Gebildete Doppelgänger: Bürgerliche Juden und Protestanten im 19. Jahrhundert. Dissertationsschrift 3525351488, 9783525351482

Im Mittelpunkt dieses Buches steht das komplexe Beziehungsgeflecht zwischen Juden und Protestanten in der bürgerlichen B

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Gebildete Doppelgänger: Bürgerliche Juden und Protestanten im 19. Jahrhundert. Dissertationsschrift
 3525351488, 9783525351482

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Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 167

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Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft Herausgegeben von Helmut Berding, Jürgen Kocka, Paul Nolte, Hans-Peter Ullmann, Hans-Ulrich Wehler

Band 167 Uffa Jensen Gebildete Doppelgänger

Vandenhoeck & Ruprecht in Göttingen 2

Gebildete Doppelgänger Bürgerliche Juden und Protestanten im 19. Jahrhundert

von

Uffa Jensen

Vandenhoeck & Ruprecht in Göttingen 3

Umschlagabbildung: Karikatur: »Ungemüthlich«, Kladderadatsch. Humoristisch-satirisches Wochenblatt, 28. November 1880, 1. Beilage.

Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. ISBN 3-525-35148-8 Gedruckt mit Unterstützung der Axel Springer Stiftung und der Stiftung Irene Bollag-Herzheimer. © 2005, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen / www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Hinweis zu § 52a UrhG: Weder das Werk noch seine Teile dürfen ohne vorherige schriftliche Einwilligung des Verlages öffentlich zugänglich gemacht werden. Dies gilt auch bei einer entsprechenden Nutzung für Lehr- und Unterrichtszwecke. Printed in Germany. Umschlag: Groothuis, Lohfert, Consorten, Hamburg. Satz: Text & Form, Garbsen. Druck und Bindung: Hubert & Co., Göttingen Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier.

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Inhalt

Vorwort .........................................................................................................

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Einleitung .....................................................................................................

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1. Die Entstehung der bürgerlichen Bildungskultur und das neue Zusammenleben von Juden und Protestanten ..................................... 43 1.1 Das neuzeitliche Bildungsideal und der jüdische Integrationsund Akkulturationsprozess in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ............................................................................... 46 1.2 Die Entstehung der bürgerlichen Bildungskultur und die gebildeten Juden in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ......... 52 1.3 Das neue Verhältnis von Juden und Protestanten in der bürgerlichen Bildungskultur ........................................................... 57 1.4 Die Suche nach dem anderen Wesen: Die Konstruktionen des Jüdischen in der bürgerlichen Bildungskultur ............................. 68 1.4.1 Der jüdische Charakter und der bürgerliche Held: Die Konstruktionen des Jüdischen in der Literatur ........... 71 1.4.2 Der Ursprung des Anderen: Die Konstruktionen des Jüdischen in den Geistes- und Kulturwissenschaften ....... 81 1.5 Das gebildete Syndrom gegen gebildete Juden: Richard Wagners »Das Judenthum in der Musik« ......................... 97 1.6 Beseitigung der Ambivalenz? Die Position der Juden in der bürgerlichen Bildungskultur .................................................... 101 2. Die Gründung des Kaiserreiches und das öffentliche Verhältnis von gebildeten Juden und Protestanten ................................................ 2.1 Die Strukturveränderungen der Öffentlichkeit im neuen Kaiserreich ........................................................................................ 2.2 Die Krisenwahrnehmungen in der bürgerlichen Bildungskultur und die bürgerliche Medienkritik .................................................. 2.3 Die Juden in der bürgerlichen Teilöffentlichkeit .......................... 2.4 Das Jüdische in der bürgerlichen Teilöffentlichkeit ..................... 2.5 Die Wahrnehmungsspirale zwischen gebildeten Juden und Protestanten ......................................................................................

107 110 115 128 136 144 5

3. Die Kommunikation zwischen gebildeten Juden und Protestanten: Die Flugschriften als Medium der »Judenfrage« .................................. 3.1 Medien- und kommunikationshistorische Analyse der Flugschriften zur »Judenfrage« ....................................................... 3.2 Von den Wahrnehmungs- zu den Kommunikationsmustern: Die inhaltliche Typologie der Flugschriften .................................. 3.3 Die Selbstimmunisierung einer Debatte. Das kommunikative Gefälle in der »Judenfrage« .............................................................

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4. Treitschke gegen Juden: Der erste Streit über jüdische Identität in der bürgerlichen Bildungskultur ....................................................... 197 4.1 Angriffsvorbereitungen: Der Weg zu »Unsere Aussichten« ......... 204 4.2 Angriff I: Heinrich von Treitschkes »Unsere Aussichten« und die Verschiebung der Sagbarkeitsregeln ......................................... 210 4.3 Verteidigung: Ein Kaleidoskop jüdischer Abwehrstrategien ........ 220 4.3.1 Juden in der Bildungskultur I: Das Vorbild des Gebildeten bei Harry Breßlau ................................................................. 224 4.3.2 Juden in der Bildungskultur II: Die Dialektik der Integration bei Ludwig Bamberger ..................................... 226 4.3.3 Juden in der Bildungskultur III: Die religiöse Vereinheitlichung bei Hermann Cohen ............................................... 229 4.3.4 Juden in der Bildungskultur IV: Heinrich Graetz als der jüdische Andere .................................................................... 232 4.3.5 Juden in der Bildungskultur V: Nationale Multikultur bei Moritz Lazarus ................................................................ 237 4.4 Angriff II: Treitschkes Zurückweisungen ...................................... 242 4.5 Versagte Verteidigung: Das öffentliche Schweigen der liberalen Protestanten ...................................................................... 246 4.6 Stille Hilfstruppen: Private Reaktionen von liberalen Protestanten ...................................................................................... 255 4.7 Treitschke gegen Juden: Auswirkungen einer gescheiterten Interaktion ........................................................................................ 258 5. Protestanten gegen Protestanten: Der zweite Streit über Antisemitismus in der bürgerlichen Bildungskultur ............................ 5.1 Eskalation I: Die »Judenfrage« im Alltag der gebildeten Bürger Berlins .................................................................................. 5.2 Abschied vom öffentlichen Schweigen: Theodor Mommsen und die »Erklärung der 75 Notabeln« zur »Judenfrage« ............... 5.3 Der offene Konflikt: Die »Judenfrage« unter gebildeten Bürgern nach der »Erklärung« ........................................................ 6

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5.4 Eskalation II: Die »Judenfrage« in den Bildungsinstitutionen Berlins ............................................................................................... 5.5 Das Ende der Gemeinsamkeiten? Politischer und kultureller Integrationalismus bei Treitschke und Mommsen ....................... 5.6 Gegner der Antisemiten – Freunde der Juden? Öffentliche und private Reaktionen auf Mommsen und Treitschke ....................... 5.7 Treitschke gegen Mommsen: Auswirkungen des zweiten Streits in der bürgerlichen Bildungskultur ................................................

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6. Gebildete Doppelgänger unter sich. Die antisemitische Disposition und die jüdische Mission im gebildeten Bürgertum ............................ 325 Abkürzungen ................................................................................................ 336 Quellen- und Literaturverzeichnis ............................................................. 337 Register ......................................................................................................... 378

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Vorwort

»Wir können uns mit der Nähe (dem Gemeinsamen) nur abfinden, weil sie im Fremden verborgen ist und als Fremdes sich präsentiert. Wir können mit dem Fremden nur abfinden, weil es Nahes verbirgt, Gemeinsames ankündigt.«1

Um meinen eigenen Standpunkt gegenüber meinem Forschungsgegenstand nicht zu verschweigen, um also nicht selbst auf unangemessene Weise »im Allgemeinen zu sprechen«, kann ich meinen Leserinnen und Lesern einige Worte über meine Person nicht ersparen. Geboren am Ende der 1960er Jahre, aufgewachsen auf einem kleinen Dorf Norddeutschlands in einem nichtjüdischen Elternhaus, besitze ich zu vielen Themen dieser Studien einen gewissen Abstand. Das bedeutet freilich nicht, dass ich ihnen objektiver gegenüberstehe als andere Autoren. Von einem bestimmten Standpunkt gibt es keinen objektiveren Zugang zu einem Thema; ohne eine Reflexion auf seine spezifischen Beschränkungen droht gleichwohl die Verschleierung der eigenen, subjektiven Position. Man wird meiner Studie möglicherweise anmerken, dass ich fern jener Reste des gebildeten Bürgertums aufgewachsen bin, die es im gegenwärtigen Deutschland noch immer gibt. Ob das dieses Buch zu einem kritischeren als nötig gemacht hat, sollen meine Rezensentinnen und Rezensenten entscheiden. Es war nicht als Abgesang auf eine spezifisch deutsche Bildungskultur gemeint; dafür sind mir die Vorteile dieses historischen Erbes zu sehr bewusst, insbesondere seit ich in einem anderen Land mit einer anderen Bildungstradition unterrichte. Es ging mir lediglich darum, neben ihrer Attraktivität, die sich gerade an der Integrationsgeschichte der deutschen Juden so anschaulich aufzeigen lässt, auf ihre strukturellen Schwächen hinzuweisen. Zweifelsohne ist meine Forschung auf eine Weise, die mir nur unvollständig bewusst sein dürfte, durch die Tatsache beeinflusst, dass ich sie als deutscher Nichtjude betreibe. Als solcher bin ich mit den besonderen Chancen und Problemen der bundesrepublikanischen Erinnerungskultur wie auch mit noch weiterwirkenden, aber merkwürdig unsichtbaren protestantischen Kulturanteilen konfrontiert. In dieser Situation jüdische Geschichte zu schreiben, ist kein einfaches Unterfangen, zugleich aber keine Unmöglichkeit oder 1 Arendt, S. 65.

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gar eine Anmaßung. Es dürfte im internationalen Vergleich einer der Vorteile der in Deutschland vornehmlich von Nichtjuden geleisteten Forschung sein, stärker die Verbindungen zwischen jüdischer und nichtjüdischer Geschichte in den Blick zu nehmen. Dem fühle ich mich auch in dieser Arbeit verpflichtet. Zudem bin ich von der Annahme ausgegangen, dass die historische Analyse der Geschichte des deutschen Judentums eine gegenwartspolitische Relevanz besitzt: Jede Darstellung dieser Art kann und wird als eine Vorgeschichte zur nationalsozialistischen Vernichtungspolitik gelesen werden. Gleichwohl hoffe ich, dass deren politische Implikationen zum Nachdenken über gegenwärtige Fragen anregen, die sich aus dem Zusammenlebens mit Juden und anderen Gruppen in der neuen »Berliner Republik« ergeben. Wenn schließlich meine Leserinnen und Leser die Lektüre mit dem Eindruck beenden, dass das Verhältnis von Juden und Protestanten zu einem der kompliziertesten, aber zugleich interessantesten Kapitel der deutschen Geschichte des 19. Jahrhunderts gehört, können sie den vielleicht wichtigsten der Beweggründe nachvollziehen, die mich bei der Forschung vorangetrieben haben. Die vorliegende Studie wurde 2003 vom Institut für Geschichte und Kunstgeschichte (Fachgebiet Geschichte) an der Technischen Universität Berlin angenommen. Meinen beiden Betreuern, Professor Reinhard Rürup und Professor Werner Bergmann, gilt mein aufrichtiger Dank, weil sie mich über Jahre gefördert, betreut und da, wo es dringend nötig war, kritisiert haben. Genau das richtige Maß an Freiraum und Einflussnahme zu finden, muss schwierig sein; in meinem Fall haben meine Betreuer dieses Kunststück vollbracht. Ich schulde dem Vorsitzenden meiner wissenschaftlichen Aussprache, Professor Günter Abel, Dank – nicht nur für seinen Vorsitz, sondern insbesondere für einen wichtigen Hinweis. Ich konnte meine Thesen in frühen Stadien in unterschiedlichen Foren zur Diskussion stellen. Für die vielfältigen Anregungen und Unterstützung fühle ich mich den folgenden Personen verpflichtet: Professor Volker Berghahn, Professor Hartmut Berghoff, Professor Victoria De Grazia, Professor Rebekka Habermas, Professor Wolfgang Hardtwig, Professor Hans-Peter Ullmann, Professor Bernd Weisbrod sowie den Teilnehmern und Teilnehmerinnen ihrer jeweiligen Kolloquien. Eine besonders fruchtbare Diskussionsatmosphäre bot das 6. Transatlantische Doktorandenseminar des DHI Washingtons. Für Hinweise und Verbesserungsvorschläge bin ich allen dort Anwesenden dankbar, insbesondere jedoch Professor Nancy Reagin, Professor Rüdiger vom Bruch, Professor Roger Chickering und Dr. Andreas Daum. Nicht unerwähnt lassen möchte ich schließlich die Hilfe durch das 3. Jerusalemer Doktorandenseminar des Leo Baeck Instituts und der wissenschaftlichen Arbeitsgemeinschaft in Deutschland. Den folgenden Historikern und Historikerinnen bin ich für ihre Unterstützung, Ratschläge und Zweifel dankbar: Professor Steven Aschheim, Professor Dolores Augustine, Professor Christhard Hoffmann, Professor 10

