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German Pages 288 [289]
Salomon Almekias-Siegl Sabine Münch
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Mit der Synagoge als Christ zu leben heißt u.a., gegenwärtige jüdische Schriftauslegung wahrzunehmen, sich von ihr auf Auslegungswege der Bibel mitnehmen und reinreden zu lassen. Es heißt, sich seiner lebendigen christlichen Wurzeln zu vergewissern, wenn das, was heute in der Synagoge aus der Schrift gelehrt und gelernt wird, in der Kirche gehört und mitbedacht wird. Dazu will der erste Teil dieses Buches seinem Leserkreis die Möglichkeit geben. Hier finden sich Auslegungen zu jüdischen Wochenabschnitten aus der Tora von Rabbiner Dr. Salomon Almekias-Siegl. Im zweiten Teil des Buches findet der Leser Auslegungen der evangelischen Predigerin Sabine Münch zum 10. Sonntag nach Trinitatis, dem Israelsonntag. Sie thematisieren u.a. das Alte Testament als Liebesbrief Gottes an die Juden; Jerusalem – wo das Warten auf Gott geboren wurde; es geht um die Fragen, was es heißt, wie Abraham mit Gott gegen Gott zu glauben; wie es um das Geheimnis des erst- und zweitgeborenen Volkes bestellt ist; was die Menora in der Kirche zu suchen hat; wie weit christliche Solidarität mit Israel geht; wie Gottes Gebet uns findet; es geht um das Wächteramt der Christenheit gegenüber und mit Israel, um die verloren gegangenen „Kinder Israel“ in der revidierten Lutherbibel; um Juden und Christen miteinander unterwegs, sich begegnend unter der Verheißung: was Gott zusammengefügt hat ...
ISBN 978-3-88309-991-0
Salomon Almekias-Siegl / Sabine Münch - Gehen wohl zwei miteinander
„Die Kirche muss mit der Synagoge leben – nicht wie die Toren in ihrem Herzen sagen, als mit einer anderen Religion oder Konfession, sondern als mit der Wurzel, aus der sie selbst hervorgegangen ist.“ (Karl Barth)
Gehen wohl zwei miteinander Jüdisch-christliche Lernwege durch die Bibel
Verlag Traugott Bautz GmbH
Gehen wohl zwei miteinander
Jerusalemer Texte
Schriften aus der Arbeit der Jerusalem-Akademie
herausgegeben von Hans-Christoph Goßmann
Band 16
Verlag Traugott Bautz
Salomon Almekias-Siegl Sabine Münch
Gehen wohl zwei miteinander Jüdisch-christliche Lernwege durch die Bibel
Verlag Traugott Bautz
Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.
Verlag Traugott Bautz GmbH 99734 Nordhausen 2016 ISBN 978-3-88309-991-0
Einleitung „Gehen wohl zwei miteinander“, ein Zitat aus der Schrift des Propheten Amos, das fortgesetzt wird mit den Worten: „ohne einander begegnet zu sein?“1 Eine rhetorische Frage, deren Antwort lautet: Wer miteinander geht, IST einander begegnet – wie auch immer! Das gilt von Juden und Christen. Beide gehen miteinander durch die Weltgeschichte, seit 2000 Jahren einander begegnend, eine tiefe Vergegnungsgeschichte eingeschlossen. Dazu gehört die ungeheuerliche christliche (Theologie-) Geschichte von Verdrängung, Verleugnung, Verrat, Enterbung der Juden und kirchliche Unterstützung bzw. unterlassene Bruderhilfe bei dem Versuch, sie physisch auszulöschen. Aber es geht auch anders. Die Vergegnungsgeschichte wurde und wird immer wieder von Juden und Christen unterlaufen, die von dem Wunder berührt sind: „Seit ein Gespräch wir sind und hören können voneinander“2. Hölderlin sagt nicht „Seit IM Gespräch wir sind“; er sagt und meint: „Seit EIN Gespräch wir sind“. Man kann diesen Satz mit dem jüdischen Religionsphilosophen M. Buber 3 so verstehen: Wir selber, Juden und Christen, sind das Gespräch. Wir werden gesprochen. Wir werden durch das uns verbindende und auch trennende Wort, das Gott durch die Schrift je um je zu uns spricht, in unser Dasein und Mitsein mit dem anderen hineingesprochen. DIE Inkarnation dieses Gesprächs war und ist – aus christlicher Sicht Jesus Christus. Und wer heute seine Geschichte hört, wer das Neue Testament liest, kommt am TENACH (Alten Testament) nicht vorbei - „ge1 Amos 3,3 2 F. Hölderlin, Friedensfeier, in: Hölderlins Werke in zwei Bänden, Bd.1, Berlin/Weimar 1989, 239 3 Siehe u.a. K.- J. Kuschel, MARTIN BUBER – seine Herausforderung an das Christentum, Gütersloh 2015, 314ff
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hen wohl zwei miteinander“. Das „Neue“ kommt ohne das „Alte“ nicht aus, setzt es voraus. Die Heilige Schrift des gekreuzigten und auferstandenen Christus war und ist der Tenach. Über seine Auslegung haben Pharisäer, Sadduzäer, Essener, Jesus von Nazareth, seine Jünger und andere Frauen und Männer aus Israel und außerhalb Israels lebhafte Diskussionen geführt. Sie sind uns auch im Neuen Testament überliefert. Gehört deshalb zur irdischen Nachfolge Christi nicht immer noch das Hören auf die Synagoge und das Diskutieren mit unseren gegenwärtigen jüdischen Schwestern und Brüdern, wie es für Jesus auf der Tagesordnung stand? Warum sollte nach Pfingsten, nach der Ausgießung des Hl. Geistes, nach der Entstehung der Kirche ausgerechnet damit Schluss sein? „Wer Jesus im Glauben haben will, der muss die Juden mithaben. Sonst kann er auch den Juden Jesus nicht haben.“4 Wieso sollte der Heilige Geist, der vom Vater und vom Sohn ausgeht, sich ausgerechnet daran binden, dass er der Kirche durch gegenwärtige jüdische Auslegung nichts Entscheidendes mehr sagen wollte und zu sagen hätte!? Die Synagoge - ausgesprochener oder unausgesprochener Maßen - zur „geistfreien Zone“ zu erklären, ist Machwerk einer Theologie und Kirche, die von sich meint, souverän und sehr genau über die Arbeits- und Wirkungsgebiete des Hl. Geistes Bescheid zu wissen, ihn am Ende binden, einfangen, domestizieren zu können. Tatsächlich sind die Machtverhältnisse umgekehrt ... Israel wird die Treue gehalten, vom Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs, vom gekreuzigten und auferstandenen Jesus Christus, vom Heiligen Geist. Das gehört schon lange ins christliche Credo. „Gehen zwei miteinander“, Juden und Christen, Auslegungswege durch die Schrift, dann werden sie in den Reichtum der Offenbarung Gottes
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K. Barth, Kurze Erklärung des Römerbriefes, Gütersloh 1967, 141
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von Buchstabe zu Buchstabe, von Wort zu Wort, von Satz zu Satz geführt. Im ersten Teil des Buches lädt der Rabbiner seine Leser ein, ihm in die Schrift und ihre reiche jüdische Auslegungstradition zu folgen. Grundüberzeugung dieser ist es, „dass jedes Wort der 'Schrift' in sich selbst eine Fülle von Lesarten, Deutungen, Verknüpfungen enthält, dass die Vielfalt der Auslegung dem Text selbst eingeschrieben ist und dass nur eine solche Vielfalt ihm selbst gerecht wird. Die abweichenden Stimmen sind nicht der Ausweis dafür, dass die eine Wahrheit noch nicht gefunden ist, sie sind unverzichtbar als not-wendige Erinnerungen daran, dass der Sinn der Schrift vielfältig und eben nicht einfältig ist und schließlich dass der Widerspruch als Triebfeder jedes Diskurses unverzichtbar ist. Nur eine Auslegung zu haben wäre daher nicht etwa das wünschenswerte Ziel, sondern Ausweis eines noch sehr unvollkommenen Verstehens. Der bis in die kleinsten Eigentümlichkeiten treu überlieferte, festgelegte (Konsonanten-) Text ist 'zur Auslegung freigegeben'. 'Gegenpol des festen Textes', so Günther Stemberger, 'ist mithin die offene Auslegung'“. Dabei findet der rabbinische Diskurs „in einem Räume – und auch... Zeiten, oft Jahrhunderte – übergreifenden Chatroom“ statt. „Und in diesem Diskurs über Zeiten und Räume hinweg haben auch die Toten Stimmrecht. Die Polarität zwischen dem festen, geschlossenen Text und seiner freien, vielfältigen Auslegung und somit die Dialektik von Verbindlichkeit und Offenheit, Tradition und Erneuerung kennzeichnet die rabbinische Exegese. Zu einem für diese Auffassung leitenden Schriftvers wurde Psalm 62,12: Eines hat Gott geredet, zwei sind's, die ich gehört habe.“ 5 Angesichts der miteinander existierenden Synagoge und Kirche ist man versucht, dieses Psalmwort leicht abzuändern und zu sagen: Eines hat Gott geredet, zwei sind's, die es gehört haben.
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J. Ebach, SchriftStücke, Biblische Miniaturen, Gütersloh 2011,32f
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Wobei die christliche Exegese eben nicht bei „Null“ anfängt, sondern eingewurzelt ist in einen reichen jüdischen Auslegungsstrom: „Die Kirche muss mit der Synagoge leben – nicht wie die Toren in ihrem Herzen sagen, als mit einer anderen Religion oder Konfession, sondern als mit der Wurzel, aus der sie selbst hervorgegangen ist.“6 Das Buch, das der Leser in Händen hält, ist das Ergebnis, mit dieser Einsicht des Schweizer Theologen K. Barths Ernst zu machen. Mit der Synagoge als Christ zu leben heißt u.a., gegenwärtige jüdische Schriftauslegung wahrzunehmen, sich von ihr auf Auslegungswege der Bibel mitnehmen und reinreden zu lassen. Es heißt, sich seiner lebendigen christlichen Wurzeln zu vergewissern, wenn das, was heute in der Synagoge aus der Schrift gelehrt und gelernt wird, in der Kirche gehört und mitbedacht wird. Dazu will der erste Teil dieses Buches seinem Leserkreis die Möglichkeit geben. Hier finden sich Auslegungen zu den jüdischen Wochenabschnitten aus der Tora, die Rabbiner Dr. Salomon Almekias-Siegl in den letzten Jahren erarbeitet hat und die Pfarrerin Sabine Münch für den Abdruck in der „Jüdischen Allgemeinen“ im lernenden Austausch mit ihm lektoriert hat. Im zweiten Teil des Buches findet der Leser Auslegungen der evangelischen Predigerin zum 10. Sonntag nach Trinitatis, dem Israelsonntag. Sie thematisieren u.a. das Alte Testament als Liebesbrief Gottes an die Juden; Jerusalem – wo das Warten auf Gott geboren wurde; es geht um die Fragen, was es heißt, wie Abraham mit Gott gegen Gott zu glauben; wie es um das Geheimnis des erst- und zweitgeborenen Volkes bestellt ist; was die Menora in der Kirche zu suchen hat; wie weit geht christliche Solidarität mit Israel; wie Gottes Gebet uns findet; es geht um das Wächteramt der Christenheit gegenüber und mit Israel; um die verloren gegangenen „Kinder Israel“ in der revidierten Lutherbibel; um Juden 6
K. Barth, Kirchliche Dogmatik, IV 3, Zürich 1979, 1007
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und Christen miteinander unterwegs, sich begegnend unter der Verheißung: was Gott zusammengefügt hat ... Dr. Salomon Almekias-Siegl
Sabine Münch
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Inhalt Einleitung
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Erster Teil (Rabbiner Dr. Salomon Almekias-Siegl)
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Bereschit – Genesis Lech Lecha, 1. Mose 12-17,27 – Destination Diaspora Wajera, 1. Mose 18,1-22,24 – Früchte der Selbstlosigkeit Chaja Sara, 1. Mose 23-25,18 – Heirat und Begräbnis: Gefahr von Assimilation Toldot, 1. Mose 25,19-28,9 – Individuelle Erziehung Toldot, 1. Mose 25,19-28,9 – Der Blinde Wajischlach, 1. Mose 32,3-36,43 – Zähes Ringen Mikez, 1. Mose 41,1-44,17 – Träume Wayechi, 1. Mose 47,28-50,26 – Segenstradition
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Schemot – Exodus Wa'era, 2. Mose 6,2-9,34 – Bedingung Jitro, 2. Mose 18,1-20,23 – Ratgeber Teruma, 2. Mose 25,1-27,19 – G'ttes Miqdasch – der Dienst Israels Wajakhel – Pekudej, 2. Mose 35,1- 40,38 – Bau der Stiftshütte
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Wajikra – Levitikus Wajikra, 3. Mose 1,1-5,26 – Gebete an Stelle der Opfer Zaw, 3. Mose 6,1-8, 36 – Saft des Lebens Schmini, 3. Mose 9,1-11,47 – Die Speisegesetze sollen einfach befolgt werden Tasria, 3. Mose 12,1-15,33 – Zaun mit Rosen Tasria, 3. Mose 12,1-15,33 – Beschneidung Acharej mot kedoschim, 3. Mose 16,1-20,27 – Reine Seele
59 60 64
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23 26 29 32 36 39
51 55
68 72 76 79
Emor, 3. Mose 21,1 – 24,23 – Heiligung für Gott Behar, 3. Mose 25,1-27,34 – Das Land liege brach
83 87
Bamidbar – Numeri Nasso, 4. Mose 4,21-7,89 – Priestersegen Beha'alotcha, 4. Mose 8,1-12,16 – Menora Beha'alotcha, 4. Mose 8,1-12,16 – Bescheidenheit Korach, 4. Mose 16,1-18,32 – Harte Arbeit Chukkat, 4. Mose 19,1-22,1 – „Komm herauf, Brunnen!“ Balak, 4. Mose 22,2 – 25,9 – Des Widerspenstigen Zähmung Pinchas, 4. Mose 25,10-30,1 – Starkes Geschlecht
91 92 96 100 102 105 109 113
Dewarim – Deuteronomium Waetchanan, 5. Mose 3,23-7,11 – „Auf dass es dir wohlergehe“ Waetchanan, 5. Mose 3,23-7,11 – Schma Israel Schoftim, 5. Mose 16,18-21,9 – Hochmut kommt vor dem Fall Ki Teze, 5. Mose 21,10-25,19 – Verheißung langen Lebens Nizawim, 5. Mose 29,9-30,20 – Teschuwa
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Zu den jüdischen Festen:
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Das Pessachfest Die Omer-Zählung Schawuot – Das Wochenfest Schawuot, 5. Mose 15, 7-8 – Die Kunst des Gebens Der Monat Elul – Von der Furcht zur Liebe Rosch Haschana (Neujahrsfest) – 4. Mose 29, 1 – 6 Predigt zu Rosch Haschana – Mit Selbstkritik zum Erfolg Schabbat Chol Ha Moed, 2. Mose 33,12 – 34, 26 – Sag mir, wer Du bist Schabbat Chol Ha Moed, 2. Mose 33,12 – 34,26 – Zweite Auflage
138 140 145 148 151 154 160
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Predigt zu Schabbat Chol Ha Moed – Wer schimpft, den verlässt seine Seele Hoschana Rabba – Die letzte Chance Das Chanukkafest (Lichterfest) – Aufstand der Schwachen Tezawe Schabbat Sachor, 5. Mose 25,17-19 – Amaleks Sünde Purim – Das Losfest
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Zweiter Teil (Pfarrerin Sabine Münch ) – Predigten
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Mit Gott gegen Gott – 1. Mose 22, 1 – 19 Jüdische Trinität – 2. Mose 19, 1 – 6 Die Menora – 2. Mose 25, 31.32.36 – 40 Gott betet – Psalm 111 Die Mauer – ihr ganzes Wesen ist Mitleid – Psalm 122 Stolperstein – Jesaja 43,1 Wo das Warten auf Gott geboren wurde – Jesaja 62, 12 Das Wächteramt der Kirche – Jesaja 62, 1 – 12 Was hat das Leben von mir? – Matthäus 5, 17 – 20 Das Kainszeichen auf unserer Stirn – Johannes 4,22 Gottes Geheimnis – Römer 11, 25 – 32 Was Gott zusammengefügt hat – Römer 11, 25 – 36
190 201 210 218 225 234 241 248 257 263 269 276
Die Autorin und der Autor
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Erster Teil von Rabbiner Dr. Salomon Almekias-Siegl
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בראשית Bereschit - Genesis IM ANFANG
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Lech Lecha – 1. Mose 12 – 17, 27
Destination Diaspora Der Wochenabschnitt Lech Lecha beginnt mit einem Auftrag: G’tt befiehlt Awram, sein Land, seinen Geburtsort Ur Kassdim sowie das Haus seines Vaters zu verlassen und in das Land zu gehen, das G’tt ihm zeigen wird. »Und der Ewige sprach zu Awram: ›Ziehe hinweg aus deinem Lande, von deiner Verwandtschaft und aus dem Haus deines Vaters in das Land, das ich dir zeigen werde‹« (1. Buch Moses 12,1). Wir wissen, dass Awraham zehn Mal von G’tt auf die Probe gestellt wurde. Die erste Prüfung ist die Aufforderung »Lech Lecha«, das Land seines Vaters zu verlassen. Und auch die zehnte Prüfung, die Akeda, beginnt mit »Lech Lecha«: Awram soll in das Land Morija gehen und seinen Sohn Jitzchak als Opfer darbringen (22,2). Mit dem ersten Lech Lecha wurde das Judentum geboren. Dieser Auszug aus dem Land geschah, um den Monotheismus zu verbreiten und den damals üblichen Götzendienst zu vernichten. Der Wochenabschnitt lehrt uns, dass Heimat und Elternhaus der natürlichste Ort des Menschen sind. Dort wurde er erzogen und erhielt Kenntnis von den Werten, die das Leben bestimmen. Aber solch ein Auszug aus der Heimat kann eine gewisse Gefahr mit sich bringen: Es kann passieren, dass der Mensch in der Fremde die Wertvorstellungen verliert, die ihm zu Hause vermittelt wurden. Im hier angeführten Fall erhielt Awram neben dem Befehl zusätzlich noch G’ttes Segen, quasi als Zusicherung, dass er seine Erziehung und die Wertmaßstäbe aus dem Elternhaus nicht verliert: »Ich will dich zu einem großen Volke machen, dich segnen und deinen Namen groß werden lassen.« Das heißt: Jeder, der das Land Israel ohne G’ttes Segen verlässt, wird das spirituelle Fundament, das er durch die Erziehung in seinem Eltern16
haus erworben hat, verlieren. Vielleicht sollten wir darin die Botschaft dieser Parascha an die nachfolgenden Generationen erkennen? Wir, die wir heute leben, sind Zeugen der religiösen Katastrophe, die das Judentum gegenwärtig erfährt: der Assimilierung der Juden in der Diaspora. Viele, die das Land Israel mit guten Vorsätzen, aber ohne G’ttes Segen verließen, haben die ihnen anerzogenen Werte verloren. Nicht jeder, der aus dem Land Israel auswandert, verfügt über eine solch hohe ethische Bildung und Erziehung wie Awraham Avinu, der Vater unserer Nation. Der allerdings verließ sein Land nicht aus eigenem Willen, sondern auf G’ttes Geheiß: »Da zog Awram hinweg, wie der Ewige zu ihm gesprochen hatte« (12,4). Seit dem Beginn seiner Auswanderung wird Awram bitteren Prüfungen unterzogen: Zum Beispiel wird seine Frau Saraj in Ägypten wegen ihrer Schönheit vom Pharao begehrt und genommen. Um Awrams Leben zu retten, belügen beide den Herrscher. Sie behaupten, Saraj sei Awrams Schwester. Wäre Awram in seiner Heimat geblieben, wäre ihm eine solche Probe erspart geblieben. Doch G’tt schaltet sich ein: Er bestraft den Pharao mit Krankheiten, und Awraham besteht die Prüfung – mit G’ttes Hilfe. Daraus lernen wir: Jeder Jude, der Lech Lecha erfüllen möchte, ohne aber G’ttes Hilfe (Seinen Segen) zu besitzen, kann manche Komplikationen auf diesem Weg nicht überwinden. Auftretende Schwierigkeiten können zur Folge haben, dass er sich assimiliert. Der Generation, die das Land Israel verlassen hat, mag es in gewissem Maße noch gelingen, die Werte von Beit Avicha, dem Haus ihres Vaters, zu bewahren. Aber was ist mit ihren Nachkommen? Werden sie noch ausreichend Abwehrkräfte gegenüber der neuen Umgebung haben? Die Situation in der Gegenwart zeigt leider, dass eine hohe Anzahl derer, die das Land Israel verlassen, von den Werten des Judentums immer mehr Abstand nimmt. Darüber hinaus erkennen wir Folgendes: Selbst wenn ein Jude sich vom Beit Avicha entfernt hat, kann er durchaus auch 17
in der Diaspora Erfolg erzielen, wenn er dort die Traditionen seiner Heimat achtet und in der Praxis pflegt. Aber eine Garantie, dass seine Nachfahren das Gleiche tun, gibt es nicht. Denn in der Fremde gibt es Anfechtungen und Widrigkeiten: »Und es entstand Streit zwischen den Viehhirten des Awram und denen des Lot, überdies wohnten die Kanaaniter und die Perisiter damals schon im Lande« (1. Buch Moses 13, 7-8). Dieser Vers erwähnt mit Absicht diese beiden Völker. Er will uns belehren, dass sich durch diese beiden Völker die spirituelle Ethik an dem Ort, an dem Awraham verweilte, auf einem sehr niedrigen Niveau befand. Aus der Tora wissen wir, dass unsere Vorfahren für ihre Kinder Braut und Bräutigam außerhalb des Landes Kanaan suchten, um deren Integration in fremde Kulturen zu verhindern. Die Tora betont, dass die Kanaaniter sehr schlechte Eigenschaften hatten. Awraham erzog seinen Sohn Jitzchak so, dass er die Prüfungen von Lech Lecha nicht selbst erleben musste. Die Tatsache, dass Jitzchak seine Heimat nie verlassen hat, zeugt davon. Awrahams Enkel Jakow erreichte Ägypten und brachte dort ein großes Volk hervor. In Ägypten beginnt das erste Exil des jüdischen Volkes. Aus dieser Zeit haben wir bis heute noch nicht die richtigen Lehren gezogen. Rabbi Schapira, der Rabbiner der Stadt Lublin war, schrieb am Eingang zu seiner Jeschiwa: »Lechu Banim Schimu Li Jiraat Haschem alamdechem« – »Geht Kinder, hört auf mich (meine Gebote), über die Furcht vor G’tt belehre ich euch«. Solange der Schüler in der Jeschiwa weilt, erfüllt er das Gebot »höre auf mich«, und nach dem Studium stellt sich der Erfolg ein, indem der Schüler auf seinem Lebensweg das Gelernte befolgt, bewahrt und weiterträgt. Dies ist die Botschaft an alle Generationen.
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Wajera – 1. Mose 18, 1 – 22, 24
Früchte der Selbstlosigkeit Dem Patriarchen Awraham kommt im Judentum eine besondere Bedeutung zu. Er gilt als Säule der Welt, weil ihm von G’tt das Geheimnis des Lebens offenbart wurde. Es besteht in der Erkenntnis der göttlichen Gnade und Gunst. Awraham liebte diese Eigenschaften des Ewigen und praktizierte sie auch selbst. Theologisch grundlegend ist hier das Wort aus dem 1. Buch Mose: »Denn im Ebenbild hat Er den Menschen geschaffen« (9,6). Der Schöpfer der Welt hat aus lauter selbstloser Güte die Welt und den Menschen ins Leben gerufen – ohne eine Gegenleistung von seiner Schöpfung dafür zu erwarten. Allerdings hat er durch die Erschaffung des Menschen zu seinem Ebenbild diesem die Fähigkeit und die Kraft beigelegt, es seinem Schöpfer gleichzutun. Intimer mit G’tt als der Mensch ist sonst kein Geschöpf. Ihm ist das Geheimnis des Lebens anvertraut: die selbstlose Güte, mit der G’tt die Welt baut und erhält. Sie legt sich wie eine Klammer um die ganze Tora. Diese beginnt mit dem Erweis von Gunst und Gnade, einem göttlichen zinslosen Darlehen, wenn es im 1. Buch Mose heißt, dass G’tt Adam und Eva bekleidete (3,21). Und sie schließt auch mit dem Erweis von G’ttes gnädiger Zuwendung, wenn im 5. Buch Mose berichtet wird, G’tt selbst habe Mosche im Tal von Moab beerdigt (34,6). Aber zurück zu Awraham. In unserem Abschnitt wird erzählt, dass ihm und seiner hochbetagten, kinderlos gebliebenen Frau Sara drei Engel in Menschengestalt erscheinen, die den beiden den lang ersehnten Nachwuchs ankündigen.
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In diesem Szenario entdecken wir eine neue Eigenschaft Awrahams – und zwar die Eigenschaft der Gastfreundschaft. In diesem Sinn nehmen er und Sara die unerwarteten Gäste bei sich auf. Sie reagieren spontan, unkompliziert und sehr schnell, damit sich die Fremden bei ihnen wohlfühlen. Bevor die drei Engel Awrahams Haus wieder verlassen, wiederholen sie die Verheißung, dass Sara in einem Jahr ein Kind bekommen werde (1. Buch Mose 18,10). Daraufhin wenden sie sich in Richtung Sodom. Nachdem sie bei Awrahams Neffen Lot wiederum freundliche Aufnahme gefunden haben, wird dessen Haus von feindseligen Männern umstellt, die die Herausgabe der Fremden fordern, um ihnen Gewalt anzutun. Am Ende werden Sodom und Gomorra so nachhaltig vernichtet, dass dort nichts Grünes mehr gedeiht (5. Buch Mose 29,22). Die Botschaft der Tora ist klar: Freundlichkeit und Gnade fördern das Leben. Gewalt und Brutalität führen zur Vernichtung. In den Büchern der Könige wird diese Lehre der Tora aufgegriffen und fortgeschrieben. Zur Zeit des in Israel regierenden König Ahab schickt G’tt den Propheten Elijahu während der Dürrezeit nach Zarfata, in die Nähe Sidons an der libanesischen Grenze. Dort trifft er auf eine verarmte Witwe. Er bittet sie um Wasser und einen Bissen Brot. Die Frau antwortet aus verzweifeltem Herzen, dass sie nichts außer ein wenig Mehl und Öl habe, das für sie und ihren Sohn bestimmt sei. Elijahu fordert sie auf, sich nicht zu ängstigten. Sie solle zuerst ihm etwas Gebackenes zubereiten, und danach auch für ihren Sohn und sich etwas backen. Die Witwe tut, wie Elijahu ihr aufgetragen hatte. Und wie der Herr vorher durch den Propheten versprochen hatte, geschieht es: Tag um Tag haben alle drei genug zu essen.
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Wenig später erkrankt der Sohn der Hauswirtin und stirbt. Durch ein eindringliches, ja vorwurfsvolles Gebet jedoch erweckt Elijahu die Gunst G’ttes. Der Schöpfer lässt die Seele in das Kind zurück- kehren, der Prophet kann der Mutter den Sohn wiedergeben (1. Könige 17, 11– 17). Im Fall unserer Patriarchin Sara lernen wir, dass umstandslos praktizierte Gastfreundschaft und Gunst gegenüber G’ttes Boten Unfruchtbarkeit in Fruchtbarkeit verwandelt, neues Leben schenkt. Und am Beispiel der Frau von Zarfata sehen wir, dass die dem Propheten zugewandte Gunst am Ende sogar Leben aus dem Tode erweckt. Von einem weiteren Fall hören wir im 2. Buch der Könige: Eine Frau aus Schunem nötigt Elischa, er möge bei ihr einkehren und essen. Durch ihre fortdauernde Gastfreundschaft erfährt der Prophet von ihrer Kinderlosigkeit. Daraufhin verheißt er ihr – wie bei Sara – die Geburt eines Sohnes. Später erkrankt auch dieser Sohn – wie bei der Witwe – und stirbt. Elischa, von seiner ehemaligen Gastwirtin zur Hilfe gerufen, erweckt den Sohn wieder zum Leben. Unsere Weisen betonen, dass nur G’tt alleine drei besondere Schlüssel in seinen Händen hält: den des Regens, der Geburt und der Wiederbelebung der Toten. Der Gebrauch dieser Schlüssel ermöglicht G’tt Schöpfungstaten. Demgegenüber hat der Mensch nur die Möglichkeit, bereits vorhandene Materie zu verfeinern und weiterzuentwickeln. Vielleicht sind die angesprochenen biblischen Geschichten ein Hinweis darauf, dass der Mensch doch Einwirkung auf den göttlichen Einsatz der drei Schlüssel nehmen kann, indem er Gnade und Gunst in seinem Umfeld walten lässt. Der Urgrund der Schöpfung ist G’ttes selbstlose Güte. Und Menschen wie zum Beispiel Awraham, Sara und die Frau aus Schunem, die sich dieser göttlichen Eigenschaft verschreiben, geraten so in das Kraftfeld der Schöpfung.
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Ein klassisches Beispiel für diese Sicht der Dinge illustriert die Geschichte von Ruth. Elimelech, ein reicher Bauer, verlässt die Stadt Bethlehem mit seiner Familie zur Zeit einer Hungersnot. Er hat Angst davor, dass ihn die Armen, die an seine Tür klopfen, ebenfalls arm machen könnten. Die Strafe für sein unsoziales Denken und Handeln folgt ihm auf dem Fuße: Er und seine zwei Söhne sterben. Die zwei Schwiegertöchter und seine Frau Naomi bleiben mittellos zurück. Doch dann ereignet sich eine positive Wendung in dieser Geschichte. Ruth gewährt ihrer verwitweten Schwiegermutter ein zinsloses Darlehen. Wo doch auch für sie noch kein Licht am Ende des Tunnels zu sehen war, da will sie Naomi im Alter nicht sich selbst überlassen und begleitet sie auf dem schwierigen Weg zurück nach Bethlehem. Dort trifft sie auf Boas, einen Verwandten Elimelechs, der ihr zuvorkommend und mit Gunst begegnet, also ebenfalls als ein großzügiger Geber eines zinslosen Darlehens beschrieben wird. Es liegt auf der Hand: Selbstlose Güte und Gunst haben auch in diesem Fall dazu geführt, dass ein durch vorangegangene Brutalität abgestorbener Baum wieder zum Leben erwachte und aufblühte. Durch die Heirat von Ruth und Boas kommt es zur Gründung einer neuen Dynastie. Und durch Gnade erlangte Ruth Gnade und wurde die Urgroßmutter König Davids, aus dessen Nachkommenschaft der Messias kommen soll.
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Chaja Sara - 1.Mose 23 – 25,18
Heirat und Begräbnis: Gefahr von Assimilation Der Abschnitt Chaja Sara, das Leben von Sara, beinhaltet die Erzählung von ihrem Tod und Begräbnis und die Brautwerbung für ihren Sohn Isaak. Beide Erzählungen verbindet die Gefahr der Assimilation. Ein Thema, das uns von den Zeiten unserer Vorfahren an bis heute beschäftigt. Bei der Brautwerbung für Isaak liegt die Gefahr einer Assimilation auf der Hand. Sara hatte ihren Mann auf dem Weg aus dem Heidentum hin zur Verehrung des einen G’ttes treu begleitet. Nun fürchtet Abraham – der erste Vater der Nation - , dass eine zukünftige Schwiegertochter von den Kanaanitern seinen Sohn „rückfällig“ machen, also zur Vielgötterei verführen könnte. Deshalb befiehlt er seinem Knecht Elieser vor dessen Abreise: „ ... dass du nicht nehmest ein Weib für meinen Sohn von den Töchtern des Kanaaniters, unter denen ich wohne; sondern dass du ziehst in mein Vaterland und zu meiner Verwandtschaft und nimmst meinem Sohn Isaak dort eine Frau (1. Mose 24,3+4). Mit einer Frau gleichen Glaubens soll Isaak einmal das materielle und spirituelle Erbe seines reichen Vaters antreten, dass es heißen wird: der G’tt Abrahams, Isaaks und Jakobs. Ist mit der Heirat von Rebekka und Isaak die Gefahr der Assimilation der nachfolgenden Generation für Abraham hoffnungsvoll gebannt, so dehnt er grundlegend dieses Thema auch auf die Toten Israels aus. Es ist nicht egal, wo und unter welchen Bedingungen sie zur Ruhe finden. Deshalb schildert die Tora erstaunlich ausführlich und detailliert Abrahams Suche nach einem Ort für ein Familiengrab nach Saras Tod. „Und es war die Lebenszeit Saras 127 Jahre und Sara starb in Kirijat Arba, das ist Chebron im Lande Kanaan; und Abraham kam herbei, um Sara zu 23
beklagen und sie zu beweinen“ (1.Mose 23, 1+2). Für sie möchte der Erzvater nun eine angemessene Grabstätte erwerben. Der Erzählung über diesen Erwerb eignet eine besondere Schönheit an. Abraham hat selbst bei den Hethitern einen Namen. Er wird von ihnen geachtet und geehrt, aber er bringt auch sehr eindrucksvoll und weise sein Talent zum Handeln mit dem Volk des Landes zur Geltung. Es geht wie auf einem orientalischen Basar zu. Er bittet und lässt bitten. Er lehnt die ihm großzügig angebotene Begräbnisstätte mitten unter den Hethitern vornehm ab, ohne das Ehrgefühl seiner Gönner zu verletzen und kauft von Ephron dem Hethiter schließlich zu einem sehr hohen Preis die Höhle in Machpela. Wir können hier vielleicht sogar den ersten Immobilienhändler der Menschheit entdecken, der sein „Handwerk“ gut versteht. Mit der besonderen, abgesonderten Lage dieses Erbbegräbnisses, kann Abraham als Wegbereiter für die Tradition des rein jüdischen Friedhofes angesehen werden. Auch die gestorbenen Kinder Israels sollen in ihrer letzten Ruhestätte keiner Gefahr der Assimilation mit Andersgläubigen ausgesetzt sein. Sie sollen auf ihren eigenen Friedhöfen, separat, abgetrennt von den Völkern dem Messias und ihrer Auferstehung entgegenwarten. Diese zwei Berichte – Brautwerbung für Isaak und Erwerb eines Erbbegräbnisses – schließen den Erzählkreis über Abraham ab und betonen mit ihrer Erwähnung am Lebensabend des Erzvaters die Wichtigkeit der Unterscheidung und Separation für das Judentum bis in unsere Tage hinein. Besonders für die in der Diaspora lebenden Juden sind die hier erwähnten Lebensstationen – Heirat und Begräbnis – heikle Themen und bereiten manches Kopfzerbrechen. Wie lässt sich besonders in kleinen jüdischen Gemeinden absichern, dass die Verstorbenen auf einem jüdischen Friedhof bestattet werden können, damit es auch von ihnen heißen kann, wie es von Abraham am Ende unseres Abschnitts heißt: „Und dies sind die Tage der Lebensjahre Abrahams, die er gelebt 175 Jahre und Abraham verschied und starb in ei24
nem beglückten greisen Alter, alt und lebenssatt und wurde versammelt zu seinen Stämmen (1. Mose 25,7+8). Es sei noch erwähnt, dass in der Höhle Machpela in Chebron nach der Überlieferung Adam und Eva, Abraham, Isaak und Jakob mit ihren Frauen beigesetzt wurden - außer Rahel, die auf dem Weg Bethlehem alleine beerdigt wurde.
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Toldot – 1.Mose 25,19 - 28,9
Individuelle Erziehung Der Wochenabschnitt Toldot beginnt mit der Beschreibung der Kinder Jitzchaks und endet damit, wie der alte Vater seine Söhne Jakow und Esaw segnet. Die beiden sind Zwillinge. Als Erster kommt Esaw zur Welt, danach Jakow. Der aber hängt sich an dessen Füße, als wolle er der Erste sein. Unsere Weisen vermuten, dass der folgenreiche Bruderzwist bereits im Mutterleib begann und bis in die Gegenwart andauert. Während Esaw, der Jäger, sich vorrangig für sein Vergnügen interessiert, lernt sein jüngerer Bruder in der Jeschiwa von Schem und Ever in Hebron, um ewige Spiritualität zu erlangen. Es ist wahr, dass Jakow versucht, in seinem spirituellen Bestreben das Recht für den Segen des Erstgeborenen zu erhalten. Und es steht auch geschrieben, dass sein Bruder Esaw das ihm selbst zustehende Recht für ein Linsengericht verkauft. In biblischen Zeiten galt der Erstgeborene als alleiniger Erbe seines Vaters und gleichzeitig als spiritueller Führer der Familie. Während Esaw auf dieses äußerst wertvolle Recht verzichtet, betrachtet Jakow diesen Segen als Gewinn für die Zukunft, um so das Ziel der mit G’tt verbundenen Eltern für die Ewigkeit zu bewahren und zu festigen. »Es scheint, als ob ein Myrtenbaum neben einem Dornenstrauch wächst«, heißt es im Midrasch über die miteinander aufwachsenden Söhne Jitzchaks. Ein aufschlussreiches Bild: Nach beendeter Phase des Wachstums übergibt die Myrte ihren Duft und der Dornenbusch seine Dornen an die Welt. So ähnlich verhält es sich mit Esaw und Jakow, die 13 Jahre gemeinsam den Weg zur Schule und zurück nach Hause gehen. Der eine setzt seine Bildung fort, der andere verschreibt sich dem Götzendienst. Jakow, der 26
Zweitgeborene, strebt nach geistiger Vollkommenheit. Esaw will die Tora auf profane Weise beherrschen. Unsere Weisen haben stets Kritik an den Schwächen unserer Vorfahren geübt. Diese hatten dieselbe Tora und waren somit verpflichtet, auch die gleiche Erziehung an ihre Kinder weiterzugeben. Dabei wurde allerdings ein wichtiger Aspekt vernachlässigt: »Chanoch la naar al pi darko«. Dies bedeutet: Die Erziehung eines Kindes sollte dessen Charakter, Fähigkeiten und Neigungen angepasst werden. Klar ist, dass jede jüdische Erziehung Glauben, Heiligung und Reinheit zum Ziel hat. In diesem Prozess müssen wir unseren Kindern helfen, ihren Weg zu suchen und zu finden. Nicht jeder besitzt das Talent zum Besuch einer Jeschiwa. Aber jedes Kind hat Fähigkeiten, die gefördert werden müssen. Wichtig ist dabei, G’ttes vorgeschriebene Wege zu befolgen und sich um Gerechtigkeit und Zedaka zu bemühen. Dieses Streben lässt sich auch bei mangelnder Eignung eines Menschen durch Inanspruchnahme fachlicher Unterstützung verwirklichen. Als Jakow kurz vor seinem Tod seine Kinder zu sich ruft, um sie zu segnen, sieht er in ihnen die künftigen Stämme Israels. Er sieht vor sich den Stamm Levi als Stamm der Priester, dann den Stamm des Königreiches, den Stamm der Händler und Geschäftsleute, den Stamm der Bauern und den der Soldaten. Und so erscheint vor seinem geistigen Auge ein Gesamtbild des Volkes Israel, das alle Fähigkeiten in sich vereint. Jeden segnet er, entsprechend seiner für die Zukunft zugedachten Rolle. Warum? Damit der Bund, den Awraham mit G’tt geschlossen hat, auch als Bund im Volk Israel weiterlebt. Das Ziel war, dass im Volk nicht nur der Stand der Priester vertreten sein, sondern sich die für alle Lebensbereiche wichtigen Berufsgruppen entwickeln sollten. Nicht jeder eignet sich für das Lernen, um ein Priester für G’tt zu werden. Und: Das Volk benötigt auch Bauern, Händler, Arbeiter und auch Soldaten zur Kriegsfüh27
rung. Wenn also Esaw die Jagd liebt, dann sollte man ihn auch in dieser Richtung erziehen und ausbilden.
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Toldot – 1.Mose 25,19 – 28,9
Der Blinde In der Bibel und der rabbinischen Literatur kommt das Thema „Blindheit“ immer wieder zur Sprache. Im Abschnitt Toledot erfahren wir, dass Isaak, der zweite Patriarch, blind ist. Im Buch der Richter hören wir vom blinden Simson. Der Midrasch Tanchuma (Kap 37) berichtet: als Isaak geboren wurde, öffneten viele Blinde ihre Augen. Die Mechilta zum Buch 2. Mose erzählt uns: als G’tt die Tora auf dem Berg Sinai den Kindern Israel übergeben hatte, wurden alle Blinden sehend. Welche Stellung kommt dem blinden Menschen im jüdischen Gesetz, der Halacha, zu? Interessant ist zunächst ein rabbinischer Kommentar im babylonischen Talmud (Nedarim 64). Dort heißt es, dass ein Armer, ein Aussätziger, ein Blinder und einer, der keine Söhne hat, als tot zu betrachten sei. Geht man der Frage nach, wie es zu dieser Einschätzung kommt, dass hier ja durchaus lebendige Menschen schon als tot angesehen werden, gelangt man zu der Erkenntnis: Alle vier Menschengruppen werden bis in unsere Gegenwart hinein von der Gesellschaft schnell an den Rand gedrängt. Ihre Behinderungen – seien sie sozial oder körperlich – lassen sie durch das überhebliche Urteil ihrer Umwelt leicht zu Außenseitern werden. Der Talmud bittet, für diese vier Menschengruppen um G’ttes Erbarmen zu beten. Kommen wir dieser Aufforderung nach, bringt sie uns dem benachteiligten Menschen wieder ein ganzes Stück näher. Wir beginnen, an seinem Ergehen innerlich Anteil zu nehmen und erwarten vielleicht sogar ein irdisches Wunder für ihn. Der Blinde schwebt durch das Urteil seiner Umwelt über seine Behinderung zwischen Leben und Tod. Das Gebet hat die Macht, seinen unheimlichen Schwebezustand aufzuheben. Wer sich im Gebet des Blinden erbarmt, holt ihn ins Leben zurück, ver29
leiht ihm Existenz und gibt ihn der Gesellschaft zurück. Abhängig davon, ob und wie der blinde Mensch von anderen angesehen wird, entscheidet sich, ob dieser in Würde von der Gesellschaft aufgenommen und getragen wird. Die Verständigung über die Stellung des Blinden in unserer Gesellschaft findet ihre Zuspitzung in einem rabbinischen Disput. Er wurde von Mosche Feinstein, einem der bedeutenden orthodoxen US-Rabbiner des vergangenen Jahrhunderts und Mordechai Jaakov Bräsch geführt, einem ultraorthodoxen Rabbi, der in vielen Gemeinden Polens und Deutschlands tätig war und wegen des nationalsozialistischen Terrors nach Zürich floh, wo er 1977 verstarb. Diese zwei Rabbiner sollten darüber entscheiden, ob ein Blindenhund, eine Synagoge betreten dürfe. Rabbi Bräsch urteilt, dass ein blinder Jude mit seinem Hund keinen Einlass in die Synagoge finden dürfe. Seiner Meinung nach sei ein Hund – auch in diesem besonderen Fall - im G’tteshaus ein Gräuel und käme seiner Entweihung gleich. Zudem stieße die Anwesenheit des Tieres bei den anderen Besuchern der Synagoge auf Widerstand. Nicht einmal bei den Christen dürften die Hunde in die Kirche mit hinein. Diese Entscheidung Bräschs provoziert unweigerlich die Frage: Wird der blinde Mensch von ihm noch als gleichberechtigtes Gemeindemitglied angesehen? Spricht nicht schon allein der Ton seiner Antwort dagegen? Demgegenüber stellt Rabbi Feinstein heraus, dass es sich hier um einen besonderen Fall handelt. Man soll dem Blinden mit seinem Hund den Zutritt zur Synagoge gestatten. Ließen wir es nicht zu, kann es sein, dass er der Gemeinde für immer den Rücken zukehrt, keine Gebete mehr mitspricht, keine Tora hört und jeder Megillalesung fernbleibt. Wer dem Blinden wegen seines Hundes den Zugang zur Synagoge verwehrt, der verhindert, dass auch bei diesem Menschen die Tora lebendig wird, dass er mitbeten und den G’ttesdienst mitfeiern kann. 30
Der gravierende Unterschied in der Urteilsfindung der beiden Rabbiner besteht darin, dass Bräsch den Blinden als Blinden, und Feinstein den Blinden als Menschen wahrnimmt. Das Urteil Feinsteins in dieser Frage ist eine schlichtweg an der Menschlichkeit orientierte Entscheidung. Es mag sein, dass sie als menschliche Weisung nicht vor dem jüdischen Gesetz bestehen kann, der halachischen Prüfung nicht standhält, aber sie trägt der Humanität und religiösen Toleranz Rechnung. Zugespitzt können wir sagen: Feinsteins Entscheidung, den Blinden samt Begleithund in die Synagoge eintreten zu lassen, erweckt den sich wie tot fühlenden zu neuem Leben und entspricht so letztlich dem Geist der Tora.
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Wajischlach - 1. Buch Mose 32,3 – 36,43
Zähes Ringen Die Weisen sahen in dem nächtlichen Kampf zwischen den beiden Brüdern Jakow und Esaw ein Symbol für die Zukunft Israels. Nachdem sie einander 20 Jahre nicht gesehen haben, macht Jakow sich mit einer großen Karawane auf den Weg, um seinen Zwillingsbruder Esaw zu treffen. An der Furt des Flusses Jabbok kommt es zwischen ihm und einem Mann zu einem nächtlichen Kampf. Dabei berührt der Mann Jakows Hüfte, sodass er Zeit seines Lebens hinken wird. Sein Name soll in Zukunft »Israel« sein. Am Ende heißt es: »Darum essen die Israeliten bis auf diesen Tag die Spannader nicht, die auf der Hüftpfanne liegt, denn an Jakows Hüftpfanne an der Spannader hat er gerührt« (1. Mose 32,33). Dieses Gesetz ist eines der kompliziertesten und mysteriösesten in der Tora. Was will es uns lehren? Dazu widmen wir uns zunächst der Frage: Wer war dieser Mann, der mit Jakow rang? Es gibt Kommentatoren, die behaupten, er sei nicht von menschlicher Gestalt gewesen. Dafür spricht Jakows Äußerung am Ende des Kampfes: »Ich habe ein göttliches Wesen von Angesicht zu Angesicht gesehen, und mein Leben ist gerettet worden« (1. Buch Mose 32,31). Der Raschbam, Rabbi Schmuel ben Meir (1085–1174), behauptet, Jakow habe vor seinem Bruder Esaw fliehen wollen, doch G’tt schickte ihm einen Engel, der die Flucht verhindern sollte, und er erhielt das Versprechen des Höchsten, dass Esaw ihm nicht schaden könne. Raschbams Auslegung leuchtet jedoch nicht ein. Ein Engel wäre doch durchaus in der Lage, Jakow allein mit Worten zum Vertrauen auf G’tt zu gewinnen und könnte sich einen Kampf ersparen. Die Kommentare Raschis (1040– 1105) und der Midrasch wirken überzeugender. Der Midrasch fragt: Wer
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war der Mann, und warum ist er gekommen, um mit Jakow zu kämpfen? Woher wusste dieses Wesen, dass Jakow nicht gegen ihn ankommt? Rabbi Chanina bar Chama, einer der großen Weisen des Talmuds, meint: Dieses Wesen war Esaws Genius – ein Bote aus dem Himmel, der für Esaw zum göttlichen Schutzengel auf Erden bestellt war. Er war der Engel Smol, der mit Jakow rang und ihn töten wollte, noch bevor sich die beiden Brüder trafen. Dementsprechend sagt Jakow, als er seinen Bruder wiedertrifft: »Habe ich doch in dein Antlitz gesehen wie in das eines göttlichen Wesens« (1. Buch Mose 33,10). Jakow vergleicht das Gesicht seines Bruders nicht mit der Erscheinung der Schechina, der Gegenwart G’ttes. Vielmehr haben die Engel im Allgemeinen den Titel »Elohim« erhalten. Hier begegnet Jakow eher einem satanischen Engel, der Esaws Schutzengel ähnelt und als Botschafter der Eigenschaften des Gesetzes auftrat. Und so sagt Jakow: »Dein Gesicht sieht aus wie das Gesicht deines Engels, der im Himmel ist« (Bereschit Rabba, Wajischlach 77,3). Wenn die Erklärung stimmt, dass Jakow mit Esaws Schutzengel gekämpft hat, dann können wir verstehen, warum dieser Kampf ausgerechnet an diesem Ort und in dieser Nacht stattgefunden hat. Bevor es zu dem Zusammentreffen der beiden Brüder kommen konnte, musste Jakows Geist zunächst mit Esaws Engel kämpfen und ihm den Segen abringen. Dann konnte der an der Hüfte verletzte Jakow seinem Bruder Esaw unter die Augen treten und ihn trösten. Unsere Weisen sahen in dem nächtlichen Kampf zwischen den beiden Brüdern ein Symbol für die Zukunft Israels, für die Zeiten, in denen sich Israel dem Hass anderer Völker ausgesetzt sieht, wenn es darum geht, sich in der Nacht der Diaspora vor den Feinden in Schutz zu bringen. Auch Rambam (1138–1204) versteht den Kampf so. 33
Der Midrasch Lekach Tov erklärt den Satz »Da rang ein Mann mit ihm, bis der Morgen anbrach (1. Buch Mose 32,24) folgendermaßen: Die Morgendämmerung, die sich um Israel ausbreitet, steht als Gleichnis für Israels endzeitliche Erlösung. Und die ihr vorangegangene Nacht steht für das Exil, die Diaspora. Die Völker und das Königreich Edom kämpfen gegen Israel, um G’ttes Wege mit seinem Volk in der Geschichte wie Spuren im Sand zu verwischen und am Ende auszulöschen. Weiter heißt es in der Erklärung des Midrasch: »Als er sah, dass er ihm nicht beikommen konnte« (32,26) bedeutet, dass das Volk Israel nicht aus der Einheit mit G’tt herauszulösen ist. Der Satz »Er fasste ihn am Hüftballen« (32,26) deutet auf die Beschneidung hin, die die anderen Völker Israel immer wieder verbieten. »Sodass Jakows Hüftballen bei dem Ringen verrenkt wurde« (32,26) bezieht sich auf diejenigen, die in Zeiten der Gefahr abtrünnig wurden. Auch Ramban (1194–1270) sieht in diesem Kampf eine Prophezeiung für die Zukunft des Volkes Israel. Auf die Frage, welche Bedeutung hinter der Mizwa steckt, die Spannader nicht zu essen, gibt es viele Antworten. Rabbi Josef Bechor Schor (12. Jahrhundert) erklärt, dass der Kampf zwischen Jakow und dem Engel als Parabel dient, um zu zeigen, dass Israels Feinde nicht den Sieg davontragen werden. Das Verbot, die Spannader zu essen, soll dazu dienen, die Erinnerung an Jakow als Vater der Nation wachzuhalten und demjenigen die Ehre zu geben, den ein übermächtiger Feind nicht besiegen konnte. Jakows Kampf am Jabbok ist der Typus von Israels Kämpfen gegen das Böse, das ihm von innen und von außen droht. Er lehrt uns, dass Israel trotz immer wieder aufflammender Unruhen und kriegerischer Auseinandersetzungen schließlich siegreich sein wird. Auch die Interpretation von Rabbiner Samson Raphael Hirsch (1808– 1888) lässt keine Zweifel daran zu, dass Jakows Nachkommen die 34
Spannader nicht essen dürfen: Während des Kampfes stellte sich heraus, dass der Engel nicht in der Lage war, Jakow zu besiegen. So durchtrennte er kurzerhand dessen Spannader. Damit war Jakow seiner physischen Kräfte beraubt und konnte nicht weiterkämpfen. Physische Stabilität wird also kein Markenzeichen des angeschlagenen hinkenden Jakow/Israel sein. Außerdem erkennt Hirsch in dem Verbot, die Spannader zu essen, einen bleibenden Hinweis auf die generelle Schwäche und Niederlage der Materie. So wird daran erinnert, dass die Kraft des Volkes Israel in einem unsichtbaren Bereich liegt. Diese Kraft ist besser und viel stärker als Esaws Schwert, dem kein endgültiger Sieg verheißen ist.
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Mikez – 1. Mose 41,1 – 44,17
Träume Das Buch der Träume – so könnte man die 1. Mose, das erste Buch Mose auch nennen. Von vielen Träumenden wird dort erzählt: G’tt erscheint Abraham im Traum; Jakob sieht die Himmelsleiter und Josef wird der Träumer genannt. In den folgenden vier Büchern des Pentateuch wird so gut wie kein bedeutender Traum mehr erwähnt. Man kann die Frage stellen, warum an sich seit der Übergabe der 10 Gebote auf dem Sinai und mit ihrer Offenbarung die Träume kontinuierlich ihren Wert in der hebräischen Bibel verlieren, während sie vorher im Buch 1. Mose eine theologisch richtungsweisende Bedeutung haben. Bei den Propheten bereiten die Träume sogar selbst ihre eigene „Entwertung“ vor. Sehen wir auf zwei Menschen, von denen im 1. Buch Mose erzählt wird. Da träumt unser Vater Jakob, dass er Engel auf einer Leiter zwischen Himmel und Erde auf und nieder steigen sieht, und am Ende ganz oben dieser Leiter, steht G’tt, der ihm das gelobte Land und zahlreiche Nachkommen verspricht. In den Engeln erkennt eine Auslegung unserer Weisen sogar Jakob selbst wieder, wie er die Verbindung zwischen Erde und Himmel hält, wie er für den Kontakt zwischen G’tt und sich sorgt. So stellt er den Inbegriff des G’tt zugewandten und zugehörigen Menschen dar. Ihm gegenüber steht der König von Ägypten – Pharao! Aus der Sicht der rabbinischen Literatur ist er nur das große Krokodil, das im Nil liegt. Pharao aber selbst träumt anders. Er sieht sich am Yeor, nämlich am Nil, dem großen Strom Ägyptens stehen, der seinem Land Fruchtbarkeit und Gedeihen verleiht. Ihm verdankt es alles Leben. Der Nil ist Ägypten. Und so wurde dieser Fluss in der Antike von den Ägyptern als G’tt ver36
ehrt, der ihnen Leben spendete und die Wirtschaft ihres ganzen Landes sicherte. Der mächtige Strom als göttliche Lebensader, der den Glauben des Pharao und seiner Untertanen auf sich zog. Aus diesem G’tt strömen Ägypten alle Lebensgüter zu. Zwei Träume – zwei Weisen des Glaubens. Der Pharao ist ein Götzendiener. Er verwechselt eine Schöpfergabe mit dem Geber aller Gaben. Er erhebt das fruchtbringende Wasser des Nils zu seinem G’tt und schafft sich damit seinen Abgott. Und alle Verehrung dieses Götzen hat zum Ziel, dass er die Wünsche und Bedürfnisse seiner Anbeter erfüllen möge. Von dem Strom seiner Gaben möchte sich Pharao durch's Leben tragen lassen. Dagegen beobachten wir bei Jakob die umgekehrte Bewegung. Er nimmt G’tt nicht für die Erfüllung seiner Wünsche und Bedürfnisse in Anspruch. Er legt sich nicht wie das gierige und alles verschlingende Krokodil vom Nil in den Strom zu erwartender Gaben. Jakob nimmt vielmehr G’tt auf sich. Unser Vorfahre trägt G’tt, indem er seine Gebote zur Richtschnur seines Lebens macht. Im Gehorsam gegen die Mizwot – die Gebote - trägt er G’tt in die Welt, segnet IHN und erfährt bei seinem Tragen, dass er seinerseits von G’tt durch die Beachtung der Mizwot gesegnet wird. Durch die Übergabe der Tora bindet sich G’tt an den Menschen und der Mensch soll sich durch den Gehorsam gegenüber der Tora an G’tt binden. So erübrigt sich alles Träumen und Erträumen eines von Menschen gemachten G’ttes. Und G’tt selbst kann auf sein Eingreifen und Leiten durch Träume verzichten, weil er den Menschen durch die Gebote führt, die alle seine Lebensbereiche durchziehen, wachsen und gedeihen lassen. Und wenn wir unseren Blick noch einmal auf Jakobs Traum von der Himmelsleiter lenken, dann erkennen wir in jeder Leitersprosse ein Ge37
bot G’ttes, mit dessen Hilfe sich Jakob auf der Erde und zwischen Himmel und Erde bewegt. Der G’tt Jakobs dient nicht als Erfüllungsgehilfe menschlicher Interessen. Im Gegenüber und Miteinander mit dem lebendigen G’tt Israels durchzieht und durchtränkt der wahre Gläubige die Welt mit seiner G’ttesfurcht. Und diese G’ttesfurcht findet ihren prägnanten Ausdruck in der alltäglichen praktischen Bewährung der Mizwot, zwischen Mensch und G’tt und Mensch und Mitmensch. Das ist der Unterschied zwischen dem Glauben des jüdischen Volks und heidnischem Glauben: Der G’tt Israels erwartet von seinen Gläubigen, in Furcht und Liebe aufgenommen und in die Welt getragen zu werden. Da bleibt kein Raum für Träume, die den Abgöttern Ehre tun.
