds from the Arctic, mild dry air from the Rocky Mountains and moist flows from the Gulf of Mexico. For this reason, weather conditions on the plains change quickly, sometimes drastically for centuries (Tremble 1980, 5f; Worster 2004, 67–71). Under these harsh conditions, the Plains’ characteristic native grasses are key to the ecology of this environment, having adapted well enough to not only thrive in this landscape but also to shape it. The grasses hold the plains’ soils together, which are constantly exposed to soil erosion through regular droughts, heavy downpours and changing winds. Under these conditions, humans have always been challenged in finding a niche for settlement. There are records of Indigenous attempts to practice agriculture on the plains, but all following a »pattern of defeat and abandonment.«3 For this reason, mostly nomadic lifestyles emerged 3 Worster 2004, 75. The plains would only allow lesser complex nomadic lifestyles (ibid., 75–6). This is also reflected in Native American cosmology. The Mandan

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on the pre-colonial plains, following highly adapted bison herds, who are able to stand both the plains’ extreme heat and cold.4 Ironi­ cally, the iconic and thriving Indigenous culture on the plains only emerged after the European introduction of the horse to the Americas. Beginning with the Comanches around 1700, the horse would make hunting reliable and the vast plain landscape navigable, finally making the Great Plains habitable for settlement, while Indigenous tribes would still merge into the natural economy of the plains. (Diffendal 2017, 13f; Worster 2004, 76–7)

Culture Meets the Plains The US American history of the Great Plains begins with the Louisiana Purchase in 1803. This contract began a violent integration process of most of what would become the Great Plains states as well as Arkansas, Missouri and Louisiana to US territory. Early Euro-American explorers perceived the Great Plains’ share of this new, massive landscape as an »arid wasteland«, »a scene of desolation scarcely equaled« and even declared the »Great American Desert« on maps (Isenberg 2000, 21). Thomas Jefferson, an ardent admirer of John Locke’s political economy, strongly advocated for the purchase in order to retain »the land as an insurance plan for his democracy of small farmers« (Worster 2004, 80). Following the Lockean ideal, the Jeffersonian democracy required continuous expansion. At the same time, the population was growing and the first concerns of soil erosion from plantations in the southern states arose.5 Indians, for example, a tribe with villages at the banks of the Missouri river as early as the 13th century, blame the harsh landscape of the Plains on the incapacity of the first man. Following a Mandan myth, the labor of shaping the landscape was divided between the Mandan’s chief god and the first man. While the god created a varying landscape around the west bank of the Missouri with hills, rich valleys and trees, the first man would leave the east bank empty and flat, making it impossible for hunters or gatherers to be successful. Disappointed by the first man’s work, the god concluded that »man will not be able to live there« (Isenberg 2000, 16). 4 Before the European settlement, up to 30 million bison would, in a co-evolutionary process, further drive the grasses to adapt to the harsh environment and create ecological niches for animals like pronghorn antelopes, black-tailed jackrabbits or prairie-dogs (Worster 2004, 73; Isenberg 2000, 16–8, 26). 5 See Worster 1985, 30; Rehm 2012, 11–2. See Schäfer 2018 for the influence of John Locke’s political economy on the Anthropocene’s mode of production.

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Hiding in Plains Sight

Despite this, colonial settlement on the plains was a sluggish development at first. It took massive federal state action to get the first wave of colonial settlement started. Since the land had already been inhabited by Indigenous people,6 the Louisiana contract could secure the US government only a preemption right against other colonial power’s interest to claim this region. It took the bloody Indian Wars between early colonial settlers, the United States Army, and native tribes, and a web of questionable contracts as well as the strategic extinction of the bison to destroy the Indigenous tribe’s livelihood (Lee 2017; Holleman 2018, 67). Once the land had been cleared of its Indigenous people as well as Indigenous fauna, the settlement quickly accelerated, especially after president Abraham Lincoln signed four laws in 1862: 1) 2) 3) 4)

the first Homestead Act the Morrill Land Grant Acts The act establishing the U.S. Department of Agriculture (USDA) And the Pacific Railroad Acts granting federal lands and funds for construction of the Union Pacific-Central Pacific railroad (Holleman 2018, 83)

The Homestead Act (1), as a textbook example of the Jeffersonian yeoman ideal of an agrarian society, legally granted up to 160 acres (65 hectares) to settlers who improved the claimed land for five years and paid a filing fee, giving pioneers legal security. In addition to the legal certainty, the Morrill Land Grant Acts (2) aimed at contributing scientific certainty. By offering states misappropriated Indigenous land to fund colleges promoting the strongly underrepresented agri­ cultural sciences and mechanic art, the Morrill Land Grant Acts transformed the scientific landscape of the U.S, laying a cornerstone for higher education and later American leadership in agricultural science and engineering. The first land grant college was founded at the border of Dust Bowl land: Kansas State University in Manhattan, KS, with many more Great Plains land-grant colleges to follow (Nash 2019). Together with the USDA’s (3) coordination, the mission of this nationwide network of land-grant colleges was to increase the agricultural productivity of the country. Later, the productivity was further pushed with the Hatch Act of 1887, which established 6 For the Dust Bowl area, these are, along with other tribes, the ancestors of today’s Osage, Sac and Fox, Kiowa, Cheyenne, Arapaho (Holleman 2018, 3).

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the foundation of agricultural experiment stations (AES) in every state, often on land-grant campuses. Working directly with scientists, farmers, engineers or processors, AES agents brought central agents of food production together (Pearson/Atucha 2015). Together, these three acts provided the ground to exploit the new territory. In the words of USDA’s first director, Isaac Newton, »every acre of our fertile soil […] is a mine which only awaits the contact of labor to yield its treasures, and every acre is opened to that fruitful contact by the homestead act.« (Holleman 2018, 83). This mining operation was completed with the construction of the Transcontinental Railroad (4), connecting the vast agricultural inland frontier to the agricultural markets at the external frontiers of the country.

The First Wave: the Cattle Kingdom, 1865–1886 The colonial settlements on the plains would show different waves of extreme boom and bust, with gold rush-like occupation followed by sudden abandonment. The first of these waves was the »cattle king­ dom«, built on the pillars of the Homestead Act (4) and the Trans­ continental Railroad (4). The Homestead Act allowed cattle barons to legalize and cheaply expand their acreage for grazing. Soon, before most farmers could settle in the area, most of the good soils in the later Dust Bowl land were already occupied by cattle barons. (Webb 2022, 195). Now, with the railroad connecting the heartland with the slaughter centers, the cattle barons were directly and quickly connec­ ted to the world markets. With every wave, this connection proved to be the driver of boom before the plains’ environment brought this to a sudden halt. In this case, rapidly rising slaughterhouse prices, from $3 to $60 per animal, would make the cattle barons push the land as far as possible. Backed with English, Irish and Scottish capital, which was attracted with return-on-investment rates of over 30 percent, the baron’s herds mined the Great Plains to a point where there were four times as many cattle as the grass could support (Worster 2004, 82– 3). This would cause more than long-lasting damage to the grass. After the winter of 1885–86—the harshest one in the recorded history of the region—the already stressed grass would diminish severely. With up to 85 % of cattle dying on some farms, beef entrepreneurs and their international investors were losing their bet against the Plain’s volatile climate and the grassland’s carrying capacity. After two

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decades, the cattle kingdom was run into bankruptcy, making place for the next wave of settlers (Stephens 1964, 41f). Certainly, this first wave of colonial settlement was not produced by an AMP. Yet, it gives a first glimpse into the impact which could be unleashed by a coordi­ nated effort between private enterprises, the federal government, large-scale infrastructure projects, and the emerging and widereaching power of international markets – a pattern that would reap­ pear and intensify with each wave of boom and bust on the Great Plains.

The Second Wave: the Sod House Era, 1886–1895 The abandoned plains quickly attracted another land rush, in large parts soldiers of fortune – those who had not yet found prosperity in the USA or who came there to try their chances on the now availed »last agricultural frontier«. People without much capital or »nine children and eleven cents« would come and take their bet against the volatile climate (Worster 2004, 83). Early concerns that the Plains’ environment might not be suitable for farming were rejected, often in favor of the »rain will follow the plow« hypothesis. According to this rationale, human settlement and the effects of cultivation would eventually attract rain and alter the semi-arid climate for good. The hypothesis was backed by a broad scientific consensus between land-grant agronomists (2), the USDA (3), and was heavily popularized and instrumentalized by railroad tycoons (4), who after having received federal land-grands larger than the size of California to develop their transcontinental infrastructure project, were now pressured into finding ways to service this giant debt. Promoting land along the railway tracks as a place which indus­ trious people could turn into a Garden of Eden proved to be a golden opportunity. In Nebraska alone, the Union Pacific and Burlington railroad companies spent one million dollars in advertising, targeting often newly arrived immigrants from Europe, propagating the »genial and healthy« climate of the »promised land« on the Great Plains (Reisner 1993, 81–8; see also Worster 1999, 57–8). This optimistic scientific outlook also perfectly corresponded with the economic culture of the settler. Charles Dana Wilber, a Nebraska town builder who coined the »the rain follows the plow« phrase gets to the metaphysical heart of it. According to Wilber, it

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was never God’s intention that any part of the earth should be a permanent desert: wherever »man has ›been aggressive,’ he has made land suitable for farming. So that in reality there is no desert anywhere except by man’s permission or neglect« (cited after Worster 2004, 81–2). Yet after arriving on the plains, creating paradise proved to be more difficult than advertised. Often living in simple sod houses, most settlers did not plan to live on their homestead but speculated on taking this hardship against themselves as well as the land to sell off the farm for a profit, after having possessed the land following the Homestead Act. After all, the homesteader’s speculation relied as much on the »rain follows the plow« hypothesis as the railroad tycoons’ (Worster 1999, 57; 2004, 84). Not least due to the persuasion of this rationale, the region’s population doubled in just a decade to six million people. But again, this phase of boom would be brought to a sudden bust by an extreme drought. This six-year drought was as severe as the 1930s Dust Bowl one, yet with two differences. The ecological hardships were easier to deal with, since not as much virgin soil had yet been plowed up, which resulted in fewer dust storms hit­ ting the plains. The social hardships of the sod house drought were more difficult than of the drought in the 1930s, because no large-scale federal programs such as the New Deal, except for aid missions of the US Army, would bring relief to the plains. This triggered a massive exodus, with some counties losing up to 90 % of their population (Worster 2004, 84–5). Again, a similar but already evolved pattern would drive this second wave of colonial settlement on the plains. Disguised by the conditions of the Plains´ climatic good years, the USDA’s scientific assurance, the railroad tycoons’ marketing efforts, and individual speculations, settlement on the plains rose to a quick boom and sudden bust as soon as the plains’ inevitable drought pattern hit. Yet even though it caused long-lasting ecological damage, this second wave’s dynamics were again nowhere close to an AMP. However, it already offers some hints to the AMP’s development dynamics. Most significantly of these is the emerging power of the federal state as dri­ ver of this wave: first as initiator and creditor of the transcontinental infrastructure project, and second through the scientific assurance its network of institutions provided. Both were dynamized and accelera­ ted in the interplay with the scale of the railroad companies’ economic and newfound scientific power.

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The Third Wave: the Rise of Factory Farming, 1895–1931 The third wave of colonial settlement that would eventually bust with the 1930s Dust Bowl began again with the promise of a tech­ nological-fix for plains farming. This time, after learning the hard way that the plow would not change the climate, the promise was a climate-independent farming technique instead. The dry-land agri­ culture movement lobbied for farming techniques that were supposed to increase soil moisture, not only to increase yields but also to cultivate land that would otherwise not support corn. Again, this approach was propagated by railroad companies and publicists and supported by state agricultural experiment stations (Campbell 1958). The persuasiveness of the dry-land-approach, again corresponding to the plains economic culture and the interests of major economic players, would restore faith in cultivating the plains entirely and agitate such a movement that Congress had to finally relent and pass the Enlarged Homestead Act in 1909, doubling the allowed acreage to 320 acres (Worster 2004, 87). The last agricultural frontier was open again, and another gold rush followed on the plains. One of the most important drivers of this wave of settlement was the emerging mechanization of agriculture. With early tractors resembling the design of trains, agricultural entrepreneurs would now try to replicate the success of Henry Ford’s industrial factory model in agriculture (Worster 2004, 88). With the Great Plains being flat, vast, undisturbed by strong vegetation or geology, and in large parts still unclaimed, there existed a landscape seemingly predestined for the age of industrial agriculture. During his US journey in 1904, the sociologist Max Weber »turned down a meeting with President Theodore Roosevelt in order to visit the U.S. southern plains […] Weber wrote that ›with almost lightning speed everything that stands in the way of capitalistic culture is being crushed.’« (Holleman 2018, 55–6) This development was strongly accelerated by World War I, a foundational crisis for the plains’ further integration into the global wheat market and into the federal government’s foreign policy strategy. After the Ottoman Empire cut off Russian wheat from Europe, the emerging world power realized the strategic value of the plains’ agricultural power, summarized in the Wilson administration’s slogan: »Plant more wheat! Wheat will win the war!« (Worster 2004, 89). With the wartime Food Control Act, the government guaranteed high wheat prices in addition to already

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rapidly rising market prices, which increased by more than double between 1914 and 1919. These incentives would fuel the expansion of wheatland acreage on formerly native grasslands by millions, creating record breaking harvests. Instead of growing for their own families or counties, farmers were now exporters, producing for the world market (Holleman 2018, 60; Worster 1986, 111). This was a move that would pay off, since even after World War I, the crop demand in war torn Europe remained on a high level. The surplus from World War I and the early twenties, but also the pressure to keep up with the accelerated industrial agriculture, made plains farmers invest even more resources into the mechanical efficiency revolution, with staggering results: while it took 1830 on average 58 hours of labor to fill a grain silo, in 1930 it took six hours on national average and less than three hours in the most advanced parts of the Great Plains (Worster 2004, 90). The introduction of new machinery such as improved plows and combines accelerated the production process and helped to support the ideals of dry-land farming at the same time, for example, by cutting up the land even finer to kill off weeds to increase water absorption but also to pulverize the soil. This way, the heavy use of machinery not only altered the production process fundamentally, but eventually changed economic and social structures as well, by requiring high acquisition as well as operating expenses – oftentimes running up more costs than small farmers would make with wheat. This financial pressure would drive farmers into greater economies of scale, especially since export opportunities for plains farmers were declining with European agriculture recovering. Under this pressure, the first small farmers would go bankrupt, reinforcing the survivor’s conviction to increase scale and the level of mechanization (Worster 2004, 92). The race would bring its intermediate winners high profits and attract further capital. Even the Great Depression did not hit the agricultural sector; wheat prices remained high. Due to the mobility of the machinery, both in terms of spatial as well as temporal range, moguls or wheat speculators could easily move their equipment and the little labor they needed from county to county or even state and work the land day and night (Worster 1986, 111; 2004, 93). In the five years prior to the start of the Dust Bowl in 1931 alone, native grasslands seven times the size of Rhode Island were plowed up just on the Southern Plains for wheat and cereal production, which increased harvests by 300 % and created an excess supply in times of

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stagnating US birth rates, xenophobic immigration laws and high trade barriers in a post-depression global economy. However, as a reaction to the falling wheat prices, farmers were individually trying to balance off the lower revenue with even greater scale. As a result, even more native grassland was plowed up, while overproduction increased and prices fell even more. When the ten-year drought and the dust storms were due to hit the plains, one third of the Dust Bowl area or 33 million acres lay bare, the soil pulverized through machines and dry-farming, and vulnerable for one of the worst human-induced erosion events in world history, which would damage 100 million acres with serious wind erosion (Worster 1999, 53; 2004, 94, 121, 182–3; 2020, 118). With dry-land farming, more drought-resistant crops and the mechanization of agriculture, it seemed again that there was a way to farm the semi-arid climate and turn the Great Plains into the promised garden of Eden. The crisis of World War I and the emergence of farm factories dynamized this wave of settlement, fully integrating the plains into the world market and the strategic interest of US government. Within this now much more globalized context, both the effects of boom as well as of bust increased significantly. The introduction of this article demonstrates a glimpse into the decade of ecological, social and economic turmoil which the drought and dust storms would introduce, making the plains nearly inhabitable. The situation was so severe that ecologists such as Paul Sears feared that the agricultural practice on the plains, the former paragon of factory farming, would threaten civilization itself (Worster 2004, 200). This article will only briefly discuss the enormous hardships of these Dust Bowl years,7 and rather places its focus on the measures taken to overcome this crisis. From a geological Anthropocene perspective, the 1930s Dust Bowl only appears as a regional event with no planetary significance in the stratigraphic archives of the new epoch.8 Despite this, the measures taken to cope with the crisis informing the AMP will show its planetary significance and contribution to the anthropogenic-induced Earth System trends of the Great Acceleration.

7 An elaborate account of the turmoil of the Dust Bowl years can found, for example, in Burns 2012, Egan 2006 or Worster 2004. 8 See for example McCarthy et al. 2022.

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Figure 2: A dust storm approaching Stratford, Texas. Picture by U.S. National Oceanic and Atmospheric Administration. Original in color.

In the light of the scale of the crisis, the habitability of the plains, the expansionary movement, and the basic institutions of capitalism were questioned fundamentally. One possible solution to the crisis, which was discussed by the greater public, was to resettle and relocate people from the most severely damaged parts of the Dust Bowl and return the plains back to their »pre-colonial state« and them for livestock again (Worster 2004, 52–3). Long before the Dirty Thirties, the problems of extreme soil erosion were discussed in the context of colonial agriculture, especially in the British Empire. The 1930s Dust Bowl was thus conceived of by many scholars of the time as the extreme occurrence of an international problem (Holleman 2018, 90ff). Even though the crisis was a time of reflective pausing, questioning the basic values and institutions of society, and giving rise to the new discipline of ecology, radical reforms were never seriously considered, not least as they were rejected outright by an important group of Midwestern voters. With a clear majority, the then traditional Republican leaning plains states voted Franklin D. Roosevelt (FDR) into office. The newly elected president made the speedy recovery of the plains a priority. By 1934, the drought damages would amount to half of the money the USA had put into the First World War, in 1936

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the aggregated financial damages of farms reached 25 million USD a day (Worster 2004, 12, 34, 38, 41, 184–5). Instead of radical reforms, fast-acting relief measures were sought in the country also trying to cope with the depression. These measures worked with rather than against the attitudes of plains people and were also in line with the the strategic interest of the federal government and a centralized national economy. After all, the function of the Great Plains was still to feed the expansion and self-attributed global responsibility of the rising world power (Worster 2004, 197, 214–5). Within the first hundred days of FDR’s presidency, new institutions such as the Agricultural Adjustment Administration, the Federal Emergency Relief Adminis­ tration or the Farm Credit Administration were founded, laying the foundation for the New Deal’s massive governmental coordinated reaction to this worsening crisis. The federal Great Plains Committee investigated the causes of and solutions to the Dust Bowl, attributing the crisis to the domina­ tion of nature ethics that treated land as a mere resource which can be exploited and is inexhaustible, the unregulated use of property by plainsmen, and the desirability of factory farming appealing to speculators, suitcase farmers and land-abusing operators. However, instead of suggesting drastic shifts in property law or regulation of factory farming and investment, the 1936 final report The Future of the Great Plains concluded, against its own analysis, that an agricultural practice that is right for a humid climate was applied to an unfit, semi-arid environment and thus was to blame for the crises. This was in line with the federal government’s approach to reform regional institutions instead of calling fundamental American attitudes, extra-regional institutions, and nation-wide developments into question, since this would have meant »[…] treat[ing] the plains as an extension of, not an exception to, the rest of America.«9 Much like in Holmes et al.’s TVA example, the Dust Bowl relief programs followed FDR’s national resource policy based on 9 Worster 2004, 196. See also Worster 1999, 61. The Taylor Grazing Act of 1934 is, in a way, an exception to this. With the native grassland broken and no corn growing in drought years, the Dust Bowl land needed a cover in order to stop dust storms. With the Taylor Grazing Act of 1934, the bulk of unplowed grassland was declared protected, ending homesteading forever. The Land Utilization project added acreage to this by purchasing badly abused or economically unsustainable private lands. In addition to this, decentralized county planning committees regulated the remaining private lands in an experiment of social democracy (Worster 2004, 190–2).