Marion Kaplan, Dr. Till van Rahden, Dr. Nils Römer, Professor Fritz Stern, Professor Herbert Strauss, Professor Lisa Tiersten, Professor Shulamit Volkov, Dr. Siegfried Weichlein, Professor Jay Winter, Dr. Ulrich Wyrwa. Den Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen des Zentrums für Antisemitismusforschung unter Leitung von Professor Wolfgang Benz bekunde ich meinen Dank nicht nur für die wiederholte Vortragsmöglichkeit, sondern auch für die jahrelange Unterstützung. Professor Weisbrod fühle ich mich darüber hinaus für seinen intellektuellen Beistand und seine Förderung verbunden. Meinen neuen Kollegen an der University of Sussex danke ich nicht nur für Ihre Unterstützung, sondern auch für die Zeit, diese Studie gründlich zu überarbeiten. Ich habe von mehreren Organisationen Stipendien erhalten. Der Deutsche Akademische Austauschdienst förderte ein Aufbau- und Vertiefungsstudium an der Columbia University in New York, von dem diese Studie sehr profitiert hat. Die Berliner Universitäten unterstützten mich im Rahmen ihrer Nachwuchsförderung mit einem zweijährigen Stipendium. Abgeschlossen werden konnte die Dissertation durch die Hilfe der Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur. Die Drucklegung ermöglichten die Stiftung Irene Bollag-Herzheimer und die Axel Springer Stiftung. Allen diesen Einrichtungen bin ich sehr dankbar. Den Herausgebern der Kritischen Studien, vor allem Professor Helmut Berding, fühle ich mich für ihre detaillierten Verbesserungsvorschläge verpflichtet. Gleiches gilt für den Verlag Vandenhoeck und Ruprecht und dort insbesondere für Martin Rethmeier, Dörte Rohwedder und Astrid Gräf. Eine ganze Reihe von Personen haben mir bei der Quellenrecherche geholfen; eigens hervorgehoben seien die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Leo Baeck Instituts New York, der Handschriftenabteilung der Staatsbibliothek zu Berlin, des Landesarchivs Berlin, des Geheimen Staatsarchivs Preußischer Kulturbesitz, des Jerusalemer Zentralarchivs für die Geschichte des jüdischen Volkes und der Jüdischen Nationalund Universitätsbibliothek. Besondere Dankbarkeit empfinde ich gegenüber einer Institution in meinem Leben: der Berliner Staatsbibliothek am Potsdamer Platz. Ihrem freundlichen, kenntnisreichen, umsichtigen und emsigen Personal, vor allem dem Team der bibliographischen Auskunft unter Leitung von Johannes Ziegler, verdankt diese Studie unzählige Fußnoten. Vielen Freunden, Bekannten und flüchtig Bekannten unter den Besucherinnen und Besuchern dieser Bibliothek bin ich für die Simmelsche Geselligkeit dankbar – es soll so bleiben. Die Mitglieder des »Arbeitskreis Geschichte +Theorie« sind in einer solchen Danksagung besonders hervorzuheben, weil sie mit einigem Langmut die Entwicklung meiner Thesen begleitet und befördert haben. Die Möglichkeit, ungeschützt etwas auszuprobieren, ohne zu wissen, ob es klappt, haben sie mir stets eingeräumt – auch das wird hoffentlich so bleiben. Sollte es funktioniert haben und diese Arbeit zeichnet sich durch theoretische Fundie11

rung und nicht durch Theorielastigkeit aus, hat der AG+T daran maßgeblich Anteil. Schließlich möchte ich mich bei folgenden Freundinnen und Freunden ausdrücklich bedanken: Habbo Knoch und Thorsten Wagner für ihr unermüdliches und kritisches Gegenlesen, Alexa Geisthövel, Daniel Morat, Alexander C. T. Geppert, Moritz Föllmer, Nina Verheyen, Wolther von Kieseritzky, Rike Bolte, Matthias Lehmann, Manuel Borutta, Johannes Heil, Mona Körte, Daniel Steuer für ihre Unterstützung, Beratung und Freundschaft. Bei Valentina Leonhard kann ich mich nicht einfach nur bedanken; das würde ihrer Beteiligung an dieser Arbeit nicht gerecht werden. Ihr möchte ich, zusammen mit meinen Eltern, Anne und Heinz Theodor Jensen, dieses Buch widmen. Brighton, im Oktober 2004

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Uffa Jensen

Einleitung

»Die ganze Anschauung aber leidet an einer falschen Voraussetzung; an jener kleinen und engen Weltanschauung, welche zwar von der Menschheit und dem Allgemeinen gelegentlich redet, aber dennoch die ganze Geschichte derselben nur als ein Mittel zum Zweck des eigenen Ich oder der eigenen kleinen Genossenschaft ansieht.«1 »Eine Mischung von heterogenen und verwandten Geisteseigenschaften: das ist gerade der Stoff, aus welchem die intimen Feindschaften gebraut werden.«2

Um die Jahreswende 1879/80 traf der Berliner Juraprofessor Ludwig von Cuny zufällig einen jüdischen Kollegen, den Historiker Harry Breßlau, vor den »pergamonischen Alterthümern«.3 Für die gerade erst in der Türkei freigelegten Kunstschätze, durch deren Präsentation Berliner Bürger ihre Stadt endlich auf einer kulturpolitischen Stufe mit Paris und London wähnten, hatten die beiden offenbar wenig Sinn.4 Sie zogen es vor, das andere, weniger erfreuliche Stadtgespräch zu diskutieren, das vor allem die gebildeten Bürger Berlins in Atem hielt: die antisemitischen Angriffe, die der weit über die Stadtgrenzen hinaus bekannte Historiker Heinrich von Treitschke in den »Preußischen Jahrbüchern« lanciert hatte.5 Darüber hatte Breßlau erst vor kurzem in einem offenen Sendschreiben seinen »tiefen Schmerz« und seine »bittere Enttäuschung« zum Ausdruck gebracht.6 Cuny hatte alles dies sehr genau verfolgt, schließlich waren sie (und Treitschke) nicht nur Kollegen an der Berliner Universität, sondern auch Mitglieder eines zwanglosen »Donnerstagskränzchens«, in dem sie sich für die Nationalliberale Partei engagierten.7 Seit sein Pamphlet gegen Treitschke erschienen war, hatte Breßlau sich von diesen Tref1 Lazarus, Was ist national?, BAS, Bd. 1, S. 71. 2 Bamberger, Deutschthum und Judenthum, BAS, Bd. 1, S. 230. 3 Siehe den Brief Cunys an Treitschke vom 3.1.1880, in: Nl. Treitschke, Kasten 5, Mappe Cuny. 4 Vgl. zu den antiken Fundstücken »National-Zeitung« vom 28.11.1879. 5 Vgl. Treitschke, Unsere Aussichten. 6 Breßlau, Zur Judenfrage, BAS, Bd. 1, S. 214. 7 Vgl. Breßlau, (Selbstdarstellung), S. 21.

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fen ferngehalten. Zunächst scheinbar zwanglos verwickelte nun Cuny seinen Kollegen in ein gelehrtes Gespräch über die Juden in Frankreich und England, kam dann aber doch zu seinem eigentlichen Anliegen, nämlich jener Weigerung Breßlaus, die »persönlichen, geselligen Beziehungen in alter Weise fortzusetzen«.8 Breßlau entgegnete, er sei sich nicht sicher, wie seine Schrift auf die Mitglieder des Kreises gewirkt habe. Im Übrigen wolle er sich »angesichts der Angriffe gegen den jüdischen Charakter« nicht dem Vorwurfe aussetzen, sich »irgendwie persönlich der Gesellschaft aufgedrängt« zu haben.9 Daraufhin versicherte Cuny, mit allen Mitgliedern des Kreises über das Problem sprechen und auf Breßlaus weitere Teilnahme drängen zu wollen.10 Damit konnten sich die beiden Bürger doch noch den antiken Kostbarkeiten zuwenden. Für das Verhältnis von gebildeten Juden und gebildeten Protestanten sind solche nur scheinbar nebensächlichen Kommunikationssituationen in mehrfacher Hinsicht aufschlussreich. Das zufällige Zusammentreffen der beiden Kollegen fand an einem typischen Ort statt. Kein gebildeter Bürger Berlins konnte die Ausstellung der antiken Fresken unbeachtet lassen. Wie selbstverständlich galt das ebenso für die Juden unter ihnen und damit auch für Breßlau. Nimmt man diese einfache Beobachtung ernst, wird man über die Formen und Inhalte jener bürgerlichen Bildungskultur nachzudenken beginnen, die sich viele deutsche Juden im Laufe des 19. Jahrhunderts aneigneten. Zu Beginn des Kaiserreiches hatte das deutsche Judentum bereits einen langen, sozial und ökonomisch erfolgreichen Prozess der Verbürgerlichung durchlaufen. Ein wesentliches Instrument dieses Aufstieges bildete die Aneignung einer spezifischen Kultur, der bürgerlichen Bildungskultur. Integration basierte nicht nur auf einem sozialen, sondern in hohem Maße auf einem kulturellen Anpassungsprozess, der 1871 noch keineswegs abgeschlossen war. Die kulturellen Aspekte des Aufstiegs liefern in dieser Studie den Horizont, vor dem sich überhaupt erst über die Beziehungen von gebildeten Juden und Protestanten sprechen lässt, weil erst durch sie ein gebildeter Jude, der sich für griechische – und damit heidnische – Altertümer interessierte, keine ungewöhnliche Erscheinung mehr war.11

8 Siehe den erwähnten Brief Cunys an Treitschke. 9 Ebd. 10 Er tat das u. a., indem er Treitschke schrieb: »Persönlich bin ich der Ansicht, daß seine Schrift, die durchaus würdig und anständig gehalten ist und mit der ich für meine Person in einigen Punkten übereinstimme (in anderen allerdings nicht), bei keinem der betreffenden Herren Anstoß erregt [...].« Ebd. 11 Dass die Antikenliebe gebildeter Bürger auch die Juden erfasst hatte, dafür ließen sich viele Beispiele liefern; besonders interessant, da besonders komplex, war das im Fall des strenggläubigen Altphilologen Jacob Bernays. Vgl. Bach sowie zu den allgemeinen Aspekten des deutschen Philhellinismus Marchand.

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Selbst unscheinbare Kommunikationssituationen vor antiken Schätzen ereignen sich vor einem ganzen Set kultureller Vorannahmen; hinter der prinzipiellen Flüchtigkeit solcher Situationen stehen Muster und Regeln, die von längerer Dauer sind.12 Seine Weigerung, nach dem Erscheinen seines Pamphlets weiter zu den Treffen des »Donnerstagskränzchens« zu gehen, begründete Breßlau mit jenen Wahrnehmungs- und Kommunikationsmustern, die über gebildete Juden ausgeformt worden waren. Ihr Aufstieg in dieses soziokulturelle Umfeld wurde als ein »Aufdrängen«, ein Anbiedern von Personen, die nicht wirklich dazugehörten, aufgefasst. Breßlau hatte nicht erst mit dem Angriff Treitschkes gelernt, vor solchen Zuschreibungen auf der Hut zu sein; Treitschke hatte diese ja auch keineswegs erfunden. Vielmehr lassen sich die Vorbehalte unter gebildeten Protestanten, die der Berliner Historiker so prägnant auf den Punkt brachte, in einer längeren Traditionslinie sehen. Dass sich die Lebensbedingungen der deutschen Juden durch die Verbürgerlichung erheblich wandelten, registrierten Protestanten etwa seit den 1840er Jahren verstärkt. Je ähnlicher die Juden in ihrem Lebenswandel und ihrer Vorstellungswelt den protestantischen Bürgern, speziell den Gebildeten unter ihnen, wurden, desto einflussreicher wurden unter den Protestanten Vorstellungen eines jüdischen Andersseins. Seit dieser Zeit wandelten sich in einer schrittweisen Entwicklung über einige Jahrzehnte die Muster, mit denen die sich integrierenden und akkulturierenden Juden wahrgenommen wurden. Als Cuny Breßlau traf, glichen die beiden unterschiedliche Ansichten über jüdische Geschichte, diesmal vor allem in Frankreich und England, miteinander ab. Das war beileibe kein unschuldiges Thema, hatte doch Treitschke seine negative Sicht auf die deutschen Juden damit begründet, dass man es im Gegensatz zu den Franzosen oder Engländern in Deutschland mit dem besonders problematischen »polnischen Judenstamme« zu tun habe.13 Im Kaiserreich war der Wahrnehmungshaushalt – nach Jahrzehnten der Auseinandersetzung über das »Wesen« der Juden, besonders in der Literatur oder den verschiedensten Geistes- und Kulturwissenschaften – mit Abgrenzungspotential gefüllt. Nun begannen Protestanten ihre Irritationen über die ihnen zunehmend gleichenden Juden untereinander, aber auch mit Juden zu kommunizieren. Das, was bereits von den jüdischen und protestantischen Zeitgenossen als »Judenfrage« bezeichnet wurde, war in großen Teilen ein kommunikatives Aushandeln, wie jüdische Identität unter den veränderten Bedingungen innerhalb der bürgerlichen Kultur, vor allem der Bildungskultur, verstanden werden sollte. Der Klärungsbedarf unter gebildeten Bürgern war beachtlich, die Zahl der 12 Diese Flüchtigkeit ist ein zentrales Problem jeder historischen Betrachtung von interpersonalen Kommunikations- und Interaktionsvorgängen. Breßlaus Begegnung mit Cuny ist nur in einem Brief des letzteren an Treitschke überliefert; die eigentliche Gesprächssituation also nur anhand ihrer weiteren Vermittlung und damit Brechung nachvollziehbar. 13 Vgl. Treitschke, Unsere Aussichten, S. 572f.