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Wayechi – 1. Mose 47,28 – 50,26
Segenstradition Das 1. Buch Mose endet mit dem Abschnitt “Wayechi”. In ihm findet die Ära der drei Patriarchen Abrahams, Isaaks und Jakobs ihren Abschluss. Wiederholt wird uns im Buch 1. Mose von Persönlichkeiten erzählt, die dazu ausersehen sind, die Tradition ihrer Vorfahren fortzusetzen. So wurde zunächst Isaak von Abraham erwählt, Ismael aber ging leer aus. Von Isaak wurde wiederum Jakob zum Erben der Segenstradition erwählt und nicht Esau. Die 12 Söhne Jakobs wurden jedoch allesamt als Erben durch ihren Vaters bestätigt, um die Tradition fortzuführen. „Es gibt keine Untauglichkeit unter Jakobs Nachkommen“, sagt der Midrasch. In unserem Abschnitt lesen wir, dass Jakob im Sterben liegt und seine Söhne sich um sein Sterbebett versammeln. Man sieht dort ein kleines Volk stehen, „ein Volk, das abgesondert wohnt.” Ein Volk, das seine Seele in Richtung seines Landes und Geburtsortes erhebt. Ein Volk, das die Tradition seiner Vorfahren weiter tragen wird. Im Abschnitt Wayigasch, der unserem aktuellen Wochenabschnitt Wayechi vorangeht, steht geschrieben: “Israel aber blieb im Lande Ägypten, im Lande Goschen, wohnen; sie erwarben sich dort Eigentum, waren fruchtbar und vermehrten sich sehr.“ (Gen 47, 27) Die 70 Seelen, die mit Jakob nach Ägypten gekommen waren, vermehrten sich erheblich und ihre wirtschaftliche Situation entwickelte sich glänzend – und das alles in einem fremden Land. Während seiner 17jährigen Aufenthaltsdauer in Ägypten beunruhigte und störte den alten Vater Jakob diese Entwicklung zunehmend. Schon auf dem Weg nach Ägypten hegte er die Befürchtung, seine Nachkommen könnten ihre Herkunft vergessen. Wie sehr ihn dieser Gedanke be39
schäftigte, ja ängstigte, erkennen wir auch daran, dass G’tt selbst ihn beruhigte und ihm versprach: „Ich bin G’tt, der G’tt deines Vaters, fürchte dich nicht, nach Ägypten hinabzuziehen; denn ich will dich dort zu einem großen Volk machen.” (Gen 46,3) Und nun muss er tatsächlich miterleben, wie sich seine Kinder und Kindeskinder in Ägypten integrieren und stabilisieren. Wer konnte da noch ernsthaft erwarten, dass sie jemals zurückkehrten in das ihnen versprochene Land Kanaan, nach Israel? - denn durch Ansiedlung und Assimilation lief es Gefahr, sich aufzulösen und die Erinnerung an seine Zukunft zu verlieren. Konkret bringt Jakob diese Sorge in einem Gespräch mit seinem Lieblingssohn Josef zum Ausdruck. Er beschwört ihn, wenn er schon nicht zu Lebzeiten nach Israel zurückkehren könne, dass sein Sohn Verantwortung dafür übernimmt, wenigstens seine Gebeine ins gelobte Land zu überführen und dort bestatten zu lassen. Diese Anweisung sollte seinen Söhnen und den kommenden Genrationen Hinweis darauf sein, wo sie hingehörten. Und Jakob erinnert seinen Sohn Josef daran: „Denn als ich von Paddan zurückkam, starb mir Rachel im Lande Kanaan auf dem Wege, da noch eine Strecke Land war bis Ephrat und ich musste sie dort auf dem Wege nach Ephrat, das ist Bethlehem, begraben.“ (Gen 48,7) Auf die Frage, warum der sterbende Vater seinem Lieblingssohn die Örtlichkeit des mütterlichen Begräbnisses so detailliert mitteilt, während er doch gerade von ihm verlangt hat, seine sterblichen Überreste nach Kanaan mitzunehmen und in der Höhle Machpela in Hebron zu beerdigen, antwortet der große Kommentator Raschi: „Auch wenn ich dir befehle, mich im Lande Kanaan zu beerdigen, aber ich es nicht in gleicher Weise mit deiner Mutter getan habe, weil ich sie auf dem Weg nach Bethlehem beerdigt habe, so geschah es aus dem Grund, dass sie einst aus ihrem Grab tritt, um über ihre Kinder, G’ttes Erbarmen herabzurufen, wenn sie sich auf dem Weg ins Exil mit Nebuzaradan befinden.“
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Dazu lesen wir beim Propheten Jeremia: “Eine Stimme zu Rama wird gehört, bitterlich weinend, Rachel weint um ihre Kinder. Und G’tt antwortet: Halte deine Stimme vom Weinen zurück und deine Augen von den Tränen; denn ein Lohn ist für dein Tun vorhanden - ist der Spruch des Ewigen - sie werden zurückkehren aus dem Lande des Feindes.“ (31,16)
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שמות Schemot – Exodus NAMEN
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Wa'era – 2. Mose 6,2 - 9,35
Bedingung Der Abschnitt Waera setzt den Bericht über das Elend der Kinder Israels in Ägypten fort. Das Maß ist voll, G’tt mischt sich ein. Er schickt Mosche mit dem Auftrag zum Pharao, das Volk Israel ziehen zu lassen, damit es fortan G’tt dienen könne. Dieser Appell hat zur Folge, dass der Pharao sein Herz verhärtet und sich die Arbeitsbedingungen der hebräischen Sklaven verschärfen. Mosche beschwert sich daraufhin bei G’tt, und der Ewige verspricht dem Volk Israel eine Zukunftsperspektive: »Ich bin der Ewige. Ich werde euch von den Lastarbeiten der Ägypter befreien ..., euch retten ..., euch erlösen ..., euch zum Volk nehmen« (2. Buch Mose 6, 6–8). Vier Verben bezeichnen hier vier Aktionen der künftigen Befreiung, die drei fundamentale Ziele verfolgt: Beendigung der Sklaverei in Ägypten, Einzug ins verheißene Land G’ttes und unserer Vorfahren Awraham, Jizchak und Jakow sowie die spirituelle Verbindung zwischen G’tt und Seinem Volk: »Ich will euch annehmen zu Meinem Volk und werde euer G’tt sein« (6,7). Der Jerusalemer Talmud (Pessachim 10) schreibt, dass die vier versprochenen Aktionen der Grund dafür sind, dass wir am Sederabend vier Gläser Wein trinken. Sie symbolisieren die Phasen der göttlichen Befreiung. Jedoch fällt auf, dass der Talmud nicht nur vier, sondern fünf Ausdrücke der Erlösung nennt. Mit dem fünften ist die Zusage gemeint: »Und ich werde euch in das Land bringen« (6,8). Wo aber ist am Sederabend das fünfte Glas geblieben, das die Verheißung des Landes symbolisiert? Es muss sich bei unseren Weisen offenbar die Meinung durchgesetzt haben, man könne auf das geografische Symbol verzichten. 44
Bevor die fünfte Aktion genannt und stattfinden wird, kommt es allerdings zu einem interessanten Einschub: »Ihr sollt wissen, dass ich euer G’tt bin.« Die Anerkennung G’ttes als Herrn ist für Israel die Vorbedingung dafür, dass es ins verheißene Land einziehen und dort wohnen kann. Unser Abschnitt beinhaltet das klassische Organisationsmodell einer Befreiungsaktion, zu der eine herausgehobene Führungspersönlichkeit mit Autorität gehört. Den Zeitpunkt der Befreiung der Kinder Israels aus der ägyptischen Knechtschaft setzt G’tt fest. Für ihn ist die Zeit reif dafür – auch wenn es die Bedrückten selbst ganz und gar nicht sind. Sie haben sich in ihrem Elend eingerichtet, sodass sie nicht einmal mehr in der Lage sind, Befreiung und Freiheit überhaupt zu denken. Entsprechend mürrisch und misstrauisch begegnen sie ihrem von G’tt beauftragten Führer Mosche, zumal er als Stotterer des für seine Führungsrolle notwendigen Redetalents entbehrt. Bei ihm muss G’tt sozusagen erst einmal nachbessern und sein Selbstvertrauen aufbauen, indem er ihm göttliches Vertrauen und mitmenschlichen Beistand schenkt: »Da sprach der Ewige zu Mosche: Siehe, ich habe dich als G’tt über Pharao gesetzt, und dein Bruder Aaron sei dein Prophet. Du sollst ihm alles sagen, was ich dir auftragen werde, und dein Bruder Aaron soll zu Pharao reden« (7, 1–2). Eine Abfolge von Autorität ist hier zu erkennen. Von G’tt ausgehend wird sie zunächst an Mosche verliehen. Von ihm geht sie auf seinen älteren Bruder über, sofern er Aaron die Worte G’ttes übermittelt und dieser schließlich als sein Sprachrohr fungiert. Außerdem geht es bei dieser Befreiungsaktion darum, die Ängste und Zweifel der Gegner zu beseitigen und die Legitimation der Führung zu verstärken. Nach den zehn Plagen lässt der Pharao die Kinder Israels schließlich ziehen. Der Weg ist geebnet, und nun wartet G’tt, der Befreier, darauf, dass das Volk sich ihm aus freien Stücken zuwendet. Die Schlüssel dafür, ob es das verheißene Land betreten wird, liegen in der Hand des 45
Volkes selbst. Es hängt von der inneren Einstellung Israels ab. Die Inbesitznahme des verheißenen Landes und das Wohnen darin können nur gelingen und Bestand haben, wenn sie in einer tiefen Spiritualität des jüdischen Volkes verwurzelt sind. Diese Gedanken räumen dem fünften Glas vielleicht seinen Platz am Sederabend ein. Es könnte uns heute die Erlösungsbotschaft wieder nahebringen, die die Toraprophezeiung ausspricht: »Und ihr sollt erkennen, dass ich euer G’tt bin.« Dieses Wissen bietet allem menschlichen Hochmut die Stirn. Das Glas mit Genuss zu trinken, gelingt uns besonders dann, wenn wir in Bescheidenheit verinnerlichen, dass G’tt unser Erlöser ist.
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Jitro - 2. Moses 18,1 – 20,23
Ratgeber Der Wochenabschnitt Jitro berichtet uns vom Akt der Offenbarung der Zehn Gebote auf dem Berg Sinai. Interessant dabei ist, dass die Parascha nach einem Götzendiener und nicht nach Mosche benannt wurde. Dieser Fremde, Jitro, der später Mosches Schwiegervater wird, war ein hoher Priester von Midian und ist nach meiner Auffassung der erste in der Tora vorkommende Theologe. Jitros Verdienst besteht darin, dass er Mosche beraten hat, wie man ein Volk organisiert. »Suche aber auch aus dem Volke tüchtige, g’ttesfürchtige, wahrhaftige und uneigennützige Männer aus und setze diese über sie als Vorsteher, je einen über tausend, über hundert, über fünfzig und über zehn. Sie mögen das Volk zu jeder Zeit richten; jede wichtige Rechtssache sollen sie vor dich bringen, und in jeder geringfügigen Rechtssache mögen sie selbst richten; so wirst du es dir erleichtern, und sie werden dir tragen helfen« (2. Buch Moses 18, 21-22). Die Vermutung, dass Jitro zum Judentum konvertiert ist, leitet sich aus seiner Erklärung ab, in der er G’tt als den Allmächtigen betrachtet. »Nun erkenne ich, dass der Ewige größer ist als alle Götter, denn mit derselben Sache, mit der sie gefrevelt, kam er über sie« (18,11). Unklar ist, wann Jitro mit Mosche zusammentraf. Es kann in der Zeit zwischen dem Auszug aus Ägypten und der Offenbarung auf dem Berg Sinai gewesen sein. Oder das Treffen fand einige Tage nach der Übergabe der Tora statt. Der Bericht über die Begegnung zwischen Moses und Jitro beginnt mit den Worten: »Wo ist er denn? Warum habt ihr den Mann stehen lassen? Ruft ihn herein, dass er etwas genieße« (2,20). Dies sagte Jitro zu seinen Töchtern, als die Mädchen ihm von Mosche berich47
teten, dem Ägypter, der sie am Brunnen vor den bösen Hirten verteidigt hatte. Eine der wichtigsten Fragen des vorliegenden Abschnitts aber ist: Warum stammt der Gedanke, wie G’ttes Volk zu organisieren sei, nicht von Mosche selbst, sondern von einem Fremden? Hier lässt sich nur vermuten, dass Mosche glaubte, dieser sei von G’tt gesandt und mit einer g’ttlichen Inspiration ausgestattet. Als Jitro Mosche besuchte, konnte er nicht wissen, ob und wie das Volk Israel organisiert war. Jitro konnte nicht verstehen, warum die gesamte Last auf nur einem Menschen, seinem Schwiegersohn Mosche, ruhen sollte. Daher gab er ihm den Rat, nicht nur allein von morgens bis abends ohne bestimmtes Ziel und festgelegten Plan zu regieren, sondern auch Aufgaben zu delegieren. »Da sprach Mosches Schwiegervater zu ihm: ›Es ist nicht gut, wie du es machst. Du wirst dich ganz aufreiben, sowohl du als auch dieses Volk, das bei dir ist; denn die Arbeit ist zu schwer für dich, du kannst sie nicht allein verrichten‹« (2. Buch Moses 18, 17-18). Mosche lernte also von einem Nichtjuden, dass es trotz allgegenwärtiger g’ttlicher Führung auch erlaubt sein muss, den Verstand des Menschen einzubeziehen und in der Gemeinschaft nach passenden und fähigen Mitmenschen zu suchen, die beim Aufbau einer funktionierenden Gesellschaft helfen.
Wer aber war Jitro? Darüber gibt die Tora keine Auskunft. Doch die rabbinische Literatur kann uns helfen, seine Persönlichkeit näher kennenzulernen. Jitro war ein Priester und ein Minister (Mechilta). G’tt hat ihn in die Nähe des Volkes Israel geschickt, aber nicht auserwählt (Bamidbar raba). Jitro hatte sieben Namen: Jeter, Jitro, Chowaw, ReuEl, Chewer, Petu-El und Kenni. Diese Namen enthalten Erklärungen, 48
was sie bedeuten, wie zum Beispiel Jeter. Er hinterließ einen Abschnitt in der Tora; nachdem er gute Taten vollbracht hatte, ergänzte man einen Buchstaben und er wurde zu Jitro (Mechilta). Der Name Reu-El steht für »Freund G’ttes« (Schemot raba). Die Bezeichnung Kenni rührt daher, dass Jitro sich von Kain getrennt hat (Sohar) oder weil er Himmel, Erde und die Tora gekauft hat (SifriBamidbar). Allerdings gibt es kaum eine Art von Götzendienst in dieser Welt, die Jitro nicht begangen hätte, bevor er seinem späteren Schwiegersohn Mosche begegnete (Mechilta). Sogar Kälber für den Götzendienst hat er gefüttert (Sota). Wenn das Volk Israel G’ttes Willen erfüllt, bereist der Ewige die ganze Welt. Und wenn Er unter den Völkern einen Zaddik trifft, bringt er ihn mit Israel zusammen, wie es im Falle Jitro und Rachaw geschah (Brachot). Das Zusammentreffen mit Mosche brachte eine gravierende Wende in Jitros Leben. Er erkannte plötzlich die Sinnlosigkeit des von ihm bisher ausgeübten Götzendienstes und beschloss umzukehren, Teschuwa zu machen. Daher bat er seine Heimatstadt, sich einen neuen Priester zu suchen. Er überließ den Bewohnern all die zum Götzendienst notwendigen Gegenstände und schickte seine sieben Töchter auf die Weide, um die Herden zu hüten. Und genau dort trafen sie auf Mosche (Schemot raba). Unser Abschnitt beginnt mit den Worten: »Und Jitro hörte«. Was hat er gehört? Drei Voraussagen: den Krieg der Amalekiter, die Übergabe der Tora und die Spaltung des Roten Meeres (Sewachim). Als Jitro sah, dass G’tt den Amalek aus dieser und der nächsten Welt verbannt hat, machte er Teschuwa. Nachdem er erkannt hatte, dass es keinen Ort gibt, wo er seiner Überzeugung nach leben konnte, ging er zu Israels G’tt (Schemot raba). Jitro schickte Mosche einen Brief etwa folgenden Inhalts: »Ich bin 49
dein Schwiegervater, der zu dir kommt, tue etwas für mich und wenn nicht für mich, dann für deine Frau Zippora, und wenn nicht, für deine Söhne«. Nachdem G’tt sah, dass sich Jitro mit der Absicht zu konvertieren dem Himmel nähern wollte, sprach er zu Mosche: »Geh, empfange ihn und bring ihn zu uns!« Als Mosche ging, begleiteten ihn Aharon, Nadaw, Avihu und 70 Leute aus dem älteren Israel. Vermutet wird, dass sogar die Heilige Lade mitgenommen wurde (Schemot raba). »Wajichad – Jitro«, das heißt, er brachte ein scharfes Schwert auf seine Vorhaut und führte an sich selbst die Beschneidung durch (Sanhedrin). Jitro wurde zum Vorbild für sein Volk, nachdem er begonnen hatte, G’tt zu erkennen und ihm zu dienen. Dank seiner Erkenntnis haben alle verstanden, dass Götzendienst sinnlos ist. Und so heiligten sie G’ttes Namen, indem sie Jitros Weg folgten (Sohar).
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Teruma – 2. Mose 25,1 – 27,19
G’ttes Miqdasch – der Dienst Israels Mit dem Abschnitt Teruma beginnt die Tora, Anweisungen für den Bau der Stiftshütte und ihrer Einrichtung mit Menora, Bundeslade, dem Tisch für die Schaubrote und dem Brandopferaltar zu geben. Es soll ein Ort entstehen, an dem G’tt gedient wird. Bei dem Bau des Heiligtums (miqdasch) handelt es sich um eine kleine Hütte in der Größe von 13,7 m x 4,6 m. (W. J. Hamblin, Salomos Tempel, 19). Erstaunlich ist, dass die Tora diesem sehr begrenzten Bauprojekt 450 Verse widmet, während sie die Erschaffung des Kosmos einschließlich des Schabbats in nur 34 Versen berichtet. Diese Beobachtung lässt auf eine die Welterschaffung überragende Bedeutung der Stiftshütte schließen. Wie haben wir uns diesen enormen Stellenwert des räumlich doch sehr begrenzten Mischkans (Wohnstätte) im Gegenüber zur unendlichen Größe des Kosmos zu erklären? Die Erschaffung der Welt ist als Lebensraum für den Menschen gedacht, ermöglicht ihm die Existenz und geht auf ein Werk G’ttes zurück. Hier „baut“ G’tt für den Menschen, gibt ihm die Ehre, als sein Geschöpf leben zu können. Demgegenüber ist der Mischkan ein Werk des Menschen und dient ihm als ein Mittel, G’tt zu verehren, ihn anzubeten. Ins rechte Verhältnis zu G’tt setzt sich der Mensch durch seine Taten, durch die er seinem Schöpfer dient. Der Tora – das zeigt schon ihre kurz gefasste Schöpfungserzählung - liegt nichts daran, dem Menschen Bericht und Wissen über die Konstruktion der Welt zu geben. Sie ist kein historisches Buch, sondern die Didaktik, die Anweisung für den alltäglichen G’ttesdienst und die Ausführung der Gebote.
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Die knappe biblische Erzählung von der Erschaffung der Welt ist ein Indiz dafür, dass es sich beim Schöpfungsvorgang um ein Geheimnis G’ttes handelt, das dem Menschen entzogen bleibt. Warum muss der Mensch wissen, wann, in wie viel Tagen und wie G’tt die Welt erschaffen hat? Der jüdische Glaube entzündet sich nicht an der Erkenntnis der Stärke G’ttes. Er setzt sie wohl voraus. Aber der Mensch, der das Joch des Himmels akzeptiert und auf sich nimmt, dient G’tt um des Gehorsams willen. Der Mischkan ist eindeutig kein Bestandteil der Schöpfung und nicht durch direktes göttliches Eingreifen, also durch ein Wunder entstanden. Seine Entstehung geht auf G’ttes Weisung an die Kinder Israel zurück, ihm ein Heiligtum zu bauen. Dazu wird das Volk zu Spenden aufgerufen und Kunsthandwerker werden zu seiner fachmännischen Ausführung berufen. Mit seiner Errichtung erfüllen die Kinder Israels G’ttes Gebot. Der Mischkan entsteht als ein Werk, durch das der Mensch seinen G’tt erkennt und anerkennt, eben im Tun seines Gebotes. Worin besteht der Zweck des Mischkans? In 2. Mose 25,8 heißt es: „Und sie sollen mir ein Heiligtum machen, damit ich in ihrer Mitte wohne.“ Stellen wir diesem Vers eine Aussage vom Ende des Abschnitts Tezawe zur Seite, dann werden wir auf einen kleinen Unterschied aufmerksam: „Und ich will mitten unter den Kindern Israel wohnen und ihr G’tt sein … (29,45). Im Vergleich dieser beiden Stellen, kommt eine besondere Nuance im Wort unseres Abschnitts zum Klingen. Man könnte hier leicht eine Bedingung heraushören im Sinne von: Wenn ihr mir ein Heiligtum baut, dann werde ich unter euch wohnen. Beide Aussagen betonen jedenfalls - vielleicht sogar mit Absicht -, dass G’tt innerhalb des Volkes Israel wohnt und nicht im Gebäude des Heiligtums. Daraus können wir lernen, dass der Bau des Miqdaschs dazu dient, Israels Gehorsam gegenüber G’ttes Gebot ins Werk und Bild zu setzen, und so die Schechina mitten unter das Volk lockt, sie sich bei den Kindern Israel niederlässt und bei ihnen wohnt. 52
Wie eine Harfe nur das Instrument für eine Melodie abgibt, aber nicht selber die Musik ist, so dient der Mischkan als Instrument der Kinder Israel dazu, die Schechina unter ihnen heimisch zu machen. Das mit viel Kunstfertigkeit errichtete Projekt „Mischkan“ ist für sich genommen ohne Wert. Der Miqdasch würde in seiner theologischen Bedeutung mißverstanden, sähe man in ihm die Architektur eines G’tteshauses, einen herausgehobenen Ort, an dem die Schechina, die Gegenwart G’ttes Wohnung bezieht. Die beiden genannten Aussagen - aus unserem Abschnitt Teruma und am Ende von Tezawe – stimmen darin überein: die Schechina wird in Israel nur wohnen, wenn es G’tt dient. Die Behausung der Schechina ist der Dienst Israels. Israels Gehorsam, das Tun Seiner Gebote ist der Miqdasch G’ttes. Um diesen Mischkan nach G’ttes Gebot zu bauen, ergeht an Mose der Auftrag: „Sprich zu den Kindern Israel, sie sollen mir eine Spende bringen, von jedermann, den sein Herz dazu antreibt, sollt ihr die Spende für mich nehmen.“ (25,2) Zu Beginn des Verses steht geschrieben: „Sie sollen mir eine Spende bringen“ und am Ende heißt es: „Sollt ihr die Spende für mich nehmen.“ Es handelt sich hier um keinen Zwang zum Spenden, sondern nur wenn aus freien Stücken und Herzen gegeben wird, kann die Abgabe vor G’tt bestehen und wirken. Zum Thema „Spenden“ gibt es in der rabbinischen Literatur viele Kommentare. Einer davon findet sich bei Baal-Haturim, der eine gematrische Erklärung (jedem Buchstaben entspricht ein bestimmter Zahlenwert) gibt: die Aussage „.... zu den Kindern Israel: Sie sollen mir eine Spende bringen“ gleicht nach gematrischer Berechnung der Aussage „aber die Kinder Israel sollen selbst spenden und nicht andere Völker“, der Zahlenwert beider Sätze beläuft sich auf jeweils 1456. Damit meint er, dass der dem G’ttesdienst gewidmete Mischkan nur durch Spenden der Kinder Israel entstehen darf. Sofern aber fremde Hilfe für dieses Projekt des 53
G’ttesdienstes in Anspruch genommen wird, wird der Bestand des Mischkans nicht von Dauer sein. Vor diesem Hintergrund und angesichts des historischen Verlaufs dürfen wir vielleicht zu dem Schluss kommen: Auf den beiden jüdischen Tempeln lag kein Segen. Der erste, der salomonische Tempel wurde mit der Hilfe des Königs Hiram aus Tyrus gebaut, der zweite entstand mit Unterstützung des Perserkönigs Kyros und der Um- und Neubau des Tempels zur Zeitenwende – ein Glanzstück der Baukunst - geschah unter der Regentschaft Herodes des Großen. Der war Edomiter und ein Vasall Roms.
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Wajakhel – Pekudej – 2. Mose 35,1 – 40,38
Der Bau der Stiftshütte symbolisiert die Erschaffung der Welt Die Abschnitte Wajakhel und Pekudej beschreiben den Bau der Stiftshütte. So wie der Tempel das Herz der Welt ist und die Verbindung zu G’tt, ist die Stiftshütte die Verbindung zwischen Himmel und Erde, zwischen Spiritualität und Materie. Die Welt kann bestehen, weil es den Tempel gibt und dieses Heiligtum das Ziel der Wirklichkeit deutlich macht und parallel zur Schöpfung der Welt steht. Der im Wochenabschnitt Wajakhel beschriebene Bau der Stiftshütte symbolisiert die Erschaffung der Welt, doch der Tempel wurde vom Menschen gebaut, nach G’ttes Plan und Anweisung. Wie die Welt erschaffen wurde, beschreibt die Tora in 34 Versen. Doch über die kleine Stiftshütte – ein winziges Zelt – berichtet die Tora in rund 450 Versen! Warum ist das so? Sie will uns zeigen, dass der Mensch, um G’tt zu dienen, etwas leisten muss, damit Er bereit ist, zu uns zu kommen und unter uns zu sein: »Und sie sollen mir ein Heiligtum errichten, dass ich mitten unter ihnen wohne« (2. Buch Moses 25, 8). Durch diesen Tempel tritt das Licht zum Bau der Welt für die Menschheit ein. So versinnbildlicht zum Beispiel das Brot (lechem hapanim), das man im Tempel zubereitete, die Wirtschaft der Welt, und das Licht der Menora steht für die spirituelle Kultur der Menschen. Die Natur mit ihrer Materie läuft parallel zur spirituellen Welt, und dies alles verbindet die Realität mit dem Schöpfer. »Und Mosche versammelte die ganze Gemeinde der Kinder Israels und sprach zu ihnen: ›Dies ist es, was der Ewige zu tun befohlen hat: Sechs 55
Tage hindurch darf Arbeit verrichtet werden, am siebenten Tag aber sei euch ein heiliger, hoher Schabbat, dem Ewigen zu Ehren. Wer an ihm Arbeit verrichtet, soll getötet werden. Ihr sollt in allen euren Wohnsitzen am Schabbat kein Feuer anzünden‹« (2. Buch Moses 35, 1-3). Das bedeutet: Das Halten des Schabbats genießt höhere Priorität als der Bau der Stiftshütte. In unserer Welt sind die Werte der Zeiten mit den Werten der Ewigkeit vermischt. Die Gegenwart schöpft aus der Zukunft. Die Ruhe des Schabbats ist wie eine Invasion des ewigen Lebens in die Heiligkeit. Um diese Idee zu verwirklichen, musste der Tempel gebaut werden. Er verbindet die säkulare mit der heiligen Welt und die Zeit mit der Ewigkeit. Der Opferdienst im Tempel soll das Weltliche heiligen und G’ttes Licht alle Taten der Menschheit beleuchten, damit der Schabbat als Ruhe für ein ganzes Leben gilt. Dies verstehen wir als große Zukunft für die jüdische Welt. Rabenu Bachje sagt, dass der Bau des Tempels die für den Schabbat festgelegten Arbeitsverbote nicht außer Kraft setzt. Denn wir können ein heiliges Ziel nicht erreichen, indem wir unheilige Mittel anwenden. Wir dürfen keinen Unterschied zwischen Ziel und Weg zulassen, denn auch die zum Ziel führenden Wege müssen in jedem Falle heilig sein. Genauso können wir keine Zukunft bauen, ohne sowohl auf die Vergangenheit als auch auf die Gegenwart zu schauen. Wir müssen also den Schabbat halten und bewahren, um das Ziel zu erreichen: den Bau eines Tempels. Opfer darzubringen war am Schabbat allerdings erlaubt. Das heißt: Die Praxis des Schabbats damals im Tempel hat mit dem Erleben des Schabbats, wie wir es heute gewohnt sind, nichts gemein. Warum dies so ist? Es gibt einen Widerspruch zwischen der Welt der Natur und der Schöpfung. Wir Menschen sehen nur die Natur und was in ihr vorgeht. Die Natur unterliegt festen Regeln. Aber wir sehen mit unseren Augen 56
nicht die Schöpfung und erleben dabei nicht die Lebenskraft G’ttes. Der Ewige verbirgt sich in aller Natur bis zur Unsichtbarkeit. Die Welt selbst ist auch in der Natur verborgen. Der Grund für G’ttes Verborgenheit und den Widerspruch zwischen Natur und Schöpfung besteht darin, dass dem Menschen die Möglichkeit gegeben sein soll, selbst zu wählen und zu handeln. Anschaulich wird dies bei dem Gebot der Brit Mila. Wenn G’tt gewollt hätte, dass alle jüdischen Knaben beschnitten zur Welt kommen, hätte er es so anordnen können. Aber er bietet die Wahl an, diesen Akt, die Mizwa der Brit Mila, selbstbestimmt durch eigene Entscheidung durchzuführen. Wenn alles vorherbestimmt wäre und klar vorbereitet vor unseren Augen liegen würde, gäbe es den freien Willen nicht. Die Auswahl der Wege und Mittel für unsere Absichten und Wünsche geschieht durch unsere Gedanken. G’tt bleibt hierbei scheinbar unbeteiligt, weil unsichtbar. Damit ermöglicht er uns, für ihn Partner bei der Gestaltung der Welt zu sein.
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ויקרא Wajikra – Levitikus ER RIEF
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Wajikra - 3. Buch Mose 1,1 – 5,26
Gebete an Stelle der Opfer Mit dem Abschnitt Wajikra beginnt das gleichnamige dritte Buch der Tora. Hier finden wir Vorschriften zu den Opferhandlungen, zu Reinheit und Unreinheit und vor allem zum Dienst des Hohenpriesters an Jom Kippur. Das Buch beinhaltet 247 Gebote, von denen wir heute mehr als die Hälfte nicht mehr zu erfüllen vermögen. Sie betreffen die vorgeschriebenen Opferungen im Tempel, die aber seit dessen Zerstörung nicht mehr ausgeführt werden können. Wie verhält es sich nun mit der Pflicht, diese Mizwot zu erfüllen? Ist sie durch die Zerstörung des Tempels aufgehoben? Es gibt einen Ersatz für diese Opferhandlungen. Wir lesen in einem Midrasch: »Rabbi Jizchak fragt: ›Jetzt haben wir keine Propheten, keine Priester, kein Opfer und keinen Altar – wer sühnt für uns, nachdem unser Tempel zerstört wurde? In unserer Hand ist nichts übrig geblieben als das Gebet‹« (Tanchuma, Wajischlach 9).Und im Talmud lesen wir: »Jeder, der die Morgentoilette hinter sich hat, seine Hände wäscht, Tefillin legt und das Schma sagt, dem gelte es, als ob er einen Altar gebaut und ein Opfer darauf dargebracht hätte« (Brachot 15,1). Ein paar Seiten weiter ist zu lesen: »Gebete sind anstelle der ewigen Opferungen eingerichtet« (Brachot 26,2). Ist damit allen Opfervorschriften Genüge getan? Der Midrasch Tanchuma betont, dass es reicht, wenn wir beim Morgengebet den Abschnitt von den Opferungen lesen, um unsere ganze Pflicht zu erfüllen. Anders verhält es sich mit demjenigen, der vergessen hat, Tefillin zu legen. Er kann seiner Pflicht gegenüber den Opfervorschriften nicht einfach dadurch genügen, dass er die entsprechenden Abschnitte liest. 60
Maimonides, der Rambam (1138–1204), kommt zu zwei grundlegenden Annahmen: Das Gebet ist ein Gebot aus der Tora und eine täglich zu befolgende Mizwa. Auch geht er davon aus, dass es die Pflicht zum Gebet schon gab, ehe die Gebete selbst existierten. Seiner Meinung nach haben Esra und sein Haus die ersten Gebete an der Anzahl der Opferungen ausgerichtet. So entsprechen zwei tägliche Gebete den zwei ewigen Opferhandlungen. Und an den Tagen, an denen ein Ersatzopfer (Korban mussaf) vorgesehen war, fügt man ein drittes Gebet ein. Ebenso hat nach Überzeugung des Rambam auch das Abendgebet seinen Ursprung in den Opfern. »Und sie entschieden, dass man täglich ein Abendgebet spricht, denn die Organe von Tieren der ewigen Opferungen verrauchen während der ganzen Nacht« – so wie im 3. Buch Mose 6,2 geschrieben steht: »Dies sind die Vorschriften für das Ganzopfer. Nachdem es auf die Feuerstätte auf den Altar gekommen ist, bleibe es dort die ganze Nacht hindurch bis zum Morgen; auch das Feuer des Altars bleibe auf ihm (dem Altar) brennen.« Auch wenn der Rambam das Gebet am Abend nicht wie das Morgenund Nachmittagsgebet zu den Pflichtgebeten zählt, hat sich im Laufe der Zeit im Volk Israel doch die Tradition herausgebildet, auch das Abendgebet zu halten. Was den Ursprung des Gebets angeht, weicht Ramban, Rabbi Mosche ben Nachman (1194–1270), von der Meinung des Rambam ab. Er kann nicht erkennen, dass die Pflicht zum Gebet bereits in der Tora verankert ist. Er sieht in ihm ein Maß der Gnade unseres Schöpfers, seine Bereitschaft, uns zu hören, wenn wir zu ihm beten. Im Babylonischen Talmud finden wir weitere interessante Aussagen zur Entstehung unserer Gebete. Er führt sie auf unsere Patriarchen zurück. Nachdem G’tt Awraham die Bindung seines Sohnes befohlen hatte, stellte dieser keine Fragen und diskutierte auch nicht mit G’tt über den unerwarteten Befehl. Stattdessen heißt es: »Da stand Awraham des Morgens früh auf« (1. Buch Mose 22,3). Diese Aussage wird zur Einsetzung 61
des Morgengebets durch Awraham herangezogen. Das Nachmittagsgebet (Mincha) geht auf Jizchak zurück: »Und Jizchak ging gegen Abend hinaus, um auf dem Feld zu beten« (24,63). Und auf dessen Sohn Jakow bezieht sich das Abendgebet, wie geschrieben steht: »So zog Jakow fort ... Unterwegs stieß er auf einen Ort und übernachtete dort« (28, 10–11). Im Blick auf die Lehrmeinung des Talmuds kann also festgehalten werden, dass schon die Patriarchen die Gebete eingerichtet haben und sie nicht erst entstanden, als es keine Möglichkeit mehr gab, im Jerusalemer Tempel zu opfern. Auch die Psalmen sind ein Beweis dafür, dass das Gebet in biblischer Zeit bekannt und einige Male am Tag praktiziert wurde: »Abends und morgens und mittags klage und stöhne ich; und er hat meine Stimme gehört« (Tehillim 55,18). Ebenso finden wir im Buch Daniel (6,11) einen Hinweis auf das dreimal am Tag praktizierte Gebet. Selbst Schriften wie die Bücher Judith und Tobit, die außerhalb unserer biblischen Sammlung stehen, äußern sich zum Thema Gebet. In Judith 9,1 zielt eine Bemerkung auf das Minchagebet ab: »Und Judith fiel auf ihr Angesicht, als sie betete, und zur selben Zeit brachte man das Abendopfer im Tempel dar, und Judith schrie mit starker Stimme zu G’tt.« Wir lernen von dieser religiösen Frau aus Samaria, dass wir überall beten können und bei G’tt Gehör finden werden. Auch im Buch Tobit gibt es einen Hinweis zu unserem Thema: »Beten, Fasten und Almosengeben ist besser, als Gold zu sammeln. Zedaka rettet vom Tod und reinigt von Sünden. Der, der sich erbarmt und Zedaka übt, wird leben satt« (12, 8–9). Im Judentum repräsentieren Rambam und Ramban zwei zentrale Einstellungen zum Gebet, die sich bis heute erhalten haben. Rambam steht für die rationale Einstellung, die sich an die Vorschrift der Tora hält, nach 62
der es Pflicht ist, dreimal täglich zu beten. Ramban repräsentiert die mystisch spirituelle Einstellung, die wir im Chassidismus wiederfinden. Hier wird die Pflicht zum Gebet mit der ernsten Absicht und dem Glauben eng verknüpft. Es kommt darauf an, von ganzem Herzen zu beten und sich in der Not an den Schöpfer zu wenden. Inzwischen hat das Gebet durch unsere Weisen und deren Nachfolger verschiedene Änderungen und Entwicklungen erfahren, damit seine Einheit in allen Generationen und überall erhalten bleibt.
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Zaw – 3. Mose 6,1 – 8,36
Saft des Lebens Der Abschnitt Zaw enthält vor allem Opfergesetze. In diesem Zusammenhang ergeht das Verbot: »Und kein Blut sollt ihr essen in all euren Wohnsitzen, sei es vom Vogel oder vom Vieh«. Und der, der das Blut isst, dessen »Seele wird ausgerottet werden aus dem Volk« (3. Buch Mose 7, 26–27). Um die rituelle Bedeutung des Blutes zu verstehen, müssen wir mit dem Buch Bereschit beginnen, dem 1. Buch Mose. Dort wird berichtet, dass Kain seinen Bruder Abel tötete. Nach dessen Tat teilt G’tt ihm mit: »Die Stimme des Blutes deines Bruders schreit zu mir von der Erde« (4,10). Warum steht dort »Blut« und nicht »Leichnam« oder »Seele deines Bruders«? Dieser auffälligen Formulierung entnehmen wir den Hinweis, dass das Blut, das den Körper durchströmt und belebt, die Existenz eines Menschen in physischer und spiritueller Hinsicht ausmacht. Übertragen wir den Begriff »Blut«, der für das Leben schlechthin steht, auf den spirituellen Sprachgebrauch, dann ist von der »Nefesch« (Seele) zu reden, und entsprechend schreibt die Tora: »denn das Blut ist die Seele« (5. Buch Mose 12,23). Die Existenz der Seele ist das allgemeine Kennzeichen für alle Lebewesen dieser Welt: »Und alles Getier des Landes und alle Vögel des Himmels und alles, was sich reget auf der Erde, worin ein Lebens-Odem (Nefesch chaja) ist« (1. Buch Mose 1,30). Eine Seele ist in jedem Geschöpf G’ttes vorhanden, aber haNeschama (Odem, Atem) findet sich nur beim Menschen. Im 1. Buch Mose 2,7 lesen wir: »Und G’tt blies in seine Nase Hauch des Lebens, und es ward der Mensch ein lebendiges
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Wesen.« Der Atem des Menschen ist ein rein g’ttlicher Bestandteil, und wir atmen unser Leben mit jedem Atemzug erneut ein. Über das Blut schreibt der Babylonische Talmud: »Die Rabbinen sagen: Drei Partner hat der Mensch – G’tt, Vater und Mutter« (Nidda 31). Das Wort für Mensch, »Adam«, setzt sich aus dem Buchstaben Alef und dem Wort »Dam« (Blut) zusammen. Das heißt, dass Vater und Mutter nach G’ttes Schöpfungsordnung die »Blutspender« jedes Menschen sind. Sie geben also mit dem Blut das Leben im umfassenden Sinne weiter. Auch die Numerologie führt uns auf diese Spur. Addieren wir die Zahlenwerte der hebräischen Worte für Vater (Aw) und Mutter (Em), erhalten wir einen Wert von 44, der dem Zahlenwert des Wortes Blut (Dam) entspricht. »Alles, was sich regt, was da lebt, sei euch zum Essen. (...) Doch Fleisch mit seinem Leben, seinem Blut, das sollt ihr nicht essen« (1. Buch Mose 9, 3–4). Der mittelalterliche Kommentator Raschi (1040–1104) erklärt, dass man Fleisch, wenn es noch lebendig ist, nicht nehmen darf. Dieser Meinung schließt sich auch Rabbi Obadja Sforno (1475–1550) an. Damit bringen unsere Weisen zum Ausdruck: Solange der Lebensgeist im Tier ist, darf man weder sein Blut noch sein Fleisch essen. Erst durch koscheres Schlachten und das Entfernen des Blutes ist es Juden erlaubt, das Fleisch bestimmter Tiere zu essen. Warum dürfen nur Nichtjuden Blut verzehren, und den Kindern Israel ist es nicht erlaubt? Die Tora schreibt: »Denn die Seele des Fleisches ist im Blut, und ich habe es für euch bestimmt auf dem Altar, zu sühnen eure Seelen, denn das Blut selbst sühnt durch die Seele« (3. Buch Mose 17,11). Aufgrund dieser Aussage nimmt Nachmanides, der Ramban (1194–1270), an, dass das Verbot, Blut zu verzehren, darin begründet liegt, dass es reserviert sei für die Sühnehandlung am Altar. Nichtjuden 65
aber sind nicht verpflichtet zu opfern. Es ist als Sühnemittel und Lebensspender heilig, und wenn die Kinder Israel durch die Tora aufgefordert werden, auf den Blutverzehr zu verzichten, dann bewahrt sie dieses Gebot davor, sich am Blut, dem Leben schlechthin, zu vergreifen. Nun ist bekannt, dass als Opfergabe auch Fleisch verwendet wurde, aus dem vorher das Blut entfernt wurde. Das Verbot der Tora bezieht sich aber nur auf den Verzehr von Blut und nicht auf das Fleisch. Warum ist das so? Ramban äußert zu dieser Beobachtung eine aus heutiger Sicht anthroposophisch klingende Meinung: Verspeist der Mensch ungeschächtetes Fleisch, läuft er Gefahr, das Wesen des Tieres, seine Eigenschaften in sich aufzunehmen. Nach antiker Vorstellung geht das Blut eines verzehrten Tieres unmittelbar in den Blutkreislauf des Menschen über, während das geschächtete Fleisch durch die Verdauung im menschlichen Körper seine Konsistenz verliert und die Seele des Tieres und dessen Eigenschaften nicht mehr eins zu eins auf den Empfänger übertragen kann. Maimonides, Rambam (1135–1204), dagegen meint, dass wir kein Blut verzehren dürfen, weil der Mensch – nach der Vorstellung der Sekte, die den Schaviakult ausübte – dadurch eine Verbindung mit der Welt der Dämonen aufnehmen würde. Diese sagten dem Menschen im Traum ihre Zukunft voraus. Sein Verzehr würde also einem Götzendienst gleichkommen. Rambams Ansicht wird weithin akzeptiert, während die des Ramban als umstritten gilt. Auf jeden Fall erkennen wir, wie wichtig der Tora das Verbot ist, Blut zu genießen, denn sie erwähnt es sieben Mal. Dabei geht es ihr darum, uns auf den Weg zu bringen, den wir nach G’ttes Willen gehen sollen. Indem wir nach der Tora leben, verfeinern wir unsere Seele.
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Das Verbot des Blutgenusses soll uns von fremden Kulten fernhalten, dadurch kommen wir G’tt näher. Rambam ist überzeugt: Je mehr wir uns auf die Gebote G’ttes konzentrieren und sie praktizieren, desto mehr wird uns der religiös ethische Weg der Tora einleuchten. Mit unserer spirituellen Weiterentwicklung nimmt die Notwendigkeit von Opferungen ab. Auch sei darauf hingewiesen, dass unsere Opfer sinnlos und vergeblich sind, wenn wir die Mizwot nicht erfüllen. Im Buch Jeschajahu lesen wir: »Was soll mir die Menge eurer Opfer?« (1,11). Das gilt auch für unsere Gebete, die ja an die Stelle der Opfer getreten sind, seitdem wir keinen Tempel mehr haben. Zudem gibt es keine Vergebung, wenn der Mensch nicht willens ist, seine schlechten Taten und Wege aufzugeben und umzukehren (Teschuwa). Es käme für uns darauf an, tatsächlich auf den Wegen der g’ttlichen Weisung zu gehen und Opfer zu bringen im Sinne der Aufopferung für G’tt (Kiddusch Haschem). Es steht außer Zweifel: Wenn wir umkehren, wird der Messias kommen.
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Schmini – 3. Mose 9,1 – 11,47
Die Speisegesetze sollen einfach befolgt werden Das Fundament der 613 Gebote der Tora besteht in den Aussagen »Heilig sollt ihr sein, denn heilig bin ich, der Ewige, euer G’tt« (3. Buch Moses 19,2) und »Haltet euch heilig, auf dass ihr heilig seid« (20,7). Diese Heiligung durchzieht viele Lebensbereiche eines jüdischen Menschen, sei es, dass er sich innerlich wie äußerlich von Schmutz und körperlicher Unreinheit fernhalten, nicht ungehemmter Esslust frönen, nicht ungezügelt Alkohol trinken oder auf Kosten anderer Menschen nach Gewinn streben soll. Es geht dabei auch darum, wie und was wir denken, wofür und wogegen wir uns entscheiden. Betrug und Aberglaube müssten für uns tabu sein. Die uns gebotene Heiligkeit sollten wir vielmehr stärken, indem wir Gutes reden und tun. Es kommt darauf an, dass wir bei G’tt bleiben und Ihm ähnlich werden. Die Tora weist uns auch an, uns unreiner Speisen zu enthalten. »Macht euch nicht selbst zum Gräuel durch alles, was da kriecht und fliegt, ... dass ihr nicht durch sie unrein werdet ... denn ich bin der Ewige, euer G’tt, ihr sollt euch heilig halten, damit ihr heilig seid ... damit man unterscheide zwischen dem Reinen und Unreinen, zwischen den Tieren, die gegessen, und den Tieren, die nicht gegessen werden dürfen« (3. Buch Moses 11, 43-47). Im 2. Buch Moses steht: »Heilige Leute sollt ihr mir sein, Fleisch eines auf dem Felde zerrissenen Tieres sollt ihr nicht essen« (22,30). Hier ist zu lernen, dass die Weigerung, unreine Nahrung zu sich zu nehmen, die Heiligkeit des Menschen befördert und ihn als G’ttes Geschöpf auszeichnet.
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Es besteht kein Zweifel daran, dass die in den Schriften verbotene Nahrung Menschen zuträglich sein kann, wie wir es bei anderen Völkern sehen können, die diese Speisen zu sich nehmen. Doch die Tora verbietet zum Beispiel den Blutgenuss mit der Begründung: »Nur bleibe fest und iss nicht das Blut, denn das Blut ist die Seele, und du sollst nicht die Seele mit dem Fleisch essen« (5. Buch Moses 12,23). Seit der Sintflut hat die Tora das Verspeisen des Fleisches erlaubt, damit der Mensch seinen Körper stärken kann. Die Erlaubnis, Fleisch zu essen, ist natürlich nur unter der Bedingung gestattet, dass wir durch seinen Genuss nicht unrein werden. »Unreines Fleisch zu essen, verwirrt die Gedanken desjenigen, der es isst« (Joma 39,1). Aber nicht nur das. Auch wenn wir erlaubte Nahrung zu uns nehmen, soll das in der gebotenen Heiligkeit geschehen. Die Tiere sollen koscher geschächtet werden, das Fleisch ist zu kaschern und das Blut zu entfernen. Auch soll der ganze Tisch, an dem wir unsere Mahlzeiten einnehmen, koscher gehalten werden, indem dort Gebete gesprochen werden und die Tora ausgelegt und diskutiert wird. Schon Noach kannte die Unterschiede zwischen reinen und unreinen Tieren. So heißt es im 1. Buch Moses 8,20: »Und Noach baute dem Ewigen einen Altar, nahm von allem reinen Vieh und allen reinen Vögeln und brachte Brandopfer dar auf dem Altar.« Nun wird immer wieder nach einer unserem Verstand einleuchtenden Erklärung für die Kaschrut gefragt. Aber es gibt für sie keine rationale Erklärung. Die Mizwot übersteigen unseren Verstand. Sie sollen vom gläubigen Menschen »einfach« gehört und erfüllt werden. Nun gab es immer wieder Rabbiner, die trotzdem versucht haben, eine logische Begründung für die Vorschriften zu finden. Der Midrasch Tanchuma erzählt, wie Rabbi Tanchum bar Chanilai gefragt wurde: »Warum wird das Volk Israel angewiesen, auf bestimmte Nahrung zu 69
verzichten, aber andere Völker essen von allen?« Der Rabbi antwortete, indem er G’tt mit einem Arzt verglich: »Sagt der Arzt zu seinen Patienten: Wollt ihr gut leben, dann esst nur das, was ich euch sage und nichts anderes! Aber Menschen, die den Tod erwählt haben, denen sage ich: Esst, was ihr wollt!« Maimonides, der Rambam (1138–1204), der nicht nur ein gelehrter und berühmter Torakommentator war, sondern auch Arzt, zog den Schluss, dass alles, was die Tora verboten hat, dem Körper schadet. Und umgekehrt, alles, was erlaubt ist, dem Körper nützt. Maimonides war der Meinung, die Tora sorge für die Gesundheit aller Menschen. Im Gegensatz zu Rambam sagt Nachmanides, der Ramban (1194–1270), dass viele Völker verbotene Speisen essen und sich durch gute Gesundheit auszeichnen. Ramban betont aber, dass auch ohne spürbare körperliche Schädigung die Seele in Mitleidenschaft gezogen wird. Diese Sicht der Dinge lässt sich heute auch im anthroposophischen Denken wiederfinden. Der Verzehr vom Blut eines »wilden Tieres« füge dem Menschen die »wilde Seele« dieses Tieres hinzu und verändere dadurch den Charakter eines Menschen. Unsere Weisen haben eine weitere Begründung für das Verbot unreiner Nahrung. Sie sagen: Wenn das jüdische Volk die Kaschrut nicht beachtet, assimiliert es sich und verliert den Zusammenhalt und letztlich seine Einheit. Die Verse in der Tora enden nach jeder Mizwa so: »Denn Ich bin der Ewige, euer G’tt. Ihr sollt euch heilig halten, damit ihr heilig seid, denn Ich bin heilig. Ihr sollt euch nicht durch all die kleinen Tiere, die sich auf der Erde regen, unrein machen (3. Buch Moses 11,44). Das Motto ist deutlich: Zuerst haltet euch heilig, und dann werdet ihr heilig.
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Und so war es auch Sinn und Zweck des Auszugs aus Ägypten, die Tora anzunehmen und zu lernen, die Mizwot zu erfüllen – auch wenn zwei Drittel der Mizwot uns unklar und irrational erscheinen. Mit dem Exodus aus dem Sklavenhaus hat das Volk Israel eine besondere spirituelle Dimension erreicht. Hier vollzieht sich der Übergang von der ägyptischen, heidnischen Religion zum Monotheismus.
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Tasria – 3. Mose 12,1 – 15,33
Zaun mit Rosen Der Wochenabschnitt Tasria beginnt mit Ausführungen zum Thema Geburt sowie Vorschriften über die Beschneidung. »Wenn eine Frau Kinder bekommt, wenn sie einen Knaben gebiert, so ist sie sieben Tage unrein; sie ist unrein wie in den Tagen, da sie wegen ihres Unwohlseins abgesondert bleibt. Und am achten Tage soll man ihn am Fleisch der Vorhaut beschneiden« (3. Buch Moses 12,1–3). Die Mizwa der Beschneidung begegnet uns schon im 1. Buch Moses, als G’tt mit Awraham einen Bund schließt. Wie der Schabbat und die Gebetsriemen ist die Brit Mila ein Zeichen (Ot) für den ewigen Bund mit G’tt. Wie ein Stempel am Körper eines Juden ist die Beschneidung, die uns bekannt ist als Brito schel Awraham Awinu, als Bund unseres Stammvaters Awraham. Maimonides, der Rambam (um 1135–1204), versteht diesen Bund auch als Zeichen für unser G’ttvertrauen. Wir sollten G’tt zwar durch Befolgen seiner Gebote dienen, jedoch nicht nur als Erinnerung an die alten Zeiten. Vielmehr besteht die Mizwa der Beschneidung darin, dass sie entsprechend dem Befehl der Tora ausgeführt wird und nicht, weil Awraham mit G’tt diesen Bund schloss. So wie es im 1. Buch Moses geschrieben steht, bringen wir den Knaben am achten Tag nach seiner Geburt zum gleichen Bund, wie er zwischen G’tt und Awraham geschlossen wurde. Durch Einhaltung der von G’tt gegebenen Gebote dienen wir Ihm und schaffen so eine Verbindung zu Ihm. Das heißt, die Gebote sind eine Brücke zwischen G’tt und uns Menschen. Der Midrasch Tanchuma berichtet uns von einem Disput zwischen Rabbi Akiwa und dem Römer Tornus Rophus. Rophus fragte den berühmten Rabbi: »Warum macht ihr Juden die Beschneidung? Wenn G’tt es ge72
wollt hätte, die Mila zu haben, warum kommen dann die Knaben nicht gleich beschnitten zur Welt?« Darauf antwortete Rabbi Akiwa: »G’tt gab dem Volk Israel die Mizwot als Zeichen der Einheit.« Die Erfüllung des Gebotes der Brit Mila ist zwar die Pflicht eines jeden jüdischen Vaters, dennoch hat dieser die Wahl, ob er sie durchführen lässt oder nicht. Unser Wochenabschnitt behandelt vor allem die Fragen rein und unrein. Körperliche Unreinheiten wie das Blut nach der Geburt und während der Menstruation sind aus biologischer Sicht Produkte der menschlichen Natur. Sie erfordern Körperhygiene. Die in diesem Zusammenhang zu erfüllenden Gebote sind aber auch als Dienst an G’tt zu betrachten. Denn schließlich ist der Mensch nicht nur ein spirituelles Wesen, sondern aus Fleisch und Blut erschaffen, das sich G’tt verpflichtet hat, ihm nicht nur mit seiner Seele, sondern auch mit seinem Körper zu dienen. Die Erfüllung der Mizwot führt uns zur Heiligung (Hebräisch: Keduscha), einem Begriff, der als Antwort für viele uns unklare Gebote und Verbote der Tora zu verstehen ist. G’tt ist heilig und hat durch die von Ihm befohlenen Gebote auch uns geheiligt. Für das heutige Volk Israel sind die Vorschriften über Reinheit und Unreinheit seit fast 2.000 Jahren nicht mehr existent. Aber die Verpflichtung zur Befolgung der Vorschriften von Nida (Frau während der Periode) und Tewila (Eintauchen in der Mikwe) hat bis heute ihre Gültigkeit behalten. Diese Vorschriften lassen sich nicht auf das Phänomen rein oder unrein reduzieren, sondern stellen ein eindeutiges Verbot dar, das ein Paar unbedingt zu beachten hat. Von der Bar- und Batmizwa an bis zum Tod müssen wir permanent einen Ausspruch beherzigen: »Schiwiti Haschem le-negdi tamid – ich stelle mir vor, dass G’tt stets vor mir steht«. Die Erfüllung der Mizwot ist eine Frage der Disziplin und immer in unserem Bewusstsein präsent, insbesondere im Intimleben zwischen Mann und Frau. In Momenten, in denen der Trieb den Mann sehr stark beherrscht, 73
seine Frau aber Nida ist, muss er lernen, so lange Enthaltsamkeit zu üben, bis die Frau vom Besuch der Mikwe zurückgekehrt und nun die unreine Zeit vorüber und sie für ihn wieder rein ist. Ein schönes Beispiel dazu findet sich im Hohelied Salomons, Schir HaSchirim. Es erwähnt zwar G’ttes Namen nicht, aber es beinhaltet die Praxis der Nähe zwischen Mann und Frau und symbolisiert so nach der überlieferten Tradition auch die Verbindung zwischen G’tt und dem Volk Israel. Der Midrasch Schir HaSchirim (Kap. 7, Vers 3) schreibt: »Dein Nabel – eine runde Schale, nicht fehlt darin der Wein; dein Leib – eine Weizengarbe, umhängt von Rosen« (Bitnech aremat chitim Suga baSchoschanim). Das Wort Suga bedeutet Zaun. Der Midrasch fragt: Seit wann machen wir einen Zaun mit Rosen? Normalerweise baut man den Zaun um ein Feld mit Dornen oder anderen Hindernissen, um fremden Zutritt auszuschließen. Was aber bedeutet der beschriebene Zaun aus Rosen in unserem Fall? Damit sind die milden Mizwot gemeint, so wie uns zum Beispiel Rosen mild stimmen. Hier wird auf die in der Realität einzigartig tiefe Verbindung zwischen Mann und Frau angespielt. Die Andeutung sagt: Der Bräutigam sehnt sich danach, unter der Chuppa zu stehen, weil der Hochzeitstag der schönste Tag im Leben eines Menschen ist, an dem er seine Liebe bekundet und der erwählten Partnerin das Jawort gibt. So zeigt er, dass er sie begehrt, um seine starke Liebe beweisen zu können. Auf die Werbung des Bräutigams antwortet die Braut: »Keschoschana raiti – ich sehe aus wie eine Rose«. Das bedeutet: »Ich habe einen Tropfen Blut in mir entdeckt«. Dies ist die Information an ihn, dass es sich zu beherrschen gilt, bis diese Tage überstanden sind.
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Und was bedeutet der Zaun? »We-el ischa benidat tu mata lo tikraw« – Wenn eine Frau durch ihre Periode Nida ist, darf man sich ihr nicht nähern. Mit diesen Worten teilen sich Mann und Frau gegenseitig mit, wann sie ihr Verlangen zügeln und ihren Trieb sozusagen »abschalten« müssen. Daher heißt es: Suga baSchoschanim – Zaun mit Rosen. Die im Midrasch geschriebenen Worte richten sich an Mann und Frau und fordern beide auf, durch ihr Verhalten in dieser Zeit G’tt auf besonders hohem Niveau zu dienen.
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Tasria - 3. Mose 12,3
Beschneidung Von drei Bundesschlüssen zwischen G’tt und dem Volk Israel berichtet uns die Bibel. Dazu gehört das Sabbatgebot, das Anlegen der Tefillin (Gebetslederriemen) und die Brit Mila, die Beschneidung. Von ihr heißt es in unserem Wochenabschnitt Tasria, der mit dem Thema der Geburt beginnt: „Und am achten Tage soll man den Knaben am Fleisch seiner Vorhaut beschneiden“ (Lev 12,3). Der Patriarch Abraham war der erste unseres Volkes, der sich und die männlichen Mitglieder seiner Familie beschnitten hat. Dazu lesen wir in 1. Mose 17: Eure Vorhaut sollt ihr beschneiden. Das soll das Zeichen sein des Bundes zwischen mir und euch. Jedes Knäblein, wenn’s acht Tage alt ist, sollt ihr beschneiden bei euren Nachkommen. Desgleichen auch alles, was an Gesinde im Hause geboren oder was gekauft ist von irgendwelchen Fremden, die nicht aus eurem Geschlecht sind. Beschnitten soll werden alles Gesinde, was dir im Hause geboren oder was gekauft ist. Und so soll mein Bund an eurem Fleisch zu einem ewigen Bund werden. Wenn aber ein Männlicher nicht beschnitten wird an seiner Vorhaut, wird er ausgerottet werden aus seinem Volk, weil er meinen Bund gebrochen hat. Da nahm Abraham seinen Sohn Ismael und alle Knechte, die im Hause geboren, und alle, die gekauft waren, und alles, was männlich war in seinem Hause, und beschnitt ihre Vorhaut an eben diesem Tage, wie ihm G’tt gesagt hatte. Und Abraham war neunundneunzig Jahre alt, als er seine Vorhaut beschnitt. Ismael aber, sein Sohn, war dreizehn Jahre alt, als seine Vorhaut beschnitten wurde. Eben auf diesen Tag wurden sie alle beschnitten, Abraham, sein Sohn Ismael und was männlich in seinem Hause war, im Hause geboren und gekauft von Fremden; es wurde alles mit ihm beschnitten. 76
Wie wichtig dem Judentum die Brit Mila ist, erkennt man auch daran, dass sie selbst dann durchgeführt wird, wenn der achte Lebenstag des Kindes auf Jom Kippur (Versöhnungstag) oder auf einen Sabbat fällt. Verschoben und nachgeholt wird sie aber, wenn das Kind nicht gesund ist. Der spanische Rabbiner und Arzt des Mittelalters Rambam spitzt noch einmal die Begründung des Beschneidungsgebotes zu. Er betont: allein weil diese fünf hebräischen Wörter in der Tora geschrieben stehen „Und am achten Tage soll man den Knaben am Fleisch seiner Vorhaut beschneiden“ - deshalb soll man die Mizwa befolgen und nicht, weil sie für den Bundesschluss zwischen G’tt und Abraham steht. Israel ist im Glauben an die Gebote der Tora gebunden, die es auf dem Sinai empfangen hat. Im Gehorsam gegen die Mizwot führt das Judentum die Beschneidung als eine ewige Ordnung von Generation zu Generation fort. In der Erinnerung an Abraham, den Erstbeschnittenen und Vater der Nation, wird so die Mizwa der Brit Mila mit aktuellem, lebendigen Glaubensgehorsam aufgenommen und erfüllt. Von den insgesamt 613 Mizwot des Judentums belegt das Gebot der Beschneidung den zweiten Platz. Den ersten nimmt die Mizwa der Vermehrung ein, der freilich in der Praxis die Beschneidung vorangeht. Auch wenn ohnehin derjenige als Jude gilt, der eine jüdische Mutter hat, soll er doch die Mizwa der Beschneidung auf sich nehmen und das Siegel des göttlichen Bundes am eigenen Leib sichtbar werden lassen. Als das wichtigste Gebot der Tora ist die Brit Mila in der Tradition des Judentums also nicht in erster Linie medizinhygienisch begründet (z.B. Phimose). Mit der Beschneidung erhält der Jude einen Art Prägestempel am eigenen Fleisch, der ihn als Bundespartner seines Schöpfers auszeichnet. Darüber hinaus äußert das mystische Buch Sohar den Gedanken: Wer
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die Beschneidung durchführt und damit den heiligen Bund zwischen sich und G’tt aufrichtet, der verleiht der Welt Bestand.