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state intervention into the economy, scientific expert intelligence to manage the environment and utilize the natural resources for public rather than private welfare (Worster 2004, 185; Holmes et al. 2020, 4). For this reason, a pillar of the New Deal conservation approach was formed of academic experts—predominantly land and agricultural economists—who promised relief through scientific progress and technological reform, and experimented to find the most economic use of the plains. This optimized the factory farm, and finally made the plains’ agriculture pay-off again. Perceived much like state troops in the Indian Wars helping out settlers, Operation Dust Bowl’s federal experts would now help out the farmers (Worster 2004, 215). With terracing fields and deep listing, the Soil Conservation Service’s agronomists eventually found a way to deal with low precipitation that was carried out large-scale with the help of the job-creation program of the Civilian Conservation Corps, employing a »dirt saving army« of plains people with no other opportunities. 10 The new mea­ sures worked and »the power of reason ruling over plains« increased yields and were very popular with farmers (ibid., 216–7). Soon, record-breaking harvests were in sight again, even greater than before the Dust Bowl. As long as the new scientific and technological solutions were permanently applied, cash-crops could be utilized to cover and hold together the soils (ibid., 223–5). The dust storms ended in 1941 and the factory farm Great Plains was running again. This took place just in time for another foundational crisis of the AMP: the USA entering World War II. Again, the same dynamics as with the last world war would unfold and the plains’ regional agency in the emergence of the AMP finally takes clear shape. In order to keep up with the demands of a war economy, and again backed by government price support programs as well as already high market prices, the plains were put into wheat production again, at an even faster pace than in the 1920s. Within this boom spirit, agro-corporations and suitcase farmers reappeared on the plains and plowed up millions of acres while lobbying against New Another agronomist New Deal project to manipulate the plains climate were so-called shelterbelts; mile-long rows of trees planted mostly planted at the rim of the Dust Bowl to break the winds and to stop desertification. Even though many of the 220 million trees planted eventually survived and brought benefits to local farmers, this costly large-scale project did not contribute much to the ecological recovery of the plains (Worster 2004, 220–3). Instead, it satisfied European ideas of habitability (Rosen 2022). 10

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Deal conservation measures, arguing that it was an impediment for machinery usage and limiting available acreage too much (ibid., 225). Even though there were already warnings that the plains might be running into another Dust Bowl, each record-breaking harvest made it harder to show the benefit of conservation measures and was seen as evidence against Dust Bowl prophets, further fueling the expansion to virgin soils once again (ibid., 226–7). Yet again in 1952, only a decade after the first Dust Bowl, the drought returned. The Dust Bowl of the »Filthy Fifties« was much shorter than that of the 1930s, lasting from 1952–1957. The drought events of this second Dust Bowl were even more severe than that of the 1930s Dust Bowl, with dust storms eroding twice as much soil in the drought’s peak years as in the »worst hard times« of the 1930s (ibid., 228). From the perspective of factory farming, taking the risk of a second Dust Bowl was not as irrational as it might first appear. For big scale farmers and the growing corporate web of agrobusiness, seizing the plains’ good years provided monetary profit margins few sectors could compete with. At the same time, with each drought, the federal government’s level of relief on the plains increased, reassuring farmers of their status being »too big to fail«. The government bailed out this region whenever agribusinesses’ speculation regarding the plains’ climate failed. By socializing the costs of such multi-year crises, the speculation proved to be even more profitable for the farm industry (Worster 1999, 65–7). However, it was also in the federal government’s interest to act as an insurance superpower for the plain, a move that was more profitable than it might at first seem. With its price guarantees during both world wars and the multi-institutional effort, regaining the plains’ abundance as a superpower proved to be strategically important. On the one hand, it was of importance domes­ tically to support price stability, full employment and good income for farms, backed by government policies resulting in immense federal grain stocks (Destler 1978, 618–9). On the other hand, the agricultural abundance was more and more utilized within the international arena. Used as a strategic means in World War I already, US food aid started to emerge as a war weapon of national interest during World War II. This intensified in the post-war era: from the Marshall Plan to the Korean War, in partitioned Germany and in Pakistan (Riley 2017, 106ff, 170), US food aid was utilized for US strategic interest. This does not only include an export of US grain stocks but also involved exporting the US farm factory model, that was perfected on the plains

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and globalized through strategic partnerships and US-dominated institutions like the World Bank (Riley 2017, 256f; Slater 2021, 78; Worster 1999, 53–4). The dubious success of this US super-weapon would come at a price, causing further Dust-Bowl-like events during the Cold War. One such event, ironically, took place in the USSR. Under the enormous competitive pressure of the US American agricultural model and its cultural persuasiveness, Premier Nikita Khrushchev ordered—against critics’ advice—for 40 million acres of native land to be plowed up in the steppe of Kazakhstan, Siberia, and Russia between 1954–65 to keep up with the demand of the Soviet people. Just as on the Great Plains, a severe drought caused dust storms and heavily damaged nearly half of the plowed-up acreage. This ecological crisis contributed to a political crisis that eventually drove Khrushchev out of office.11 In this light, the global scale of the plains’ mode of production, and its planetary impact, takes further shape.12

The Fourth Wave: the Irrigation Empire, 1950s to Present For a full picture of the plains’ AMP significance, we need to visit the Great Plains once more. The 1950s Dust Bowl receives considerably less attention than its predecessor, presumably because of its shorter 11 See Worster 2004, 7. The second event, Dust Bowl III, was yet again on the plains in the 1970s. Again, four million acres (about 1,6 million hectares) of native grassland were plowed up prior to a severe drought in 1974. And yet again, the massive plow-up was dynamized by strategic federal interest and global market dynamics. A massive crop failure in the Soviet Union presented a welcomed strategic Cold War opportunity for the US government and US agrobusiness at the same time, negotiating massive wheat purchases with the Russian government from 1972 on, after the USSR exceeded their credit limits even for subsidized prices. The wheat deals and first signs of a global crop failure made world market prices for wheat shoot up. Incentivized by high prices and supported by the government. More acreage on the plains was plowed-up. After the US realized that they had sold too much wheat to the Soviet Union, the US government incentivized farmers to plow up even more land on the plains (Worster 1999, 70). In 1974, when the drought hit, the land was bare and rife with severe dust storms for years, which were only stopped by »fortuitous return of rain in the late summer of 1977 that really brought Dust Bowl III to an end« (Worster 2004, 233). 12 Another articulation of the AMP related to the Dust Bowl which cannot be explored here is the origin of climate engineering as a reaction to the ecological crisis of the 1930s and Second World War developments, carried out post-war by a federally coordinated effort between scientists and General Electric. See Havens 1954.

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duration and the success of relief institutions established in the 1930s which absorbed much of the associated social hardship. Yet the main factor which causes the pattern of recurring severe droughts or even of Dust Bowls appears to be overcome, even historized, is the interplay of several fossil resources which have turned the Great Plains into a »nonrenewable landscape« (Watson 2020, 630; see also Worster 1999, 52–3, 61). The interplay of fossil water and fossil fuel in particular paved the way for the current fourth wave of colonial settlement. The first resource, fossil water or paleowater, is provided by the supposedly inexhaustible abundance of the Ogallala Aquifer, a groundwater reserve formed in the plains’ Miocene-Pliocene past and filled with ancient snow water which spans the High Plains from North Dakota to Texas along the former Dust Bowl land (Gustavson/Winkler 1988; Green 2021, 28; Slater 2021, 74).

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Figure 3: Outline of the Ogallala Aquifer with the then planned Keystone XL pipeline extension. Map by 50ajk, Wikimedia Commons, Creative Commons license CC BY-SA 3.0. Original in color.

There had been attempts to tap the Ogallala’s fossil water, one of the world’s largest aquifers, since the 19th century. Windmills, how­ ever, proved to be too weak to tap into the aquifers’ depths and early 20th century combustion engines were both much too service intensive and too costly to economically irrigate the large fields. Only after the 1930s Dust Bowl did modern irrigation on the High Plains start to take off. Backed by the federal government’s New

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Deal guaranteed-financing to overcome the considerable costs and risk, as well as through technological innovations—some directly emerging from the war economy—a technological solution for the plains’ semi-arid climate seemed feasible: underground rain (Green 2021, 36, 40). At first, the Ogallala’s abundance was utilized as an insurance policy to mitigate the effects of droughts, but by the late 1950s, the new »bonanza resource« (Worster 2004, 235) fossil water was put into service to increase the water-intensity of crop cultivation. This change was further intensified by a shift to more water intensive and higher value crops in the late 1970s, especially corn.13 In this way, acreage as well as per-acre profit-margins were increased significantly at the same time.14 This development was further accelerated with the invention of center pivot irrigation, transforming the plains landscape into its iconic assembly of green circles from the 1950s onwards. This new system, running on circular operating irrigation arms, hardly requires any labor, allowing a nearly full automation of irrigation around the clock, which in turn further accelerates the thirst for paleowater.15 In the past decade, the Ogallala depletion increased to eighteen times of the annual output of the Colorado River (Green 2021, 28ff, 38–40; Slater 2021, 77). Even the supposedly greatest drawback of irrigation, a significant demand for fossil fuels, was balanced locally: Deep beneath the aquifer, North America’s largest natural gas field provided abundant fossil fuels that farmers used to exploit the Ogallala. Thus, farmers created a nonrenewable landscape by using one type of nonrenewable resource – natural gas – to mine a separate nonrenew­ able resource – ancient groundwater. (Watson 2020, 630) Corn requires about 18 inches (46cm) more water than the natural (and very volatile) precipitation of the region offers, leaving a deficit of 12 inches (30,5cm) that must be covered by irrigation (Slater 2021, 77). 14 See Hornbeck/Keskin 2014, 191f, 214. However, the shift to water-intensive crops has offset the drought resistance of counties with access to the Ogallala Aquifer as Hornbeck/Keslin’s comparative study with nearby counties without access to the Ogallala shows. These counties have adapted to the significant lower water availability with less water intensive and more drought resistant crops. In effect, »nonOgallala counties are no more sensitive to drought than heavily irrigated Ogallala counties.« Nevertheless, land values and profits per acre remain significantly higher in Ogallala counties (Hornbeck/Keskin 2014, 215). 15 More advanced models are even able to spray pesticides with water, increasing the degree of automation even further (Slater 2021, 77). 13

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Figure 4: Satellite image of crop fields in Kansas, circles representing centerpivot irrigated crop fields. Image created by NASA, original in color.

By the early 1970s, USDA officials announced that they had found a climate-free agricultural practice for the plains, finally reassuring the plains farmers’ belief in technological progress and keeping the promise that was already implied in the »rain follows the plow« hypo­ thesis (Worster 1999, 61; 2004, 239). Consequently, this practice was not as much a »response to climate, but its replacement.«16 Through a multitude of nonrenewable resources, from fossil fuels to fossil water and fossil fertilizers, along with federal programs like farm subsidies and drought assistance, the plains are overcoming their place-based restrictions.

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Opie 1989, 255 as cited in Slater 2021, 78.

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Yet due to the deep time origin of its fossil abundance, the Ogallala Aquifer does not naturally replenish on a human time scale. It would take six thousand years to refill naturally (Slater 2021, 76). Certain areas are already running dry due to the Ogallala’s nonuniform formation. In addition to that, the Ogallala’s water-level decrease has gone hand in hand with a decline in its water-quality: agricultural chemicals, animal waste from livestock and factory farms, and oil spills from crossing pipelines threaten the water quality of the aquifer. Some parts of it are already so contaminated that they might qualify for Superfund status (ibid., 77). As soon as this wave of settlement hits its »unacknowledged material limit […], the nonnegotiable con­ straints of Ogallala groundwater« (ibid., 78), irrigated land will run dry and the land will lose its cover, with the risk of another Dust Bowl of so far unknown proportions. Keeping the status quo currently requires a massive resource input and will require even more in the future. Faced with this outlook as early as the 1970s, state institutions on the plains reacted with their infamous belief in technological progress, refering to TVA-like infrastructure projects to recharge the depleting aquifer.17 Given today’s consumption patterns, and not even taking into account predictions of an impending »unprecedented« decade-lasting Midwestern megadrought for the second half of the 21st century (Cook et al. 2015, Watson et al. 2020) or other not yet foreseeable Anthropocene impacts, the Ogallala Aquifer is expected to be depleted before the end of the century, and the first counties are already losing their access to the groundwater (Steward et al. 2013). Even though an US Court of Appeals legally declared the Ogallala’s water a nonre­ newable resource in 1965 (Hornbeck/Keskin 2014, 194), groundwater depletion is still structurally incentivized through subsidies and tax codes on a federal, state, and local level (Sanderson et al. 2020). As soon as the Ogallala runs dry, the plains will be exposed again and The 1968 Texas Water Plan included plans to artificially recharge the depleting aquifer with Mississippi River water, but these plans were rejected due to the massive energy input of annually 50 billion kW required to do so (Hornbeck/Keskin 2014, 192). There were similar proposals with the Missouri River or a proposal to construct a reservoir through a chain of artificial islands along the Texas Gulf Coast, pumping the water back to the High (Green 2021, 42). No superpower infrastructure project in this vein has been pursued yet. This unshakeable belief in scientific progress which is increasingly unquestioned is also being mirrored in the post-1930 development of mainstream economics (Schäfer/Schuster 2022). 17

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another bust will follow the current boom period, with a Dust Bowl likely being more severe than anything previously encountered on the Great Plains (Worster 2004, 23). Within this fourth wave of settlement, the plains were turned into a nonrenewable space, considerably fueling the Great Acceleration and delivering a textbook example for the technosphere. The term technosphere was introduced by Peter K. Haff (Haff 2014a, 2014b) and describes the speculative idea that economic transformations such as hyper-industrialization, heightened economic competition, and the increased interconnectedness of human-human and human-envi­ ronment, have added a technical domain to terrestrial metabolic pro­ cesses (Klingan/Rosol 2019). The technosphere is thereby a multiple feedback-system of technology, the social, and the ecological. This macrosystem is determined by »planetary-scale technology« (Haff 2014a), which allows the technosphere to interact with the other geo­ spheres such as the biosphere, the atmosphere, or the hydrosphere, ultimately making it an Earth-historical actor. The dynamics under­ lying this agent consist of a blending and condensation of »objects, events, effects, collectives, material flows, histories, and consequences into a present set into perpetuity, a presence of permanence.«18 These dynamics clearly emerged and intensified step by step with each wave of settlement lined out in this article. Beginning with the cattle barons and the Transcontinental Railroad which connected the plains to the world economy for the first time, followed by the plains as model of a mechanized agriculture and the acceleration by both World Wars as well as the region’s strategic importance in the post-war era, the driving force of the technosphere on the plains has become evident. For example, the Midwest’s massive land surface modification, largely based on mono-crop irrigation, has significantly cooled the regional climate and increased precipitation,19 which demonstrates the inter­ play between technosphere, hydrosphere, biosphere and atmosphere. Klingan/Rosol 2019, 13–4. Translation by the author. See Mueller et al. 2015. Also, conservation efforts on the plains that have to be considered in a technosphere context, most clearly visible by the example of carbon credits. Organizations like the Southern Plains Land Trust or the National Indian Carbon Coalition protect marginal lands from plowing by utilizing the grasslands’ carbon-trapping capacity, thus raising funds through for further conservation through the international carbon credit market. However, scientists and conservationists are concerned that the pressure and dynamics of this international market (for example entrepreneurial and scientific attempts to boost the grassland’s carbon-trapping 18 19

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Taking the most recent developments of agribusinesses into account, especially precision farming and the transformation of transnational agricultural corporations such as John Deere and Bayer/ Monsanto to Big Data collecting and processing corporations, the current and future driving role of the technosphere on the plains and its AMP significance takes even more shape. For example, built-in sensors on John Deere tractors collect soil and crop data in the field, which is sold to chemical corporations like Bayer/Monsanto or managers of agricultural commodity fonds in real time (Bron­ son/Sengers 2022), creating new feedback loops which dynamize the plains’ agriculture. This state can also be described with Hartmut Rosa's diagnosis of a »racing standstill« (Rosa 2019). This racing standstill becomes most evident with irrigation. Irrigated land keeps the dust on the ground, at least providing an intermediary, if hardly sustainable, solution and bringing supposed stability to the Great Plains. At the same time, the cultivated water-intensive crops that deplete the aquifer are in great parts utilized for biofuels to mitigate climate change, a crisis which in turn will increase ecological and social pressure on the region (Ott et al. 2021). This is further pressured by the water-intensive multinational meat companies that have been attracted by the Ogallala’s fossil water and migrated from the former industrial meat centers of Chicago, Omaha and Kansas City to the Southern Plains (Worster 1999, 63; 2004, 251).20 Taking into account the export of the plains’ agricultural model to similar or even less favorable climates, and the prediction of extreme drought conditions for many of the world’s major food-producing regions, an international »Dust-bowlification« (Romm 2011) might become one expression of the early Anthropocene, jeopardizing global food security and turning global landscapes into time bombs.

capacity, or the system’s sole focus on carbon rather than the immense biodiversity of the grasslands) might cause another wave of boom and bust (Rosen 2022). This might again threaten the North American prairie, one of the world’s most endangered biomes (Slater 2021, 76), this time unintentionally by conservation efforts. 20 Another example of the plains’ entanglement into technosphere dynamics is the globalization of American fast-food restaurants after World War II, iconized by McDonalds and hamburgers (Williams/Zalasiewicz 2022, 318ff). This way, the accelerated global demand for beef further transformed the Great Plains, expanding crop acreage and the regional beef industry, every bite into a hamburger deepening this mutual entanglement.

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Conclusion As Holmes et al. (2020, 5f) have argued, the ecological crisis of the 1930s and the Second World War have been foundational for the emergence of the AMP. Yet, as this explanatory study has laid out, the resulting quest for superpower as a reaction to the crises has not only been pursued in a TVA-context. During the same time period, and on some levels even by the same people,21 very similar conclusions and reassurances have been drawn from the defeat of these human-made crises: the place-based natural restrictions have been temporarily overcome by tapping into the super-abundance of the different regional fossil superpowers. Only with the planetary-scale of the resources and technologies this mode of production was able to utilize, does its geological impact becomes explainable. No singular event such as the development of the nuclear bomb demarcates the plains’ agency in the emergence of the AMP, as in Holmes et al.’s case study. Instead, the Great Plains’ contribution to the AMP is hiding in plain sight. For this reason, a broader perspective on the region’s historical transformation is necessary to unearth its Anthropocene dimension. As a reaction to four fundamental crises, both World Wars, the Great Depression and the Dirty Thirties, a mode of production emerged on the on the plains by »governmental coordination of scien­ tific research and industrial development for military and economic end« (Holmes et al. 2020, 2), mainly by New Deal institutions, as in the TVA case study. This mode of production then expanded from the plains as part of the US foreign policy strategy from »its initial sites of origin to saturate the entire world economy« (ibid., 2). This »ever-expanding pattern that has gradually imposed itself on global landscapes« (ibid., 9) was born on the plains through the coordination effort of the New Deal and war time state coordination between science and industry, which created powerful teams able to do things previously considered impossible; making the plains a Garden of Eden, and, as a result of its globalization, contributing to the disrup­ tion of the Earth’s geochemical cycles. As the example of John Deere has indicated, this coordination capability of the wartime state has since been absorbed by global-scale corporations in the agribusiness industry for economic ends. Such tactics are also implemented by 21 This becomes especially apparent with Gifford Pinchot, compare Holmes et al. (2020, 4f) and Worster (2004, 186ff).

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states for strategic military and economic reasons, as the most recent example of Qatar shows. As a reaction to a blockade by its neighboring countries in 2017, the country which was then heavily reliant on food imports followed the plains’ model to farm even in an arid climate, inter alia by tapping into aquifers (Karanisa et al. 2021). The Faustian bargain of the AMP becomes evident on the plains as well, showing the price of the plains’ agricultural abundance. Jeffer­ son’s speculation to utilize the plains as insurance for his democracy of small farmers has, particularly on the High Plains, »been rendered a depopulated corporate factory of automated agriculture« (Slater 2021, 78), heavily reliant on undocumented workers for the meat and farm­ ing industry, turning the originally envisioned democracy of small estate owners into flyover states largely possessed by multicorporate organizations with headquarters outside the plains. The agricultural superabundance of several decades, especially since the Great Accel­ eration, is jeopardizing the long-term habitability of a region thus mirroring the larger planetary bargain of the Anthropocene.

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Ökonomie im griechischen Staat. Nietzsches Oncken-Lektüre und die Gewinnkonzeption des »allgemeinen Genius«

Auf König Midas Frage, »was für den Menschen das Allerbeste und Allervorzüglichste sei«, antwortet der auf der Jagd gefangene weise Waldgott Silen lachend: »Das Allerbeste ist für dich gänzlich unerreichbar: nicht geboren zu sein, nicht zu sein, nichts zu sein. Das Zweitbeste aber ist für dich — bald zu sterben« (GT 3, 35).1 Ein Fragment des Aristoteles ist die Quelle jener Sage vom menschlichen Leben als Verlustgeschäft, die Friedrich Nietzsche in der Geburt der Tragödie (GT) aufgreift. Bekanntlich war Aristoteles selbst hinsicht­ lich des Menschen weniger pessimistisch als Silen und entwickelte eine Theorie des Staates und dessen Politische Ökonomie entlang der Gewinnkonzeption des guten Lebens.2 In Der griechische Staat (GS) unternimmt der junge Nietzsche nun einen eigenen staatstheoretischen Entwurf, der in Anlehnung an Silens Weisheit mit der pessimistischen Einsicht beginnt, dass das menschliche »Dasein keinen Werth an sich hat« (GS, 765). Wenn auch nicht das verlockende und bürgerliche gute Leben des Aristo­ teles versprochen wird, stellt Nietzsche dem Menschen in seinem 1 Nietzsches Werke werden nach der Kritischen Studienausgabe (KSA), herausgege­ ben von Giorgio Colli und Mazzino Montinari (Nietzsche 1999), mit der üblichen Titelsigle, Paragraphen-, Notats-, bzw. Aphorismennummer und ggf. Seitenzahl zitiert. Einzig Nietzsches Vorlesungsaufzeichnungen zitiere ich nach der ebenfalls von Colli und Montinari begründeten Kritischen Gesamtausgabe (KGW) (Nietz­ sche 1967ff). 2 Der Gewinnbegriff wird hier bereits in einer philosophischen Erweiterung verstan­ den, die über das Konzept monetärer Renten hinausgeht (vgl. Enkelmann 2012). Zur konkreten Gewinnkonzeption des guten Lebens bei Aristoteles schreibt Wolf Dieter Enkelmann: »Wenn auch noch offen bleibt, was letztlich ein Gewinn ist, generiert das gute Leben jedenfalls einen Überschuss gegenüber den Kosten der Daseinsreproduktion und Selbsterhaltung.« (Enkelmann 2011b, 4).