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unterschiedlichsten Ansätze ebenso und nur selten konnte man sich – wie es den beiden Berliner Gelehrten vor den antiken Schätzen gelang – auf eine gemeinsame Linie einigen. Häufiger arteten solche Meinungsverschiedenheiten aus. Wenn die kommunikative Abgleichung der verschiedenen Wahrnehmungen nicht mehr funktionierte, konnte es zum handfesten Streit kommen. Zwar ließen sich Cuny und Breßlau nicht dazu hinreißen, aber andere Auseinandersetzungen über Treitschkes Thesen lassen sich nur so beschreiben. Breßlaus Sendschreiben war schon ein Schachzug in der eskalierenden Kontroverse gewesen. Ein solcher Streit ist jedoch viel mehr als verdichtete Kommunikation, er stellt ein Konglomerat aus Interaktionen dar: In ihm zerbrechen Freundschaften, die unterschiedlichen Meinungen werden zu politischen Lagern, vielleicht gar zu organisierten Gruppen, mediale Strategien zur öffentlichen Positionierung bilden sich heraus u. ä. Im Falle Breßlaus kann man sehen, wie weit die Auseinandersetzung sich von einem reinen Meinungsaustausch entfernt hatte. Er ließ seine Mitgliedschaft in dem politischen Kreis ruhen und scheint sie auch nicht wieder aufgenommen zu haben. Wie Breßlau Jahre später schrieb, sei zwischen ihm und Treitschke »zwar kein förmlicher Bruch, aber doch eine merkliche Entfremdung« eingetreten.14 Breßlaus Gegenschrift verweist noch auf einen weiteren wesentlichen Aspekt: Gebildete Juden waren an allen diesen Entwicklungen aktiv beteiligt, und zwar längst nicht immer nur aus apologetischen Gründen, sondern häufig aus ihrem eigenen Interesse an einer modernen jüdischen Identität. In der Genese der Wahrnehmungsmuster seit den 1840er Jahren spielten gebildete Juden eine bemerkenswerte Rolle, indem sie sowohl in der literarischen als auch in der geistes- und kulturwissenschaftlichen Debatte kritische Aspekte vorbrachten und indem sie ihre eigenen Muster produzierten. An dem kommunikativen Aushandeln, in das man verstärkt nach der Reichseinigung 1871 eintrat, um der Irritationen dem »Jüdischen« gegenüber Herr zu werden, beteiligten sich Juden ebenfalls. Die Debatten über die »Judenfrage« können nicht ohne die jüdischen Stellungnahmen verstanden werden. Als es über diese Fragen schließlich zum Streit mit Treitschke kam, mischten sich gebildete Juden wie selbstverständlich ein, obwohl es aus einer historischen Perspektive das erste Mal war, dass Juden an einer öffentlichen Auseinandersetzung dieser Art in einem solchen Ausmaß teilnahmen. Angetrieben wurden alle diese Bemühungen stets von einem zweifachen Impetus: den Verleumdern jüdischer Identität das Handwerk zu legen und zugleich eigene Antworten auf die Frage nach einer modernen jüdischen Existenz zu liefern. Wie im Folgenden argumentiert werden wird, war die jüdische Akkulturation in der bürgerlichen Bildungskultur auch deshalb so erfolgreich, weil Juden ihre eigene Interpretation dieser Kultur entwickeln konnten – eine Interpretation, die zugleich an 14 Breßlau, (Selbstdarstellung), S. 21.

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Elemente aus ihren eigenen jüdischen Traditionen anknüpfte. In ihrem Versuch, jüdische Identität fortzuschreiben, adaptierten die Juden im 19. Jahrhundert das Allgemeinheitspostulat der Bildungskultur, indem sie ihre eigenen Traditionen als gebildet und allgemein neu erfanden: Sie schufen das Muster des Menschheitsjuden, mit dem sie vor allem die Sittlichkeit der jüdischen Religion betonten. In dem Gespräch Breßlaus mit Cuny kam somit eine ganze Reihe von Aspekten zum Vorschein, die das Verhältnis von gebildeten Juden und Protestanten betrafen. Um solchen Situationen analytisch gerecht zu werden, muss vorausgesetzt werden, dass Wahrnehmung, Kommunikation und Interaktion zwischen Personen durch spezifische Muster vorstrukturiert werden, die in einem gegebenen sozialen und kulturellen Umfeld zu einem bestimmten Zeitpunkt existieren.15 Als sich Breßlau und Cuny trafen, war diese zufällige Begegnung präfiguriert; ohne dass der Ablauf des Gespräches von vornherein determiniert war, aktualisierten sich in seinem Verlauf diejenigen Muster, mit denen gebildete Juden und Protestanten einander wahrnahmen, miteinander kommunizierten und interagierten. In dieser Studie geht es daher um die Bedingungen der Möglichkeit solcher Begegnungen in einem ganz bestimmten sozialen und kulturellen Kontext. Welche Strukturen waren in der bürgerlichen Bildungskultur vorhanden, die gebildeten Bürgern solche Begegnungen über konfessionelle und ethnische Grenzen hinweg ermöglichten – und welche Grenzen etablierte diese Kultur für derartige Zusammentreffen? Hier wird somit ein weiteres Mal nach jenem Prozess gefragt, in dem die deutschen Juden Teil des deutschen Bürgertums und vor allem der bürgerlichen Kultur wurden. In ihr sollen aber besonders die Bedingungen des konkreten Verhältnisses, das sich zwischen gebildeten Juden und gebildeten Protestanten durch die Verbürgerlichung ergab, in den Blick genommen werden. Welche Muster der Wahrnehmung, der Kommunikation und der Interaktion waren in der bürgerlichen Bildungskultur für dieses Verhältnis vorhanden? Oder anders gefragt: Was war immer schon da, wenn gebildete Juden und Protestanten wie Breßlau und Cuny einander begegneten? Im Folgenden soll nahezu das gesamte 19. Jahrhundert thematisiert werden, obwohl ein Schwerpunkt auf die Zeit von etwa 1840 bis 1880 gelegt wird. Wenngleich sich einzelne Charakteristika des Verhältnisses von gebildeten Juden und Protestanten bereits seit dem Ende des 18. Jahrhunderts herausgebil15 Es sollen dafür diskursanalytische Ansätze erweitert werden. Eine Diskursanalyse im engeren Sinne könnte die Kommunikationsmuster in den Blick nehmen, deren Bezug zu Wahrnehmungen und Interaktionen bliebe jedoch unterbelichtet. Insofern über diese Untersuchungsmethode hinauszugehen, bedeutet aber nicht, ihre grundlegende Voraussetzung – nämlich, dass Kommunikation durch Muster, dass das Gesagte durch den Diskurs vorstrukturiert wird – zu bezweifeln. Es geht vielmehr darum, diese Erkenntnis auch auf Wahrnehmungs- und Interaktionsprozesse zu übertragen.

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det hatten, formierten sich in dieser Phase die Grundlagen, deren prägende Kraft für dieses Verhältnis im Weiteren erläutert werden soll. Erst seit den 1840er Jahren war die Integration und Akkulturation der deutschen Juden in das Bürgertum – auch zahlenmäßig – weit genug fortgeschritten, um der Frage des gemeinsamen Zusammenlebens mit Nichtjuden im Allgemeinen und mit Protestanten im Besonderen dringlicher werden zu lassen.16 Zusammenkünfte wie die zwischen Breßlau und Cuny wurden erst in dieser Zeitspanne von einer erwähnenswerten Seltenheit zu einer alltäglichen Normalität unter gebildeten Bürgern. Seit der Jahrhundertmitte war aber nicht nur der Verbürgerlichungsprozess der deutschen Juden weit genug fortgeschritten. Diese Veränderungen wurden auch von der protestantischen Seite verstärkt registriert: Juden waren nun nicht mehr Repräsentanten einer traditionellen Gemeinschaft, sondern sie wurden zunehmend als Protagonisten der sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Veränderungen wahrgenommen. Die nachstehende Betrachtung endet im Wesentlichen mit dem Jahre 1880. Die Entstehung und Ausgestaltung des neuen Reiches, die sogenannte »innere Reichsgründung«, transformierte das Verhältnis zwischen gebildeten Juden und Protestanten auf eine charakteristische Weise. An deren Ende hatte sich erwiesen, dass die bürgerliche Bildungskultur Ressourcen sowohl für neue jüdische Identitätskonstruktionen als auch für neue antisemitische Abgrenzungen bereithielt. Die Beziehungen von gebildeten Juden und Protestanten hatten einen unverkennbaren Charakter angenommen. Diese Studie versteht sich als eine Beziehungsgeschichte von Juden und Protestanten in Deutschland. Sie will damit jüdische als allgemeine Geschichte und allgemeine als jüdische Geschichte schreiben. Die entsprechenden Konzepte – »allgemeine Geschichte« und »jüdische Geschichte«, »Juden« und »Nichtjuden«, Geschichte von »Minderheit« und von »Mehrheit«, »jüdische Kultur« und »nichtjüdische Kultur« – erscheinen aus dieser Perspektive zumindest erklärungsbedürftig, wenn nicht gar fragwürdig. Als Eugen Täubler in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts jüdische Geschichte neu begründen wollte, forderte er, die Geschichte der Juden in Deutschland ebenso als Teil der »allgemeinen deutschen Geschichte« wie als Teil der »allgemeinen 16 »Integration« und »Akkulturation« gehören genauso wie »Emanzipation« in der Historiographie zum modernen deutschen Judentum zum Standardrepertoire. In neueren Arbeiten werden diese Begriffe allerdings zunehmend hinterfragt und differenziert. Weder »Integration« noch »Akkulturation« sind einfache Prozessbeschreibungen, vielmehr geht es hierbei um vielschichtige Phänomene, die oft auf unterschiedlichen Ebenen angesiedelt sind. »Integration« muss für die verschiedenen Lebenskreise eines Individuums – Arbeit, Familie, Öffentlichkeit etc. – getrennt untersucht werden, da nicht auf jeder Ebene der gleiche Zustand an »Integriertheit« gegeben sein muss. »Akkulturation« wiederum sollte gerade im Falle der bürgerlichen Juden nicht als bloße Übernahme der sie umgebenen Kultur, die noch dazu nicht als Einheit hingestellt werden kann, aufgefasst werden. Hier ergeben sich wechselseitige Einflussbeziehungen, wodurch die Juden als Teil eines sich durch sie wandelnden Ganzen erscheinen. Vgl. van Rahden, Juden und andere Breslauer, S. 13 ff.