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Acharej mot kedoschim – kedoschim – 3. Mose 16,1 – 20,27
Reine Seele In diesem Wochenabschnitt belehrt uns die Tora über die Heiligung und Reinheit. Es steht geschrieben. „Denn an diesem Tage erwirkt er euch Sühne, um euch zu reinigen, von allen euren Sünden sollt ihr vor dem Ewigen rein werden.“ (3. Mose 16,30). Welche Reinheit vor G’tt ist hier gemeint? Der Rambam (1138 – 1204) ist der Meinung, der Mensch sei grundsätzlich nicht in der Lage, das Verständnis von Reinheit und Unreinheit in der Tora zu erfassen. Rabbi Jehuda Halevi lehrt, dass jeder, der diesen Begriffen in der Tora nachgeht, zur Erkenntnis kommt: Unreinheit entsteht dort, wo Leben vergeht oder vernichtet wird. Zur stärksten Ausprägung der Unreinheit kommt es bei der Berührung eines Leichnams. Daraus ist zu schließen: Reinheit ist die Verbindung zum Leben. In der Mikwe gewinnen wir durch unser Reinwerden im fließenden Wasser die Verbindung zum Leben wieder zurück. Der Mensch erfährt nach dieser Reinigung auch eine Stärkung in seinem Verhältnis zu G’tt - so wie geschrieben steht: „Ihr aber, die ihr an den Ewigen, eurem G’tt, anhaftet, seid heute noch alle am Leben.“ (Dtn 4,4) Der Mensch, der sich durch eine Sünde vergangen hat, verliert einen Teil seiner Persönlichkeit, sie stirbt ihm gewissermaßen ab. Nicht umsonst schrieben unsere Weisen: „Die als Frevler leben, werden als tot betrachtet.“ Wenn jemand sündigt, also die Kraft zur Selbstbestimmung und -beherrschung verliert, entfernt er sich von G’ttes Ebenbild, mit dem der Ewige den Menschen ausgestattet hat. Der sündige Mensch entbehrt seiner gesammelten Kraft in den verschiedenen Bereichen seines Lebens. Er zerstreut sich. 79
Jom Kippur bietet dem Mensch die Möglichkeit, sich zu erneuern. Die Umkehr (Teschuwa) und die Sühne ermöglichen ihm, neue Kraft aus der Quelle seines Lebens zu schöpfen, die verloren gegangenen Energien seiner Seele dadurch zurückzugewinnen. Die erneuerte Verbindung mit seinem Schöpfer lässt den Menschen zu Jom Kippur wieder in den Fluss des Lebens und der Reinheit treten. So wie wir in Tehillim (Psalm) 103 lesen: „Lobe den HERRN, meine Seele, und vergiß nicht, was er dir Gutes getan hat: der dir alle deine Sünden vergibt und heilet alle deine Gebrechen, der dein Leben vom Verderben erlöst, der dich krönt mit Gnade und Barmherzigkeit, der deinen Mund fröhlich macht, und du wieder jung wirst wie ein Adler.“ Diese Verse führen uns ein eindrucksvolles Bild vor Augen, das uns die verheißene Erneuerung von Jom Kippur nahebringen kann: So wie ein Adler alte Federn fallen lässt und ihm neue nachwachsen, so steht der Mensch an diesem hohen Feiertag vor dem Herrn der Welt und reinigt sich selbst von altem Ballast. Er wird wieder leicht und kann wie ein Adler abheben. Erneuert nimmt er in seinem Leben wieder Fahrt auf. Vielleicht ist hier auch daran zu denken, wie das Buch des Lebens zu Jom Kippur geöffnet und unser Name hineingeschrieben wird - zum Leben mit G’tt von Sünden gereinigt. Der Begriff „titaharu“ – „reinigt euch“ lässt sich auch mit dem 2.Buch Mose 24,10 erklären. Es heißt dort: „ ... und wie der Himmel selbst so klar“. Hier wird von einer absoluten Klarheit gesprochen. Demgegenüber manipuliert, verändert die Sünde das Ansehen des Menschen. Sie trübt es vor G’tt ein. Sie treibt einen Keil zwischen Geschöpf und Schöpfer. Durch seine Umkehr reinigt sich der Mensch und beseitigt damit die durch die Sünde verursachte Trübung im Verhältnis zu G’tt. Es ist wieder so klar zwischen ihnen, dass sich ein reiner Himmel darin spiegeln kann. Der Mensch ohne Fleck. Es geht also um eine wirkliche „Tiefenreinigung“, die die Seele wieder in ihr ursprüngliches Licht und Leuch80
ten versetzt, das sie bei G’tt einmal hatte, bevor sie durch die Sünde verdunkelt wurde. Der Weg, den wir während der zehn Bußtage zwischen Rosch Haschana und Jom Kippur gehen, sagt Rabbiner Bar Schaul (1911 - 1964), entspricht genau dem Weg von der Teschuwa zur Reinheit. Diese ist größer und erhebender, sie übersteigt die Teschuwa. Die innere Reinheit beschreibt das erneuerte Zusammensein zwischen dem Menschen und seinem Vater im Himmel, die „reparierte“ Verbindung, die vorher unterbrochen war. Sie bedeutet Anhänglichkeit an den Herrn ohne Wenn und Aber, ein dauerhaftes Getauftsein mit dem Willen G’ttes. Durch sie kehrt die Seele zu ihrer Wurzel und Quelle zurück, zu G’tt, ihrem Schöpfer. Rabbi Elazar ben Azarya (1. Jh.n.d.Z.) sagt: Sünden zwischen dem Menschen und G’tt sühnt Jom Kippur. Aber Sünden zwischen Mensch und Mitmensch sühnt Jom Kippur erst dann, wenn ich selbst die Versöhnung mit dem gesucht und zustande gebracht habe, an dem ich schuldig geworden bin. Man kann dem Vers „denn an diesem Tag erwirkt er euch Sühne“ noch eine weitere Bedeutung abgewinnen, dann nämlich, wenn wir hier hören: Durch diesen Tag wird gesühnt, durch seine Kraft. Jom Kippur zeichnet sich durch eine besondere Kraft aus. Sie liegt darin, dass der Mensch bewusst und ernsthaft vor G’tt tritt. An diesem Tag entzieht sich der Mensch aller körperlichen Einflüsse und verwendet seine gesammelte innere Kraft darauf, sein Abgespaltensein von G’tt zu überwinden. Diese reinigt und entsündigt ihn. Jom Kippur ist ein herausragender Tag. An ihm wird nicht nur für diesen einen Tag Sühne erwirkt, sondern für das gesamte vergangene Jahr. Denn mit der aus Liebe vollzogenen Teschuwa werden Sünden in Rech81
te verwandelt. Dieser Tag schenkt dem Bußfertigen nicht allein das aus vergangener Zeit durch eigene Dummheit Verlorene wieder, Jom Kippur schenkt auch einen offenen Horizont, eine bessere Zukunft.
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Emor - 3. Mose 21,1 – 24,23
Heiligung für Gott Das 3. Buch Mose wird in der jüdischen Tradition als „Buch des Priestertums“ bezeichnet. Größtenteils handelt es sich um Beschreibungen für den Dienst in der Stiftshütte und der Opferungen, die nur von den Priestern ausgeführt werden dürfen. Der Abschnitt Emor handelt von verbotenem und erlaubtem Tun des aaronitischen Priestergeschlechts. Israeliten, die nicht aus dem Geschlecht Aarons sind, werden durch diese Anweisungen nicht in die Pflicht genommen. Das Schlüsselwort dieser Bestimmungen für die Priester ist das Wort „Heiligung“ (keduscha) und Begriffe, die sich von diesem Wort ableiten, wie z.B. in 3. Mose 19,2: „Heilig sollt ihr sein, denn heilig bin ich, der Ewige, euer Gott.“ Weitere Beschreibungen bzw. Aufforderungen zur Heiligung des Volkes Israel finden sich in 3.Mose 20,7: „Haltet euch heilig, auf dass ihr heilig seid; denn ich bin der Ewige, euer Gott“, und weiter in 20,8: „So beobachtet denn meine Gesetze und haltet sie; ich bin der Ewige, der euch heiligt.“ Und wiederum heißt es am Ende des Kapitels 20,26: „Ihr sollt mir heilig sein, denn heilig bin ich, der Ewige.“ Diese Begriffe und Befehle sind von besonderem Rang, da sie sich aus der einzigartigen und vertrauens- wie anspruchsvollen Beziehung Israels zu seinem Gott herleiten. Sie prägen wesentlich den Glauben des erwählten Volkes. Das Gegenteil dieser Begriffe bezeichnet den Götzendienst, den fremden Kult. Auf dem Hintergrund dieser biblischen Aussagen bietet es sich an, grundsätzlich nach der Heiligung zu fragen. Geht die Tora davon aus, dass der Mensch „heilig“ geboren wird? Bekommt er seine „Heiligung“ von Gott in die Wiege gelegt? Ist sie ihm etwa angeboren, dass er sie besitzt und zu seinem „Persönlichkeitsinventar“ von Natur aus gehört? Und wenn dem so wäre, gibt es einen Weg diese Heiligung seitens des 83
Menschen zu annullieren, aufzuheben? Im Anschluss an Gedanken von Professor J. Leibowitz möchte ich seiner Beobachtung folgen, dass der Begriff „Heiligung“ in den Abschnitten „Kedoschim“ und „Emor“ auf zwei Ebenen abgehandelt wird. Zum einen wird durchaus über eine gegebene, vorausgesetzte Heiligung gesprochen. Aber sie bezieht sich in allen biblischen Aussagen ausschließlich auf Gott. Er ist heilig. Er muss sich Heiligkeit nicht erst erwerben. Sie ist ihm zu eigen. Er befindet sich im unveränderlichen Zustand der Heiligkeit. So gibt er sich uns bekannt, wenn es heißt: „Denn ich bin heilig“ und „Ich bin Gott, der euch heiligt“. Dem gegenüber stehen die Aussagen, die die Heiligung des Menschen, Israel insgesamt betreffen. Hier handelt es sich ausgesprochenermaßen um eine Forderung, die sich an den Menschen richtet, wenn gesagt wird: „Ihr sollt heilig werden“. Wer heilig werden soll, ist es also nicht, weder von Geburt noch von Natur aus. „Ihr sollt heilig werden und dadurch werdet ihr heilig“. Denn „Ihr sollt mir heilig sein, weil ich heilig bin“, spricht Gott der Herr. Im Blick auf den Menschen ist die Heiligung also ein an ihn lebenslang ergehender Auftrag. Er erreicht sie durch die Erfüllung der Mizwot. Gilt diese Erkenntnis auch im Blick auf den besonderen Stand der Priester im Volk Israel? In 21,7f wird von ihm gesagt: „... denn heilig ist er seinem Gotte, du sollst ihn heilig halten, denn das Mahl seines Gottes bringt er dar; heilig sei er dir, denn heilig bin ich, der Ewige, der euch heiligt.“ Handelt es sich bei der Heiligkeit des Priesters nun womöglich doch um eine angeborene, in seinem Herz und Blut verankerte, weil er in der Geschlechternachfolge Aarons steht? Oder wird sie auch ihm zur Verpflichtung und Aufgabe gemacht, dass er sie - wie alle anderen aus dem Volk - erst erwerben muss? Auffällig ist jedoch die Beschreibung, die für die Heiligung des Priestertums verwendet wird, wenn es heißt: „Heilig sollen sie sein für ihren Gott“ - und eben nicht für sich selbst. Der Rabbi aus Wollogin nimmt deshalb an, dass die Priester nicht von 84
Natur aus heilig sind, und sie sollen sich auch nicht als heilig ansehen. Ihre Heiligung besteht darin bzw. sie üben ihre Heiligung darin aus, indem sie ein entsprechendes – heiliges – Verhalten an den Tag legen. Und der Rabbi ergänzt: “Sie sollen sich nicht durch ihre Kleidung heiligen.“ Er meint damit, die Priester dürfen sich nicht dazu verleiten lassen, sich durch „extravagante“ Kleidung als heilig ausweisen zu wollen. Sie ist als reine Dienstkleidung zu verstehen, die nur auf dem Areal des Tempels getragen werden soll. Außerhalb des Tempels sind die Priester allen anderen Menschen gleichgestellt. Entsprechend sollen sie sich auch kleiden. Verhalten sie sich aber nicht nach dieser Anweisung, handelt es sich keinesfalls um eine Heiligung des Himmels. Vielmehr stellen sie dann ihre Überheblichkeit zur Schau. Diese Erklärung des Rabbiners kann für Generationen von Priestern als verbindlich gelten und vielleicht sogar als eine mehr oder weniger polemisch eingefärbte Andeutung in Richtung chassidischer Rabbiner (Admorim) aufgefasst werden, die von sich selbst groß denken und sich auch nicht scheuen, ihre Heiligkeit nach außen zu tragen, obwohl wir keinen Tempel mehr haben, der durch seinen Bestand besondere äußerliche Kennzeichen von Heiligkeit erforderlich machte. Dagegen besteht die Funktion aller Rabbiner heutzutage allein darin, schlicht und einfach die Tora zu lehren. Der jüdische Glaube kennt den Begriff „Heiligung“ nicht abstrakt, sondern nur im Zusammenhang mit dem Gotteskult. Die Unterscheidung zwischen „Heilig“ und den „Wochentagen“ ist eine von den wichtigsten Erkenntnissen. Die Hawdala, die Scheidung des Heiligen, die Verabschiedung und Trennung des Schabbats von den Wochentagen spricht hier eine deutliche Sprache. Die Wochentage sind auf einem vollkommen anderen Niveau angesiedelt, als der aus dem normalen Alltagsgeschäft herausgehobene Schabbat. In der jüdischen Scheidung des Schabbats von den Wochentagen finden wir die zeitliche Dimension der Heiligung wieder, die in den Tagen des bestehenden Tempels sich auch noch in räumlicher Dimension auftat, insofern nämlich der Tempel 85
heilige Bezirke aufwies, die den Priestern zu besonderen – heiligen – Handlungen bzw. zum Tragen liturgischer Kleidung Raum boten.
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Behar – 3. Mose 25,1 – 27,34
Das Land liege brach Schon im Wochenabschnitt Mischpatim haben wir von der Mizwa, das Schabbatjahr zu halten, gelesen: »Im siebenten Jahr aber liege das Land brach und verlassen da« (2. Buch Mose 23,11). Unsere Parascha enthält nun ausführliche Darlegungen dazu. Zweimal erwähnt die Tora, dass das Schabbatjahr ein Schabbat für G’tt ist (Schabbat laschem): »So soll das Land einen Schabbat dem Ewigen feiern« (3. Buch Mose 25,2), und »Das siebente Jahr aber soll für das Land ein hoher Schabbat sein, ein Schabbat dem Ewigen« (25,4). Diese Aussagen verdeutlichen, dass die Idee des Schabbatjahres eng mit der des Schabbats verknüpft ist. Es liegt also nahe, zuerst einmal die Mizwa des Schabbats zu analysieren, um seine Weiterführung im Schabbatjahr besser verstehen zu können. Im Abschnitt Jitro steht geschrieben: »Sechs Tage darfst du arbeiten und alle deine Werke verrichten. Aber der siebente Tag ist ein Schabbat dem Ewigen, deinem G’tt« (2. Buch Mose 20,9). Zur Begründung wird angefügt: »Denn in sechs Tagen hat der Ewige den Himmel und die Erde und das Meer und alles, was in ihnen ist, erschaffen, aber am siebenten Tage ruhte er. Darum hat der Ewige den Schabbat gesegnet und geheiligt« (20,11). Mit der Erschaffung der Welt ist der Schabbat geboren, und seitdem sollen wir uns an ihm – nach dem Vorbild G’ttes – jeglicher Tätigkeit enthalten. Es geht für den Menschen darum, Ruhe zu finden und G’tt die Ehre zu geben, Ihn und diesen Tag heilig zu halten. Aber abgesehen davon, ob der Mensch von Generation zu Generation den Schabbat heiligt
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oder nicht, bleibt er heilig. Die Heiligkeit ist ihm von G’tt ein für alle Mal gegeben. In der zweiten Fassung der Zehn Gebote (5. Buch Mose 5) finden wir eine andere Interpretation zum Schabbatgebot: Nach sechs Tagen Arbeit folgt der siebte Tag, ein Schabbat für G’tt. An ihm darf keine Arbeit verrichtet werden, weder von Mensch noch Tier, dass alle, auch Knechte und Mägde, sich ausruhen können. Und nun heißt es zur Begründung: »Denn du sollst gedenken, dass du auch Knecht in Ägyptenland warst, und der Ewige, dein G’tt, hat dich von dort herausgeführt« (5,15). Mit dem Thema der Schabbatheiligung wird hier die Erinnerung an G’ttes Schöpferwirken und die Erinnerung an sein Eingreifen zur Befreiung der Israeliten aus der ägyptischen Knechtschaft verbunden. Beide Aussagen zielen darauf, die Existenz G’ttes zum Ausdruck zu bringen. Das Gebot der Schmitta ist diesem Gedanken des Schabbats eng verwandt. So wie der siebte Tag ein Schabbat für G’tt ist, so soll das siebte Jahr ein Schabbatjahr für G’tt und ihm geheiligt sein. In diesem Jahr soll sich das Land von jeder Art der Bearbeitung ausruhen (3. Buch Mose 25, 4–5). Interessanterweise gibt die Tora keinen Grund für das Schabbatjahr an. Aber im Abschnitt über das Erlassjahr steht ein Vers, der uns zwei Hinweise liefert: »Der Boden darf nicht auf ewig verkauft werden, denn mein ist das Land; denn Fremdlinge und Beisassen seid ihr bei mir« (25,23). Die Wörter, die die Begründung ausführen, beginnen beide mit »ki« – »denn«. Das erste »ki« charakterisiert das Land, das zweite den Menschen. Das Land ist Eigentum G’ttes, von ihm bezieht es seine Heiligkeit. Die das Land bearbeitende Bevölkerung befindet sich also auf 88
fremdem, ihr nur auf Zeit geliehenem Grund und Boden. Sie soll sich besonders im Joweljahr vergegenwärtigen, dass ihre materielle Grundlage G’tt gehört. Der Mensch ist lediglich Treuhänder und Pächter des Landes, das ihm der Schöpfer für eine begrenzte Zeit überlässt. »Und du sollst zählen sieben Schabbatjahre, sieben mal sieben Jahre, dass die Zeit der sieben Schabbatjahre 49 Jahre mache. Da sollst du die Posaune blasen lassen durch euer ganzes Land am zehnten Tage des siebten Monats, am Versöhnungstag. Und ihr sollt das fünfzigste Jahr heiligen und sollt eine Freilassung ausrufen im Lande für alle, die darin wohnen; es soll ein Erlassjahr für euch sein. Da soll ein jeder bei euch wieder zu seiner Habe und zu seiner Sippe kommen« (25, 8–11). Das Gebot zur Befreiung der Sklaven von ihren Herrn und das Gebot zur Befreiung des Bodens von seinem Bearbeiter im Joweljahr trägt der grundlegenden Einsicht Rechnung, dass der Mensch nur temporär auf der Welt und seine Zeit hier begrenzt ist. Die Mizwa des Erlassjahres ist ein Spezifikum des Judentums. Wohl wurde in der Antike die Befreiung der Sklaven als ein Gnadenakt der Könige ausgeübt, aber mit dem Ziel, die Beliebtheit der Herrschenden zu fördern. Im alten Israel war sie als G’ttesgesetz weit höher angebunden und keiner politischen Willkür und »guter Laune« unterworfen. Der Zeitpunkt der Befreiung war durch einen festen Zyklus verlässlich vorgegeben. So stand wirklich das Wohl des Sklaven im Mittelpunkt. Beide Bereiche, sei es die Praxis der Sklaverei oder die Nutzung des Landes durch den Menschen, bringen unverkennbar zum Ausdruck: Hier herrscht der Mensch. Gegenüber seinem unbändigen Willen zur Macht gebieten ihm die Mizwot des Schabbat- und Joweljahres Einhalt. Sie weisen ihn in seine zeitlichen Schranken. Sie erinnern den Menschen an seine wahre Stellung in der Welt und sagen ihm: Wie sehr du dich auch als Herr über andere und die Erde gebärdest, du bist von G’ttes Segen in 89
jeder Hinsicht abhängig. Lebt der Mensch aber in einem ausgewogenen Verhältnis mit den Gaben seines Schöpfers, dann steht der Friede zwischen ihm und dem von ihm beackerten Boden im Dienst der Weltverbesserung (Tikkun Olam). Zudem verheißt uns die Einhaltung der Mizwot zum Schabbatjahr Versöhnung. So kommt es zu einem harmonischen Miteinander von Schöpfer, Mensch und Erde. Sie ist der Stoff, der die Kraft und die Möglichkeit in sich birgt, das Leben zum Blühen zu bringen. Als Mitarbeiter G’ttes ist der Mensch in den Dienst gestellt, die Erde urbar und fruchtbar zu machen. Das verlangt ihm zwar schwere Arbeit ab. Aber sie ist ihm von G’tt aufgetragen. Dadurch ehrt er die Erde, von der er genommen wurde und zu der er am Ende seines Lebens zurückkehrt. Alle drei zunächst auf die Atempause der Erde bezogenen Mizwot des Schabbats, des Schabbatjahres und des Joweljahres symbolisieren die Prinzipien von Freiheit und Gerechtigkeit in unserer Gesellschaft.
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במדבר Bamidbar – Numeri IN DER WÜSTE
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Nasso – 4. Mose 4,21 – 7,89
Priestersegen Der Priestersegen ist ein Relikt aus dem Tempelkult und zählt zu den Bestandteilen des ständigen Opfers (korban hatamid). Die Priester sprachen ihren Segen jeden Tag am Morgen und in der Abenddämmerung vor dem Brandopfer. In der Zeit der Amoräer nannte man den Platz, auf dem die Priester standen und das Volk segneten, Duchan. Dieser Begriff ist für den Segen selbst bis heute in den aschkenasischen Gemeinden gebräuchlich. Nach der Zerstörung des Tempels fand dieser Brauch seinen Platz in der Synagoge. In unserem Wochenabschnitt, Nasso, lesen wir den Priestersegen: »Und der Ewige sagte zu Mosche: Sprich zu Aharon und seinen Söhnen: So sollt ihr die Kinder Israel segnen, ihr sollt zu ihnen sprechen: Der Ewige segne dich und behüte dich. Der Ewige lasse dir sein Antlitz leuchten und sei dir gnädig. Der Ewige wende dir sein Antlitz zu und gebe dir Frieden. Sie sollen meinen Namen auf die Kinder Israel legen, und ich will sie segnen« (4. Buch Moses 6, 22-27). Mit welchem Spruch hat Aharon nun das Volk gesegnet? Darauf antwortet Raschi (1040–1105): »Und er segnete sie mit dem Priestersegen.« Warum steht nicht sofort geschrieben: »Und er segnete sie und sagte: Der Ewige segne dich ...«? Der Jerusalemer Talmud (Jeruschalmi) antwortet darauf und stellt sofort eine Frage: »Woher kommt das Heben der Hände? (Taanit 4,1) So sollt ihr die Kinder Israels segnen (4. Buch Moses 6,23) im Schacharit und im Gebet überhaupt.«
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Auf die Frage nach der Herkunft des Priestersegens, ob er ein Bestandteil des Priesterkults und der Opferhandlungen im Tempel war, antwortet der Jeruschalmi, indem er sich auf 3. Buch Moses 9,22 bezieht: »Und Aharon öffnete seine Hände gegen das Volk und segnete sie. Und nachdem er so das Sündenopfer, das Ganzopfer und die Friedensopfer dargebracht hatte, stieg er hinab.« Diese Abfolge in Aharons Handlungen gefällt dem Jeruschalmi nicht. Er möchte es umgekehrt verstanden wissen: Nachdem er so das Sündenopfer, das Ganzopfer und die Friedensopfer dargebracht hatte, stieg er hinab, und dann erhob er seine Hände gegen das Volk und segnete sie.« Der Talmud möchte uns klarmachen, dass mit dem ausgesprochenen Segen der Kult im Tempel beendet ist. Also setzt der Segen den Schlusspunkt. Im Sefer Hachinuch lesen wir, dass den Priestern befohlen ist, das Volk Israel täglich zu segnen (Mizwa 367). Außerdem werden wir darüber belehrt – auch von der Tora –, dass die Pflicht dieser Mizwa nicht nur im Tempel auszuüben war. Auch außerhalb des Heiligtums ist das Volk Israel täglich im Gebet zu segnen. Warum sind nun allein die Priester ausersehen und verpflichtet, das Volk zu segnen? Auch darauf antwortet das Sefer Hachinuch. Es sagt uns, dass G’tt daran interessiert ist, sein Volk durch sein »Bodenpersonal« zu segnen, weil sie durch ihren konzentrierten Dienst im Tempel eine besonders enge gedankliche und seelische Verbindung zu ihm aufweisen. Zudem unterziehen sie sich Reinheitsvorschriften, aufgrund derer sie sich für den Mittlerdienst zwischen G’tt und seinem Volk besonders eignen. Es muss nicht der Hohepriester sein, der segnet, es genügt auch ein »Durchschnittskohen«, der aber vor allem zwei Sünden nicht begangen haben sollte: Götzendienst und Tötung von Menschen.
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Und weiter fragt das Sefer Hachinuch: Wenn G’tt Seinen Segen dem Volk so bereitwillig und gern geben will, warum handelt er dann nicht direkt an ihm, sondern durch die Vermittlung der Priester? Es soll uns daran erinnern, dass dem Empfang des Segens unsere Beachtung der Tora und ihrer Mizwot vorausgeht. Der Priester ist dabei nur G’ttes Werkzeug. Unsere Weisen sagen, dass ein Duchan nur durch einen Minjan ausgeführt wird, zu dem auch die anwesenden Priester zu zählen sind. Aber was ist, wenn dieser Minjan in einer Synagoge ausgerechnet aus zehn Priestern besteht? Sollen sie ihr Angesicht in eine leere Synagoge hinein erheben? Der Schulchan Aruch sagt: »Alle Priester müssen zum Duchan« (Orach Chaim 128,25). Aber wen segnen sie dann? Wer könnte das Amen sprechen, wenn die Synagoge leer ist? Der Schulchan Aruch schreibt dazu: Die Brüder in den Feldern sprechen das Amen. Der Segen wird seine Adressaten auch außerhalb finden, in den Menschen, die auf der Straße gehen, die arbeiten. Sie werden diese Bracha empfangen. Im Wortlaut des Priestersegens stoßen wir auf eine Doppelung der Anweisung G’ttes. Sie lässt vermuten, dass hier neben den Priestern auch der Kantor bei der Segensübermittlung an das Volk eine Funktion hat. Baal Hachinuch geht davon aus, dass der Kantor dem Priester den Segen zunächst wortwörtlich vorsagt, ehe dieser ihn an das Volk weitergibt. Aber bevor die Priester beginnen, die Worte des Kantors zu wiederholen, müssen sie erst eine eigene Bracha sagen: »Gelobt seist Du, Ewiger, unser G’tt, König der Welt, der uns geheiligt hat und uns befohlen, in der Heiligung von Aharon das Volk Israel mit Liebe zu segnen.« Nun können wir auf den ersten Blick nicht erkennen, wo in der Bibel geschrieben steht, dass die Priester mit Liebe das Volk segnen sollen. Die Mischna Brura (Orach Chaim 128,37) schreibt: Auch wenn zwei Priester einander hassen, dürfen sie beide segnen. Denn der eine kann nicht über den anderen verfügen und zu ihm sagen: Du gehst ins 94
Schacharit, und ich gehe ins Mussaf. Oder im anderen Fall, wo Kohen und Mitbeter einander nicht mögen, ist es dem Kohen nicht gestattet, die Gemeinde zu segnen. Er muss die Synagoge vor dem Segen verlassen. Auch das Buch Sohar bezieht sich auf dieses Thema und zitiert aus Mischle: »Wer wohlwollenden Auges ist, wird gesegnet, denn er gibt von seinem Brot dem Armen (22,9). Das heißt: Nur derjenige, der mit gütigen Augen auf die Gemeinde schaut, liebt sie und kann sie segnen. Es geht also letztlich um eine Konstellation des Verhaltens, in der die Liebe Raum greifen kann – unter den Kohanim und zwischen den Kohanim und der Gemeinde. Sie ebnet den Weg für den wahren Segen G’ttes. Diese Liebe ist es, die im Segen der Priester gemeint ist.
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Beha’alotcha – 4. Mose 8,1 – 12,16
Menora Der Wochenabschnitt Beha’alotcha setzt mit dem Befehl G’ttes an Mosche ein: »Rede mit Aharon und sprich zu ihm: Wenn du die Lampen aufsetzt, sollst du sie so setzen, dass sie alle sieben von dem Leuchter nach vorwärts scheinen« (4. Buch Mose 8,2). Die Tora schreibt, dass der Künstler Bezalel ben Uri die Menora nach den göttlichen Vorschriften hergestellt hat. Sie bekommt nach 2. Buch Mose 35,14 ihren Platz im Mischkan, der Stiftshütte, und Aharon erhält den Auftrag, ihre Lichter anzuzünden. Schon im 2. Buch Mose 27,21 ergeht diese Mizwa an die Priester. Dort heißt es: »In der Stiftshütte, außen vor dem Vorhang, der vor der Lade mit dem Gesetz hängt, sollen Aharon und seine Söhne den Leuchter zurechtmachen, dass er brenne vom Abend bis zum Morgen vor dem Herrn. Das soll eine ewige Ordnung sein für ihre Nachkommen bei den Israeliten.« Die Tora gibt uns im 2. Buch Mose 25, 31–40 eine ausführliche Bauanleitung der Menora. Wir erfahren, dass der Leuchter, den Bezalel anfertigte, aus einem einzigen Stück Gold getrieben war. 50 Kilo schwer soll es gewesen sein, berichtet Flavius Josephus. Die Menora bestand aus einem kastenartigen Sockel, der auf drei Füßen ruhte. Aus diesem Fundament strebte ein Mittelschaft hervor, an dessen oberem Ende ein länglich-schmaler Kelch angebracht war. Von beiden Seiten zweigten jeweils drei Arme ab, die ebenfalls in Kelche mündeten. Alle sieben Röhren (der Mittelschaft und die sechs Seitenarme) waren mit knospen- und blütenförmigen Ornamenten verziert. Die seitlichen
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Röhren wuchsen bis zum Mittelschaft empor, sodass alle sieben Lampen in gleicher Höhe liegen. Raschi (1040–1105) erklärt, dass das Wort »jericha« den kastenförmigen Sockel der Menora bezeichne, von dem drei Füße ausgingen. Auch Maimonides, der Rambam (1135–1204), ist Raschis Meinung (Rambam Sefer Hilchot Beit Habchira 3,3). Ihre Beschreibungen sind zudem identisch mit verschiedenen archäologischen Befunden, die davon zeugen, dass die Menora im Tempel tatsächlich auf drei Füßen stand. Der Schein der Menora ist ein Symbol für Reinheit, Freude und Freundschaft, wobei die Tora selbst das Licht ist, bildet sie doch das Rückgrat des Judentums. Entsprechend fassen jüdische Legenden die sechs Lichter der Menora als Symbole der verschiedenen Wissenschaften auf. Die siebte Kerze versinnbildlicht die Tora, weil sie mit ihrem Inhalt die Wissenschaften spirituell bereichert und mit ihrer geistigen Energie zu Erkenntnissen führt. Es gibt große Wissenschaftler, die erklärt haben, dass sie mit ihrer Arbeit eine Interpretation der göttlichen Gedanken zu geben versuchen, wie sie uns in der Tora überliefert werden. In der Zeit Mosches und Aharons war die Menora das Sinnbild für die Einheit des Volkes Israel. Im Salomonischen Tempel versinnbildlichte sie vor allem G’ttes Anwesenheit. In der Zeit des Propheten Secharja stand sie für den Glauben und den Sieg G’ttes: »Nicht durch Macht und nicht durch Kraft, sondern durch meinen Geistbraus hat Er, der Ewige der Scharen, gesprochen« (Secharja 4,6). In der Zeit der Hasmonäer war der Leuchter das Symbol für die Übereignung des Volkes Israel an seinen G’tt, für seinen Glauben und Gehorsam ihm gegenüber und die Freiheit des Gewissens. Wer das Licht der Menora sah, sollte sich gewiss sein, dass das Volk Israel über seine Un-
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terdrücker siegen werde. 1948 wurde die Menora zum Staatswappen Israels. Nach der Zerstörung des Tempels gab es einen Wandel, und Gebete traten an die Stelle der Opfer. Doch die Lichter der Menora lassen ihr Licht weiter erstrahlen. So bemerkt schon Nachmanides, der Ramban (1194– 1270), dass die Kerzen am Schabbat und an Chanukka trotz der Tempelzerstörung in jüdischen Häusern weiter angezündet werden. Archäologische Funde lassen uns fragen, wo, wann und warum der Sockel der Menora verschiedenartige Ausgestaltung fand. Wie kam es, dass die drei Füße durch einen zweistufigen Sockel ersetzt wurden? Entspricht die im Titusbogen und heute im israelischen Staatswappen dargestellte Menora überhaupt derjenigen, die früher im Tempel stand? Der israelische Kunsthistoriker Daniel Sperber bejaht diese Frage. Auf dem doppelstufigen Sockel der nach der Zerstörung des Tempels und von den Römern mitgeführten Menora sind zwei Adler eingraviert, die einen Blätterstrauß halten. Daneben sind zwei Meeresmonster und verschiedene Drachen mit Fischschwänzen zu erkennen. Eine derartig gestaltete Menora ist im Judentum verboten, weil sie nicht koscher ist. Es heißt in der Mischna: »Wenn jemand Gegenstände mit Abbildungen von Sonne, Mond oder Drachen findet, soll er sie ins Tote Meer werfen« (Avoda sara 3,3). Wir haben guten Grund, uns zu fragen, ob solche Darstellungen von Drachen im zweiten Tempel tatsächlich ihren Platz hatten. Sperber meint: Ja. Er sieht seine Annahme durch einen Menorafund dieser Ausgestaltung in einem römischen Tempel der türkischen Stadt Didima bestätigt. Die dort gefundene Menora gleicht derjenigen im Titusbogen mit dem doppelten Sockel in Rippenform und den eingravierten Drachenfiguren. 98
Die Grundform der Menora wurde von den Römern aus dem Judentum zunächst übernommen, aber dann auch angepasst und verändert, um durch ihre Umgestaltung die Macht des Römischen Reiches zu demonstrieren. So hat sich nach Sperbers Einschätzung König Herodes (37–14 v.d.Z.) dieser römischen Menoragestaltung bedient, um sich mit der Darstellung von Symbolen aus dem Apollo-Kult bei Kaiser Augustus beliebt zu machen. Zudem untermauerte und verstärkte er damit ganz bewusst die Macht der Römer im Land. Es liegt auf der Hand, dass mit der Umgestaltung der Menora durch die römischen Besatzer die Macht des G’ttes Israels herabgesetzt werden sollte. Bis heute ruft deshalb der Anblick der nach römischem Vorbild gestalteten Menora auf dem israelischen Staatswappen beim kundigen Betrachter die Erinnerung an die Unterdrückung der Juden durch die Römer wach. Dagegen bewahrt die Menora, die auf drei Füßen steht und keine heidnischen Verzierungen aufweist, für das jüdische Volk das Andenken an die Zeit der Hasmonäer, die vom Streben nach Unabhängigkeit beseelt waren. Deshalb stellt sich die Frage, ob es gut durchdacht war, die Menora des Titusbogens, also die römische Version, als offizielles Staatswappen zu wählen. Es ist schwer, darauf heute eine Antwort zu geben.
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Behaalotcha – 4. Mose 8,1 – 12,16
Bescheidenheit Im Abschnitt Behaalotcha kommt eine der wichtigsten Eigenschaften des Judentums zur Sprache: die Bescheidenheit, die Demut. Unser Lehrstück beginnt mit der Kritik Miriams und Aarons an ihrem Bruder Mose. Weil er sich eine kuschitische Frau genommen hat, reden ihm die Geschwister Übles nach. „Mose aber war ein sehr bescheidener Mann, mehr als irgendein Mensch auf dem Erdboden.“ (4. Mose 12,3) Und so lässt er sich von ihrem Gerede nicht provozieren, er ignoriert ihre böse Nachrede und schweigt dazu. Ganz anders G’tt, Mose's Auftraggeber! Seine Reaktion erfolgt prompt! Postwendend tritt der Höchste selbst für seinen Diener ein, verteidigt ihn und betont dessen herausragende Stellung als dem Größten aller Propheten, dem Übermittler der Tora und Hirten seines Volkes: „Ist jemand unter euch ein Prophet des Herrn, dem will ich mich kundmachen in Gesichten oder will mit ihm reden in Träumen. Aber so steht es nicht mit meinem Knecht Mose; ihm ist mein ganzes Haus anvertraut. Von Mund zu Mund rede ich mit ihm, nicht durch dunkle Worte oder Gleichnisse, und er sieht den Herrn in seiner Gestalt.“ (4. Mose 12,6-8) Hier wird ein Mensch von G’tt in so einzigartiger Weise charakterisiert und ausgezeichnet wie es keinem Menschen vor oder nach ihm geschah. Angefangen hatte alles mit der ersten Begegnung zwischen Mose und G’tt am brennenden Dornbusch. Dort lehnt der Schafhirte den Befehl ab, nach Ägypten zu gehen und das Volk Israel zu befreien. „Da sprach Mose zu G’tt; Wer bin ich, dass ich zu Pharao gehe und dass ich die Kinder Israel aus Ägypten führen soll?“ (Ex 3,11) Rabbi Meir Simcha Hacohen entdeckt in dieser Reaktion des Mose seine große Bescheidenheit. Ein Mann, dem einmal alle Mittel in die Hände 100
gegeben werden, um die Naturgesetze außer Kraft zu setzen, der verzichtet bei seiner Berufung vollkommen darauf, auch nur irgendeinen Vorzug seiner Persönlichkeit vor G’tt in Anschlag zu bringen. Seine ganze Reaktion ist von Selbsterniedrigung gekennzeichnet. Er war sich bewusst, dass G’tt nur Menschen inspiriert, die von sich selbst niedrig denken. Und sie sind es gerade die der Ewige zu Großem bestimmt und gebraucht. Diese Eigenschaft der Demut und Bescheidenheit hat Mose die Note „sehr gut“ in Sachen Theologie verliehen. Und so war auch der Berg Sinai der niedrigste unter den ihn umgebenden und wurde deshalb zum Ort, an dem G’tt sich offenbarte und den Kindern Israel die zehn Gebote übergab. Mose wurde die Ehre zuteil, mit G’ttes G’ttheit zu kommunizieren und das bedeutet, im reinen Glauben zu leben. Dazu erklärt Raschi, dass Moses Wert darauf legte, er habe G’tt nicht von Angesicht zu Angesicht geschaut. Aber gerade diese Erkenntnis des Moses wäre es gewesen, die ihn in den höchsten Rang der Demut versetzt hätte. Seine Haltung der Bescheidenheit unterscheidet ihn grundlegend von allen Propheten nach ihm, die dachten und angaben, sie hätten G’tt gesehen und von allen, die glauben, dass sie die G’ttheit G’ttes erkannt hätten. Und welcher Mensch der Gegenwart, der sich in ähnlich herausgehobener Position wie Mose befände, würde sich in gleicher Weise zurücknehmen?! Die theologische Idee, die hinter unserem Lehrstück der Demut und Bescheidenheit steht, ließe sich also so zusammenfassen: Aufgrund seiner außerordentlichen Bescheidenheit hätte Mose durchaus die Möglichkeit gehabt, G’tt von Angesicht zu Angesicht zu sehen und zu sprechen. Aber von dieser Möglichkeit machte er in seiner Bescheidenheit keinen Gebrauch.
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Korach - 4. Mose 16,1 – 18,32
Harte Arbeit Das Volk Israel murrt. Seit dem Auszug aus Ägypten klagt es über die schwierigen Bedingungen in der Wüste. Es will zurück zu den Fleischtöpfen Ägyptens – lieber in Knechtschaft leben als in Freiheit hungern. Auch der Führungsstil Mosches und seines Bruders Aharon geben immer wieder Anlass zur Klage, berichtet die Bibel. Der Rebell Korach probt mit seiner kleinen Gruppe um Datan und Awiram gar den Aufstand gegen die beiden Brüder. Doch damit widersetzen sie sich dem Willen G’ttes. Korach findet sein Ende durch einen plötzlichen Tod, nachdem die Streitigkeiten zwischen ihm und Mosche in einen zähen und erbitterten Kampf um die Führung des israelitischen Volkes mündeten. Mit wachsamen Augen stand G’tt den damaligen Führern bei. Vergleichen wir den Umgang mit Führungspersönlichkeiten unserer Tage, so lässt sich festhalten, dass die Kraft der Führerschaft heute in den Händen der Wähler liegt. Doch damals war G’ttes Offenbarung immer präsent. Der Ewige war der Träger aller Entscheidungen. Daher bestand die Auseinandersetzung nicht in der Frage, wer das Volk führen sollte, sondern, auf wessen Seite G’tt steht. Dies war nicht nur ein Machtkampf, sondern eine heiße Debatte über G’tt, seine Heiligkeit sowie das Volk und dessen Seele. Der verbitterte Korach und seine Anhänger traten vor Mosche und argumentierten: »Ihr maßt euch zu viel an! Alle in der Gemeinde sind heilig, und unter ihnen ist der Ewige. Warum erhebt ihr euch über die Gemeinde des Ewigen?« (4. Buch Moses 16, 3). Diese Behauptung hat den Anschein von Demokratie. Sie geht davon aus, dass alle Israeliten vor 102
dem Ewigen den gleichen Status haben: Sie sind Angehörige des heiligen Volkes. Korach murrt: Warum seid ihr, die Söhne Amrams, an der Führung beteiligt? Und warum werde ich, Korach, der Sohn von Jitzhar und Kehat ben Levi, nicht mit einbezogen? Auf den ersten Blick könnte man annehmen, bei diesen Reden gehe es darum, ob bei der Wahl eines Führers alles korrekt ablief. Wir lesen: »Als Mosche dies hörte, fiel er auf sein Angesicht« (16,4). Er schwieg. Die Antwort kam direkt vom Himmel: Die Erde öffnete sich und verschlang Korach und seine Anhänger. Damit beendete G’tt den Machtkampf. Die Mischna erklärt dazu in den Sprüchen der Väter (5,20): »Jeder Meinungsstreit, bei dem es um himmlische Wahrheit geht, hat Bestand. Geht es aber nicht darum, so hat der Meinungsstreit keinen Bestand.« Korachs Behauptung hört sich zwar theologisch fundiert an, ist aber in Wahrheit keine Alternative zu Mosches Worten. Denn Korach ging von der Annahme aus, dass es eine Heiligung gibt, die quasi automatisch zum Volk kommt: »kulam kedoschim – alle sind heilig«. Daher kam er zu der Auffassung, Mosche hätte nicht korrekt gehandelt. Bekannt ist, dass tatsächlich eine »automatische« Heiligung die Verantwortung für das reale Leben eines gläubigen Juden übernimmt. Dies bedeutet, dass alle von Geburt an heilig sind. Damit wären aber auch die schlechten Mitglieder der Gemeinschaft heilig, ohne Rechenschaft über ihr Tun abzulegen oder sich Kritik gefallen lassen zu müssen. Nach Meinung von Korach hieße dies: Da G’tt uns aus allen Völkern als das Seinige auserwählt hat, erhebt er uns auch über alle anderen Völker. Laut Korachs Verständnis ist diese Heiligung automatisch auf das gesamte Volk Israel zu beziehen, ohne Ausnahme. Nun wird verständlich, warum Mosche über den Aufstand seiner Gegner schockiert war. Deren Anspruch war in keiner Weise mit seinen Glaubensgrundsätzen vereinbar. 103
Im 3. Buch Moses 19,2 lesen wir: »Sprich zur ganzen Gemeinde der Kinder Israels und sage ihnen: Heilig sollt ihr sein, denn heilig bin ich, der Ewige, euer G’tt.« Nach Mosches Ansicht muss diese Heiligung durch Tikkun, durch ständige Bemühungen jedes Einzelnen und der gesamten Welt, erreicht werden. Dies soll durch Verhaltensweisen wie die Liebe gegenüber dem Nächsten und dem Fremdling oder aber durch harte Arbeit verwirklicht werden. Darüber hinaus sollten wir, die wir heute leben, ständig bereit sein zu lernen und danach streben, uns selbstkritisch zu sehen. Nur so werden wir G’ttes Namen und die uns durch die Geburt mitgegebene Heiligung nicht entweihen. Wir müssen uns immer vor Augen führen: Was G’tt erlaubt ist, ist uns verboten. G’ttes Überlegungen und Entscheidungen unterliegen keinem Zweifel oder gar der Kritik eines Menschen, selbst dann nicht, wenn dieser eine Führungsposition innehat. Wurde jemand mit Führungsaufgaben betraut, so muss er diese mit Umsicht und Korrektheit ausüben. Insbesondere aber muss er vom Himmel ausgesandte Zeichen, durch die uns G’tt mitunter seine Missbilligung für unser Handeln ausdrückt, beachten und gegebenenfalls seine Entscheidungen entsprechend korrigieren. Die Erfahrungen der Geschichte lehren uns: Jeder Versuch der Menschen, eine von G’tt eingesetzte Führung zu verändern, endet in einer spirituellen Katastrophe. Und eine Gesellschaft, die Kritik verbietet und deren Regierungsgewalt durch eine autoritäre Führung oder Diktatur ausgeübt wird, endet zwangsläufig in Anarchie und Zerstörung. Aktuelle Beispiele gibt es dafür genug.
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Chukkat – 4. Mose 19,1- 22,1
»Komm herauf, Brunnen!« Laut der Mischna (Awot 5,9) gehören Brunnen zu den zehn Dingen, die der Ewige in der Abenddämmerung des sechsten Tages schuf. Zwei Lieder sangen die Kinder Israels in der Wüste. Das erste, als sie aus Ägypten zogen, und das zweite, als sie am Ende ihres Weges angekommen waren, an der Grenze zum Land Moab, kurz vor dem Eintritt ins verheißene Land. Vom ersten Lied heißt es: »Damals sang Mosche mit den Kindern Israels dieses Lied dem Ewigen« (2. Buch Mose 15,1). Über das zweite lesen wir: »Damals sang Israel dieses Lied« (4. Buch Mose 21,17). Im zweiten Lied fehlen G’ttes und Mosches Namen. Das erste Lied sangen Mosche und die Kinder Israels, nachdem sie ihren Weg trockenen Fußes durch das wunderbar von G’tt geteilte Meer genommen hatten. Es preist Seine große Macht und Seine atemberaubenden Taten. Das zweite Lied gibt uns Rätsel auf. Wir wissen nicht, was es uns sagen will und warum es überhaupt überliefert wird. G’ttes Name wird in ihm nicht erwähnt, und Mosche ist nicht unter den Sängern. Wurde dieses Lied wegen eines Wunders angestimmt, das sich an diesem Brunnen ereignet hatte? Oder handelt es sich um ein Lob- und Danklied, das die Israeliten sangen, nachdem sie diesen Brunnen als Geschenk erhalten hatten? Wenn das der Fall ist, stellt sich die Frage: Warum sangen die Kinder Israels dieses Lied erst am Ende ihres Weges? In der Mischna Awot (5,9) lesen wir, dass Brunnen zu den zehn Dingen gehören, die am Freitag während der Abenddämmerung erschaffen wurden. Gibt es eine Verbindung zwischen diesem Brunnen der Mischna und dem Brunnen in unserem Abschnitt? 105
Rabbi Schimon sagt: »Nicht jeder, der ein Lied singen will, kann es tun. Nur derjenige, der ein Wunder erlebt hat, singt ein Lied, und er weiß, dass man ihm seine Sünden verzeiht, und er am Ende eine neue Schöpfung wird.« Wenn es sich so verhält, möchten wir fragen: Was war das für ein Wunder, das Israel veranlasste, dieses Lied zu singen? Welche Sünde hatten die Israeliten begangen, die G’tt ihnen verzieh? Wir kommen einer Antwort näher, wenn wir uns damit beschäftigen, in welchem Kontext unser Lied steht. Da lesen wir, dass die Israeliten auf ihrem Weg ins verheißene Land durch das Gebiet der Amoriter kommen. Sie mussten den Fluss Arnon überwinden, der zwischen zwei Gebirgszügen fließt. Die Amoriter planten, sich in den Höhlen der Berge zu verstecken und von dort Steine auf die Israeliten zu werfen und sie so während ihrer Flussdurchquerung zu töten. Doch der Ewige kam den Feinden Israels zuvor, noch bevor sein Volk überhaupt an Ort und Stelle war: Er sorgte kurzerhand dafür, dass sich einer der Berge erhob und auf die Seite des Landes Moab versetzte. Das brachte den Amoritern den Tod. Danach fragte sich G’tt, wer dieses Wunder den Kindern Israels erzählen wird. Raschi (1040–1105) erklärt: Die Worte »Ali be’er – steig auf, o Brunnen« bedeuten »Ha’ali be’er – bring das Wasser hoch!« (4. Buch Mose 21,17). G’tt erwählte den Brunnen, um sein Wunder den Israeliten kundzutun. Nachdem sie den Arnon durchquert hatten, kehrten die Berge an ihren Platz zurück, und der Brunnen kam zum Fluss und spülte das Blut und die Leichen der Amoriter nach oben. Da erst entdeckten die Kinder Israels, was für sie geschehen war. Als sie das sahen, sangen sie: »Ali be’er! – Bring nach oben!«. Jetzt erkennen wir auch die Ähnlichkeit zwischen dem ersten und dem zweiten Lied. Beim Auszug aus Ägypten geschah die Erlösung durch das Ertrinken des Pharaos und seines Heeres in den Fluten des Roten Meeres. Hier erklingt ein Lob- und Danklied über das Wunder der Erret106
tung aus den Händen der Amoriter, die den Kindern Israels den Einzug ins verheißene Land verwehren wollten. Wieder hatte G’tt ihnen in Todesgefahr beigestanden, und der Brunnen offenbarte diese Wundertat des Ewigen am Arnon. In Tehilim 129,1 heißt es dazu: »Lied der Emporgänge. Viel haben sie mich angefeindet von meiner Jugend an, so sage Israel.« Und weiter steht geschrieben: »So soll, wenn viele Leiden und Drangsale Israel treffen, dies Lied, das nie aus dem Mund seiner Nachkommen schwinden wird, vor ihm als Zeuge aussagen, denn ich kenne sein Sinnen, mit dem es schon heute umgeht, noch bevor ich es in das Land bringe, das ich seinen Vätern zugeschworen habe« (5. Buch Mose 31,21). G’tt verheißt hier: Wenn Israel in Not gerät, wird Er sie retten, dann werden sie Ihm ein Lied singen. Unsere Weisen sagen, das Wunder des Brunnens sei wie ein mitwandernder Fluss anzusehen, der das Volk Israel 40 Jahre lang auf seinem Exodus durch die Wüste begleitete, seinen Mund auftat und ihm Wasser spendete. Am Ende ihres Weges wurde er als Brunnen in der Wüste platziert. In unserem Abschnitt treffen wir nun auf die Danksagung für das Wunder aus diesem Brunnen. Man kann sich fragen, warum die Kinder Israels nicht schon während der 40 Jahre ihrer Wüstenwanderung auf die Idee kamen, von dieser Erscheinung der mitwandernden Gnade G’ttes zu singen. Die Weisen antworten: Als Mirjam, die Schwester von Mosche und Aharon, starb, verschwand der Brunnen, und nur wegen Mosches Verdiensten kehrte er zurück. Das Volk Israel sang auch, um seinen Anführer und sein Vorbild zu ehren: »Singt ihm zu!« Den Israeliten war durchaus bewusst, dass sie alle erhaltenen G’ttesgeschenke – das Manna, den Brunnen, die Wolken- und die Feuersäule – letztlich Mosche zu verdanken hatten.
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»Damals sang Israel dies Lied: »Steige auf, o Brunnen, singt ihm zu!« (4. Buch Mose 21,17). Ein weiteres unterscheidendes Charakteristikum dieser Wasserstelle gegenüber herkömmlichen Brunnen besteht darin, dass er nicht von Sklaven, sondern von den Fürsten des Volkes gebaut wurde. Im Talmud (Traktat Nedarim) wird der Hinweis gegeben, dass das Brunnenlied eine Danksagung für die Tora enthält. Die Tora wird mit Wasser verglichen, ohne das kein Leben existieren könnte. Genauso gibt es ohne die sich in unsere Herzen und Gedanken verströmende Tora kein wirkliches Leben für den Menschen. Wer die Weisungen G’ttes lernt, wird selbst zu einem lebensspendenden Fluss, der nicht versiegt. Das Wasser aus dem Brunnen der Tora schenkt dem Menschen Reinheit und Heiligung. Wer aus diesem Brunnen trinkt, aus dessen Innerem werden Ströme lebendigen Wassers quellen.
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Balak - 4. Mose 22,2 – 25,9
Des Widerspenstigen Zähmung Angesichts der sich im Jordantal lagernden Israeliten bekommen es die Moabiter mit der Angst zu tun. Balak lässt daraufhin Bileam bestellen, der sich mit wirkkräftigen Segnungen und Verfluchungen einen Namen gemacht hat. Bileam nimmt zunächst Balaks Auftrag an, das Volk Israel zu verfluchen. Bevor er sich aber auf den Weg machen kann, meldet sich Gott bei ihm zu Wort: „Geh nicht mit ihnen, verfluche das Volk auch nicht; denn es ist gesegnet“ (22,12). Daraufhin stellt Bileam klar, dass er sich an Gottes Verbot halten möchte und schickt die Boten des Moabiterkönigs unverrichteter Dinge zurück. Doch Balak legt nach. Er schickt eine zweite, dieses Mal mit Gold und Silber ausgestattete Gesandtschaft zu Bileam. Aber auch diesem offensichtlichen Bestechungsangebot widersteht Bileam und antwortet: „Wenn mir Balak sein Haus voll Silber und Gold gäbe, so könnte ich doch nicht übertreten das Wort des Herrn, meines Gottes, weder im Kleinen noch im Großen“ (22,18).
Erstaunlich, dass Gott nun Bileam entgegen zu kommen scheint und ihm erlaubt, sich der Gesandtschaft Baraks anzuschließen, jedoch unter der Bedingung: „ ... nur was ich dir sagen werde, sollst du tun“ (22,20). Aber schon wenig später hören wir von Gottes Unmut über Bileams Reiseantritt. Der Ewige hat offenbar nur dem starken inneren Willen und Trieb Bileams, Israel verfluchen zu wollen, nachgegeben. Er kennt dessen heimliche Übereinstimmung mit den Feinden Israels, die Bileam hinter Gottes Verbot, mit Barak gemeinsame Sache zu machen, verbirgt. Diesen kaschierten Trotz und die verblendete Eigensinnigkeit des Sehers kommentierend, äußert der Midrasch: „Auf dem Weg, den der Mensch unbedingt zu gehen versucht, wird man ihn gehen lassen.“ (Bemidbar 109
rabba, 20,11). Dazu lässt uns der Erzähler im Falle Bileams an einer Burleske mit drei Szenenbildern teilhaben. Zunächst lässt er uns einen Engel sehen, der ein Schwert in der Hand hält und Bileam den Weg versperrt. Doch der Seher sieht nicht. Seine hellsichtige und dem drohenden Engel ausweichende Eselin treibt er mit Gewalt auf den Weg zurück. Beim dritten Versuch Bileam aufzuhalten, stellt sich ihm der Engel so in den Weg, dass es für die Eselin kein Ausweichen mehr gibt: Da „fiel sie in die Knie unter Bileam“ (22,27). Doch dessen Augen sind nach wie vor gehalten. Er erkennt nur, dass er es offensichtlich mit einem höchst ungehorsamen Tier zu tun haben muss, das gegen seinen Herrn rebelliert – gerade in der Situation, die durch seine eigene Rebellion gegen Gottes Willen gekennzeichnet ist. Der auszog, seine Gewalt über Israel auszuüben, ist nicht einmal in der Lage, seine Eselin im Zaum zu halten. In der dritten Szene tut „der Herr der Eselin den Mund auf, und sie sprach zu Bileam: Was hab ich dir getan, dass du mich nun dreimal geschlagen hast?“ (22,28). Das erniedrigte Tier versucht, seinem Herrn zu erklären, dass dessen Verhalten ihm gegenüber nicht in Ordnung ist. Bileam wird darüber zusehends hellhörig und nachdenklich. Der, der bisher erniedrigte, wird nun selbst durch sein Lasttier erniedrigt, das offenbar mehr mit Geist und Hellsichtigkeit begabt ist als sein Herr. Und: die Eselin spricht eine menschliche Sprache, während Bileam auf seine physische Durchsetzungskraft baut, wie es eigentlich im Reich der Tiere üblich ist. Die Geschichte Bileams und seiner Eselin ist ein Spiegelbild seiner inneren Verfassung. Die Eselin steht zwischen den sich widerstreitenden Ansprüchen zweier Herren - Gottes Engel und Bileams. Und Bileam steht zwischen zwei sich widerstreitenden Ansprüchen: Balaks und Gottes Willen. 110
Die Eselin entscheidet sich für den Boten Gottes, sie hört auf ihn und geht im wahrsten Sinne des Wortes vor ihm auf die Knie. Bileam dagegen legt erst einen langen Weg zurück, bis er versteht, dass er am Ende vor Gott kapitulieren muss und mit Balak keine gemeinsame Sache machen kann. Ironischerweise wird hier das Tier – zudem noch eine Eselin - als die für Gottes Willen empfänglichere Kreatur dargestellt als der Mensch, der sich oft als Krönung der Schöpfung versteht. Die Geschichte Bileams weist Ähnlichkeiten mit der Geschichte der Bindung Isaaks auf. In beiden Erzählungen geht es um eine Reise auf einem Esel. Auf Gottes Befehl hin bricht Abraham auf, Bileam geht gegen Gottes Willen. Abrahams Ziel ist es, Gottes Befehl zu erfüllen. Bileam steht frühmorgens auf und folgt seinem eigenen Willen - Baraks Wunsch zu erfüllen. In der Geschichte der Akeda repräsentiert die Eselin die physische und Abraham die spirituelle Welt. In unserem Abschnitt verhält es sich dagegen gerade umgekehrt. Den jeweils zur Rahmenerzählung gehörenden Begleiter kommt ebenfalls unterschiedliche Erzählfunktion zu: Die beiden Abraham begleitenden Knechte lässt er ab einem bestimmten Punkt des Geschehens zurück (1. Mose 22,3), weil sie nicht zu der ihm zugänglichen spirituellen Welt gehören, während Bileams Knechte ihn fortwährend in seiner physisch bestimmten Welt begleiten (4. Mose 22,22). In der Akeda-Erzählung ist es Abraham, der die von Gott bestimmte Stätte ortet und den Widder als Opfertier entdeckt. Dagegen tappt Bileam lange blind durch die Erzählhandlung, während seine Eselin schon lange erkannt hat, was um ihn herum von Gott geschieht. In beiden Geschichten tritt ein Engel Gottes auf und verhindert jeweils die vom Ewigen nicht gewünschte Tat des Menschen. Abraham hält er von der Opferung seines Sohnes ab, Bileam stellt er sich in den Weg, um 111
ihn neu auszurichten, ihn für Gott brauchbar zu machen. Abraham meint, seinen Sohn nach Gottes Willen zu opfern. Bileam legt es gezielt darauf an, ein ganzes Volk zu vernichten. Jedoch erkennt er seine Sünde und will umkehren. Überheblichkeit, Betrug und das Streben nach Geld und Ehre sind hier im Spiel. Bileam gibt zwar vor, Gottes Willen folgen zu wollen, aber de facto will er Balak dienen, in der Erwartung, zu guter Letzt selbst geehrt zu werden. Die Erzählung konfrontiert uns mit der Einsicht, dass man nicht zwei Herren gleichzeitig dienen kann. Der Mensch hat die Möglichkeit, frei zu wählen und dann auch die Pflicht, die Verantwortung für seine Wahl zu tragen. Am Ende erfahren wir, dass der Engel erschien, nicht um zu verhindern, dass Bileam nach Moab geht, sondern, um ihn zunächst nach seinem eigenen Willen ziehen zu lassen, ihm dann die Augen über seine wahren Absichten zu öffnen – und sie zu läutern: „Zieh hin mit den Männern, aber nichts anderes, als was ich dir sagen werde, sollst du reden. So zog Bileam mit den Fürsten Balaks“ (22,35) – und so wird dieser Gang Bileams nach Moab gezielt Segen nach Israel bringen.
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Pinchas – 4. Mose 25,10 – 30,1
Starkes Geschlecht In Pinchas, dem Abschnitt der Frauen, werden uns fünf Töchter vorgestellt, die für ihre Rechte kämpfen. Sie gründen eine „Frauenliga gegen Enttäuschung“ und erstreiten sich einen Platz im Land und Volk Israel. Was war geschehen? Während der Wüstenwanderung war der Vater Zelophhad verstorben. Die verwaisten Töchter kannten sich offenbar gut in den Vorschriften über die Erbschaftsrechte aus. Demnach würden sie bei der bevorstehenden Verteilung des Landes leer auszugehen. Diese Aussicht ruft ihren couragierten Widerstand auf den Plan. Sie treten vor Mose hin, klagen ihm ihr Leid und formulieren ihren Anspruch gerade heraus: „Warum soll denn unseres Vaters Name in seinem Geschlecht untergehen, weil er keinen Sohn hat? Gebt uns auch ein Erbgut unter den Brüdern unseres Vaters.“ Unsere Weisen loben diese fünf Schwestern wegen der Art und Weise, wie sie ihr Recht erstritten haben. Im Midrasch Jalkut Schemoni erklärt Rabbi Nathan: „Schöner als die Kraft der Männer, ist die der Frauen, um uns zu belehren.“ Sie treten erstaunlicherweise zu der Zeit an Moses heran, als die Kinder Israel sich beschweren. Moses antwortete den aufbegehrenden Frauen: Das Volk möchte nach Ägypten zurück und ihr verlangt einen Anteil im Land Israel? Sie antworteten: Wir sind fest davon überzeugt, dass am Ende das ganze Volk in Israel leben wird. „Am Ort wo sich noch kein Mann befindet, soll man dafür sorgen, einen Mann anzusiedeln.“ (Jalkut Schemoni, Abschnitt Pinchas). Der Midrasch gibt uns Einblick in die damalige innere Verfasstheit der Kinder Israel. Das Volk wanderte 40 Jahre durch die Wüste. Auf dem langen, strapaziösen Weg war es müde geworden. Enttäuschung über die 113
von G’tt verheißene Freiheit nach der Knechtschaft in Ägypten stellte sich ein. Die Israeliten hatten ihre Hoffnungen und Visionen verloren. Ihre Schritte waren voller Depressionen. Das Volk glaubte nicht mehr daran, dass es eines Tages aus dieser Wüste wieder heraus käme und das Land seiner Vorfahren erreichen würde. In dieser niedergedrückten Stimmung hissten die fünf Töchter wieder die Flagge der Hoffnung über die Gemüter ihres Volks. Sie nahmen das Wort des Midrasch ernst und setzen sich für seine Verwirklichung ein: Am Ort, wo sich noch kein Mann befindet, soll man dafür sorgen, einen Mann anzusiedeln. Die Frauen, von denen oft gesagt wird, sie seien das schwache Geschlecht, sie beweisen gerade hier Männlichkeit, unter den öden Bedingungen der Wüste, in angespannter Lage. Sie tun das, was man eigentlich von den Männern erwartet hätte: Schwierige und schmerzhafte Bedingungen zu überwinden. Es sei nur angemerkt, dass es ebenfalls die Frauen waren, die sich zunächst der Herstellung des goldenen Kalbes am Sinai verweigerten. Dafür wollten sie ihren Schmuck nicht hergeben. In unserem Wochenabschnitt beweisen die Töchter Zelophhads mit ihrem mutigen und stolzen Auftreten die Unabhängigkeit ihres Denkens. Sie brechen dem Optimismus wieder Bahn, der den Glauben ihres Volkes an seine Zukunft im verheißenen Land Israel beschwört. Durch das eingeforderte Erbrecht der Töchter gewinnt die Tora buchstäblich Raum im Land. Mose bringt schließlich das Anliegen der fünf verwaisten Schwestern vor G’tt. Er selbst soll das Urteil in ihrer Sache sprechen. Und tatsächlich werden die Frauen für ihr Engagement belohnt. Ihr Anliegen wird von G’tt als korrekt bestätigt: „Die Töchter Zelophhads haben recht geredet. Du sollst ihnen ein Erbgut unter den Brüdern ihres Vaters geben und sollst ihres Vaters Erbe ihnen zuwenden“ (4.Mose 27). Sie werden vom Ewigen ins Recht gesetzt und der große Rabbiner und Kommenta114
tor Raschi kommentiert: Gelobt sei der Mensch, dessen Wort G’tt bestätigt!