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Staatsentwurf doch immerhin in Aussicht, als »Mittel des Genius« an dessen Würde teilzuhaben und durch die Verwirklichung des »Genius in seinem allgemeinen Begriff« (ebd., 776) das menschliche Dasein entschuldigen zu können. Dabei wird die Sklaverei zur Voraussetzung des Staates erklärt, von dem aus Nietzsche dann einen Angriff auf die Moderne initiiert. Bisher wurde Nietzsches griechischer Staat primär als ein plato­ nischer Entwurf verstanden.3 Inzwischen geht man auch davon aus, dass Platon der einzige philosophische Klassiker war, mit dem sich Nietzsche vor allem direkt, also nicht vermittelt über Sekundärlitera­ tur, auseinandersetzte (vgl. Sommer 2021, 24). Ein direkter Bezug zu Platon scheint also zunächst nahezuliegen, nicht zuletzt, weil dem platonischen Idealstaat eine prominente Rolle im letzten Abschnitt von Der griechische Staat zukommt. Allerdings umfasst Nietzsches Staat in seiner Genese auch das militärisch geprägte Sparta mit sei­ ner auf den sagenumwobenen Lykurg zurückgeführten Verfassung. Sparta war nicht nur lange Zeit militärische Vormacht in Griechenland und Kontrahent Athens im Peloponnesischen Krieg. Die Idee des platonischen Staats stellte ein Gegenkonzept zum real existierenden spartanischen Staat dar. In Nietzsches griechischem Staatsentwurf erscheinen diese eigentlich entgegengesetzten Pole nun harmonisch vereint. Mehr als das: Sie gehen Hand in Hand mit einer Verteidigung der Sklaverei und der Konzeption eines Arbeitsbegriffs, die jeweils deutlich an Aristoteles' Politik erinnern. Versteht man den Staatsent­ wurf als einen primär platonischen Versuch, gibt es hier also gleich mehrfach Klärungsbedarf. Enrico Müller wies bereits darauf hin, dass die scheinbaren Widersprüchlichkeiten nicht auf eine mögliche Unbedachtheit Nietz­ sches zurückgeführt werden sollten. Vielmehr versuche Nietzsche, Charakteristiken der Griechen herauszuarbeiten, »die auch in Anse­ hung genereller intrahellenischer Diversitäten konstitutiv sind für Diese Einordnung wird beispielsweise als »antikisierende, platonische Utopie« (Ottmann 1999, 48), platonische Reflexion (vgl. Drochon 2018, 60), oder auch als Verteidigung des platonischen Staats mit Künstler-König (Ansell-Pearson 1994, 76) vorgenommen. Martin Ruehl beleuchtete zudem Nietzsches Verbindungen zu Richard Wagner und Jacob Burckhardt als relevante Entstehungskontexte des Essays und kontrastierte den Staatsentwurf als platonisches Konzept mit der aristotelischen Polis (Ruehl 2003, 71). Dabei ist die Diversität der Beiträge insbesondere von der jeweiligen Rezeption des Politischen bei Nietzsche bedingt, deren mittlerweile aus guten Grün­ den größtenteils aufgegebene Extreme in der Darstellung Nietzsches als apolitischem Philosophen beziehungsweise Vordenker des Nationalsozialismus lagen. 3

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Ökonomie im griechischen Staat.

ein Verstehen ihrer Einzigartigkeit im kulturgeschichtlichen Sinn als auch ihrer prinzipiellen Fremdheit aus dem Blickwinkel des modernen Betrachters« (Müller 2005, 86). Eine ausführliche Gegenüberstellung der platonischen Politeia mit Nietzsches Entwurf steht derweil noch aus. Auch blieb bisher unbemerkt, dass Nietzsche sich zur Herausar­ beitung der Charakteristiken des Griechentums in entscheidender Weise auf Wilhelm Onckens Die Staatslehre des Aristoteles in histo­ risch-politischen Umrissen bezogen haben könnte. Aus den Verbindungen zu Oncken, die ich in diesem Beitrag kontextualisierend heranziehen werde, ergibt sich ein neuer Zugang zu Der griechische Staat, durch den ein wesentlich differenzierteres Verständnis des Staatsentwurfs und seiner Ökonomie möglich wird. Nicht der platonische Idealstaat, sondern die von Oncken in histo­ risch-kritischer Manier entwickelten Ausführungen zum Volksgrie­ chentum bilden demnach den entscheidenden politischen Bezugs­ punkt Nietzsches. Der Entwurf repräsentiert, aus diesem Kontext erschlossen, einen volksgriechischen Staat, vor dessen Hintergrund sowohl platonische und aristotelische als auch spartanische Elemente harmonisch im Sinne der Gewinnkonzeption einer Verwirklichung des Genius miteinander verbunden werden können. Dabei lässt sich der leitende Gedanke des Staatsentwurfs aus dem umliegenden frü­ hen Werk Nietzsches verstehen. Dieser Beitrag unternimmt also keinen allgemeinen Versuch über die Politik oder Ökonomie Nietzsches, sondern expliziert die Ökonomie seines griechischen Staates und deren Gewinnkonzeption durch eine quellenorientierte Analyse von Nietzsches Oncken-Lek­ türe. Da Letztere erst noch von Grund auf erarbeitet werden muss, liegt hier auch der Schwerpunkt dieses Beitrags. Dennoch wird es möglich sein, entlang der Kontextualisierungen bereits die Umrisse einer Ökonomie des neu erschlossenen griechischen Staats zu zeich­ nen. Um die leitende Idee des Staatsentwurfs angemessen zu explizie­ ren, ordne ich diesen zunächst in den Kontext und Themenaufriss des Frühwerks ein. Es folgen einige Vorbemerkungen zu Onckens Werk, Nietzsches darauf bezogenes Interesse und nicht zuletzt den metho­ dologischen Herausforderungen der quellenorientierten Analyse. Im Hauptteil illustriere ich dann den Bezug Nietzsches auf Oncken, kontextualisiere den griechischen Staat mit entsprechenden Passagen aus Onckens Staatslehre des Aristoteles und nehme erste politische und ökonomische Einordnungen vor. Abschließend fasse ich die neu gewonnene Perspektive auf die Ökonomie des griechischen Staats

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Sören E. Schuster

zusammen und zeige kurz auf, wo Potenziale weiterer Forschung liegen können.

Der griechische Staat in Nietzsches Frühwerk Nietzsche schenkte Cosima Wagner den Text zum griechischen Staat im Dezember 1872 als eine von Fünf Vorreden zu fünf ungeschriebenen Büchern zum Geburtstag. Weder die Beschenkte selbst noch Richard Wagner sollen übermäßig begeistert von den soziopolitischen Ideen Nietzsches gewesen sein, stehen diese doch in einer Opposition zur von Wagner favorisierten aristotelischen Polis. Martin Ruehl interpretiert den Text deshalb als »poisonous gift to Bayreuth« (Ruehl 2003, 74) und frühes Zeichen der Entfremdung Nietzsches von Wagner. Die Ausführungen zur griechischen Polis waren zunächst als Teil von Nietzsches Erstlingswerk, der Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik, geplant und wurden dann der Vermutung Ruehls folgend sogar aufgrund einer Forderung Wagners – möglicherweise während einer Diskussion im April 1871 in Tribschen – aus der Geburt der Tragödie ausgeschlossen. Die fünf Vorreden wurden letztendlich posthum veröffentlicht. Der Umfang von Der griechische Staat geht tatsächlich auch nicht über den einer Vorrede hinaus und bietet damit erst gar keinen Raum für einen ausgearbeiteten Staatsentwurf, der es mit den Klassikern der Politischen Theorie aufnehmen wollte oder könnte. Dennoch spricht man ihm eine gewisse Schlüsselrolle für die politischen Überlegungen Nietzsches zu und zieht Verbindungen zu späteren und umfangreicheren Ausführungen, etwa in der Genealogie der Moral (GM). Der griechische Staat ist dabei keine isolierte politische Überle­ gung, sondern ein stark mit dem umliegenden Werk verwobener Essay, weshalb ich zwei zentrale Motive mit dem näheren Werkkon­ text verknüpfe. Zunächst schließe ich die »verborgenere und seltner redende, aber überall lebendige Weisheit, daß auch das Menschending ein schmähliches und klägliches Nichts […] sei« (GS, 765) an die Erzählung der Sage um König Midas an und ordne sie in den Kontext des Pessimismus im Frühwerk ein. Dann setze ich jenen »Genius in seinem allgemeinen Begriff« (ebd., 776) in ein Verhältnis zur pessimistischen Ausgangslage und stelle dar, wie Nietzsche dem menschlichen Leben so noch etwas Wünschenswertes abgewinnt – und wie dieses Wünschenswerte, gewissermaßen als »Allerbeste[s]

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und Allervorzüglichste[s]« (GT 3, 35), an der Spitze des entworfenen Staates landet. Im Rahmen seines Staatsentwurfs kommt Nietzsche nur einmal, im Zuge einer Diagnose des modernen Menschen, namentlich auf den Pessimismus zu sprechen. In der ansonsten sklavisch geprägten Moderne gelänge es Einzelnen, aus den allerorts ausgefochtenen Existenzkämpfen herauszutreten. Diese Einzelnen seien aber »sofort wieder durch die edeln Wahnbilder der künstlerischen Kultur beschäf­ tigt […], damit sie nur nicht zum praktischen Pessimismus kommen, den die Natur als wahre Unnatur verabscheut« (GS, 765). Als Misch­ wesen aus Kunsttrieb und Überlebenskampf rechtfertigten sie den letzteren, indem sie dem Menschen und seiner Arbeit eine Würde an sich andichteten. Auf diese Weise käme es zur Verhinderung des praktischen Pessimismus – und auch zur Verblendung der Einsicht in die Nichtigkeit des Menschen und seiner Arbeit. Mit dem praktischen Pessimismus meint Nietzsche an dieser Stelle nichts weniger als den Suizid: die Anwendung der Einsicht, dass das menschliche Leben nicht lebenswert sei. Den theoretischen Pessimismus, also die mögliche Einsicht in eine »verborgenere und seltner redende, aber überall lebendige Weis­ heit« (ebd., 765), führt Nietzsche auf die Griechen zurück, die anders als der moderne Mensch nicht auf das künstliche Schönreden des menschlichen Lebens angewiesen gewesen seien. In einem früheren Notat illustriert Nietzsche verschiedene Umgänge mit dem theoreti­ schen Pessimismus und hält für die Griechen fest: »Bei aller pessimis­ tischen Erkenntniß kommt es nie zur That des Pessimismus.« (NL 1870–71, 5[50]) In der Geburt der Tragödie schreibt Nietzsche zum griechischen Umgang mit dem Pessimismus: »Ihn [den Hellenen, Anm. des Autors] rettet die Kunst, und durch die Kunst rettet ihn sich – das Leben.« (GT 7, 56) Anders sähe es etwa für die Bewohner der Fidschi-Inseln aus, deren praktischer Pessimismus so ausgeprägt sei, dass sie es für Recht hielten, »ihre besten Freunde umzubringen, um sie von dem Elend dieses Lebens zu befrein« (NL 1870–71, 5[50]).4 Die griechische Affirmation des Lebens im Zuge einer Aufhebung des Pessimismus in der Kunst wird zum Grundgedanken der Geburt der Tragödie, auf den Nietzsche sich in seiner nachträglichen Vorrede von Im Notat Nietzsches ist die Passage, die er in der Geburt der Tragödie wieder aufgreifen wird (vgl. GT 15, 100) in Anführungszeichen gesetzt. Es handelt sich also womöglich um ein Zitat aus einer unbekannten Quelle.

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1886 als »Artisten-Metaphysik« (GT Selbstkritik 2, 13) bezieht. Mit jener Weisheit greift Nietzsche in Der griechische Staat auch die ein­ gangs erwähnte Sage von König Midas und Silen auf, die nicht nur in den frühen posthum veröffentlichten Schriften, sondern insbesondere in der Geburt der Tragödie eine zentrale Rolle spielt. Der griechische Pessimismus5 ließe sich kontextualisieren durch die »antiklassizisti­ sche neue Sicht des Griechentums« (Müller 2005, 94), die Müller in der Verbindung Nietzsches mit Burckhardt herausstellt.6 Tatsächlich führt auch Burckhardt in seinen posthum veröffentlichten Vorlesun­ gen zur Griechischen Kulturgeschichte die Sage von Silen und Midas im Rahmen des griechischen Pessimismus als Teil der »Gesamtbilanz des griechischen Lebens« an (vgl. Burckhardt 1908, 411). Ganz im Sinne der Tragödie setzt Nietzsche im Frühwerk also auf die Kunst, der er eine Affirmation des Lebens und nicht zuletzt eine Erlösung des Menschen aus dessen Nichtigkeit zutraut. Anstatt sich mit dem pessimistischen Verlustgeschäft abzufinden, spekuliert er auf Grundlage der historischen Ausführungen zur griechischen Kultur und deren Mythen auf einen artistischen beziehungsweise artisten­ metaphysischen Gewinn.7 In Der griechische Staat tritt der aus dem 5 Dass der Pessimismus namentlich keine größere Rolle in Nietzsches Werk spielt, könnte, wie Tobias Dahlkvist zeigt, mit der Einführung des Begriffspaares des Apollinischen und Dionysischen zusammenhängen. Dahlkvist argumentiert, dass der theoretische Pessimismus bei Nietzsche sich zu einem integrierten Bestandteil des Dionysischen entwickelte. Wenn Nietzsche philosophisch auf das Konzept des Dionysischen zu sprechen kommt, greife er auch immer wieder auf die entsprechenden Mythen zurück (vgl. Dahlkvist 2007, 157). Mit dem Dionysischen bezieht sich Nietzsche einmal mehr auf die griechische Mythologie, in der Dionysos als Schüler des Silens auftaucht und diesen aus der Gefangenschaft des König Midas befreit. Im späteren Werk beschäftigt Nietzsche bekanntlich der Begriff des Nihilismus. 6 Im philhellenistischen Bürgertum des 19. Jahrhunderts führte die Begeisterung für das perikleische Athen tendenziell zur Romantisierung der Klassik, gegen welche sich Burckhardt und Nietzsche wiederum wandten. Zum Antiklassizismus bei Nietzsche und Burckhardt als »Dekonstruktion der Kategorie ›Klassik‹ […], einer Kategorie, die zuletzt aufgrund ihrer weltanschaulichen und normativen Implikationen ihrerseits nur als Produkt einer einseitigen, nämlich ›klassizistischen‹ Rezeption ersichtlich wird«, siehe (Müller 2005, 75ff). Die Bedeutung der Verbindung Nietzsches zu Burckhardt wird aktuell etwa anhand des entsprechenden Briefwechsels diskutiert (Müller 2021). 7 Der Begriff des spekulativen Gewinns ist an dieser Stelle vielleicht umso treffender, als Nietzsche in Ecce Homo selbst über die Geburt der Tragödie schreibt: »sie riecht anstössig Hegelisch […]. Eine ›Idee‹ — der Gegensatz dionysisch und apollinisch — ins Metaphysische übersetzt; die Geschichte selbst als die Entwicklung dieser ›Idee‹; in der Tragödie der Gegensatz zur Einheit aufgehoben« (EH GT 1, 310).

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Künstlerischen verallgemeinerte Genius als jene erlösende Instanz auf, durch die auch der Mensch »ein Grad von Würde« gewinnen kann – »nur als völlig determinirtes, unbewußten Zwecken dienendes Wesen kann der Mensch seine Existenz entschuldigen.« (GS, 776) Die Formulierung erinnert an die bekannte Passage in der Geburt der Tragödie: »denn nur als aesthetisches Phänomen ist das Dasein und die Welt ewig gerechtfertigt« (GT 5, 47). Nietzsche entwickelt also einen eigenen Umgang mit der grundlegenden Diagnose des theoretischen Pessimismus, die er seinerzeit natürlich nicht als Einziger stellte.8 Der griechische Staat ist, verstanden als Übersetzung dieses Gedankens ins Politische, nun vollkommen auf die Erlösung aus dem Pessimis­ mus durch die Verwirklichung des allgemeinen Genius ausgelegt. So ergibt sich eine ökonomische Gewinnkonzeption, die bereits zur Entstehungszeit des Textes – also bevor die marginale Revolution die Ökonomik entscheidend prägte und die Dominanz der Neoklassik im 20. Jahrhundert vorbereitete – wirtschaftswissenschaftlich gesehen vollkommen unüblich war.

Einige Vorbemerkungen: Nietzsches Oncken-Lektüre und die quellenorientierte Analyse Bevor es um die konkreten Bezüge Nietzsches auf Oncken gehen kann, sind einige Vorbemerkungen zu Nietzsches Interesse an Onckens Staatslehre des Aristoteles und den methodologischen Herausforderungen der quellenorientierten Analyse angebracht. Zunächst stellt sich nämlich die Frage, weshalb Nietzsche sich über­ haupt mit einem Werk über Aristoteles auseinandergesetzt haben soll. Gemeinhin geht man davon aus, dass Nietzsche kein erwähnens­ wertes Interesse an Aristoteles hatte, weshalb man auch allenfalls nebensächliche Bezüge zwischen der aristotelischen Politik und dem Werk Nietzsches herstellt.9 Kürzlich legte Jing Huang dar, dass die Politik in der Geburt der Tragödie durchaus eine ernstzunehmende Rolle gespielt haben könnte – wenn auch »hauptsächlich durch ein Als Leser und Rezipient von Arthur Schopenhauer, Eduard von Hartmann und auch Phillipp Mainländer positionierte sich der junge Nietzsche auch im lebendigen Pessimismus-Diskurs seiner eigenen Zeit (siehe dazu Dahlkvist 2007). 9 Eine Ausnahme im Themenfeld der Ökonomie bildet Wolf Dieter Enkelmanns Interpretation des »Thier[s], das versprechen darf« (GM II 2) als eine Übersetzung des aristotelischen »zoon logon echon« (Enkelmann 2011a).

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Interesse an der Musik motiviert« (Huang 2021, 150). Aus der Lektüre Onckens lässt sich, wie ich zeigen werde, ebenfalls ein Interesse an Aristoteles' Politik belegen, das allerdings vermittelt ist an Aristoteles als einen Theoretiker des griechischen Volkes. Die Politik kontextualisiert Oncken nicht nur durch Staatsentwürfe wie Platons Politeia, sondern auch durch das damalige Griechentum, etwa in der Ausprägung des lykurgischen Spartas, auch vermittelt durch historische Berichte. Nietzsches Interesse an Onckens Werk musste sich daher keinesfalls auf Aristoteles beschränken. Als junger Professor hatte Nietzsche das zweiteilige Werk Onckens ab 1870 mehrfach aus der Universitätsbibliothek Basel entliehen und nachweislich für seine Vorlesung Einführung in das Studium der platonischen Dialoge verwendet (vgl. Guarde-Paz 2013). Nietzsche konsultierte es maßgeblich zur Darstellung der platoni­ schen Politeia: zur Aufhebung des Eigentums, der »Abscheu vor dem Kapitalwucher« (KGW II 4.61), der Austreibung des Egoismus und der Errichtung einer kastenförmigen Gesellschaft mit besonderem Blick auf die Rolle der Frauen. Während die meisten Themenbereiche sich in Der griechische Staat wiederfinden, taucht »die Stellung des Weibes zum Staate« (NL 1871, 10[1], 349) lediglich in der Anfang 1871 verfassten Vorstufe des Textes auf.10 Neben der Staatslehre des Aristoteles lieh Nietzsche im Juni 1870 zudem Onckens Athen und Hellas und im Zeitraum von 1873 bis 1874 dreimal dessen Isokrates und Athen aus (vgl. Crescenzi 1994). Nietzsche bezieht sich weder in Der griechische Staat noch im veröffentlichten Werk namentlich auf Oncken oder die Staatslehre des Aristoteles.11 Der in diesem Beitrag vorgeschlagene Bezug muss also umso überzeugender dargelegt wer­ 10 Dabei hatte die Rolle der Frau im griechischen Staat Nietzsche nachhaltig beschäf­ tigt, wie sich auch an weiteren nachgelassenen Notaten zeigen lässt (vgl. NL 1870–71, 7[31], 145f oder NL 1870–71, 7[122], 170ff). Auch weitere Motive, die potenziell mit Onckens Werk in Verbindung stehen, lassen sich in Notaten zwischen 1869 und 1871 wiederfinden: frühe Gegenüberstellungen der Arbeit in Griechentum und Moderne (NL 1869–71, 3[44], 73; NL 1870–71 7[16], 140), an Platon orientierte Gedanken zum kastenförmigen Gesellschaftsaufbau (NL 1870–71, 7[18], 140; NL 1870–71, 8[27], 232) und zum artistischen Zweck des Staates (NL 1870–71, 7[23], 142; NL 1870–71, 7[40], 148). 11 Explizite Bezüge auf Oncken finden sich jedoch in den Vorlesungsaufzeichnungen (WS 1871/72–WS 1874/75) in Nietzsches Einführung in das Studium der platonischen Dialoge (KGW II 4.77, 4.84). Nietzsche konsultiert Oncken einerseits hinsichtlich der Zusammenstellung von Platons Die Gesetze und andererseits vor allem hinsichtlich der aristotelischen Kritik an der Politeia (vgl. Oncken 1870a, 201–8). Auch Nietzsches

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den. In der Erforschung von Nietzsches Quellen – zum Beispiel im Fall des österreichischen Ökonomen Emanuel Herrmann (dazu Schuster 2022a) – können Marginalien, Bleistiftmarkierungen in Nietzsches Exemplaren oder auch Anführungszeichen im betreffenden Text die Argumentation stützen. Mit Hinblick auf Oncken als potenzielle Quelle kann leider nicht auf derartige Indizien zurückgegriffen wer­ den,12 sodass die in diesem Beitrag herausgearbeiteten Bezüge inhalt­ lich und/oder terminologisch überzeugen müssen. Innerhalb der Nietzscheforschung gibt es bisher keine etablierte Kategorisierung von Bezugnahmen, auf die sich an dieser Stelle methodisch sinnvoll zurückgreifen ließe.