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Geschichte der Juden« zu verstehen.17 Damit wollte er beides thematisiert wissen: den Einfluss der allgemeinen Kultur auf die Juden und umgekehrt. Darüber hinaus sah der jüdische Historiker diese Art von Beziehungsgeschichte auch keineswegs auf die Geschichte der deutschen Juden beschränkt: Er verstand es als das grundlegende Kennzeichen der Juden seit dem Beginn der Diaspora, sich mit ihrer Umgebung auseinander setzen zu müssen, »um sich am Leben zu erhalten, sich zu wandeln oder unterzugehen«.18 Eine Forderung fehlte jedoch in diesem ambitionierten Programm: die bisher vorausgesetzten Kategorien der allgemeinen wie der jüdischen Geschichtsschreibung zu hinterfragen. Gewiss wäre es wenig sinnvoll, nicht mehr von »Juden« oder »Protestanten« sprechen zu können. Zugleich ist es an der Zeit, jene wechselseitigen Aushandlungsprozesse zu thematisieren, in denen sich jüdische, protestantische oder bürgerliche Selbstverständnisse herausbildeten. Niemand war einfach Jude, Protestant oder gebildeter Bürger (bzw. das entsprechende weibliche Äquivalent); niemand blieb es einfach, wenn er (oder sie) es einmal »geworden« war. Fundamental für die hier vorgeschlagene Beziehungsgeschichte ist der Gedanke, dass sich ihre Objekte in der ihnen gemeinsamen Geschichte stets mitkonstituierten. Insofern konnte niemand am Ende der in diesem Buch zu beschreibenden Entwicklungen im gleichen Sinne Jude, Protestant oder gebildeter Bürger sein wie an deren Anfang. Die viel diskutierte Frage, wer ein Jude oder eine Jüdin ist, kann hier nicht aufgeworfen werden; sie ist konzeptionell auch erst dann schwierig, wenn das Gebiet religiöser Definitionen verlassen wird. Ähnliches gilt für Protestanten. Die einfache Antwort, der in dieser Arbeit auch an vielen Stellen gefolgt wird, liegt in der Selbstidentifikation der Personen.19 Zugleich war gerade für die bürgerliche Bildungskultur kennzeichnend, wie zu zeigen sein wird, dass man in ihr Jude oder Protestant sein konnte, ohne dass damit noch ein offen religiöses Bekenntnis verbunden sein musste. In gewisser Hinsicht entstanden die Gemeinsamkeiten, aber auch die Unterschiede zwischen gebildeten Juden und Protestanten aus der Tatsache, dass ihrer jeweiligen Teilhabe an der bürgerlichen Bildungskultur eine je spezifische religiöse Verbrämung zugrunde lag. Weil Juden wie Protestanten aus ihrer religiösen Tradition heraus das neuzeitliche Bildungsideal verinnerlichen konnten, erhielt die darauf aufbauende Kultur eine religiöse Aufladung. Im Verlauf des 19. Jahrhunderts wurde dieser Aspekt immer offensichtlicher und konnte zur Abgrenzung eines kulturell Anderen, der eigentlich ein religiös Anderer war, benutzt werden. Zudem war 17 Täubler, S. 3. 18 Ebd., S. 24. 19 Wenn Personen darüber hinaus als Juden wahrgenommen wurden, möglicherweise ohne sich selber so zu klassifizieren, wird das entsprechend vermerkt. Konvertiten werden in der Regel nicht als Juden bezeichnet, auch wenn das die Zeitgenossen oft taten. Der Kunstbegriff »Nichtjude« findet hier nur Verwendung, wenn die Bezugsgruppe unklar ist.

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dieses komplexe Verhältnis von Religion und Kultur der Hauptgrund, warum Katholiken im 19. Jahrhundert in der Regel nicht als gebildet (im Sinne der bürgerlichen Bildungskultur) galten und für viele von ihnen »Bildung« eine protestantische Idee verkörperte.20 Aus diesem Grund handelt diese Studie von gebildeten Juden und gebildeten Protestanten. Was aber war die bürgerliche Bildungskultur? Wer konnte als ein gebildeter Bürger, als eine gebildete Bürgerin gelten? 1879 beschrieb der Schriftsteller Karl Hillebrand eine »geistig arbeitende Classe« mit folgenden Worten: »Ihm gehören ohne Unterschied von Adels- und Amtstitel alle Die an, welche ohne Arbeit nicht standesgemäß leben können, deren Arbeit aber in der geistigen Führung der Gesammtthätigkeit der Nation besteht: dahin gehören die ihre Güter selbstverwaltenden Grundbesitzer, die Großhändler, Fabrikherren, Ingenieure, Officiere, studirte Beamten, Advocaten, Aerzte, u.s.w., dazu die mit der Erziehung dieses Standes beauftragten Professionen selber, als Professoren, Gymnasiallehrer und Künstler.«21

Für die Zeitgenossen wäre, das lässt sich aus Hillebrands Auflistung ersehen, die in der Forschung bis heute übliche Unterscheidung von »Bildungs-« und »Wirtschaftsbürger« wenig einleuchtend gewesen.22 Auch für einen »Wirtschaftsbürger« war es von elementarer, im 19. Jahrhundert eher steigender Bedeutung, als gebildet zu gelten. Angemessener erscheint es daher, von gebildeten Bürgern zu sprechen. Nur so kann man die nur scheinbar exakten sozialen Klassifizierungen unterlaufen bzw. an die realen Identifizierungsmodi der Zeitgenossen rückbinden, die zwar nicht gewusst hätten, was einen »Bildungs-« von einem »Wirtschaftsbürger« unterscheiden sollte, wohl aber zu einer Einordnung fähig waren, wenn man ihnen einen Bürger als »gebildet« vorstellte.23 Als gebildet zu gelten, bedeutete nach Hillebrand die »geistige Führung der Gesammtthätigkeit der Nation« innezuhaben. Gebildete Bürger sahen sich stets als die intellektuelle Speerspitze der Nation. Allerdings musste in jedem individuellen Fall die entsprechende Befähigung dazu nachgewiesen werden: Geistige Führung setzte Geist voraus und damit ein in bestimmter Weise legitimiertes und staatlich anerkanntes Bildungswissen. Der Status eines Gebildeten verlangte ein lebenslanges Streben nach dem Bildungsideal. In der stän20 Vgl. zum Verhältnis der Katholiken zur Bildungskultur Mergel. 21 Hillebrand, S. 437. 22 Inzwischen als klassisch zu bezeichnen ist der Versuch, ein »Bildungsbürgertum« mit Weber als »ständische Vergesellschaftung« zu verstehen. Vgl. Lepsius. Seit das Konzept entwickelt wurde, existiert gleichwohl grundsätzliche Kritik an ihm. Die soziale Formation »Bildungsbürgertum« konnte selbst in einer jahrzehntelangen Diskussion nicht befriedigend umrissen werden. Erste Zweifel, ob das »Bildungsbürgertum« nicht doch in das Reich (bayerischer) Fabelwesen verwiesen werden muss, äußerte bereits: Kocka, Bildungsbürgertum. Für einen Überblick über den Problembereich vgl. Lundgreen, Bildung und Bürgertum. 23 Das Wort »Bildungsbürger« gehörte nicht zum Sprachgebrauch des 19. Jahrhunderts und kommt erst im 20. Jahrhundert und noch dazu mit negativer Konnotation auf. Vgl. Engelhardt.

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disch strukturierten Gesellschaft des 18. Jahrhunderts hatte dieses Ideal ein neues Angebot eröffnet; das Prinzip individueller Leistung begann nunmehr in Konkurrenz zum Herkunftsprinzip zu stehen. Gerade in dieser Phase hatten noch verschiedene gesellschaftliche Gruppen – oft als Autodidakten – nach diesem Prädikat gestrebt. Das Bildungsideal hatte längst nicht nur im städtischen Bürgertum, sondern auch im Adel oder im alten Mittelstand erhebliches Mobilisierungspotential besessen. In der Praxis bedeutete die Ausrichtung auf das Bildungsideal für den Einzelnen, sich Bildungswissen anzueignen und dabei zugleich den eigenen Charakter in einer spezifischen Weise zu formen. Dadurch wirkte das Bildungsideal vergemeinschaftend, d.h. seit dem Ende des 18. Jahrhundert entstand allmählich unter den gemeinsam nach dem Status eines Gebildeten strebenden Individuen ein kultureller Zusammenhang: die Bildungskultur. Besondere Bedeutung besaß hierbei der Staat, der viele dieser Prozesse aufgrund seines steigenden Bedarfes an Fachkräften für die expandierende Bürokratie förderte. So erwies sich die schrittweise Institutionalisierung des Bildungsideals im Schul- und Universitätswesen zu Beginn des 19. Jahrhunderts für die Ausbildung einer Bildungskultur von zentraler Wichtigkeit. Zugleich vermittelten diese Institutionen nicht nur Wissen; die lange Verweildauer in ihnen ermöglichte die Sozialisation in eine eigene Kultur, die im Laufe des 19. Jahrhunderts darüber hinaus zunehmend bürgerlichen Charakter erhielt. Es darf in diesem Zusammenhang nicht vergessen werden: Weder war der Bildungsbegriff noch das entsprechende Ideal ein Produkt des Bürgertums; deren Geschichte kann nicht ausschließlich als Teil der Bürgertumsgeschichte begriffen werden. Es gab durchaus gebildete Nichtbürger (insbesondere im Adel); zugleich entwickelte das Bildungsideal erhebliche Ausstrahlungskraft, bis weit in die Arbeiterbewegung hinein. Dass Bildungsideal und Bürgerlichkeit jedoch gelegentlich fast synonym erschienen, war Resultat einer historischen Entwicklung im 19. Jahrhundert, die hier als Herausbildung der bürgerlichen Bildungskultur beschrieben werden soll. Das entstehende neuzeitliche Bürgertum war am ehesten in der Lage, die Chancen zu nutzen, welche die Institutionalisierung des Bildungsideals bot. Die Erfolgsgeschichte des Bürgertums verschränkte sich mit derjenigen der Bildungskultur. Das läuft auf folgende Behauptung hinaus: Die Bildungskultur des 19. Jahrhunderts strukturierte die Kommunikation der Bürger des 19. Jahrhunderts, kanalisierte ihre Wahrnehmungen und bot ihnen einen Handlungsraum. Sie war somit ein entscheidender Bestandteil der bürgerlichen Lebenswelt und nahm einen prominenten Platz innerhalb des »bürgerlichen Wertehimmels« ein, in dem sie zugleich ein wesentliches Moment der Dynamisierung darstellte.24 Die Teil24 Zum »bürgerlichen Wertehimmel« vgl. Hettling und Hoffmann, Der bürgerliche Wertehimmel. Zum Problem individueller Lebensführung im 19. Jahrhundert. »Bildung« wird bei solchen

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habe an der bürgerlichen Bildungskultur war ein knappes Gut. Das Mobilisierungspotential des Bildungsideals konzentrierte die sozialen und kulturellen Sehnsüchte der Bürger auf einen gemeinsamen Punkt: gebildet zu werden. Das bedeutete für den Einzelnen, die lebenslange Aufgabe der Selbstvervollkommnung zu akzeptieren und gleichzeitig jederzeit das eigene Gebildetsein unter Beweis stellen zu können. Indem Bürger (und Nichtbürger) somit lernten, woran ein gebildeter Bürger zu erkennen war, wie mit ihm zu kommunizieren und umzugehen war, wurde diese Vorstellung zu einem Akteur in der bürgerlichen Lebenswelt. In der bürgerlichen Bildungskultur blieb das Bildungsideal stets präsent. Das hatte zweierlei Konsequenzen: Zum einen besaß das Ideal erhebliches kritisches Potential. In seinem Bedeutungsüberschuss lag ein Reservoir, aus dem sich die Kritiker der Bildungskultur, aber auch der Bürgerlichkeit insgesamt bedienen konnten.25 Nicht nur hierin manifestierte sich die erhebliche religiöse Aufladung des Bildungsideals; ihr Eifer als Gläubige band die Bildungskritiker an das, was sie verdammten. Zum anderen half das mit Bezügen des Universellen ausgestattete Bildungsideal, die real existierenden Strukturen in der bürgerlichen Bildungskultur zu verdecken. Darauf deutete schon die Sprache hin: Ihre soziale und kulturelle Position pflegten gebildete Bürger mit allgemeinen, unspezifischen Kollektivmetaphern wie »Menschheit«, »Allgemeinheit« und »Humanität« zu belegen. Qua »Bildung« wurde das Individuum, so die sprachliche Umschreibung, Teil eines schimärischen Großkollektivs. Der reale Kontext blieb ausgeblendet. Gleichzeitig galt: »Mit »Allgemeinheit« und »Totalsinn« lässt sich die moderne Gesellschaft nicht reAnsätzen oft sehr allgemein als Prozess bürgerlicher Charakterformation gekennzeichnet, die Entwicklungsidee als solche ohne inhaltliche Ausrichtung auf »Bildungsmittel« in den Mittelpunkt der bürgerlichen Lebensführung gestellt und das Bildungsideal somit in eine Art Strukturprinzip für alle bürgerlichen Ich-Verhältnisse transformiert. Damit wird jedoch die oft spezifischere Ausrichtung des Bildungsideals im 19. Jahrhundert ignoriert: Bildung im Verständnis vieler Bürger war nicht alleine Charakterformation im luftleeren Raum, sondern geschah mittels eines kanonisierten »Bildungswissens«. Zugleich konnten nur so gebildete Bürger ihre Bildung zur Abgrenzung und Distinktion benutzen. Nicht mit ihrem bloßen Charakter unterschieden sie sich, sondern mittels eines ostentativ genutzten Bildungskanons präsentierten sie ihren Charakter. 25 Nur sollte eine nachträgliche Analyse der Bildungskultur diese Trennung nicht aufrechterhalten, sondern sie untersuchen. Der Verweis auf einen universellen Bildungsbegriff ist historisch zu wenden, da er historisch als Ideal genutzt wurde, um (vermeintliche) Abweichungen zu kritisieren. Wie man Liberalität nicht vom real existierenden Liberalismus, Nationalität nicht vom Nationalismus, bürgerliche (Zivil-)Gesellschaft nicht vom Bürgertum loslösen kann, so ist es gleichfalls nicht sinnvoll, den Bildungsbegriff gegenüber der real existierenden Bildungskultur zu universalisieren. Hier droht stets unhistorische Apologie, die verkennt, dass gerade diese Universalismen im historischen Kontext die Differenz zwischen Anspruch und Wirklichkeit rechtfertigen. Sie lieferten die Begründungen, mit denen Partikularität ins Allgemeine gesetzt wurde. Für ein besonders krasses Beispiel, eine solche Universalie – in diesem Fall die »bürgerliche Gesellschaft« – gegenüber dem realen Bürgertum zu retten, vgl. Wehler.