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דברים Dewarim – Deuteronomium REDEN
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Waetchanan – 5. Mose 3,23 – 7,11
»Auf dass es dir wohlergehe« Unser Wochenabschnitt enthält die Zehn Gebote. Das erste Mal stehen sie in der Tora im 2. Buch Moses 20. Sie bilden die Essenz, das Kernstück der Ge- und Verbote, die G’tt dem Volk Israel auf dem Berg Sinai gegeben hat. Nach der Beschreibung im 2. Buch Moses hat das gesamte Volk Israel die Zehn Gebote gehört, alle weiteren Mizwot gab G’tt Mosche, damit er sie den Kindern Israels vermittele. Auf das Gebot, den Schabbat zu halten, folgt das Gebot, Vater und Mutter zu ehren. Es wird uns jedoch im 2. und 5. Buch Moses mit kleinen Unterschieden überliefert. Im 2. Buch Moses 20,12 steht geschrieben: »Ehre Vater und Mutter, auf dass du lange lebst auf dem Boden, den der Ewige, dein G’tt, dir geben wird.« Im 5. Buch Moses 5,16 lesen wir: »Ehre Vater und Mutter, wie es der Ewige, dein G’tt, dir befohlen hat, auf dass du lange lebst und es dir wohlergehe auf dem Boden, den Er, dein G’tt dir geben wird.« Der Unterschied liegt in der Begründung »ulemaan jitav lach« – und es dir wohlergehe. Der italienische Rabbiner, Philosoph und Arzt Obadja ben Jacob Sforno (1475–1550) erklärt, bei diesem Zusatz gehe es darum, die Belohnung für die erfüllte Mizwa nicht erst in ferner Zukunft zu erwarten: »Es wird dir wohlergehen auch in dieser Welt.« Noch zu unseren Lebzeiten, in dieser ersten Welt, wird sich der Segen des Gehorsams gegenüber diesem Gebot auswirken und zwar nach Auffassung der Tora grenzenlos. Zwei weitere Punkte fallen auf, an denen wir einen Unterschied zu den anderen neun Geboten feststellen können. Zunächst wäre da von der 118
erwähnten Belohnung zu sprechen, die das Befolgen der Mizwa mit sich bringt. Bei den übrigen der Zehn Gebote wird nicht gesagt, dass mit ihrer Erfüllung eine absehbare Belohnung erfolgt, und in diesem Falle ja sogar eine doppelte: Es wird ein langes und dazu noch ein gutes Leben versprochen. Es gibt zwei weitere Mizwot außerhalb der Zehn Gebote, die unser Thema aufnehmen und in denen ein langes Leben versprochen wird. So heißt es im 5. Buch Moses 22, 6-7: »Wenn du auf dem Wege auf ein Vogelnest triffst mit Küken oder Eiern, sei es auf irgendeinem Baume oder auf der Erde, und die Mutter auf den Küken oder den Eiern sitzt, dann darfst du nicht die Mutter samt den Jungen nehmen. Die Mutter musst du fliehen lassen, die Jungen aber darfst du dir nehmen, auf dass es dir wohlergehe und du lange lebst.« Ein weiteres Mal wird das Thema »langes Leben« in folgender Mizwa deutlich: »Ein unversehrtes und richtiges Gewicht sollst du haben, ein unversehrtes und richtiges Epha (altes Kubikmaß für Getreide, rund 40 Liter) sollst du haben, auf dass du lange auf dem Boden lebst, den der Ewige, dein G’tt, dir gibt« (5. Buch Moses 25,15). Auch in der Ausführung des Gebots, die Eltern zu ehren, gibt es vielfältige Gestaltungsmöglichkeiten. Unsere Weisen geben etliche Beispiele: »Ehre deinen Vater und deine Mutter«, indem du sie mit ausreichend Nahrung und sauberer Kleidung versorgst. Der Rambam, Maimonides (1138–1204), definiert in seinem Sefer Mizwot (Mizwa 211): Das Ehren des Vaters bestehe darin, dass der Sohn nicht den Stammplatz seines Vaters einnimmt, er nicht an dessen Stelle das Wort ergreift und es unterlässt, seine Rede zu korrigieren. Im Babylonischen wie im Jerusalemer Talmud (Peah 1. Kap) finden wir Midraschim über die Elternehrung. Rabbi Tarfon erzählt, dass er mit 119
seiner Mutter spazieren ging. Dabei entdeckte er, dass ihre Schuhe kaputt waren. Er legte seine Hände unter ihre Füße und geleitete sie im wahrsten Sinne des Wortes auf seinen Händen nach Hause. Eine weitere Geschichte lesen wir zu unserem Thema im Talmud: Dama ben Netina, ein angesehener Mann in der Stadt Aschkelon, besaß einen sehr wertvollen Stein. Dieser gehörte zu den zwölf Steinen aus der Brustplatte der Hohepriester. Als eines Tages Leute kamen, um diesen Stein zu kaufen, antwortete der Sohn, dass sein Vater schläft und er ihn nicht wecken könne. Die Besucher dachten, der von ihnen angebotene Kaufpreis wäre zu niedrig, und es handele sich deshalb bei der Antwort des Sohnes um eine Ausrede. Darum erhöhten sie den Preis mehrfach. Aber trotzdem war der Sohn nicht bereit, seinen Vater zu wecken. Zur Belohnung erhielt Dama ben Netina eine Kuh, die eine rote Kuh gebar. Diese verkaufte man später für viel Gold (Jeruschalmi Kiduschin 1. Kapitel). Insgesamt enthält die Tora vier Gebote, die mit der Ehrung der Eltern verbunden sind. Zwei positive und zwei negative. Erstens: Die Eltern sollen durch alle nur mögliche Hilfe und Unterstützung ihrer Kinder Ehre erfahren. Zweitens: »Vor Vater und Mutter soll ein jeder von euch Ehrfurcht haben« (3. Buch Moses 19,3). Das bedeutet, ihre Ehre nicht zu verletzen, sie zum Beispiel nicht mit dem Vornamen anzusprechen. Drittens: Man darf die Eltern nicht schlagen. Die Tora verbietet grundsätzlich, einen Menschen zu schlagen und erst recht die Eltern. Wenn jemand einen Freund schlägt und ihn dabei verletzt, bezahlt er für die verursachten Verletzungen. Derjenige aber, der seine Eltern schlägt und dadurch auch nur einen Tropfen Blut vergießt, zieht die Todesstrafe auf sich (2. Buch Moses 21,15).
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Viertens: Man darf die Eltern nicht verfluchen. Auch hier gilt das grundsätzliche Verbot der Tora, Menschen zu verfluchen. Doch Eltern zu verfluchen, ist weit schlimmer. »Denn wenn jemand seinen Vater oder seine Mutter verflucht, so soll er getötet werden: Wenn er seinen Vater, seine Mutter verflucht hat, komme sein Blut über ihn« (3. Buch Moses 20,9).
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Waetchanan – 5. Mose 3,23 – 7,11
Schma Israel Im Abschnitt Waetchanan finden wir eines der zentralsten Gebete des Volkes Israel, die Wirbelsäule des jüdischen Gebets. An ihm hielten sich die Juden auch in der Schoa fest, als unzählige von ihnen wie Schlachtvieh in die Gaskammern gezwungen und umgebracht wurden. Mit dem Rauch aus den Verbrennungsöfen stieg das Gebet der noch Lebenden in den Himmel auf: „Höre Israel, der Ewige ist unser G’tt, er ist einer“ (Dtn 6,4), im Hebräischen heißt es das „Schma“. Worin besteht die Besonderheit, die Kraft und das Geheimnis dieses Verses? Warum avancierte es zum Hauptstück des jüdischen Glaubens? Es begründet für den Juden kurz und knapp gefasst den Monotheismus, den Glauben an den einen G’tt. Die Tora - die fünf Bücher Mose nimmt durchaus wahr, dass es für Nichtjuden andere Götter gibt. Das bringt sie zum Beispiel zum Ausdruck, wenn sie fragt: „Wer ist wie du unter den Göttern, Ewiger?“ Der reich bevölkerte Götterhimmel existiert wohl, aber für Israel ist die Entscheidung gefallen. Es ist von G’tt dem Herrn erwählt und durch seine Erwählung allein an IHN gebunden. „Du sollst keine anderen Götter haben vor meinem Angesicht“ - auch dieser Beginn der Zehn Gebote, die sich nach ihrer Erwähnung im 2. Buch Mose in unserem Abschnitt ein zweites Mal finden, betonen die Unterscheidung Israels von den anderen Völkern durch seine Bindung an den einen G’tt. Andere Völker mögen andere Götter erfinden, aber Israel ist von dem EINEN G’tt gefunden worden. Ein weiterer Vers unseres Abschnitts stellt den Glauben an G’ttes Einheit heraus. Mose sagt dem Volk Israel: „Das hast du selbst zu sehen bekommen, damit du erkennest, dass der Ewige der wahre G’tt ist und keiner außer ihm (Dtn 4,35). 122
Hier wird es eng. Neben dem Ewigen bleibt kein Platz mehr für einen weiteren G’tt, ein Wesen, das seiner Souveränität und Machtfülle gleichkäme. Nur der Glaube an einen G’tt, an den einen G’tt und nicht an viele Götter kann den Menschen dazu bringen, seine Liebe mit ganzer Kraft und von ganzer Seele einzusetzen. Die Verehrung vieler bzw. verschiedener Götter schwächt und reduziert die totale Kraft seiner Liebe. Das „Schema“ Gebet beinhaltet drei Themen: Das Fundament des jüdischen Glaubens, seine Bedeutung und die Methodik dieses Glaubens, wie also Körper, Seele und Geist von ihm geleitet und in Dienst genommen werden. Die den Juden tief in seinem Inneren prägende Bedeutung des Schma möchte ich noch an einer Begebenheit veranschaulichen. Sie wird in einer Geschichte erzählt, die sich während der Schoa zugetragen hat: Ein jüdischer Wissenschaftler wurde nach Auschwitz deportiert. Die Nazis verbrannten alle seine wissenschaftlichen Schriften. In diesem Moment fühlte der Betroffene wie seine Persönlichkeit zerstört wurde. Dieses Gefühl wurde noch verstärkt, als er nach dem Duschen, der Desinfektion und der Kahlrasur, Kleider anziehen musste, die nicht seiner Größe entsprachen. Den Großen wurden absichtlich zu kleine Kleider gegeben, den Kleinen zu große. Das lächerliche und zugleich einheitliche Aussehen der Gefangenen sollte eine Metamorphose ihrer Persönlichkeit herbeiführen, ja, sie sich auflösen und zerbrechen lassen. Nachdem der jüdische Wissenschaftler seine Kleider bekommen hatte, steckte er seine Hand in die Hemdtasche und fand dort ein Stück Papier, das wohl einem früheren Opfer gehörte. Dieses Stück Papier war ein aus einem Gebetbuch herausgetrenntes Blatt, auf dem der Jude das Schma Israel fand. In diesem Moment kehrte das Gefühl seiner Persönlichkeit und seine Kraft in ihn zurück. Das Lob des einen und einzigen G’ttes
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Israels gab diesem Menschen seine Würde und Unverwechselbarkeit inmitten der mörderischen Gleichmacherei von Auschwitz wieder.
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Schoftim – 5. Mose 16,18 – 21,9
Hochmut kommt vor dem Fall Der Wochenabschnitt Schoftim ist reich an Gesetzen, die vom Aufbau eines jüdischen Staates handeln. Darunter befindet sich auch das Königsgesetz. Nach der Landnahme wünschte sich das Volk Israel einen König, wie ihn andere Völker hatten. Die Aussagen im 5. Buch Mose (17, 14–20) sind als eine Reaktion auf diese – nicht durchgängig positiv bewertete – Entwicklung in Israel zu verstehen. Davon zeugen auch die Stimmen unserer Weisen. So sagt Rabbi Jehuda über den Vers: »Du sollst als König über dich setzen«, dass man ihn schon um der Erkenntnis willen fürchten und ehren soll, weil das Volk mit einem König nicht mehr wie eine hirtenlose Herde existiere. Ibn Esra ist der Meinung, dass es zur Freiwilligkeit gehöre und keine Mizwa darstelle, ob Israel einen König einsetze oder nicht. Demgegenüber sagt Rabbi Abarbanel (1437– 1508): Einen menschlichen König zu haben, richte sich gegen den Willen des Himmelreiches, weil die Tora das Ziel anstrebt, ausschließlich G’tt als König zu verehren. Rabbiner Obadja Sforno (1475–1550) erklärt wie Abarbanel, dass G’tt sich gegen die Idee einer Monarchie stelle. Sforno ordnet sie den rein »gojischen« Ideen zu, die im Endeffekt zum Frevel gegen G’tt führten. Aharon Halevi (1235–1290) aus Barcelona schreibt in seinem Sefer Hachinuch, das die 613 Gebote erklärt: Einen König zu krönen, sei eine positive Mizwa. Sie verpflichte die Israeliten zum Gehorsam gegenüber den Geboten. Ein König habe das Recht, denjenigen zu töten, der ihm den Respekt verweigert. Da es nun einmal zur Herausbildung einer Monarchie gekommen ist, setzt die Tora ihr Grenzen. Sie warnt Israel davor, den Wegen der Gojim zu folgen und sich eine Regierung zu schaffen, wie es unter den Völkern 125
üblich ist. In der Auslegung der Tora versuchen unsere Weisen zu zeigen, dass es bei der Errichtung eines Königtums vor allem darauf ankommt, einen Staat mit jüdischem Charakter zu schaffen. Auf dessen Geist und Inspiration kommt es an. So wie die Tora die besondere Stellung, das Herausgehobensein des Königs betont, so thematisiert sie auch eindringlich seine Kehrseite, die sich in der Gaawa, der Überheblichkeit zeigen kann. Königliche Weisheit weiß hier ein klares Wort zu sprechen: »Ein stolzes Herz ist dem Herrn ein Gräuel und wird gewiss nicht ungestraft bleiben« (Mischle 16,5). Das Buch Orchot Zadikim (Lebensweise der Gerechten) ergänzt, dass Überheblichkeit dazu führt, nach Ehre zu streben. Das wird am Beispiel Korachs und seiner Gemeinde erklärt. Wie gestaltet sich nun die göttliche Inspiration (Theorie) des israelitischen Königtums im Verhältnis zum konkreten Fall eines amtierenden Königs (Praxis)? Wie kann ein König, den G’tt selbst gewählt hat, davor gefeit sein, nicht stolz und überheblich zu werden? Ist ein Mensch imstande, Ehre anzunehmen, ohne sie zu genießen und sich darauf etwas einzubilden? Mit welchen Mitteln kann ein König gegen diese nachteilige Eigenschaft angehen? Hier greift das Königsgesetz mit seinen Anweisungen, die Gefahr drohender Überheblichkeit (Gaawa) zu minimieren. Demnach soll sich der durch seine Position schon mit einem erheblichen Vermögen ausgestattete Herrschende in Bescheidenheit üben und mit dem zufrieden sein, was er hat. Die Vermögensfrage berührt auch die Forderung, die Anzahl der Frauen zu begrenzen, da diese dem König auf der Tasche liegen und letztlich die Staatskosten in die Höhe treiben. Rabbi Bachjeh (11. Jahrhundert) nennt einen weiteren Grund: Eine Frau kann einen Mann davon abbringen, G’tt zu dienen. Eine religiöse Auf126
fassung behauptet, dass ein böser Trieb in der Frau verankert sei. Sie habe die Kraft, den Mann auf ihre Seite zu ziehen, so wie es die Geschichte von Adam und Eva im Paradies erzählt. Ein Mann, der eine dergestalt starke Frau hat, soll versuchen, gegen ihre Triebe zu kämpfen, damit sie mit ihm auf einem Level bleibt. Nach dem Verständnis der Kabbala ist das ein Teil des Tikkun, der sich auf das lebenslange Zusammensein von Mann und Frau bezieht. Aber wozu dient das Verbot der Pferde? Rabbi Bachjeh erklärt: Damit der König das Volk Israel nicht nach Ägypten zurückbringt, da man damals von dort die Pferde bezog. Mit dem Land der Knechtschaft verbindet sich das Bild der 49 Tore der Unreinheit. Wären die versklavten Israeliten auch nur wenige Zeit länger dort geblieben, wären sie der akut drohenden Ansteckungsgefahr durch den ägyptischen Götzendienst erlegen und durch das 50. Tor der Unreinheit getreten, das ihren 2. Mose aus der Gefangenschaft unmöglich gemacht hätte. Die Torarolle, die der einzusetzende König abschreiben soll, können wir als einen »Schulchan Aruch« ansehen. Sie soll die ganze Zeit bei ihm sein. Wenn er in den Krieg zieht, nimmt er sie mit, und wenn er zu Gericht sitzt, bleibt sie bei ihm (Babylonischer Talmud, Sanhedrin 21,2). Nach unserem Urteil gilt König Salomo im Blick auf alle drei Kriterien als durchgefallen. Er besaß viele Pferde, hatte 1000 Frauen, häufte enorme Besitztümer an, und am Ende verließ er sich auf seine Weisheit, die ihn zum Götzendienst verführte. Es stellt sich nach diesem ernüchternden Befund die Frage, warum Salomo, der klügste Mensch der damaligen Zeit, obwohl er Götzendienst ausübte, dennoch im Tanach so groß gehandelt wird. Neben ihm sind wir Staub. Wie können wir denn dann noch gegen das Böse kämpfen, wenn er es schon nicht schaffte? Wenn wir uns aber einmal richtig in Salomos Geschichte und literarisches Schaffen vertiefen, dann stärken sie uns den Glauben und öffnen 127
uns die Augen für seinen Weg und für letzte Erkenntnis. Meiner Meinung nach erschließt sich das Schicksal dieses Weisen von seinem Buch Kohelet her. Fassen wir dieses als sein Vermächtnis auf, dann lesen wir, dass Salomo sich selbst und sein Königtum darin – wie in einem Spiegel – kritisch sieht, aber seinen Glauben an G’ttes Recht und Willen groß macht und hochhält über seine eigenen Verfehlungen hinaus. Anfang und Ende dieses Weisheitsbuches bestärken uns in der Annahme dieser Sicht auf die Selbsteinschätzung Salomos und seinen Glauben an G’tt: Es ist alles ganz eitel, sprach der Prediger, es ist alles ganz eitel (Kohelet 1,2). G’tt wird alle Werke vor Gericht bringen, alles, was verborgen ist, es sei gut oder böse (Kohelet 12,14). Am Ende sei die Frage erlaubt, was mit unseren Regierungen ist. Erfüllen sie die Maßstäbe, wenn wir das Königsgesetz an sie anlegen? Leider ist das Gegenteil der Fall: Viele Politiker – auch israelische – standen schon vor Gericht, weil sie ihre Position zum eigenen Vorteil ausnutzten und sich bestechen ließen. Die Medien bringen uns täglich traurige Bilder ins Haus: Premierminister und Minister wechseln so oft wie Fußballspieler einer Mannschaft. Es liegt auf der Hand: Regierungen bleiben nicht lange an der Macht, weil sie die Gesetze des Landes brechen.
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Ki Teze – 5. Mose 21,10 – 25,19
Verheißung langen Lebens Der Abschnitt Ki Teze ist voller Mizwot. Er enthält ganze 74 von insgesamt 613 Geboten, die wir in 54 Abschnitten der Tora finden. Im Folgenden wollen wir uns einer Mizwa zuwenden, die im 5. Buch Mose 22, 6–7 geschrieben steht: »Wenn du unterwegs ein Vogelnest findest auf einem Baum oder auf der Erde mit Jungen oder mit Eiern, und die Mutter sitzt auf den Jungen oder auf den Eiern, so sollst du nicht die Mutter mit den Jungen nehmen, sondern du darfst die Jungen nehmen, aber die Mutter sollst du fliegen lassen, auf dass dir’s wohlergehe und du lange lebst.« Über das lange Leben spricht die Tora auch in den Zehn Geboten. Zum einen im 2. Buch Mose 20,12: »Ehre deinen Vater und deine Mutter, auf dass du lange lebst auf dem Boden, den der Ewige, dein G’tt dir geben wird.« Zum anderen im 5. Buch Mose 5,16: »Ehre Vater und Mutter, wie es der Ewige, dein G’tt, dir befohlen hat, auf dass du lange lebst und es dir wohlergehe auf dem Boden, den der Ewige, dein G’tt, dir geben wird.« Unsere Weisen betonen, dass sich die Rede vom »langen Leben« und dem »Guten« nur im Zusammenhang mit dem Elterngebot und der Aufforderung, »die Vogelmutter fliegen zu lassen«, findet. Nachmanides, der Ramban (1194–1270), sagt zu diesem Gebot, dass es der Mizwa vom 3. Buch Mose 22,28 entspricht: »Ein Rind oder ein Schaf dürft ihr nicht zusammen mit seinem Jungen an einem Tag schlachten.« Beide Gebote verfolgen eine pädagogische Absicht: Der Mensch soll nicht brutal handeln. Diese Mizwa zielt auf die Verbesserung der inneren Welt (Tikkun ha’olam hapnimi). Hier steht nicht im Mittelpunkt, Erbarmen mit dem Geschöpf zu wecken, sondern das brutale Handeln des Menschen zu 129
minimieren, ihn zum Gutsein zu erziehen. Des Weiteren führt Ramban aus: Wir haben kein Recht, die Welt G’ttes, Sein Universum, zu verletzen. Seine Geschöpfe dürfen einander nicht ängstigen. Hier geht es darum, das Leiden des Vogels samt seines Jungen zu vermeiden. Das nennen wir Tikkun olam chizoni, die Verbesserung der äußeren Welt. Wenden wir uns der Frage zu, ob es Sinn der Mizwot ist, die Innen- und Außenwelt der Menschen zu verbessern. Schauen wir uns zum Beispiel das 3. Buch Mose 23,22 an: »Wenn ihr in eurem Land Ernte haltet, so sollst du die Ecken deines Feldes nicht völlig abernten, noch bei deiner Ernte Nachlese halten, dem Armen und dem Fremden sollst du sie überlassen« (Leket). Sind die sozialen Mizwot gegeben, um den Bauern, der dieses Feld besitzt, zum Guten zu erziehen, oder um den Armen eine Möglichkeit zu bieten, sich mit dem Übriggebliebenen zu versorgen? Maimonides, der Rambam (1138–1204), erklärt in seinem Buch Führer der Verirrten die Gebote vom Fliegenlassen der Vogelmutter und vom Schlachten des Rindes und des Schafes. Er erkennt hier eine an den Menschen ergehende Warnung, dass auch Tiere Schmerzen empfinden und Gefühle haben. So wie der Mensch denkt und fühlt, so denkt und fühlt das Tier in seiner Welt. Die genannten Verbote nehmen den Schmerz des Tieres ernst. Sie lassen sich nicht von der Eigenschaft der Barmherzigkeit G’ttes ableiten, betont der Rambam. Die Gebote entsprechen Seinem Willen, aber sie sind für uns in ihrer Sinnhaftigkeit nicht zu ergründen. Demgegenüber ist der Ramban der Meinung, alle Gebote hätten für uns einen nachvollziehbaren Sinn. Warum ist die Erfüllung der genannten Mizwot mit der Verheißung eines langen Lebens verbunden? In ihnen ist das Geheimnis der Existenz der Welt, der Menschheit verborgen. Ein Mensch, der dieser Welt hilft 130
zu existieren, verdient sich ein langes Leben in ihr. Wenn also ein Mensch, wie in unserem Fall, darauf verzichtet, mit dem Gelege auch den Muttervogel zu nehmen, dann bleibt die Kontinuität des Lebens gewahrt, es kann sich regenerieren und weiterentwickeln. Dementsprechend verhält es sich mit dem Elterngebot. Wenn ein Mensch seine Eltern ehrt, indem er zum Beispiel den Kontakt zu ihnen pflegt, erzieht er durch sein Vorbild zugleich seine Kinder. Sie werden in seine Fußstapfen treten und sich gleichermaßen gegenüber ihrer vorhergehenden, älteren Generation verhalten. Wir zeigen, dass wir mit den Eltern fühlen, wir ebnen den Weg für den Respekt zwischen den Generationen. So entwickelt und stabilisiert das Befolgen des Elterngebots die Welt, indem es dazu auffordert, dass sich die Generationen miteinander verbinden und sich dadurch gegenseitig ein langes Leben schenken. Im Talmudtraktat Chagiga wird von zwei großen Toragelehrten erzählt, von Rabbi Elischa ben Abuja – genannt Acher, der Andere – und seinem Freund Rabbi Akiwa, der durch die Römer große Leiden und Qualen erlitt und schließlich für den Namen G’ttes als Märtyrer starb. Diese Begebenheit erklärt uns, warum Rabbi Elischa ben Abuja »der Andere« genannt wurde. Rabbi Elischa saß am See Genezareth und sah, wie ein Vater seinen Sohn aufforderte, auf einen Dattelbaum zu steigen, um ihm ein Gelege herabzuholen, den Muttervogel aber fliegen zu lassen. Der Sohn folgte dem Auftrag des Vaters. Er kletterte auf den Baum, ließ die Mutter fliegen und nahm die Eier an sich. Beim Hinunterklettern stürzte er jedoch vom Baum und starb. Als Rabbi Elischa ben Abuja das sah, bebte seine Seele. Er fragte mit leiderfülltem Herzen: Dieser Junge hat doch aber die beiden Mizwot erfüllt! Er hat die Vogelmutter freigelassen und den Vater mit seinem Gehorsam geehrt. Aber am Ende starb er. Was ist aus dem »langen Leben« und »dem Guten« geworden, das die Erfüllung der Gebote verspricht? Der Ausgang dieser Geschichte enttäuschte Rabbi Elischa so 131
tief und erschütterte sein G’ttvertrauen dermaßen, dass er seinen Glauben verlor. Darin bestand sein Fehler. Im Gegensatz zu ihm bewahrte sein Freund Rabbi Akiwa seinen Glauben trotz der großen Qualen bis in den Tod. Seine Leiden verstärkten sein G’ttvertrauen sogar noch. Er blieb mit Freuden G’tt treu und führt uns den Unterschied der beiden großen Toragelehrten eindrücklich vor Augen.
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Nizawim – 5. Mose 29,9 – 30,20
Teschuwa Die Wochenabschnitte Nizawim und Wajelech werden am Schabbat vor Rosch Haschana gelesen. Es geht darin um die beiden wichtigen Themen Teschuwa (Umkehr) und die freie Wahl des Menschen. Nizawim ist der einzige Abschnitt in der Tora, der das Thema Teschuwa ausführlich und vertiefend darstellt. Der Begriff kommt aus dem Hebräischen. »Schuw« heißt zurückkehren zu einer bestimmten Situation, oder in unserem Sinne: zurückkehren zum Punkt vor der begangenen Sünde. »Dass Du zurückkehrst zum Ewigen, deinem ewigen G’tt. So wird der Ewige, dein G’tt, zurückführen deine Gefangenen.« Viermal lesen wir den Begriff Teschuwa. »Ihr steht heute alle vor dem Ewigen« (5. Buch Moses 29,9). Diese Worte zu Beginn unseres Wochenabschnitts wenden sich an jeden aus dem Volke Israel. Sie fordern dazu auf, persönlich vor G’tt hinzutreten und Rechenschaft abzulegen. Das Thema Teschuwa ist schwer zu verstehen und zu erklären. Es entsteht in der Seele des Menschen das Bedürfnis, sich vor G’tt zu bekennen. Dabei ist besonders wichtig, die Sünde auszusprechen und sie nicht zu wiederholen. Der Elul ist uns als Monat der Erweckung gegeben, um in alle Räume unseres Herzens einzutreten und sie zu durchleuchten. Jeden unserer Schritte müssen wir ernsthaft und tiefgründig bedenken, um Rosch Haschana als Neujahr und als Tag des Gerichts möglichst positiv zu beeinflussen. Die Frage, wer gerecht ist und wer frevelhaft, entscheidet nur G’tt, denn nur Er allein weiß, was in unseren Herzen vorgeht.
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Im Abendgebet am Jom Kippur beten wir: »Du kennst die Geheimnisse der Welt, das Verborgenste und Verhüllteste, alles Lebende. Du durchforschst alle Gemächer unseres Inneren und prüfst Herz und Nieren ... Nichts ist vor Dir verborgen und nichts verhüllt gegenüber Deinen Augen.« Nicht jeder Mensch darf sich als Zaddik bezeichnen, denn es steht geschrieben: »da es unter Menschen keinen Gerechten auf Erden gibt, der nur Gutes tut und nicht sündigt«, und »denn da ist kein Mensch, der nicht sündigte« (1. Könige 8,46). Aber ebenso sollte man sich auch nicht als Frevler sehen, denn man könnte aus Enttäuschung über sich selbst davon abgehalten werden, die Welt zu verbessern (Tikkun Olam). Daher ist zu empfehlen, sich als durchschnittlichen Menschen zu betrachten. Der Talmud erzählt, dass G’tt noch vor der Erschaffung der Welt die Teschuwa schuf (Pessachim 45a), weil Er im Voraus wusste, dass der Mensch sündigen wird und die Umkehr braucht. Die Teschuwa ist eine besondere und übernatürliche Schöpfung G’ttes, die die Möglichkeit eröffnet, in die Vergangenheit zurückzuschauen, um die Gegenwart korrigieren zu können. Daher besitzt die Teschuwa einen höheren Stellenwert als die Schöpfung, und der Mensch kann sie jederzeit finden. Wer die eine wahre Teschuwa vollbracht hat, der hat damit auch einen sehr hohen Rang erreicht. Nicht umsonst sagen unsere Weisen: »An der Stelle, wo die Menschen ihre Teschuwa erreicht haben, stehen sie, während Zaddikim nicht dort stehen können« (Brachot 34b). Daher ist es gut, die Vorschriften der Teschuwa gründlich zu studieren, um sie in ihrem wahren Sinn befolgen zu können. Schön drückt dies der Prophet Jesaja aus: »Suchet den Ewigen, da Er sich finden lässt, rufet Ihn an, da Er nahe ist« (Jesaja 55,6). 134
Der Ewige ist zwischen Rosch Haschana und Jom Kippur unter uns. Deshalb müssen wir diese Zeit nutzen, um umzukehren, mit einer Kraft, die für das ganze kommende Jahr ausreicht. Bei der Umkehr ist Widuji, die Reue, ein wichtiges Prinzip. Demnach sollen wir unsere Sünden ehrlich bekennen, indem wir sie aus tiefstem Herzen und mit Tränen vor G’tt aussprechen. Im Judentum ist bekannt, dass ein unter Tränen gesprochenes Gebet eine starke Wirkung hat. So haben wir es von Channa, der Mutter des Propheten Samuel, gelernt (1. Buch Samuel 1 und 2). Ein Gebet kann auch leise aus tiefstem Herzen gesagt werden. Mit ehrlich vorgetragenen Äußerungen machen wir die Teschuwa. Dies bedeutet, dass wir G’tt von nun an mit Freude dienen können. Das zweite, anfangs erwähnte Thema behandelt den freien Willen, das heißt, die dem Menschen eingeräumte Möglichkeit, sich frei zu entscheiden. Gibt es sie wirklich? »Siehe, ich lege dir heute vor das Leben und das Gute, auch den Tod und das Böse« (5. Buch Moses 30,15). Jeder hat die Möglichkeit, frei zu wählen. Aber in welchem Maß darf der Mensch, der ja selbst nur Teil der Natur ist, in der wiederum nur Dinge passieren, die außerhalb seiner Macht liegen, denn nun eigentlich wirklich wählen? Religiöse Juden wissen, dass alles, was mit ihnen geschieht, von G’tt kommt. Mit der Frage nach dem Ausmaß des freien Willens setzten sich sowohl Fromme als auch der Religion fern stehende Philosophen auseinander. Als Beispiel ließe sich hier der Disput zwischen zwei berühmten orthodoxen Rabbinern des zwölften Jahrhunderts anführen: Rambam und Rabbi Chasdai Karkasch. Karkasch vertrat eine noch strengere orthodoxe Auffassung als Rambam. Während Rambam betonte, dass der Mensch durchaus die 135
Möglichkeit der freien Wahl habe, verneinte Karkasch dies und behauptete genau das Gegenteil. Auf ebenso gegensätzliche Positionen treffen wir auch im Kreis der Philosophen. Immanuel Kant (1724-1804) zum Beispiel, ein Atheist, teilte die Sichtweise Rambams. Doch Baruch Spinoza (1632-1677), ebenfalls ein Atheist, schloss sich Rabbi Karkaschs Meinung an und sprach dem Menschen die freie Wahl ab. Daraus lässt sich schlussfolgern, dass die Auseinandersetzung um den freien Willen nicht nur zwischen Gläubigen und Ungläubigen unterschiedlich geführt wird, sondern praktisch auch in jedem Menschen individuell in dessen tiefstem Bewusstsein abläuft. Somit kann die Diskussion dieser Frage als eine nur allgemeine Form zwischenmenschlicher Auseinandersetzung auf der Suche nach der Wahrheit verstanden werden. Die von jedem Einzelnen gewonnene Erkenntnis und sein daraus resultierendes Verhalten machen letztendlich die Teilung der Menschen in die beiden Lager Gläubige und Nichtgläubige aus.
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Zu den jüdischen Festen
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Das Pessachfest Der von allen herbeigesehnte Frühling erneuert nicht nur die Natur, sondern steht im Judentum auch für die Erneuerung des Volkes Israel. So lesen wir in der Tora (Fünf Bücher Mose): „Achte auf den Frühlingsmonat, dass du in ihm das Überschreitungsopfer dem Ewigen, deinem G’tt, darbringst; denn im Frühlingsmonat hat dich der Ewige dein G’tt in der Nacht aus Ägypten geführt. (5.Mose 16,1) Viele kennen diese Geschichte: 210 Jahre waren die Israeliten in Ägypten versklavt, bis G’tt sich ihrer erbarmte und Mose mit seinem Bruder Aaron zum Pharao schickte, damit er ihnen den Auszug erlaubte. Aber dieser ließ es auf einen „Götterstreit“ ankommen, in dem sich die ägyptischen Götter gegenüber dem G’tt Israels als stärker und siegreich erweisen sollten. Doch nach der zehnten Plage, die ganz Ägypten widerfuhr, war der Pharao endlich „weichgekocht“ und ließ die Kinder Israel ziehen. Was war geschehen? In einer Nacht hatte G’tt alle ägyptische männliche Erstgeburt von Mensch und Tier getötet, nur die Israeliten blieben verschont, an ihren Türen schritt er vorüber. Und von diesem „Vorüberschreiten G’ttes“ hat das Pessachfest seinen Namen, denn „pessach“ heißt, etwas zu überschreiten, ohne es zu berühren. Daraufhin hatte es nun der Pharao sehr eilig, seine israelitischen Sklaven loszuwerden. Von ihrem Reiseproviant heißt es im 2.Mose: „ Und das Volk trug den rohen Teig, ehe er durchsäuert war, ihre Backschüsseln in ihre Mäntel gewickelt, auf ihren Schultern.“ (12,34) Nach dem geglückten 2. Mose ergeht an das Volk Israel die o.g. Mizwa (Gebot), das Passafest alljährlich im ersten Monat des jüdischen Kalenders, im „Nissan“ zu feiern. Jeder Generation soll durch dieses größte Familienfest der Juden die Befreiung aus der Sklaverei in Ägypten über138
liefert und so nahegebracht werden, dass einer jeder von sich sagt, er wäre selbst aus der Dienstbarkeit Pharaos ausgezogen. „Ihr sollt euren Söhnen sagen an demselben Tage: Das halten wir um dessentwillen, was uns der Herr getan hat, als wir aus Ägypten zogen.“ (2.Mose 13,8) Das Pessachfest dauert sieben Tage in Israel und acht Tage in der Diaspora. Das zentrale Gebot dieses Festes besteht in der Feier des ersten, des Sederabends. „Seder“ heißt „Ordnung“ und an diesem Abend folgt alles einer genauen Ordnung, die in der Haggada („Programmschrift“) angegeben ist. Es wird die Geschichte des Auszugs aus Ägypten erzählt und die Speisen gezeigt, die auf der Sederschüssel liegen, um die Erzählung zu unterstützen. Die symbolischen Speisen bestehen aus gebratenem Knochen (Opfer des Passalamms), gekochtem Ei, Charosset Mus (Erinnerung an die Ziegelherstellung in Ägypten), bittere Kräuter, wie z.B. Meerrettich (stehen für die Bitternis der Sklaverei), Salzwasser (Tränen und Schweiß der Sklaverei), drei Mazzot (ungesäuertes Brot als Brot des Elends). Außerdem gehört zum Pessachfest das Verbot, Chamez (Gesäuertes) zu verzehren. Jedes Nahrungsmittel, das Sauerteig enthält und im weiteren Sinne jedes Nahrungsmittel, das Mehl einer der fünf Getreidesorten Weizen, Gerste, Hafer, Roggen und Dinkel enthält, ist Chamez, weil diese Getreidearten gären. Während des Pessachfestes wird nur das eigens für diesen Anlass vorgesehene Geschirr benutzt. Im Normalfall leitet der Vater den Abend und es gibt Familien, in denen sich das Fest bis zur Morgendämmerung hinzieht. Getreu dem Motto: Je länger man über den Auszug aus Ägypten erzählt, desto besser!
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Die Omer-Zählung Die Omer Zählung ist eine positive Mizwa aus der Tora. Wir finden sie im 3. Mose 23, 10 – 16. Das Gebot steht am Ende der ausführlichen Beschreibung eines Getreideopfers: “Sage den Israeliten und sprich zu ihnen: Wenn ihr in das Land kommt, das ich euch geben werde, und es aberntet, so sollt ihr die erste Garbe (Omer) eurer Ernte zu dem Priester bringen. Der soll die Garbe als Schwingopfer schwingen vor dem HERRN, dass sie euch wohlgefällig mache. Das soll aber der Priester tun am Tage nach dem Sabbat. Und darauf folgt die Anweisung, die bis heute als Omerzählung bekannt ist: „Danach sollt ihr zählen vom Tage nach dem Sabbat, da ihr die Garbe als Schwingopfer darbrachtet, sieben ganze Wochen. Bis zu dem Tag nach dem siebenten Sabbat, nämlich 50 Tage, sollt ihr zählen und dann ein neues Speisopfer dem HERRN opfern.” Am zweiten Abend des Pessachfestes, in der Diaspora am zweiten Sederabend, dem 16. Nissan beginnt die Omer-Zählung. Wir zählen insgesamt sieben Wochen, 49 Tage. Am 50. Tag feiern wir Schawuot – das Wochenfest. Von dieser Sieben-Wochenzählung (Schawua bedeutet auf Hebräisch Woche) hat das Fest seinen Namen. Das Wort “Omer” bedeutet wörtlich übersetzt „abgeschnittene Ähren“ und bezeichnet ein antikes Hohl- bzw. Getreidemaß, das etwa vier Liter umfasst. Am Abend des ersten Pessachtages, während seines Ausgangs, kam das Volk Israel mit seinen Führern nach Jerusalem. Dort haben sie im Tempel während einer feierlichen Zeremonie die aus dem Land Jehuda mitgebrachte Erstlingsgabe (Omer) gedroschen und die Körner gemahlen. Nachdem das Mehl 13 verschiedene Siebe passiert hatte und mit Öl und Weihrauch vermischt war, wurde es über den Altar geschwenkt. Mit dieser am 17. Nissan vollzogenen Handlung war dem Volk Israel erlaubt, sich von der neuen Ernte zu ernähren. Vorher durfte 140
kein Israelit von den Gaben der neuen Ernte etwas verzehren. Dieses Verbot nennt man issur-chadasch. Unsere Weisen schreiben, dass G’tt zu Pessach das Urteil über die Ernte der Welt fällt. Im babylonischen Talmud (Traktat Rosch haschana, Kap 16) heißt es: “G’tt wandte sich zum Volk Israel und sagte: „Bringt mir die Erstlingsernte, damit ich die Ernte auf den Feldern für euch sichten kann.“ Diese Aussage markiert den Beginn der Frühlingszeit, in der das Getreide - zuerst die Gerste - reif wird und die Ernte beginnen kann. Mit dem Verlust des Tempels ist jedoch der Ritus des Omerschwingens für uns hinfällig geworden und damit bleibt auch der verbindliche „Startschuss“ aus, sich der geernteten Gaben bedienen zu dürfen. Das in der Tora genannte Datum „am nächsten Tag nach dem Schabbat“ hat in der Zeit des zweiten Tempels heftige Diskussionen hervorgerufen. Auf der einen Seite argumentierten die Beitussen. Ihr Name leitet sich von einem gewissen Beitus, einem Schüler Antigonos Isch Sochos, ab. Sie bildeten zur Zeit des zweiten Tempels eine jüdische Sekte, standen den Zaddokäern nahe, lehnten die mündliche Tora ab - wie auch viele Prinzipien des Rabbinats, z.B. Belohnung und Strafe, Auferstehung der Toten. Nach ihrer Meinung handelt es sich bei dem „nächsten Tag nach dem Schabbat“ um den ersten Tag der Woche. Daher sollte nach ihrer Theorie die Zeit für das zu erbringende Speiseopfer immer auf den ersten Tag der Woche festgelegt werden. Im Gegensatz zu den Beitussim erklärten die Pharisäer, die die mündliche Tora akzeptierten, dass mit dem im Text genannten Schabbat der erste Feiertag von Pessach gemeint ist, nämlich der 15. Nissan. Dieser sei wie ein herkömmlicher Schabbat und alle Feiertage des Jahres - durch das Verbot zu arbeiten charakterisiert. Aus welchem Grund wurde das Gebot für das „Omerzählen“ überhaupt erteilt? Zum einen soll es uns daran erinnern, dass das Getreide zwischen 141
Pessach und Schawuot reif wird und wir um eine reiche Ernte beten. Daher heißt diese Zählung „Zählung der Garben“, die wir einsammeln. Zum anderen wohnte man in diesem Zeitraum außerhalb seines Hauses, war also unablässig auf dem Feld beschäftigt. So vermutet man, dass es im Arbeitseifer leicht dazu kommen konnte, den Termin von Schawuot zu vergessen. Wenn aber der Arbeiter die Tage zählte, dann wusste er genau, wann der 50. Tag nahte, und er konnte sich rechtzeitig auf den Weg nach Jerusalem machen, um dort die Erstlingsgabe darzubringen. Das Datum von Schawuot ist also abhängig von der Zählung der vorhergehenden Tage. Es konnte auf den 5., 6. oder 7. Siwan fallen. Deshalb bestand in der Zeit des zweiten Tempels die Gefahr, dass die Verbindung des Wochenfestes mit der Toraübergabe verloren ging, denn diese geschah an einem bestimmten Tag am Sinai und ihre Datierung konnte von daher nicht variabel sein. Um diesem Missstand zu begegnen, wurde nach der Zerstörung des Tempels und der Erfindung des Kalenders durch Hillel II. das Wochenfest durch Rabbinerentscheid auf den 6. Siwan festgelegt. Damit diente das Omerzählen auch als Vorbereitung für den Empfang der Tora. Die Kabbalisten des 16. Jahrhunderts entwickelten diese Idee der Verbindung zwischen der Omerzählung und dem Empfang der Tora weiter. So wie eine Frau, nachdem sie ihre Regel hatte, sieben Tage zählt und am achten rein wird, so hatten die Israeliten sieben Wochen – 49 Tage - gezählt, um in diesem Zeitraum aus den 49 unreinen Toren Ägyptens auszuziehen, also sich von der Unreinheit ihrer Bedrücker zu reinigen, um am 50. Tag für den Empfang der Tora am Sinai rein und aufnahmefähig zu sein. Die Tora befiehlt, sieben volle Wochen zu zählen. Ein voller Tag beginnt am Abend zuvor. So kann vom Aufgang der Sterne durch die ganze Nacht hindurch bis zur Morgendämmerung Omer gezählt werden. Derjenige, der vergessen hat zu zählen, kann am nächsten Tag zählen,
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aber ohne den Segen dabei zu sprechen. Das gilt auch für alle weiteren Tage, an denen das Zählen vergessen wurde. Nach der Zerstörung des Tempels, dessen Neubau wir ersehnen, sind diese Tage zwischen Pessach und Schawuot als Trauertage in die jüdische Geschichte eingegangen. Es ist daher Brauch, dass wir in diesem Zeitraum keine Hochzeiten feiern, uns nicht rasieren und uns nicht die Haare schneiden lassen. Im 12. Jahrhundert entschied der französische Rabbiner Zerachja ha Levi Gerondi, dass man das Zeitgebet (schehechijanu) nicht nach der Omerzählung aussprechen soll, weil es keine Erneuerungen gibt und es sich um eine Zeit der Trauer handelt. Zudem besteht keine Möglichkeit mehr, das Omer zum Tempel nach Jerusalem zu bringen. Einen weiteren Grund zur Trauer sehen wir in dem fehlgeschlagenen Bar-Kochba-Aufstand gegen die Römer, der im Jahre 132 n.d.Z., 62 Jahre nach der Zerstörung des Tempels, zwischen Pessach und Schawuot stattfand. Rabbi Akiva meinte, in Bar Kochba den Messias zu erkennen. Aus dem babylonischen Talmud (Jewamot 62,2) erfahren wir, dass 24.000 seiner Schüler in diesem Krieg gefallen sind. Eine andere Erklärung sagt, dass die Schüler Akivas schlecht übereinander redeten (laschon hara) und dafür mit einer Epidemie bestraft wurden, an deren Folge sie starben. Am 33. Tag der Omerzählung, dem Lag BaOmer, hörte die Epidemie auf. Deshalb sind an diesem Tag, dem 18. Ijar, als einzigem Datum in der Omerzeit Hochzeiten erlaubt. Es gab noch andere traurige Ereignisse in der Omerzeit. Dazu zählen unter anderem die Kreuzzüge (1096 – 1146), in denen wahllos jüdische Gemeinden zerstört und Juden in Europa verbrannt und ermordet wurden, außerdem die Schlacht im Jahre 1548-49, die durch Bogdan Chmelinzki in der Ukraine und Polen angeführt wurde und der fast 700 143
Gemeinden zum Opfer fielen. Auch der Aufstand im Warschauer Getto, der am 19. April 1943 begann, fällt in diese Zeit. Doch am 50. Tag der Omerzählung, an Schawuot, sind die sieben Wochen der Trauerzeit beendet. Nach Schawuot kann die jüdische Welt zu ihrer Alltagsroutine zurückkehren.
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Schawuot – Das Wochenfest Neben Pessach und Sukkot (Laubhüttenfest) gehört „Schawuot“ zu den drei jüdischen Wallfahrtsfesten. Das hebräische Wort „Schawuot“ ist der Plural von „Schawua“ – Woche. Ab dem zweiten Pessachfeiertag zählt man im Judentum sieben Wochen. Am 50. Tag, dem 6.Siwan, wird Schawuot gefeiert. Wegen dieser siebenwöchigen Zählung heißt das Fest „Schawuot“ - Wochenfest. Einen anderen Grund für diesen Namen führt die rabbinische Literatur an. Ihr zufolge bedeutet der Name nicht nur „Wochenfest“, sondern auch „Fest des Gelübdes“, denn mit diesem Datum sind zwei Gelübde verbunden. Zum einen, dass G’tt dem Volk Israel versprach, es nie durch ein anderes zu ersetzen. Und das Volk erklärte, es werde ihm treu bleiben und nur ihm dienen. Zwei Bedeutungen hat das Wochenfest. Die eine leitet sich vom landwirtschaftlichen Kontext ab, die andere von dem oben erwähnten historischen und theologischen Ereignis in der Geschichte Israels. Im 2. Mose 23,16 lesen wir von dem Gebot, das Fest der Erstlingsfrüchte zu halten, das den Beginn des Wochenfestes markiert. Dazu war jeder Israelit aufgerufen, nach Jerusalem zu wallfahren und im Tempel die Erstlingsfrüchte seines Bodens darzubringen. Sie bestanden aus den sieben Arten, mit denen das Land Israel gesegnet war: Weizen, Gerste, Weintrauben, Feigen, Granatäpfel, Oliven und Datteln. Sie galten als Zeichen des Dankes an den Herrn, der dem Volk das Land Israel geschenkt hatte und es von seinen Erträgen satt werden ließ. Die zentrale Bedeutung des Wochenfestes besteht jedoch in der Übergabe der Tora (G’ttes Weisung). Drei Monate nach dem Auszug aus Ägypten machten die Israeliten Station am Berg Sinai. Ihr Führer Mose ordnet eine dreitägige Vorbereitungszeit an, damit sie heilig würden. Diese 145
„Tage der Begrenzung“ in der Wüste dienten also der inneren Vorbereitung für den Empfang der Tora. Die Israeliten reinigten sich und ihre Kleider und verzichteten auf Geschlechtsverkehr. Mit der Entgegennahme der Tora wird das Volk zum Volk G’ttes mit Rechten und Pflichten. Hier sei angemerkt, dass die christliche Kirche ihre Gründung ebenfalls 50 Tage nach Ostern/Passah zu Pfingsten mit der Entgegennahme des Heiligen Geistes feiert. Zu den heute üblichen Gebräuchen des Wochenfestes gehört es, dass man in der Nacht vom 5. zum 6. Siwan (entspricht meist dem Juni) wach bleibt und „tikkun“ übt, das heißt, dass man sich seelisch zu verbessern sucht und sich ganz dem Studium der jüdischen Schriften (Fünf Bücher Mose, Mischna, Talmud, Psalmen) hingibt. Durch dieses konzentrierte Lernen soll die innere Bereitschaft für den Empfang der Tora am nächsten Tag geschaffen bzw. erhöht werden. Nach dem Buch Sohar, einem Werk der jüdischen Mystik, der Kabbala, ist der Himmel in dieser Tikun-Nacht geöffnet und jeder kann seine Wünsche vor den Herrn der Welt bringen. Die Vorbereitung auf den Empfang der Tora gleicht einem Bräutigam, der seine Braut erwartet. In diesem Vergleich steht der Bräutigam für das Volk Israel und die Braut für die Tora. Zur Erinnerung an den Berg Sinai, der sich bei der Übergabe der Tora mit einem „grünen Kleid“ schmückte, werden heute zum Wochenfest die Synagogen mit Blumen und Grünem dekoriert. . Ein anderer Brauch des Wochenfestes besteht darin, Milchgerichte zu verzehren. Diese Sitte leitet sich von dem Umstand ab, dass die Israeliten am 6. Siwan bei der Toraübergabe zum ersten Mal von den Vorschriften des Schächtens von Tieren und vom Koschermachen des Fleisches hörten. Da sie aber kein religionsgesetzlich erlaubtes Fleisch mit sich führten, aßen sie Milchgerichte, die keine lange und besondere Vorbereitung benötigten. 146
Zum festen Bestandteil der G’ttesdienstlichen Lesungen gehört das Buch Ruth. Dafür gibt es verschiedene Gründe. Ihre Geschichte ereignete sich in der Erntezeit. Außerdem wurde König David am Wochenfest geboren, und an diesem Fest starb er auch. Aus dem Buch Ruth erfahren wir, wie der Herr die Ereignisse so lenkte, dass der reiche Bauer und Israelit Boas schließlich die Moabiterin Ruth heiratete. Sie wurde die Urgroßmutter Davids, aus dessen Haus – wie die Rabbinen vermuten - einst der Messias hervorgehen soll. Zum anderen steht Ruth mit ihrem Charakter und ihrem Lebenswandel stellvertretend für das Bild des idealen Proselyten, des zum Judentum Übergetretenen. So wird ihre Geschichte vorgelesen, weil es vom Schicksal des einzelnen (Ruth) auf das der Allgemeinheit (des Volkes Israel) schließen lässt. Ein Volk, das in der Kultur Ägyptens aufwuchs, bereitet sich jetzt am Berg Sinai auf die Entgegennahme der Tora und der Last der Gebote vor und erklärt: „Alles, was der Herr befohlen hat, wollen wir tun.“ (2.Mose 19,8)
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Schawuot – 5. Mose 15, 7 - 8
Die Kunst des Gebens Am zweiten Tag von Schawuot lesen wir von den sozialen Mizwot. Dazu gehört unter anderem Zedaka, die Wohltätigkeit. „Wenn unter dir ein Bedürftiger sein wird, einer deiner Brüder, in einem deiner Tore, in deinem Lande, das der Ewige, dein G’tt, dir gibt, so sollst du deinem Bruder, dem Bedürftigen, gegenüber dein Herz nicht verhärten und deine Hand nicht verschließen, sondern du sollst ihm deine Hand öffnen, sollst ihm leihen, wie viel er in seinem Mangel bedarf, wie viel ihm fehlt“ (5. Buch Moses 15, 7-8). Zedaka gibt man aus Liebe zum Nächsten. Man gibt sie nur dem Bedürftigen und nur zu dessen Lebzeiten. Eine noch edlere Tat ist Gmilut chassadim, was so viel wie Gefälligkeit bedeutet. Diese Wohltätigkeit kann man gegenüber Reichen und Armen ausüben, zu deren Lebzeiten, aber auch nach deren Tod. Der Begriff Zedaka ist mit dem hebräischen Wort Zedek verwandt, auf Deutsch: Gerechtigkeit. Unsere Weisen betonen, dass Zedaka nicht nur eine Gefälligkeitstat ist, sondern eine menschliche Verpflichtung. Wenn jemand Zedaka gibt, handelt er im Sinne der Gerechtigkeit (hebräisch: Zedek). Rambam (um 1135–1204) schreibt in seinem Buch Mischne Tora (Hilhot matnot Anijim 10, 1): Wir müssen bei der Mizwa Zedaka mehr aufpassen als bei den anderen positiven Mizwot. Denn der Mensch muss sich, so Rambam, wenn er zu einer Zedaka bereit ist, der Gesamtgesellschaft zugehörig fühlen.
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Mit jeder Zedaka, mit jeder Gabe für den guten Zweck wächst der Mensch über sich hinaus. Zedaka bedeutet jedoch nicht, dass wir den Bedürftigen stets ernähren oder ihm gar zu Reichtum verhelfen sollen. Die Worte „machssoro“ – wie viel ihm fehlt (5. Buch Moses 15,8) weisen uns auf die Größe der Gabe hin. Die Tora sagt: „Man soll ihm geben alles, was ihm fehlt, auch wenn er ein Pferd zum Reiten braucht oder einen Sklaven, der ihn bedient“ (Bawli, Ketubot 67,2). Man sagt über Rabbi Hillel, er habe einem Bedürftigen aus einer betuchten Familie ein Pferd zum Reiten gegeben, und als er keinen Sklaven für ihn fand, habe er sich selbst angeboten. Zedaka hat keinen Mindest- oder Höchstwert. Jeder Spender entscheidet selbst, wie viel er geben kann. Wichtig ist der Wille, den guten Zweck dieser Mizwa zu erfüllen. Unsere Weisen zählen einige Richtlinien der Zedaka auf. Rambam hat sie näher bestimmt: 1. Einem Reichen, der verarmt ist, gibt man entweder ein Geschenk oder bietet ihm die Partnerschaft an. 2. Der Gebende kennt den Empfänger nicht und umgekehrt. 3. Die Gabe wirft man am besten in eine Spendenbüchse ein. 4. Der Hüter der Spendenbüchse muss als anständiger, ehrlicher und vertrauenswürdiger Mensch bekannt sein. 5. Auch wenn der Gebende den Zweck der Spende bestimmt hat, soll der Empfänger nicht wissen, von wem die Hilfe kommt. 6. Entspricht die Gabe nicht der erwarteten Höhe, überreicht man sie trotzdem mit Freude. 7. Ist der Gebende selbst bettelarm, soll er trotzdem Zedaka geben – und es bedauern, dass er nicht mehr hat, um mehr geben zu können. Nach welchen Kriterien erfolgt die Auswahl der Bedürftigen? Im Text unseres Abschnitts lesen wir: „Wenn unter dir ein Bedürftiger sein wird, einer deiner Brüder, in einem deiner Tore, in deinem Lande …“ Hier 149
wird die Reihenfolge bestimmt, nämlich zuerst soll man den Armen der eigenen Stadt und des Landes helfen. Erst danach den Armen in der Ferne. Rambam beendet seine Vorschriften über die Zedaka mit einem Aufruf an die Menschheit, dessen Inhalt bis heute nicht an Aktualität verloren hat. Er sagt: Du sollst nicht in Selbstmitleid versinken, du darfst dich nicht in die Abhängigkeit der Wohltaten begeben, und du sollst dich erst in der äußersten Notlage an Helfende wenden. Unsere Weisen ergänzen: Wenn du nicht genug hast, so lebe an deinem Schabbat genauso bescheiden wie am Wochentag, aber gehe nicht betteln, vermeide die Hilfe von außen. Einer, der früher ein großer Gelehrter, eine angesehene Person war und inzwischen arm geworden ist, soll zuerst eine artfremde, niedrigere Tätigkeit aufnehmen, bevor er um Hilfe bittet. Aus der Geschichte ist uns bekannt, dass große und berühmte Rabbiner, die wenig Glück im Leben hatten, ihren Lebensunterhalt durch Holzfällen, Wassertragen, Kohlefördern und Metallschmieden verdienten. Sie lehnten jegliche Hilfe ab. Das Judentum lehrt außerdem, dass jemand, der die Hilfe nicht nötig hat und sie durch Betrug erschleicht, eines Tages in die Situation wahrer Hilfsbedürftigkeit kommen wird. Die Tora sagt über solche Personen: „Verflucht sei er, der sein Vertrauen in der Menschheit sucht“ (Jeremia 17,5). Der Appell der Tora, die Mizwa der Zedaka zu erfüllen, trägt eine Botschaft in sich: Wir sollen verhindern, dass die Armen und Bedürftigen unter uns lange in ihrer Notlage verweilen oder gar darin bleiben. Armut verschwindet nicht von allein. Diejenigen, die versuchen, Armut zu verhindern, werden von G’tt gesegnet. Doch dieser Segen kommt nur dann an, wenn der Mensch seine ganze Kraft und alle seine Möglichkeiten zum Einsatz bringt.
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Der Monat Elul - Von der Furcht zur Liebe Der „Elul“ ist der sechste Monat des jüdischen Kalenders und nimmt eine herausgehobene Position ein. Man nennt ihn auch den Monat des Erbarmens und der Vergebung. Er dient der Vorbereitung auf Rosch Haschana (jüd. Neujahr) und Jom Kippur (Versöhnungstag). Das Ziel dieser Vorbereitung ist es, Teschuwa (Umkehr) zu erreichen. Der Ursprung für diese jüdische Frömmigkeitspraxis findet sich in der Bibel. Mose hatte die Gesetzestafeln zerbrochen, die ihm G’tt auf dem Berg Sinai gegeben hatte, als er vom Berg herabstieg und sah, dass das Volk das Goldene Kalb anbetete. Er erhielt nochmals den Befehl, den Berg zu besteigen und die zweiten Tafeln entgegenzunehmen, nachdem G’tt Moses Flehen erhört und dem Volk Israel sein schweres Vergehen verziehen hatte. Dieser Aufenthalt auf dem Berg Sinai, der am 1. Elul begann, dauerte insgesamt 40 Tage, d.h. bis zum 10. Tischri (siebenter Monat des jüd. Kalenders), dem Versöhnungstag, an dem G’tt seinem Volk vergab. Deshalb entwickelten sich diese 40 Tage zu den „Tagen des Wohlwollens und des Verzeihens“, in denen wir uns ein Beispiel an Mose nehmen. Ferner erschließt sich vor diesem Hintergrund, warum diese Zeit auch die „furchtbaren Tage“ genannt werden. „Furchtbar“ versteht man hier im Sinne von, „ernsthaft“ über den eigenen Lebensweg nachzudenken. So nehmen diese 40 Tage ihren Anfang in der Furcht G’ttes und finden ihr Ziel in seiner erbarmenden Liebe. Um den Menschen aus dem Sündenschlaf, seiner kritiklosen Lebensweise zu wecken, ihn für ein „Mitsich-selbst-ins-Gericht-gehen“ zu bewegen, wird nach dem Morgengottesdienst das Schofar (Widderhorn) geblasen. Seine Töne führen die Hörer zur Erschütterung der Seele und des Herzens über die bewusst gewordenen Sünden, zur Umkehr und Besserung ihres bisherigen Le-
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benswandels. Interessant ist hier, dass sich das hebräische Wort für „Schofar“ vom Wortstamm „verbessern“ ableitet. Zudem werden während des ganzen Eluls am frühen Morgen zwischen 3.00 und 4.00 Uhr Gnadengebete, die „Slichot“ gesprochen. Im Buch der Slichot findet man für alle möglichen Sünden, die der Mensch begehen könnte, entsprechende Gebete, die den Juden zur Reue anleiten. Und man geht davon aus, dass kein Mensch von sich sagen kann: Ich habe nicht gesündigt! Allein, einen bösen Gedanken zu denken, gilt schon als Sünde. Durch das Sprechen dieser Gnadengebete schüttet der Mensch sein Herz vor dem Schöpfer aus und eröffnet damit ein neues Kapitel in seinem Leben und für das neue Jahr. So zielt die Teschuwa der Elulzeit auf den Tag des Gerichts an Rosch Haschana. Von ihm schreibt der große spanische Rabbiner Rambam: „Drei Bücher werden an Rosch Haschana geöffnet: ein Buch für die Frevler (Rechaim) unter den Menschen, ein anderes für die vollkommen Gerechten (Zaddikim) und ein Buch für den Durchschnittsmenschen (Bennonejim). An Rosch Haschana geben wir einen „Sachstandsbericht“ über unsere Taten und an Jom Kippur bekommen wir das Urteil. So lesen wir im 3. Buch Mose: „Denn an diesem Tag geschieht eure Entsühnung, dass ihr gereinigt werdet; von allen euren Sünden werdet ihr gereinigt vor dem Herrn.“ (16,30) Diesen Sühnetag darf der Jude jedoch nicht herbeikommen lassen, ohne zuvor all das Unrecht wiedergutgemacht zu haben, das er seinen Mitmenschen antat, denn solange sich die Menschen nicht untereinander versöhnt haben, können sie auch keine Vergebung von G’tt erwarten. Zudem sollte man die feste Absicht haben, nicht wieder rückfällig zu werden.