Onckens Aristoteles als Ressource für Nietzsche Das für Nietzsches Staatsentwurf relevante zweibändige Die Staats­ lehre des Aristoteles in historisch-politischen Umrissen (Oncken 1870a; 1870b) wird heute kaum rezipiert, weshalb ich die Zusammenhänge, aus denen Nietzsche schöpft, begleitend darstelle. Oncken löst die im Titel des Werks enthaltene Ankündigung einer historisch-politi­ schen Studie ein und setzt den Idealisierungen des aristotelischen Staates eine differenzierende und auch quellenkritische Entstehungs­ geschichte der Politik entgegen. Aristoteles selbst ist für Oncken in erster Linie ein scharfsichtiger Wissenschaftler, der eine aufkläre­ rische Staatslehre entwickelt und mit der damals in Griechenland verbreiteten Romantisierung des spartanischen Staates aufräumt (vgl. Oncken 1870a, 12). Die aristotelische Politik läuft bei Oncken dann auf einen wehrhaften Kulturstaat des Mittelstandes hinaus, in dem »das Privatrecht für Alle gleich, der Besitz aber der Maassstab der politischen Berechtigung ist und die Geltung des bestehenden Rechts­ zustandes« (Oncken 1870b, 272). Die griechischen Stadtstaaten stelle Aristoteles demnach unter die »Schirmherrschaft des makedonischen Königthums« (ebd., 274). Oncken betont in seinem Vorwort den widersprüchlichen philosophischen Charakter der Politik. Während Zitationen auf S. 84 lassen sich zu Oncken zurückverfolgen, so beispielhaft »ewig gleichbleibende Loose aus dem Staatsgut« (KGW II 4.84; vgl. Oncken 1870a, 203). 12 Das 1875 von Nietzsche erworbene und in seiner Privatbibliothek erhaltene Exem­ plar enthält keine nennenswerten Marginalien oder Lesespuren – ohnehin hätten diese aufgrund ihrer späteren Entstehung lediglich eine eingeschränkte Aussagekraft für den Kontext dieses Beitrags.

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einerseits die Moderne durch dessen Philosophie scheine, sei Aristo­ teles andererseits »so ganz Grieche und Athener« (Oncken 1870a, VII). Die darauffolgende Definition des Hellenischen könnte auch als Pro­ grammatik für Nietzsches Staatsentwurf und das zugrundeliegende Verständnis des Griechentums gelesen werden: Ein Hellene durch und durch ist der Denker, der die Naturnothwendig­ keit des Staates und der Sclaverei behauptet […]. Als ein Philosoph, der alten strengen Schule nahe verwandt, offenbart er sich dort, wo er die Einheit von Sitte und Gesetz predigt, gegen Capitalwirthschaft und Seewesen eifert und die gewerbliche Arbeit des echten Vollbürgers unwürdig erklärt. (ebd., IX)

Onckens Werk dient Nietzsche, so die These dieser Studie, als Res­ source zur Entwicklung einer eigenständigen Staatsidee aus dem übrigen Werkkontext. Nietzsche adaptiert zwar historisches Material, transformiert dieses allerdings entscheidend, um es für den leitenden Gedanken seines Staatsentwurfs ins Spiel zu bringen.13 Für rein affirmative Adaptionen bot Oncken auch keine geeignete Lektüre. Die stetig wiederkehrenden impliziten und expliziten Urteile über griechische Philosophie, Politik und Geschichte verlaufen strecken­ weise geradezu konträr zu Nietzsches Gedankengang. So interpre­ tiert Oncken die Geschichte klar optimistisch und teleologisch als ein »Emporsteigen auf der Stufenleiter« (Oncken 1870b, 169) der Kultur, insbesondere durch ein auf dem modernen Arbeitsbegriff fußendes »Naturgesetz der wirthschaftlichen Entwickelung« (ebd., 107). Anstatt wie Oncken zu demonstrieren, in welcher Hinsicht die antiken Griechen es nicht mit der Moderne aufnehmen können, scheint es Nietzsche hingegen darum zu gehen, das Griechentum gegen die Moderne zu verstehen und in Stellung zu bringen. Über Aristoteles und das gesamte Altertum trifft Oncken folgendes Urteil: Aber an keiner Stelle verräth sich ein Bewusstsein von dem, was wir natürlichen Fortschritt, organische Entwicklung nennen und allerdings erst seit etwa hundert Jahren kennen gelernt haben. Was Turgot und Lessing zuerst unter Vervollkommnung und Erziehung der Mensch­ heit verstanden haben und Hegel als Entwickelung definirt hat, das ist dem Alterthum niemals aufgegangen. (ebd., 169)

Ganz ähnlich verfährt Nietzsche mehr als zehn Jahre später mit John Stuart Mill und dessen On Liberty in der Genealogie der Moral (dazu Schuster 2022b).

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Oncken blickt also ganz bewusst vom fortschrittlich verstandenen Standpunkt des 19. Jahrhunderts14 auf die griechische Antike. Es ist von daher nicht überraschend, dass Nietzsche in Oncken sowohl die Kontexte für den griechischen Staat als auch eben die Anlässe für eine kritische Beleuchtung seiner eigenen Zeit findet.

Arbeit und Würde im griechischen Staat Gleich zu Beginn von Der griechische Staat öffnet Nietzsche einen Dialog zwischen dem 19. Jahrhundert und der griechischen Antike. Anders als im antiken Griechentum setze man zu seiner Zeit zwei Begriffe – die Würde des Menschen und die Würde der Arbeit – als »Trostmittel einer durchaus sklavisch sich gebahrenden und dabei das Wort ›Sklave‹ ängstlich scheuenden Welt« (GS, 764) ein.15 Wie oben bereits ausgeführt, geben diese Konzepte nach Nietzsche dem Exis­ tenzkampf der Menschen einen Zweck und verhindern so den prakti­ schen Pessimismus. Die Teleologie Onckens lieferte hier womöglich eine geeignete Vorlage für den konkreten thematisch-begrifflichen Aufriss des Essays. Gegen Aristoteles und das Altertum hatte Oncken nämlich sowohl den »Adel der Arbeit« (Oncken 1870b, 76, 137)16 als auch die allgemeine Menschenwürde verteidigt. Nietzsche schlägt sich hier auf die griechische Seite und formuliert vor dem Hintergrund des theoretischen Pessimismus eine Kritik der Begriffe, durch die eine teleologische Auslegung der Geschichte à la Oncken grundsätzlich in 14 Heute würde Onckens Verständnis von Fortschritt und Menschenrechten wohl trotz dessen Kritik der Sklaverei im antiken Griechenland kontrovers diskutiert werden – etwa im Hinblick auf die spartanischen Frauen, die Herrinnen im Oikos waren und mit den Männern Sport trieben. Oncken ist in dieser Hinsicht ganz bei den Athenern und Aristoteles, wenn er schreibt: »Dieses Rennen und Turnen ›mit blossen Schenkeln und fliegenden Gewändern‹ verletzte ihr [der Athener, Anm. des Autors] sittliches Gefühl und welcher Moderne kann sie darum tadeln?« (Oncken 1870a, 262). 15 Den thematischen Aufriss greift Nietzsche, anders als die soziopolitischen Ausfüh­ rungen, in der Geburt der Tragödie wieder auf und zieht eine direkte Verbindungslinie von der »alexandrinischen Cultur« (GT 18, 116) zu Menschenwürde und Arbeit in der Moderne. Dabei ist die alexandrinische keineswegs die hellenische Kultur im Sinne des von Nietzsche charakterisierten Griechentums, sondern deren mit dem Verfall der Tragödie verbundene – also durchaus unheilvoll inszenierte – Weiterentwicklung. 16 In Athen und Hellas konnte Nietzsche von der »Entfesselung der Arbeit« und ihrer gesellschaftlichen Aufwertung durch den »Arbeiterkönig Perikles« lesen (Oncken 1866, 108).

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Frage gestellt wird. Im ersten Abschnitt des Essays entwickelt Nietz­ sche so einen griechischen Arbeits- und Würdebegriff als Grundlage des Volksgriechentums und des griechischen Staats. Dabei bieten Onckens Ausführungen zu Aristoteles zunächst den geeigneten Bezugspunkt zum Griechentum. Dessen Arbeitsbe­ griff wird bei Oncken stellvertretend nicht nur für die Griechen, sondern für das gesamte Altertum in Stellung gebracht. Das altertüm­ liche Verständnis der Muße, das jegliche Arbeit entwertet und sich exemplarisch bei Aristoteles finden lässt, hinderte die Menschheit demnach an ihrer Entwicklung. Das ist der Segen, den die moderne Menschheit der freien Arbeit verdankt. Und um diesen Segen, sammt Allem, was ihn trägt und was er wieder erzeugt, war das Alterthum gebracht durch die Sklavenarbeit. Sie hatte zur ganz unvermeidlichen Folge die Verachtung der leiblichen, die Verkennung der geistigen Arbeit, und damit war es um die legi­ time Stelle, die der Arbeit als solcher im Haushalt der Gesellschaft zukommt, überhaupt geschehen. (ebd., 76)

Nietzsche führt nun eben diese innerhalb von Onckens Teleologie rückständige griechische Ablehnung der Arbeit als zentrales Motiv seines Griechentums und dessen Ökonomie ins Feld, wobei der Arbeitsbegriff hier bezeichnenderweise auch die Praxis der Künstler miteinschließt. Dabei greift er scheinbar direkt auf Oncken zurück, wenn dieser mit Verweis auf Plutarch schreibt, dass es unter Griechen als unanständig galt, »selber ein Künstler zu sein oder auch nur sein zu wollen« und »selbst Phidias und Polyklet […] diesem Dünkel [den Griechen, Anm. d. Autors] für Banausen« (ebd., 78) galten. Auch unter Berufung auf Plutarch führt Nietzsche Phidias und Polyklet als Vertreter dieser Arbeit an, für die man sich als Grieche ebenso wie für jedes andere »banausische Handwerk« (GS, 766) schämen müsste.17 17 Hier scheint der Beleg einer Bezugnahme durch terminologische und kontextuelle Überschneidungen zunächst deutlich. Der Fall stellt sich jedoch als komplizierter heraus, weshalb ein kleiner Exkurs ob der Argumentationslinie dieses Beitrags angemessen scheint. Der ganze Satz Nietzsches lautet: »Plutarch sagt einmal mit altgriechischem Instinkte, kein edelgeborner Jüngling werde, wenn er den Zeus in Pisa schaue, das Verlangen haben, selbst ein Phidias, oder wenn er die Hera in Argos sehe, selbst ein Polyklet zu werden: und ebensowenig würde er wünschen, Anakreon Philetas oder Archilochus zu sein, so sehr er sich auch an ihren Dichtungen ergetze.« (GS, 766) Eindeutig nimmt Nietzsche hier Bezug auf ein längeres Zitat Plutarchs aus dessen Lebensbeschreibung des Perikles, das Oncken in der Staatslehre des Aristoteles nur gekürzt wiedergibt. Die Staatslehre des Aristoteles kann also nicht die direkte

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Nach Oncken hatte Aristoteles die Norm, »dass die Musse die erste Vorbedingung vollbürgerlicher Rechte und das Unvermögen sich der ›Musse‹ zu enthalten, mit politischer Entrechtung gleichbedeutend sei« (Oncken 1870b, 79) aus dem damalig allgemeinen Stand der Kultur im Altertum übernommen. Es macht vor diesem Hintergrund also durchaus Sinn, dass Nietzsche den Mußebegriff auf das Griechen­ tum überträgt und an dieser Stelle nicht etwa Aristoteles direkt ins Feld führt. Dass es Nietzsche nicht vornehmlich um den aristotelischen Standpunkt geht, wird auch in der weiteren Ausführung des grie­ Referenz sein. Bezieht sich Nietzsche an dieser Stelle also direkt auf Plutarch? Das ist zunächst wahrscheinlich: Heinz Gerd Ingenkamp legte dar, dass Nietzsche in einer Vorfassung von Der griechische Staat noch vom »abgeblasste[n] Epigone[n] Plutarch« (NL 1871,10[1], 338) schrieb und vermutete hinter der Weglassung im späteren Text gar eine Wandlung von Nietzsches Plutarch-Bild (Ingenkamp 1988). Wenn auch das Datum der Anschaffung nicht bekannt ist, besaß Nietzsche das betreffende Bändchen Plutarchs, in dem es heißt: »und kein hoffnungsvoller Jüngling möchte, wenn er in Pisa den Jupiter sieht, Phidias, oder in Argos die Juno, Polykletus seyn, auch nicht ein Anakreon, ein Philemon oder ein Archilochus, so hoch er sich ihrer Gedichte freuet.« (Plutarchos 1829, 423) Es gibt allerdings eine zweite, durchaus naheliegendere Erklärung. Oncken verweist in der Fußnote zum gekürzten Plutarch-Zitat keineswegs auf den Urheber, sondern vielmehr auf sein Werk Athen und Hellas, in dessen zweitem Teil er Plutarch folgendermaßen in langer Fassung zitiert: »kein edelgeborner Jüngling würde beim Anschauen des Zeus in Pisa Verlangen haben ein Phidias, beim Betrachten der Hera in Argos ein Polyklet zu werden und ebensowenig würde ihn gelüsten, ein Anakreon, Philetas oder Archilochos zu sein, wenn er sich am Genuß ihrer Dichtungen erfreut« (Oncken 1866, 101). Die terminologischen Überschneidungen sowie die Satzstruktur deuten darauf hin, dass Nietzsche beim Lesen von der Staatslehre des Aristoteles dem dortigen Verweis folgte und kurzerhand zu Athen und Hellas griff. Tatsächlich bestätigt das Verzeichnis der von Nietzsche entliehenen Bücher die Leihe des Werks am 27.06.1870, also gut zwei Monate nach der ersten Leihe der Staatslehre des Aristoteles (Crescenzi 1994, 401). Die von Ingenkamp herausgestellte Weglassung ließe sich vielleicht auch dadurch erklären, dass Nietzsche textstrategisch wenig an einer Herabsetzung Plutarchs gelegen sein konnte. Von größerer Bedeutung ist jedoch, dass es sich hier »nur« um die direkte Referenz handelt und Onckens Darstellung der Arbeit im Griechentum als indirekte Referenz den relevanteren Kontext bildet. Oncken selbst stellt Plutarch übrigens als »spätgeborenen Epigonen« (Oncken 1870b, 321) dar und schreibt eine Seite vor dem verkürzten Plutarch-Zitat von der Arbeit als das, »was die Epigonen als Banausie bezeichneten und verachteten« (ebd., 76f). In seinem Plutarch-Band, nur wenige Zeilen über dem betreffenden von Oncken genutz­ ten Zitat, hätte Nietzsche aber durchaus auch auf unterhaltsamere Schilderungen der griechischen Kategorisierung des Künstlers als Arbeiter treffen können: »Daher Antisthenes, auf die Bemerkung, Ismenias sey ein Muster von einem Flötenspieler, treffend versetzte: ›aber von einem Menschen ein Tropf; denn sonst wäre er kein solches Muster von einem Flötenspieler.‹« (Plutarchos 1829, 422).

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chischen Arbeitsbegriffes deutlich. Nietzsche zieht einen Vergleich zwischen dem Betrachten von Kunst im Sinne der griechischen Muße und der väterlichen Bewunderung eines Kindes. Sowohl der künstle­ rische Produktionsvorgang als auch der »Zeugungsprozeß« (GS, 766) des Kindes seien für die Griechen schambehaftet. Diesen Gedanken verallgemeinert Nietzsche zur These, dass Scham dort auftritt, »wo der Mensch nur noch Werkzeug unendlich größerer Willenserschei­ nungen ist« (ebd., 767). Hier könnte Nietzsche durchaus von Onckens Schilderung des lykurgischen Staates inspiriert sein, in dem es als gute Sitte galt, »dass der eheliche Verkehr der Geschlechter nur verstohlen und verschämt stattfinde, dass der Gatte, der zu seinem Weibe geht, sich scheut gesehen zu werden beim Ausgang wie beim Eingang, als wäre er ein Dieb.« (Oncken 1870a, 240) Sei es in der Kunst oder im Eheleben: »wo das Individuum völlig über sich hinaus geht und nicht mehr im Dienste seines individuellen Weiterlebens zeugen und arbeiten muß« (GS, 766), dort kann man Nietzsches Gedankengang zufolge beginnen, von einer Würde des Menschen zu sprechen. Der griechische Staat ist ökonomisch auf die Erwirtschaftung dieser Würde ausgelegt. Indem Oncken nun der Arbeit selbst eine Würde oder gar einen Adel zuspricht, wird die griechische Differenz zwischen dem Überlebenskampf des Indivi­ duums und des über-die-eigene-Existenz-Hinausschaffens hinfällig. Mit dem neuen Arbeitsbegriff verselbständigt sich – übrigens ganz im Sinne der Arbeit als Motor des teleologischen Weltverlaufs bei Oncken – ein Mittel zum Zweck, sodass menschliche Arbeit aus altertümlicher Sicht allgemein zwecklos wird. Demnach wäre es etwa denkbar, dass die Menschen zwar nicht mehr de facto um ihr Überleben kämpfen müssten, gleichzeitig aber auch nichts über ihre eigene Existenz hinaus schaffen und damit würdelos blieben. Anstatt die Menschheit wie in der als sklavisch dargestellten Moderne durch eine Überbewertung der Arbeit ins Zwecklose laufen zu lassen, geht es im griechischen Staat darum, Teilhabe an der Würde des Genius zu ermöglichen und das menschliche Leben lebenswert zu machen. Die Würdelosigkeit als Ausgangspunkt stellt dabei den zentralen Bezug zur oben eingeführten Weisheit des Silens dar. Dass es sich hier nicht nur um eine symbolische Unterwerfung unter eine externe Instanz, sondern eine Knechtung mit konkreten sozialpoli­ tischen Konsequenzen handelt, wird in Nietzsches Schilderung der arbeitenden Schicht im griechischen Staat deutlich.