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präsentieren; die »allgemeine Bildung« wird nicht allgemein, sondern elitär […].«26 Spätestens mit der Institutionalisierung des Bildungsideals bekam der Begriff der »Allgemeinbildung« einen konkreten Gehalt, waren doch die Formen der institutionalisierten Bildung (insbesondere die Betonung der antiken Sprachen) weit davon entfernt, gesellschaftliches Allgemeingut zu sein oder je werden zu können. Es ist leicht vorstellbar, wie diese universalistische Rede von der allgemeinen Bildung stets auch das gesellschaftliche Allgemeinwohl implizierte. Insofern wirkte der Gebildete synthetisch und konnte sich einbilden, das gesellschaftliche Gesamtinteresse angemessen zu vertreten. Bei der Analyse darf daher nicht übersehen werden, dass sich hinter der universalistischen Struktur, welche die Sprache der Bildungskultur dem universellen Bildungsideal schuldete, Kollektivstrukturen des Sozialen, des Geschlechtlichen, des Religiösen, des Politischen sowie des Nationalen verbargen, die als solche häufig nicht repräsentiert wurden. Die soziale Prägung der Bildungskultur geschah, wie bereits erwähnt, zunehmend durch das Bürgertum. Das Bildungsideal des 18. Jahrhunderts war noch ohne engeren Bezug auf das (städtische, altständische) Bürgertum denkbar gewesen. Erst seit der Wende zum 19. Jahrhundert kam es mit Hilfe staatlicher Interventionen allmählich zur Verschränkung von Bildungsideal und Bürgertum. Für den Entstehungsprozess des neuzeitlichen Bürgertums war diese Orientierung auf das Bildungsideal ganz entscheidend, eröffnete es doch Positionen jenseits der ständischen Gesellschaft. Die soziale Ausrichtung des Bildungsideals auf das Bürgertum war selbst bei dem dafür entscheidenden Schritt – den staatlich initiierten Bildungsreformen des frühen 19. Jahrhunderts – eher eine von den Reformern unintendierte Folge der Neuerungen. Die Ziele der staatlichen Bildungsreformen (etwa der Humboldtschen) standen noch vollständig im rhetorischen Bannkreis des universellen Menschheitsideals, indem sie im emphatischen Sinne von Bildung zum Allgemeinen ausgingen und eine soziale Spezifizierung gerade ablehnten. Gleichwohl klaffte zwischen diesem Postulat und den größtenteils elitären Bildungsvorstellungen im Einzelnen zweifelsohne eine erhebliche Lücke, was besonders bei der Betonung der klassischen Sprachausbildung offenkundig wurde. In der Folgezeit wurde die Bildungskultur immer bürgerlicher und das Bürgertum immer gebildeter. Daran hatte nicht zuletzt das staatlich sanktionierte »Berechtigungswesen«, womit für eine bestimmte Berufskarriere jeweils bestimmte Bildungspatente vorausgesetzt wurden, entscheidenden Anteil. Folglich lieferte die Modernisierung des Staatswesens den Bürgern Gründe für das Streben nach besserer Bildung und zugleich staatliche Betätigungsfelder. Daher geriet die Bildungskultur immer mehr in den sozialen Bannkreis eines zunehmend staatsnahen Bürgertums, ohne dass sie ihre Orientierung auf das allge26 Lepsius, S. 185.

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meine Menschheitsideal einbüßte. Im Gegenteil, es lässt sich durchaus feststellen, dass die rhetorische Bedeutung des universellen Bildungsideals umso wichtiger wurde, je deutlicher die staatliche Einwirkung und je offensichtlicher die Vorherrschaft der Bürger unter den Gebildeten wurde. Bildungskultur war und blieb etwas Allgemeines, unabhängig davon, wie bürgerlich sie schon geworden war. Die geschlechtliche Ausrichtung der Bildungskultur war ebenfalls markant. In den Institutionalisierungsprozessen, mit denen das Bildungsideal zum Teil der bürgerlichen Sozialisation wurde, spielte die »Bildung« von Frauen kaum eine Rolle. Höhere Schulbildung für sie war genauso wenig Bestandteil der Humboldtschen Agenda wie eine universitäre Ausbildung. In der familiären und schulischen Sozialisationspraxis des Bürgertums reproduzierte sich in der Folgezeit ein ähnliches Bild: Der Ausbildungsweg hing maßgeblich von dem Geschlecht des Kindes ab; Mädchenbildung wurde erheblich weniger Aufmerksamkeit geschenkt.27 Das heißt nicht, dass Frauen in der bürgerlichen Bildungskultur keine Rolle spielten, gerade in den wichtigen Formen der Geselligkeit nahmen sie eine herausragende Funktion ein, was sich auch in denjenigen Wissensbeständen (vor allem in literarischen Kenntnissen) widerspiegelte, die Mädchen vermittelt wurden. Bürgerinnen im vollen Umfang als gebildet anzuerkennen, war jedoch aufgrund der in die Sozialisationsprozesse eingeflossenen Geschlechterdifferenz faktisch unmöglich. Weite Teile der Auseinandersetzungen über das Verhältnis von gebildeten Juden und Protestanten wurden als politisch verstanden. Dabei wirkten sich die zeitgenössischen Geschlechterzuschreibungen insofern aus, als dass diese Themen männlich konnotiert waren. Deswegen handelt diese Studie im Wesentlichen von einer männlich dominierten Sphäre, in der Frauen zwar zugegen waren, ihre Präsenz aber als weniger wichtig galt. Die bürgerliche Bildungskultur formte zudem spezifische religiöse Strukturen aus. Im 19. Jahrhundert erstrebten durchaus Angehörige aller Religionen in Deutschland eine Teilhabe an der bürgerlichen Bildungskultur, allerdings geschah das mit charakteristischen Unterschieden. Zwischen 1750 und 1850 erlebten besonders die bürgerlichen Schichten einen Prozess der Entkirchlichung, der jedoch nicht darüber hinwegtäuschen sollte, dass in weiten Teilen des Bürgertums ein gewisses Maß an bürgerlicher Frömmigkeit erhalten blieb.28 Diese »vagierende Religiosität« erhielt ihre besondere Prägung durch die Teilnahme an der bürgerlichen »Reflexionskultur«, in der sich Bürger kritisch mit ihren religiösen Traditionen auseinander setzten, stets auf der Suche nach dem wahren Kern dieser Traditionen jenseits aller Dogmen und Überlieferungen.29 Besonders hervorhebenswert ist dabei die protestantische Variante 27 Vgl. Budde. 28 Vgl. Hölscher. 29 Für die Charakterisierung siehe Nipperdey, S. 124 ff.

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dieser Frömmigkeit. In der protestantisch geprägten, bürgerlichen Reflexionskultur spielte die »Bildungsidee des sich selbst bildenden Subjekts« eine zentrale Rolle.30 Was hierbei häufig nicht beachtet wird, ist die Tatsache, dass Juden im 19. Jahrhundert ganz ähnliche Strukturen bürgerlicher Frömmigkeit ausbildeten.31 Hingegen lag die Bildungskultur in ihrer Herkunft und ihren Ausprägungen vielen Katholiken im 19. Jahrhundert vergleichsweise fern. Zwar kann keineswegs behauptet werden, dass es im Katholizismus keinen Raum für einen katholischen Bildungsbegriff gegeben hätte. Zudem gab es gebildete Bürger katholischer Konfession. Allerdings war es für die Katholiken lange Zeit schwierig, jenseits des Theologiestudiums »Bildung« mit Bedeutung füllen zu können, so dass es zu keiner »Katholisierung von praktischen Wissenschaften« kam.32 Für Protestanten und Juden lässt sich hingegen feststellen: Bildung und Religiosität verschmolzen zu einer weltlichen Frömmigkeit, die weder im eigentlichen Sinne als religiös noch als säkular zu bezeichnen wäre. Das hatte wichtige Konsequenzen: Die Bildungskultur konnte nur deshalb in so hohem Maße kulturelle Bindungen hervorrufen und dauerhaft festigen, weil sie einen transzendenten Mehrwert versprach, der jedoch zugleich nicht als solcher offen zutage trat. Sie verkörperte eine post-religiöse Religiosität, die denjenigen nicht in den Selbstwiderspruch trieb, der seinen Bildungseifer mit religiösen Metaphern beschrieb, aber auch denjenigen nicht, der sich in seinem Gebildetsein für säkularisiert hielt. Bildungskultur war Religion, und war es nicht – und das war eines ihrer essentiellen Merkmale. Die religiösen Bezüge in der Bildungskultur lagen zwar selten offen, waren aber umso wirkungsvoller. Zumeist verbargen sie sich gerade in der Orientierung auf das Allgemeinwohl, die Angehörigen anderer Religionen abgesprochen werden konnte. Pointiert formuliert, erschienen nichtprotestantische Bürger häufig deswegen als ungebildet, weil sie einer anderen Religion angehörten, an deren Bildungsfähigkeit Protestanten zweifelten. Gerade in die Fähigkeit der Bildungskultur, Moralvorstellungen zu generieren und zu propagieren, flossen religiöse Traditionsbestände: Aus konkreter Religiosität wurde abstrahierte Sittlichkeit. Als Sollbruchstelle erwies sich im Verhältnis von gebildeten Juden und Protestanten zunehmend die religiöse Aufladung der Bildungskultur in Verbindung mit der distinktiven Qualität des Bildungsideals: Juden konnten als Juden keine gebildeten Bürger sein. Die Teilhabe an der bürgerlichen Bildungskultur bedeutete über weite Strecken des 19. Jahrhunderts zudem eine bestimmte politische Orientierung. Gebildete Bürger besaßen ein enges, wenn auch variables Verhältnis zum Liberalis-

30 Kuhlemann, S. 302. 31 Vgl. etwa zur jüdischen Reformbewegung Meyer, Response to Modernity. 32 Mergel, S. 163.

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mus.33 Hier wirkte sich die strukturelle Nähe zwischen liberalem Denken und dem Bildungsideal aus: das kritische Moment gegen die ständisch strukturierte Gesellschaft, die ausgeprägte Betonung des Individuums sowie die Forderung nach einer rationalen, meritokratischen Gesellschaftsordnung. Zugleich wurde vor allem der Frühliberalismus von gebildeten Bürgern angeführt und geprägt: Beamte, Akademiker, Freiberufler, aber auch – wenn auch weniger stark – Kaufleute.34 Die eigentliche Stärke des Liberalismus, der im ganzen 19. Jahrhundert eine der mächtigsten politischen Ideologien darstellte, ist zu Recht in seinem Anknüpfen an die Bürgerlichkeit und insbesondere die Bildungskultur gesehen worden. Gleichzeitig lieferte diese Verbindung mit dem Liberalismus weitere Begründungen für die fundamentale Unschärfe in der Bildungskultur. Bei den realen Bürgern war die liberale Idee stets in soziale, religiöse, nationale, politische und geschlechtliche Bezüge eingebunden.35 Daher oszillierte der Liberalismus zwischen dem »Wunsch, ein für alle Menschen gültiges Wertesystem zu proklamieren,« und der »Neigung, diese Werte nur mit denjenigen zu identifizieren, die bestimmten gesellschaftlichen und moralischen Ansprüchen genügen«.36 Erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts kam es zu einer allmählichen Entkoppelung von Liberalismus und Bildungskultur. Das ideologische Spektrum erweiterte sich für die gebildeten Bürger: Danach fand man substantielle Teile von ihnen im Konservatismus, im radikalen Nationalismus, seltener im Sozialismus. Schließlich zeichnet sich die bürgerliche Bildungskultur durch eine bestimmte nationale Perspektive aus. Gebildete Bürger artikulierten im 19. Jahrhundert einen kulturellen Führungsanspruch gegenüber der Nation, indem sie auf die Überlegenheit ihrer Bildungskultur verwiesen. Daraus ergab sich Konfliktpotential, weil sich der hegemoniale Anspruch der bürgerlichen Bildungskultur am Gemeinschaftspostulat der gesamten deutschen Nation brach. Lange Zeit schien dieses Postulat jedoch kaum den Realitäten der zersplitterten Nation zu entsprechen. Die einzige Gruppe, die einstweilen auf eine Verwirklichung des nationalen Traumes hinzuwirken versuchte, glaubten die gebildeten Bürger selbst zu sein. Über weite Strecken im 19. Jahrhundert fungierte die kulturelle Einheit, welche die Bildungskultur unter ihren Trägern schuf, als Ersatz für die Einigung des Nationalstaates.37 Von hier aus bemühten sich gebildete Bürger, die Einheit um das »Volk« zu erweitern. In jeder Hinsicht wurde dabei die Nation vor der Folie der bürgerlichen Bildungskultur konstruiert. Es wurde das Verbindende mit dem »Volk« gesucht, das zu33 Vgl. Langewiesche, Liberalismus in Deutschland, bes. S. 111 ff. sowie Sheehan, Der deutsche Liberalismus, bes. S. 26 ff. 34 Vgl. Langewiesche, Bildungsbürgertum und Liberalismus, S. 96. 35 Vgl. Herzog. 36 Sheehan, Wie bürgerlich, S. 43. 37 Vgl. Bollenbeck, S. 158.