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In jedem Falle ist davon auszugehen: das Gute, das G’tt der Welt eingestiftet hat, ist immer vorhanden, nur sind unsere Sinne durch unsere Sünden so deformiert und getrübt, dass sie nicht in der Lage sind, G’ttes Licht und Güte störungsfrei aufzunehmen. Aber durch die Liebe, die die Umkehr zu G’tt vollzieht, kommen wir wieder in seine Nähe, verbunden mit der schönen göttlichen Verheißung, die unsere Weisen (Rabbinen) einmal so zum Ausdruck gebracht haben: Durch eure Teschuwa (Umkehr) schafft mir einen Zugang zu euch, und wenn er nur so groß wäre wie ein Nadelöhr, werde ich euch Wege daraus machen, dass Wagen darauf hindurchfahren können. D.h., wenn G’tt beim Menschen nur eine Andeutung von Reue entdecken kann, wird sie dazu führen, dass G’tt und Mensch ohne Blockade wieder ungehindert und frei miteinander verkehren können.
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Rosch Haschana – Das Neujahrsfest – 4. Mose 29, 1 - 6 Im dritten Buch Mose 23 lesen wir: „Im siebten Monat am Ersten des Monats sei euch eine Feier, ein Gedächtnis (Tag) des Trompetenschalls, eine heilige Versammlung.“ Und ähnlich lesen wir im vierten Buch Mose 29: „Im siebten Monat, am Ersten des Monats sei euch eine heilige Versammlung.“ In beiden Büchern hören wir, dass Rosch Haschana im siebten Monat gefeiert wird, da die Tora die Zählung der Monate mit dem Nissan beginnt, mit dem Monat, in dem wir des Auszugs aus Ägypten gedenken. Rosch Haschana wird in Israel und auch hier bei uns in der Diaspora zwei Tage lang gefeiert. Im vorhergehenden Monat Elul sprechen wir die Slichot (Bußgebete, Gnaden- und Verzeihungsgebete). Die Sfardim beten sie ab dem zweiten Tag Elul den ganzen Monat hindurch, die Aschkenasim beginnen mit den Slichot eine Woche vor Rosch Haschana. In dieser Zeit haben wir die Aufgabe, uns selbst zu prüfen, gewissermaßen mit uns selbst abzurechnen, unsere Sünden und unsere guten Taten zu bedenken. Diese innerliche Vorbereitung und Selbstprüfung ist nicht weniger wichtiger als die Gebete zu Rosch Haschana selbst. So vorbereitet gehen wir in die jamim nora'im, die „furchtbaren Tage“, die Tage des Gerichts. Sie erinnern uns mit ihrer Hauptaussage vor allem an die dreizehn Eigenschaften des Erbarmens G’ttes und mit ihrem Vorwort „G’tt sitzt als König“ und „G’tt, der Langmütige“ an die Bereitschaft des Ewigen zur Vergebung und dienen dazu, uns die Furcht in der Furcht zu nehmen. Solche Tage der Vorbereitung sind uns auch vom Passafest bekannt, wo wir das Chamez, das Gesäuerte, entfernen. Nach dem Morgengottesdienst (Schacharit) wird das Schofar geblasen, damit unsere Seele aus dem Schlaf erwacht und unser Herz sich öffnet. 154
Das Judentum hat keine Tradition ausgebildet, sich irgendeines Geburtstages seiner großen Männer und Frauen zu erinnern. Solche „Heldengedenktage“ finden wir in der Tora nicht. Eher wird an einen Todestag erinnert, so starb der Überlieferung nach zum Beispiel David an Schawuot, aber wir wissen nicht, wann er geboren ist. In der Pessach Hagada wird nur G’tt als Held des Auszugs aus Ägypten erwähnt, aber nicht Mose, der der Architekt der Befreiung und des Auszugs war. Auch verschweigt uns die Tora, wo Mose beerdigt wurde. So bietet sie uns keine Gelegenheit, ihn als „Star“ zu verehren. Wir erkennen hier: Die jüdische Religion möchte keinen Helden der Nation feiern, damit ihre Nachfahren nicht in Versuchung geraten, womöglich einen G’tt aus ihm zu machen und ihn anstelle oder neben dem Ewigen zu verehren. Die Tora würdigt durchaus den Einsatz und den Glauben unserer Vorfahren und es ist schön und lehrreich, dass wir von ihrem Leben und ihren Taten lesen und hören können, aber sie zieht doch eine klare Grenze zwischen der Größe G'ttes und der Größe von noch so verdienstvollen Menschen. Das gleiche gilt, wenn wir vor Rosch Haschana und Jom Kippur an heilige Gräber gehen, um die Toten als unsere Fürsprecher zu bitten, unsere Gebete und Wünsche vor G’ttes Thron zu bringen, sie in Erfüllung gehen zu lassen und uns vor G’ttes Gericht zu verteidigen. Wir sollen sagen: „Liebe Zaddikim, ihr seid in der wahren Welt, bringt bitte unsere Gebete vor den Herrn!“ - aber wir dürfen sie nicht als Götter anrufen, wir dürfen sie nicht mit G’tt verwechseln und sie an seine Stelle setzen. So wie die Tora die Heldentaten unserer Vorfahren erwähnt, so verschweigt sie auch nicht ihre Fehler und die Strafen für ihren Ungehor155
sam. Wir erfahren zum Beispiel von Moses und seinem Bruder Aaron, dass sie gesündigt haben und deshalb durften sie das Land Israel nicht betreten. Ihre Schwester Mirijam leistete sich übles Gerede (laschon hara) gegenüber Mose und wurde dafür von G’tt mit Aussatz bestraft. Korach, der ein großer Gelehrter und reicher Mann war, rebellierte gegen Mose und auch er bekam seine Strafe. Und das sind nur einige Beispiele. Wie schon erwähnt, das Judentum kennt keinen Gedenktag für die Helden der Nation, aber es erinnert sich des Geburtstags der ganzen Menschheit und des Volkes Israel, das die Fahne der Nation trägt. All diese Gedanken werden bei uns zu Rosch Haschana wieder lebendig. Auch erzählt uns die Mischna, dass am 25. des Monats Elul die Welt erschaffen wurde. Wir lernen daraus, dass Rosch Haschana der Geburtstag des ersten Menschen ist und der gesamten Menschheit. Das Volk Israel feiert also sein neues Jahr und auch das neue Jahr der gesamten Menschheit. In seine Gebete zu Rosch Haschana nimmt es die ganze Menschheit mit hinein und bittet für das Wohlergehen aller Menschen, dass die guten Absichten von uns zum Ziel gelangen. Es schüttet sein Herz vor dem Herrn der Welt aus, so wie es im Gebet steht: „Secher col hamaasim lepanächa ba“ das bedeutet: Gedenke daran, dass alle deine Taten vor G’ttes Angesicht stehen, aneinandergereiht wie die vielen verschiedenen Bilder eines Films. Einige wichtige und wegweisende Ereignisse verbinden wir mit dem Tag von Rosch Haschana. Die Tradition erzählt uns, dass die Sklaverei in Ägypten zu Rosch Haschana ihr Ende fand und der Auszug aus Ägypten seinen Anfang nahm. Neben diesem Höhepunkt der Toraerzählung wird berichtet, dass der erste Mensch am Freitag geboren wurde, der Rosch Haschana war. 156
Zu Rosch Haschana öffnete Noah die Tür seiner Arche und sah nach der Wasserflut eine neue Welt. Ebenso gedenken wir zu Tischri unserer drei Ahnen Sara, Rachel und Chana (Samuels Mutter), die G’tt am Neujahrstag von ihrer Unfruchtbarkeit erlöste und an Rosch Haschana verließ Josef das Gefängnis nach 12jähriger Gefangenschaft. Rosch Haschana - jom terua - Tag der Ertönung des Schofars, an diesem Tag erinnern wir uns besonders an die Geschichte der Bindung Isaaks, der akeda. Es ist hier nicht die Zeit und der Ort über dieses brisante Thema zu diskutieren. Jedoch sei erwähnt, dass hier ein Befehl G’ttes für eine Opferung erging. Aber letztlich verlangte G'tt dann nicht das Opfer, das Abraham bereit war zu geben. Er schickte ihm an Isaaks Stelle, der sein einziger Sohn war, einen Widder. Und so sagten die Weisen: „Blast mir das Widderhorn, auf dass ich mich bei der Opferung Isaaks, des Sohnes Abrahams, an euch erinnere und euer gedenke.“ Außerdem erinnert uns das Schofar an die Offenbarung auf dem Berg Sinai, matan tora. Das Schofar erklang so durchdringend und stark, dass das Volk Angst bekam. Und während die Posaune erklang, wurde der Bund zwischen G’tt und dem Volk Israel, der die Tora übergeben hatte, erneuert und mit der Übergabe der Tora sind wir ein Volk geworden, mit der Satzung der Mizwot. Der Prophet Jesaja prophezeite den Tag der Ge'ula (Tag der Erlösung): „Und an dem Tag wird mit einem großen Schofar geblasen und alle werden kommen und sie werden auf G’ttes Berg sich vor ihm verbeugen.“ Der Prophet meint hier, dass eines Tages alle Völker unter einem Dach in Frieden miteinander leben können.
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Mit dem Schofarblasen zu Rosch Haschana werden wir an G’ttes universales, allgemeines wie an sein spezielles, konkretes menschliches Einwirken erinnert. Das Schofar erklingt für das Volk Israel – ganz gezielt und bestimmt, aber es bringt auch G’ttes Wohlwollen für die ganze Welt zu Gehör. Es ruft alle Völker in die von G’tt verheißene Freiheit. So wie wir im Gebet sprechen: „Denn G’tt, gib Furcht über alle deine Taten und über alles, was du geschaffen hast, damit alle zusammen zu einem Bund werden können.“ Und wenn das geschieht, dann ist „Freude in deiner Welt und Freude in deiner Stätte und dem Messias aus der Dynastie Davids wird der Weg bereitet.“ Rosch Haschana ist ein Gerichtstag - jom hadin - , nicht nur für uns, sondern für die gesamte Menschheit. So wie wir im Gebet sagen: „Und über den Ländern wird gesagt: Welche zum Krieg gehen, und welche zum Frieden, welche zum Hunger und welche zur Sättigung.“ Das Volk Israel ist ein Tropfen im Ozean der Menschheit. Aber es hat die Aufgabe und die Macht bekommen, zu G’tt zu beten, bei ihm um Vergebung für alles begangene Unrecht zu bitten. Rosch Haschana – der Tag des Gerichts lässt schon eine ganz andere Art von Jahresbeginn ahnen, als ihn die Völker sonst begehen. Andere Völker feiern ihr Neujahr mit Trinken, Partys, Feuerwerk usw., aber der Jude gibt seinem Neujahrsbeginn einen anderen, einen besonderen Charakter durch die slichot, das Anziehen des weißes Kleides, das Schofarblasen, ausgewählte Nahrungsmittel, die das Fest symbolisieren (Apfel mit Honig) und die Neujahrsgrußkarten. Begleitet und geprägt wird unser Neujahrsfest von gemischten Gefühlen. Auf der einen Seite empfinden wir Freude an Rosch Haschana, weil die Familie zusammenkommt und wir ein neues Jahr erwarten. Auf der anderen Seite fragen wir uns: Wie wird unsere Zukunft aussehen? Was 158
macht die Gesundheit, Parnusse ... wie wird sich das Leben insgesamt entwickeln? Es sind und bleiben Tage der Freude – vermischt mit Zittern, aber unter G'ttes Schutz und Schirm!
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Predigt zu Rosch Haschana – Mit Selbstkritik zum Erfolg Bis jetzt haben wir gelernt und gehört, dass das Ziel der ernsten Tage darin besteht, wie die Teschuwa zu erreichen ist. Sie ist sehr vielschichtig. Um ihre Bedeutung zu erfassen, ist ein weitreichendes Studium der rabbinischen Literatur nötig. Die Teschuwa nimmt uns an die Hand, um an den Punkt unseres Lebens zurückzukehren, an dem wir vom rechten Weg abgekommen sind, also bevor die Sünde über uns Macht gewonnen hat. Wenn wir uns von der Teschuwa leiten lassen, werden wir versuchen, unseren Fehler zu „reparieren“, also wiedergutzumachen und ihn nicht zu wiederholen. In meinen folgenden Ausführungen stütze ich mich auf Gedanken großer Rabbiner wie Rabbi Kaplan und Izaak ha cohen Kook. Kook wurde 1865 in Lettland geboren und starb 1935 im Alter von 70 Jahren. Ab 1904 war er als Rabbiner in Jaffa tätig, 1919 wurde er Oberrabbiner Jerusalems und ab 1921 amtierte er bis zu seinem Tod als erster Oberrabbiner Israels. Sowohl sein Kenntnisreichtum in der Tora als auch seine tiefe Spiritualität zeichneten ihn aus. Die Teschuwa schätzte er als einen der wesentlichen Bestandteile des göttlich-kosmischen Programms ein. Das Buch Sohar, die Kabbala, erzählt uns, dass G’tt die Teschuwa 2000 Jahre vor der Schöpfung geschaffen habe; ein Geschenk für sein Geschöpf, weil er davon ausging, der Mensch würde eines Tages sündigen. Die Historiker und Religionsforscher nehmen an, dass die Teschuwa zu den wichtigsten Beiträge des jüdischen Volkes im Blick auf sein spirituelles Leben gehört. Wo wir uns der Teschuwa anvertrauen, durchbrechen wir die Macht des Fatalismus. Er ist die Folge unserer Sünde, die uns stets einredet, wir könnten gar nicht anders, als ihr zu Diensten zu sein, ihr zu gehorchen. Die Sünde ist darauf aus, uns als Götzendiener 160
dauerhaft an sie zu binden. Sie hat es darauf abgesehen, dass wir vor ihr kapitulieren. Um ein Bild zu gebrauchen: Die Teschuwa können wir als eine Schere ansehen, die das Band, das uns an die Sünde bindet, zerschneidet. Rabbiner Kook versteht die Teschuwa – wie gesagt - als einen kosmischen Prozess. Sie verleiht dem Menschen die Möglichkeit seine Sünde zu überwinden, und so kann er das Maß seiner Strafe abmildern. Wir sind mit einem Unterscheidungsvermögen zwischen Gut und Böse von G’tt ausgestattet. Ich habe die Möglichkeit, zwischen Gut und Böse zu wählen, und wer nach begangener Sünde umkehrt, um nun das Gute zu wählen, der gibt G’tt die Möglichkeit, ihm zu verzeihen. Auch wenn jedem Sünder Strafe droht (so der Talmud), aktiviert doch unsere Teschuwa die Sühne, die die Versöhnung herbeiführt und uns damit die Tür zur Erlösung auftut. Die Teschuwa als kosmischer Prozess nimmt häufig ihren Anfang im Inneren eines Menschen und dann bedeutet sie vielmehr als Reue. Sie beginnt, wenn der Mensch in seinem Unterbewusstsein bemerkt: G’tt arbeitet an meinem Gewisssen! Die von G’tt für die Menschheit gestiftete Teschuwa ist eine Art von Selbstreparatur, ein Selbsttikkun. Sie wirkt vielleicht sogar in die physische, körperliche Welt hinein. Die Vorstellung von der Teschuwa basiert auf dem Glauben, dass sie Kräfte in sich birgt, die den Mensch zum Guten puscht, ihn in Schwung bringt, nach der Ordnung zu suchen, die ihn zusammenhält, ihm ein gutes Leben verspricht. Auch wenn Kook immer betont: Alles steht in der Hand des Himmels und ist abhängig von G’ttes Kraft - war es für diesen Rabbiner doch immer wichtig, die Freiheit des Menschen zu betonen. In seinen Augen ist die Teschuwa ein integraler Teil der Schöpfung. Für ihn existiert eine besondere Einheit, eine Verbundenheit, die zwischen Pro und Contra 161
und den Unterschieden in der Natur eine Brücke schlägt, wie wir es ablesen können in unserem Alltag, wenn wir einen Gerechten kennenlernen, der innen schlecht ist und einen Frevler, der innen gut ist. G’tt ist der, der über dem Kosmos waltet. Ja noch mehr: die Ordnung in der Natur und ihre Wunder gehen auf G’ttes unendliche Kraft und sein Einwirken in der Schöpfung zurück. Nun wäre es durchaus vorstellbar, dass G’tt seinen Schöpfungsplan auch ohne den Menschen direkt ausführen könnte. Aber das war offenbar nicht sein Wille. Er hat sich den Menschen zu seinem Partner und Mitarbeiter in der Schöpfung erschaffen. Und in dieser Eigenschaft muss der Mensch in G’ttes kosmisches Programm eingeweiht sein, er muss es kennen und verstehen. Nach der Ursünde der ersten Menschen im Paradies jedoch nimmt der Schaden seinen Lauf. Ihr stellt sich die Teschuwa immer wieder als Tikkun entgegen. Sie folgt den Mizwot G’ttes, um das gekränkte und beschädigte Wesen der Schöpfung zu heilen und wieder zurechtzubringen. In dem Moment, wo der Mensch versucht sein Denken und Handeln zu verändern, zu verbessern, beginnt der Prozess der Teschuwa in seinem Bewusstsein. Er wird dann von der Erkenntnis geleitet, dass er in der Wahl seines Weges irrte. Sein Gewissen wacht auf, es bewegt ihn zur Reue, seinen bösen Weg zu verlassen und zum Weg der Mizwot zurückzukehren. Die ganze Konstellation der Teschuwa ist ein wichtiger Beitrag für den Fortschritt der Religion. Sie zielt auf die Taten der Vergangenheit, der Gegenwart und Zukunft. Sicher - es ist unmöglich, das, was einmal geschehen ist, später auszuradieren, aber man kann die Strafe oder das „ungebremste“ Resultat der bösen Taten vermeiden. Die Teschuwa ra-
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diert die Schuld aus und ermöglicht dem schuldig gewordenen einen neuen Anfang. Bei allem, was sich zwischen uns und G’tt ereignet und womöglich „aufgestaut“ hat, dürfen wir doch eines nicht vergessen, und wir sollen gerade heute wieder daran erinnert werden: G’tt wendet sein Angesicht nicht von uns ab, weil er unser Vater ist und bleibt. G’tt ist bereit, jeden zu nehmen wie er und sie ist. Wir sind seine Kinder, über die er sein Angesicht auch in unserer Dunkelheit leuchten und erstrahlen lässt. Und ganz bestimmt muss man nicht orthodox sein, um sich in der Teschuwa zu üben. Sie ist gerade dann echt, wenn sie individuell praktiziert wird und jeder kann und soll hier nach seinem Verständnis und seinen Kräften handeln. Und auch die Gemeinde kann bei der Teschuwa eines Menschen behilflich sein. Hier stelle ich einige Fragen, die uns auch im neuen Jahr begleiten werden: 1. Kann der Mensch den Kosmos und die alte Sünde korrigieren? 2. Soll der Fehler der Sünde ewig bleiben bis die Welt zerstört wird? Nach der Kabbala wird die Welt 6000 Jahre alt – 5775: 225 Jahre bleiben. 3. Kann der Mensch zwischen Gut und Böse, wie es in der Tora steht, unterscheiden? 4. Können die zwei Lehren, die mündliche und schriftliche, das erfüllen, was der Mensch noch braucht? Wenn wir der Sünde nicht die Oberhand lassen wollen, dann muss die Menschheit durch die Teschuwa die Welt zu einer neuen Ära bringen, einer Ära, die von ethischen Entscheidungen geprägt ist.
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Wenn wir sagen, dass die Teschuwa ein Bestandteil des Kosmos ist, dann müssen wir untersuchen, wie dieser Prozess im Rahmen einer natürlichen Theologie aussehen soll. Es kommt nicht darauf an, nach einem übernatürlichen G’tt Ausschau zu halten. Es kommt darauf an, dass wir sensibel, wach sind, die Zeichen der göttlichen Führung in einem geordneten Kosmos wahrzunehmen. In dieser Art von Theologie wird der Mensch erkennen, dass er G’tt nicht studieren kann. Wir werden G’ttes Existenz und seine Eigenschaften vielmehr aus den Werken seiner Schöpfung ablesen. Schließen möchte ich mit dem Argument von Rabbiner Kaplan, der sagt, dass wir die kosmischen Gesetze, die sich nie ändern, schauen und erfahren. Und zu ihnen gehört auch die Teschuwa, durch die G’tt unsere Gewissen bewegt, um uns wieder in den Wegen seiner Mizwot und Gerechtigkeit gehen zu lassen. Ohne diese ernsten Tage hätte das jüdische Volk viel von der spirituellen Macht, die es zum Volk gemacht hat und nach Gerechtigkeit streben lässt, verloren. Auch wenn die Völker uns unser Auserwähltsein absprechen wollen – Tatsache ist: Das Volk Israel hat eine Kultur der Selbstkritik herausgebildet, die es zum Erfolg geführt und zur Entwicklung der jüdischen Religion maßgeblich beigetragen hat. Schana tova!
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Schabbat Chol Ha Moed7 – 2. Mose 33,12 – 34,26
Sag mir, wer Du bist In unserem Abschnitt ist die Rede von den 13 Eigenschaften G’ttes. Sie sind uns schon aus den Slichot-G’ttesdiensten im Monat Elul und den zehn Bußtagen geläufig. In der Kabbala sind sie tief verankert. Maimonides, der Rambam, deutet an, dass es schwer sei, die Bedeutungen dieser 13 göttlichen Eigenschaften zu erfassen, wenn man sie nicht in der Kabbala lernt. Unsere Weisen aber gaben hinreichende Erklärungen. Einige dieser Eigenschaften waren schon vor Mosches Zeit bekannt. Im 1. Buch Mose 4,13 lesen wir: »Da sprach Kain zum Ewigen: Ist denn meine Sünde so groß?« Hier kommt die Sünde des Menschen zur Sprache, der sich nach der Barmherzigkeit G’ttes ausstreckt. Und in 19,19 spricht Lot: »Sieh doch, dein Knecht hat Gnade in deinen Augen gefunden, und du hast mir die große Liebe erwiesen, mein Leben zu erhalten.« Und schließlich 43,14: »Jakow sagt seinen Söhnen: Und G’tt, der Allmächtige, lasse euch bei dem Manne Erbarmen finden.« Diese Auswahl von Beispielen zeigt, dass die Eigenschaften der Liebe G’ttes wie Barmherzigkeit, Gnade, Gunst, Huld und Treue schon in der Zeit der Urväter bekannt waren. Mosche war dann allerdings derjenige, dem sie vollständig und ausformuliert anvertraut wurden. Erinnern wir uns zunächst: Nachdem das Volk Israel die Sünde begangen hatte, sich ein Goldenes Kalb zu schaffen, wurde es von G’tt darüber unterrichtet, dass Er nicht mehr selbst unter ihnen sein werde, sondern 7
Während Sukkot (Laubhüttenfest); die Toralesung an Schabbat, die in die Zwischentage fällt – Chol HaMoed genannt (dieselbe Lesung für Sukkot und Pessach aus 2. Mose 33,12 - 34,26) -, betrifft zwar nicht Sukkot selbst, wurde aber wegen der Vorschriften über die Wallfahrtsfeste ausgesucht, die darin vorkommen (2. Mose 34,18-25).
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einen Engel beauftragen werde, der an Seiner Stelle den Kampf für Israel gegen die Völker führt. Als Reaktion auf diesen Rückzug seiner unmittelbaren Gegenwart bittet Mosche G’tt: »Nun denn, da ich Gnade in Deinen Augen gefunden habe, so tue mir doch Deine Wege kund, auf dass ich Dich erkenne, damit ich Gnade in Deinen Augen finde.« Man fragt sich, was genau Mosche von G’tt wissen wollte, als er sagte: »Tue mir doch deine Wege kund, auf dass ich dich erkenne«. Hierzu gibt es verschiedene Erklärungen. So lesen wir in Elijahu Sota 6: »G’tt sagte zu Mosche, du fragst mich, warum es Gerechte gibt, denen es gut geht, und Gerechte, denen es schlecht geht? Es gibt auch Frevler, denen es gut geht und Frevler, denen es schlecht geht, so wie du mir gesagt hast. Weiter sprach G’tt zu Mosche: »Wie kommst du also dazu, meine Eigenschaften und Wege wissen zu wollen? Ich werde dir einige davon erklären.« Und in Baal Hatossafot heißt es: »Und Mosche bat G’tt wiederum: Lehre mich deine Wege! – Er solle ihm seine Eigenschaften bekannt machen, damit Mosche einschätzen könne, ob es gut wäre, wenn Er einen Engel schickt, um das Volk zu unterstützen.« An diesen zwei Beispielen wird deutlich, dass Mosche – sozusagen im Vorfeld – genauere Einsicht in die Wege G’ttes nehmen wollte, ehe er und das Volk weitergeführt werden. Er wollte durch die Offenbarung der göttlichen Eigenschaften vor Überraschungen sicher sein. G’tt erfüllte Mosches Wunsch und ließ ihn Seine Eigenschaften wissen. Davon lesen wir im 2. Buch Mose: »Der Herr fuhr in einer Wolke herab, stellte sich dort neben ihn (Mosche) und rief den Namen ›Ewiger‹. Da zog der Herr an seinem Angesicht vorüber und rief: ›Ewiger, Ewiger, 166
G’tt, barmherzig und gnädig, langmütig und reich an Huld und Treue‹« (34, 5–6). In diesem Vers ist zweimal die Rede davon, dass G’ttes Name gerufen wird. Wer ruft hier den Ewigen an? Zuerst G’tt und dann Mosche – oder umgekehrt? Nach Meinung vieler Rabbiner, darunter Ibn Esra, Rabbi Abraham ben HaRambam und Raschbam, ist G’tt derjenige, der Seinen Namen zuerst ausruft. Denn Er war zunächst in der Wolke niedergefahren, stand vor Mosche und rief nun Seinen eigenen Namen – Er stellte sich vor. Denn kurz zuvor lesen wir: »Und Er antwortete: Ich werde alle Meine Güte an dir vorüberziehen lassen, und Ich werde mit Namen den Ewigen vor dir nennen, und wie Ich gnädig bin gegen den, den Ich begnadigen will« (33,19). Ich persönlich neige dazu, G’tt hier als ersten Ausrufer Seines Namens zu verstehen, zumal die Begegnung zwischen G’tt und Mosche mit der Bemerkung abgeschlossen wird: »Da verneigte sich Mosche eilig bis zur Erde und warf sich nieder« (34,8). Einen weiteren Blick auf die Eigenschaft G’ttes, barmherzig zu sein, gewährt uns der Talmud in dem, was wir von Rabbi Jochanan hören: »Und wir lernen, dass G’tt – wie ein Vorbeter –, in einen Gebetsschal gehüllt, Mosche den Ablauf des Gebets zeigt. G’tt sagte zu Mosche: Solange Israel sündigt, sollen sie vor Mir beten, und Ich werde ihnen verzeihen. ›G’tt, G’tt‹ bedeutet: Ich bin G’tt, bevor der Mensch sündigt, und ich bin G’tt, nachdem der Mensch gesündigt hat« (Rosch Haschana 17,2). Denken wir noch einmal an Mosches eindringliche Bitte, G’tt möge ihm alle seine Eigenschaften und Wege zu erkennen geben. Dann mag uns beim Lesen unseres Abschnitts zunehmend verständlich geworden sein, 167
dass Sein Mitarbeiter auch darauf bestand zu erfahren, ob G’ttes Eigenschaften und Wege seiner Barmherzigkeit oder seinem Gesetz entspringen. Denn wer das Volk G’ttes führen soll, muss wissen, unter welchen Voraussetzungen er es tut. G’ttes Antwort umfasst sowohl die Eigenschaften seiner Barmherzigkeit und Gnade als auch die des Gesetzes: »der Huld bewahrt dem tausendsten Geschlecht, der Schuld, Freveltat und Sünde vergibt, der aber nicht ungestraft lässt, der die Schuld der Väter an Kindern und Kindeskindern heimsucht bis ins dritte und vierte Geschlecht (2. Buch Mose 34,7). Warum lesen wir nun diesen Abschnitt am Schabbat Chol-HaMoed Sukkot? Im Talmudtraktat Megilla wird gesagt, dass wir an diesem Schabbat und auch am Schabbat Chol-HaMoed Pessach den Abschnitt 2. Buch Mose 33,12 – 34,26 hören sollen, weil in ihm über den Schabbat und die Feiertage geschrieben wird.
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Schabbat Chol Ha Moed8 – 2. Mose 33,12 – 34,26
Zweite Auflage Moses hatte auf dem Berg Horeb die zwei Gesetzestafeln von G'tt empfangen. Sie waren vom Ewigen selbst geschrieben. Doch als Mose sein Volk um das goldene Kalb tanzen sah, ereilte ihn der Zorn. Am Fuße des Berges angekommen, warf er die Tafeln aus der Hand und zerbrach sie. In unserem heutigen Abschnitt hören wir nun: „Und der Ewige sprach zu Mose: Behaue zwei steinerne Tafeln, so wie die ersten waren.“ Der Midrasch vertieft in seinen Ausführungen diese Geschichte. Er erklärt: Die ersten Gesetzestafeln waren von G’tt persönlich geschrieben und dem Menschen gezielt als Geschenk zugedacht. Das Problem war nur, dass es ihnen nicht lange vergönnt war, in unserer materiellen Welt zu überleben. Zudem wurden sie im Rahmen eines höchst eindrücklichen Szenarios, beim Blasen des Schofars, bei Feuer und Rauch, vom Volk in Empfang genommen. Der Midrasch tan chuma 31 ergänzt, dass die ersten Tafel unter G’ttes Anwesenheit in der Öffentlichkeit übergeben und schon bald durch einen bösen Blick zerbrochen wurden. Im Gegensatz dazu ereignete sich die Übergabe der zweiten Bundestafeln in einem ausgesprochen bescheidenen Rahmen. Und von ihrer Niederschrift wird ausdrücklich berichtet: „ … und Mose schrieb auf die Tafeln die Worte des Bundes, die Zehn Worte.“ Hier ist nicht mehr G’tt der Autor, sondern nur ein Mensch. Mit ihrer Herstellung ergeht an Mose zugleich der Auftrag, sie dem Volk durch Erklärung und Belehrung nahe zu bringen. Herstellung und Übergabe der erneuerten Bundestafeln ereignen sich also auf einer viel tiefer angesiedelten Ebene und gerade dieser Umstand ist es, der uns ihr Inkraftstehen bis in unsere Zeit hinein erklärt. 8
Siehe Anmerkung 1, S. 5
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Diese zweiten Tafeln stellen den Ursprung der mündlichen Tora dar, die die schriftliche Tora erklärt und ergänzt. Durch diese mündliche Auslegung ist der Glaube des Volkes Israel entstanden. In ihrer Tradition kommt es für den Juden von Generation zu Generation zur Akzeptanz der göttlichen Weisungen, nimmt er das Joch der Gebote auf sich. Auch wenn es häufig in unserer Praxis nicht danach aussieht, so ist doch die mündliche Tora dazu da, den Status der schriftlichen Tora zu erhalten und zu festigen. Im Zusammenhang mit der Herstellung und Übergabe der zweiten Tafeln lautet G’ttes Urteil: Es gibt nichts Besseres als Bescheidenheit. Wie einen Kommentar dazu, hören wir den Propheten Micha sprechen: „Was fordert der Ewige von dir, als auf Recht zu halten, Liebe zu üben und demütig wandeln vor deinen G’tt.” Es geht also für den Menschen darum, in der Praxis seines Lebens die Mizwot zu befolgen, das Joch des Himmels zu akzeptieren und dadurch G’tt zu erkennen. Das Ausführen der Gebote erleuchtet dem Menschen das Wesen, die Größe G’ttes. Eigentlich wäre ja zu erwarten, dass sich das durchsetzt, was auf G’ttes eigene Urheberschaft zurückgeht, also die schriftliche Tora in Reinkultur. Doch schön und interessant ist eben – und es kann gar nicht genug betont werden: Es sind gerade die von Menschenhand geschriebenen Bundestafeln, die zu Stand und Wesen gekommen sind. Moses als ihr Autor, steht für die ganze Menschheit. Erstaunlicherweise setzt sich die vom und für den Menschen überlieferte mündliche Tora durch. Als Abbild der ersten, zerbrochenen Tafeln, der schriftlichen Tora bildet sie die Basis des Judentums bis heute. Die mündliche Tora belebt und durchströmt es, wie Blut durch einen Körper strömt und ihn lebendig erhält.
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Predigt zu Schabbat Chol Ha Moed – Wer schimpft, den verlässt seine Seele Das Schimpfen ist eine sehr problematische Eigenschaft. Es ist eine Krankheit, von der wir alle befallen sind. Es kann das innere Gleichgewicht des Menschen und die Beziehung innerhalb der Familie und der Gesellschaft zerstören. Wir wissen, dass viele Menschen schimpfen, wenn sie nicht bekommen, was sie wollen. Der Mensch erwartet von seiner Umgebung ein bestimmtes Verhalten. Reagiert diese aber anders, als er sich dies vorgestellt hat, beginnt der Ärger. Das fängt schon bei Kleinigkeiten an: Der einzige vorhandene Kugelschreiber schreibt nicht mehr, oder man hat es am Morgen eilig, und das Auto springt nicht an. Wenn ein Mensch laut wird, ist die Atmosphäre gestört; es herrscht »dicke Luft«. Forschungen haben gezeigt, dass Wassermoleküle ihre harmonische Anordnung verlieren, wenn sich in ihrer Nähe eine Störung vollzieht. Wir können uns also ganz leicht an fünf Fingern abzählen, was diese Entdeckung für unseren menschlichen Körper bedeutet, der zu 70 Prozent aus Flüssigkeit besteht. Die rabbinische Literatur bietet viele Anregungen zu diesem Thema, damit wir der Untugend des Schimpfens nicht verfallen. Dazu einige Beispiele: »Wer schimpft, wird von verschiedenen Höllen beherrscht, sie besitzen ihn.« In dem Moment, in dem wir schimpfen, wird unsere Seele erschüttert. Wir verlieren unsere innere Balance, unsere Selbstbeherrschung, sei es in verbaler Hinsicht oder sogar durch unsere Taten. Negative Kräfte schaden uns, und die Teufel dominieren uns. Das Schimpfen gleicht der Hölle. »Wer schimpft, den verlässt seine Seele.« Und dann verliert der Mensch das Schönste und das Feine. Auch die jüdische Mystik erzählt uns, dass 171
der schimpfende Mensch wichtige Anteile seiner positiven seelischen Kräfte verliert. »Jeder, der schimpft, gleicht einem, der den Götzen dient.« Man erkennt in diesem Menschen keinen mehr, dem G’tt die Tora und die Mizwot gegeben hat. »Das Schimpfen bei den Dummen soll lieber unterbleiben.« Im Klartext heißt das: Nur ein Dummer schimpft. Im Buch Kohelet steht geschrieben: »Du sollst das Schimpfen von deinem Herzen entfernen, und damit hast du das Böse von deinem Inneren entfernt.« König Salomon meint, dass das Schimpfen uns – zusätzlich zu unserer allgemeinen seelischen Angeschlagenheit – auch noch physische Krankheiten einbringt. In der Medizin und auch in der Psychologie ist bekannt, dass Spannungen im zwischenmenschlichen Bereich die Ursache für somatische Beschwerden sein können. Nach Einschätzung unserer Weisen ist die Überheblichkeit die Quelle allen Schimpfens. Von Geburt an erleben wir uns als Zentrum, als Nabel der Welt und beziehen alles, was um uns herum passiert, auf uns. Und wenn wir etwas aus unserer Umgebung hören, ist unsere typische – bewusste oder unbewusste – Reaktion: »Was hat das mit mir zu tun?« Der Mensch kommt mit Eigenliebe und Eigensorge auf die Welt und versteht sich als ein Wesen, das von seinem Nächsten getrennt lebt. Und wenn er fühlt, dass er etwas nicht bekommen kann, was er sich vorstellt und wünscht, wird er unzufrieden, böse. Jeder Mensch hat zwei Ichs (Ani). Das eine Ich ist das wahre und höchste, die Seele. Das zweite Ani ist sein Ego, das in der Lehre des Chassidismus die tierische Seele genannt wird. Dieses Ego lebt sich unter anderem in unserer Überheblichkeit aus. Unübersehbar und vor allem unüberhörbar ist dieses Ich-Ego, wenn ein Mensch explodiert. Wer schimpft, geht oft davon aus, dass G’tt einen Fehler gemacht hat. Aber das ist ein lächerlicher Gedanke. Die Änderung unseres Fehlverhaltens müssen vielmehr wir selbst vornehmen. Hat ein Mensch erst 172
einmal verstanden, warum er geschimpft hat, soll er seine Reaktionen korrigieren. Er muss lernen, die Menschen so zu akzeptieren, wie sie sind, und keine Vorurteile zu pflegen. Wir können uns auch nicht auf unser persönliches und angebliches Gutsein zurückziehen, denn der Tora (1. Buch Mose 8,21) zufolge gilt für jeden: »Das Dichten und Trachten des menschlichen Herzens ist böse von Jugend auf.« Unser Auftrag in dieser Welt lautet daher, »tikkun« zu machen – sich zu ändern. Es ist nicht einfach, gegen diese Neigung zum Schimpfen anzugehen. Aber es lohnt sich, denn dadurch verhindern wir, an den Folgen zu leiden. An erster Stelle sollten wir unser eigenes Auftreten kritisch unter die Lupe nehmen. Dabei werden wir unserer Schwachpunkte bewusst und können unsere Möglichkeiten mobilisieren, den »Schimpfteufel« in uns zu bekämpfen, der sich am Monster unserer Überheblichkeit nährt. Voraussetzung dazu ist allerdings, dass man diesen »Schimpfteufel« auch überwinden will und sich sagt: Ich möchte nicht mehr schimpfen. Stattdessen möchte ich lieben, mich freuen und ruhiger werden. Das ist ein guter Anfang, um das Ziel zu erreichen. Bei der Umkehr helfen uns unsere Weisen. Sie zeigen uns den richtigen Weg, wie wir das Schimpfen auf verschiedenen Ebenen bekämpfen können. Sie betonen, wie wichtig es ist, dabei den Verstand einzuschalten, damit wir Schritt für Schritt dem Ziel näherkommen. Erstens: Immer ruhig und leise sprechen. Der Ton macht die Musik. Bleibe sanft im Ton. Rambam schrieb in seinem berühmten Brief an den Sohn, der zur Jeschiwa gegangen war: »Wenn dich jemand ruft, antworte ihm nicht laut, sondern leise wie ein Schüler, der vor seinem Rabbiner steht.« Jedes Kind weiß, wenn Vater oder Mutter mit ihm schimpft, ist das meistens ein Zeichen dafür, dass der Erwachsene ein Problem hat. Das Gleiche gilt auch für manche Situation am Arbeitsplatz. Wenn der Chef seine Stimme übermäßig erhebt, weist das auf eine Schwäche seinerseits hin. Er versucht durch die Lautstärke der Worte über seine innere Bedrohung, Krise und Angst hinwegzutäuschen. Wer persönlichen Frust an 173
seinen Mitmenschen auslässt, demonstriert nur seinen unausgeglichenen Seelenzustand. »Die Weisheiten der Klugen aber hört man leise mit Vergnügen.« Zweitens: Im Streit empfiehlt es sich, nicht sofort zu antworten. Auseinandersetzungen sollten in Ruhe geführt werden, sonst werden sie nur noch unerbittlicher und verletzender für alle Beteiligten. In der Hitze des Gefechts aufs Abkühlen setzen. Lieber einen Tag abwarten. Drittens: Die Fronten sich beruhigen lassen. Mein Vater sel. A. gab mir den Rat, wenn ich sehr aufgebracht und erregt war, tief durchzuatmen und spazieren zu gehen. Das hat mir sehr geholfen. Die Großeltern haben immer gesagt, bevor man antwortet, sollte man bis zehn zählen oder ein Glas kaltes Wasser trinken. Viertens: Wir sollten versuchen, einen Menschen immer positiv zu beurteilen und Erbarmen zu zeigen. Dazu gehört es, sich in die Situation des anderen hinein zu denken und zu fühlen. Vielleicht hat ja derjenige, der gerade mit mir schimpft, einen Berg persönlicher Probleme zu bewältigen, einen Umbruch in seinem Leben zu verkraften und meint es gar nicht persönlich mit mir. Wenn ich mit jemandem in einem Raum arbeite und mich die Art und Weise, wie er sich verhält, stört, soll ich besonders an seine guten Eigenschaften denken, denn jeder Mensch hat gute und schlechte Eigenschaften. Fünftens: »Nachdem wir mit jemandem geschimpft haben, sollen wir unser Verhalten überprüfen.« Wir müssen uns Gedanken machen und analysieren, warum wir uns gerade so benommen haben. Sind wir, wenn wir einmal wieder in eine ähnliche Situation kommen, vor einer Wiederholung unseres schlechten Verhaltens gefeit? »Wir sollten uns immer bewusst sein, dass das, was uns zustößt, eine Probe darstellt.« Alles hat seine Gründe, sagt die jüdische Mystik. Auch wenn wir leiden, ist es für uns eine Lehre, aber keine Strafe. Es bietet uns eine Möglichkeit zur Verbesserung. Das Judentum betont, dass G’tt uns solche Proben zur Bewährung auferlegt. Daher sind wir aufgerufen, 174
Situationen des Leidens mit Liebe zu akzeptieren. Ein bescheidener Mensch versteht es, die Realität zu akzeptieren, weil er darauf vertraut, dass alles von G’tt kommt und seinem Willen unterliegt. Ein klassisches Beispiel für diese Überzeugung finden wir beispielsweise in der Geschichte von Josef und seinen Brüdern: Als der Vater Jakow starb, dachten sie, dass sich Josef jetzt an ihnen rächen würde. Daraufhin antwortete Josef: Die Brüder trügen keine Schuld, weil es G’ttes Wille war, dass er nach Ägypten kam, wo er Vizekönig wurde. Rabbiner Awraham Jizchak Kook sel. A. (1865–1935) sagt über das Schimpfen: »Wenn ein Mensch schimpft, zeigt er, dass er Talente, Träume oder starke Ambitionen hat, die er nicht verwirklichen kann. Vor diesem Hintergrund muss es uns also darum gehen, unsere Gaben und Vorhaben so zu realisieren, dass sie mit spiritueller Hilfe in Bahnen geleitet werden, auf denen sie keinen Schaden anrichten.« In der Umgangssprache sagen wir, dass derjenige ein Mann sei, der auf den Tisch klopft, und alle müssen ihm zuhören – und manchmal gibt es auch solche Frauen. Im Judentum heißt das Wort für Mann »Gewer« und ist mit dem Verb »lehitgaber« verwandt, das »überwinden« bedeutet. Der also, der die Versuchung zum Schimpfen überwindet, ist der wahrhafte Held. Nicht umsonst heißt es: »Der ist ein Held, der seinen Trieb bekämpfen kann.«
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Hoschana Rabba - Die letzte Chance Hoschana Rabba ist der letzte Tag des Laubhüttenfestes. An diesem Tag beenden wir mehrere Gebote, die Mizwot dieses Festes. Dazu gehörte, die sieben Festtage über in der Laubhütte zu sitzen und während der täglichen Gebete die Arbat HaMinim – den Strauß aus den vier Arten, nämlich Palmwedel, Zweige von Myrten und Bachweiden sowie einer Zitronenart, dem Etrog – zu schwingen. Zur Zeit des Tempels in Jerusalem kam damals noch die Sitte des Wasserschöpfens aus dem Schiloa-Teich hinzu. Das hebräische Wort Hoschana bedeutet »rette uns«, und diese Bitte wird auch mehrere Male – Rabba bedeutet viel – während der G’ttesdienste des Festes gesagt. Im jüdische Bewusstsein ist Hoschana Rabba der letzte Tag der Jamim Noraim, der ernsten Tage. Damit endet die Periode der Hohen Feiertage, von Rosch Haschana über Jom Kippur mit dem anschließenden SukkotFest. Zwar feiern wir Rosch Haschana auch als Neujahrsfest, aber man kann das jüdische Neujahr nicht mit dem weltlichen Jahreswechsel vergleichen. Das jüdische Neujahr wird auch Tag des Gerichtes genannt, da wir an Rosch Haschana unsere Abrechnung dem Herrn der Welt übergeben, um an Jom Kippur dann das gerechte Urteil zu bekommen. Deshalb versucht jeder Jude, in diesem Zeitraum Teschuwa (die Umkehr zu G’tt) zu vollziehen. Für diejenigen, die das in diesen Tagen nicht geschafft haben, stellt der Tag von Hoschana Rabba eine letzte Chance dar. Deshalb wünschen wir einander an Hoschana Rabba auch »eine gute Quittung« und das bedeutet, dass wir in das Buch des Lebens eingetragen werden mögen. Man stellt sich nun die Frage, warum Hoschana Rabba am Ende dieser ernsten Tage steht? Unsere Rabbiner geben uns in der Literatur die Erklärung: Dieser Tag war ein persönliches Geschenk von G’tt an den Pat176
riarchen Abraham, damit er ihn seinen Nachkommen weiter überliefere: »Und G’tt sagte zu Abraham: ›Ich bin einzig und du bist einzig. Ich werde deinen Kindern einen Tag geben, wo sie ihre Sünden bedenken können. Wenn sie an Rosch Haschana gesühnt haben, dann ist es gut. Wenn nicht, dann muss dies an Jom Kippur nachgeholt werden. Und wenn sie es auch an diesem Tag nicht geschafft haben, dann schenk ich euch Hoschana Rabba als letzte Möglichkeit.« Worin besteht nun die tiefere Verbindung zwischen Abraham und diesem Tag? Abraham stand in der 21. Generation seit der Erschaffung der Welt – zehn Generationen waren es von Adam bis Noach, zehn weitere von Noach bis Abraham. Erst Abraham in der 21. Generation erkannte seinen wahren G’tt, zerstörte die Götzenbilder und verbreitete den Glauben an einen einzigen G’tt – der Monotheismus war entstanden. Und weil Abraham Kind der 21. Generation war, gab G’tt seinen Kindern den 21. Tag des neuen Jahres als Datum von Hoschana Rabba, als letzte Möglichkeit, ein neues Kapitel im Leben, im neuen Jahr zu beginnen. Es ist gleichzeitig der 21. Tag des jüdischen Monats Tischrei, der in der Tora als siebter Monat gezählt wird. Zu diesem Festtag gibt es einige Bräuche, die ihn begleiten. In der Nacht vor Hoschana Rabba sprechen wir eine Reihe von Gebeten, die als Tikkun – als Verbesserung und Korrektur unserer Gesinnung – bezeichnet werden. In dieser Nacht des Lernens lesen wir ausgewählte Stücke aus der Tora. Auch tragen wir einen weißen Kittel – die Farbe soll die Reinheit symbolisieren – und wir beten im gleichen Stil wie an Rosch Hoschana und Jom Kippur. Ein weiterer besonderer Brauch an diesem Festtag sind die Hakafot. Diese Prozessionen mit den Arba Minim um das Lesepult der Synagoge herum werden wie in der Zeit des Tempels vollzogen. Dabei werden verschiedene Gebete gesprochen, die immer wieder mit dem Wort 177
»Hoschana«, rette uns, beginnen. Nach diesen Prozessionen schlagen wir mit einem Bund von fünf Bachweidenzweigen – Arawa – drei- bis fünfmal auf den Boden, so heftig, dass die Blätter abfallen. Diese Sitte stammt von den Propheten Haggai, Sacharja und Maleachi. Da der Brauch keinen direkten Ursprung aus der Tora hat, gibt es auch keinen dazugehörigen Segensspruch. Interessant ist es zu erfahren, warum gerade die Bachweide für diesen Brauch gewählt worden ist. Die jüdischen Mystiker erklären dies so: Jeder soll an diesem Tag eine letzte Möglichkeit haben, ein gutes Urteil für das neue Jahr zu erhalten. So symbolisieren die Blätter der Bachweiden zweierlei: Zum einen haben Weiden keinen besonderen Geruch und keinen besonderen Geschmack, stellen so das einfache Volk dar, das keine Torakenntnisse hat und die Gebote nicht erfüllt. Zum anderen erinnert die Form der Weidenblätter an die Form von Mund und Lippen. Mit diesen Bachweidenzweigen in der Hand kommen wir nun zu G’tt und zeigen ihm, dass wir unter uns Menschen ohne Torakenntnisse haben, die auch nicht die religiösen Gesetze einhalten. Diese Menschen ähneln zwar den schlichten Bachweiden, aber sie haben eine positive Eigenschaft: Sie haben Mund und Lippen, um zu G’tt zu beten. Sie sind bereit, sich zu beugen, zu leiden und – wie die Weidenzweige – bis auf den Boden geschlagen zu werden, vor G’tt, damit er ihnen verzeihen und sie in das Buch des Lebens eintragen möge. Das Volk ähnelt dem Hirten, der ohne Kenntnisse nur aus purem Zufall an Rosch Haschana oder Jom Kippur in die Synagoge gekommen ist, der nicht beten konnte, ja im Leben noch keinen Buchstaben gesehen hatte. Und der noch nicht einmal verstand, vor G’tt richtig zu weinen. Aber als dieser Hirte zu pfeifen begann, war dieser Ton allein wie ein Schrei zum Himmel, wie ein Gebet, so dass die Tore des Himmels sich auch für ihn mit Erbarmen öffneten.
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Das Chanukkafest – Aufstand der Schwachen Die Wurzeln des Chanukkafestes liegen in einem etwa 2180 Jahre zurückliegenden historischen und zugleich wunderbaren Ereignis. Der griechische König Antiochus Epiphanes befahl den Einwohnern aller von ihm beherrschten Länder, die eigene Religion und Kultur zugunsten der hellenistischen aufzugeben. Das Gesetz Moses wurde außer Kraft gesetzt. Auf die Einhaltung der Speisevorschriften, des Sabbats und der Durchführung der Beschneidung stand die Todesstrafe. In dieser Situation zu kapitulieren, bedeutete damals wie heute, die jüdische Identität zu aufzugeben und sich der heidnischen Umwelt anzupassen. Aber im Volk Israel lehnte sich eine toratreue Gruppe der Makkabäer und Hasmonäer gegen die Verbote auf, um die eigene Religion und Tradition zu bewahren. Ihren Mitgliedern war von Anfang an klar, dass die Chance im Streit gegen das griechische Imperium gleich Null war. Doch ihre Angst konnte sie nicht besiegen, weil sie auf G’tt vertrauten. G‘tt half den wenigen und Schwachen gegen die vielen und Starken, sodass sie am Ende obsiegten und wir im Ausgang dieses Kampfes das erste Wunder von Chanukka erkennen. Dieser Krieg dauerte drei Jahre. Die Griechen hatten den Jerusalemer Tempel zwar nicht zerstört, aber erobert und entweiht. Sie stellten ihr Götterbild von Zeus in den Tempel und opferten auf dem Altar unreine Tiere, außerdem entfernten sie alle heiligen Gegenstände. Als die Juden den Tempel zurückeroberten, reinigten sie ihn samt Altar und stellten den ursprünglichen Zustand wieder her. Der Krieg endete mit dem Sieg der Juden am 25. des jüdischen Monats Kislev, im Jahre 167 vor unserer Zeit. Als die siegreichen Hasmonäer zur Einweihung des Tempels kamen, wollten sie die Menora wieder in Gebrauch nehmen. Sie suchten nach reinem Öl und fanden ein Krüglein mit dem Stempel des Hohenpriesters, versehen aus der Zeit vor dem Krieg. Seine Menge konnte eigentlich nur für einen Tag reichen. Statt179
dessen reichte sie für acht Tage. Das war das zweite Wunder von Chanukka. Auch wenn sich sogar Juden der weit verbreiteten und viele Lebensbereiche prägenden griechisch hellenistischen Kultur assimiliert hatten: Durch den Widerstand der Makkabäer und Hasmonäer entging damals das jüdische Volk der religiösen wie kulturellen Anpassung. Ohne Zweifel, die Helden dieses Wiedereinweihungsfestes waren die Makkabäer und Hasmonäer. Das Wort „Makkabi“ lässt sich zweifach erklären. Zum einen bedeutet „Makkabi – makäwet“ „Hammer“ und steht symbolisch für den Sieg der wenigen und Schwachen über die vielen und Starken. Die Makkabäer haben die Griechen einem Hammer vergleichbar geschlagen. Außerdem steht das Wort „Makkabi“ mit seinen vier hebräischen Buchstaben für die Abkürzung von „Mi kamocha ba'elim Haschem - Wer ist wie DU unter den Göttern, Ewiger?“ Auch das Wort Chanukka hat verschiedene Bedeutungen. Erstens: „Sie ruhten (die Makkabäer und Hasmonäer) am 25 . Kislev von allen Kriegen“, zweitens „Einweihungsfest“ und drittens „Lichterfest“. Das Chanukkafest wird meistens in der Weihnachtszeit begangen. In dieser Zeit sind die Tage kurz und dunkel. Durch diese natürlichen Gegebenheiten gelingt es leicht, schon durch ein kleines entzündetes Licht die Finsternis zu durchbrechen und zu erhellen. Das Wunder mit dem Krüglein Öl ist im Judentum zu einem wichtigen Symbol geworden. Die Griechen schütteten das Öl zwar nicht aus, aber sie entweihten es. Auf Hebräisch heißt Öl „Schemen“. In diesen Buchstaben findet sich das Wort „nechama“ wieder, das „Seele“ bedeutet. Demnach erinnern wir uns mit der Feier des Chanukkafestes auch an den Versuch der Griechen, die Seele des jüdischen Volkes zu entweihen. Wir gedenken der vielen Juden zum Beispiel in Babylon, Spanien, Osteuropa, Marokko und Jemen, die durch die Jahrhunderte hindurch der
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Entweihung ihrer Religion durch Einflüsse heidnischer Kulte widerstanden. Wie viele Heldenerzählungen von mutigen Frauen, Kindern und Männern gibt es, die für die Heiligung des G’ttesnamens ihr Leben geopfert haben, nur um nicht entweiht zu werden und fremden Göttern dienen zu müssen. Außer Zweifel steht dabei, dass die Juden nur widerstehen und trotzdem als Volk überleben konnten, weil G’tt ihnen zur Seite stand. Die Geschichte vom Chanukkafest ist nach wie vor auch die Geschichte unserer Tage, unsere Geschichte. Versuche und Versuchungen uns zu assimilieren gibt es bis heute genug! Viele Sitten und Bräuche verbinden sich heute mit dem Chanukkafest. So zünden wir am 25. Kislev die erste Kerze am Chanukkaleuchter an. An den folgenden sieben Tagen wird jeweils eine weitere Kerze zum Leuchten gebracht, bis am letzten Festtag schließlich alle acht Kerzen der Chanukkia brennen. Während die Menora mit sieben Leuchtern ausgestattet ist, finden wir bei dem Chanukkaleuchter acht Leuchten und zusätzlich einen Kerzenhalter vor. Der neunte Leuchte ist lediglich für den „Diener“ vorgesehen, also für die Kerze, mit der alle anderen entzündet werden. Zum Chanukkafest freuen sich die Kinder auf das Geld, das ihnen die Erwachsenen schenken. Aber auch die Armen werden bedacht, damit sie die Gebote von Chanukka erfüllen und sich Kerzen kaufen können. Man isst Pfannkuchen und Lattkes (Lewiwot und Sufganiot), die mit Öl gebacken werden, um an das Ölwunder zu erinnern. Jeden Abend, nach dem Sonnenuntergang, versammelt sich die ganze Familie, nehmen Groß und Klein an der feierlichen Zeremonie der Chanukkakerzen teil. Denn alle sollen sich an diesen Krieg für die Heiligung des G’ttesnamens durch das Volk Israel erinnern.
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Auf dem Weg nach Purim: Tezawe Schabbat Sachor – 5. Mose 25, 17 – 19
Amaleks Sünde An diesem Schabbat lesen wir im 5. Buch Mose „Gedenke, was dir die Amalekiter taten auf dem Wege, da ihr aus Ägypten zogt“ (25,17). So schärft das Judentum dem Volk Israel für alle Zeiten ein, an den Überfall der Amalekiter zu erinnern. In 2. Mose 17 lesen wir: Amalek hat das Volk Israel in Refidim auf der Halbinsel Sinai hinterhältig attackiert. Daraufhin befiehlt Mose seinem Assistenten Joschua, Männer auszusuchen, die gegen die Amalekiter kämpfen sollen. Er selbst nimmt seinen Stab und steigt zusammen mit seinem Bruder Aaron und Chur auf eine Anhöhe. Solang Mose seine Hände hochhält, gewinnen die Israeliten die Oberhand, lässt er sie jedoch aus Ermüdung sinken, gewinnen die Amalekiter die Oberhand. Als jedoch Aaron und Chur Moses Hände stützen, kommt es zum endgültigen Sieg der Israeliten über ihre Feinde. Daraufhin fordert G’tt Mose auf, die Geschehnisse mit Amalek niederzuschreiben, und Joschua soll er einprägen: „... dass ICH das Andenken Amaleks auslöschen will, soweit der Himmel reicht. (17,14) Während es im 2. Buch Mose noch heißt, dass G’tt derjenige ist, der Krieg gegen Amalek führt, ergeht im 5. Mose das Gebot an Israel, das Andenken des Amalekiters auszulöschen. Wie kommt es zu dieser Zuspitzung, dass dem Volk Israel befohlen wird, einen Völkermord zu begehen? Wie lässt sich dieses offenbar rassistische Gebot noch vermitteln, nach der Erfahrung der Schoa, nachdem Israel am eigenen Leib einen beispiellosen Völkermord erlebt hat? Ist diese Mizwa für das Judentum heute noch aktuell?
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Um hier antworten zu können, ist die Sünde Amaleks zu ermitteln, die das Gebot seiner Auslöschung in der Tora nach sich zieht. Die rabbinische Literatur ist der Ansicht, dass Amalek die Abschreckungskraft des Volkes Israel gebrochen hat, die den Hebräern durch die wunderbaren Umstände während ihres Exodus aus Ägypten zugekommen war. Seitdem umgab sie ein Nimbus der Unbesiegbarkeit, weil ihr G’tt selbst für sie eintrat und stritt. Davon ließen sich jedoch die Amalekiter nicht einschüchtern, sondern griffen das Volk G’ttes „ohne mit der Wimper zu zucken“ in der Wüste an. So erreichten sie, dass auch bei anderen Völkern die Hemmschwelle, sich mit Israel in einen Krieg einzulassen, deutlich herabgesetzt wurde. Im Klartext heißt das: Amaleks Sünde bestand darin, dass er G’ttes Autorität vor aller Welt erschütterte und deshalb das Urteil seiner Vernichtung über ihn ergeht. Diese Sünde Amaleks darf auf keinen Fall weitere Kreise ziehen und Schule machen. Sie verletzt das Ansehen G’ttes, die Ehre seines Namens. Die Frage, ob das Volk Israel heute noch dieses Gebot zur Vernichtung der Feinde G’ttes befolgen soll, verneinen Rabbi Mosche ben Maimon und Rabbi Zwi Berlin eindeutig. Sie verweisen auf die sich in Zukunft weiter erfüllende Prophezeihung Jesajas: „Denn voll ist die Erde der Erkenntnis des Ewigen, wie Wasser die Meerestiefe bedecken. (11,9) Die gegenwärtigen Feinde des Volkes Israel ähneln zwar den Amalekitern, die es vernichten wollten und in der Pessach-Haggada lesen wir, dass diese Feinde auch nicht aussterben werden, dass vielmehr in jedem Geschlecht und Zeitalter Boshafte wider uns aufstehen, um uns zugrunde zu richten; doch allein der Heilige, gelobt sei ER, rettet uns aus ihrer Hand.