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Damit es einen breiten tiefen und ergiebigen Erdboden für eine Kunstentwicklung gebe, muß die ungeheure Mehrzahl im Dienste einer Minderzahl, über das Maaß ihrer individuellen Bedürftigkeit hinaus, der Lebensnoth sklavisch unterworfen sein. Auf ihre Unkosten, durch ihre Mehrarbeit soll jene bevorzugte Klasse dem Existenzkampfe entrückt werden, um nun eine neue Welt des Bedürfnisses zu erzeugen und zu befriedigen. (ebd., 767)18

Im griechischen Staat geht es also darum, Kapazitäten für die Produk­ tion im Sinne des Genius aufzubauen.19 Je weiter der Mensch dabei über sich hinausgeht, desto mehr Anteil erlangt er an der Würde des Genius. Der Absolutheitsanspruch des allgemeinen Genius in Nietz­ sches Griechentum wird spätestens an der darin enthaltenen Instru­ mentalisierung ganzer Schichten der Bevölkerung deutlich. Ganz anders steht es natürlich bei Oncken um die Menschenwürde, die als große Errungenschaft der Renaissance-Kultur verstanden wird: eine Synthese aristotelisch-staatstheoretischer und christlich-religiöser Ideen (vgl. Oncken 1870b, 24). Sie stelle damit einen entscheidenden Moment im teleologischen Fortschritt der Menschheitsentwicklung dar. Aristoteles ist für Oncken jedoch nicht nur ein Vordenker der Menschenwürde, sondern, wie bereits hinsichtlich der Muße sichtbar wurde, ein Vertreter des Altertums, für den die menschenunwürdige Sklaverei alltäglich und notwendiger Bestandteil der Gesellschaft war. Dass den zahlreichen Sklaven Würde und Rechte abgesprochen wurden, verletzt nach Oncken »unser Menschlichkeitsgefühl auf’s Schärfste« (ebd., 30). Nietzsche führt dann – wahrscheinlich mit Rückgriff auf Oncken – die fremde Behauptung ins Feld, »daß die Griechen an ihrem

Beim Lesen dieser Passage drängt sich natürlich die Frage auf, wie es heute um die Notwendigkeiten des Wirtschaftens gestellt ist, zwischen der globalisierten »modern slavery« und dem Versprechen eines Lebens ohne Arbeit dank technologischem Fort­ schritt. 19 Die Frage, was denn die Absicht dieses Genius sei, lässt sich hier nicht vermeiden. Über das Ziel der apollinischen Kunstproduktion schreibt Nietzsche in der Geburt der Tragödie mit Bezug auf Homer: »Die homerische ›Naivetät‹ ist nur als der vollkommene Sieg der apollinischen Illusion zu begreifen: es ist dies eine solche Illusion, wie sie die Natur, zur Erreichung ihrer Absichten, so häufig verwendet. Das wahre Ziel wird durch ein Wahnbild verdeckt: nach diesem strecken wir die Hände aus, und jenes erreicht die Natur durch unsre Täuschung. In den Griechen wollte der ›Wille‹ sich selbst, in der Verklärung des Genius und der Kunstwelt, anschauen.« (GT 3, 37). 18

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Sklaventhum zu Grunde gegangen sind« (ebd., 769).20 Dennoch sei »das Andere viel gewisser, daß wir an dem Mangel des Sklaventh­ ums zu Grunde gehen werden: als welches weder dem ursprüngli­ chen Christenthum, noch dem Germanenthum irgendwie anstößig, geschweige denn verwerflich zu sein dünkte« (ebd., 769). Die direkte Verbindung zum frühen Christentum findet sich ebenso bei Oncken, der unter Berufung auf Augustinus schreibt, dass das frühe Christen­ tum bis zu Ignatius ganz allgemein nicht danach strebe, das Sklaven­ tum abzuschaffen, sondern der Sklaverei »einen neuen Geist, den Geist idealer Menschenliebe, einhauchen« (Oncken 1870b, 72) wolle. Wenn Nietzsche in der Folge vom unaufgeklärten »mittelalterlichen Hörigen« (GS, 769) schwärmt, liegt es nahe, dies als Sorge um die eigene Zeit zu deuten, die nicht mehr zwischen Sklaven und Freien unterscheidet. »Aus der Verzärtelung des neueren Menschen sind«, Nietzsche folgend, gar »die ungeheuren socialen Nothstände der Gegenwart geboren« (ebd., 769). Beispiele für die Härte der Antike als Kontrast zur zarten und mitleidenden neueren Zeit findet Nietzsche bei Oncken, aber natürlich auch bei anderen Autoren, ausreichend. Etwa im Hinblick auf Aristoteles: Fast jede Anrede an einen Sklaven muss ein Befehl sein, nie und in keiner Weise ist ein loser Scherz mit ihnen gestattet, das Geschlecht macht da keinen Unterschied. Was Viele in thörichtem Leichtsinn sich gegen Sklaven erlauben, macht ihnen selber das Befehlen und Jenen das Gehorchen schwer. (Oncken 1870b, 59)

Durch das Sklaventum wird es im griechischen Staat also möglich, eine Gesellschaftsschicht der Existenznot zu entziehen. Unter den Privilegierten entstehen künstlerische Bedürfnisstrukturen und damit neue Kunstproduktionen, die im vorigen Überlebenskampf unmög­ lich waren. Das ganze Griechentum ist dabei auf diese Produktion als Verwirklichung des Genius ausgelegt, weshalb eine ausdifferenzierte oder eigenständige Ökonomie mit einer spezifischen Gewinnkonzep­ tion undenkbar wird. Ökonomie ist im griechischen Staat Nietzsches 20 Oncken schreibt zur weltgeschichtlichen Rolle der Sklaverei in der Antike: »In Wahrheit ist in der Sklaverei der Giftkeim zu den schlimmsten Lastern zu suchen, an denen die antike Gesellschaft langsam dahinsiecht. Eine Gesellschaftsordnung, die die Menschennatur verleugnet, lastet schwer auf denen, die ihr das Opfer ihres Daseins bringen müssen, aber die tiefe sittliche Krankheit, die sie erzeugt, rächt dies Opfer wieder an denen, denen es gebracht wird.« (Oncken 1870b, 68) Gewisse Parallelen zum »Sklavenaufstand in der Moral« (GM I 10, 270) im Spätwerk und dessen Reaktivität werden an dieser Stelle offenbar.

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die Ökonomie des allgemeinen Genius. Auf diese Weise vollzieht sich eine Teilhabe zumindest einiger der zuvor würdelosen Menschen an der Würde des allgemeinen Genius, die Nichtigkeit des Menschen wird aufgehoben. Der Arbeit haftet jedoch nach wie vor ihre Herkunft aus der Existenznot an; sie ist in der griechischen Gesellschaft, anders als im Modell der bürgerlichen Erwerbsarbeit, nicht der entscheidende Maßstab für Anerkennung.

Zur Entstehung des Staates Arbeit und Würde im Griechentum führen direkt zur Frage, wie Staat und Sklaverei als Ermöglichungsbedingungen der griechischen Kultur überhaupt entstanden sind. Der griechische Staat Nietzsches beginnt als Militärstaat nach dem Vorbild des lykurgischen Spartas, das als Ur-Staat vorgestellt wird. Oncken widmet sich in Die Staatslehre des Aristoteles in historisch-politischen Umrissen ausführlich jenem militärisch geprägten Staat, seiner Verfassung und Geschichte. Als lange fortbestehender Lagerstaat galt er im antiken Griechenland demnach vielen als real existierendes politisches Vorbild und genoss über Jahrhunderte eine Vormachtstellung unter den griechischen Stadtstaaten. Oncken sieht also im Militarismus Spartas den Anfang des politischen Griechentums: Und dieses Kriegerleben, in welchem der ganze Staat aufging, ist das Merkmal des Urzustandes der Hellenenstämme überhaupt zu der Zeit da, wie Aristoteles sagt, ›keiner von den Hellenen ohne Waffen über den Weg ging und sie die Weiber einander abkauften‹ (Oncken 1870a, 246f)

Bei Oncken entstehen die Staaten aus einem heute vor allem durch Thomas Hobbes bekannten bellum omnia contra omnes, den er sei­ nerseits auf Thukydides' Berichte zum vorstaatlichen Griechenland zurückführt.21 Nietzsche entwickelt ein aus dem Kampf aller gegen alle hervorgegangenes »Urbild des Staates« mit einem »militärischen 21 So schreibt Oncken zu Thukydides' Erzählung von der ersten Befriedung von Seehandelsrouten durch Minos von Kretas: »Aus dieser Stelle ergibt sich einmal, dass der Gründung der hellenischen Staaten ein Zustand des Krieges Aller gegen Alle ebenso vorausging wie der aller anderen Staaten auch, sodann, dass dieser Zustand bewaffneter Friedlosigkeit in den zurückgebliebenen Theilen von Hellas fortgedauert hat, als er in den höher entwickelten seit Menschengedenken aufgehört

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Genius« (GS, 775) an der Spitze und verweist dabei ausdrücklich auf den spartanischen Staat und dessen lykurgische Verfassung. Der mili­ tärische Genius ist jedoch weder der sagenumwobene Verfassungsge­ ber Lykurg, dem sich Oncken ausführlich widmet (vgl. Oncken 1870a, 219ff), noch irgendeine andere Person. Vielmehr tritt der militärische Genius auf als eine bestimmte Form des allgemeinen Genius, der sei­ nerseits sowohl den Militarismus als auch »die leuchtenden Blüthen« (GS, 772) der Gesellschaft in Friedenszeiten umfasst. Möglicherweise liegt in der Notwendigkeit einer Erklärung für die Entstehung der Staaten auch ein Grund für Nietzsches Verallgemeinerung des künst­ lerischen zum allgemeinen Genius im griechischen Staat. Der griechische Staat Nietzsches ist in der Folge ein Mittel der Natur, die »um zur Gesellschaft zu kommen, sich das grausame Werkzeug des Staates schmiedet« (ebd., 770).22 Der Staat ist also konstituiert als Mittel zu einem außerhalb liegenden Zweck, nämlich dem – im Text übrigens mehrfach synonym zur Natur auftretenden23 – allgemeinen Genius. Der politische Trieb, der nun bei den Griechen ganz besonders ausgeprägt sei, führe zur Gründung der Staaten. Nietzsche konnte dies bei Oncken lesen, der den »Geselligkeitstrieb der Thiere« anführt, der »sich zum Staatstrieb der Menschen wie der rohe Naturlaut […] zur Sprache« (Oncken 1870b, 16) verhält. Selbst formuliert Nietzsche das Verhältnis von Geselligkeit und Politik fol­ gendermaßen: Mag der Trieb zur Geselligkeit in den einzelnen Menschen auch noch so stark sein, erst die eiserne Klammer des Staates zwängt die größeren Massen so aneinander, daß jetzt jene chemische Scheidung der Gesellschaft, mit ihrem neuen pyramidalen Aufbau, vor sich gehen muß. (GS, 769)

hatte.« (Oncken 1870b, 85) Auch an anderer Stelle (Oncken 1870a, 252) führt Oncken den Krieg aller gegen alle auf Thukydides zurück. 22 Nietzsche schreibt überdies, dass die Eroberer die Besiegten »gleich als ob ein magischer Wille von ihnen ausgienge« (GS, 770) vereinen würden. In nachgelassenen Notaten schreibt er auch von einer »magische[n] Kraft« (NL 1870–71, 7[21], 169) oder der »magische[n] Einwirkung des Genius auf die untergeordneten Stufen« (NL 1870, 6[3], 130). 23 Innerhalb des Textes lässt sich die Begriffsverwendung von »Natur« einerseits als Wesen von etwas (so die »Natur der Macht, die immer böse ist« (GS, 768)) und andererseits als Synonym für den allgemeinen Genius als aktive Entität (etwa im Hinblick auf »das, was die Natur mit ihrem Staatsinstinkte […] beabsichtigt« (ebd., 773)) feststellen.

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Nietzsche könnte auch die Inspiration für seine recht brutale Ausge­ staltung der Staatsgründung in den eindrücklichen Schilderungen der frühen griechischen Staaten und des Rechts des Eroberers bei Oncken gefunden haben.24 Durch dieses Recht wurde die neue Struktur der griechischen Gesellschaft erst möglich. Oncken zeichnet insbe­ sondere die Einwanderung der Dorer in Lakedämon als »die Mas­ senunterwerfung der Ureinwohner von Hellas durch die Uebermacht eines neu eingewanderten Volkes« (Oncken 1870a, 257) nach. Wie an Nietzsches Schilderung der Grausamkeit der Staatsgründungen und der damit einhergehenden Versklavung beziehungsweise Helotisie­ rung ganzer Völker deutlich wird, ist ihm an einer Verharmlosung des Zivilisationsprozesses und der Verstaatlichung nicht gelegen. Vielmehr müsse man sich über die Bereitschaft wundern, mit der sich Menschen seit Jahrtausenden für den Staat aufopfern, obwohl dieser »in häufig wiederkommenden Perioden die fressende Fackel des Menschengeschlechts« (GS, 771) sei. Man sollte doch denken, daß ein Wesen, welches in die Entstehung des Staates hineinschaut, fürderhin nur in schauervoller Entfernung von ihm sein Heil suchen werde; und wo kann man nicht die Denkmale sei­ ner Entstehung sehen, verwüstete Länder, zerstörte Städte, verwilderte Menschen, verzehrenden Völkerhaß! (ebd., 771)

Wenn Nietzsche nun die Griechen »a priori als die ›politischen Menschen an sich‹« (ebd.) konstruiert, könnte man einen direkten und naheliegenden Verweis auf Aristoteles zoon politikon vermuten. Doch auch hier spricht vieles dafür, dass es sich um eine weitere Bestimmung der Charakteristiken des allgemeinen Griechentums handelt. Bei Oncken findet sich passend dazu »der Hellene, als der politische Mensch schlechthin« (Oncken 1870a, 105) – losgelöst von Aristoteles oder Platon, um den es im betreffenden Abschnitt geht. Das zoon politikon erscheint vor diesem Hintergrund lediglich wie der geeignetste Ausdruck dieser griechischen Charakteristik, die Nietzsche in der Folge weiter ausführt. So gebe es abgesehen von der Renaissance in Italien »kein zweites Beispiel einer so furchtbaren Entfesselung des politischen Triebes, einer so unbedingten Hinopfe­ Eine weitere Quelle könnte hier Onckens Athen und Hellas sein. Während Nietz­ sche die Griechen ausrufen lässt »dem Sieger gehört der Besiegte, mit Weib und Kind, Gut und Blut.« (GS, 770), führt Oncken Xenophon in eben jenem Kontext zur Charakterisierung des Griechentums heran: »Der fürchterliche Satz: Leben und Gut, Weib und Kind des Besiegten gehören dem Sieger« (Oncken 1866, 109). 24

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rung aller anderen Interessen im Dienste dieses Staateninstinktes« (GS, 771). Der Staat beginnt mit Nietzsche dann parallel zu Aristoteles (vgl. Oncken 1870b, 14), aber auch Platon,25 dort, wo der allgemeine Kriegszustand verlassen werden und eine Gesellschaft »über den Bereich der Familie hinaus Wurzel schlagen« (GS, 772) kann. Im Gegensatz zu Nietzsches griechischem Staat geht mit der Einrichtung des Staates bei Aristoteles allerdings auch die Möglichkeit der Vervoll­ kommnung des Menschen als Bürger innerhalb der Polis einher. Der Staat ist nicht Vehikel eines externen Genius, sondern der Ort, an dem die bürgerliche Freiheit sich als Selbstzweck verwirklicht.26

Gewinnkonzeption der Ökonomie und Blüten der Gesellschaft Dabei stellt der Staat sowohl für die aristotelische Politik als auch für Nietzsches Griechentum die notwendige Bedingung für das Erreichen der jeweiligen Zwecke dar. Außerhalb des Staates gibt es für den Menschen nichts zu gewinnen. In dieser Hinsicht stimmt der junge Nietzsche wieder mit Onckens Schilderung des Aristoteles als Denker des Griechentums überein: Der Mensch ist ein Wesen, das die Natur zum Staatsleben erschaffen hat; kein Mensch, kein Leben, kein Heil ausserhalb staatlicher Ordnung; (Oncken 1870b, 14)

Nachdem der griechische Staat bei Nietzsche also aus einem grausa­ men Krieg und der Sklaverei hervorgegangen ist, opfern sich seine Bürger bereitwillig für »die leuchtenden Blüthen des Genius« (GS, 772) als Zweck der Gesellschaft in Friedenszeiten auf. Nietzsche 25 Die »Aufhebung der Familie« (KGW II 4.67) im Aufbau der Politeia beschäftigte Nietzsche auch intensiv in seinen Oncken betreffenden Vorlesungsaufzeichnungen. 26 Oncken hebt Aristoteles als den altgriechischen Denker hervor, der endlich aus­ sprach, »dass es wirklich wie für den Einzelnen so für ganze Völker einen rühmlicheren Ehrgeiz gebe, als friedlichen Nachbarn den Fuss auf den Nacken zu setzen, dass Tugend und reine Menschensitte an sich werth seien des edelsten Strebens auch ohne den Glanz blendenden äusseren Erfolgs« (Oncken 1870a, 295). Aristoteles sei derjenige, der »einen höheren Lebenszweck gefunden hat als in dem bewaffneten Niedertreten fremden Glücks, im Rausche der Eroberung, im Waffenklirren und im Triumph der Faust.« (ebd., 295).

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trennt den Staat von der Gesellschaft, wenn er schreibt: »Für diese Helena führte er [der Staat, Anm. d. Autors] jene Kriege« (GS, 772). Hier könnte Nietzsche durchaus von der Politik inspiriert sein. Oncken hebt in den aristotelischen Erläuterungen zum Verhältnis von Staat und Gesellschaft deutlich hervor: »Die Aristokratie hat ihr Vorbild in dem Verhältniss des Mannes zu seiner Frau. Denn der Mann ist das Haupt und herrscht mit Recht in Allem, was ihm zukommt, was aber der Frau ziemt, das überlässt er ihr.« (Oncken 1870b, 159) Bemerkenswert ist auch, dass im griechischen Staat demnach nicht unbedingt ein Bewusstsein von der allgemeineren Gewinnspekula­ tion des Genius als der treibenden Kraft herrscht, anhand welcher Nietzsche sein Griechentum entwirft. Die griechische Gesellschaft und damit ihre Kunst und Kultur werden zum Gewinn erkoren. Indem die Griechen auf deren Verwirklichung spekulieren, um ihre neuen Bedürfnisse zu befriedigen, schaffen sie etwas über sich hinaus, das Nietzsche wiederum allgemein, aus einer Art weltgeschichtlicher Perspektive, als die Verwirklichung des Genius fasst. Die Blüte der griechischen Gesellschaft hängt bei Nietzsche dann mit einem konträr zu Oncken entworfenen Begriff der Würde als Gewinnkonzeption zusammen. Im Dienst des Genius komme dem Menschen »ein Grad von Würde zu, jener Würde nämlich, zum Mittel des Genius gewürdigt zu sein« (GS, 776). Menschenwürde wäre demnach keine – wie auch immer begründete – anthropologische Annahme, sondern vielmehr eine konkrete Teilhabe an etwas Würde­ vollem durch den qua Pessimismus an sich würdelosen Menschen. Dieser Gedanke der Teilhabe findet sich besonders prägnant in Aris­ toteles' Politik, in der Sklaven als Werkzeuge der Bürger konstituiert und Eigentum eines entsprechenden Oikos sind. Oncken, der in Hinsicht auf die Sklaverei natürlich gegen Aristoteles argumentiert, fasst die Differenz von Herrschen und Dienen systematisch als ein »Gesetz der Ueber – und Unterordnung, das durch die ganze Natur hindurchgeht.« (Oncken 1870b, 41) Dieses aristotelische Gesetz ist der Konzeption von Nietzsches Genius und dessen Materialisierung im Gesellschaftsaufbau durchaus verwandt. An die Stelle des Vollbür­ gers tritt nämlich der allgemeine Genius – mit der Folge, dass der Mensch zum »Werkzeug des Genius« (GS, 776) taugt und aufgrund seines Menschseins nur über jenen Genius eine Teilhabe an Würde erlangen kann. Passenderweise überschreibt Oncken ein Unterkapi­ tel zur Sklaverei bei Aristoteles »Die Unentbehrlichkeit beseelter Werkzeuge im Haushalt der Gesellschaft« (Oncken 1870b, 36). Im

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Haushalt des allgemeinen Genius sind die beseelten Werkzeuge also unentbehrlich zur Verwirklichung des Genius in der Kultur. Hierbei handelt es sich um eine Degradierung des Menschen und einen gezielten Angriff auf die Moderne. Für Politik und Ökonomie des griechischen Staats zeichnet sich dadurch ein entscheidender Umriss ab: Der allgemeine Genius wird zum Herrscher über die Welt, die wiederum als Haushalt gedacht ist. Er wird damit zum Oikosdespoten. Im engeren, auf Aristoteles zurückgehenden Sinne der Politik als »bürgerliche Selbstorganisa­ tion« (Priddat 2012, 205) handelt es sich also bei Nietzsches Staats­ entwurf keineswegs um eine Politische Ökonomie, sondern vielmehr um eine despotische Haushalts-Herrschaft, die Menschen als Werk­ zeuge ihren Zwecken unterordnet. Anstatt parallel zur aristotelischen Polis ein Konzept des Bürgers als einem Eigentümer seiner selbst zur Grundlage einer Politischen Ökonomie zu machen (vgl. Enkelmann 2011b), tritt der allgemeine Genius als Eigentümer des Welthaushalts inklusive der beseelten menschlichen Werkzeuge auf. Oder in den Begriffen des Onckenschen Aristoteles: das Verhältnis des allgemei­ nen Genius zum Menschen ist »herrisch«, nicht »mitbürgerlich« (Oncken 1870b, 42). Die Erlösungsdimension der artistenmetaphy­ sischen Gewinnkonzeption weist zudem erwähnenswerte Parallelen zur oeconomia divina, der christlichen Heilsökonomie, auf. Im Gegen­ satz zur säkularisierten Politischen Ökonomie ist die oeconomia divina an den christlichen Gott als Herrscher einer als Haushalt gedachten Welt vermittelt (vgl. Priddat 2013) – was natürlich auch die Frage nach der Jenseitigkeit des allgemeinen Genius aufwirft.