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gleich als ein solches erst in der Abgrenzung von den gebildeten Bürgern konturiert wurde. Der Missionsgedanke der bürgerlichen Bildungskultur hob diese Trennung nur rhetorisch in der Sprache der Nation auf, um sie zugleich durch das bildungskulturelle Telos der nationalen Entwicklung zu vertiefen. Angesichts der beschriebenen Kollektivstrukturen des Sozialen, Geschlechtlichen, Religiösen, Politischen und Nationalen, die der bürgerlichen Bildungskultur eingeschrieben waren, muss allerdings festgehalten werden: Die bürgerliche Bildungskultur basierte nicht auf einer umfangreichen Verschleierungstaktik, mit der gebildete Bürger ihre eigentliche Identität unsichtbar machen konnten. Weder gab es eine eigentliche Identität hinter einer bloß vorgetäuschten, noch ließ sich eine fundamentale Struktur wie die Bildungskultur ausreichend begreifen, um sie für die eigene gesellschaftliche Position instrumentalisieren zu können. Das zugegeben zu haben, darf aber nicht dazu führen, bestimmte strukturelle Bedingungen in der bürgerlichen Bildungskultur außer Acht zu lassen. Die Diskrepanzen zwischen dem universalistischen Bildungsideal und der Rhetorik des Allgemeinen einerseits sowie den sozialen, geschlechtlichen, religiösen, politischen und nationalen Bezügen der realexistierenden bürgerlichen Bildungskultur andererseits waren im ganzen 19. Jahrhundert beachtlich. Die Integration und Akkulturation der Juden in die Bildungskultur sollten diese Tatsache an vielen Stellen bestätigen. Viele der Chancen und Erfolge in diesen Prozessen, aber auch die Grenzen und Niederlagen resultierten aus den fundamentalen Aporien in der bürgerlichen Bildungskultur. Diese Studie versucht drei verschiedene Forschungsgebiete der deutschen Geschichte zum 19. Jahrhundert zu kombinieren: die Forschungen zum Bürgertum, zum deutschen Judentum und zum Antisemitismus. Für jedes einzelne dieser Felder ist die Literaturlage kaum mehr zu überblicken. Anders sieht es jedoch aus, wenn man nach Arbeiten sucht, die diese Felder in ähnlicher Form, wie es hier vorgeschlagen wird, miteinander verbinden. Es gibt nur wenige Beiträge, die explizit die Beziehungen von Juden und Nichtjuden untersuchen und das mit einer genauen Analyse des sozialen und kulturellen Kontextes – in diesem Fall des gebildeten Bürgertums – verbinden. Bereits 1969 veröffentlichte Uriel Tal seine Studie »Juden und Christen im Kaiserreich«, die zwar zunächst nur auf hebräisch, ab 1975 aber auch auf englisch vorlag.38 Tal, der das hebräische Original noch als »eine Studie zum Aufstieg des Totalitarismus« untertitelte, warf die Frage auf, wie einerseits Juden im Kaiserreich ihre Integration in die Gesellschaft vollendeten, ohne jedoch ihre jüdische Identität aufzugeben, sowie andererseits Nichtjuden diese Entwicklung einordneten und ihr Verhältnis zu den integrierten Juden gestalteten. Leider wurde dieses Werk weder in Deutschland noch international besonders 38 Vgl. Tal.

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beachtet, so dass an seine innovative Fragestellung nach dem Verhältnis der beiden Gruppen lange Zeit nicht angeknüpft werden konnte. In ersten Studien ist in den letzten Jahren begonnen worden, eine Beziehungsgeschichte von Juden und Nichtjuden zu schreiben, wobei in der Regel Protestanten, Katholiken und Juden zusammen analysiert wurden. In diesem Zusammenhang ist vor allem an Till van Rahdens Dissertation »Juden und andere Breslauer« zu erinnern, die auf innovative Weise eine solche Beziehungsgeschichte im lokalen Kontext lieferte.39 Hier soll an Tals und an diese neuen Ansätze angeknüpft werden, wenn es auch angesichts der vorhandenen, differenzierten Kenntnisse über das Bürgertum wichtig erscheint, das Verhältnis von Juden und Nichtjuden weniger als politisch interessierte und breit angelegte Intellektuellengeschichte oder als lokalgeschichtliche Analyse des Beziehungsgeflechts denn als Verhältnis in einem spezifischen soziokulturellen Umfeld zu beschreiben. Darüber hinaus sind noch einige Anmerkungen zu den drei Forschungsgebieten im Einzelnen erforderlich. Die historische Forschung zum Bürgertum hat jüdische Bürger erst vor kurzem, und somit in einem sehr fortgeschrittenen Stadium, entdeckt.40 Angesichts der immer wieder betonten zahlenmäßigen Bedeutung der Juden gerade im städtischen Bürgertum kann das nur erstaunen.41 In den letzten Jahren sind jedoch einige Bemühungen sichtbar geworden, diese Lücke zu schließen; ob diese jedoch in der allgemeinen Bürgertumsforschung breit rezipiert werden, kann man skeptisch beurteilen.42 Während sich die Bürgertumsforschung neuerdings der jüdischen Geschichte 39 Vgl. van Rahden, Juden und andere Breslauer. Vgl. auch Smith und Clark sowie Kaplan, Friendship on the Margins. Kaplan stellt die These auf, dass die deutschen Juden um die Jahrhundertwende einen Platz im sozialen Leben gefunden hatten. »In Imperial Germany, Jews achieved a new point of social integration. Jews and other Germans mingled as neighbors, schoolmates, or business associates, and in social situations ranging from informal gatherings to formal organizations.« Kaplan betont damit zu Recht die Bedeutung der konkreten Beziehungen von Juden und Nichtjuden gerade in ihrer Vielschichtigkeit. Jedoch geschieht das ohne genauere soziale Einordnung. Die spezifischen Bedingungen solcher Beziehungen – und gerade ihre Grenzen – ergeben sich aber aus dem kulturellen Umfeld. Unabhängig von solcher sozialen Konkretion kann daher das Gesamturteil bei Kaplan mit Einschränkungen positiv ausfallen. »Despite antisemitism and despite Jewish ethnic cohesiveness, friendships between Jews and other Germans existed and some even thrived. ›German Jews … had to navigate among conflicting often bewildering social signals‹, but there was ample room for optimism and no predictable end in sight.« Ebd., S. 500f. 40 Aus der Frankfurter Richtung der Bürgertumsforschung ist erst in letzter Zeit eine Arbeit entstanden: Hopp. In der Bürgertumsforschung Bielefelder Provenienz hat es zu Beginn nur einzelne Aufsätze zu dem Thema gegeben. Vgl. Kocka, Bürgertum im 19. Jahrhundert. Erst in letzter Zeit sind eigenständige Arbeiten zum jüdischen Bürgertum entstanden. Vgl. vor allem van Rahden, Juden und andere Breslauer. Zu einem eigenen Schwerpunktthema wurden die jüdischen Bürger in beiden Großprojekten nicht. 41 Vgl. für diesen Befund auch van Rahden, Von der Eintracht. 42 Vgl. dafür die unterschiedlichen Projekte, die auf den Bad Homburger Tagungen zur jüdischen Bürgertumsforschung vorgestellt wurden, in: Gotzmann, Liedtke und van Rahden.

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zumindest teilweise zuwendet, werden mögliche Verbindungslinien zwischen ihr und der Antisemitismusforschung kaum gezogen.43 Zwar würde sich wohl kaum ein Bürgertumsforscher zu der Behauptung hinreißen lassen, die Bürger seien gegen Antisemitismus gefeit gewesen, untersucht wurde dieser Aspekt aber bisher nicht.44 Dieses Defizit mag daran liegen, dass solche Fragen einem gegenwärtigen Trend in der Bürgertumsforschung zuwiderlaufen würden, in einer vermeintlichen Zivilität der Bürger die ersten Ansätze für eine moderne Zivilgesellschaft zu sehen oder doch zumindest das Ideal einer bürgerlichen Gesellschaft vor dem realexistierenden Bürgertum zu retten.45 Sowohl in der Bürgertumsforschung, die der kritischen Sozialforschung entwachsen ist, als auch in der neueren Kulturgeschichtsschreibung der Bürgerlichkeit drängt sich der Eindruck auf, dass ein kritischer Blick auf die Aporien des bürgerlichen Projektes aus der Mode gekommen ist. Mit einer an politischen Themen ausgerichteten Kulturgeschichte einer sozialen Formation gilt es also in zweierlei Richtungen zu argumentieren: gegen eine Sozialgeschichtsschreibung, die ohne kulturgeschichtliche Erweiterung jeden kritischen Impetus zu verlieren droht, wie gegen eine neuere Kulturgeschichtsschreibung, die sich am bürgerlichen Projekt weidet, ohne die politischen Grenzen und Kosten der bürgerlichen »Zivilität« zu sehen. Die Forschung zu den deutschen Juden hat in den letzten Jahren in Deutschland einen wahren Boom erlebt.46 Jenseits der Reflexion, die nötig wird, wenn nach der Shoah jüdische Geschichte von deutschen Nichtjuden zum Gegenstand gemacht wird, sieht sich diese Forschung immer noch mit zwei unterschiedlichen Tendenzen konfrontiert, die bereits zum Erbe der sich selbst erforschenden deutschen Juden gehören. Sie droht stets im Verhältnis von »jüdischer« Geschichte und »allgemeiner« Geschichte die eine oder andere Seite zu 43 In der älteren Forschung gibt es allerdings durchaus Arbeiten, die sich mit dem Antisemitismus unter akademischen Eliten beschäftigen. Spezifisch bürgerliche Aspekte kamen hier allerdings allenfalls am Rande zur Sprache. Vgl. Jarausch, Students, Society, and Politics sowie Kampe, Studenten und »Judenfrage«. 44 Das überrascht umso mehr, als wichtige Teile der Bürgertumsforschung sich aus den Debatten über die Sonderwegsthese entfaltet haben. Eine kritische Analyse von Antisemitismus – die allerdings in diesen Debatten nur selten vorkamen – hätte sich eigentlich aufdrängen müssen. Die lange Zeit vorhandene Fixierung auf bestimmte Probleme (wie die sozialstrukturelle Kategorisierung oder die Entstehung des Bürgertums) haben solche offensichtlichen Bezüge aber in den Hintergrund gedrängt. 45 Für den ersten Versuch stehen die Bemühungen Kockas um eine historische Fundierung des Modells Zivilgesellschaft: Kocka, Zivilgesellschaft. Für den zweiten Versuch vgl. Wehler. Auch in den Bemühungen um eine Rekonstruktion des »bürgerlichen Wertehimmels« lassen sich leise, affirmative Untertöne vernehmen. Vgl. Hettling und Hoffmann, Der bürgerliche Wertehimmel. Innenansichten des 19. Jahrhunderts. 46 Die neuen Veröffentlichungen, die jedes Jahr im »Yearbook of the Leo Baeck Institute« bibliographisch erfasst werden, sprechen eine deutliche Sprache. Niedergeschlagen hat sich das auch in der vierbändigen »Deutsch-Jüdische Geschichte in der Neuzeit«, die 1997 vom Leo Baeck Institut herausgegeben wurde. Vgl. den Forschungsbericht Heil.