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Purim – Das Losfest Der Name des Purimfestes leitet sich vom Wort „Pur“ ab, das „Los“ bedeutet. Dieses Los zog Haman, ein Nachkomme Amaleks und oberster Minister des Achaschwerosch, um den Tag der Vernichtung der Juden zu bestimmen, die in den 127 Ländern des Königs von Persien lebten. Doch Mordechai und seine Cousine Esther vereitelten die mörderischen Pläne des Judenhassers Haman. Und so wird das Fest bis heute zur Erinnerung an das Wunder der Errettung der Juden gefeiert. Seine Entstehungsgeschichte finden wir in der Rolle (Buch) Esther. Sie gehört zu den fünf Megillot (Ruth, Hoheslied, Kohelet und Klagelieder Jeremias). Nach der Tradition wurde die Rolle Esther von ihr, Mordechai und 120 Rabbinern der großen Versammlung geschrieben. Die Purimgeschichte spielt in der Zeit vor dem zweiten Tempel, ca. 300 Jahre vor dem Chanukkawunder 165 v.u.Z. Der persische König Achaschwerosch, Sohn Darius I. auch unter seinem griechischen Namen Xerxes populär geworden, regierte ca. 20 Jahre von 486 – 465 v. u.Z. Er baute einen Palast in der Hauptstadt Susa und war bekannt für seine rauschenden und ausschweifenden Feste. Er galt als ein reicher und zugleich charakterschwacher König. Seine Regierungsgewalt erstreckte sich von Indien (Hodu) bis Äthiopien (Kusch). Das Thema der Esther - Geschichte ist die Verfolgung der persischen Juden und ihre Rettung in Persien. Sie beginnt mit dem Weinfest, das der König eingerichtet hatte. Zu diesem Fest lud er seine erste Frau Königin Waschti ein. Sie lehnte diese Einladung jedoch kühl ab, was ihr die Scheidung vom beleidigten Ehemann und König einbrachte. Daraufhin schlugen seine Berater vor, nach einer neuen Frau für den Herrscher zu suchen. Unter den Kandidatinnen, die in die Auswahl und zum Palast kamen, erwählte sich der König die wunderschöne jüdische junge Frau namens Esther. 184
Zur gleichen Zeit hatte Haman aus dem Stamm Amalek das Amt des ersten Ministers am Hof des Königs Achaschweroschs inne. Er wird als ehr- und karrieresüchtig beschrieben. Mit Hinterlist gelingt es ihm, den König für seinen Plan zu gewinnen, alle Juden des persischen Reichs an einem Tag zu vernichten. Dazu zog er das Los, das auf den 13. des jüdischen Monats Adar fiel. Nachdem Mordechai die Pläne Hamans bekannt wurden, wendet er sich an Esther. Als Königsgattin soll sie intervenieren und ihr Volk vor dem Hass Hamans retten. Esther reagiert umgehend und bittet Mordechai und alle Juden in Susa für sie drei Tage zu fasten und zu beten, bevor sie sich an den König wendet. Sie lädt im Rahmen ihrer Audienz den König und seinen ersten Minister zu einem Fest ein. Gut gelaunt und von seinem zukünftigen Karrieresprung überzeugt, verlässt Haman die Abendrunde der Königin. Auf dem Heimweg kommen alle, die ihm begegnen, seiner Anordnung nach, sich vor ihm zu verbeugen – nur der Jude Mordechai nicht, der am Tor des Palastes furchtlos sitzen bleibt. Auf den Rat seiner Frau Seresch hin, lässt Haman schon einmal vorsorglich einen Galgen für dessen Exekution errichten. In derselben Nacht konnte der König nicht schlafen und ließ sich aus dem Buch mit den täglichen Meldungen vorlesen. Dadurch erfährt er, dass Mordechai sein Leben gerettet hatte, als zwei seiner Diener einen Anschlag auf ihn planten. Nun erhält sein großer Minister Haman den Auftrag, Mordechai in königlichen Kleidern auf einem Ross sitzend durch die Straßen Susas zu führen und ihm huldigen zu lassen. Und Haman rief aus vor ihm: „So tut man dem Mann, den der König gern ehren will.“ (Esther 6,11) Wieder schäumt Haman vor Wut. Wieder wird er – zusammen mit dem König - zu einem Fest der Königin eingeladen. Esther offenbart ihrem Mann, dass sie jüdischen Glaubens ist und dass Haman befohlen hat, ihr Volk zu vernichten. Schließlich befiehlt der König, Haman an den Galgen zu hängen, den dieser für Mordechai hatte errichten lassen. Dieser avanciert nun zum persönlichen Berater des Königs, der auf Bitten seiner Frau den Befehl zur Auslöschung der Juden in seinem Reich zurück185
nimmt und ihnen darüber hinaus das Recht verleiht, sich gegen ihre Feinde zu wehren. Angst und Trauer der Juden wandelte sich in Licht, Freude, Wonne und Ehre. Am 13. Adar, an dem durch das Los bestimmten Tag der Vernichtung der Juden kam es nun zum Sieg der bisher Bedrohten über ihre Feinde in Persien. Aber die Güter der Besiegten berührten die Juden nicht. Auf den Tag des Kampfes folgte ein Tag der Freude, der 14. Adar für die nachfolgenden Generationen als das Purimfest eingesetzt wurde, an dem sich die Juden an den Sieg über ihre Feinde erinnern. Am Ende der Geschichte wird noch einmal die herausgehobene Position Mordechais vielleicht der erste Hofjude - betont, dass er es bis zu seiner Erwähnung in den persischen Annalen gebracht hat. Schlüsselrollen haben im Buch Esther neben Haman inne: 1. Die Heldin des Buches: Esther (hebräisch Name „Hadassa“ = Myrte). Man nimmt an, dass ihr Name aus dem babylonischen stammt (Esther von „Eschtar“) Sie ist Waise und die Tochter Abihails, die als junge und wunderschöne jüdische Frau zur persischen Königin aufsteigt. Sie ist mit einem scharf denkenden Verstand ausgestattet und sorgt für den Bruch zwischen dem König und seinem Minster Haman. Ddadurch wurden die Pläne zur Vernichtung ihres Volkes vereitelt. 2. Mordechai, ein Jude aus dem Stamm Benjamin trug wahrscheinlich auch einen babylonischen Namen: Marduk. Seine Familie wurde aus Jerusalem unter Nebukadnezar von Babel deportiert, 72 Jahre bevor Achaschwerosch/Xerxes König wurde. Er war ein Verwandter Sauls, des ersten König Israels, der gegen Amalek und dessen König Agag kämpfte. Seine Cousine Esther adoptierte er, nachdem sie Mutter und Vater verloren hatte.
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3. Achaschwerosch/Xerxes („höchster Herrscher“) König von Persien, Sohn Darius I. und Enkel des Kyrus, herrschte über 127 Länder vom Indus bis zum Nil. Er regierte die Völker seines Königreiches despotisch und zeigte gegenüber den Juden eine harte Hand. Von labilem Charakter stand er unter Einfluss seiner Höflinge und war entscheidungsschwach. Er war dem Alkohol zugetan, traf seine Entscheidungen im berauschten Zustand, liebte die Frauen und führte ein kostspieliges Leben. Alles war von seinen Launen abhängig. Er wurde in seinem Schlafzimmer ermordet aufgefunden. Das Purimfest unterscheidet sich von den anderen jüdischen Festen im Wesentlichen dadurch, dass es von einer fröhlichen ausgelassenen Atmosphäre beherrscht wird. Bei allen anderen Festen kommt die Freude nur gedämpft zum Zuge. An Purim aber ist der Freude keine Grenze gesetzt. Bei den übrigen Festtagen steht die geistlich spirituelle Ausrichtung des Volkes im Mittelpunkt. In der Rolle Esther wird dagegen die Gefahr beschrieben, die dem physischen, dem nackten Überleben der Juden droht. Und weil sie überwunden wurde, wird Purim ganz materiell, leiblich mit Essen und Trinken gefeiert. So wird den Feinden der Juden aller Generationen demonstriert: Seht her, wir essen und trinken, wir leben noch - trotz aller Todesdrohung! Die ausgelassene Freude zu Purim ist durchaus als Mizwa, als Gebot zur Freude zu betrachten! Auch das Wunder von Purim unterscheidet sich von den anderen Wundern der jüdischen Feiertage, an denen G’ttes Kampf und Eingreifen für sein Volk gedacht wird. In der Rolle Esther wird nicht einmal G’ttes Name erwähnt. G’tt arbeitet und agiert hier im Stillen und im Verborgenen zugunsten seines Volkes. Bis zuletzt herrscht eine ungeheure Spannung, wie sich welches Schicksal im Zusammenspiel mit den anderen „Mitspielern“ entwickeln und fügen wird im Wechsel von Abstieg und
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Aufstieg. Und im Hintergrund ahnt der Leser, das nicht sichtbare, aber doch umso wirkungsvollere Walten des G’ttes Israels. Zu den Festbräuchen sei noch erwähnt: Der 13. Adar ist als Fastentag festgelegt, der 14. Adar als Festtag. Mit diesem Fest ist – auch im Gegensatz zu den anderen jüdischen Festen keine Arbeitsruhe verbunden. Die Gebote von Purim sind rabbinisch begründet, finden sich also nicht in der Tora. Die Megilla erwähnt vier zu Purim auszuführende Mizwot (Gebote): Lesung des Estherbuches, das Purimmahl zu halten, einander mit Lebensmitteln zu beschenken und Geschenke für die Armen auszuteilen. Unsere Weisen ergänzten noch zwei weitere Gebote: Toralesung über die Vernichtung Amaleks und das Gebetsstück „Über die Wunder“. Wir essen dreieckig geformte Hamantaschen, die mit Mohn und Marmelade gefüllt sind und die wir - zum Spott über unseren vernichteten Feind - auch als „Hamanohren“ bezeichnen. Der Mohn symbolisiert die Dummheit des Königs und die Taschen den Hut des Hamans. 1912 rief der Tel Aviver Gymnasiallehrer Abraham Aldema einen Karneval mit Masken und Verkleidungen ins Leben. Er wird „ad-lo-yada“ genannt. Dieser Begriff stammt aus dem Traktat Megilla und bedeutet, dass ein Mann so viel Wein trinken soll, dass er nicht mehr zwischen dem verfluchten Haman und dem gesegneten Mordechai unterscheiden kann.
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Zweiter Teil von Pfarrerin Sabine Münch
Predigten
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Mit Gott gegen Gott Liebe Gemeinde! Die Geschichte, die wir heute als Predigttext hören, ist weit über unsere Alltags- und auch Sonntagsgedanken angesiedelt. Oft habe ich sie gelesen und gehört und doch will mir immer wieder das Blut in den Adern stocken und ich höre mich insgeheim sprechen: Das kann doch nicht wahr sein! Das kann nicht Gottes Wille sein, was ich da höre. Und doch lädt sie uns ein, soweit wir können, mitzugehen Abrahams Weg ins Land Moria. 1 Nach diesen Geschichten versuchte GOtt Abraham und sprach zu ihm: Abraham! Und er antwortete: Hier bin ich. 2 Und er sprach: Nimm doch deinen Sohn, deinen einzigen, den du lieb hast, Isaak und gehe hin in das Land Morija und opfere ihn daselbst zum Brandopfer auf einem Berge, den ich dir zusprechen werde. 3 Da stand Abraham des Morgens frühe auf und gürtete seinen Esel und nahm mit sich zwei Knaben und Isaak seinen Sohn und spaltete Holz zum Brandopfer, machte sich auf und ging hin an den Ort, davon ihm GOtt gesagt, hatte. 4 Am dritten Tage hob Abraham seine Augen auf und sah die Stätte von ferne. 5 Und sprach zu seinen Knaben: Bleibet ihr hier mit dem Esel; ich aber und der Knabe wollen dorthin gehen; und wenn wir angebetet haben, wollen wir wieder zu euch kommen. 6 Und Abraham nahm das Holz zum Brandopfer und legte es auf seinen Sohn Isaak; er aber nahm das Feuer und Messer in seine Hand. Und so gingen die beiden miteinander, mitsammen.7 Da sprach Isaak zu seinem Vater Abraham: Mein Vater! Abraham antwortete: Hier bin ich, mein Sohn. Und er sprach: Siehe, hier ist Feuer und Holz; wo ist aber das Lamm zum Brandopfer? 8 Abraham antwortete: Mein Sohn, GOtt wird sich ersehen ein Lamm zum Brandopfer. Und so gingen die beiden miteinander. 9 Und als sie kamen an die Stätte, die ihm GOtt zugesagt hatte, baute Abraham daselbst einen Altar und legte 190
das Holz drauf und fesselte Isaak seinen Sohn und legte ihn auf die Schlachtstatt oben auf das Holz. 10 Und Abraham schickte seine Hand aus und fasste das Messer, daß er seinen Sohn schlachtete. 11 Da rief ihm der Engel des HErrn vom Himmel und sprach: Abraham, Abraham! Er antwortete: Hier bin ich. 12 Er sprach: Lege deine Hand nicht an den Knaben und tu ihm nichts! Denn nun weiß ich, daß du GOtt fürchtest und hast deines einzigen Sohnes nicht verschonet um meinetwillen. 13 Da hob Abraham seine Augen auf und sah einen Widder hinter ihm in der Hecke mit seinen Hörnern hangen; und ging hin und nahm den Widder und opferte ihn zum Brandopfer an seines Sohnes Statt. 14 Und Abraham hieß die Stätte: Der HErr siehet. Daher man noch heutigentages sagt: Auf dem Berge, da der HErr siehet. 15 Und der Engel des HErrn rief Abraham ein zweites Mal vom Himmel 16 und sprach: Ich habe bei mir selbst geschworen, spricht der HErr, dieweil du solches getan hast und hast deines einzigen Sohnes nicht verschont, 17 daß ich deinen Samen segnen und mehren will wie die Sterne am Himmel und wie den Sand am Ufer des Meeres; und dein Same soll besitzen die Tore seiner Feinde. 18 Und durch deinen Samen sollen alle Völker auf Erden gesegnet werden, darum daß du meiner Stimme gehorcht hast.19 Also kehrte Abraham wieder zu seinen Knaben; und machten sich auf und zogen miteinander gen Bersaba und wohnte daselbst. Gen 22, 1-19 Der Ausgangspunkt: Gott versuchte Abraham und sprach zu ihm: „Abraham!" Und er antwortete: „Hier bin ich!" Davon geht die Geschichte aus, dass Gott zu einem Menschen spricht, und der antwortet: „Hier bin ich". Selbstverständlich ist das nicht, dass wir Gottes Wort so hören und stehen bleiben und antworten: „Hier bin ich". 191
Man kann vor Gottes Wort und vor dieser Geschichte leicht weglaufen. Man kann sie ins Museum stellen und sagen: „Seht nur, da wird erzählt, wie in uralter Zeit, die Menschenopfer durch Tieropfer ersetzt wurde", eine historisch interessante Legende. Man kann diese Gottesgeschichte auch abschieben in die Schreckenskammer einer unverantwortlichen Phantasie und überlegen sagen: „Das kann man doch Kindern nicht erzählen, die bekommen doch Angst." Lassen wir sie einfach aus, für die Kinder ... und für uns auch. Man kann sie auch in das veraltete Alte Testament abschieben und noch überlegener sprechen: „Da kann man mal sehen, wie grausam die Juden von Gott reden. Eine primitive Religion, nicht wahr? Haben wir ja schon immer gewusst!" Es gibt wohl viele Weisen, diese Geschichte vom Gehen, Glauben und Gehorsam Abrahams loszuwerden, sie von sich zu schieben. „Hier bin ich!" sagt er und hört die schweren Worte und läuft nicht davon. Ein Kenner des Alten Testaments schreibt voller Ehrfurcht: „Der Glaube Israels hat lange und angestrengt auf die Hände Gottes geschaut, bevor diese Geschichte wurde, was sie ist." Und sie zu hören, ist den Menschen in Israel nicht leichter gefallen als uns. Eine rabbinische Auslegung bewahrt ihren Schrecken und erzählt, Sara habe sechsmal geseufzt, als Abraham ihr alles erzählt hat, und sei dann gestorben. Es ist nicht die moderne Zeit, es ist etwas in uns Menschen, das sich gegen sie auflehnt. Der Weg. 192
„Gott versuchte Abraham," so sagt es die erste Zeile schon. Und Abraham machte sich früh am Morgen auf und ging an den Ort, den Gott ihm zugesagt hatte. Es ist kein Teufel, kein böser Mensch - es ist Gott, der Abraham versucht. Es ist der Gott der Verheißung. Wie entsetzlich! Luther hat es auch so empfunden: "Was meinst du aber, dass Abraham hier in seinem Herzen gefühlt hat? Denn er hat ja Fleisch und Blut gehabt und ist ein Mensch mit einem weichen Herzen gewesen.“ Es geht um Isaak, um Gottes Verheißung, durch die alle Völker auf Erden gesegnet werden sollen - sie wird mit diesem Gotteswort „Nimm doch deinen Sohn, deinen einzigen ...“ durchgestrichen. Wie sonst hätte Abraham Gott verstehen sollen? Gott tritt hier offenbar mit Gott in Widerspruch. (Chrysostomus) Denn, so fragt Luther, wie reimt sich das zusammen: Heute habe ich noch einen Sohn, morgen aber werde ich nichts haben denn Asche, wie lange aber dieselbe ... wird zerstreut liegen, weiß ich nicht; das aber weiß ich, dass sie wiederum lebendig werden wird, es geschehe gleich noch bei meinem Leben, oder über 1000 Jahre nach meinem Tode. Denn das Wort sagt, ich werde von diesem Isaak, der zu Asche werden soll, Samen haben. So, liebe Gemeinde, trotzt Luther auf Gottes Verheißung gegen SEIN Wort, das jetzt gegen Abraham ergeht: „Nimm doch deinen Sohn, deinen einzigen ...“ Luther kann's nicht lassen: Mit Gott gegen Gott – so wird er es an anderer Stelle einmal allen empfehlen, die sich mit Gott in ihrem Leben nicht mehr auskennen: mit Gottes einmal gegebener Zusage gegen seine Abgründe zu streiten. Sich mit aller Macht und auch mit allem Zorn auf
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Gott in Gott festzukrallen, darum geht es, wenn du den Abgrund unter dir spürst. Und so lasst uns dies Unbegreifliche, was Abraham hier von Gott widerfährt, einmal aushalten, so wie Luther es versucht hat, wenn er schreibt: Ich habe aber gesagt, dass wir diese Anfechtung Abrahams nicht erreichen noch verstehen können, sondern dass wir sie nur von ferne sehen und ihr etwas nachdenken können. Von ferne etwas nachzudenken, ja, das ist es, was wir tun können. Drei Tage Stille herrscht auf dem Weg ins Land Moria. Drei Tage drückendes Schweigen, Zeit eigenen Gedanken nachzuhängen. Und doch führt jeder Schritt näher zum endgültigen Ziel, zu dem Platz, an dem alles zu Ende sein wird. Das ist das Entsetzliche: Gott verfinstert sich, taucht in ein undurchdringliches Dunkel ein. Viele haben und erleben Ähnliches auf ihre Weise. Mancher wird auch nach siebzig und mehr Jahren die grauenvollen Bilder der Erinnerung an die schreckliche Zeit im Krieg nicht los, die jämmerliche Angst im Keller, wenn rundherum die Bomben fielen, die Toten, die man auf der Flucht zurücklassen musste, ohne sie beerdigen zu können. Und die schrecklichen Bilder der Vergewaltigungen. „Frau komm!" hieß es da. Bilder, die Seelen tief verletzten und sich immer wieder melden, irgendwann des nachts, und mit den Alpträumen steht sie wieder auf, die Frage von damals: „Wo warst du Gott?“ Und die Züge der Menschen aus den KZ, die vorbeigetrieben wurden, Menschen in gestreiften Anzügen, geschlagen und entsetzlich verhungert. Bilder einer himmelschreienden Gottesfinsternis.
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Und auch uns, die wir in besseren Zeiten leben, sind sie nicht fremd, die Stunden entsetzlicher Gottesfinsternis, wenn unsere Gebete um einen geliebten Menschen offenbar ins Leere gehen. „Warum nur, Herr?“ Und es kommt keine Antwort. Soviel Elend und Leid, wie sollte es da nicht dunkel werden in einem Menschen? Israel lebte mit offenem Himmel. Alles, was geschah, kam von Gott geschickt. Das war Israels Glaube. Israel konnte nicht das Unheil auf Menschen schieben, konnte nicht für das Böse in dieser Welt den Teufel verantwortlich machen. Um vieles erträglicher wären solche Gedanken gewesen als diese Gottesfinsternis. Immer fühlte Israel sich in all dem undurchdringlich Finsteren vor Gott gestellt. Deshalb klagen die Psalmen mit solcher Leidenschaft und klagen nicht nur, sondern klagen ihn an den einzigen Herrn der Welt: „Warum Herr? Du wirst mir dunkel, mir ist, als verlöre ich dich und tappe in kalter Finsternis umher. Wo ist jetzt deine Verheißung? Wo bist du?“ Und Abraham geht seinen Weg in der Stille. Kein Wort, drei Tage lang und Abraham geht in die tiefste Gottesfinsternis hinein seinem Gott entgegen. Und wenn wir nur fünf Schritt mitgehen, diesen Weg mit Abraham mitgehen, dann werden wir uns laut oder leise sprechen hören: „Wo ist da der Gott der Liebe? Einen solchen Gott will ich nicht?“ sagt etwas in uns. „Das kann Gott nicht fordern. Niemals. Das ist unmenschlich!“ – so empört sich unser Herz. Vielleicht kann es gar nicht anders, unser Herz, weil es sich längst ein Bild von Gott gemacht hat. Ein Bild, das keinen Bruch erlaubt. Undenkbar, ein Gott, der solche Opfer fordert. Dann lieber gar keinen Gott!
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So tief tragen wir ein eingewurzeltes fertiges Bild von Gott in uns, dass wir der Erzählung einfach das Recht bestreiten, so von Gott reden zu dürfen. Bei dieser Sache wollen wir die Hand im Spiel behalten, denn wir meinen, besser zu wissen, wie man angemessen von Gott redet, als hier erzählt wird. Bei Gott muss es feierlich, heilig und human zugehen. Eine Zumutung für alle human Denkenden ist diese Erzählung. Wiederum: Liegen nicht am Rand des Weges, den Israel mit seinem Gott gegangen ist, die Trümmer so mancher Gottesbilder, die ihm zerschlagen wurden? Abraham schweigt und glaubt: mit Gott gegen Gott! Für ihn ist Gott frei zu nehmen und zu geben. Für ihn ist Gott mehr als ein hoher Gedanke zur Sicherung eines ethischen Weltbildes. Gott ist kein edles Prinzip, er ist ein freies DU. Er bringt unsere Maße durcheinander und zu klein sind sie allemal, wenn sie mit IHM zu tun bekommen. Nicht einzuordnen! Wenn er nicht frei ist, bis hin zur völligen Unverständlichkeit frei, wenn er nicht anders ist, als ich ihn mir immer schon gedacht habe, was ist er dann? Ein Gedanke, mehr nicht! Gott aber ist der HERR. Ein Du, ein unverwechselbares, fremdes Du ist Gott, oder er ist ein Gefangener, ein Geschöpf meiner Vorstellungen. Nicht mehr. Nach den Geschichten der Heiligen Schrift ist Gott aber der ganz Andere.
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Das respektiert Abraham, deshalb schweigt er, ohne zu verstehen, deshalb bricht er auf in die Gottesfinsternis und lässt dennoch Gott nicht los. Mit Gott gegen Gott. Manches Gottesbild liegt zerschlagen in Trümmern am Rande der Wege Israels und der Christenheit. All diese klugen und hochmoralischen Gottesbilder, so edel sie sein mögen, sie sind oft selbst gezimmert. Wie viel trostlose und harmlose Bastelei, in der wir uns einen Gott zurechtträumen, der am Ende nichts außer „Ja“ sagen kann. Das alles muss zu Bruch gehen, wenn denn der wahre, der heilige und lebendige Gott ans Licht kommen soll, der frei ist, sich dir verweigern darf, sich verbergen darf in dem Dunkel, das kein Verstand auflösen kann. Gott kann dir unheimlich sein und unberechenbar erscheinen. Gott ist nicht Gott von des Menschen Gnaden. Es gibt kein Maß, nach dem wir Gott einordnen könnten. Wenn du es mit Gott zu tun bekommst, dann gib dich aus der Hand, lass dich los, aber lass IHN nicht los. Gib dich in seine Hand! Im Dunkel erst beginnt einer zu ahnen, dass Gott nun einmal höher ist, als unser Kopf es aushält. Darauf hat es Abraham ankommen lassen, auf den Glauben an Gott gegen Gott. Abraham hat seinen Sohn auf das Feuerholz gebunden, weil er seine Bindung an den heiligen Gott um nichts in der Welt lösen wollte. Wenn sich ihm der Gotteshimmel auch maßlos verfinstert hatte, sein Leben wollte er selbst gegen diesen Himmel nicht verschließen, der Himmel sollte ihm nicht begraben sein, hinter seiner Finsternis stand ja 197
immer noch die Verheißung seiner Zukunft mit abertausenden von hell leuchtenden Sternen geschrieben. Er ließ alles in der Welt los, aber Gott ließ er nicht los, das machte ihn zu einem Gottesfürchtigen. 10 Und Abraham schickte seine Hand aus und fasste das Messer, daß er seinen Sohn schlachtete. 11 Da rief ihm der Engel des HErrn vom Himmel und sprach: Abraham, Abraham! Er antwortete: Hier bin ich. 12 Er sprach: Lege deine Hand nicht an den Knaben und tu ihm nichts! Denn nun weiß ich, daß du GOtt fürchtest und hast deines einzigen Sohnes nicht verschonet um meinetwillen. Der Abgrund tat sich nicht auf. Auf die Gottesfinsternis folgte der Gottesmorgen. Der Engel des Herrn fuhr dazwischen und griff ihm in den Arm. Der Himmel tat sich auf, einen Spalt breit für den Arm des alles rettenden Engels. Liebe Gemeinde, Abraham wurde zum Segen für die vielen Generationen nach ihm. Er hielt ihnen allen den Himmel in verfinsterter Zeit offen, auch über dem, der um die neunte Stunde schrie: Eli, Eli lama asabthani? und ward eine Finsternis über das ganze Land, 9 als wollte Gott seine Schöpfung mit dem Tod dieses einen aus Israel wieder ins Chaos versinken lassen. Aber der Heilige Israels ließ und lässt nicht los: Den EINEN nicht und mit dem einen auch alle anderen nicht. Der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs geht mit uns ins Dunkel hinein, hält uns fest an der Hand, wenn die Worte aus der Tiefe ans Licht wollen: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?"
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Mt 27,46
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Ein Riss geht durch den Tempelvorhang, weil es Gott nicht mehr im Himmel hält. Dieser Schrei reißt ihn herunter. Raus aus dem Himmel, hinab in die Tiefe, herunter ins Leid dieses Gekreuzigten, der seine Bindung an den Gott Abrahams um nichts in der Welt lösen will. Zu stark sind die Bande dieses einen an den Heiligen Israels. Er reißt den Ewigen in sein Leid und seinen Tod hinein. Und was der Ewige da in der Tiefe und Not dieses Gequälten ausgerichtet hat, das haben wir am dritten Tag erfahren, als aus Gottesfinsternis ein Gottesmorgen, Ostern wurde. Wer wollte jetzt noch behaupten, Gott wisse nichts von deinem Leid und deiner Not, von deinen Versuchungen, den Himmel über dir zu schließen und dicht zu machen, weil du es mit diesem Gott nicht mehr aushältst? Das Leid eines jeden Menschen hat sich Gott im Sturz aus dem Himmel über Golgatha auf sein Herz gebunden. Du trägst nichts mehr alleine. Das ist ein für allemal vorbei. Ihr geht miteinander. Mitsammen. Ein Herzschlag! Gott und Mensch. Wir gehen mitsammen durch dieses Leben und auch in den Tod, der unser Sturz in Gottes Himmel sein wird. Liebe Gemeinde, der Trost Abrahams Thomas Bernhard, der österreichische Dichter unserer Tage hat ihn verstanden:
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Preisen will ich dich, mein Gott in der Verlassenheit und alle Angst verweht und jeder Tod schenkt mir der Augen Licht mein Gott ich preise dich wie lang die Zeit auch währt ich bin nicht mehr allein bei dir bin ich und froh zerflattert sind die Vögel schwarz und wieder schwarz die Zahl zerspringt der Mond schreit auf ich aber bin vorbei Ja, alle Angst verweht und die schwarzen Vögel der Alptraumbilder zerflattern, wo einer nicht aufhört, Gott zu preisen – unter verfinstertem Himmel. Und dann wird es einmal heißen: „Ich aber bin vorbei!“ „Man muss weitergehen, man muss weitergehen" , beschwört Sören Kierkegaard. Ja, du musst weitergehen an Gottes Hand, bis du es sagen kannst: „Ich aber bin vorbei mit Gottes Hilfe“. So wie Abraham hindurch war und dem neuen Tag entgegenlebte mit Isaak seinem Sohn und wie Gott mit allen seinen Abrahams- und Christuskindern, wie er mit dir und mit mir hindurchgeht und wir mit ihm entgegenleben seinem und unserem großen und herrlichen Ostern. Und darum: Lasst uns weitergehen, um Gottes willen weitergehen und nicht loslassen.
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Jüdische Trinität 1 Im dritten Monat nach dem Ausgang der Kinder Israel aus Ägyptenland kamen sie dieses Tages in die Wüste Sinai. 2 Denn sie waren ausgezogen von Raphidim und wollten in die Wüste Sinai und lagerten sich in der Wüste daselbst gegenüber dem Berge. 3 Und Mose stieg hinauf zu Gott. Und der HERR rief ihm vom Berge und sprach: So sollst du sagen dem Hause Jakob und verkündigen den Kindern Israel: 4 Ihr habt gesehen, was ich den Ägyptern getan habe, und wie ich euch getragen habe auf Adlerflügeln und habe euch zu mir gebracht. 5 Werdet ihr nun meiner Stimme gehorchen und meinen Bund halten, so sollt ihr mein Eigentum sein vor allen Völkern; denn die ganze Erde ist mein. 6 Und ihr sollt mir ein priesterlich Königreich und ein heiliges Volk sein. Das sind die Worte, die du den Kindern Israel sagen sollst. 2. Mose 19, 1 - 6
Liebe Gemeinde, Im dritten Monat nach dem Auszug aus Ägypten, so beginnt unsere Erzählung. Im dritten Monat – das hört sich wie nach einer Schwangerschaft an. Denn sonst sprechen wir kaum von Monaten als Zeitangabe. Im dritten Monat – das ist weniger eine Zeitansage, als vielmehr eine Qualitätsangabe. Sie kündigt uns an, dass Gott im Umgang mit seinem Volk Großes vorhat, dass er mit etwas schwanger ist, was er an seinem Volk erfüllen will. Ja, wir können uns von diesem Bild ruhig noch ein Stückchen weiter leiten lassen und sagen: Gott geht mit seinem Volk schwanger und will
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es austragen. Nicht umsonst wird vom Volk Israel in unserem Textabschnitt dreimal als von den Kindern Israel geredet. Nebenbei bemerkt: In der zuerst gehörten Übersetzung, die unser Lektor aus der unserer Kirche verordneten Bibellese vorgetragen hat - der neueren Lutherübersetzung, wird nur noch ganz neutral von den „Israeliten“ gesprochen, nicht mehr von den Kindern Israel, die JHWH, den Herrn zum Vater haben. Das ist zumindest eine sehr blasse Übersetzung des Hebräischen „benei jisrael“. Was haben sich unsere modernen Bibelübersetzer dabei gedacht, wenn sie aus den Kindern Israels Israeliten machen - und zwar fast durchweg bei der Übersetzung des Alten Testaments?10 Sind sie womöglich nicht damit fertig geworden, lange bevor sie selbst als Christen zu Kindern Gottes wurden, dass es da schon Kinder Gottes, die Juden als seine erstgeborenen Söhne und Töchter gab und gibt!? Zurück zu Gottes Schwangerschaft mit seinen Kindern Israels im dritten Monat. Auch die Zahl drei hat ihre Bedeutung – wie übrigens alle Zahlen in unseren beiden Testamenten nicht beliebig gewählt sind, sondern über sich hinaus weisen, an andere Begebenheiten aus der Erzähltradition der Bibel erinnern, das eine mit dem anderen verknüpfen wollen, wie es Zahlen ja gewöhnlich tun: das eine zum anderen zu zählen – im Plus- wie im Minusbereich.11
10 11 263ff.
Meines Wissens nur noch in Ps 103, 7 + 148, 14 erhalten. Vgl. dazu: J. Werlitz, Das Geheimnis der heiligen Zahlen, Wiesbaden 2003,
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Aller guten Dinge sind drei - vollkommen wird's dann. Diese Redewendung kennen wir aus unserem alltäglichen Sprachgebrauch und dahinter steckt die Erfahrung des Menschengeschlechts: Wo Mann und Frau sich zusammentun, da entsteht ein drittes, das Kind. Und in dieser Dreiheit entsteht eine neue Einheit: die Familie. Aller guten Dinge sind drei: Vater, Mutter, Kind. Das wissen wir heutzutage nur zu gut: Aller guten Dinge sind drei: Vater, Mutter, Kind. Wo es diese drei nicht mehr gibt, gerät das Leben ins Stocken, erfüllt sich nicht mehr. Und nun geht Gott, der die Kinder lieb hat, im dritten Monat schwanger mit dem Volk Israel, hat es von der Erschaffung der Welt an schon unter seinem Herzen getragen bis hierher wie ein starker Adlervater auf seinen Tragflügeln in die Wüste und wird es in alle Zukunft geleiten. Merkt ihr, liebe Gemeinde, auch hier wieder die „Drei“, die Zahl der Vollkommenheit, der Hinweis, dass Gott keines seiner Küchlein ihm entwischt und verlorengeht, weder in der Vergangenheit – eins, noch in der Gegenwart – zwei, noch in der Zukunft – drei. Aber seht nur, wo der Herr niederkommt, vom Berge herabrief zu Mose, seine Kinder Israel zur Welt bringt, sammelt und aussendet: mitten in der Einöde, der Wüste. Da wo nach Menschenvorstellung und -meinung nichts gedeihen und werden kann, da bringt Gott Frucht, da streut er sein Samenkorn aus und gibt Segen zum Gedeihen dazu - mitten in der Wüste. Das, ihr Lieben, läßt uns staunen und aufhorchen: Die Wüsten unseres Lebens und unseres Glaubens sind für Gott fruchtbare Oasen. Vergessen wir das nicht in unserer Drangsalshitze12. 12
EG 369, 5.
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Vertrauen wir darauf, wie es einmal jemand gebetet hat: Keiner verirrt sich so weit weg, dass er nicht zurückfinden kann zu dir, der du nicht bloß bist wie eine Quelle, die sich finden lässt. Du, der du wie eine Quelle bist, die selber den Dürstenden sucht.13 Ja, von Anfang an soll das Volk seines Eigentums wissen: Ihr bleibt auf mich angewiesen, auch wenn sich für euch die Wüste eines Tages in ein Land von Milch und Honig verwandeln wird. In der Wüste versammelt er seine Kinder vor seinem Angesicht, konzentriert er sie auf sein Wort und seinen Willen. Er will ihre Augen und Herzen los haben von der Gewalt der Götter und der Übermacht der Ägypter und aller Heidenvölker, die ihm nach dem Leben trachten. Hier in der Wüste macht Gott seine auserwählten Kinder zu Ungläubigen. 14 Zu Ungläubigen in ihrem Verhältnis zur Welt und allen deren Göttern. Hier greift Gott mit Adlerkrallen zu, greift sich das Volk seines Eigentums, weckt sie aus der Trägheit des Fleisches; er nimmt sie und läßt sie schauen auf seinen Adel und auf seine Taten; er stellt sie hier in der Wüste beiseite und zeigt ihnen den Weg, den er geht; er spricht sie an und vertreibt so alle anderen widerwärtigen, dämonischen oder auch lieblichen Stimmen aus ihren Ohren und Herzen, er gibt ihnen sein Wort und erweckt den Lobgesang in ihren Herzen; er legt die Hand auf ihren Leib und lehrt sie, ihm zu dienen. Das tut er nicht nur einmal, sondern alle Tage und Wege neu! Wie er das tut?
13 14
Nach S. Kierkegaard. vgl. K. H. Miskotte, Biblisches ABC, Neukirchen-Vlyn 1976, 130f.
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Gott, liebe Gemeinde, bleibt kein alleinerziehender Vater. Wie gesagt: Aller guten Dinge sind drei. Er schenkt seinen Kindern die Tora. Die Tora ist die Mutter Israels. Das ist die jüdische Vollkommenheit der drei: Gott, Israel und die Tora15. Die Tora leitet ihre Kinder unter den Weisungen und Geboten des Vaters in dieser Welt in seine Wege und Bahnen, in denen sie ihm gehorchen, gehören sollen. Mit Mutterhänden leitet er die Seinen stetig hin und her. 16 Sie tröstet, wie einen seine Mutter tröstet.17 Sie weint, wenn du weinst. Du weinst, wenn sie weint. Sie mahnt, ruft zur Umkehr. Dein Wort ist meine Fußes Leuchte und ein Licht auf meinem Wege. 18 Liebe Gemeinde, lest Zuhause selber einmal in eurer Bibel weiter von der Mutter Tora im Psalm 119, wie die Kinder Israels sie über alles loben und ihrem Vater für sie danken. Kinder Israels, von Vater JHWH, Mutter Tora auf den Weg gebracht durch diese Welt und vor die Heidenvölker: Das mag ein langer Weg sein, eine Wüstenwanderung oder ein Laufen in der Rennbahn, aber was da geschieht, das kennst auch du. Es geschieht etwas von Gott her in einem Menschen, sozusagen nebenbei, und es ist gewaltig:
15 G. Mandel, Gezeichnete Schöpfung, Eine Einführung in das hebräische Alphabet und die Mystik der Buchstaben, Wiesbaden 2003, 29. 16 EG 326, 5. 17 vgl. Jes 66, 13. 18 Vgl. Ps 119, 105.
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ein gewöhnlicher Mensch bekommt eine außergewöhnliche Beziehung, und die hält sich durch: wie, das weiß niemand, das weiß der Mensch selbst wohl am wenigsten. Er ist Gottes Knecht, Gottes Mitarbeiter, Gottes Kind und Augapfel, obwohl von ihm selbst nicht viel Besonderes zu sagen ist, nur dass ihm gesagt und versprochen ist: Ich werde bei euch sein und mich euch mächtig erweisen. Das Volk Gottes, liebe Gemeinde, die Kinder Israel werden in der Wüste mit der Gottesgabe des Unglaubens gegenüber den Mächten der Menschen und dieser Welt ausgezeichnet und belastet. Das ist der Juden Priesteramt vor allen Völkern: Dass sie es aller Welt bezeugen, wohin sie auch immer in der Gnade und im Zorn Gottes verstreut werden: Ihm allein gebührt die Anbetung und Ehre, es ist kein Gott, außer dem Herrn Zebaoth, dem Gott der Väter Abrahams, Isaaks und Jakobs. So wie er die Juden unter die Völker und im Land Israel als seine Saat ausstreut und sendet, so zeugen die vielen von dem Einen Gott Israels, dem Schöpfer des Himmels und der Erden. Antwortete der Leibarzt Friedrich des Großen auf dessen Frage: „Nennen sie mir einen Beweis Gottes in drei Worten!“ „Majestät, die Juden!“19 Die Juden sind vor, d.h. an erster Stelle, als die Erstgeborenen und zuerst Erwählten, vor allen anderen Völkern, auch vor dem Christenvolk, die Auftragnehmer und Botschafter Gottes in und für die Welt. Ausgezeichnet und belastet mit dem Auftrag, den Menschen ein Gewissen vor Gott zu machen. Ein Gewissen, das geschärft ist für die Gebote Gottes, für die Liebe und Gerechtigkeit, in denen sich die Menschen 19
Zitate zum Kirchenjahr, Bd. 2, 193.
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untereinander begegnen und annehmen sollen. Dass wir in dem Unglauben an die Mächte dieser Welt wachsen und stark werden, dass wir Gott dem Herrn allein die Ehre geben. Das ist das Priester-, Mittleramt jedes Juden, das er nach dem Willen und Auftrag Gottes in seinem Leben auszufüllen hat. Israel ist Salz der Erde, Licht der Welt, das würzt und brennt, Licht, das die Schatten schärfer macht und die Dunkelheit ausleuchtet, Verdrängtes heraufholt, Umkehr ermöglicht. Adolf Hitler, der selbsternannte Priester des dritten Reiches und all die ungezählten, die gleichen Sinnes mit ihm waren und sind, die hatten und haben dies sehr wohl verstanden: Adolf Hitler hat gespürt, dass im jüdischen Volk das Gewissen der Menschheit verborgen liegt. Der Angriff des Nationalsozialismus war ein Angriff auf dieses Gewissen. 20 Abel Herzberg schreibt 1944 im Konzentrationslager Bergen-Belsen in sein Tagebuch: Ja, nun weißt du, warum sie sich dem Judentum widersetzen. Ein Mensch muss 'hart' sein. Aus Metall. Und die Bibel sagt, dass man gerecht sein muss. Und sie sagt es nicht nur einfach so, sondern ihre Stimme schreit, schreit im eigenen Blut: 'Kain, Kain, wo ist dein Bruder Abel?' Oh, schweige, schweige verfluchte schwache Stimme. Du, der du dich schuldig fühlst, ohne zu morden, laß mich morden ohne Schuldgefühl.
20
Junge Kirche 1/2004, 36.
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Weg mit den Juden.“21 Weg mit dem Gewissen der Menschheit - dass dies durch die Auslöschung der jüdischen Brüder und Schwestern geschehen sollte, das haben die Kirchen, bis auf wenige Ausnahmen, nicht verstanden, nicht verstehen wollen. Obwohl sie doch durch den Sohn Gottes, den Juden Jesus, längst mit demselben Gottesgewissen ausgezeichnet waren. Aber es gibt auch die negative Vollkommenheit der Zahl drei: Da dachte Petrus an die Worte Jesu, da er zu ihm sagte: "Ehe der Hahn krähen wird, wirst du mich dreimal verleugnen", und ging hinaus und weinte bitterlich. (Mt 26, 75) Liebe Gemeinde, unter den Kinder Israels, Gottes Kronjuwelen, ist eines dabei, das hat von ihm – vor allen anderen - einen ganz besonderen Auftrag bekommen. Diesen Auftrag will ich beschreiben, indem ich noch einmal auf das Bild des Adlers in unserem Text zurückkomme: Auf Adlers Fittichen hat Gott Israel aus Ägypten befreit. Wie Adler ihre Jungen tragen, so wurde und wird das Volk Israel von Gott getragen. Raschi, ein jüdischer Ausleger, deutet dies so:22 Alle anderen Vögel halten ihre Jungen mit ihren Krallen unter sich fest. So schützen sie sie vor Angriffen von oben, von über ihnen fliegenden Vögeln. Doch der Adler fliegt höher als alle anderen. Darum fürchtet er sich nur vor dem Menschen. Der könnte ihn mit einem Pfeil treffen. Deshalb setzt er seine Jungen auf seine Flügel, um sie zu schützen, und sagt: Lieber soll der Pfeil mich durchbohren als meine Kinder.
21 Zweistromland. Tagebuch aus Bergen-Belsen, Wittingen 1989, 113. 22 aus: Predigt von Dr. Evelina Volkmann, in: GOTTES nähe im fremden, Exodus 19, 1 – 9, Materialheft für Gottesdienst und Gemeindearbeit, Stuttgart 200, 21.
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Liebe Gemeinde, das ist der einzige, wesentliche Unterschied zwischen dem Auftrag von uns Christuskindern und den Kindern Israels bis auf diesen Tag: Wir glauben und bekennen, dass dies geschehen ist. Gott, der uns alle miteinander auf Adlers Fittichen trägt, der hat sich in seinem jüdischen Kronjuwel Jesus am Kreuz vom Pfeil unserer und aller Welt Sünden durchbohren lassen. Aber er lebt! Er lebt in göttlicher Vollkommenheit, dreieinig: Vater, Sohn und Heiliger Geist.
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Die Menora Liebe Gemeinde! Einigen ist es schon aufgefallen: ab und zu steht die Menora, der siebenarmige Leuchter auf unserem Altar. „Menora“ ist ein hebräisches Wort und heißt „Leuchter“. Wo dieser Leuchter seinen Ursprung hat und was er bedeutet, darüber wollen wir heute in der Predigt hören. Im 2. Buch Mose erfahren wir, dass Mose auf dem Berg Sinai, als er auch die Tafeln mit den zehn Geboten bekam, den Auftrag erhielt, ein Heiligtum zu errichten, das Stiftszelt. Es wird Stiftszelt genannt, weil alle Materialien dazu vom Volk gestiftet wurden. Es diente den Kindern Israel auf ihrer 40-jährigen Wanderung durch die Wüste als transportables Heiligtum und wurde Jahrhunderte später zum Vorbild des Tempels in Jerusalem. Zu der Inneneinrichtung dieses Zeltes - und später des Tempels - gehörte auch ein Leuchter, die Menora. Von ihr heißt es im 25.Kapitel: 31 Du sollst auch einen Leuchter aus feinem Golde machen, Fuß und Schaft in getriebener Arbeit, mit Kelchen, Knäufen und Blumen. 32 Sechs Arme sollen von dem Leuchter nach beiden Seiten ausgehen, nach jeder Seite drei Arme. 36 Beide, Knäufe und Arme, sollen aus einem Stück mit ihm sein, lauteres Gold in getriebener Arbeit. 37 Und du sollst sieben Lampen machen und sie oben anbringen, so dass sie nach vorn leuchten, 38 und Lichtscheren und Löschnäpfe aus feinem Golde. 39 Aus einem Zentner feinen Goldes sollst du den Leuchter machen mit allen diesen Geräten. 40 Und sieh zu, dass du alles machest nach dem Bilde, das dir auf dem Berge gezeigt ist. Diese Worte geben uns Auskunft über Form und Gestalt der Menora – nicht über ihre Größe und Ausmaße. Sie besteht aus einem Sockel mit 210
einem Mittelschaft, an dessen oberem Ende ein länglich-schmaler Kelch angebracht ist. Von beiden Seiten zweigen jeweils drei Arme ab, die ebenfalls in Kelche münden. Alle sieben Röhren (Mittelschaft plus sechs Seitenarme) sind mit knospen- und blütenförmigen Ornamenten verziert. Die seitlichen Röhren wachsen bis zum Mittelschaft empor, so dass alle sieben Lampen in gleicher Höhe liegen. Der Leuchter soll aus reinem Gold sein, welcher aus einem Stück gehämmert ist. Außer den sieben Kelchen ist nichts angesetzt. Alles, was am Leuchter ist, stammt aus ihm selbst. Was für eine Bedeutung hat dieser Leuchter nun? Das will ich in drei Abschnitten aufzeigen und habe damit nicht erschöpfend über seine Symbolik gesprochen. In erster Linie verbreitet die Menora Licht. Und damit erinnert sie uns daran, dass Gott zu allererst Licht geschaffen hat. Und Gott sprach: Es werde Licht! Und es ward Licht.23 Das so hervorgerufene Licht kam nicht von Sonne, Mond oder Sternen, die ja erst am vierten Tag erschaffen wurden. Es handelt sich bei diesem Licht auch nicht um eine simple Beleuchtung, sondern um ein übersinnliches Licht, eine Art göttliche Lebenskraft als Antwort des Ewigen auf Verzweiflung, Ausweglosigkeit und Konfusion, Verwirrung. Auf Hebräisch heißt dieses Licht „or“. MenORa – wir hören es: im Licht der Menora scheint Gottes Licht auf, das mehr ist als alle Lichter zusammen, die wir uns selber und einander aufstecken können, um Licht in unsere Finsternis und ungelösten Fragen bringen zu können. Und deshalb heißt es am hellerlichten Tage in Israel:
23
1.Mose 1,3
211
Kommt nun, ihr vom Hause Jakob, laßt uns wandeln im Lichte des HERRN!24 Und wo findet ein Mensch das Licht des Herrn, an das einer erinnert wird, wenn er auf die Menora schaut? Dein Wort ist meines Fußes Leuchte und ein Licht auf meinem Wege 25, antwortet uns der Beter des 119. Psalms. Und dem ganzen Volk Israel ist verheißen und aufgegeben, ein Licht unter den Völkern, den Heiden26 zu werden. Liebe Gemeinde, auch der Jude Jesus war im Tempel anzutreffen. Er lehrte, sang und betete im Schein der dort angezündeten Menorakerzen. Vielleicht hat ihn dieser prachtvolle Leuchter, die einzigartige Schönheit seines Lichterglanzes dieses Wort im Hl. Geist erkennen und aussprechen lassen: Ich bin das Licht der Welt. 27 Jesus Christus, sein Lebenslicht am Licht des Gottes Israels, angezündet; der sich für die Welt verzehrt, aber nicht verbrennt und verlischt, der vielmehr dem Tod heimleuchtet. Der Gekreuzigte und Auferstandene aus Israel, der es am eigenen Leib erfahren hat, am dritten Tage – im Grab: Das zerstoßene Rohr wird er nicht zerbrechen, und den glimmenden Docht wird er nicht auslöschen 28 Der dreieinige Gott lässt sein Licht durch Jesus Christus bei jedem Segen auch über uns Heidenchristen aufleuchten, legt es auf uns, damit wir Licht in der Welt sind 29, damit die Christen zusammen mit den Juden die Welt zu einem besseren Ort machen, indem wir Raum schaffen für das Licht der Tora, für Gottes Weisung, Wort und Willen.
24 25 26 27 28 29
Jesaja 2,5 V. 105 Jes 42,6 Joh 9,5 Jes 42,3 Mt 5,14
212
Das von Gottes Geist erleuchtete Wort der Heiligen Schrift bringt dich auf den Weg durch diese Welt, dass du dich nicht verlierst im Vielerlei, das andere und du selbst im Übermaß von dir fordern, dass du nicht zuschanden wirst an dem, was du erlebst, siehst und hörst, was dir zugefügt und zugemutet wird, dass du am Ende nicht kalt und abgebrüht wirst gegen das Leid der anderen. Zum zweiten: Es fällt nicht schwer festzustellen, dass die Menora in ihrer äußeren Form einem Baum gleicht. Der Sockel entspricht dabei dem Wurzelstock, der Mittelschaft dem Stamm und die seitlichen Arme den Ästen. Der ganze Leuchter ist mit zahlreichen Ornamenten geschmückt, die den Charakter der Menora als Symbol eines blühenden Baumes unterstreichen. Wir finden an jedem Arm mandelförmige Kelche, Blumen und Knäufe, die an Fruchtknoten erinnern. Das auffälligste Merkmal eines Baumes ist seine stetige Veränderung. Der Baum wächst gleichzeitig in die Tiefe und in die Höhe und fügt seinem Stamm jährlich einen neuen Ring hinzu. Er entwickelt sich, kommt zur Blüte und schafft Früchte und farbige Blätter. Später verliert er sein Laub, erscheint unvermittelt vertrocknet und leblos, bevor er schließlich wieder zu Kräften kommt und sich erneuert. Mit anderen Worten: Die Menora repräsentiert ihrer Form nach Entfaltung, Entwicklung, Veränderung und Wachstum. Bedenken wir andererseits, dass die Menora das einzige Gerät im Stiftszelt war, welches ganz aus Metall, und zwar aus Gold bestand, so erkennen wir etwas Eigentümliches: ihrem Material nach steht die Menora scheinbar für etwas Entgegengesetztes zu dem, was sie ihrer Form nach ausdrückt, nämlich für das Feste, Beharrliche und Unveränderliche.
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Zwar gehören Metalle zu den Stoffen, die sich durchaus formen und bilden lassen, wenn man sie mit Feuer und Hammer zu bearbeiten versteht. Später jedoch verfügen sie über eine außergewöhnliche, fast unnachgiebige Härte. Die Menora vereinigt in sich also zwei Eigenschaften, die sich auf den ersten Blick widersprechen, auf den zweiten aber ergänzen: das sich ewig Gleichbleibende und das sich unablässig Verändernde. Nun wissen wir, dass die Menora im Tempel als Träger des Ewigen Lichtes diente. Sie verbildlicht somit eine Weisheit, die Zukunft eröffnet: Wenn das Licht, Gottes Licht Israel und Kirche ewig brennen und leiten, wenn es uns für alle Zeiten Erkenntnis und Erleuchtung spenden soll, dann brauchen wir zugleich Beständiges und Veränderliches, Altes und Neues. Diese Einsicht wird in der Bibel durch eine Begebenheit illustriert, die Abraham auf seinem Rückweg aus Ägypten ins Land Kanaan widerfährt. Da überbringt ihm Melchizedek, Priesterkönig von Salem, als Gastgeschenk Brot und Wein 30. Vom Wein wissen wir, dass er umso wertvoller und besser wird, je älter er ist. Brot aber schmeckt nur dann gut, wenn es frisch ist. Wir brauchen also Altes und Junges gleichzeitig, in der Bibel ausgedrückt durch Wein und Brot. Nicht umsonst spielen diese Elemente sowohl im Judentum am Schabbat, dem Tag, welcher der Ewigkeit gewidmet ist, wie auch in der Kirche – beim Abendmahl - eine entscheidende Rolle. Die Menora drückt dieses Wissen aus, indem es beide Kräfte - Beständigkeit und Erneuerung - in sich vereint. Sie erinnert daran: Gott geht seinen Weg mit Juden und Christen durch die Welt zwischen Erhaltung und Reform.
30
Gen 14,18
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Zum Dritten: Ein bedeutsames Merkmal der Menora ist die Zahl ihrer Lichter. Die Zahl Sieben kommt in der Bibel sehr oft vor. Sie bedeutet Vollkommenheit, Schöpfung und Gesamtheit. Sie vereint in sich wiederum zwei Pole, die sich auf den ersten Blick widersprechen und auf den zweiten ergänzen: Einheit und Vielfalt. Ab und zu kommt es uns, liebe Gemeinde, wird es uns bewusst, was in unserem Leben immer irgendwie mitschwingt, bei dem, was wir tun und lassen, bei dem, was wir denken und fühlen: Du bist auf der Suche nach der einen Wahrheit, die dich trägt, auf die du dich verlassen kannst. Nach jüdischer Auffassung ist Wahrheit vielschichtig, universell und allumfassend. Wahrheit heißt auf Hebräisch „ämät“. Es schreibt sich mit den Buchstaben „Aleph – Mem – Tav. Nun ist „Aleph“ der erste Buchstabe des hebräischen Alphabets, „Tav“ der letzte und „Mem“ steht genau in der Mitte. Das Wort „ämät“ drückt also schon durch seine Buchstabenkombination aus, dass die Wahrheit sprichwörtlich alles – von A bis Z – einschließt. Obschon die Menora aus einem Guss besteht und nicht etwa nach und nach zusammengefügt wird, schafft und umfasst sie mit ihren sieben Armen und Lichtern Mannigfaltigkeit, Vielfalt. Alle Lichter stehen auf einer Basis, besitzen eine Wurzel. Ein Stamm trägt die Fülle allen geistigen Erkennens. Der Stamm „fächert“ sich aber vielgestaltig aus. Die Menora als Symbol für Erkenntnis offenbart so, dass der Mensch keine absolute Wahrheit zu erkennen vermag. Sie zeigt sich uns vielmehr in verschiedenen Aspekten und mit zahlreichen Facetten. Sie lehrt, dass aus einem Stamm viele Zweige wachsen, und dass kein Licht ernsthaft von sich behaupten kann, es sei heiliger als sein Nächstes. Liebe Gemeinde, wenn wir da genau hinhören, dann kommt uns dieser mit der Menora verbundene Gedanke - dass aus einem Stamm viele 215
Zweige wachsen, bekannt vor: Aus dem Neuen Testament, der Lesung aus dem Brief des Apostel Paulus an die Christen in Rom, die wir vor der Predigt gehört haben.31 Paulus schreibt: Ob aber nun etliche von den Zweigen (aus dem guten Ölbaum; aus Israel) ausgebrochen sind und du (= Heidenchristen), da du ein wilder Ölbaum warst, bist unter sie gepfropft und teilhaftig geworden der Wurzel und des Safts im Ölbaum, so rühme dich nicht wider die (ausgebrochenen) Zweige. Rühmst du dich aber wider sie, so sollst du wissen, dass du die Wurzel nicht trägst, sondern die Wurzel trägt dich. Wir hören, liebe Gemeinde, es gibt gute Gründe für uns, die Menora im Blickfeld während unserer Gottesdienste zu haben. Sie schützt vor Dummheit und Hochmut gegenüber den Juden: Gott pflegt und hegt seinen auserwählten guten Ölbaum die Kinder Israel - mit nicht nachlassender Treue und um ihretwillen auch uns, die Kirche. Wir Christen sind in diesen auserwählten guten Ölbaum durch Jesus Christus eingepfropft. Wir wandern mit dem auserwählten Gottesvolk der Juden unter Gottes Zuspruch und Anspruch durch diese Welt. Juden und Christen sind - wie die sechs Leuchterarme der Menora - auf gleicher Höhe. Keines ist heiliger, näher bei Gott, als das andere. Licht der Völker zu sein, dazu sind wir als Juden und Christen mit unserem gemeinsamen und zugleich vielfältigem Zeugnis von Gott dem Herrn in dieser Welt unterwegs. Liebe Gemeinde, einst erblickte der Prophet Sacharja in einer Vision den zukünftigen Tempel, das Haus, in welchem alle Völker sich mit ihrem Schöpfer vereinen werden32. Er sah eine goldene Menora, umrahmt von zwei (!) Olivenbäumen. Dazu vernahm er eine Stimme, die verkündete:
31 32
Römer 11, 17-24 S. Jes 56,7
216
Es soll nicht durch Heer oder Kraft, sondern durch meinen Geist geschehen, spricht der HERR Zebaoth.33 Verlassen wir uns darauf, dass Gott seinem Werk, den anderen und uns, dass er seiner Welt treu bleibt.
33
Sach 4,6
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Gott betet 1 Halleluja! Ich danke dem Herrn von ganzem Herzen im Rate der Frommen und in der Gemeinde. 2 Groß sind die Werke des Herrn; wer sie erforscht, der hat Freude daran. 3 Was er tut, das ist herrlich und prächtig, und seine Gerechtigkeit bleibt ewiglich. 4 Er hat ein Gedächtnis gestiftet seiner Wunder, der gnädige und barmherzige Herr. 5 Er gibt Speise denen, die ihn fürchten; er gedenkt ewig an seinen Bund. 6 Er lässt verkündigen seine gewaltigen Taten seinem Volk, dass er ihnen gebe das Erbe der Heiden. 7 Die Werke seiner Hände sind Wahrheit und Recht; alle seine Ordnungen sind beständig. 8 Sie stehen fest für immer und ewig; sie sind recht und verlässlich. 9 Er sendet eine Erlösung seinem Volk; er verheißt, dass sein Bund ewig bleiben soll. Heilig und hehr ist sein Name. 10 Die Furcht des Herrn ist der Weisheit Anfang. Klug sind alle, die danach tun. Sein Lob bleibet ewiglich. Psalm 111
Liebe Gemeinde! Wir können nicht dankbar genug sein! Wir können nicht dankbar genug sein, dass wir nicht bei null anzufangen brauchen. Keiner und keine von uns, fängt bei Null an, was dein Gebet angeht.
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Lange bevor die Gemeinde Jesu Christi anfing zu beten, betete schon Israel zu Gott, dem Herrn. Das bringt bis heute auch unsere Gottesdienstordnung zum Ausdruck: Das erste Gebet, das im Normalfall von uns gesprochen wird, ist ein Psalm, den uns die Juden seit drei Jahrtausenden schenken. Oder mit den Worten des Apostel Paulus zu sprechen: Wir sind in das Gebet der Kinder Israel mit unserem Gebet im Namen Jesu Christi eingepfropft in den Ölbaum, der dem barmherzigen Gott schon Jahrtausende Frucht bringt. Halleluja! Ich danke dem HERRN von ganzem Herzen im Rat der Frommen und in der Gemeinde. Groß sind die Werke des HERRN; wer ihrer achtet, der hat eitel Lust daran. Beileibe, Jesus hat das Rad, das Gebet nicht neu erfunden, indem er den Jüngern das „Vater unser“ lehrte und wir es ihm und ihnen nachsprechen. Das „Vater unser“ stimmt in den großen Strom der Gebete des auserwählten Volkes ein. Von ihm wird es getragen; ja, es verhält sich mit unserem christlichen Beten wie bei einer Geschwisterschar, die sich um das kleinste und jüngste kümmert, dass es mitkommt. Rechts und links wird unser Beten von den jüdischen Gebeten bei der Hand gefaßt und ins Bündel des Gotteslobes aufgenommen. Was er ordnet, das ist löblich und herrlich; und seine Gerechtigkeit bleibt ewiglich. Liebe Gemeinde, unser Gebet ist geordnet und aufgehoben im Strom der Gebete der Kinder Israels. Wenn uns das Beten – was Gott verhüten möge – ausgehen sollte, Israel betet.