Der griechische Staat und die »Geldaristokratie« Nietzsche bietet gegen Ende des Essays die griechisch-politische Perspektive auf, um auszuführen, »in welchen Erscheinungen der Gegenwart ich gefährliche, für Kunst und Gesellschaft gleich bedenk­ liche Verkümmerungen der politischen Sphaere zu erkennen glaube« (GS, 772). Anstatt sich nämlich für die eigene Polis aufzuopfern und diese zur Blüte zu bringen, wird im Text die Gefahr einer »eigensüchtigen staatenlosen Geldaristokratie« gezeichnet – es geht um Menschen, »die durch Geburt gleichsam außerhalb der Volks- und Staateninstinkte gestellt sind, die somit den Staat nur so weit gelten

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zu lassen haben, als sie ihn in ihrem eigenen Interesse begreifen« (ebd., 772). In verschiedenen Beiträgen wurde darauf hingewiesen, dass Nietzsche hier mehr oder weniger verdeckt antisemitische Ste­ reotypen bedient.27 Die Kritik Nietzsches an einer »Ablenkung der Staatstendenz zur Geldtendenz« (ebd., 774) lässt sich verallgemei­ nert durch den quellenorientierten Ansatz über das Griechentum in der Darstellung Onckens kontextualisieren. In der Folge würde die antisemitische Ausrichtung der Passage als eine Aktualisierung der griechischen Kritik der Geldwirtschaft erscheinen. Das Griechentum hatte nach Onckens Darstellung nämlich ein sehr klares Verhältnis zum Geldverdienen. Für Vollbürger wurde »jede persönliche Thätigkeit, die auf Gelderwerb ausging, zu einer Selbsterniedrigung« (Oncken 1870b, 79). Aristoteles lieferte wohl die berühmteste Kritik der Geldwirtschaft beziehungsweise Chrema­ tistik und führte in diesem Kontext eine weitere mythische Episode um König Midas an, der drohte, »mitten unter Tonnen Goldes zu verhungern« (ebd., 99). Der entscheidende Impulsgeber für die ent­ sprechende Charakterisierung des Griechentums war diesmal jedoch wahrscheinlich Platon: »Platon spricht mit ganz besonderem Abscheu von dem Unheil des Capitalwuchers, welcher das rohe Geldprotzen­ thum auf der einen, das hungernde Proletariat auf der anderen Seite erzeuge.« (Oncken 1870a, 133) Bereits in seinen Vorlesungsaufzeich­ nungen hatte Nietzsche dies unter nachweislichem Bezug auf Oncken herausgestellt und unter anderem eine halbseitige Passage zu den »Geldmänner[n]« (KGW II 4.62) aus Platons Thematisierung der Zinsnahme im achten Buch der Politeia (vgl. Föllinger 2016, 147f) wörtlich abgeschrieben. Weiter notiert Nietzsche dort in Bezug auf die Stellung des Egoismus bei den Griechen und Onckens damit 27 Domenico Losurdo etwa ordnet die Passage in Nietzsches frühe politische Anschauungen sowie den historischen Kontext ein und sieht in ihr das Überschrei­ ten der »Schwelle einer Verschwörungstheorie« (Losurdo 2012, 143). Während im übrigen Essay das »Wir« die Rede führt, wird es in der Passage zur »Geldaristokra­ tie« durch eine »Ich«-Sprecherinstanz abgelöst. Meint dieses »Ich« nun die Person Friedrich Nietzsche? Allgemein werden derartige Gleichsetzungen innerhalb der Nietzscheforschung aus guten Gründen kritisch diskutiert (vgl. Sommer 2019). Im betreffenden Fall gibt es allerdings wenig Anlass zu der Vermutung, dass Nietzsche das »Ich« ganz bewusst einführte, um durch eine antisemitische Sprecherinstanz im Text zum Beispiel kritisch auf die verwendeten Stereotypen aufmerksam zu machen. Losurdo legt eher das Gegenteil nahe, wenn er die Rolle Cosima Wagners als Adressatin hervorhebt und betont, dass die Vorreden »nicht für das Publikum bestimmt« (Losurdo 2012, 139) gewesen seien.

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verbundene Darstellung des Idealstaats: »Der Mensch ist der Staat im Kleinen, der Staat der Mensch im Großen. Der Egoismus ist bei Beiden auszurotten« (KGW II 4.62). Auch in den historischen Episoden Onckens lassen sich Beispiele finden, die das Verhängnis der Geldwirtschaft illustrieren, wobei eines sich ganz besonders an Nietzsches Zeitdiagnose und den Konflikt zwischen Politik und Geldwirtschaft anschließen lässt. So portraitiert Oncken Platon als Mitglied einer vornehmen Aristokratenfamilie inmitten des tobenden Peloponnesischen Kriegs. Anstatt es jedoch dem politischen Trieb der Griechen entsprechend mit der attischen Polis zu halten und den Kampf gegen Sparta zu unterstützen, war dessen Verwandter Kritias Teil der Lakonisten, der spartabgeisterten Athener, und Anführer der 30 Tyrannen. Je schärfer der athenische Volksstaat seine Konsequenzen zog, desto tiefer wühlte sich in diese Kreise der Hass ein gegen den ›giftigen Wurmfrass des gemeinen Wesens‹, und je schwerer die Geissel des Krieges auf den vornehmen Grundherren lastete, denen jedes Frühjahr die offen liegenden Ländereien erbarmungslos verwüstet wurden, desto ungeduldiger sahen sie einem Frieden entgegen, der ihnen Freundschaft mit Sparta, ihrem Staatsideal, und vielleicht einen völli­ gen Umschwung im Innern brachte. (Oncken 1870a, 106f)

Nietzsche schreibt in seiner Kritik der Apolitizität nun, wie oben bereits bemerkt, nicht von den Adligen seiner Zeit, sondern von jener »eigensüchtigen staatlosen Geldaristokratie« (GS, 774). Diese würde, befähigt durch ihre apolitische Stellung, die Staaten als Instru­ mente ihrer eigenen Zwecke, dem Geldverdienen, nutzen und dazu eine »liberal-optimistischen Weltbetrachtung« (ebd., 773) verbreiten. Durch ihre Emanzipation von der Polis schaffe sie einen möglichst weitreichenden Frieden, der ihre finanziellen Interessen sichert.28 Anstatt also auf die Entfaltung des allgemeinen Genius im Staat zu setzen, folge die »Geldaristokratie« einer monetären Logik, die ihrerseits im individuellen Interesse endet und unfähig sei, darüber hinaus zu gehen.29 Dies habe zur Folge, dass die übrigen Bürger, Die von Nietzsche gezogene allgemeine Verbindung zwischen liberaler Ökonomie und politischem Frieden wird zumeist auf Immanuel Kant zurückgeführt und aktuell als »capitalist peace theory« diskutiert. 29 Ein Blick auf die moderne Ökonomik scheint hier interessant: In ihrer Gewinn­ konzeption setzt etwa die Neoklassik, methodologisch vermittelt durch den Homo Oeconomicus als Nutzenmaximierer, auf eben jene Eigeninteressen (vgl. Schäfer/ 28

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ganz im politischen Glauben, etwas über sich Hinausgehendes zu schaffen, einem fremden Zweck dienen. Die Zwecke des Staates wären dann nicht mehr die als natürlich inszenierten politischen, sondern die durch eine Geldaristokratie fremdbestimmten. Damit würden die Bürger notwendig zu Werkzeugen »unwürdiger« Eigeninteressen, die Teilhabe an der Würde für alle Beteiligten unmöglich. Um dieser Entwicklung, also »alle[n] Übel[n] der socialen Zustände, sammt dem nothwendigen Verfall der Künste« (ebd., 774) entgegenzuwir­ ken, scheint es dann aus der Perspektive des griechischen Staats konsequent, Kriege heraufzubeschwören, also den anfänglichen poli­ tischen Instinkt wiederzubeleben und die Dominanz des apolitischen Eigeninteresses gewaltvoll zu durchbrechen. Der Kontextualisierung durch Oncken folgend, liegt es so zumindest nahe, dass Nietzsche von der platonisch-politischen Kritik des monetären Eigeninteresses ausging und diese dann neu, im Sinne eines damals salonfähigen antisemitischen Stereotyps, ausrichtete.

Ausblick Im letzten Absatz seines Essays schreibt Nietzsche, der platonische Idealstaat sei die »wunderbar große Hieroglyphe einer tiefsinnigen und ewig zu deutenden Geheimlehre vom Zusammenhang zwischen Staat und Genius« (ebd., 777). Er deklariert seinen eigenen Staats­ entwurf gar als Vervollständigung des platonischen Klassikers der Politischen Theorie und gibt – scheinbar bescheiden – an, mit seiner Vorrede eine »mehr äußerliche und beinahe zufällige Lücke« (ebd., 777) in Platons Werk geschlossen zu haben. Platon selbst habe sich in »seiner politischen Leidenschaft« dazu hinreißen lassen, den »Genius Schuster 2022, 14–8), die für den jungen Nietzsche nichts weiter als einen Überle­ benskampf repräsentieren. Mehr als ein Überleben – also etwa Würde oder ein gutes Leben – kann innerhalb dieses engen Schemas überhaupt nicht gewonnen werden, blickt man aus der weiten Sicht von Nietzsches Griechentum. Systematisch endet jedes über-sich-hinaus-Schaffen innerhalb der Neoklassik in der Präferenzordnung eines nutzenmaximierenden Konsumenten. Auch die existenzielle, pessimistische Ausgangssituation, die mit Nietzsche erst die Frage nach einem möglichen Gewinn aufwirft, ist in dieser Ökonomik offensichtlich gar nicht abzubilden. Die anvisierte Teilhabe an der Würde stellte eine qualitative Veränderung dar, die sich über monetäre Renten nicht greifen ließe, ganz gleich wie irrelevant Faktoren wie Budgetrestriktionen werden würden.

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der Weisheit und des Wissens« (ebd., 776) an die Spitze des Staates zu stellen und die Kunst aus dem Staat auszuschließen. Damit schiebt Nietzsche, gewissermaßen als Pointe der Vorrede, Platon seinen eigenen über das Griechentum entwickelten Ansatz zur Erlösung aus dem Pessimismus unter. In welchem Verhältnis Nietzsches Politik des allgemeinen Genius zu Platons Politeia steht, müsste auch im Lichte der dargelegten Bezüge auf Oncken neu erschlossen werden.30 Aus der quellenorientierten Studie ergab sich ein neuer Zugang zu Nietzsches Staatsentwurf als politische Übersetzung und Expli­ kation eines »griechischen« Umgangs mit der Problemstellung des Pessimismus. Blickt man von Der griechische Staat nun auf das spätere Werk, zeichnet sich eine deutliche Entwicklung ab: So wendet sich Nietzsche gegen den Antisemitismus, zum Beispiel in Person seines Schwagers Bernhard Förster (vgl. Sommer 2012, 550). Auch vom griechischen Motto »kein Heil ausserhalb staatlicher Ordnung« (Oncken 1870b, 14) scheint Nietzsche abzurücken, wenn er – übri­ gens selbst seit 1869 staatenlos – das »übersittliche Individuum« (GM II 2, 293) entwirft. Anstatt die Erlösung des Menschen in Staat und Gesellschaft zu suchen, laufen Nietzsches spätere ökonomisch-politi­ sche Ausführungen gerade auf die gegenläufige Bewegung hinaus, nämlich eine Emanzipation des Individuums. Mit der »höhere[n] Form des Aristokratism« (NL 1887, 10[17], 463) etwa, die er in Auseinandersetzung mit dem österreichischen Nationalökonomen Emanuel Herrmann entwirft (vgl. Schuster 2022a), entkoppelt Nietz­ sche die Konzeption des aristokratischen Übermenschen konsequent vom Nationalstaat. Dabei stellt sich die Frage, ob es sich dabei noch um eine politische Konzeption handelt, was das Politische hier bedeuten kann und nicht zuletzt: inwiefern Nietzsche vielleicht eine Antwort auf die Frage gibt, »was für den Menschen das Allerbeste und Allervorzüglichste sei« (GT 3, 35). Hierfür liefert die Studie zu Der griechische Staat erste Anhaltspunkte. Denn auch wenn Nietzsche später von der artistenmetaphysischen Aufhebung des Pessimismus abrückt, wird der Problemaufriss des Ökonomischen im Werkverlauf Onckens Platon-Bild ist ohnehin interessant für die Nietzscheforschung: Platon taucht auf als der Philosoph, der mit einem Idealstaat einen »Wurf der freien Phantasie« (Oncken 1870a, 22) unternimmt und letztlich »eine tröstende Zuflucht« im »selbstgeschaffenen Jenseits« (ebd., 126) findet. Nietzsche inszeniert später in Götzen-Dämmerung (GD) bekanntlich Sokrates als den Philosophen, der sich aus Notwehr in die Tyrannei der Vernunft – und die Erfindung der »›wahre[n] Welt‹« (GD Vernunft in der Philosophie 2, 75) – rettet. 30

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Ökonomie im griechischen Staat.

nicht weniger existenziell und bleibt – verglichen mit modernen sowie monetären Ansätzen der Ökonomie – vollkommen unüblich in seinem Zugang.

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Sören E. Schuster

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Michaël Suurendonk

The Immeasurable Value of Autonomy: On the Problem of Accounting for Dignity in the Economic Sphere

»You make revolution very easy for yourself, but very difficult for others. It might be better if you had a clearer awareness of the conditi­ ons in which you speak, and a greater confidence in the real action of men and in their possibilities [...] What is that fear which makes you seek [...]?« (Foucault 1989, 229, 231)

It is a well-known fact that the worth of objects, subjects, and actions are not easily expressed in monetary terms (Knight 1921). One could state more generally that humans face great difficulties in conceiving value, and thus in determining what is valuable with respect to both themselves and their environment. Even the recognition of things as mere objects and ›things‹ that also seem to have a subjective being-in-the-world is sometimes difficult to appreciate; or at least the difference between various subjectivized things in both the extent of and depth in their subjectivity poses a problem for the (e)valuating subject (Herder 2002; Singer 2006). Taking a clear stance on this matter is of immense importance to our economic undertakings and personal lives, as it allows for marking the fundamental distinction between that which can be given a price and that which ought to be accorded dignity – »a worth raised above all price« (Kant 2002, 35, 4:426). By executing what Luhmann (1988, 95, original italics, my bold italics) has called »the first command [...] we are forced to indicate which side of the distinction we mean [...] the indicated side will assume not simply the logical quality of sameness but, in addition, the metalogical quality of familiarity [...] We can use the opposite side (which remains the opposite side, the unfamiliar) to return to the pre­ ferred side, the familiar side. As soon as one side grows thick with condensations the distinction reinforces its own asymmetric struc­

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ture, and we begin to live in a familiar world with familiar dangers within boundaries which mark off the unfamiliar«. In a sense Luh­ mann is right; for, since all »men by nature desire to know« (Aristotle 1984, 1552, § 1) – perhaps out of hope for better or fear for worse – it seems that our ›natural will to know‹ has and should have no limits. Luhmann’s imperative to infinitely expand the sphere of the familiar by minimizing that of the unfamiliar is deeply engrained in our every­ day lives. The aim of this article, however, is to illustrate both that and why (contrary to Luhmann’s advice) we cannot directly, nor should we ever indirectly use the inherently unfamiliar. In fact, we should learn to respect its autonomous sphere and let it be.1 The first paragraph shows why the granting of this respect is impossible from an economic perspective, which bases all of its assumptions in the primary axiom of science that: ›all is subject to the law of causation‹. The subsequent paragraph then illustrates the rather broad characterization of goods and restricted idea of value that necessarily ensues from this scientistic assumption. Afterwards, two examples are brought to the fore to depict how this scientistic view in fact annihilates the prospect of important humane experiences such as love and trust. I consequently claim that the only way out is to reveal the main presupposition of the scientistic assumption that there can only be one type of necessity – namely that of causality – and to demonstrate that it presupposes a second type of necessity, namely that of self-causality or freedom. The final paragraphs then establish that 1) freedom is both the quintessence of unfamiliarity and the source of dignity, 2) beings who possess and act upon their autonomous potential are fundamentally unfamiliar and dignified, and 3) such beings must necessarily remain somewhat unfamiliar, or else they suffer from a loss of, and in the best case a mere injury to, their dignity. And if Kant is right in stating that dignity is indeed priceless, then this is not a wager that anyone who is endowed with the gift of freedom should be willing to make. Therefore, since the problem of valuation is first of all a problem of appropriation – in the broad sense of ›capturing‹ or ›apprehend­ ing‹ things – an investigation into the necessary presuppositions In Heidegger’s terms, we must strive to be in tune with »ek-sistent Da-sein, which lets beings be« (Heidegger 2001, 305). This quote from Heidegger’s ›On the Essence of Truth‹ is based on the translation by Prof. John Sallis as found in Linch’s (2001) edited series on ›The Nature of Truth: Classic and Contemporary Perspectives‹. 1

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The Immeasurable Value of Autonomy

of knowledge acquisition shall hopefully assist in establishing the minimal prerequisite(s) for dignified dealings in the economic sphere.

The Basic Axioms of Economic Thinking »All things are subject to the law of cause and effect. This great principle knows no exception, and we would search in vain in the realm of experience for an example to the contrary« (Menger 2004, 51). With this astute proclamation, Carl Menger commenced his intriguing analysis in Chapter 1 – The General Theory of the Good – of his Principles of Economics. This must be, without a doubt, the meta­ physical starting point for any science in the proper empirical sense of the term.2 Besides its necessary use in science, it furthermore seems that human »progress has no tendency to cast it in doubt, but rather the effect of confirming it and of always further widening knowledge of the scope of its validity. Its continued and growing recognition is therefore closely linked to human progress« (ibid., 51). In other words, there seems to be a social urgency underlying the need to increase our understanding of the causal structures that both ›govern‹ and surround us. These insights into empirical causality are a prerequisite for using this knowledge to our benefit and thus for taking control of our well-being; because it is simply »impossible to conceive of a change of one’s person from one state to another in any way other than one subject to the law of causality. If, therefore, one passes from a state of need to a state in which the need is satisfied, sufficient causes for this change must exist« (ibid., 51). Many of our personal strivings, then, are destined to take hold of these »forces in operation within one’s organism that remedy the disturbed state«. Our economic life is thus driven by the need to secure those »external things acting upon it [the organism; interpretation MS] that by their nature are capable of producing the state we call satisfaction of our needs« (ibid., 52). In this vein Shaw (2008, 339) mentions that »economy is the 2 The proposition is metaphysical, for besides its inability to be falsified by experience, this principle a priori belongs to any subject who is able to structure experience in general and causal terms. In other words, causality is not simply ›found out there‹ in nature (Hume 1978), it is rather ›given to it‹ by a causally-competent subject (Kant 1998).

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art of making the most of life«3 (Shaw 2008, 339). The economic attitude thus sparks the demand for »a more scientific direction of all human activities and the desirability of replacing spontaneous processes by ›conscious human control‹ «4 (Hayek 1974/1989, 6). However, should there not be any limits attached to the control we exert on both ourselves and our environment in satisficing our needs or maximizing utility? The answer to this question depends on the theoretical assump­ tions that one endorses. If one fully accepts Menger’s axiomatic position, and thus merely starts from this one-sided and ›scientis­ tic‹ assumption5, then the only limits that can ever be conceived, if at all6, are utilitarian in nature. Such utilitarian bounds, then, are those that hamper the greatest satisfaction of needs for the greatest number of people, which are always context-dependent and have socio-historical variability (Mill 1991). One of the main problems associated with this conception, however, is that any type of thing or phenomena can then be conceived as a useful thing, if it »can be placed in a causal connection with the satisfaction of human needs [...] If, however, we both recognize this causal connection, and have the power actually to direct the useful things to the satisfaction of our needs, we call them goods« (Menger 2004, 52, my italics). This further means that even the concept of »relationships«7 – a term that Menger suspiciously writes into brackets – which includes cat­

My italics. This can be in stark contrast to ethics, which aims to make the best of life. This quote is from Hayek’s Nobel Memorial Lecture (1974), which had later been published in The American Economic Review (1989). 5 I am here referring to the first sentence of this paragraph. The assumption is one-sided, as it merely portrays the fact that a subject is able to perceive causal structures, but it does not problematize what this possibility implicates, that is, what it both says about and demands from the causally competent subject. Hayek (1978, 23) had then famously called this »approach which has come to be described as the ›scientistic‹ attitude – an attitude which [...] is decidedly unscientific in the true sense of the word, since it involves a mechanical and uncritical application of habits of thought to fields different from those in which they have been formed [...] some of the gravest errors of recent economic policy are a direct consequence of this scientistic error«. 6 Many economists believe that they are in the business of developing theories »of actual human behavior with many testable implications« and not in that of (primarily) establishing »what we ›ought‹ to do« (Becker 1990, 8–9). My italics. 7 The concept of »relationships« is a translation of Menger’s use of the term »Verhält­ nisse«. 3

4

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egories such as »firms, clients8, monopolies, copyrights, patents, trade licenses, authors’ rights, and also, according to some writers, family connections, friendship, love, religious and scientific fellowships [...] are actually goods« (my italics). The Nobel Prize recipient Gary Becker (1993, 128) seems to agree thereto, as he believes that »commodi­ ties like housing space, children, conversation, and love are jointly consumed (they are ›family commodities‹)«. So, notwithstanding Becker’s critique that the »definition of economics in terms of material goods is the narrowest and the least satisfactory«9, it is still the case that the economic approach and its combined assumptions of maximizing behavior, market equilibrium and stable preferences10…are responsible for the many theorems associated with this approach. For example, that (1) a rise in price reduces quantity demanded, be it [...] a rise in the ›shadow‹ price of children reducing the demand of children [...] The economic approach is clearly not restricted to material goods and wants, not even to the market sector [...] the economic approach is a comprehensive one that is applicable to all human behavior (Becker 1990, 5–6) [...] According to the economic approach, a person decides to marry when the utility expected from marriage exceeds that expected from remaining single or from the additional search for a more suitable mate (ibid., 8) [...] Some economists cannot resist the temptation to hide their own lack of

8 Menger uses the term »Kundschaften«, which had badly been translated into »good-will«. I therefore refuse to use this term, as it deceivingly misses a crucial point: Menger and many other scientistic economists conceive of human qualities, relationships, and perhaps even humans themselves as useful things and potential goods. 9 It must be mentioned that this critique of Gary Becker cannot be oriented to Menger’s specific conception of economics and economic behavior, as the latter clearly states that »all goods can, I think, be divided into the two classes of material goods (including all forces of nature insofar as they are goods) and of useful human actions (and inactions)«, thus pointing to a rather broad conception regarding the potential goods-character of the encountered ›things‹ in life. 10 However, while these assumptions might hold for some economists in the neo­ classical tradition, there are various fields in economics – e.g. behavioral and/or evolutionary economics – which, for example, assume preference change. Besides, even neoclassical economists do not assume that all preferences are stable: »Rather some subset of agent’s preferences, those defined with respect to a set of final outcomes, are fixed by the model, while others are allowed (in principle at least) to vary. An agent’s preferences over her option set, for instance, are bound to vary if the information set she uses to determine their expected utilities changes for some reason« (Bradley 2008, 1).