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bevorzugen. In den letzten Jahren kam es zu einer bemerkenswerten Institutionalisierung der jüdischen Studien (in den unterschiedlichsten Spielarten) in Deutschland, wobei häufig der Akzent auf die innerjüdische Geschichte gelegt wurde. Gleichzeitig gibt es einige Historiker, die über Bereiche der jüdischen Geschichte geforscht haben und jetzt an historischen Seminaren lehren und arbeiten. Diese unterschiedlichen Gewichtungen sind sinnvoll und förderlich; sie haben allerdings ihre Geschichte und ihre spezifischen blinden Flecken. Wenn die innerjüdische Geschichte hauptsächlich berücksichtigt wird, erscheint die »allgemeine« Geschichte häufig als von außen kommender Einflussfaktor. Damit droht immer die Gefahr, die Juden zu isolieren und – zumindest für die neuzeitliche Geschichte – die Verbürgerlichung der Juden in ihrer Bedeutung nicht ernst zu nehmen. Demgegenüber sollte nicht aus dem Blick verloren werden, wie die deutschen Juden nicht nur Einflüsse aus der nichtjüdischen Umwelt aufnahmen, sondern Teil dieser Umwelt wurden, die sie damit zugleich mitformten. Sie waren nicht das schillernde »Andere« der deutschen Geschichte, das sich kompromittierte, als es die Integration verteidigte und in vermeintlicher Apologie Anerkennung von den Nichtjuden forderte. Auch säkulare Juden besaßen positive jüdische Identitäten, die ernsthaft erforscht werden sollten.47 Die andere Perspektive – jüdische Geschichte als Teil der deutschen Geschichte zu schreiben – kann diese historische Position der deutschen Juden ebenso verfehlen, etwa indem sie einen »Beitrag« der Juden zu deutschen Geschichte betont und jüdische Existenz durch ihren Erfolg rechtfertigen zu müssen glaubt. Beide Tendenzen – die Kritik an der Apologie und die Würdigung des Beitrages – waren bereits Teil der Selbstbeschreibung der deutschen Juden. Sie gehören genuin zum Gegenstand. Ein historisierender Blick auf diese Geschichte müsste daher Kritik und Würdigung als historische Reaktion auf die Erfolge und die Schwierigkeiten, die das konkrete Zusammenleben von Juden und Nichtjuden bestimmten, zu erkennen versuchen. Erst wenn man Juden und Nichtjuden in einem konkreten soziokulturellen Umfeld zusammen untersucht, wird der Ort der Juden in der deutschen Geschichte, aber auch der Ort der deutschen Geschichte in der jüdischen sichtbar. Zudem verspricht ein solches Vorgehen eine neue Perspektive auf das Zusammenwirken von Erfolg und Gefährdung, das die jüdische Geschichte dieser Phase ausmacht.48 Die für diese Arbeit im engeren Sinne relevante Forschung zu den gebildeten Juden ist von ihren letzten, exilierten Vertretern selbst begonnen worden. Auch die radikalste Kritik an der vermeintlichen Selbstverleugnung der deutschen Juden – und gerade der Gebildeten unter ihnen – war eine Selbstkritik.49 47 Für diese Forderung vgl. Sorkin, The Émigré Synthesis, bes. S. 551f. 48 Diese Studie verdankt gerade in diesem Zusammenhang viel den Arbeiten Reinhard Rürups. Vgl. vor allem das immer noch zentrale Werk Rürup, Emanzipation und Antisemitismus. 49 Vgl. Scholem.

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Stets ging es dabei um die Frage, woher die affektiven Bindungen der Juden an die deutsche Kultur kamen und welche tragischen Folgen die so genährten Illusionen zeitigten, nachdem die Nationalsozialisten in Deutschland die Macht an sich gerissen hatten. Diese letzte Generation deutsch-jüdischer Historiker fühlte sich selbst – oft auf eine komplizierte, schmerzhafte Weise auch in ihrer Selbstkritik noch erkennbar – den Idealen der deutschen Kultur verpflichtet, und dabei besonders dem deutschen Bildungsideal. Das prägte ihre Sicht auf die jüdische Bildungselite, wie besonders an den Pionierstudien von George L. Mosse veranschaulicht werden kann.50 Das deutsche Bildungsideal wurde darin eng an die Aufklärung gebunden, was eine Verklärung des komplexen Ursprunges aus Spätaufklärung, Neuhumanismus und Romantik darstellte.51 Die Juden konnten dann im Verlauf des 19. Jahrhunderts zu den letzten Trägern dieses aufklärerischen Ideals werden, das die nichtjüdischen Bürger bei ihrem intellektuellen Abstieg in Nationalismus und Rassismus hinter sich ließen. Auf diese Weise wurde eine »gutes«, aufklärerisches, vernunftzentriertes Bildungsideal von den zunehmend »schlechten«, nationalistischeren, emotionalisierten Umformungen getrennt. Die Juden wurden als Träger des ersteren zugleich blind für die lebensbedrohlichen Tendenzen des letzteren. Der Ursprung des Bildungsideals war jedoch von Beginn an vielschichtig; auch die jüdische Übernahme desselben war kein aufklärerischer Griff nach einer protestantischen Kultur. Das Bildungsideal und später die Bildungskultur basierten bei aller Modernität fundamental auf religiösen Traditionen, ohne dass das auf den ersten Blick erkennbar war. Auch und gerade für die Juden bezog die Bildungsidee viel ihrer diffusen Faszination aus ihrer Kompatibilität mit der eigenen jüdischen Vergangenheit: Sie war insofern ebenso »romantisch« wie »aufklärerisch«. Die neuere Forschung zu den gebildeten Juden beschäftigt sich indes weniger mit solchen geistesgeschichtlichen Fragestellungen, sondern fragt vor allem nach den sozialen und kulturellen Existenzbedingungen dieser Gruppe. Einflussreich ist dabei vor allem das Werk David Sorkins gewesen, dessen These einer jüdischen »Subkultur« lange Zeit sehr anregend auf die wissenschaftliche Behandlung der deutsch-jüdischen Geschichte gewirkt hat.52 Allerdings bezog sich das auf die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts. Spätestens mit dem Beginn der 1860er Jahre wird man nicht mehr ausschließlich von einer »Subkultur« der jüdischen Gebildeten sprechen können, weil sich neue Vergemeinschaftungsformen zwischen ge50 Vgl. vor allem Mosse, Jüdische Intellektuelle, aber auch Mosse, Das deutsch-jüdische Bildungsbürgertum sowie Mosse, Jewish Emanzipation. 51 Dass die Juden möglicherweise gar nicht in den »Herbst der Aufklärung«, sondern in den »Frühling der Romantik« emanzipiert wurden, behauptet: Volkov, Ambivalenz der Bildung, S. 169. 52 Vgl. Sorkin, Transformation of German Jewry. Für eine neuere Kritik an der These der »Subkultur« vgl. van Rahden, Von der Eintracht.

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bildeten Juden und Nichtjuden entwickelten. Für diesen Zeitraum ist daher nach ihrem Verhältnis zueinander zu fragen. Die historische Forschung zum modernen Antisemitismus konzipierte ihr Forschungsfeld lange Zeit mit Hilfe von zwei unterschiedlichen Perspektiven, die in der Kombination den bei genauerem Hinsehen durchaus unklaren Gegenstandsbereich stabilisieren halfen. Die klassische Sozialgeschichtsschreibung analysiert Antisemitismus im Wesentlichen unter modernisierungstheoretischen Prämissen. Hierbei geht man davon aus, dass Antisemitismus eine Folgeerscheinung jener Krisen ist, welche die Moderne beständig zu generieren scheint.53 Antisemitismus stellt demnach eine Art Rebellion der »Modernisierungsverlierer« dar. Dem steht eine andere Forschungstradition gegenüber, die Antisemitismus besonders mit dem Instrumentarium der Vorurteilsforschung untersucht. Sie liefert der Antisemitismusforschung einen Korpus an zu Stereotypen verdichteten Ressentiments, die weitgehend unabhängig von historischer und geographischer Spezifität existieren. Auch wenn die dabei ursprünglich geläufige These vom ewigen Judenhass kaum mehr vertreten wird, ist man weiterhin überzeugt, dass bestimmte Grundmotive wie die jüdische Weltverschwörung, der jüdische Kapitalist oder der jüdische Kommunist zumindest in der Moderne an allen Orten und zu allen Zeiten vorhanden sein können, selbst – darauf weisen Vorurteilsforscher gerne hin – in Ländern, in denen keine Juden leben.54 Als Ganzes gesehen scheinen sich diese beiden Forschungsperspektiven in der historischen Antisemitismusforschung zunächst gut zu ergänzen und werden in den entsprechenden Studien oft kombiniert. Dabei wird außer Acht gelassen, dass sie in einem Spannungsverhältnis zueinander stehen: Wenn die antisemitischen Grundmotive so ubiquitär nachweisbar sind, muss dann die Krise der Moderne nicht gleichfalls permanent sein? Wenn es aber doch verschiedene Krisen in der Moderne gibt, wie ist dann die Permanenz der Stereotypen erklärbar? Darüber hinaus lassen sich gegen beide Aspekte faktische Einwände liefern: Es gab immer wieder Antisemiten – und diese Arbeit beschäftigt sich mit solchen –, für die das Label »Modernisierungsverlierer« nicht greift. Zugleich sollte selbst von einer vorhandenen Krisenwahrnehmung nicht auf eine wirkliche Krise rückgeschlossen werden. Wenn man die kulturgeschichtliche Wende auch für die Antisemitismusforschung ernst nimmt, wird man sich von der 53 Für die Konstitutionsphase des modernen Antisemitismus wurde diese Perspektive vor allem vertreten von: Rürup, ›Judenfrage‹ der bürgerlichen Gesellschaft sowie Jochmann, Gesellschaftskrise und Judenfeindschaft. 54 Für die These vom ewigen Judenhass vgl. Poliakov, Geschichte des Antisemitismus. Als neuere Arbeiten der Vorurteilsforschung wären zu nennen: Rohrbacher und Schmidt, Schoeps und Schlör sowie Benz. Selbst der wohl innovativste Neuansatz in der Antisemitismusforschung radikalisiert in Form einer antisemitischen Semantik die Grundprämisse der Vorurteilsforschung nach einem orts- und zeitungebundenen Vorstellungskorpus. Vgl. Holz, Nationaler Antisemitismus.

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Grundorientierung der Sozialgeschichte auf das Überbau-Unterbau-Schema entfernen müssen. Kulturelle Prozesse lassen sich nicht durch einen Verweis auf soziale und wirtschaftliche Entwicklungen erklären, sie haben ihre eigene Dynamik. Auch in der Orientierung an der Vorurteilsforschung – selbst in vielen jüngeren Varianten – missachtet die Antisemitismusforschung eine faktische Beobachtung: Obwohl es zutreffend ist, dass es heute Antisemitismus auch in Ländern ohne Juden gibt, fanden die zentralen Entwicklungsschübe von Antijudaismus und Antisemitismus – in der Spätantike, im hohen und späten Mittelalter, im 16. Jahrhundert, zu Beginn und am Ende des 19. Jahrhunderts, nach dem Ersten Weltkrieg, in den 30er und 40er Jahren – nicht etwa in Japan, sondern in europäischen Ländern statt, also in Gebieten mit einer jüdischen Bevölkerung. Hinter der Scheu, diese an sich banale Erkenntnis zum Ausgangspunkt der Forschung zu machen, stehen vor allem – einleuchtende und gerechtfertigte – moralische Bedenken, die Juden nicht für die Feindschaft, unter der sie so leiden mussten und müssen, verantwortlich machen zu wollen. Das muss jedoch nicht zwangsläufig das Resultat einer solchen Fragestellung sein. Dass Antisemitismus aus dem Zusammenleben von Juden und Nichtjuden heraus entstehen kann, macht das Produkt nicht weniger verachtungswürdig. Nur kann mit einer solchen Frage deutlicher gemacht werden, wo und wie es generiert wurde, welche konkreten sozialen und kulturellen Rahmenbedingungen zu seiner Entstehung notwendig waren und welche Mechanismen der Verdichtung Anwendung fanden, damit in alltäglichen Wahrnehmungen, Kommunikationen und Interaktionen zwischen Juden und Nichtjuden antisemitische Muster wirksam werden konnten. In den letzten Jahren sind diese Unzulänglichkeiten der historischen Antisemitismusforschung zunehmend offenkundig geworden.55 Die Analysen nahmen Antisemitismus als ideologische Struktur entweder nicht ernst genug und verabsolutierten die gesellschaftlichen Veränderungsprozesse, wie im Falle der Sozialgeschichtsschreibung, oder sie nahmen die ideologische Struktur zu ernst und sahen von den gesellschaftlichen Veränderungen ganz ab, wie im Falle der Vorurteilsforschung. Das wirft die Frage nach dem Verhältnis von antisemitischen Ideen und deren Rolle in einer sich verändernden Gesellschaft auf. Hier setzten neuere Arbeiten an. Mit der generellen Abkehr von sozial- und der Hinwendung zu kulturgeschichtlichen Fragestellungen veränderte sich auch die Antisemitismusforschung; neue Erklärungsmodelle kamen hinzu, wobei das fruchtbarste Shulamit Volkovs Definition von Antisemitismus als »kulturellem Code« sein dürfte. Mit Blick auf das Wilhelminische Kaiserreich wies sie dem Antisemitismus einen symbolischen Wert für ein durch ihn identifizierbares Lager zu.56 Gleichwohl bleibt die Frage, wie man Formen 55 Vgl. bereits van Rahden, Ideologie und Gewalt sowie neuerdings Berger Waldenegg. 56 »Das Bekenntnis zum Antisemitismus wurde zu einem Signum kultureller Identität, der