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Und – ich wage es kaum zu sagen – vielleicht tritt auch unser Beten für Israel ein, wenn ihnen die Luft und die Seele auszugehen droht, weil sie an Ausschwitz wieder und wieder denken müssen, wo die Gebete ihrer vergasten Schwestern und Brüder scheinbar im kalten Nichts verrauchten. Nicht wahr, so ständen doch Juden- und Christen-Geschwister löblich und herrlich vor dem Herrn ein, wenn wir füreinander um Glauben, Liebe und Hoffnung beteten; wären jeweils für den anderen Gedächtnis, kümmerten uns um seine Ängste und Sorgen. Riefen Gott füreinander den ersten, den alten und niemals vergehenden und den zweiten, den neuen Bund ins Gedächtnis, dass er nicht aufhöre, uns neue Wunder seiner Bewahrung und Führung zu stiften. Zu den Wundern, die Gott am Volk Israel getan hat, zählt der Psalmist auch die Gabe des gelobten Landes. Er läßt verkündigen seine gewaltigen Taten seinem Volk, dass er ihnen gebe das Erbe der Heiden. Das Erbe der Heiden ist das Land, in dem der Staat Israel sich vor 61 Jahren wieder gründen konnte. Man kann viel darüber diskutieren, was diese Staatsgründung für Folgen gehabt hat und hat für die dort lebenden Menschen. Aber wenn wir als Christen und als Deutsche darüber reden, dann müssen zwei Dinge von vorne herein unverrückbar klar sein. Der Christ muss wissen: Nach dem Zeugnis der Bibel gibt es kein Volk, dem ein bestimmtes Land von Gott verheißen ist, außer den Juden, denen das Land Israel von Gott versprochen und aufgegeben ist. Und diese Zusage hat Gott weder durch die Verfehlungen Israels, noch durch Verfehlungen, die Israel von außen zugefügt wurden, zurückgenommen. Im Gegenteil:
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Könnte es nicht sogar so sein, dass der Staat Israel – 1948 neu gegründet - Gottes demütige Antwort auf Auschwitz ist? Ein Zeichen, dass Gott für die Verbrechen der Menschen in Auschwitz Buße tut? Das Kreuz Christi spricht für dieses demütige Tun Gottes, wenn wir doch als Christen glauben, dass Gott am Kreuz unsere Sünde wegschafft und sich selbst über den Hals zieht - der Demütigste aller Demütigen, der Bußfertigste aller Bußfertigen. Gott, der Herr - in den Tiefen menschlicher Raserei und Schuldgeschichte, da treffen wir ihn an, da arbeitet er und pflügt unseren Blutacker34 um in ein Land, da Milch und Honig fließen. Wo immer Gott sich unter den Tod beugt, da geschieht Auferstehung. Und so können wir nicht anders, als im Staat Israel mehr als nur einen absoluten Neuanfang zu sehen. Wer nach Israel reist, erlebt Auferstehung. Auferstehung mitten im Wüsten- und Bombenfeld dieser Erde. Ein Gedächtnis seiner Wunder. Und so hemmt das wiedererlangte Land bei manch einem Holocaust-Überlebenden ein klein bisschen die Hemmnisse, an Gott zu glauben. Der amerikanische Rabbiner Abraham Heschel schreibt: Wir (Juden) haben das Land niemals aufgegeben, und es ist, als habe das Land niemals das jüdische Volk aufgegeben. Alle Versuche, in dem Land andere Zivilisationen heimisch zu machen, waren ein Fehlschlag. Zahlreiche Eroberer besetzten das Land: Römer, Byzantiner, Araber, Kurden, Mongolen, Mamelucken, Tataren und Türken. Aber was haben diese Völker mit dem Land gemacht? Keines gründete einen Staat oder bildete eine Nation. Das Land reagierte nicht.35 34 35
S. Mt 27,8. A.J. Heschel, ISRAEL, Echo der Ewigkeit, Neukirchen 1988, 42.
221
Warum nicht, liebe Gemeinde? Die Antwort gibt unser Psalm: Gott gibt Speise denen, die ihn fürchten. Und nun zum zweiten: Wer sich der deutschen Geschichte, der Schuldgeschichte an den Juden bewusst ist, besonders der zwischen 1933 und 45, der weiß sehr genau, warum die Juden in aller Welt auf die Neugründung ihres Staates nach dem zweiten Weltkrieg drängten und nur dort eine einigermaßen sichere Zufluchtsstätte für sich sahen und sehen. 12 Jahre waren die Tore der Kontinente verschlossen, und die Tore der Vernichtungslager standen offen wie ein nimmersattes hungriges Maul eines entfesselten Ungeheuers, das doch ein Gesicht trug wie du und ich. Die Wälder in aller Welt, die großen Paläste, die Täler in ihrer stolzen Schönheit, wo so viele Mütter ein Versteck hätten finden können, um ihre Kinder vor den Gaskammern zu retten - alle blieben taub für den Schrei der Not. Die Juden hatten nichts, wo sie ihr Haupt hinlegen konnten. 36 Die Gründung des Staates Israel vor 61 Jahren hängt unmittelbar mit dem mörderischen Antisemitismus zusammen, der von unseren meist auch christlich geprägten Vorfahren ausging. Wir Nachgeborenen können die Schuld unserer vorangegangenen Generationen nicht ungeschehen machen, aber wir stehen in der Verantwortung für unsere jüdischen Geschwister und haben in unserem Umfeld die Aufgabe, für ihr Wohnrecht in Israel einzutreten. Dann werden wir anfangen zu verstehen, wenn Juden uns sagen: Israel hilft uns, die Qual von Auschwitz zu ertragen, ohne gänzlich zu verzweifeln, hilft uns, einen Strahl von Gottes Glanz im Dschungel der Geschichte zu spüren. 37
36 37
S. Mt 8, 20. A.J.Heschel, ISRAEL, 73.
222
2000 Jahre lang hielt das jüdische Volk an der Hoffnung fest, dass Gott ihm gebe das Erbe der Heiden, hielt es fest am Warten auf das Land, hielt es fest am Gebet. In den Augen der anderen Menschen war es ein sinnloses, verrücktes Träumen, in den Augen Gottes war es ein allumfassendes Gebet. Liebe Gemeinde, wenn uns das heute am Israelsonntag im Gedächtnis bliebe: Es wird gebetet. Es wird von den Kindern Israel zu Gott, dem Herrn, gebetet. Keiner und keine von uns fängt bei Null an. Die Kirche Jesu Christi stimmt in einen längst vorhandenen Chor von Betern ein. Unser „Vater unser“ - wie dünn, zweifelnd und seufzend es auch immer herausgebracht wird, es wird durch Jesus Christus in den Strom der Gebete Israels hineingetragen, damit es in der Gemeinschaft der Heiligen aus Juden und Christen Gott das Herz bestürme, erinnere, dass er nicht aufhöre, uns zugewendet zu bleiben. Am Ende bleibt freilich die Frage nach diesem Wunder: dass Israel nach dem unermesslichen Grauen des Holocaust noch betet, noch beten kann. Nicht auszudenken, was unserem Volk von Gott geschehen wäre, wenn es ihm gelungen wäre, den Strom der Gebete Israels auszulöschen, wenn wir Gott das Lob für alle Zeiten gestohlen und vernichtet hätten, das er sich selbst im Volk Israel zubereitet hat. Aber nun betet Israel noch! Gott, sei dank! Heilig und hehr ist sein Name, der du thronst über den Lobgesängen Israels. 38
38
Psalm 22, 4.
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Und nur, wenn wir uns an Gott selber wenden, tut sich eine Tür zu dem Wunder auf, dass Israel auch noch nach dem Holocaust betet. Gott selber betet. Juden wie Christen können nur beten, weil Gott, der Herr, sich durch uns ausdrückt. Wie Gott sind auch die Gebete überall, aber sie brauchen Mund und Hand, um zu erklingen und sichtbar zu werden, in Wort und Tat. Ohne uns flössen sie unbemerkt durch die Welt. Menschen sind die Instrumente, die Gottes Gebete in Musik und Worte verwandeln. Was hast du aber, dass du nicht empfangen hast?39 Diese Worte des Apostel Paulus gelten auch für unser Beten. Gott hört nicht nur unsere Gebete, sondern er spricht auch unsere Gebete durch uns. Gottes Worte werden unsere Worte. Juden wie Christen sind der Tempel des in ihnen betenden Gottes. Wie immer auch Menschen gegen das Lob Gottes aus jüdischem oder christlichem Mund wüten mögen - das Gebet hört nicht auf. Es hat diese Verheißung, weil Gott dafür sorgt, dass jedes Gebet seinen Beter findet, dich und mich, die jüdische und die christliche Gemeinde. Das ist gewiss ein Wunder, Gottes Wort in unserem Mund und Herzen und wir wollen nicht müde werden, liebe Gemeinde, es im Namen Jesu alle Morgen neu für Kirche und Synagoge zu erbitten.
39
1. Kor 4,7.
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Die Mauer – ihr ganzes Wesen ist Mitleid 1 Von David, ein Wallfahrtslied. Ich freute mich über die, die mir sagten: Lasset uns ziehen zum Hause des Herrn! 2 Nun stehen unsere Füße in deinen Toren, Jerusalem. 3 Jerusalem ist gebaut als eine Stadt, in der man zusammenkommen soll, 4 wohin die Stämme hinaufziehen, die Stämme des Herrn, wie es geboten ist dem Volke Israel, zu preisen den Namen des Herrn. 5 Denn dort stehen die Throne zum Gericht, die Throne des Hauses David. 6 Wünschet Jerusalem Glück! Es möge wohlgehen denen, die dich lieben! 7 Es möge Friede sein in deinen Mauern und Glück in deinen Palästen! 8 Um meiner Brüder und Freunde willen will ich dir Frieden wünschen. 9 Um des Hauses des Herrn willen, unseres Gottes, will ich dein Bestes suchen. Psalm 122 Liebe Gemeinde! Ich freute mich über die, so mir sagten: Laßt uns ins Haus des HERRN gehen! Nun stehen unsre Füße in deinen Toren, Jerusalem. Ein ganz klein wenig können wir ahnen, was hier gesagt wird - liegt doch auch über unserem Kirchgang, wie bescheiden und fragwürdig er sei, ein Glanz, der von weither kommt, von Jerusalem her. Unser Gottesdienst ist eben keine „Veranstaltung“, die einer schnell besuchen und verlassen, die er aus Bequemlichkeit durch Knopfdruck am Fernsehapparat wie ein Fußballspiel zuhause empfangen kann.Nein, da ist ein Weg, der Zeit braucht und Zeit hat, viel Zeit. 225
Sagt, was ihr wollt: jene kleinen Grüppchen, die da am Sonntagmorgen dem Gotteshaus zustreben – sie sind kein trauriger, sie sind ein schöner und tröstlicher Anblick. Diese Menschen treibt nicht ein kurzfristiger Wunsch, sie gehorchen nicht in dem Befehl eines Tyrannen oder der allgemeinen Mode – sie folgen in Freiheit dem Gebot des Allerhöchsten, dem Gott vom Zion. Ja, es stimmt: ER braucht keine Stadt und kein Haus, um darin zu wohnen. ER, der uns in jedem Atemzug nahe ist. Aber wir bedürfen des Ortes der Sammlung, und sei es auch nur, dass wir unsere Gedanken, zerrissen unter den tausenderlei Dingen des Lebens, von weither dorthin schicken, hin zu dem Einen, der einen tröstet, wie einen seine Mutter tröstet.40 Und so war und bleibt es – Gnade, dass Gottes Name sich mit diesem Felsennest Jerusalem im Bergland von Judäa verband. Gnade auch für uns, weil unser Gottesdienst nichts wäre ohne die Geschichte, die Gott der Herr mit Jerusalem hatte und hat. Da lernt ihr ihn kennen, den lebendigen Gott, da, in dieser Stadt, wo die Steine, die Zeugen der Vergangenheit, zuletzt nicht Tod predigen, sondern Leben, Leben aus dem Tod – Jesus Christus von den Toten auferweckt und auferstanden in Jerusalem. Echo der Ewigkeit. Nicht wahr, liebe Gemeinde des Auferstandenen, an erster Stelle müssten die Christen stehen, die sich mit Jerusalem freuten, denn von den Juden kommt das Heil41, aus Jerusalem. Dort heißt es: Es ist vollbracht! Die fremden Eroberer, die über die Stadt herfielen in Jahrtausenden: Sie kommen, sie gehen – Assyrer, Babylonier, Perser, Griechen und jene römische Weltmacht, die 70 n. Chr. den unbändigen Freiheitswillen des 40 41
Jes 66,13 Jh 4,22
226
kleinen jüdischen Volkes brutal erstickte für lange Zeit, Araber dann, christliche Kreuzfahrer, Türken, Engländer ... Nicht sie zählen in dieser Stadt, nicht die Zerstörungen zählen, sondern die Auferstehungen. Es soll nicht durch Heer oder Kraft, sondern durch meinen Geist geschehen42 - predigt der siebenarmige Leuchter, die Menora, vor dem Parlament, der Knesset, in Jerusalem. Jerusalem ist gebaut als eine Stadt, in der man zusammenkommen soll, wohin die Stämme hinaufziehen, die Stämme des Herrn, wie es geboten ist dem Volke Israel, zu preisen den Namen des Herrn. Und an der heiligen Stätte, an der Westmauer des zerstörten alten Tempels, die wir die „Klagemauer“ nennen, da hört man das Lob des Gottes Israels – auch aus dem Munde der dem Holocaust Entronnenen. In Jerusalem wurde das Warten auf Gott geboren. Die Mauern stehen erwartungsvoll. Allein ist die Stadt stumm und verlassen; mit den Kindern Israel ist sie Zeugin, Verkündigung des Höchsten. Allein ist sie Witwe, mit Israel ist sie Braut, die auf ihren Bräutigam sehnlich wartet. Und wenn Du einmal an der West- und Klagemauer gestanden hast, dann verstehst du das Herz eines alten Juden43, der sagte: Die Mauer ... die alte Mutter – sie weint um uns alle. Unbeugsam und liebevoll wartet sie auf die Erlösung. Unsere ganze Geschichte wartet hier. Die Mauer – keine Anmut, die man freudig begrüßt. 42 43
Sacharja 4,6 Abraham J. Heschel, Israel, Neukirchen 1988⁷, 3 - 24
227
Keine Schönheit, die man genießen kann. Aber ein Herz und ein Ohr. Ihr ganzes Wesen ist Mitleid. Man steht still und lauscht: Steine der Sorge, vertraut mit Kummer. Wir alle verbergen unser Gesicht vor Todesnot, meiden die Leidenden. Die Mauer ist Mitleid, ihr Antlitz ist offen für die von Kummer Geschlagenen. Die Mauer hat eine Seele, die Geist ausstrahlt. Geist, der auch den Niedergeschlagenen und Betrübten ins Lob Gottes geleitet. Diese Steine haben ein Herz, ein Herz für alle Menschen. Warum haben diese Steine ein Herz? Eine Zeile aus Else Lasker-Schülers Gedicht „Hebräerland“ gibt uns Auskunft: Gott hat Jerusalem lieb. Er hat es in sein Herz geschlossen. Wenn Gott diese Stadt so nah ist, dann mögen wir uns wohl annähernd vorstellen können, welcher Schmerz Gott durchfährt und es ihn bis ins Mark erschüttert bei all dem Unfrieden, der sich seines geliebten Jerusalems immer wieder bemächtigt. Jerusalem ist die einzige Stadt, die es im Himmel und auf Erden gibt. Es ist die Stadt, in der die Erde zum Himmel reicht und in der der Himmel die Erde küsst. Wie im Himmel, so auf Erden, diese Bitte des Herrngebets ist eine, die in dieser einen Stadt beheimatet ist und die von dieser Stadt aus die Völker ruft. Ein Menschenmagnet. 228
Und auch, wenn der Tempel, das Haus Gottes schon 2000 Jahre zerstört ist, auch wenn das geteilte Jerusalem als Zankapfel der Muslime, Christen und Juden ein Ort der Gewalt ist, diese Hoffnung stirbt bei den Kindern Israel nicht aus: Die Stadt segnet den Menschen, der sich nach dem Segen sehnt, die fromme Stadt tröstet den, der getröstet werden möchte (Else LaskerSchüler). Mit dieser Hoffnung auf den Segen und den Trost Jerusalems aus unseren Tagen verbindet sich der Wunsch und die Sehnsucht nach Frieden für Jerusalem seit biblischen Zeiten. Hören wir nur noch einmal in unseren Psalm hinein: Erbittet den Frieden Jerusalems befriedet seien, die dich lieben. Friede sei in deiner Mauer Zufriedenheit in deinen Palästen. Wegen meiner Brüder und Freunde lass mich sagen: Frieden mit dir wegen des Gotteshauses, lass mich erklären Gutes für dich. Es ist nicht zu überhören: ein Wunsch dominiert: Frieden! In diesen Zeilen erklingt nicht weniger als fünf Mal das hebräische Wort „Frieden“ („Shalom“) und spielt lautmalerisch auf den Stadtnamen Jeruschalajim an. Die religiöse Wurzel für die heutigen Konflikte liegt darin, dass zunächst die Christen und dann die Muslime Jerusalem zum Zentrum ihres Welt – und Glaubensbildes gemacht haben. Weil die jeweilige Nachfolgerreligion des Judentum die jeweilige Vorgängerin - die Christen die Juden, später die Muslime die Christen und die Juden verdrängen und beerben will, ist ein Erbschaftsstreit um die heilige Stadt 229
und den Tempelberg entbrannt, der bis heute anhält. Obwohl der Stadtname im Alten Testament rund 2000 Mal, im Neuen Testament über 100 Mal und im Koran kein einziges Mal vorkommt, anerkennen die Muslime den historischen und religiösen Stellenwert des Tempelbergs für die Juden nicht an und weisen ihn empört als Geschichtslüge zurück. Weiß der Psalter aus dieser verfahrenen Lage einen Ausweg? Psalm 24, ein Psalm Davids, sagt mit aller Deutlichkeit, wer in Jerusalem und auf dem Tempelberg willkommen ist: Dem Herrn gehört die Erde und was sie erfüllt, der Erdkreis und seine Bewohner. Wer darf hinaufziehen zum Berg des Herrn, wer darf stehen an seiner heiligen Stätte? Der reine Hände hat und ein lauteres Herz, wer dem Wahn nicht folgt und zum Trug nicht schwört. Er wird Segen empfangen vom Herrn und Hilfe vom Gott seines Heils. Keinem, sagt uns David, der Jerusalem selber eroberte und nach dem die Stadt in der Bibel gelegentlich benannt wird 44, keinem außer Gott gehören die Stadt und der Erdkreis. In dieser Stadt und auf diesem Berg kann niemand bestehen, an dessen Händen Blut klebt, der ideologischen Wahnvorstellungen folgt und dafür den Namen Gottes missbraucht! Nicht einmal David selbst durfte den Tempel erbauen, denn, so spricht Gott im 1.Chronikbuch45 zu ihm: Ein Mann des Krieges bist du, und Blut hast du vergossen. Liebe Gemeinde, ich lese und höre es in unserem Land immer wieder einmal, dass sie die Berliner Mauer und die Mauer bzw. dem Zaun um 44 45
2.Samuel 5,7 28,3
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Jerusalem und in Israel miteinander verglichen, wenn nicht sogar gleichgesetzt wird. Dass beide Mauern keine Errungenschaft der Menschheit waren und sind, dazu bedarf es wohl keiner Diskussion unter uns. Aber gleichzusetzen, sind sie beileibe nicht. Und mich wundert es, wie nach 20 Jahren Bürger dieses Landes in Ost und West – geschichts- und realitätsvergessen – zu diesem Vergleich greifen. Die deutsche Mauer trennte ein Volk, damit ja nicht zusammenkäme, was zusammengehörte - und wer es doch versuchte, wurde erschossen. Und wir dürfen uns das ruhig wieder einmal in Erinnerung rufen, dass diese Mauer und dieser Zaun erst vor 20 Jahren aus unserem Land verschwunden sind, dass erst vor 20 Jahren der Schießbefehl auf unschuldige Menschen innerhalb unseres Landes aufgehoben wurde. Mit der Mauer in Israel verhält es sich nun erheblich anders: Hier versucht sich ein Volk vor erklärten Mördern aus einem anderen Volk zu schützen. Die israelische Mauer rettet Leben – jüdisches Leben. Im Jahr 2009 gab es in Israel keinen einzigen Selbstmordanschlag, nachdem von 2001-2008 bei 140 Selbstmordattentaten 540 Israelis getötet wurden. Hochgerechnet auf die deutsche Bevölkerungszahl wären das über 8000 Menschen. Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass unser Volk nach Selbstmordattentaten solchen Ausmaßes, wehr- und tatenlos zusehen würde. Aber es bleibt hartnäckig bei diesem auffälligen antisemitischen Phänomen unter uns: was zum Bau der Sperranlage in Israel führte, wird weithin nicht erfragt. Bis hinein in Kirchenleitungen scheint festzustehen, dass Israel Palästinenser willkürlich demütigt und es ohne Besatzung ja gar keinen Terror gäbe. Dabei machen Syrien, der Iran und die von ihnen gesponserten und bewaffneten palästinensischen Organisationen keinen Hehl daraus, dass sie Israel das Existenzrecht absprechen und sie unternehmen es, in die Tat umzusetzen, was sie sagen.
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Liebe Gemeinde, als Gesalbter Gottes ist Jesus auch der Diener Israels, wie es bei Paulus im Römerbrief46 heißt. Christus bestätigt die Verheißungen, die Gott den Kindern Israel mit der Zusage des Landes und des Segens in diesem Lande gegeben hat. Und wenn nun wir, die Gemeinde der Leib Christi ist, seine Verkörperung in dieser Welt, wenn also der Gesalbte sich in seiner Gemeinde repräsentiert, vergegenwärtigt, müsste sie, müssten wir dann nicht Christi Dienst gegenüber Israel als unsere ureigenste Aufgabe einnehmen und wahrnehmen und für die Gültigkeit und Realisierung der göttlichen Verheißungen einstehen? Ja, wenn wir Christus als unseren Herrn angenommen haben, dann schließt das auch unsere Solidarität gegenüber dem Staat Israel ein, dass wir mindestens bekennen: in der Wiedererrichtung des Staates Israel 1948 sehen wir ein Zeichen der Treue Gottes. Das heißt noch lange nicht, dass wir alle Maßnahmen der jeweils aktuellen Regierung von vorneherein gutheißen. Aber wir werden uns mit unserer möglichen Kritik von einem Wort aus dem Talmud leiten und begrenzen lassen: Urteile nicht über deinen Mitmenschen, bis Du in seine Lage gekommen bist! Jerusalem war und bleibt die Stadt, von der aus Gottes Segen in die Welt kam, auch zu uns hier nach Pretzschendorf. Vom alten Tempel in Jerusalem stammt jenes Segenswort, mit dem wir unsere Gottesdienste beschließen: Der Herr segne dich und behüte dich ... Mit diesem Segen, der jeden von uns in seinen Alltag hinein begleitet, behalten wir Anteil am Tempel, den Jesus das Haus seines Vaters47 nannte und schließen uns mit dem Dichter unseres Psalms in dem Vorsatz für Jerusalem zusammen: Um des Hauses des Herrn willen, unseres Gottes, will ich dein Bestes suchen.
46 47
15,8 Vgl. Lk 2,49
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Das himmlische Jerusalem, von dem Juden und Christen träumen, wird der Sieg der Gerechtigkeit Gottes, wird das Ende aller Verzweiflung am Menschen sein. Es wird die Wahrheit dessen sein, was der Name Jerusalem vielfältig verheißt: Jeruschalajim – Shalom - Frieden. Dafür ist Jesus Christus in dieser Stadt gestorben und auferstanden. Dafür beten, arbeiten, leiden wir – Juden und Christen -, daran glauben wir, mag auch eine Welt des Krieges und Hasses uns Hohn sprechen. Gott gab uns sein Wort, er schenkte uns im irdischen Jerusalem ein Abbild seiner Treue, ein Gleichnis des Himmlischen: Himmel und Erde werden voll sein von seiner Herrlichkeit, wenn seine Stunde gekommen sein wird und wir staunend, mit offenen Mündern dastehen und sprechen: Es ist Friede in deinen Mauern Jerusalem und Glück in deinen Palästen.
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Stolperstein Und nun spricht der HERR, der dich geschaffen hat, Jakob, und dich gemacht hat, Israel: Fürchte dich nicht, denn ich habe dich erlöst; ich habe dich bei deinem Namen gerufen; du bist mein! Jesaja 43,1
Liebe Gemeinde! Von Anfang an ist Gott ein Rufender, ein ins Leben, in die Freiheit mit ihm Rufender. Aus dem Nichts heraus ruft er seine Schöpfung, macht ihr Platz, gibt ihr Raum von seinem Raum, damit sie lebe, diese Erde, der ganze Kosmos, jedes Geschöpf in ihm, du und ich zu seinem Ebenbild geschaffen, Himmel und Erde, Tag und Nacht, Bäume, Gräser, Vögel, Fische, Insekten. .. Gott ruft, und es steht da. Gott ruft und liebt sein Volk aus allen Völkern heraus, dass es ihnen zum Licht werde, denn das Heil kommt von den Juden,48 von dem Juden Jesus Christus, dessen Name über alle Namen sei. 49 Gott ruft Israel aus der Knechtschaft des Pharao, er ruft es in seinen Dienst, damit es frei werde und in Seinem Dienst auch frei bleibe. Was für ein Wort, was für eine Verheißung, liebe Gemeinde! Ein Wort, das keinen Millimeter für einen auch noch so leisen Zweifel lässt. Israel: Fürchte dich nicht, denn ich habe dich erlöst; 48 49
Joh 4,22 Phil 2,9
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ich habe dich bei deinem Namen gerufen; du bist mein! Israels Name hat sich Gott in die Hände gezeichnet, heißt es bei Jesaja an anderer Stelle.50 Es kann ihm im wahrsten Sinne des Wortes nicht mehr abhanden kommen. Israel: Ich habe dich bei deinem Namen gerufen; du bist mein! - darüber kann es nichts mehr geben. Ein Wort, eine Zusage, die nichts mehr offen lässt, ja, die einem alle Horizonte öffnet - auch den, den der Tod in Finsternis taucht. Was für ein Wort: Und nun spricht der HERR, der dich geschaffen hat, Jakob, und dich gemacht hat, Israel: Fürchte dich nicht, denn ich habe dich erlöst; ich habe dich bei deinem Namen gerufen; du bist mein! Wie eine Höhle, in die du hineinkriechen kannst und vor allen Feinden in Sicherheit bist, hat einmal ein Kind dazu geschrieben. Da kann dir keiner mehr etwas. Da hast du ganz dicke Felswände um dich herum. Da kommt keiner durch. Ein richtiges Mutmachwort eben. An so einem Wort kommt unser Ohr und Herz nicht so einfach vorbei. Es zieht uns unweigerlich an. Es lässt uns aufhorchen und wir spüren: Wer sich ihm anvertraut hat Fels unter den Füßen. Von ihm geht eine große Kraft aus. Die Kraft von Adlers Fittichen. Ihr wisst, wenn die Jungen der Adler flügge werden, dann fliegen die Alten unter ihnen, damit sie sie rechtzeitig auffangen und auf ihren starken Schwingen stützen
50
49,16
235
und tragen können, sobald sie müde werden und sich ihre Kraft im Flug erschöpft. Fürchte dich nicht! Du bist mein! - so ein Wort wünschen wir uns, dass es uns gesagt, dass unser Name darin eingeschrieben und genannt wird. Und wenn wir einmal die Taufregister in unseren Kirchenbüchern durchgehen, sehen wir, dass dieses Wort ein beliebter Taufspruch ist, dass er sehr vielen Kindern auf ihren Lebensweg mitgegeben wurde. Ja, so eine Zusage wünscht man sich einfach für ein, für sein Kind. Aber vielleicht ist dem ein oder anderen im Verlauf dieses Gottesdienstes aufgefallen, ist er oder sie mit einem sensiblen Ohr ausgestattet und das Gehör ist irritiert und fragt sich: Da knirscht doch was im Gebälk, irgendwie ist da ein Stolperstein, wenn ich dieses Wort heute höre. Mal so: Und nun spricht der HERR, der dich geschaffen hat, Jakob, und dich gemacht hat, Israel: Fürchte dich nicht, denn ich habe dich erlöst; ich habe dich bei deinem Namen gerufen; du bist mein! Und dann so: Und nun spricht der HERR, der dich geschaffen hat, und dich gemacht hat: Fürchte dich nicht, denn ich habe dich erlöst; ich habe dich bei deinem Namen gerufen; du bist mein! Wo ist der Unterschied?
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In der Bibel heißt es: Und nun spricht der HERR, der dich geschaffen hat, Jakob, und dich gemacht hat, Israel. So steht es da. So hat es die Lektorin eben aus der Bibel vorgetragen, so habe ich es als Predigttext vorgelesen. Im Wochenspruch aber heißt es und überall sonst, wo die Kirche dieses Wort zitiert – im Losungsbuch, als Taufspruch, im Pfarrerkalender, unserer Kirchenzeitung, dem „SONNTAG“, da heißt es: Und nun spricht der HERR, der dich geschaffen hat, und dich gemacht hat: Fürchte dich nicht, ... Was ist passiert? Die Namen der Angeredeten „Jakob – Israel“ sind weg, ausgelassen, gestrichen. Das passiert nicht aus Versehen, sondern ist Absicht – und stößt auf. Was geschieht hier, liebe Gemeinde? Wer Namen weglässt, ausradiert, unterschlägt, absichtlich wie in diesem Falle oder unabsichtlich, der tut nicht etwas Abstraktes, etwas, das in unserer Wirklichkeit keine Auswirkungen hätte, wer Namen weglässt, der löscht Leben aus. Bei der Taufe bitten wir ja darum, dass Gott die Namen der Täuflinge ins Buch des Lebens51 aufschreibe, denn wir glauben: Auch der Tod kann unsere Namen, unser Leben nicht auslöschen, weil sie bei Gott aufgeschrieben sind und wenn er uns am Jüngsten Tag aufruft, dann gehen wir ein zum ewigen Leben. In unserem Namen ist unser Leben aufbewahrt. Darum: vergreif dich nicht am Namen irgendeines Menschen, halte ihn im Gedächtnis, bewahre, schütze ihn, es ist ein, sein Leben, das Gott nie mehr hergibt. 51
EG 207,1
237
Wenn aber die christliche Kirche über Jahrhunderte hingeht und den Namen Israel – Jakob aus dem schönen Jesaja-Wort ausradiert, dann lässt das tief blicken, dann lässt das auch ihre Angst erkennen, sie selbst könne in diesem Wort nicht mitgemeint sein, weil doch Jakob, der Erzvater Israels, und Gottes erwähltes Volk Israel hier namentlich angesprochen werden – und du und ich offenbar nicht. Und tatsächlich müssen wir hier erst einmal innehalten und das aushalten: Dieses JesajaWort ist ein Liebesbrief Gottes an sein Volk Israel. Da beißt die Maus keinen Faden ab. Und eigentlich gehört es sich ja schon gar nicht, dass man einen Liebesbrief liest, der gar nicht an einen selber gerichtet ist und noch weniger gehört es sich, dass man hingeht und in diesem Liebesbrief herummalt, Wörter ausstreicht und sogar den Adressaten, den Geliebten rausstreicht – in der Absicht, sich selber als angesprochenen Geliebten einzusetzen. Liebe Gemeinde, wir spüren das: So geht es nicht. Erschlichene Liebe ist sonst was, aber auf keinen Fall: Liebe. Doch besteht gar kein Anlass, sich die Zusagen Gottes aus diesem wunderbaren Jesaja-Wort auf Kosten Israels anzueignen. Es ist und wird uns ja zugesprochen, aber es spricht wirklich nur und tatsächlich zu uns, wenn wir es uns durch Jakob - Israel zusprechen lassen. Das Heil kommt von den Juden, von dem Sohn Davids, von Jesus Christus, der ein Kind Israels ist, durch dessen Tod und Auferstehung auch wir, Gottes Kinder aus den Völkern, unter den Segen dieses Wortes gestellt sind: Und nun spricht der HERR, der dich geschaffen hat, Jakob, und dich gemacht hat, Israel: Fürchte dich nicht, denn ich habe dich erlöst; ich habe dich bei deinem Namen gerufen; du bist mein! Zuerst und ganz und gar ist das hier der Liebesbrief Gottes an Israel, an die Juden und den einen Juden Jesus von Nazareth, gekreuzigt und gestorben - für dich und mich. Und er ist aufgefahren zum Vater im Him238
mel, um auch deinen und meinen Namen in diesen einzigartigen Liebesbrief Gottes hineinzuschreiben. Ja, Christus darf das: in Gottes Verheißungen Namen um Namen einfügen. Er sitzt zur Rechten des Allmächtigen und schreibt unsere Namen, den Namen seiner Kirche in die Heilsgeschichte Israels, des erwählten Gottesvolkes ein. Damit ist klar, liebe Gemeinde, wer aus dem Jesaja-Wort den Namen Jakob – Israel streicht, der gewinnt nicht, sondern der setzt Gottes ganze Heilsgeschichte mit seinem Volk, mit seinem Sohn Jesus Christus und so auch mit dir und mir auf's Spiel. Und nun spricht der HERR, der dich geschaffen hat, Jakob, und dich gemacht hat, Israel: Fürchte dich nicht, denn ich habe dich erlöst; ich habe dich bei deinem Namen gerufen; du bist mein! Nicht wahr, ein wunderbares Wort, das Kraft spendet, Kraft der Adlerfittiche; es gibt Orientierung, dass du weißt, wohin, wem du im Leben und im Sterben gehörst, ein Wort, das dir den Albdruck des Alltags52 nimmt. In die dem Volk Israel geltenden göttlichen Verheißungen sind wir von Christus, durch sein Blut einschrieben, eingetragen mit unserem Namen, dem Namen der Kirche Jesu Christi, der er heute wieder ausrichtet und einschärft: Ihr habet mich nicht erwählt, sondern ich habe euch erwählt und gesetzt, daß ihr hingeht und Frucht bringt, ... Das gebiete ich euch, daß ihr euch untereinander liebet. Liebe Gemeinde, durch Christus sind wir in den Liebesbrief Gottes an sein Volk Israel mit eingetragen, auf dass wir uns untereinander lieben, Juden und Christen, Gemeinschaft der Heiligen, auf dass wir füreinander 52
Rose Ausländer, Die Musik ist zerbrochen, 45, Frankfurt 2002
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einstehen, wie Christus es für uns getan hat, wie Gott ein zum Leben Rufender, ein zum Mitleben und Mitfühlen fähiger Mitmensch zu sein so sind und bleiben wir SEIN in und durch Jesu Namen: Fürchte dich nicht, denn ich habe dich erlöst; ich habe dich bei deinem Namen gerufen; du bist mein!
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Wo das Warten auf Gott geboren wurde Man wird sie nennen »Heiliges Volk«, »Erlöste des Herrn«, und dich wird man nennen »Gesuchte« und »Nicht mehr verlassene Stadt«. Jesaja 62, 12
Liebe Gemeinde! ... und dich wird man rufen die „gesuchte“, die „nie mehr verlassene Stadt“. So heißt es von Jerusalem in der Lesung aus dem Buch des Propheten Jesaja53. ... und dich wird man rufen die „gesuchte“, die „nie mehr verlassene Stadt“. Was für eine wunderbare Verheißung - die nie mehr von Gott verlassene Stadt soll Jerusalem werden. Nach ihm soll sie sich sehnen und ausstrecken. Und dieses nach Gott Sehnen gibt ihr einen unvergleichlichen Glanz, eine einzigartige Schönheit. Auf Gottes Einzug in Jerusalem soll sich die Stadt wie eine geschmückte Braut auf ihren Bräutigam vorbereiten und freuen, der sie aufsuchen, der sich auf immer mit ihr vermählen wird. Jerusalem ist die Stadt, wo das Warten auf Gott geboren wurde. Und wer Jerusalem, diese Braut Gottes, schon einmal besucht hat, der spürt es: ihre Mauern stehen erwartungsvoll. Psalmen wohnen auf den Hügeln, die Luft ist voll von Halleluja. Verborgene Harfen. Schlummernde Lieder. 54 53
Jes 62, 6 - 12
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Liebesgeflüster: Mein Geliebter ist mein, und ich bin sein 55, flüstert Jerusalem. Und die Braut Gottes, sollte sie nicht die Mutter Israels sein, die alle Sehnsüchte nach dem Schalom Gottes stillt? Und so sagen es die Juden bis auf den heutigen Tag: Jerusalem, Mutter Israels, wir treten in deine Mauern ein als Kinder, die dich stets ehren, die dich nicht verlassen werden. Du bist kein heiliger Ort, kein Wallfahrtsort, zu dem man hingeht und wieder weggeht. Wo immer ich gehe, gehe ich nach Jerusalem, sagte Rabbi Nachman. Jerusalem ist die Stadt, die ich mir erwählt habe, spricht Gott der Herr, dass ich meinen Namen daselbst wohnen lasse56. Sie ist die Stadt unseres Gottes, die er für immer bestehen lässt - beten wir mit den Juden zusammen in Psalm 48. Auf dem Heiligen Berg steht die Stadt, die Er gegründet hat; der Herr liebt die Tore Zions mehr als alle Wohnungen Jakobs. Herrliche Dinge sagt man von dir, du Stadt Gottes.57 In Jerusalem, auf dem Berg Zion, verkündet der Prophet Jesaja: Gott der Herr wird zerstören auf diesem Berge die Hülle, von der alle Völker umhüllt sind, den Schleier, der über alle Nationen gebreitet ist. Er wird den Tod auf ewig vernichten, und Gott, der Herr, wird abwischen die Tränen von einem jeden Antlitz, und die Schmach seines Volkes wird er hinwegnehmen von der ganzen Erde; denn der Herr hat es gesagt.
54 55 56 57
A.J.Heschel, Israel – Echo der Ewigkeit, Neukirchen 1988, 3 Hld 2,16 1. Könige 11, 36 Ps 87
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Und welches andere Bauwerk dieser Welt als die übriggebliebene Klagemauer vom zweimal zerstörten Tempel seufzt und sehnt sich mehr nach Gottes Eingreifen für Jerusalem, Israel und alle Völker dieser Welt? Und so hat ein jüdischer Theologe von ihr gesagt: Die Mauer ... , die alte Mutter – sie weint um uns alle. Unbeugsam und liebevoll wartet sie auf die Erlösung. Diese Mauer des in Schutt und Asche gelegten Heiligtums Gottes, sie hat keine Anmut, die man freudig begrüßt; keine Schönheit, die man genießen kann. Aber sie hat ein Herz und ein Ohr. Ihr ganzes Wesen ist Mitleid. Man steht still und lauscht: Steine der Sorge, vertraut mit Kummer. Wir alle verbergen unser Gesicht vor Todesnot, meiden die Leidenden. Die Mauer ist Mitleid, ihr Antlitz ist offen nur für die vom Kummer Geschlagenen. So viele verschiedene Herrscher beherrschten die Stadt, so viele katastrophale Veränderungen, so viele Aufstände, so viele leidenschaftliche Ausbrüche ereigneten sich die Mauer hielt stumme Wache.58 Ihre Steine haben sich ein Herz bewahrt, ein Herz für alle Menschen. Die Mauer hat eine Seele, die auf Gott harrt, dass er käme und seine Braut Jerusalem nimmermehr verließe, sie erlöste von ihren vielen menschlichen Freiern. Liebe Gemeinde, nach unserem biblischen Zeugnis hat Gott die Kinder Israels zum Brautführer Jerusalems bestimmt. Sie sollen ihm diese Stadt als seine geschmückte Braut entgegenführen, sie mit seinem Recht und seiner Gerechtigkeit, seinem Schalom schmücken. 58
A.J.Heschel, Israel – Echo der Ewigkeit, Neukirchen 1988, 11
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Diese Verheißung und Aufgabe wird den Juden seit über 2500 Jahren streitig gemacht - um eine kleine Auswahl zu nennen: durch die Assyrer, Babylonier, Perser, Makedonier, Römer, Tataren, Ägypter, Osmanen, Engländer, dazu die religiösen Eiferer, Christen und Muslime aus aller Herren Länder, die Jerusalem zum Zielpunkt ihrer Kreuz- und Kriegszüge, zu ihrem Besitz erklären wollten und wollen - die drei Mal heilige Stadt - Jeruschalayim den Juden, Jerusalem den Christen, Al Quds („die Heilige“) den Moslems. Bei dieser Streitgeschichte liegt es nahe, dass wir denken: „Jerusalem, du Heimgesuchte“. Gerade weil ihr Boden für so viele Religionen heilig ist, mag es einem wohl durch den Kopf schießen: Gottverlassene, weil religiös so viel und häufig menschlich Aufgesuchte und dann eben von allen guten Geistern verlassene Stadt. Sollten wir darum sagen: „Vergiss Jerusalem!?“ Das haben sich schon vor über 2000 Jahren aus Jerusalem vertriebene Juden im babylonischen Exil gefragt und darauf geantwortet: Vergesse ich dich, Jerusalem, so verdorre meine Rechte. Meine Zunge soll an meinem Gaumen kleben, wenn ich deiner nicht gedenke, wenn ich nicht lasse Jerusalem meine höchste Freude sein. 59 Nein, das geht nicht: Jerusalem vergessen. Der Probst der deutschen evangelischen Erlöserkirchengemeinde in Jerusalem, Uwe Gräbe, hat sechs Jahre in dieser Stadt Dienst getan und dort mit Frau und Kind gelebt. Bei seiner Rückkehr nach Deutschland resümierte er vor kurzem: „Jerusalem – eine Stadt, die einen trunken und abhängig macht wie keine zweite Stadt auf dieser Welt!“
59
Ps 137
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Aber auch die Gebete der Juden stehen dagegen, dass wir Jerusalem als Braut Gottes aufgeben, verraten und nicht mitbeten wollten für sie und ihre Kinder: Und du Ewiger nach Jeruschalayim, deiner Stadt, kehre in Erbarmen zurück, wohne in ihrer Mitte, wie du gesagt hast und baue sie schnell, in unseren Tagen als ewigen Bau, und Davids Thron richte ihn schnell auf in ihrer Mitte. Gesegnet Du, Herr, der Jerusalem baut.60 Und wenn wir überlegen, wo sich das Leben Jesu abgespielt hat, dann ist Jerusalem der Brennpunkt seiner Geschichte. In einem Vorort Jerusalems, in Bethlehem wurde er geboren. Und auch wenn Jesus in Galiläa und woanders im jüdischen Land gewirkt und gepredigt hat, zur Vollendung und zur Erfüllung seines Lebens muss er nach Jerusalem ziehen. Dort wird er gekreuzigt und von den Toten auferweckt werden. Von dort wird er seine Jünger mit dem Evangelium in alle Welt hinaussenden. Dort gründet sich die erste judenchristliche Gemeinde. Diese Gemeinde ist die Mutter aller christlichen Kirchengemeinden auf Erden. Von der Jerusalemer Urgemeinde holt sich der Apostel Paulus den Segen für seine Missionsreisen zu den Heidenvölkern außerhalb Israels. Und durch eine Kollekte unter den Heidenchristen für die Gemeinde in Jerusalem bringt er die bleibende Verbundenheit von Heiden- und Judenchristen, der Völker mit Jerusalem, zum Ausdruck und erkennt dankbar den Ursprung des Evangeliums in Jerusalem an. Nun könnten wir freilich auf die Idee kommen und sagen: das alles ist Geschichte und vergangen. Was gehen uns die Örtlichkeiten von damals noch an? 60
Aus der Amida am Tischa Be Aw, 14. Bitte „Jerusalem“
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Was geht uns Jerusalem an?! Wir müssen doch nach vorne schauen! Ganz recht – schauen wir nach vorne! Und da bekommen wir vom Apostel Paulus zu hören: Es wird kommen aus Zion der Erlöser, der abwenden wird alle Gottlosigkeit von Jakob.61 Wenn sich der von Gott gesandte Erlöser in aller seiner unwiderstehlichen Macht dieser Welt zuwenden und erbarmen wird, dann tut er es nicht irgendwie abstrakt, sondern er wird konkret. Und wenn einer konkret wird, dann heißt das ins deutsche übersetzt: Er wächst mit etwas anderem zusammen. Und das heißt in unserem Falle: Wenn der kommende Erlöser sich in aller seiner Fülle und Herrlichkeit dieser Welt zuneigt, dann erdet er sich, dann verbindet er sich mit Jerusalem. Das ist die Adresse seiner Zukunft. Sei es nun der Messias, den die jüdischen Schwestern und Brüder erst noch erwarten oder sei es Jesus Christus, den wir als unseren endgültigen Erlöser wieder erwarten: Er kommt aus Jerusalem. Der Erlöser, Jesus Christus ist und bleibt das Kind der Braut Gottes, Jerusalems. Liebe Gemeinde, wenn wir genau hinhören, hören wir in dem hebräischen Wort für Jerusalem „Jeruschalayim“ das Wort „Shalom“ (Friede) heraus. Aber es hat eine andere Endung bekommen. Es heißt nicht Jeru„Shalom“, sondern Jeru„schalayim“. Diese Endung „yim“ gibt es im hebräischen sonst für Worte, die ein Paar sind, wie „Oznayim“, die Ohren, oder „Enayim“, die Augen. Also hat man gesagt, auch Jerusalem enthält irgendwie zwei Sachen, so wie Tag und Nacht oder gut und böse oder Recht und Unrecht, Krieg und Frieden, Himmel und Erde, ja, Streit und Versöhnung. Schon der Name sagt, es gibt beides für Jerusalem: die harte Gegenwart, aber auch die bessere Zukunft. 61
Rö 11,26
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Und nun noch ein anderer Gedanke zu dieser auffälligen Änderung des Wortes „Shalom“ zu „schalajim“. Vielleicht will sie uns, den Juden und Christen, deren Wege sich an unserem Bekenntnis zu Jesus Christus als Sohn Gottes scheiden, vielleicht will sie uns als einem Geschwisterpaar sagen: die Stadt, aus der ihr beide euren Messias, euren Erlöser erwartet bzw. wieder erwartet, diese Stadt spricht schon länger als eure Scheidungsgeschichte währt, eine Verheißung mit ihrem merkwürdigen Namen für euch aus: Stellt euch als Juden und Christen einmal vor, ihr wäret ein zweieiiges Zwillingspaar. Und nun seht die Braut Gottes, Jeruschalayim, als eure gemeinsame Mutter an, die zwei Brüste hat, aus denen der Friede Gottes fließt, der dort angezapft werden, an denen sich das Zwillingspaar im Schalom Gottes stillen kann, ohne sich etwas streitig machen zu müssen, auch wenn die Mutter den älteren Zwilling zuerst anlegt, aber sie stillt doch beide mit gleicher nahrhafter Milch und Zuneigung, durch die sie gedeihen und wachsen und mit der Muttermilch saugen sie den Schalom Gottes in sich auf. Hieße es da nicht bald von Juden und Christen: Siehe, wie fein und lieblich ist’s, daß Brüder einträchtig beieinander wohnen!62 Das wäre schon etwas vom himmlischen Jerusalem mitten auf dieser Erde. Schalom und Amen in Jesu Namen.
62
Psalm 133,1
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Das Wächteramt der Kirche 1 Um Zions willen will ich nicht schweigen, und um Jerusalems willen will ich nicht innehalten, bis seine Gerechtigkeit aufgehe wie ein Glanz und sein Heil brenne wie eine Fackel, 2 dass die Heiden sehen deine Gerechtigkeit und alle Könige deine Herrlichkeit. Und du sollst mit einem neuen Namen genannt werden, welchen des Herrn Mund nennen wird. 3 Und du wirst sein eine schöne Krone in der Hand des Herrn und ein königlicher Reif in der Hand deines Gottes. 4 Man soll dich nicht mehr nennen »Verlassene« und dein Land nicht mehr »Einsame«, sondern du sollst heißen »Meine Lust« und dein Land »Liebe Frau«; denn der Herr hat Lust an dir, und dein Land hat einen lieben Mann. 5 Denn wie ein junger Mann eine Jungfrau freit, so wird dich dein Erbauer freien, und wie sich ein Bräutigam freut über die Braut, so wird sich dein Gott über dich freuen. 6 O Jerusalem, ich habe Wächter über deine Mauern bestellt, die den ganzen Tag und die ganze Nacht nicht mehr schweigen sollen. Die ihr den Herrn erinnern sollt, ohne euch Ruhe zu gönnen, 7 lasst ihm keine Ruhe, bis er Jerusalem wieder aufrichte und es setze zum Lobpreis auf Erden! 8 Der Herr hat geschworen bei seiner Rechten und bei seinem starken Arm: Ich will dein Getreide nicht mehr deinen Feinden zu essen geben noch deinen Wein, mit dem du so viel Arbeit hattest, die Fremden trinken lassen, 9 sondern die es einsammeln, sollen’s auch essen und den Herrn rühmen, und die ihn einbringen, sollen ihn trinken in den Vorhöfen meines Heiligtums. 10 Gehet ein, gehet ein durch die Tore! Bereitet dem Volk den Weg! Machet Bahn, machet Bahn, räumt die Steine hinweg! Richtet ein Zeichen auf für die Völker! 11 Siehe, der Herr lässt es hören bis an die Enden der Erde: Sagt der Tochter Zion: Siehe, dein Heil kommt! Siehe, was er gewann, ist bei ihm, und was er sich erwarb, geht vor ihm her! 12 Man wird sie nennen »Heiliges Volk«, »Erlöste des Herrn«, und dich wird man nennen »Gesuchte« und »Nicht mehr verlassene Stadt«. Jesaja 62, 1-12 248
Liebe Gemeinde! Professor Bergmann von der Hebräischen Universität in Jerusalem wird in New York vom Liftboy gefragt, woher er käme. „Aus Jerusalem.“ Der Junge lacht: „Das ist ein Witz. Jerusalem liegt im Himmel.“ Der Pass des Professors bestätigt das irdische Jerusalem. Darauf küsst ihm der Junge ergriffen die Hand und sagt: „Dann sind Sie ein Engel!“63 Ja, liebe Gemeinde, Heerscharen von Engeln wünschten wir uns am liebsten jetzt nach Israel, in den Libanon, in das von Gott gelobte Land. Heerscharen von Engeln, die den Frieden des himmlischen Jerusalems in das irdische brächten und weit hinaus ins ganze Land strahlte. Wir wissen und glauben es: Friede, Schalom, dieses große und schöne Wort für endgültiges Tränenabwischen, für niemals wiederkehrendes Kriegsgeschrei, das kann nur von oben, von Gott selbst kommen. Aber jetzt braucht diese Stadt, in deren hebräisch ausgesprochenen Namen „Jeruschalaim“ das Wort „Schalom“ drinsteckt, jetzt braucht diese Stadt doch schon Vorboten des letzten Handelns Gottes, es brauchte Friedensengel, die sich zwischen die verfeindeten Menschen stellen ihre tiefen und uralten Wunden verbinden und heilen, den Schutt der gegenseitigen Anklagen und Schuldgeschichten aus dem Weg räumen. Es gibt für uns hier in diesen Tagen wohl keine dringlichere und offensichtlichere Aufgabe, als dafür zu beten, um Schalom aus der Höhe für Jeruschalaim, die ganze Nahost-Region und für die, die blind auf Hass und Menschengewalt setzen und sie verherrlichen. 63 Schalom Ben-Chorin, gefunden in: Werkstatt für Liturgie und Predigt, H.8/1995, 346.
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Es ist nicht unsere Aufgabe, als Christen besserwisserische und belehrende Leserbriefe an die Adresse Israels in die deutschen Zeitungen zu streuen! Ließen wir uns denn auf Dauer einen solchen alltäglichen Terror gefallen, ohne zur Waffe zu greifen? Es prüfe sich doch jeder einmal selbst ganz ehrlich! In dieser Zeit gehören unsere Hände nicht an den Griffel, sondern wir müssen sie zum Gebet falten: hier und jeder für sich zu Hause! Dass Gott Wächter bestellen möge, die ihn, den Gott des Friedens in Erinnerung rufen. Klagemauer Nacht, von dem Blitz eines Gebetes kannst du zertrümmert werden. und alle, die Gott verschlafen haben, wachen hinter deinen stürzenden Mauern – zu ihm auf.64 Liebe Gemeinde, machen wir uns nichts vor: der Gott des Friedens, von dem wir als Christen reden, ist, ja: kann nicht der Gott der iranischen Hisbollah im Libanon sein. Sie mögen sich auf Gott oder Allah berufen, aber es ist nicht der Gott und Herr der Juden und Christen. Es ist ein mörderischer Gott, der über Leichen geht. Und vor allem: dem die Leichen des Feindes nicht weh tun. Die jüdischen Weisen erzählen über JHWH und seine Engel eine Begebenheit, die uns tief in sein Herz sehen lässt. Nachdem das Volk Israel das Schilfmeer durch Gottes wunderbare Hilfe trockenen Fußes durchquert hat, stimmen die himmlischen Heerscharen ein Dank- und Jubellied an. Darin besingen sie auch laut und unüberhörbar den Tod der Feinde Israels, des ägyptischen Heeres, das mit Ross und Reiter im Schilfmeer ertrunken ist. Als JHWH diesen Jubel seiner himmlischen Heerscharen über die toten Ägypter hört, lässt er sich von seinem Thron
64 Nelly Sachs, zitiert in: G. Bauer, Jes 62, in: R. Landau, Gottes Sohn ist kommen, Stuttgart 1994,41
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hören mit der Frage: „Ich habe meine Schöpfung umgebracht, und ihr singt mir Loblieder?“ Diese Bewegung und Regung des Herzens Gottes, dieses Gewissen Gottes, das können wir vom Gott der Hisbollah und auch nicht von Allah erwarten. Der kennt immer nur eine Seite, und zwar die, die am lautesten von ihm redet, ja schreit, und ihn für sich gepachtet hat. Ein Gott aber, der sich pachten lässt, ist nicht der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs, ist nicht der Vater Jesu Christi, der seinen Sohn aus der Mitte des jüdischen Volks hervorgehen lassen und in den Tod für alle Menschen dieser Welt hingegeben hat. Ein Gott, der sich widerspruchslos in Anspruch nehmen lässt, das ist ein Götze, der Spiegel dunkler, ins Böse verführter und verliebter Menschenherzen, aber nicht das Licht der Welt. Der Gott der Hisbollah, des IS ist ein selbstgemachter und hausbackener, ein Götze, der das Leiden nur austeilt, aber selber zu keinem Leiden fähig ist. Pfui Teufel! Das offen ausgesprochene Ziel der Hisbollah und der Hamas ist: „Israel muss von der Landkarte verschwinden!“ Wir kennen das aus unserer eigenen Geschichte: „Die Juden müssen mit Stumpf und Stiel ausgerottet werden“, schrie ein anderer Götzendiener und erhielt maßlosen Beifall und tatkräftige Unterstützung aus dem Volk der Dichter und Denker. Wer aber den Juden ans Leben will, der will den Gott, der den Menschen in Geduld und Barmherzigkeit begegnet, auslöschen. Um nichts weniger geht es in diesem Krieg. Israel heißt übersetzt „Gottesstreiter“, das Volk, das für die Existenz dieses Gottes steht. Das Volk, das mit seiner Existenz und seinem Überleben über drei Jahrtausende hinweg die Frage beantwortet hat: Gibt es einen Gott? Einen Gott, der sich des Menschen in allen seinen Nöten und Verrücktheiten erbarmt, der ihn nicht aufgibt und dem es nicht zu viel mit ihm wird? 251
Gibt es den Gott, der sich um den Menschen kümmert und sorgt, jetzt in diesem Leben, das einmal zu Staub und Asche wird, und ihm dann einen neuen unverlierbaren Odem verleiht, dass die Auferstandenen im neuen, himmlischen Jerusalem ein unverwesliches, ewiges Leben mit ihm Aug' in Aug' teilen werden? Wir teilhaben am unsterblichen Leben? Gibt es diesen Gott, der uns eines Tages aus dem Staub und dem kurzen Glück erweckt? Ja, liebe Gemeinde, ja, diesen Gott gibt es. Er hat sich hören und glauben lassen: An erster Stelle in und von Israel. Die Kinder Israel hat er sich zum Volk seines Eigentums 65, zum Erbe66 von Ewigkeit zu Ewigkeit erwählt und damit seine unstillbare Sehnsucht kundgetan. Seine unbändige Sehnsucht nach uns Menschen, uns zu lieben, zu tragen und zu heben. Und es ist der göttliche Auftrag und die Aufgabe der Juden, der ganzen Welt zu bezeugen, sie zu lehren, dass wir alle auserwählt und berufen sind, dass der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs uns allen eine Eigenart gegeben hat 67, mit der wir ihm dienen und antworten sollen auf seine Liebe und Sehnsucht nach uns. Jeder Jude ist ein wandelnder und lebendiger Gottesbeweis. Und aus der Mitte der Kinder Israel, dem Schoß Israels kommt der vornehmste Zeuge - Jesus Christus, der Heiden Heiland, dass auch wir, unsere Vorfahren, die Wotan und die germanische Eiche angebetet haben, Barmherzigkeit erführen und einen Weg gebahnt bekommen, auf dem wir zum Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs finden und gehen könnten. Und dieser Weg, der Weg im Namen Jesu Christi, führt uns bis heute durch den Glauben mitten in das Volk Israel und Gottes hinein. Paulus beschreibt es in dem Bild vom guten und natürlichen Ölbaum 68, von der 65 66 67 68
Vgl. Ex 19,5; Dtn 14,2; Ps 135,4. Vgl. Ps 28,9; Ex 34,9; Jes 47,6. Nach G. Appleton, ehemaliger anglikanischer Erzbischof in Jerusalem. Vgl. erste Lesung im Gottesdienst: Rö 11, 17-24
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Wurzel, die Israel ist, und uns, die nachträglich in den Ölbaum eingepfropften Zweige. Und wenn gestern wie heute Menschen aufstehen, die sagen, Israel müsse von der Landkarte verschwinden, radikal, das ins Deutsche übersetzt heißt: „von der Wurzel her“ ausgerottet zu werden, dann reißt man uns Christen auch gleich mit aus, denn die Wurzel, Israel, trägt uns und der Ölbaum versorgt uns mit seinem Saft, dem Blut Jesu Christi. Bleiben wir also wachsam, liebe Gemeinde, wenn z. B. die iranische Hisbollah Israel an den Kragen will und erstaunlicherweise Verbündete bis in unsere Medien hinein findet, die zugunsten der Hisbollah Berichterstattung über Tage hinweg betreibt. Ja, wir sollen unseres Bruders, Israels Hüter sein. Dabei ist es für mich immer wieder eine Gnade, dass wir in Deutschland nach dem Holocaust überhaupt noch und wieder Gottes Wort hören und folgen dürfen, dass Gott uns wieder über den Weg traut und uns durch sein Wort in die Verantwortung für diese Welt und für Israel nimmt. Viele Steine und Trümmer liegen noch tonnenschwer auf dem Weg. Und viele davon werden von uns selbst nicht weggeräumt werden können. Sie bewahren die Erinnerung an ungelöschte Schuld in sich auf. Gott muss sie beiseite nehmen. Aber mitten in der Schuld spricht Gott doch weiter mit uns. Lässt sich durch Jesus Christus, unseren Wächter zu Seiner Rechten, lässt sich durch seinen Sohn freundlich an uns erinnern, dass wir spüren: Gottes Wort und Vertrauen zu uns trägt, trägt uns noch und doch! Während die Zerstörung und deren Folgen und das, was sich in unseren Städten und Dörfern abgespielt hat, in der Erinnerung bleiben, beginnt ein neues Leben. In der Schuld ist Gottes Wort zu hören und da wird uns gesagt: Kain, du Brudermörder, du bekommst eine zweite Chance von mir, dem Heiland 69 und Vater Israels70. 69
1. Sam 14, 39.
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Liebe Gemeinde, nachdem wir im Dritten Reich unser Wächteramt über die Juden zum Todesamt haben verkommen lassen, traut Gott uns wieder Gutes zu und bestellt uns noch einmal als Wächter für Jerusalem und Israel. Dass wir die Welt an Gottes Bund mit Israel erinnern, der bis heute in Gültigkeit steht. Dass wir sagen, was mit Jerusalem auf dem Spiel steht. Es ist mehr als eine Hauptstadt, die von verschiedenen Religionen und Völkern als die ihre beansprucht wird. Es ist unser Wächteramt, in den Köpfen und Herzen wach zu halten: Jerusalem ist Gottes Stadt, die Stadt des Zion, wo sich mit der Völkerwallfahrt alle Geschichte vollenden wird wie der Prophet Jesaja verkündigt: Es wird zur letzten Zeit der Berg, da des HERRN Haus ist, fest stehen, höher denn alle Berge, und über alle Hügel erhaben werden, und werden alle Heiden dazu laufen und viele Völker hingehen und sagen: Kommt, laßt uns auf den Berg des HERRN gehen, zum Hause des Gottes Jakobs, daß er uns lehre seine Wege und wir wandeln auf seinen Steigen! Denn von Zion wird Weisung ausgehen und des HERRN Wort von Jerusalem. Und er wird richten unter den Heiden und strafen viele Völker. Da werden sie ihre Schwerter zu Pflugscharen und ihre Spieße zu Sicheln machen. Denn es wird kein Volk gegen das andere ein Schwert aufheben und werden hinfort nicht mehr kriegen lernen. 71 Mit dem Land und Jeruschalaim erfüllen sich nicht Israels Wünsche, sondern Gottes Verheißungen. Israel dient Gott um der anderen Völker willen, wenn sie es denn dienen lassen. Liebe Gemeinde, wie wir Christen verlässliche und von den Meinungen der Welt unabhängige Wächter werden und bleiben können, wird an einer kleinen Begegebenheit aus der Zeit des Dritten Reiches deutlich.
70 71
Jes 63,16. Jes 2, 2-4.