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understanding behind allegations of irrational behavior, unnecessary ignorance, folly, ad hoc shifts in values, and the like, which is simply acknowledging defeat in the guise of considered judgment (ibid., 11) [...] With an ingenuity worthy of admiration if put to better use, almost any conceivable behavior is alleged to be dominated by ignorance and irrationality, values and their frequent unexplained shifts, custom and tradition, the compliance somehow induced by social norms, or the ego and the id…they are tempting materials for ad hoc and useless explana­ tions of behavior (ibid., 13) [...] although a comprehensive framework is provided by the economic approach, many of the important concepts and techniques are provided and will continue to be provided by other disciplines.11 The heart of the argument is that [...] all human behavior can be viewed as involving participants who maximize their utility from a stable set of preferences and accumulate an optimal amount of information and other inputs in a variety of markets. (ibid., 14, original italics)

Limiting the Scope of Goods-Characterization The previous paragraph has shown that the singular concept of causal­ ity12 leads to a ubiquitous notion of goods, or at least to a narrow and rather perverted notion of value; anything and anyone can in principle be considered in its mere use and exchange value. To be clear, this issue goes beyond Marx’ (1887, 47) critique concerning the »fetishism of commodities«, which restricts itself to the economist’s limited and unsatisfactory understanding of exchange value: A commodity appears, at first sight, a very trivial thing, and easily understood. Its analysis shows that it is, in reality, a very queer thing, abounding in metaphysical subtleties and theological niceties. So far as it is a value in use, there is nothing mysterious about it13, whether we 11 If this is true, then economists should perhaps start to pay more attention to what philosophers have to say about the concept of love and trust, which shall later be expounded in somewhat more detail. 12 The notion of causality which had so far been described is singular, as it encom­ passes only one type of necessity, namely one that merely regards the chain of external relations, without problematizing the position from which such a conceptualization is possible in the first place: the constitution of the subject and the ethical predicament of her/his reflective self-understanding. 13 My italics. It furthermore seems that the astute Marx had omitted an important question here, which shows that the concept of use value is far more mysterious than

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consider it from the point of view that by its properties it is capable of satisfying human wants, or from the point that those properties are the product of human labour [...] The mystical character of commodities does not originate, therefore, in their use value [...] A commodity is therefore a mysterious thing, simply because in it the social character of men’s labour appears to them as an objective character stamped upon the product of that labour; because the relation of the producers to the sum total of their own labour is presented to them as a social relation, existing not between themselves, but between the products of their labour [...] it is a definite social relation between men that assumes, in their eyes, the fantastic form of a relation between things [...] This I call the Fetishism which attaches itself to the products of labour, so soon as they are produced as commodities, and which is therefore inseparable from the production of commodities. (Marx 1987, 47–8)

Marx is surely right to problematize the concept of commodity and to point to its fundamentally social character, which, under capitalistic working conditions, is then alienated from the wage laborer(s) who produced it. It therefore seems that workers have nothing, or at least very little to say about the exchange value of their ›own’ products of labor – including their own exchange value – and the various rents that are associated therewith, as these are supposed to be determined by outside market forces (Cobben 2015). While Marx’ immanent critique of the detrimental repercussions thereof might well be legitimate14, the problem of valuation does lie deeper than Marx had figured, and it also occurs much ›earlier‹ in the economic analysis. In other words, Marx has skipped an important logical and thus a fundamental methodological step. It namely seems that Marx has fully accepted the scientistic, materialistic, and naturalistic starting axiom that ›everything is subject to the laws of causation‹. It should thus come as no surprise that his conception of commodities – »articles of utility become commodities, only because they are products of the labour of private individuals or groups of individuals who carry on their work independently of each other« (Marx 1887, 48) – is very much in line with the standard economic notion thereof, namely that if we »have the power actually to direct the useful things to the satisfaction of our needs, we call them goods« (Menger 2004, he made it to be: should everything be regarded as a mere useful and potentially exchangeable thing from our human perspective? If not, then why so? 14 His critique is immanent, as he attacks economists from a rather economic perspec­ tive.

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52). However, the assumed singular conception of causality only allows for conditional and thus relative notions of value, so that literally everything can be given a price, even a human being in her/his entirety: The value, or WORTH of a man, is as of all other things, his price; that is to say, so much as would be given for the use of his power: and therefore is not absolute; but a thing dependent on the need and judg­ ment of another. An able conductor of soldiers, is of great price in time of war present, or imminent; but in peace not so. A learned and uncor­ rupt judge, is much worth in time of peace; but not so much in war. And as in other things, so in men, not the seller, but the buyer deter­ mines the price. For let a man (as most men do,) rate themselves at the highest value they can; yet their true value is no more than it is esteemed by others. (Hobbes 1996, 59, § 16)

Needless to say, if the worth of us humans can entirely be reduced to the prices that are attached to our use or exchange values, then it would be completely legitimate to have markets for the bartering of human beings – i.e., slavery – who are then considered as mere useful objects. Besides theoretically allowing for the moral permissibility of such horrible outlooks and events, this reductionistic idea of value based on the singular notion of causality also precludes the full-fledged experience of some very basic human expressions – i.e. our inviolable sense of dignity, the unconditional force of love, trust, etc. Thus, the scientistic perspective entirely dismisses the necessity of conceiving the various actions that come forth from such deep-seated and inestimable emotions or attitudes as non-economic in nature. In Becker’s (1990, 14, my italics) own words, the economic approach provides »a unified…comprehensive framework«, which does not even permit the understanding of human behavior as »compartmentalized, sometimes based on maximizing, sometimes not, sometimes moti­ vated by stable preferences, sometimes by volatile ones, sometimes resulting in an optimal accumulation of information, sometimes not. Rather, all human behavior can be viewed as involving participants who maximize their utility from a stable set of preferences and accumulate an optimal amount of information and other inputs in a variety of markets«. One could thus describe this as »a colonization of the lifeworld by [...] imperatives that drive moral-practical elements out of private and political public spheres of life [...] the economic system subjects the life-forms of private households and the life conduct of consumers and employees to its imperatives« (Habermas

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1987, 325). Besides, Becker’s assumption regarding the supposed comprehensiveness of the economic framework is highly unfounded, especially given the fact that both in the history of philosophy and in contemporary psychology the fundamental compartmentalization of human behavior by means of the »distinction between intuition and reasoning [...] between two modes of thought« has been shown to be very essential to our (holistic) identity as reflective and sensual beings (Kahnemann 2002, 450; Kant 1998/2002).

Example 1: The Obliteration of Love Let us first take the experience of love as an example and evaluate to what extent Becker’s ideas thereon can be considered as a fair depiction of ›actual human behavior‹. The account of love that is provided here mainly stems from the psychoanalyst Erich Fromm, for not only does it essentially resonate with the descriptions of love as offered by other philosophers who have extensively written on the topic (e.g. Halwani 2018; Nozick 1991; Nussbaum 1990), but it also fits perfectly to Becker’s use of the concept of ›altruism‹ in his analysis of the family. So, Fromm (1956, 22, 26, 60) famously states that love is an action, the practice of a human power, which can be practiced only in freedom and never as the result of a compulsion. Love is an activity, not a passive affect; it is a ›standing in‹, not a ›falling for‹. In the most general way, the active character of love can be described by stating that love is primarily giving, not receiving (ibid., 22) [...] Love is the active concern for the life and the growth of that which we love (ibid., 26) [...] The selfish person is interested only in himself, wants everything for himself, feels no pleasure in giving, but only in taking. The world outside is looked at only from the standpoint of what he can get out of it; he lacks interest in the needs of others, and respect for their dignity and integrity. He can see nothing but himself; he judges everyone and everything from its usefulness to him; he is basically unable to love. (ibid., 60, original italics)

Let us now consider Becker’s use of the concept of altruism in families, which for him seems to be a notion that describes, and perhaps even explains, those kinds of acts that are ›made of‹ or which ›spring from‹ love:

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Yet many economists dispute that altruism is important in families, even though these same economists often deny themselves in order to accumulate gifts and bequests for their children. Moreover, parental love, especially mother love, has been recognized since biblical times [...] Even though altruism is important in most families, some parents do abuse their children, and some others want power or financial help from children. But surely interactions between family members are distinguished from those between unrelated persons primarily by the love and caring within the family. And altruism changes enormously the nature of interactions among people. (Becker 1993, 9)

So far so good, but then he goes on to claim that It can be said that Mi loves Fj if her welfare enters his utility function, and perhaps also if M i values emotional and physical contact with Fj [...] Even if Fj were ›selfish‹ and did not return Mi’s love, she would benefit from a match with someone who loves her, because he would transfer resources to her to increase his own utility. Moreover, a marriage involving love is more efficient than other marriages, even when one of the mates is selfish, and increased efficiency benefits the selfish mate also.15 (Becker 1993, 124)

First of all, if love and the resultant altruistic behavior of the lover mainly involves »giving [...] and the active concern for the life and the growth of that which we love« (Fromm 1956, 26), and thus regards the intention »to form a we [...] a willingness to destroy yourself«16 (Nozick 1991, 424) – i.e. »wanting to better the well-being of someone else for the sake of that person« (Halwani 2018, 139, my italics) – then the mere conditional care for the other’s welfare by necessarily inte­ grating it into the lover’s utility function is the immediate annihilation of love. The reason being that if one’s active concern is not primarily oriented towards the other, for the sake of the other, then »there is no love [...] He can see nothing but himself; he judges everyone and everything from its usefulness to him; he is basically unable to love« (Fromm 1956, 26, 60). Secondly, Becker holds an overly materialistic and rather perverse notion of »benefit«, as he believes Original italics, my bold italics. »In love the paradox occurs that two beings become one and yet remain two« (Fromm 1956, 21), meaning that one needs to destroy a particular sense of oneself in order to enable the formation of the union and thus to »produce the actual and unconditional formation of the we« (Nozick 1991, 425). Original italics, my bold italics. It must still be shown under what conditions it makes sense to talk about unconditionality. 15

16

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that even »if Fj were ›selfish‹ and did not return Mi’s love, she would benefit from a match with someone who loves her, because he would transfer resources to her to increase his own utility« (my italics). To be sure, the selfish and thus narcissistic person who is more focused on receiving than giving, especially in relation to a lover, simply does not and cannot truly benefit therefrom, because selfishness and self-love, far from being identical, are actually oppo­ sites. The selfish person does not love himself too much but too little; in fact he hates himself. This lack of fondness and care for himself, which is only one expression of his lack of productiveness, leaves him empty and frustrated. He is necessarily unhappy and anxiously concerned to snatch from life the satisfactions, which he blocks himself from attaining. He seems to care too much for himself, but actually he only makes an unsuccessful attempt to cover up and compensate for his failure to care for his real self. (Fromm 1956, 60–1, my italics)

The following quote also shows how Becker's weak analytical con­ structions simply fall apart, as the difference between altruism and selfishness seem to vanish and his epistemological doubts shine through his own choice of words: Since an altruist maximizes his own utility (subject to his family income constraint), he might be called selfish, not altruistic, in terms of utility. Perhaps – but note that h also raises w’s utility through his transfers to w. I am giving a definition of altruism that is relevant to behavior – to consumption and production choices – rather than giving a philosophical discussion of what ›really‹ motivates people. (Becker 1993, 279)

If people’s real motivations are not relevant to their behavior, the choices they make, and our (e)valuations thereof, then I truly don’t know what is; whereas motivation without choice is empty, choice without motivation is simply blind. A philosophical discussion is always necessary to ensure that both one’s understanding and par­ ticular use of concepts are theoretically valid, in that they do not run counter to what it practically means to experience the particular phenomena to which those concepts refer. In this sense we have shown how Becker’s definition of altruism leads to its destruction, thereby nullifying his entire consequent theoretical construction and

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the practical implications that he derives therefrom17; a valid compre­ hensive framework for understanding human behavior must surely enable basic human phenomena such as love to play a role therein.

Example 2: The Destruction of Trust Just as love disintegrates by making the possibility of its experience conditional upon the lover’s own self-interest and thus personal happiness, it has been noted (even!) by proponents of the economic or rational choice paradigm that »calculative trust is a contradiction in terms« (Williamson 1993, 463). This basically means that econo­ mic »risk-taking and trusting behavior are thus really different sides of the same coin« (Deutsch 1958, 266). This fundamental insight recognizes the fact that if trusting behavior is but a particular species of risk-taking, then »there is no value in trust«, as this supposition would mean that the »best device for creating trust is to establish and support trustworthiness«18 (Hardin 1996, 29). Of course, if trust is nothing but the rational outcome of prudent risk manage­ ment, then the only thing at issue is the objectifiable reliability of the other, not the subjective trust-potential of the evaluating subject. Furthermore, if trust is set on a par with risk-taking, then the act of forgiving past transgressors and that of trusting relative strangers would always be irrational. »Posed therefore as an abstract policy decision, the rational choice result is this: do not walk in the woods with strangers« (Williamson 1993, 474). However, in contrast to ›standard‹ risk-taking, trusting behavior must be »charac­ terized by (1) the absence of monitoring, (2) favorable or forgiving predilections, and (3) discreteness«, and such trust »relations are Since my critique questions the ability of any mere empirically-oriented social science to capture the essence of important ›invisible‹ phenomena such as love – especially of a science that assumes utility maximization or needs satisficing – it runs deeper than Bergmann’s (1995, 149) critique of Becker: »In his analysis of the family [...] Becker brings to bear the theoretical apparatus developed in the last hundred years for the analysis of markets [...] It comes to plainly ridiculous conclusions because it is too simple: it leaves out considerations of prime importance [...] Becker's method of thinking about the family leads [...] to a conclusion that the institutions depicted are benign, and that government intervention would be useless at best and probably harmful«. 18 It must be clear to the readers that these three scholars are all fervent adherents of the rational choice paradigm. 17

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clearly very special« (Williamson 1993, 483–4). This is broadly in line with Möllering’s (2006, 106) observation that »trust only ever enters as a meaningful construct when decisions cannot be made in a strictly calculative way, which happens to be the rule rather than the exception«, and Lewis/Weigert’s (1985, 969) claim that »trust succeeds where rational prediction alone would fail« (quote from Möllering 2006, 44). But how should we further differentiate trusting behavior from risk-taking, and what characteristic(s) do they have in common? Since trusting behavior and risk-taking »emerge only as a com­ ponent of decision and action (Luhmann 1988, 100)«, it is fair to name the »coin« to which Deutsch had previously referred to as autonomy or freedom19. Whereas risk is the logical implication of autonomy, trust is the substantial one (Suurendonk 2022). For risk-taking this means that (1) the perception of risk logically presupposes the capacity to withdraw oneself from the immediacy of a particular situation; (2) actors can, to a certain degree, determine the chances of the various outcomes in question, and (3) given this calculation, one freely decides that it is rational to accept the wager. For trusting behavior, however, it means that (1) besides this same possibility of situational abstrac­ tion, one acknowledges the other as an autonomous agent, so that (2) both the content and probability of the ›risks‹ involved can in principle not be determined, yet (3) one freely decides to make oneself depen­ dent on and implicitly vulnerable to the autonomous other. So, one observes that autonomy plays a much more substantial role in the case of trusting behavior than for mere risk-taking. This necessarily adds more indeterminacy to one’s ›wager‹, because, in a fundamental sense, freedom is the opposite of determinability20 (Hegel 1991, 42, § 7). In other words, whereas we need some amount of freedom to calculate I shall use both terms synonymously in this paper, even though autonomy is a more restricted form of freedom, referring to the potential of reflective beings to make choices that follow the logic of unconditionality (otherwise the choices would not have been made autonomously, but dictated by one’s passions). 20 Of course, Hegel is more nuanced than this, as he mentions that: »Thus, freedom lies neither in indeterminacy nor in determinacy, but is both at once. The will which limits itself exclusively to a this is the will of the stubborn person who considers him­ self unfree unless he has this will. But the will is not tied to something limited; on the contrary, it must proceed further, for the nature of the will is not this one-sidedness and restriction. Freedom is to will something determinate, yet to be with oneself [bei sich] in this determinacy and to return once more to the universal« (Hegel 1991, 42, § 7). My position is not at odds with this conception and fully agrees thereto. 19

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risk, it is not so that we can calculate the free and thus rationally gov­ ern trust. This means that trust does not appear at will after the intake of some optimal amount of informational input (Lagerspetz 1998). Trust can only be the giving of freedom, out of a position of freedom21 (Suurendonk 2022). In this vein Gambetta (1988, 219) mentions that: The freedom of others, however, is not by itself sufficient to character­ ize the conditions in which the issue of trust arises. Our relationship to people who are to some extent free must itself be one of limited freedom. It is a freedom in the sense that we have a choice as to whether we should enter into or maintain a potentially risky relationship: it must be possible for us to refrain from action. If it were only others who enjoyed freedom, while we had no alternative but to depend on them, then for us the problem of trust would not arise: we would hope rather than trust.

Since freedom presupposes indeterminacy, the kind of ›risk‹ that is related to the ›bet‹ on trust is highly uncertain. So, not only is it »impossible to separate the chance of good from the risk of ill« (Hume 1978, 497), but also the specific outcomes of trust remain intractable to us. Williamson was thus well aware of the fact that trust presupposes the Knightean (1921) split between risk and uncer­ tainty. Unfortunately, this cannot be said of Gambetta and Coleman (1981/1982, 60), who had clearly blurred these concepts, as the latter even states »that the decision of the trustor fits the paradigm that decision theorists call decision under uncertainty or decision under risk«, thus blurring the fundamental distinction between these concepts. However, »in situations of risk [...] the optimal course of action is calculable but not [...] in situations of uncertainty« (Gigeren­ zer 2019, 3556). And various other notable scholars have since accepted both the logical and experiential fact that trust »falls into the category of Knightian uncertainty« (Möllering 2006, 8). To be sure, this concept of uncertainty is a highly technical one, which Knight (1921, 231) specifically introduced for our dealings with autonomous beings and thus for »situations which are far too unique, generally speaking, for any sort of statistical tabulation to have any value for guidance«. This understanding of »true uncertainty« must not be confused with »uncertainty in the probability sense«, as the former

21 However, we must still determine whether freedom is a viable possibility for us, which will be investigated in the next paragraph.

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regards »that higher form of uncertainty not susceptible to measure­ ment and hence to elimination« (Knight 1921, 232). Unfortunately, this stringent understanding of uncertainty is not yet common knowledge and widely spread in the scientific commu­ nity. Das/Teng (2004, 87), for example, have conceptualized it quite differently, as they mention that »uncertainty may be regarded as part of the risk construct«. However, their notion of uncertainty is theoretically not robust at all – it has nothing to do with Knight’s »true uncertainty« – for they assume that it »refers broadly to a condition of unsure outcomes« (ibid., 87). But again, please note that the concept of uncertainty had been introduced as a technical term to refer to the kind of behavior or situation that is engendered by autonomous beings. Consequently, if autonomy presupposes indeterminacy, the same must be said of uncertainty. This only means that it does not make sense to even stipulate possible outcomes that might be associated therewith, as this list would be an infinite one and the endeavor remains in vain. So, instead of disregarding this ingenious scientific innovation and to avoid misusing such a highly important technical term, I propose utilizing predicates such as ambiguous or indeterminate for referring to those risks that involve unsure yet determinable outcomes which are probabilistically difficult to ascer­ tain. In fact, the idea of determinable uncertainty, be it only in the minimal sense of unsure outcomes, is quite »meaningless and fatally misleading« (Knight 1921, 232). It must now be clear that the experience of trust substantially points to certain aspects of human interaction in which there is »no valid basis« for identifying potential outcomes and their associated probabilities (ibid., 225). This means that if calculativeness and the corresponding accumulation of some »optimal amount of informa­ tion and other inputs« are decisive for the economic method (Becker 1990, 14), then (1) economics and the empirical social sciences can never provide an explanation of trust, as they ought to be related to determinable observations; and (2) it is highly improbable that market relations are essentially characterized by trust. If one decides to trust in such an impersonal and strategic arena, then the trustor must at least be wary of the fact that s/he displays a non-calculative attitude within a predominantly calculative atmosphere; one could merely be used as a thing, as a useful resource. And this consciousness might in its turn obliterate trust (Løgstrup 1997). The fact of the matter is that the »market community as such is the most impersonal

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relationship of practical life into which humans can enter with one another« (Weber 1978, 636). Trust, however, »is principally interper­ sonal trust (and is therefore limited) [...] Trust is extended first and foremost to another human being, in that he is assumed to possess a personality, to constitute an ordered, not arbitrary, center of a system of action« (Luhmann 1979, 22, 39). So, »if evidence could solve the problem of trust, then trust would not be a problem at all. It is not only that the gathering of information [...] may be costly, difficult, or even impossible to achieve. The point is that trust itself affects the evidence we are looking for« (Gambetta 1988, 233). March/Olson (1989) therefore posited that »the core idea of trust is that it is not based on an expectation of its justification. When trust is justified by expectations of positive reciprocal consequences, it is simply another version of economic exchange« (quoted from Williamson 1993, 486). So, in order to allow for love, trust and similar ›conditions‹ under which one can reasonably »suspend uncertainty«, one must grapple with »the methodological challenge to grasp what constitutes the unknowable from the point of view of the trustor« and the lover (Möllering 2006, 114, 119). The highly uncertain and empirically ungraspable nature of both love and trust is reflected in their »unconditional quality [...] Not only does it not need to be deserved – it also cannot be acquired, produced, controlled. If it is there, it is like a blessing; if it is not there, it is as if all beauty had gone out of life – and there is nothing I can do to create it«22 (Fromm 1956, 39). Thus, in reconnecting with our critique of the ›scientistic‹ assumption of causality, the next paragraph investigates whether and in what manner it makes sense to postulate self-causation, unconditionality, and thus freedom.