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In einer Landgemeinde ließ sich der Pfarrer vom Nationalsozialismus mitreißen und predigte von der „neuen Zeit“ und ihren Helden und Theorien, die auch von den Christen seiner Gemeinde bitte schön in die Praxis umgesetzt werden sollten. Da begann eine alte Frau, eine treue Kirchgängerin, Sonntag für Sonntag ihre zerlesene Bibel in den Gottesdienst mitzunehmen. Während der Predigt blätterte sie darin, um zu sehen, ob es sich auch so verhielte, wie der Pfarrer predigte. Dieser bemerkte das Gebaren der Alten und begann selber nach den Gottesdienst in der Bibel nachzuschlagen. Dabei fand er heraus, dass er sich auf einem Irrweg befand. Eines Sonntags sagte er am Ausgang zu ihr: „Sie haben mir die Augen geöffnet.“ Das sollte unser geschwisterlicher Dienst an Israel sein: Es in aller Demut daran zu erinnern, was wir von ihm selbst empfangen haben: Gott ist dein Helfer 72 und dein Fels73. Er ist die beste Wehr und Waffen, in der Not, die euch jetzt betroffen hat, verlasst euch nicht zu sehr auf die Waffen, zu denen euch eure Feinde provozieren, sie in die Hand zu nehmen. Dass wir als Wächter Jerusalems und Israels Gott in den Ohren liegen Tag und Nacht, ihm keine Ruhe lassen in der Fürbitte und Fürsprache, das ist unser Teil. Dass wir den Vater der Kinder Israel an sein für Jerusalem verheißenes Heil erinnern, dass er sie mit seinem Schalom besuchen, besiegen und nimmer verlassen möge, auf dass er alles in allem sei74 und alle seine Geschöpfe untereinander und mit ihm versöhnt im neuen Jerusalem wohnen und gemeinsam sein Volk sein werden, und er selbst, Gott mit uns, wird unser Gott sein; und er wird abwischen alle Tränen von unseren Augen, und der Tod wird nicht mehr sein, noch Leid, noch Geschrei, noch Schmerz wird mehr sein; denn das Erste ist vergangen. 72 73 74
Vgl. Ps 40,18. Vgl. Ps 31,4. Vgl. Eph 1,23.
255
Und der auf dem Thron saß, sprach: Siehe, ich mache alles neu! Und er spricht zu mir: Schreibe, schreibe und predige; denn diese Worte sind wahrhaftig und gewiss!75
75
Vgl. Off 21, 1-5, zweite Lesung im Gottesdienst.
256
Was hat das Leben von mir? Jesus Christus spricht: Meint nicht, dass ich gekommen sei, das Gesetz oder die Propheten aufzulösen; Ich bin nicht gekommen aufzulösen, sondern zu erfüllen. Denn, amen, wahrlich, ich sage euch: Bis das Himmel und Erde vergehe, wird nicht vergehen ein Jota oder ein Tüpfelchen vom Gesetz, bis dass es alles geschehe. Wer nun eines von diesen kleinsten Geboten auflöst und lehrt die Leute so, der wird der Kleinste heißen im Himmelreich; wer es aber tut und lehrt, der wird groß heißen im Himmelreich. Denn ich sage euch: Wenn nicht eure Gerechtigkeit die der Schriftgelehrten und Pharisäer weit übertrifft, so werdet ihr keinesfalls ins Himmelreich hineinkommen. Matthäus 5, 17 - 20
Liebe Gemeinde! Die Bibel ist eine Antwort auf die Frage: Was fordert Gott vom Menschen? Der Mensch von heute ist dagegen wohl eher mit der Frage beschäftigt: Was habe ich vom Leben? Wie gestalte ich mein Leben, dass möglichst viel für mich dabei herausspringt? Aber das ist nicht die Frage der Bibel, auf die sie Antwort gibt. Sie fragt: Was hat das Leben von mir? Die Bibel versteht den Menschen an erster Stelle nicht als Individuum, als Einzelnen. Sie versteht uns als Mensch, der von Anfang an in Gemeinschaft lebt. In Gemeinschaft mit Gott und seinen nächsten und fernsten Mitmenschen. Und deshalb fragt die Bibel danach: Wie kann es gehen, dass sich der Mensch vor Gott und mit anderen Menschen zu257
sammen bewährt? Wie kann der Mensch davor bewahrt werden, sich selbst als einzigen Zweck seines Lebens zu verstehen? Wie kann er davor bewahrt werden, sich nur um die eigenen Bedürfnisse zu kümmern, nicht aber darum, dass andere seiner bedürfen? Was hat das Leben von mir? Wir leben in einer Zeit, in der Bedürfnisse heilig, unantastbar sind, als ob sie die ganze Existenz ausmachten. Bedürfnisse sind unsere Götter, und wir plagen uns ab und scheuen keine Mühen, sie zu befriedigen. Und selbstkritisch haben wir hier als evangelische Kirche anzumerken, dass auch wir oft den Bedürfnissen der Leute hinterherrennen und darüber die Frage „Was fordert Gott vom Menschen?“ nicht laut werden lassen, geschweige denn, mit der Bibel Antwort zu geben wagen. Mal nachgehakt, liebe Gemeinde, was hat es denn eigentlich mit unseren Bedürfnissen auf sich? Tatsache ist, dass der Mensch, weder sein eigenes Herz noch seine eigene Stimme kennt. Viele Interessen und Bedürfnisse, auf die wir Wert legen, werden uns von den Konventionen der Gesellschaft aufgedrängt. Einige sind ja wirklich notwendig, aber wie viele werden von uns durch Werbung oder bloßen Neid übernommen. Der Mensch von heute glaubt, mit seinem Begriff von Bedürfnissen, den Stein der Weisen gefunden zu haben. Aber wer kennt schon wirklich seine wahren Bedürfnisse? Wie sollen wir echte von eingebildeten Bedürfnissen unterscheiden? Und: kurz ist der Weg vom Bedürfnis zur Habsucht. Es käme darauf an, das göttliche Gebot zum Anliegen des Menschen zu machen, so kämen wir zu uns selbst, auf den Grund unseres Herzens wie ihn der Schöpfer in uns geschaffen hat. Und so will uns die Bibel diese Frage ins Herz legen: Wer braucht den Menschen? Wer braucht mich? Die Bibel ist das Bewusstsein des Menschen, gebraucht zu werden, das Bewusstsein, dass der Mensch ein Bedürfnis Gottes ist. Ja, Gott bedarf 258
meiner, der Mitmensch bedarf meiner. Und wer dem Ewigen folgen will, muss wissen: Gott ist Mitleid76 und er zieht dich durch sein Gebot in sein Mitleiden hinein. Und wenn das heutzutage nur noch wenige in der Bibel lesen und hören wollen, dann konfrontieren uns die ungebrochenen Flüchtlingsströme aus Syrien, Afghanistan, dem Irak und Afrika unausweichlich mit dieser Frage: Wer braucht mich? 613 Gebote zählen die Juden in ihrer Heiligen Schrift, die wir das Alte Testament nennen. Alle haben sie eine Stimme, von Gott verliehen, dass sie zu uns sprechen. Viele Gebote verstehen wir nicht: wir fragen uns, wozu sind sie gut? Unsere Vernunft und unser Verstand sehen und erkennen keinen Sinn in ihnen. Und dann fangen wir an, zwischen vernünftigen, einsichtigen, praktikablen und scheinbar überflüssigen, überholten und veralteten Gesetzen, die uns Christen angeblich nichts mehr angehen, zu unterscheiden und erlauben uns auszusortieren: Die guten ins Töpfchen, die schlechten ins Kröpfchen. Am Ende heißt es gar: Bestimmte Gebote des Alten Testaments gehen uns als Kirche sowieso nichts mehr an, die hätte Jesus Christus überwunden und für null und nichtig erklärt. Als Kirche des Wortes, liebe Gemeinde, geraten wir da freilich in einen Konflikt, wenn wir wirklich auf Jesu Worte hören: Meint nicht, dass ich gekommen sei, das Gesetz oder die Propheten aufzulösen, ich bin nicht gekommen aufzulösen, sondern zu erfüllen. Denn, amen, wahrlich, ich sage euch: Bis das Himmel und Erde vergehe, wird nicht vergehen ein Jota oder ein Tüpfelchen vom Gesetz, bis dass es alles geschehe. Wer nun eines von diesen kleinsten Geboten auflöst und lehrt die Leute so, der wird der Kleinste heißen im Himmelreich; wer es aber tut und lehrt, der wird groß heißen im Himmelreich.
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Alle Zitate bei: A. J. Heschel, Die ungesicherte Freiheit, Neukirchen, 1985, 4ff
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Keines der 613 Gebote hat Jesus für null und nichtig erklärt. Sie haben nach wie vor eine Stimme, die auch nach uns ruft. Die Juden hören bis heute alle diese Stimmen. Keiner haben sie den Mund verboten. Es gibt wohl Stimmen unter den Geboten, die von sich aus schweigen, weil es den Gegenstand z.Zt. nicht gibt, auf den sie sich beziehen, wie z.B. den Tempel in Jerusalem. Aber die sprechenden Stimmen der Gebote, die versuchen die Juden in ihrer alltäglichen Glaubenspraxis aktuell auszulegen, ihnen nachzugehen, sie zu befolgen. Und auch wenn sie sagen, dass man in vielen Geboten tatsächlich einen praktischen, vernünftig nachvollziehbaren Sinn erkennt, erklären sie letztlich: Nicht deshalb befolgen wir die Gebote, weil wir sie verstehen, sondern weil sie uns von Gott gegeben sind. Sie sind uns heilig und sie heiligen uns, sie reservieren uns für Gottes Willen mit uns und der Welt. Von Gott und für Gott reservierte Leute zu sein, das nennt unser Glaubensbekenntnis „Gemeinschaft der Heiligen“ und beide, Volk Israel und Kirche Jesu Christi sind Gottes Partisanen, Vorkämpfer der Gottes- und Nächstenliebe in dieser Welt. Von den durch den Holocaust ausgelöschten osteuropäischen Juden heißt es: In ihren Augen war die Welt kein herrenloses Gut, dass der Schöpfer dem Zufall überlassen hatte. Das Leben war für sie .... eine Mission, die jedem einzelnen anvertraut war, ein Unternehmen, das mindestens so verantwortungsvoll war wie z. B. die Leitung einer Fabrik. Jeder Mensch bringt unaufhörlich Gedanken, Worte und Taten hervor und unterwirft sie entweder den Mächten der Heiligkeit oder den Mächten der Unreinheit. Er ist ständig dabei, entweder zu zerstören oder aufzubauen. Aber seine Aufgabe ist, durch Erfüllung der Tora, der Weisung Gottes, wieder herzustellen, was im Kosmos beschädigt worden ist, zu arbeiten im Dienst am Kosmos um Gottes willen.77 77
A.J. Heschel, Die Erde ist des Herrn, Neukirchen 1985, 51
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In diesen Dienst sind wir mit dem Wort Jesu über die Gebote und unsere Gerechtigkeit gestellt. Was im Kosmos beschädigt worden ist, das soll durch Gottes Gefolgsleute wieder hergestellt werden. Das Göttliche singt in guten Taten.78 Zum Zweiten: Jesus gibt hier sein völliges Übereinstimmen, ja Einssein mit dem Willen Gottes im Alten Testament, in Gesetz und Propheten zu erkennen. Er streicht keines der Gebote weg, und er fügt keines hinzu, er hält sie – das ist das einzige, was er hinzufügt. 79 Ich bin nicht gekommen aufzulösen, sondern zu erfüllen. Das Gesetz Gottes ist von Christus erfüllt, in ihm lebt und regiert Christi Geist. Er nimmt dich ran, zieht dich in den Willen Gottes hinein. Im Gebot, das dir begegnet, das nach deinem Tun, nach deinem Gehorsam ruft, hörst du Christus nach dir rufen. Und wenn du ihn rufen hörst, dann hat er schon mit seiner Arbeit bei dir begonnen, dann ackert er dein Herz um, dann wird ein Mensch Tora, Weisung Gottes. Er schreibt dir die Tora Gottes so ins Innere, dass sie dir zum Herzschlag wird. Und wer ihm folgt, der wird von ihm hören: Was du getan hast einem unter diesen meinen geringsten Brüdern, das hast du mir getan.80 Liebe Gemeinde, am Ende unseres Predigtwortes hören wir Jesus sagen: Übertreffen, überfließender müsste die Gerechtigkeit der Jünger gegenüber dem ihnen bekannten Maß an Gerechtigkeit der Pharisäer und Schriftgelehrten sein. Wenn die Pharisäer und Schriftgelehrten schon ein gutes Beispiel in den Augen Jesu abgeben, was erwartet er von seinen Jüngern noch darüber hinaus?
78 79 80
AaO., 53 D. Bonhoeffer, Brevier, München, 1991, 241 Mt 25,40
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Da zielt Jesus wohl auf Glaube und Barmherzigkeit, in die die Gerechtigkeit übergeht, wenn sie das Leiden und Mitleiden nicht scheut. Das Kreuz unseres Herrn steht jedenfalls dafür: Er hat seine Gerechtigkeit in den Münzen von Glaube und Barmherzigkeit an uns ausgezahlt. Barmherzigkeit und Glaube sind keine messbaren Größen mehr, sie lassen sich auch nicht begrenzen, aber sie, so meint unser Herr, gerade sie müssten in seiner Kirche wohl zum Maßstab werden, an denen seine Jünger zu messen seien. Und so kann man einer Kanzlerin wohl mit dem Galgen drohen81 und die Gefolgschaft verweigern, weil sie erkannt hat, was Gottes Gebot in dieser Zeit ist, aber man muss sich dann auch sagen lassen, wes Geistes Kind man nicht, nicht mehr ist. Im Übrigen und zuletzt: Der Täter macht Ernst, der Weise einen Witz! Lasst uns das eine tun und das andere nicht lassen. Also: Simon Silberfisch hat sein Lebtag die Gebote Gottes nicht immer so genau genommen und sich manchen zweifelhaften Weg erlaubt. Sein Freund Goldberg bezweifelt deswegen, dass er in den Himmel kommen kann. „Ich werde hineinkommen“, behauptet Simon Silberfisch. Ich werde gehen zur Himmelstüre, werde sie aufmachen, werde sie zumachen, werde sie aufmachen, werde sie zumachen. Dann wird kommen der Heilige Petrus und rufen: Was ist nun, raus oder rein! Na, da geh ich hinein.“82
81 82
So geschehen im Oktober 2015 durch PEGIDA, Dresden A. Kühner, Voller Witz und Weisheit, Neukirchen 2008
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Das Kainszeichen auf unserer Stirn Das Heil kommt von den Juden.
Johannes 4,22
Liebe Gemeinde! Ein Satz, über den man zunächst stolpert: Das Heil kommt von den Juden. Ein Satz, an dem man wohl gerade auch als evangelischer Christ Anstoß nimmt. Haben wir doch mit unserer protestantischen Muttermilch aufgesogen diesen anderen Satz: Das Heil kommt durch Christus. Aber gerade dieser ist es, der den für uns anstößigen Satz: Das Heil kommt von den Juden wie einen Fels in die Brandung unserer Vorstellungen und Meinungen hineingestellt hat. Wir kommen an diesem Wort nicht vorbei. Und doch hat es in der Geschichte unseres Volkes und unserer Kirche eine heillose Vergangenheit, ist ihm vielfältig Gewalt widerfahren: Im biblischen Lesebuch der Badischen Landeskirche musste dieser Satz auf Verlangen des Kultusministeriums 1939 gestrichen werden; und der Bremische Landesbischof Weidemann ließ ihn in seiner Auslegung des Johannesevangeliums 1936 einfach aus. Und es gibt bis in unsere Tage hinein durchaus noch ältere Gemeindeglieder, die sich erinnern und einem erzählen: Zur Zeit des Nationalsozialismus sollten wir im Religionsunterricht das Johannesevangelium aufschlagen, Kapitel 4, Vers 22, einen Stift nehmen und den Satz "Das Heil kommt von den Juden" durchstreichen. Soviel auch versucht wurde, diesen Satz zu unterschlagen, zu streichen, wegzulügen, wir aber heute bei der Wahrheit, bei Christus bleiben wollen, dann müssen wir ihn uns sagen lassen, ihn hören.
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Und so lasst uns zuerst in die Schrift hineinhören wie unser Herr selbst diesen Satz in die Praxis umgesetzt, gelebt hat: Denken wir nur an die Geschichte, wo ihn die kanaanäische, die syrische Frau bittet, ihre Tochter zu heilen, und er die Antwort gibt: Es ist nicht fein, dass man den Kindern das Brot nimmt und wirft es vor die Hunde. 83 Da vergleicht er Israel mit Kindern und die Heiden mit Hunden. Nun, jene Geschichte nimmt dann doch einen guten Ausgang. Aber sie demonstriert drastisch: Das Heil kommt von den Juden! Oder nehmen wir das Bild des Paulus: Er vergleicht Israel mit einem guten Olivenbaum und die Heiden mit einem wilden Olivenbaum. Es seien Zweige aus dem guten Olivenbaum geschnitten, um für sie Zweige aus dem unedlen aufzupfropfen.84 Ob jemand denkt, Paulus verstehe nichts vom Okulieren, man mache es doch genau umgekehrt? Aber das weiß Paulus so gut wie wir. Doch das will er gerade sagen: Hinsichtlich des Baumes „Israel“ und des Baumes „Heiden“ sei es anders: In den edlen Baum des Alten Bundes werden Zweige des Wildlings eingesetzt - nicht um den guten Baum zu verderben, sondern um am guten Saft des edlen Baumes Anteil zu erhalten. Das heißt wiederum: Das Heil kommt von den Juden. Für uns Christen bedeutet das: Es ist eben nicht selbstverständlich, dass wir zu Gottes Volk dazugehören, zu denen, die in Seiner besonderen Nähe, in Seiner besonderen Erkenntnis, unter Seinem Segen leben. Gott hat zunächst nicht Griechen und Germanen, sondern die Juden zu ihrer besonderen Rolle unter den Völkern ausersehen. Das Heil kommt von den Juden – damit sagt uns Jesus weiterhin und ganz einfach: Ich selbst, der Menschen- und Gottessohn bin ein Angehö83 84
Matthäus 15,26 Römer 11
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riger des Volkes Gottes, der Juden, ich bin nach Fleisch und Blut einer der ihren. Das Wort ward Fleisch, zuallererst jüdisches Fleisch. Wer Jesus Christus seinen Bruder nennt, der muss auch die Juden als seine Schwestern und Brüder annehmen, wenn er denn den großen Bruder Jesus nicht verlieren will. Sie sind uns gerade in und durch ihn nahe Menschen. Wer sie verachtet, der verachtet Jesus Christus. Er läßt sich von ihnen nicht trennen, auch wenn sie ihn nicht anerkennen als ihren Herrn und Heiland. Nun bekommt man es freilich immer wieder zu hören: Aber waren sie es nicht, die Jesus Christus verworfen und gekreuzigt haben? Damit muss aufgeräumt werden. Es waren nach dem Neuen Testament Juden und Heiden, Kaiphas und Pilatus, als die Stellvertreter aller Menschen. Wer Jesus als seinen Stellvertreter zur Auslösung vor Gott annimmt und sich auf ihn beruft, der muss auch die damals Handelnden, die ihn ans Kreuz gebracht haben, als seinen Stellvertreter zum Bösen akzeptieren und bekennen: „Ja, sie haben es auch für meine Person mitgemacht, ich steckte mit ihnen unter einer Decke, ich bin einer von ihnen, die da geschrieen haben: ‚Kreuzige ihn!‘“ Weiter gibt es für die christliche Gemeinde zu bedenken: Juden waren es, die das Evangelium zu den Völkern gebracht haben. Von den Verfassern des Neuen Testaments sind mit Sicherheit die meisten jüdische Christen.Unsere Väter und Mütter im Glauben, denen wir die Wurzeln unseres Glaubens verdanken, waren Juden. Deine Herkunft, hat einmal der Philosoph M.Heidegger gesagt, deine Herkunft ist deine Zukunft. Das gilt auch für unseren Glauben. Die Zukunft unseres christlichen Glaubens bleibt uns nur gewiss und verheißungsvoll, wenn wir seine Herkunft nicht verleugnen. Aber auch von Juden, die sich nicht zu Christus bekehren, können wir nach wie vor lernen. „Das Heil kommt von den Juden“ hat auch diesen 265
Sinn. Man muss es einmal erlebt haben, mit welcher Freude, welchem Dank sie am Freitagabend in der Synagoge den Sabbat begrüßen. Wen kümmert es bei uns groß, wenn die Glocken den Sonntag einläuten? Man muss sie erlebt haben mit ihrer Freude am Gesetz des Herrn, wie das bei ihnen lebt, was doch auch in unserer Bibel steht: Die Freude am Herrn ist eure Stärke. Wo dein Gesetz nicht mein Trost gewesen wäre, wäre ich vergangen in meinem Elend. Herr, dein Wort ist meines Fußes Leuchte und ein Licht auf meinem Weg. 85 Wohin dieser Weg führen kann, zeigt uns ein Gebet, das im Warschauer Ghetto entstanden ist. Da betet der Jude Zwi Kolitz, während das Ghetto in Flammen steht: Gott, eine Stunde höchstens noch, und ich werde mit meinem Weib und den Kindern sein und den Millionen anderen Umgekommenen meines Volkes. Herr, du hast alles getan, dass ich an dir irre werde und nicht an dich glaube. Du tust alles, dass ich an dich nicht glauben soll. Wenn es dir aber scheinen wollte, dass es dir gelingen wird, mich mit diesen Drangsalen vom richtigen Weg abzubringen, meld' ich dir, meinem Gott und dem Gott meiner Eltern, dass es dir alles nichts nützen wird. Magst du mich auch schlagen, magst du mir auch wegnehmen das Teuerste und Beste, das ich hab' auf der Welt, magst du mich zu Tode peinigen - ich werde immer an dich glauben. Ich werde dich immer liebhaben, immer, dich allein. Dir zum Trotz. Ich sage dir das alles, weil ich an dich glaube, weil ich mehr an dich glaube, als je zuvor, weil ich jetzt weiß, dass du mein Gott bist. Denn du kannst doch nicht der Gott jener sein, deren schreckliche Gewalttaten so strotzen vor Gottlosigkeit. Ich kann dich nicht loben für die Taten, die du duldest.
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Psalm 119
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Ich segne und lobe dich aber für deine schiere Existenz, für deine schreckliche Größe. Wie gewaltig muss sie sein, wenn sogar das, was jetzt geschieht, auf dich keinen Eindruck macht? Aber gerade weil du so groß bist und ich so klein, bitte ich dich, warne ich dich, deines Namens wegen: Hör auf, deine Größe dadurch zu betonen, dass du die Unglücklichen schlagen läßt. Gott zu glauben, Gott zum Trotz, weil man nicht billigen kann, was er geschehen läßt: das kannst du hier erleben, dir zum Beispiel nehmen und einmal darüber nachdenken wie schnell wir dabei sind, Gott und unseren Glauben an den Nagel zu hängen, weil es in unserem Leben nicht so geht, wie wir es uns wünschen, weil Gott das Böse von unseren Tagen nicht fernhält und abwendet. Liebe Gemeinde, können wir nach allem, was Juden durch Christen widerfuhr, erwarten, dass sie sich zu unseren Kirchtürmen bekehren? Ob sie nicht auch anders zu Ihm finden können? Zeigt es sich doch je länger desto mehr, wie nah sie Ihm sind – und erst recht, wie nah Christus ihnen ist. Haben sie nicht teilgenommen, 1938 in der Kristallnacht zum Beispiel und dann in den Gaskammern, an seinem Kreuz? Von einem Theologen las ich: Wie die Christen die Auferstehung Jesu Christi veranschaulichen, so die Juden das Kreuz. Nur würde ich hinzufügen: Sie veranschaulichen das Kreuz kräftiger als wir die Auferstehung. Keine Nation hat je derartiges für Gott erlitten, hat schon ein mittelalterlicher christlicher Kirchenlehrer von den Juden gesagt. Und - sie veranschaulichen Christi Kreuz auch im Sinne der Vergebung. In einem Konzentrationslager hat man ein jüdisches Gebet gefunden, in dem es heißt: Friede sei den Menschen, die bösen Willens sind, und ein Ende sei gesetzt aller Rache und allem Reden von Strafe.
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Liebe Gemeinde, unser Gebet hat Papst Johannes XXIII. kurz vor seinem Tod verfasst: Wir erkennen nun, dass viele, viele Jahrhunderte der Blindheit unsere Augen bedeckt haben, so dass wir die Schönheit Deines auserwählten Volkes nicht mehr sehen und in seinem Gesicht nicht mehr die Züge unseres erstgeborenen Bruders wiedererkennen. Wir erkennen, dass das Kainszeichen auf unserer Stirn steht. Jahrhundertelang hat Abel darniedergelegen in Blut und Tränen, weil wir deine Liebe vergaßen. Vergib uns die Verfluchung, die wir zu Unrecht aussprachen über den Namen der Juden. Vergib uns, dass wir Dich in ihrem Fleische zum zweitenmal kreuzigten. Denn wir wussten nicht, was wir taten. Die Juden haben unsägliches Kreuz erduldet, auch und vor allem von Christen. Aber dieses christliche Wüten und Vergessen hat diese Wahrheit nicht auslöschen können: von den Juden kommt das Heil – für sie und uns, für diese Welt.
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Gottes Geheimnis Liebe Gemeinde! Viel hören wir seit den letzten Wochen in den Medien über Israel. Und das, was und wie die Medien berichtet haben, treibt in unserem Land Menschen auf die Straße, die nichts Besseres zu sagen und zu schreien haben als z.B.: „Scheiß Juden, geht ins Gas!“ - und ähnliches aus der Fäkaliensprache des Antisemiten. Freilich weiß ich, dass sich der deutsche Antisemit auch „kultivierter“ und gewählter auszudrücken vermag, aber das macht ihn nicht besser oder gar harmloser ... Auch wenn man – wie ich – die Zeit von 1933 – 45 in Deutschland nicht miterlebt hat, habe ich in den letzten Wochen eine leise und doch lebhafte Ahnung davon bekommen, wie es den Juden im nationalsozialistischen Deutschland ergangen sein muss. Mich wundert's und gruselt's zugleich, dass der Großteil unseres Volkes damals nicht mitgefühlt hat und nach 1945 auch nicht – und heute???! Über die Berichterstattung in unserem Land zum Thema „Israel“ gibt es viel zu sagen. Hier im Gotteshaus und jetzt im Gottesdienst haben uns die Medien gar nichts zu sagen. Jetzt sind wir unter der Verheißung versammelt, dass Gott sich der Heiligen Schrift bedienen will, um uns SEIN Wort durch sie zu sagen. Für uns persönlich - wie in allen großen und kleinen Fragen - kommt es darauf an, dass wir wenigstens hier die Chance ergreifen und uns von Gottes Geist auf das Hören seiner Stimme konzentrieren lassen, dass wir Gottes Stimme aus dem Stimmenchaos einer Werkwoche wieder heraushören und klar vernehmen. ER scheidet die Geister – auch im Blick darauf, wie ich über Israel, SEIN Land und SEINE Leute hier in Deutschland und in Israel rede und urteile. Und wer Ohren hat, der höre: In der Heiligen Schrift Alten und Neuen Testaments
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haben die Juden eine ganz andere Presse, als du sie zuhause liest und hörst. Und so hören wir jetzt den gelehrten Pharisäer und Völkerapostel Paulus, den Haushalter über Gottes Geheimnisse86, der den Christen in Rom im 11. Kap. seines Briefs schreibt: 25 Ich will euch, liebe Brüder, dieses Geheimnis nicht verhehlen, damit ihr euch nicht selbst für klug haltet: Verstockung ist einem Teil Israels widerfahren, so lange bis die Fülle der Heiden zum Heil gelangt ist; 26 und so wird ganz Israel gerettet werden, wie geschrieben steht: »Es wird kommen aus Zion der Erlöser, der abwenden wird alle Gottlosigkeit von Jakob. 27 Und dies ist mein Bund mit ihnen, wenn ich ihre Sünden wegnehmen werde.« 28 Im Blick auf das Evangelium sind sie zwar Feinde um euretwillen;aber im Blick auf die Erwählung sind sie Geliebte um der Väter willen. 29 Denn Gottes Gaben und Berufung können ihn nicht gereuen. 30 Denn wie ihr zuvor Gott ungehorsam gewesen seid, nun aber Barmherzigkeit erlangt habt wegen ihres Ungehorsams, 31 so sind auch jene jetzt ungehorsam geworden wegen der Barmherzigkeit, die euch widerfahren ist, damit auch sie jetzt Barmherzigkeit erlangen. 32 Denn Gott hat alle eingeschlossen in den Ungehorsam, damit er sich aller erbarme. Römer 11,25 – 32 Liebe Gemeinde, wir haben hier wohl einen der abgründigsten Texte der ganzen Heiligen Schrift gehört. Er tut uns den Abgrund des unerforschlichen und unbegreiflichen Erbarmens Gottes auf. Schwindel bemächtigt sich unseres Verstandes; denn die Wege des göttlichen Erbarmens gehen nicht die Wege unserer Logik. Gottes Erbarmen folgt seinem Herzschlag. Und Gottes Herzschlag ist uns ein Geheimnis. Dieses Geheimnis ist kein Rätsel, das Gott uns zu knacken gibt, vielmehr ein Signal seiner Freiheit. 86
1 Kor 4,1
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Was er für uns tut, soll unangepasst bleiben, sich nicht in unsere Klugheit, Logik und Moral fügen – auch nicht in unsere Glaubens- und Kirchenklugheit. Wo er für uns etwas im Unklaren lässt, ermuntert er uns zu einem Glauben über unser Bitten und Verstehen 87 hinaus, damit wir spüren: Um ihn und Seine Wege geht es, nicht darum, dass in der Welt alles nach unseren Vorstellungen „mit rechten Dingen“ zugeht. Zu diesem Geheimnis seines Erbarmens gehört Gottes Leben mit dem jüdischen Volk. Daher gibt es auf den Wegen dieses Volkes so viel Unangepasstes, über das wir Christen immer noch nicht klug werden und das uns oft so gar nicht passt. Warum – um Himmels willen – stocken sie so vor Jesus Christus und neuen Wegen Gottes, die er mit diesem einen Juden beginnen wollte. Warum gebärden sie sich so konservativ, statt mit fliegenden Fahnen zu Gottes Neuigkeiten überzulaufen? Dieses tief verwurzelte Nein vieler Juden zu Jesus bleibt ein Geheimnis. Wir können uns nur gefallen lassen, dass Gott sie mit ihrem Nein gegen den, der uns Nichtjuden zum Wichtigsten und Heiligsten geworden ist – Jesus – leben lässt, und Gott nicht aufhört, sie liebzuhaben – von Generation zu Generation.88 Aber, so die Erkenntnis des Paulus, damit ist hier lange noch nicht alles gesagt: Das Nein der meisten Juden zu Jesus Christus brachte den Völkern, die bislang ohne den Gott Israels lebten, Jesus Christus, in dem das Heil des Gottes Abrahams, Isaaks und Jakobs beschlossen liegt. Indem die Juden Jesus von Nazareth den Heiden auslieferten zur Kreuzigung89, stießen sie die Tür zu den Völkern auf, stellten sie die Gemeinschaft, die Solidarität der Sünder aber auch die der Gnade zwischen 87 Eph 3,20 88 Mit Abweichungen aus: F.W. Marquardt, Predigtmeditationen, in: Texte & Kontexte, Nr. 125/126, 31 89 K. Barth, Kurze Erklärung des Römerbriefs, München 1956, 170
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Israel und der Völkerwelt 90 her. Die Ablehnung Jesu durch die Juden leitet die Heilsgeschichte der Völker mit Jesus Christus ein. Übersehen wir dabei zweierlei nicht: Erstens: Auch die Völker – verkörpert durch Pontius Pilatus – wissen mit Jesus nichts anderes anzufangen, als ihn zu verspotten und kreuzigen zu lassen - denn Gott hat alle eingeschlossen in den Ungehorsam. Und zweitens: Es bleibt dabei: Das Heil kommt von den Juden.91 Ohne ihr „Nein“ wäre die Botschaft von Jesus Christus nicht in die Welt zu den Völkern hinausgedrängt worden, um dort Zug um Zug auf fruchtbaren Boden zu fallen, von Juden ausgesät, die vom Glauben an den Messias Jesus Christus überwunden waren. Und von allen aus den Völkern bis zu dir und mir, alle nehmen wir das Wort auf und bewahren es, allein weil sich Gott unserer erbarmt. Tag für Tag. Da gibt es sich nichts auf sich selbst einzubilden, sich selber zuzuschreiben und zugute zu halten - auf dass er sich aller erbarme. Liebe Gemeinde, wer sein geistliches jüdisches Erbteil als Christ nicht wahrhaben will, es verleugnet oder einebnet, der bäckt sich einen Abgott, aber der hat nicht den zum Herrn, der durch den Samen Abrahams diese Welt segnet.92 Der christliche Theologe Karl Barth hat es 1941 (!) vor seinen Studenten in Basel auf den Punkt gebracht: Wer Jesus im Glauben hat, der kann die Juden nicht nicht haben wollen (d.h. er muss sie haben wollen). Sonst kann er auch den Juden Jesus nicht haben!93 Ich glaube, dieses Bild trifft es, liebe Gemeinde: Zusammengespannt hat Gott uns – die Christen aus den Heidenvölkern - mit den Juden, die das Evangelium von Jesus Christus nicht annehmen. Die einen werden ohne 90 91 92 93
A.a.O. Jh 4,22 Gen 12,3 K. Barth, Kurze Erklärung des Römerbriefs, München 1956, 173
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die anderen nicht selig, gerettet werden, davon ist Paulus zutiefst überzeugt und bewegt. Und um die beiden zum Ziel zu bringen, Juden und Christen, bedient sich Gott eines oft von ihm geübten „Kniffs“: Er dreht die Reihenfolge um. Er macht Erste zu Letzten und Letzte zu Ersten. 94 Das kennen wir schon aus den Vätergeschichten, dass der Erstgeborne auf Platz zwei rückt – so geschehen mit Jakob und Esau. Gott macht Staat mit Jakob, dem zweitgeborenen und gibt ihm einen neuen Namen „Israel“. Jakob/Israel wird zu einem großen Volk, Gottes erstgeborenen, erwählten Volk und zum Namen Seines Landes. Und nun passiert durch Kreuz und Auferstehung Jesu etwas Einzigartiges: Als ob Gott sich erinnerte und Jakob/Israel in seine naturbestimmte Position, auf die Position des ursprünglich zweitgeborenen zurücksetzte: Er lässt die Mehrzahl seines erstgeborenen Volkes zurücktreten, ins Stocken geraten: ihm widerfährt Verhärtung des Herzens gegen Jesus Christus. Durch dieses Aufgehaltensein der Vielen aus Israel bekommen die Völker Gelegenheit, zum Gott Israels zu finden. Israel hält den Völkern die Tür – von der Jesus sagt, er sei sie 95 – zu Gott offen, durch die es selber nicht hindurchtritt. Doch wenn das von Gott für die Heidenwelt bestimmte Maß voll ist, wird ganz Israel aufschließen und mit den Völkern – zusammen – gerettet werden. Dann wird aus Zion der Erretter kommen. Wohlgemerkt: Kein skandalöser Zufall, sondern Gottes Ordnung, dass vor einem Großteil der erstgeborenen Israeliten, die zweitgeborenen, die Fülle der in Jesus Christus erwählten, zu Gliedern an seinem Leib bestimmten Heiden zuerst eingehen. Dieses Aufgehaltensein der Juden ist beileibe kein skandalöses, sondern ein göttliches, anbetungswürdiges Geheimnis.96 94 95 96
Mt 20,16 Jh 10,9 K. Barth, 176f
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Gott selber wird das Stocken Israels gegenüber Jesus aufheben. Das kann nicht das Werk der Kirche sein, nicht mal Israels eigene Aktion. Allein das Eingreifen des Gottes Israels wird das Blatt wenden. Entscheidend ist auch hier, was der Herr tut! Der Ungehorsam des Menschen, sei es der des erst- oder zweitgeborenen Gottesvolkes, vermag es gegenüber seinem Schöpfer jedenfalls nicht, ein ewiges Faktum zu schaffen. Gott bleibt den Ungehorsamen gegenüber frei, wie er auch den Gehorsamen gegenüber frei bleibt.97Die Grenze seiner Freiheit steckt sich Gott nur selbst. Und Paulus erkennt sie darin, wenn er sagt: Gottes Gaben und Berufung können ihn nicht gereuen. Was Gott gegeben hat, das nimmt er nicht zurück. Seine Zusage und Zuwendung ist von ihm nicht widerrufbar. Man darf den Liedvers darauf beziehen: 98 »Was unser Gott gegeben hat, / das will er auch erhalten; /darüber will er früh und spat / mit seiner Gnade walten.« Gottes Gnadenwahl ist und bleibt für das Volk Israel gültig, – und um das noch hinzuzufügen: Sie bleibt gültig, wie sich auch die Politik des Staates Israel jeweils gestalte. Mag man hinter dieser Politik von Zeit zu Zeit ein Fragezeichen setzen. Christen aber können dieses Fragezeichen nur setzen, indem sie dabei hinter das Bekenntnis der göttlichen Gnadenwahl von Juden und Heiden kein Fragezeichen setzen. Christen können darum auch nicht aus der Solidarität mit den Juden in Israel heraustreten99.Auch das Land Israel ist eine Gabe Gottes, die ER seinem Volk erhalten will. Liebe Gemeinde, wir werden Gottes Israel-Geheimnis ehren, wenn wir versuchen, etwas daraus zu lernen. Wenn Juden vor einem Glauben an ihren Landsmann Jesus stocken, bezeugen sie: Vor Gott muss man nicht 97 98 99
A.a.O., 175 Eberhard Busch, in: Israelsonntag Predigthilfe, 2014, Aktion Sühnezeichen, 43 E. Busch, a.a.O.
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immer der erste sein wollen; man kann und soll auch einmal anderen den Vortritt lassen und abwarten, wie die sich zu Gott und uns stellen. Wir kennen ja aus eigener Erfahrung, Gott sei Dank, Wandlungen im Leben mit Gott. Wie oft stellen wir das an uns selbst fest: wir leben gottlos, haben mit seinem Wort und Lebensgesetz nichts im Sinn – bis er uns mit seiner Barmherzigkeit einholt und umgekehrt. So ist denkbar, dass er es mit seinem jüdischen Volk ähnlich tun könnte: er wird sie schon mit ihrem Landsmann Jesus versöhnen, zu dem sie derzeit in Wartestellung stehen: Leute wie Paulus jedenfalls konnten sich das denken. Aber vorerst lernen Christen Gottes Geheimnis zu ehren im Stocken des jüdischen Volkes vor einer Glaubensweise, die ihnen – so gut oder schlecht, wie wir sie ihnen vorleben – vorerst fremd geblieben ist.100
100
Unter Abweichungen siehe: F. W. Marquardt, a.a.O., 31f
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Was Gott zusammengefügt hat, … 25 Ich will euch, liebe Brüder, dieses Geheimnis nicht verhehlen, damit ihr euch nicht selbst für klug haltet: Verstockung ist einem Teil Israels widerfahren, so lange bis die Fülle der Heiden zum Heil gelangt ist; 26 und so wird ganz Israel gerettet werden, wie geschrieben steht: »Es wird kommen aus Zion der Erlöser, der abwenden wird alle Gottlosigkeit von Jakob. 27 Und dies ist mein Bund mit ihnen, wenn ich ihre Sünden wegnehmen werde.« 28 Im Blick auf das Evangelium sind sie zwar Feinde um euretwillen; aber im Blick auf die Erwählung sind sie Geliebte um der Väter willen. 29 Denn Gottes Gaben und Berufung können ihn nicht gereuen. 30 Denn wie ihr zuvor Gott ungehorsam gewesen seid, nun aber Barmherzigkeit erlangt habt wegen ihres Ungehorsams, 31 so sind auch jene jetzt ungehorsam geworden wegen der Barmherzigkeit, die euch widerfahren ist, damit auch sie jetzt Barmherzigkeit erlangen. 32 Denn Gott hat alle eingeschlossen in den Ungehorsam, damit er sich aller erbarme. 33 O welch eine Tiefe des Reichtums, beides, der Weisheit und der Erkenntnis Gottes! Wie unbegreiflich sind seine Gerichte und unerforschlich seine Wege! 34 Denn »wer hat des Herrn Sinn erkannt, oder wer ist sein Ratgeber gewesen«? 35 Oder »wer hat ihm etwas zuvor gegeben, dass Gott es ihm vergelten müsste«? 36 Denn von ihm und durch ihn und zu ihm sind alle Dinge. Ihm sei Ehre in Ewigkeit! Amen. Römer 11,25 -36 Liebe Gemeinde! Was Gott zusammengefügt hat, soll der Mensch nicht scheiden. 101 Keine Angst! Ich habe mich heute Morgen nicht vergriffen und anstatt der Sonntagspredigt aus Versehen eine Traupredigt auf die Kanzel mitgebracht. Aber dieses klassische Schriftwort zur Trauung kam mir in den letzten Tagen immer wieder in den Sinn, während ich unseren heuti101
Markus 10,9
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gen Abschnitt aus dem Römerbrief las und bedachte. Und dabei ging mir dies eine auf: Bei allen seinen mehr oder weniger komplizierten Gedankengängen will uns der Apostel Paulus dies eine sagen und ans Herz legen: Juden und Christen hat Gott zusammengefügt und sie soll der Mensch nicht voneinander scheiden. Das zu verstehen, kann uns der Vergleich mit der Ehe zwischen Mann und Frau behilflich sein: Mann und Frau - das sind zunächst zwei verschiedene Welten und doch von Gott gerade in ihrer Unterschiedenheit füreinander bestimmt, sich zu ergänzen, sich gegenseitig auf dem Weg durch's Leben beizustehen und zu helfen. In der Achtung vor der Eigenart des Anderen und in der Liebe zu den Gaben und Grenzen des Partners liegt das Geheimnis der Ehe, kann der eine den anderen als seine bessere Hälfte erfahren und Widerspruch annehmen und aushalten, weil doch ein Bund zwischen beiden besteht, der von Gottes Barmherzigkeit gestiftet, genährt und erhalten wird, muss sich keiner von beiden in die Schmollecke zurückziehen, sondern kann sich bei Gottes Barmherzigkeit für den anderen wieder mit Langmut und Verständnis, ja mit Vergebungsbereitschaft versorgen lassen. Nicht wahr, liebe Gemeinde, Juden und Christen, das sind zwei Welten. Wir ahnen es mehr, als wir es wirklich wissen, weil wir in unseren Tagen und unserer Stadt gar keine Möglichkeit haben, einen Juden zu kennen, um mit ihm zu leben und Erfahrungen zu teilen. Unsere Vorfahren haben sie nicht auf Händen getragen, sondern in die Höllen der Gaskammern geschickt, dass du und ich nur vom Hörensagen wissen, das müssen verschiedene Welten sein: Christen und Juden. Und doch hat Gott auf geheimnisvolle Weise zusammengefügt, was der arische Mensch versucht hat, gegen Gottes Willen voneinander zu scheiden und konnte sich dabei – entsetzlicherweise – auf eine dem Willen Gottes und seinen Verheißungen sich versagende Kirche – inklusive M. Luther und anderer Kirchenväter und -gestalten – berufen. 277
Aber Gott hat einen Bund für's Leben zwischen Juden und Christen gestiftet. Durch ihn gibt er uns Raum und Zeit, dass wir einander zu seiner ewigen und endgültigen Barmherzigkeit verhelfen. Der Stifter dieses Bundes für's Leben und Heiratsmittler ist Jesus Christus. Gottes und der Judensohn. Hat uns, den Menschen aus den Völkern, den Glauben an den einen Gott Israels gebracht, aber nicht abstrakt und ohne Fleisch und Blut. Von den Juden kommt uns das Heil, jüdisches Fleisch hat der Sohn angenommen. Aber gerade sein Volk lehnt ihn als Sohn Gottes und Messias ab. Bis heute stoßen sich die Juden daran, dass sich nach Jesu Kreuz und Auferstehung doch nichts verändert habe, jedenfalls nicht zum Guten auf dieser Erde. Wenn wir Christen an diesen Jesus als Sohn Gottes glaubten, dann würden wir ja unweigerlich bekennen, dass Gott gescheitert sei. Hier, an diesem Punkt scheiden sich nun die Geister der Christen und Juden. Wir erkennen im Kreuz und der Auferstehung Jesu den verborgenen Sieg Gottes über diese Welt und uns selbst. Für die Juden ist dieser Glaube nicht nachzuvollziehen, ist das, was in unseren Augen Evangelium ist, nur Ärgernis, sie lehnen es ab. Nun müssten sich nach der Menschen Einsicht und Verstand alle Wege trennen, zwischen Juden und Christen, und nach Meinung ungezählter Christengenerationen auch die Wege zwischen Gott und seinem Volk Israel. Doch wo Israel Gottes Barmherzigkeit in Jesus Christus nicht annimmt, da versiegt sie nicht, da stellt sie neue Beziehungen her, strömt über, auf die Menschen aus den Völkern, die nicht glauben und nichts von Gott wissen wollten, als Israel schon lange mit ihm im Bunde war und durch die Zeiten wanderte. Paulus erkennt: Dem Ungehorsam seines Volkes begegnet Gott mit gesteigerter Liebe. Israels Ablehnung Jesu Christi eröffnet uns den Weg zu Gott.
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Freilich, liebe Gemeinde, wir müssen genau auf die Worte des Apostels hören. Paulus sagt: Israel ist Blindheit, Verstockung im Blick auf Jesus Christus widerfahren. Sie sind keine Feinde des Evangeliums aus Bosheit, sondern Gott ist hier der Handelnde, das Subjekt. Die Juden erleiden ihren Ungehorsam gegenüber Gott von Gott selbst, damit wir - vormals Feinde Gottes Raum und Zeit gewinnen, Freunde, Kinder Gottes durch Jesus Christus werden zu können. Die Heiden profitieren von der Ablehnung des Evangeliums durch die Juden. Auch so noch einmal: Das Heil kommt von den Juden. Und ebenfalls bei den Christen, vormals Feinde Gottes, ist und bleibt Gott der Handelnde, hat er die Hand im Spiel und agiert: Einst waren die Heiden gottlos, jetzt sind sie nicht etwa gläubig, sondern es heißt auch von ihnen: Jetzt ist den Heiden Barmherzigkeit widerfahren. Kein Grund zur Überheblichkeit! Hier ist nichts verdient. Hier waltet alleine und souverän die Gnade Gottes. Der Gott Israels hat sich unser erbarmt durch den Unglauben Israels hindurch. Paulus schrieb und glaubte: „weder Hohes noch Tiefes" könne uns trennen, er sagte und schrieb „uns" - und fiel in Traurigkeit, weil das „uns" geteilt war, sah sich schreibend um und mußte merken: Israel als ganzes ziehe nicht voraus zum Zion... Ist die Wahrheit nun Lüge, die Frohbotschaft eine Hiobsbotschaft, das Euangelion ein Dys- und Mißangelion? Denn alleine ziehen zum Berg, das kannst du nicht, christliche Kirche, da würde Gott der Herr dich fragen: Mein Tag tagt nicht, wo sind denn die Andern, die immer noch bei mir die Ersten sind. Was habt ihr gemacht aus meiner Weltformel: „die Juden vornehmlich und auch die Griechen" (Rom 1, 16): das Evangelium von Christo „ist eine Kraft Gottes, die da selig macht alle" hörst du „alle" - willst du da weiterziehen und Gott den Herrn belehren und sagen: ja „alle, die daran glauben", aber die Juden glauben nicht? 279
Willst du gar auf die Ausrede verfallen, die Paulus von Rom her ans Ohr schlug, ja schlug: Israel sei von Gott verworfen worden, wie? Wie willst du denn alleine den Krieg verlernen (Jes 2, 4), mit leeren Händen kommen, ohne hochzeitlich Gewand? Ach, weil du Israel vergaßest, Volk der Deutschen, hast du wohl so viele schreckliche Kriege geführt? Hast die Kinder Israels - statt auf den Händen zu tragen - ins Gas geführt? Hast nicht erkannt, das Israels Nein kein menschliches Nein war, sondern Gottes Ja zu dir? Oder weißt du nicht, daß dir dadurch ein Vorteil und Vorzug wurde, dir, Volk aus den Heiden, diese Barmherzigkeit widerfährt auf Kosten des Volkes, durch dessen Nein dir das Ja wurde? Weißt du nicht, christliche Gemeinde, berufen aus den Heiden, da du verbunden bist mit Israel, wie man verbunden ist in kommunizierenden Röhren: daß, wenn die Flüssigkeit sinkt in der einen, die andere nach oben kommt mit ihrem Wasser: so kamst du nach oben aus der Tiefe der Verlorenheit hinauf mit dem Wasser deiner Taufe - dadurch daß Israel sank! Ach! welch eine Tiefe, jetzt Tiefe der Weisheit, jetzt Tiefe der Erkenntnis! Und als Israel oben war, wie war es doch oben mit seinem Gott durch all die mehr als tausend Jahre, seitdem es gezogen war durch's Rote Meer: da stand das Wasser ihm oft am Hals (Ps 69, 2.3), aber die glaubende Seele, die schaute immer heraus und auf zu ihrem errettenden Gott - wo bist du da gewesen, Gemeinde zu Rom, zu Pretzschendorf? Ganz unten in der Röhre, du glaubtest nicht, aber Israel glaubte. Siehst du jetzt des lieben Gottes Wechsel- und Röhrenspiel, wie groß seine Gerechtigkeit ist, nämlich seine ausgleichende Gerechtigkeit? Sollst nicht länger in die Röhre schauen, sondern heraus: jetzt in Christo, durftest nach oben kommen: siehe, das ist Barmherzigkeit - und das 280
Spiel geht noch weiter: eines Tages, vielleicht erst am letzten Tag, am offenbaren Tag des HErrn: kommt auch Israel wieder nach oben, nach oben und hinauf auf seinen Zionberg. So meint es der Apostel, wenn er schreibt: „Denn gleicherweise wie auch ihr weiland nicht habt geglaubt an Gott, nun aber Barmherzigkeit überkommen habt durch ihren Unglauben, also haben auch jene jetzt nicht wollen glauben an die Barmherzigkeit, die euch widerfahren ist, auf daß sie (hört ihr: auf daß sie!) auch Barmherzigkeit (hört ihr: auch Barmherzigkeit) überkommen" (Röm 11,30.31). Welch ein Reichtum! der Beziehungen nämlich, Beziehungsreichtum aus Gottes Beziehung zu uns, zur einen Welt, zusammengesetzt aus Juden und Heiden. Ist nicht Liebe Beziehung und voller Phantasie, voller Lebendigkeit: daß, wenn es auf eine und auf direkte Weise nicht geht, es auf eine andere und indirekte Weise gehen muß?102 Liebe Gemeinde, teilweise noch bis über den zweiten Weltkrieg hinaus haben die Kirchen in Deutschland das christliche Selbstverständnis gegenüber dem Judentum so gepflegt und an die nächsten Generationen weitergegeben, wie es in einer Anekdote zum Ausdruck gebracht wird: Da stirbt ein Jude und kommt in den Himmel. Sein Landsmann Petrus empfängt ihn freundlich und macht ihn mit den Verhältnissen und Regeln im Paradies vertraut. Es ist auch schon geklärt, in welchem Abteil er sein himmlisches Ruheplätzchen erhalten soll. Petrus beschreibt ihm den Weg, vergisst aber am Ende nicht, ihm zu sagen, dass er sich im jüdischen Himmelssaal bitte schön, ruhig verhalten solle. Darüber wundert sich der Jude. Beim Gebet in der Synagoge konnte er seinen Gefühlen Ausdruck geben, und wenn am Schabbat, und der sollte doch ein Vorgeschmack auf das Paradies sein, die Gemeinde zum „Heilig, heilig, heilig ist der HERR Zebaoth“ kam, dann toste der ganze Raum vom inbrünstigen Rufen der Beter. Warum sollte dann ausgerechnet im Himmel die Anbetung der Heiligen dürftiger ausfallen? 102
L. Steiger, Vom lieben Jüngsten Tag, Walltrop 2003, 44f
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Petrus sah seinen Zweifel und sagte: „Weißt du, im Nebenraum sind die Christen, und die meinen, sie seien allein im Himmel!“ Nicht nur im Himmel, sondern schon hier auf Erden, seien die Christen die einzigen und wahren Kinder Gottes. Gott hätte seinen Bund mit Israel gekündigt, weil es nicht an Jesus Christus als Sohn Gottes glaube. So lehrte und log die Kirche. Damit nun hier und heute nicht wieder dergleichen auf die schiefe Bahn gerät, muss an das erinnert werden, was der Apostel Paulus ausdrücklich von Gottes Verhältnis zu seinem Volk nach Jesu Kreuz und Auferstehung zu sagen hat: Gottes Gaben und Berufung an Israel können ihn nicht gereuen. 103 ER hält an Israel als seinem auserwählten Volk fest. Die Juden sind und bleiben Gottes Lieblinge. Und wenn es bis heute womöglich Christen gibt, die mit dieser Liebe Gottes nicht fertig werden, sie den Juden nicht gönnen, neidisch und eifersüchtig sind, dann ist ihnen von Jesus Christus selbst gesagt und vorgehalten: Siehst du darum so scheel, so neidisch, dass ich so gütig bin. Also werden die Letzten die Ersten sein und die Ersten die Letzten.104 Könnte das nicht eine bedenkenswerte Wahrheit für uns sein, die sich auch in den Worten des Apostels verbirgt und zu uns sprechen will, wenn er sagt: Israel müsse solang in der Verstockung bleiben bis die Fülle der Heiden zum Heil gelangt ist und dann, ja dann stellt Gott die Verhältnisse noch einmal auf den Kopf, und Israel wird an der Spitze stehen und den Einzug der Völkerwelt auf den himmlischen Zion anführen und die Juden werden die ersten sein, die Gott empfangen und herzen wird? Jetzt aber ist von Heiden, Christen und Juden gesagt: Gott hat alle beschlossen unter dem Unglauben, auf dass er sich aller erbarme. Du 103 104
Röm 11,29 Mt 20,15f
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kennst doch, liebe Gemeinde, aus dem "Struwwelpeter" die Geschichte von den Dreien, die mit dem Finger zeigten auf den Mohren - und dafür allesamt ins Tintenfaß getaucht wurden, damit sie alle schwarz und mohrengleich würden, und solidarisch dadurch unter- und miteinander. Siehst du, so steckt Gott der Herr uns allesamt ins Tintenfaß des Unglaubens, nicht um uns für immer anzuschwärzen, sondern damit er sich aller erbarme. Steckt uns danach nämlich ins rote Tintenfaß von Christi Blut, wodurch wir ja schneeweiß werden , wie der Prophet Jesaja sagt: Wenn eure Sünde gleich blutrot ist, soll sie doch schneeweiß werden; und wenn sie gleich ist wie Scharlach, soll sie doch wie Wolle werden (Jes 1, 18).105 Liebe erfahrenen, frisch gebackenen und gescheiterten Eheleute: Mann und Frau sollen sich in der Ehe nicht nur einen guten Weg wünschen, sondern auch ins Gewissen reden. Auch darin gleicht sich das Verhältnis von Juden und Christen. Beide sollen einander Ermahnung und Warnung sein: Das Christentum das Gewissen des Judentums und das Judentum das Gewissen des Christentums. Diese gemeinsame Basis und Möglichkeit, diese gemeinsame Aufgabe wird für sie ein Ruf sein, aufeinander zuzugehen. Und dann werden beide imstande sein, zusammen ihren Platz einzunehmen, nicht widereinander, sondern Seite an Seite vor dem Forum des Allmächtigen, dem Richterstuhl, vor dem Juden und Christen gleichermaßen sich jeden Tag geladen wissen. Damit nun aber kurz vor dem Ziel, wenn der Erlöser aus Zion für Juden und Christen, für alle Welt kommen wird, damit da nun nicht noch ein letzter rechthaberischer Ehestreit zwischen Juden und Christen entsteht, wollen wir es uns am Ende der Zeit gefallen lassen, wie es Martin Buber sich ausmalt und erzählt: Ihr Christen glaubt, dass der Messias schon gekommen ist und einmal wiederkommen wird. Wir Juden glauben, dass er kommen wird. Warten wir also, bis er kommt, dann können wir 105
L. Steiger, Vom lieben Jümgsten Tag, Walltrop 2003, 46
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ihn ja fragen, ob er schon einmal hier gewesen ist. Und ich werde ihn beiseite nehmen und ihm zuflüstern: "Sag's nicht!"
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Die Autorin und der Autor Dr. Salomon Almekias-Siegl, geboren 1946 in Marrakesch/Marokko, ist Rabbiner, Lehrer und Kantor. Pädagogikstudium und Militärdienst in Israel, Englischstudium und liturgisches Kantorial in London. War Kantor und Religionslehrer in den jüdischen Gemeinden in Stuttgart, Köln und Berlin. Studium der Judaistik und Religionswissenschaft an der FU Berlin mit Magisterabschluss. Er absolvierte an der Jeschiwa in Jerusalem ein begleitendes Studium und erhielt dort seine S‘micha als Rabbiner. Drei Jahre war er als Rabbiner in den USA tätig. Im Januar 1998 wurde er zum Landesrabbiner von Sachsen berufen und betreute bis 2012 die Gemeinden Leipzig, Dresden und Chemnitz. 2003 verteidigte er an der Freien Universität Berlin seine Dissertation auf dem Gebiet des Chassidismus zum Thema „Aufbau im Untergang. Die religiösen und pädagogischen Lehren des Admur Kalonymos Kalmish Sharpira“.
Sabine Münch, geboren 1961 im Emsland, ist Pfarrerin. Sie studierte evangelische Theologie und Diakoniewissenschaften in Münster, Tübingen, Bonn und Heidelberg. 1991 nahm sie ihren Dienst in der Landeskirche Sachsens auf. Nach dem Vikariat im Vogtland war sie elf Jahre Pfarrerin an der Marienkirche in Werdau/Westsachsen. Seit 2003 ist sie Pfarrerin der Kirchengemeinde Pretzschendorf-Hartmannsdorf / Osterzgebirge. Veröffentlicht wurden von ihr bisher: Himmlische Arznei – Predigten aus dem Pleißental; Behütet auf allen Wegen - Geschichten zum Vorlesen und Selberlesen; Auf dem Weg zur Krippe – 24 Erzählungen für den Advent.
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Jerusalemer Texte
Schriften aus der Arbeit der Jerusalem-Akademie herausgegeben von Hans-Christoph Goßmann Band 1:
Peter Maser, Facetten des Judentums. Aufsätze zur Begegnung von Christen und Juden sowie zur jüdischen Geschichte und Kunst, 2009, 667 S.
Band 2:
Hans-Christoph Goßmann; Reinhold Liebers (Hrsg.), Hebräische Sprache und Altes Testament. Festschrift für Georg Warmuth zum 65. Geburtstag, 2010, 233 S.
Band 3:
Hans-Christoph Goßmann (Hrsg.), Reformatio viva. Festschrift für Bischof em. Dr. Hans Christian Knuth zum 70. Geburtstag, 2010, 300 S.
Band 4:
Ephraim Meir, Identity Dialogically Constructed, 2011, 157 S.
Band 5:
Wilhelm Kaltenstadler, Antijudaismus, Antisemitismus, Antizionismus, Philosemitismus – wie steht es um die Toleranz der Religionen und Kulturen?, 2011, 109 S.
Band 6:
Hans-Christoph Goßmann; Joachim Liß-Walther (Hrsg.), Gestalten und Geschichten der Hebräischen Bibel in der Literatur des 20. Jahrhunderts, 2011, 294 S.
Band 7:
Hans-Christoph Goßmann (Hrsg.), Geschichte des Christentums, 2011, 123 S.
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Band 8:
Jonathan Magonet, Schabbat Schalom. Jüdische Theologie – in Predigten entfaltet, 2011, 185 S.
Band 9:
Clemens Groth; Sophie Höffer; Laura Sophie Plath (Hrsg.), „... das habe ich nie vergessen, bis heute ...“. Jugendliche befragen Menschen, die die Zeit des Nationalsozialismus erlebt haben, 2011, 200 S.
Band 10:
Hans-Christoph Goßmann, Altes Testament und christliche Gemeinde. Christliche Zugänge zum ersten Testament der Bibel, 2012, 198 S.
Band 11:
Bernd Gaertner; Hans-Christoph Goßmann (Hrsg.), Der Glaube an den Gott Israels. Festschrift für Joachim LißWalther, 2012, 254 S.
Band 12:
Wilhelm Kaltenstadler, Maqāla fī al-rabw. Die Abhandlung des Maimonides über das Asthma, 2013, 171 S.
Band 13:
Hans-Christoph Goßmann; Joachim Liß-Walther (Hrsg.), Gestalten und Geschichten der Hebräischen Bibel im Spiegel der Literatur des 20. Jahrhunderts, 2015, 434 S.
Band 14:
Wilhelm Kaltenstadler, Ernährung im medizinischen Werk des Moses Maimonides, 2015, 132 S.
Band 15:
Yee Wan SO, „And Jesus Replied...” – But what issues did Jesus address in his replies?! The Reception of the Conflict Narratives in the Gospel of Matthew, 2015, 377 S.
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Band 16:
Salomon Almekias-Siegl; Sabine Münch, Gehen wohl zwei miteinander. Jüdisch – christliche Lernwege durch die Bibel, 2016, 288 S.
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