Two Types of Necessity: Causality and Autonomy »All things are subject to the law of cause and effect« (Menger 2004, 51), except that which is self-caused. Furthermore, it seems logical to assume that only a being with some kind of self-causal potential can suppose that it itself might be determined by causal laws. Therefore, My italics. Even though one cannot force them into existence, it is possible to create the conditions in which it is easier or more likely for love and trust to ›occur‹ or to be ›activated‹. 22

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the force of the neuroscientist’s determination to choose something – a particular object of desire – points to a different kind of force than that which had determined her/him to inquire into the grounds of determination underlying her/his decisions, and thus to do science. However, it is still premature to denounce those more reflec­ tive ›meta‹ kind of decisions as stemming from the freedom of the will; they might nevertheless belong to the sphere of external, and thus of causal necessity; what do we know. In fact, freedom of the will might well be merely illusory, or a concept of little importance, because if »necessity makes an essential part of causation; and con­ sequently liberty, by removing necessity, removes also causes«, then liberty »is the very same thing with chance« (Hume 1978, 407). And if freedom is conceptualized as chance, then it becomes a mere acci­ dental feature of decision-making, thus not worthy of taking into serious account. So, in order to bestow substantial value to freedom, we must show that it too is a concept of necessity23; albeit not in the My understanding of empirical necessity is rather similar to Kant’s (1998, A218/ B266) notion thereof, as expressed by his third postulate of empirical thought: »: 3) That whose coherence with the actual is determined according to universal conditions of experience is necessary (exists necessarily)«. Kant (1998, A226–8/B279–80) further elaborates that »As concerns, finally, the third postulate, it deals with material necessity in existence, and not with merely formal and logical necessity in connecting concepts. Now [we have seen that] no existence of objects of the senses can be cognized completely a priori; but that such existence can yet be cognized comparatively a priori, viz., relatively to another existence that is already given; but that even then we can get only to such existence as must be contained somewhere in the coherence of the experience whereof the given perception is a part. Since this is so, the necessity of existence can never be cognized from concepts, but always only from the connection with what is perceived, and according to universal laws of experience. Now there is no existence that could be cognized as necessary under the condition of other given appearances, except the existence of effects arising from given causes according to laws of causality. The existence whose necessity we can alone cognize is, therefore, not that of things (substances), but only that of their state; viz., we can cognize this necessity from other states that are given in perception, and according to empirical laws of causality. From this it follows that the criterion of necessity lies solely in the law of possible experience which says that everything that occurs is determined a priori by its cause in [the realm of] appearance. Hence, we cognize the necessity only of those effects in nature whose causes are given to us, and the characteristic of necessity in existence reaches no further than the realm of possible experience; and even in this realm it does not hold for the existence of things as substances, because substances can never be regarded as empirical effects, or [i.e.] as something that occurs and arises. The necessity concerns, therefore, only the relations of appearances according to the dynamical law of causality, and the possibility based thereon of inferring a priori, from 23

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same theoretical manner as regards the external laws of causality, for the importance of our insight into the necessity of self-causality rather lies in its practical significance for reflective beings. Nothing less than the practical possibility and theoretical rationality of both love and trust are at stake. Considering the weight of this quest, then, Hume (1975, 95/Chapt. VIII, § 23) was surely wrong to believe that »this reconciling project with regard to the question of liberty and neces­ sity« is »the most contentious question of metaphysics, the most con­ tentious science«. The reason being that if there is no (semblance of) unconditionality, then everything is merely conditional – all worth can be reduced to exchangeable prices – and there is no ›grand or true‹ sense of loving and trusting in the world, especially not in dif­ ficult times where hurt and losses will be incurred. This also means that Fromm (1956, 39) would have been wrong to state that love, for example, does »not need to be deserved«. What, then, is unconditional? This question unfortunately can­ not be answered; it is simply impossible to determine any particular thing as unconditional, for then it already belongs to the world of conditions. Therefore, the question can only be: what seems to be unconditional from our perspective? The answer thereto can only refer to the conditions of possibility for thinking in general – to that which enables Descartes’ indubitable position – which initially regards the faculty of life. Simply expressed, without life there is no thought. In this sense, life is considered in its »infinity [...] as a process [...] ceaseless movement [...] Life as a living thing«.24 The assumption of life’s unconditionality means that neither has anyone some given existence (a cause), another existence (the effect). Everything that occurs is hypothetically necessary; this is a principle that subjects change in the world to a law, i.e., to a rule of necessary existence, without which even a nature would not take place at all. Hence the proposition that nothing occurs through a blind randomness (in mundo non datur casus) is an a priori law of nature. So also is the proposition that no necessity in nature is blind necessity, but all is conditioned and hence understandable necessity (non datur fatum). Both are laws by which the play of changes is subjected to a nature of things (of things as appearances), or-which is the same-subjected to the unity of the understanding wherein alone these changes can belong to one experience, i.e., to the synthetic unity of appearances«. 24 See Hegel 1977, 107. In German it reads: »Die Bestimmung des Lebens, wie sie sich aus dem Begriffe oder dem allgemeinen Resultate ergibt, mit welchem wir in diese Sphäre eintreten, ist hinreichend, es zu bezeichnen, ohne daß seine Natur weiter daraus zu entwickeln wäre; ihr Kreis beschließt sich in folgenden Momenten. Das Wesen ist die Unendlichkeit als das Aufgehobensein aller Unterschiede, die reine achsendrehende Bewegung, die Ruhe ihrer selbst als absolut unruhiger Unendlichkeit;

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observed the beginning of life, nor shall anyone ever see the end of it. And since observation is the hallmark of science (Kuhn 1962; Lincoln/Guba 1985), our knowledge on the origin of life shall always remain speculative (Guth 2007; Totani 2020), so that life in general can reasonably be assumed to (at least potentially) be unconditional. Furthermore, as it is through reason(ing) that we can »per­ ceive« or postulate the possibly unconditional character of life, and given that it takes one to know one, it is quite inevitable to assume unconditional characteristics in its potentiality as well. Therefore, besides the need for the faculty of life, the second necessary condition of possibility for thinking is the faculty of reason. Stated simply, without thought there is no assurance of life. So, »as a result of questions that keep recurring to infinity«25 (Kant 1977, 88, 4:353), we can likewise determine the nature of reason as seemingly uncon­ ditional. This merely means that humans always had, have, and will have questions for themselves; that is, the incessant questioning and endless pursuit of truth are signs of the potentially unconditional nature of reason (Williams 2002). But what do these insights into the possible unconditionality of life and reason have to do with the concept of necessity? It does not follow from these essential logical postulates that our theoretical knowledge of or speculations about empirical causality should in any way change; as already stated, for our theoretical lives these insights are of little significance. The empirical possibility of assuming unconditionality mainly indicates that the concept of free­ dom is not in vain and that, instead of setting it on a par with chance die Selbständigkeit selbst, in welcher die Unterschiede der Bewegung aufgelöst sind; das einfache Wesen der Zeit, das in dieser Sichselbstgleichheit die gediegene Gestalt des Raumes hat [...] Das Leben in dem allgemeinen flüssigen Medium, ein ruhiges Auseinanderlegen der Gestalten, wird eben dadurch zur Bewegung derselben oder zum Leben als Prozeß. Die einfache allgemeine Flüssigkeit ist das An-sich und der Unterschied der Gestalten das Andere. Aber diese Flüssigkeit wird selbst durch diesen Unterschied das Andere; denn sie ist jetzt für den Unterschied, welcher an und für sich selbst und daher die unendliche Bewegung ist, von welcher jenes ruhige Medium aufgezehrt wird, das Leben als Lebendiges« (Hegel 2013, 95, my italics). 25 In German it reads: »Die Vernunft, durch alle ihre Begriffe und Gesetze des Verstandes, die ihr zum empirischen Gebrauche, mithin innerhalb der Sinnenwelt, hinreichend sind, findet doch von sich dabei keine Befriedigung; denn durch ins Unendliche immer wiederkommende Fragen wird ihr alle Hoffnung zur vollendeten Auflösung derselben benommen«. My italics. This quote is from Kant’s Prolegoma as retrieved from the following website: https://www.projekt-gutenberg.org/kant/pro legom/prolegom.html.

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(Hume), we should rather acknowledge the practical and »evaluative importance of freedom [...] There is indeed a strong rationale for recognizing the positive role of free and sustainable agency« (Sen 1999, 10–11). For our practical lives, then, these two fundamental insights into unconditionality function as unconditional and thus categorical imperatives (Suurendonk 2022). The reason being that, as Aristotle (2000, 1094b, my italics) rightly noted, if what is done has some end for its own sake, and everything else we want is for the sake of this end; and if we do not choose everything for the sake of something else (because this would lead to an infinite progression, making our desires fruitless and vain), then clearly this will be the good, indeed the chief good.

In other words, since most ends can be considered conditionally good, thus good for something else, the moral good should distinguish itself by its ability to be conceptualized as unconditionally so, thus good in itself. Since both the faculties of life and reason must be considered as potentially unconditional – thus good in themselves – they ought to be regarded as moral goods which should be respected unconditionally (Korsgaard 1992). This means that reasonable beings have the duty to (1) effectively intend to act in accordance with life, that is, to generally respect and, if possible, to even care for the health of (at least) all potentially reasonable beings26; and to (2) effectively intend to act in accordance with reason, that is, to generally strive for truthfulness (Suurendonk 2022). It is thus not a coincidence that it is »granted by all major contemporary and traditional moral theorists [...] that some extremely general moral prescriptions hold for all [...] For example, refraining from flagrant dishonesty, torture, and intentional killing are required in all human activities« (Donaldson/Dunfee 1994, 256, 258). Only with this ethical framework in mind does it make sense to truly love and to trust others, as it allows us to reasonably assume others to be similarly minded beings who are also worthy of our unconditional love and trust, because they are or at one point should become aware of their moral obligations27. In this vein one can agree 26 These duties are primarily oriented to similar-minded beings of whom one suspects that they are capable of living a reflective life in a culture of mutual respect, which should always be standardly assumed when meeting other beings for the first time (Suurendonk 2022). 27 This is in line with Fromm (1956, 26, 28) when he states that beyond »the element of giving, the active character of love becomes evident in the fact that it always implies

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with Luhmann (1979, 36) that »it is precisely this simplified form, this reduction to ultimate generality, which allows it [referring to trust] to offer security«.

The Source and Worth of Dignity If prices are conditional, it is imperative to have another ›concept of worth‹ to denote the value of the unconditional. It seems that the notion of dignity is a useful (e)valuative notion that can set itself apart from that of price. The source of dignity can then only be that which is good in and for itself, which thus only regard the faculties of life and reason, as conceived from the ›perspective of unconditionality’ and thus understood as practical concepts of freedom. For those reflective beings who are able to have these insights into the unconditional character of life and reason, and, more importantly, to also act accord­ ing to its moral force, this capacity must be conceived as an empow­ ering and absolute value28 (Hegel 1977/1991). However, this is surely not the dignity in Hobbes’ (1996, 59, § 16, § 18) sense of conditional respect, whereby true value is no more than it is esteemed by others [...] The public worth of a man, which is the value set on him by the commonwealth, is that which men commonly call DIGNITY. And this value of him by the commonwealth, is understood, by offices of command, judicature, public employment; or by names and titles, introduced for distinction of such value.

Since we have shown that we must assume two fundamentally differ­ ent types of necessity – a conditional one of (theoretical) causality and an unconditional one of (practical) freedom – it is rather the case that: In the realm of ends everything has either a price or a dignity. What has a price is such that something else can also be put in its certain basic elements, common to all forms of love. These are care, responsibility, respect and knowledge [...] responsibility, in its true sense, is an entirely voluntary act; it is my response to the needs, expressed or unexpressed, of another human being [...] respect means the concern that the other person should grow and unfold as he is. Respect, thus, implies the absence of exploitation [...] Respect exists only on the basis of freedom: ›l’amour est l’enfant de la liberté‹ as an old French song says; love is the child of freedom, never that of domination«. My italics. 28 It is hopefully also felt or sensed as such.

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place as its equivalent; by contrast, that which is elevated above all price, and admits of no equivalent, has a dignity. That which refers to universal human inclinations and needs has a market price; that which, even without presupposing any need, is in accord with a certain taste, i.e., a satisfaction in the mere purposeless play of the powers of our mind, an affective price; but that which constitutes the condition under which alone something can be an end in itself does not have merely a relative worth, i.e., a price, but rather an inner worth, i.e., dignity. Now morality is the condition under which alone a rational being can be an end in itself, because only through morality is it possible to be a legislative member in the realm of ends. Thus, morality and humanity, insofar as it is capable of morality, is that alone which has dignity. Skill and industry in labor have a market price; wit, lively imagination, and moods have an affective price; by contrast, fidelity in promising, benevolence from principle (not from instinct) have an inner worth. Lacking these principles, neither nature nor art contain anything that they could put in the place of them; for the worth of these principles does not consist in effects that arise from them, in the advantage and utility that they obtain, but rather in the dispositions, i.e., the maxims of the will, which in this way are ready to reveal themselves in actions, even if they are not favored with success. (Kant 2002, 52–53, 4:434, original bold and italics.)

So again, only the kind of beings who are capable of having insights into the logic of freedom, and thus of making choices that accord to the unconditional demands thereof, show themselves worthy of abso­ lute dignity by freely conforming their will to the following two most basic categorical imperatives: 1) act with the effective intention to accord with the aims of life (to be alive), and thus strive (to implement the right conditions) for universal good health; and 2) act with the effective intention to accord with the aims of reason (to be reasonable), and thus strive (to implement the right conditions) for universal truthfulness. However, since we cannot perceive intentions and thus be fully sure of the motivational states of others, our standard attitude towards other potentially reasonable beings should always be one of unconditional respect for their autonomous potential and thus for their sense of dignity29. This entails recognizing the other’s capacity to make choices out of freedom and, if possible, cultivating that capability. Stated simply and negatively, we should not subject other potentially 29 For this reason, trust has been defined as »the expectation of unconditional respect out of duty« (Suurendonk 2022, 106).

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reasonable beings to our own likings. This necessarily introduces radical uncertainty concerning the other’s actions, or at least with regard to the (intentional) form wherein their actions will be molded. Therefore, in economic settings, where the control for efficiency is required to maximize utility or to satisfice needs, it will be extremely difficult not to reduce this (unknown) uncertainty to an accepted level of (known) risk and thus to fully respect each other’s sense of dignity. It is therefore not a contradiction to notice the seeming paradox that »despite an excess of wealth, civil society is not wealthy enough« (Hegel 1991, 267, § 245, original italics; Fromm 1956). So, if pressed to make an uncompromising choice between (economic) hap­ piness and (moral) contentment, I myself will always opt for the latter, as the former cannot be enjoyed without it, while the reverse is surely possible30.

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30 This reminds of Mill’s (1991, 13) remark that it »is better to be a human being dissatisfied than a pig satisfied; better to be Socrates dissatisfied than a fool satisfied. And if the fool, or the pig, are of a different opinion, it is because they only know their own side of the question. The other party to the comparison knows both sides«. And we should add that only a Socrates, that is, a human being who embodies both the spirit and the letter of ›the humane‹ within – who thus lives according to the two most basic categorical imperatives – knows that the value of her/his (moral) dignity outweighs the value of her/his (market) price.

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Michaël Suurendonk

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The Immeasurable Value of Autonomy

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Autorinnen und Autoren

Sebastian Berger ist Senior Lecturer an der Faculty of Business and Law an der University of West England, Bristol. Forschungsschwer­ punkte: die Sozialisierung der Verluste durch die Marktwirtschaft sowie die Verbindung von Dichtung und Wirtschaft. Irene Colombi hat Praktische Philosophie der Wirtschaft und Umwelt in Kiel und Internationale und Diplomatische Wissenschaf­ ten in Triest studiert. In ihrer Forschung setzt sie sich mit Themen der Wirtschaftsphilosophie und der politischen Philosophie, insbe­ sondere Machtfragen in der Ökonomik, auseinander. Tanja von Egan-Krieger ist Philosophin, Landschaftsökologin und Fellow beim deutschen Think Tank Denkfabrik für Wirtschaftsethik. Im Rahmen ihrer Promotion an der Universität Greifswald setzte sie sich mit der Normativität in den Wirtschaftswissenschaften auseinan­ der. In ihrer Postdoc-Forschung fokussiert sie sich auf die Forschungs­ bereiche Wirtschaftsphilosophie, Kritische Theorie, Nachhaltigkeits­ theorie und Degrowth. Marc Frick ist Referent am ZEW Mannheim und Lehrbeauftragter an der Universität Heidelberg. 2020 Promotion in Politischer Theorie über sozialtheoretische Implikationen von Gabenpraktiken. Publika­ tionen zur Ökologischen Ökonomie in Kooperation mit Malte Faber und Reiner Manstetten sowie zu sozialpolitischen Aspekten von Umwelt- und Klimapolitik. 2021 erschien die Monographie: Die Gabe als drittes Prinzip zwischen Markt und Staat? (transcript Verlag).

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Christian E. W. Kremser studierte Wirtschaftswissenschaften und Philosophie. Derzeit ist er Referent einer oberen Bundesbehörde im Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Wirtschaft und Klima­ schutz. Neben seiner Berufstätigkeit promovierte über die Vorstellung ökonomischer Utopien in der Ideengeschichte. Zu seinen Forschungs­ schwerpunkten gehören: Wirtschaftsphilosophie, Wirtschaftsethik, Wissenschaftstheorie der Wirtschaftswissenschaften und ökonomi­ sche Theoriegeschichte. Reiner Manstetten ist Dozent für Philosophie an der Universität Heidelberg, Lehrer für christliche Kontemplation. 1992 Promotion in der Philosophie über Meister Eckhart, 1997 Habilitation in den Wirtschaftswissenschaften über das Menschenbild der Ökonomie, 2003 Ernst-Bloch-Förderpreis der Stadt Ludwigshafen. Publikatio­ nen zur philosophischen Mystik sowie zur Ökologischen Ökonomie und zu den Grundlagen der Wirtschaftswissenschaften, vielfach in Kooperation mit Malte Faber. 2018 erschien die Monographie: Die dunkle Seite der Wirtschaft (Alber Verlag). Birger P. Priddat ist Seniorprofessor für Wirtschaft und Philosophie an den Universitäten Witten/Herdecke und Zeppelin in Friedrichs­ hafen. Forschungsschwerpunkte: Wirtschaftsphilosophie, Institutio­ nenökonomie, Theoriegeschichte der Ökonomie. Masatoshi Sasaki ist außerordentlicher Professor für Philosophie und Ethik am Kochi College, National Institute of Technology, Japan. Forschungsschwerpunkte: Lebensphilosophie, Phänomenologie, her­ meneutische Philosophie und Arbeiten zur philosophischen Möglich­ keit der Dichtung, insbesondere der japanischen Haiku- und TankaDichtung. Georg N. Schäfer promoviert an der Friedrich-Schiller-Universität Jena und am Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte. Sein Dissertationsprojekt, das die Rolle des modernen Wirtschaftens in den Entwicklungsdynamiken des Anthropozäns untersucht, verbin­ det sein Forschungsinteresse an der Ideen- und Wissensgeschichte, der Geschichte des wirtschaftlichen Denkens, der Umweltgeschichte und der geologischen Epoche des Menschen.

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Autorinnen und Autoren

Sören E. Schuster ist Doktorand der Philosophie an der AlbertLudwigs-Universität Freiburg. Seine Forschungsschwerpunkte am Institut für Wirtschaftsgestaltung in Berlin sind Wirtschaftsphiloso­ phie, History of Economic Thought, Philosophy of Management und Friedrich Nietzsche. Michaël Suurendonk ist ein Philosoph, der sich mit der normativen Rolle von Grundannahmen in den Sozialwissenschaften auseinan­ dersetzt. Er befasst sich insbesondere mit dem Stellenwert und der logischen Entwicklung des Autonomiebegriffs. Michaël hat einen Master of Arts in Philosophie, einen Master of Science in Policy & Organisation Studies, einen Professional Doctorate in Engineering und einen Doktor in Wirtschaftswissenschaften.

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