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von modernem Antisemitismus einordnet, die sich zeitlich früher entwickelten und eine solche vergemeinschaftende Kraft nicht besaßen. Seit Volkov ist das Feld unübersichtlicher geworden; gleichzeitig blieb der Wunsch, eine konzeptionell befriedigende Antwort auf den spezifischen Charakter des modernen Antisemitismus zu erhalten. Am unbrauchbarsten war sicherlich Daniel J. Goldhagens Versuch, in der deutschen Geschichte einen eliminatorischen Antisemitismus aufzuzeigen.57 Goldhagen vereinheitlichte dabei ganz unterschiedliche Ausprägungen des Antisemitismus zu einem überzeitlichen Vernichtungssyndrom, das es so nicht gegeben hat. Damit radikalisierte er in gewisser Hinsicht die Grundannahmen der Vorurteilsforschung. Zugleich war seine Arbeit das deutlichste Anzeichen dafür, wie offen die Frage nach dem modernen Antisemitismus immer noch ist. Eine sprach- und diskursanalytisch geschulte Antisemitismusforschung hat aus eben dieser Lage heraus in den letzten Jahren an Bedeutung gewonnen, wobei auch hier oft die Probleme der Vorurteilsforschung nur auf einer sprachlichen, gleichfalls der sozialen Prozesse entfernten Ebene reproduziert wurden.58 Die Forschungslage zum modernen Antisemitismus führt somit ungeachtet zahlreicher konzeptioneller Differenzierungen und inhaltlicher Erkenntnisse auf die eigentliche Ausgangsfrage zurück: Was ist moderner Antisemitismus? Um einer Beantwortung näher zu kommen, hilft ein Blick zurück: 1811 hielt Achim von Arnim in der von ihm im gleichen Jahr gegründeten »ChristlichDeutschen Tischgesellschaft« den bemerkenswerten Vortrag »Über die Kennzeichen des Judentums«. Die scherzhaft gemeinte Rede sollte den Ausschluss von Juden aus der Tischgesellschaft begründen; in ihr ist zugleich der Kerngedanke des modernen Antisemitismus enthalten. Arnim hielt es für möglich, dass sich »heimliche Juden« durch »Verstellung« in den Kreis »einschmuggeln« könnten.59 Das drohe umso mehr, weil Juden einerseits die »seltene Kunst, sich zu verstecken« und andererseits die »teuflische Neugierde, das Gute zu lernen, um es schlecht« zu machen, besäßen.60 Die folgenden Ausführungen sollten dazu dienen, Kriterien zu erhalten, um die Juden trotz ihrer Verstellung erkennen zu können. Der moderne Antisemitismus dreht sich im Wesentlichen um zwei miteinander verbundene Motive: der jüdische Betrüger, der zugleich den kulturellen Zusammenhang von innen heraus bedroht, dem er sich angeglichen zu haben scheint.61 Der moderne Antisemitismus setzt die Nähe zwiZugehörigkeit zu einem spezifischen kulturellen Lager.« Volkov, Antisemitismus als kultureller Code, S. 23. 57 Vgl. Goldhagen. 58 Vgl. etwa Blaschke sowie Holz, Nationaler Antisemitismus. 59 Arnim, S. 363. 60 Ebd., S. 363f. 61 Die Forschung zum modernen Antisemitismus hat, wenn der letzte Zweifel am konzeptionellen Rüstzeug beseitigt werden sollte, stets auf dessen rassistische Wendung verwiesen.

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schen Juden und Nichtjuden voraus und glaubt an die Macht der Juden, eine Gefährdung zu sein.62 Wenn man nach seinen Motiven und Begründungen fragt, fällt ungeachtet der überraschenden Vielfalt antisemitischer Bilder eine Grundtendenz auf: Dem modernen Antisemitismus liegt ein soziokulturell jeweils spezifisches Verhältnis von Positiv- und Negativbildern zugrunde, die auf das alltägliche Zusammenleben von Juden und Nichtjuden bezogen werden, das durch die Emanzipation, Akkulturation und Integration der Juden in die europäischen Gesellschaften möglich geworden ist. Dadurch wird die von Juden und Nichtjuden geteilte Kultur von der Ambivalenz der Juden bedroht. Die Juden sind daher gerade nicht die eindeutig Anderen, sie sind die Gleichartigen, die sich erst mit großem Aufwand als Andere erkennen lassen. Sie sind die Relation, welche die Begriffe zweifelhaft erscheinen lässt. Für die Nationalisten sind sie nicht einfach die Angehörigen einer anderen Nation, wie die Engländer oder Franzosen; sie sind die Nichtnation, welche die Nationen unterwandert.63 Für die Rassisten sind sie nicht einfach Mitglieder einer anderen Rasse; sie sind die Nichtrasse, welche die anderen Rassen von innen auflöst. Für die Kulturalisten sind sie nicht einfach die Angehörigen einer anderen Kultur; sie sind die Nichtkultur, die jeden kulturellen Zusammenhang gefährdet. Die Juden sind die Ambivalenz, die kategoriale Zuschreibungen sichtbar machen und damit unsicher werden lassen. Juden sind unheimliche Doppelgänger. Insgesamt lässt sich die Ausgangslage folgendermaßen zusammenfassen: Es ist an der Zeit für eine Studie, die sich gegen eine Geschichte der Bürger ohne Juden und ohne Antisemiten, gegen eine Geschichte der Juden ohne (protes-

Aber ist das so einfach? Es muss demgegenüber bemängelt werden, dass man in der ganzen Diskussion über die Verbindung von Rassismus und Antisemitismus selten nach der Schlüssigkeit dieses Denkens gefragt hat. Antisemitismus ergibt sich nicht zwangsläufig aus einer rassistischen Weltsicht, und es ist gar nicht klar, worin die »Judenfrage« für einen Rassisten eigentlich bestehen soll. Wenn man davon ausgeht, dass es verschiedene, klar abgrenzbare Rassen gibt, erklärt das immer noch nicht, wieso gerade die jüdische Rasse eine Bedrohung für die anderen sein kann. Um von Antisemitismus reden zu können, ist ein Rassist notwendig gezwungen, eine drohende oder bereits erfolgte Verseuchung durch die Juden anzunehmen. Aufgrund dieser Begründungslücke muss der Rassist seine vermeintlich wissenschaftliche Argumentationsebene verlassen, wenn er zum Antisemit werden will. Er greift damit auf eine moralische Ordnung zurück, mit der den Juden Hinterhältigkeit und Betrug, mit denen erst die Verseuchung möglich wird, vorgehalten werden kann. Daher sind auch antisemitische Texte letztlich moralische Abhandlungen. Für diese Hinweise danke ich Raphael Gross und Werner Konitzer. 62 Zum Motiv der Bedrohung vgl. Aschheim. 63 Mit der Staatsgründung Israels 1948 hat sich – entgegen zionistischer Erwartungen – dieses Verhältnis keineswegs aufgelöst. Das ambivalente Verhältnis von Diaspora und Israel kann vielmehr neue Formen des Antisemitismus hervorrufen, da die Juden nunmehr Nation und Nichtnation zugleich zu sein scheinen. Die antisemitischen Anteile im Antizionismus dürften sich daher auch entscheidend aus diesem Verhältnis ergeben, weil Juden so, folgt man solcher Logik, eine fortgesetzte Bedrohung für die europäischen Nationen von innen heraus darstellen.

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tantische) Bürger und ohne Antisemiten und gegen eine Geschichte der Antisemiten ohne Bürger und ohne Juden wendet. Daher soll im Folgenden die Beziehungsgeschichte von Juden und Protestanten in der bürgerlichen Bildungskultur im 19. Jahrhundert thematisiert werden. Dafür werden unterschiedliche methodische Zugänge mit unterschiedlichen Quellengattungen kombiniert. Ein literaturgeschichtlicher und wissenschaftshistorischer Teil versucht die Entstehung der Wahrnehmungsmuster unter gebildeten Juden und Protestanten zu klären. Die dafür herangezogenen Quellen bestehen im Wesentlichen aus Veröffentlichungen, wobei besonders Werke des bürgerlichen Realismus sowie Forschungen aus der Philologie, der Anthropologie, der Völkerpsychologie, der protestantischen Theologie und der Geschichtswissenschaft zu Rate gezogen werden. Es ist sicherlich eine Vereinfachung dieser oftmals komplexen Werke, in ihnen nur Reflexe auf das sich entwickelnde Verhältnis von gebildeten Juden und Protestanten zu sehen. Gleichwohl lässt sich an ihnen demonstrieren, dass bestimmte Grundmuster, mit denen Juden und ihre Geschichte behandelt werden, beständig wiederkehren. Methodisch ist die Beschreibung solcher Wahrnehmungsmuster nicht identisch mit einer diskursanalytischen Isolierung bestimmter sprachlicher Muster. Der Diskurs strukturiert das Denken und Sprechen; von den hier beschriebenen Mustern soll behauptet werden, dass sie das Wahrnehmen formen. Die Wahrnehmungsmuster des Jüdischen entstehen aus und wirken auf das konkrete Zusammenleben von Juden und Nichtjuden. In der Literatur und den Geistesund Kulturwissenschaften werden dabei vornehmlich Felder gesehen, in denen sich diese Muster – wie in anderen Bereichen auch – manifestieren, durch die diese Muster aber zugleich besondere Verbreitung erfuhren, weil Literatur und Wissenschaft in der bürgerlichen Bildungskultur ein herausragender Status zukam. Eine kommunikations- und medienhistorische Analyse beschäftigt sich mit dem Verhältnis von Juden und Protestanten in der Öffentlichkeit und fragt nach den sich dabei herausbildenden Kommunikationsmustern. Eine besondere Rolle spielen hierbei methodische Überlegungen zur Struktur der bürgerlichen Öffentlichkeit und den entsprechenden Zugangsbeschränkungen, d.h. das Problem der Legitimität, an öffentlicher Kommunikation teilzunehmen. Hierbei kommen unterschiedliche Quellengattungen zur Anwendung; einen Schwerpunkt legt die Arbeit in diesen Teil jedoch auf Flugschriften. Dieser mit mehreren Hundert Exemplaren umfangreichste Quellenbestand soll eine konsequente Auswertung erfahren, die in dieser Form noch nicht unternommen wurde. Dafür werden diese Werke in Form und Inhalt medienund -kommunikationshistorisch analysiert. Die besondere Position der Flugschriften, die sich zwischen Alltags- und veröffentlichter Kommunikation bewegen, soll dabei genutzt werden, um die Kommunikationsmuster zwi36

schen gebildeten Juden und Protestanten zu beschreiben und zugleich die unterschiedliche Legitimität, öffentlich zu sprechen, zu thematisieren. Eine sprachanalytisch und alltags- und lokalgeschichtlich orientierte Streitgeschichte interessiert sich schließlich im letzten Teil der Arbeit für die Interaktionen von gebildeten Juden und Protestanten. In diesem Abschnitt konzentriert sich die Darstellung stärker auf Berlin, da hier die Konflikte vor allem sichtbar wurden. Hierfür wurden insbesondere Nachlässe von gebildeten Bürgern, und dabei vor allem ihre privaten Briefwechsel, ausgewertet. Damit können den öffentlichen Stellungnahmen systematisch private Äußerungen gegenüber gestellt werden, so dass die Konfliktlinien unter den gebildeten Bürgern deutlicher hervortreten. Gleichwohl soll damit nicht behauptet werden, in einer privaten Korrespondenz sei mehr Wahrheitsgehalt als in einer veröffentlichten Erklärung zu finden. Private Kommunikation geschieht gleichwohl unter Personen, die sich – in den vorliegenden Fällen oft recht gut – kennen, so dass Äußerungen möglich sind, die in der Öffentlichkeit so nicht erlaubt sind. Da die Struktur des Streites hier insofern zum Argument gemacht wird, als dass darin der Zustand der Interaktion zwischen gebildeten Juden und Protestanten sichtbar werden soll, ist insbesondere die private Kommunikation wichtig, da sie erst das Bild der Konfliktlinien vervollständigt. Sicherlich ist solchen Materialien eine Repräsentativität nicht fraglos zu unterstellen. Zum einen hinterlassen auch unter gebildeten Bürgern nur bestimmte Personen einen Archivnachlass. Zwar ist hier für die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts kaum ein Unterschied mehr zwischen Juden und Protestanten zu erkennen, aber zweifelsohne schränkt es die Aussagekraft solcher Quellen ein, dass sie beispielsweise größtenteils von Männern stammen. Hier wurden zudem besonders viele Nachlässe von Universitätsangehörigen eingesehen, da unter ihnen die Neigung, einen Nachlass zu hinterlassen, besonders ausgeprägt ist. Zum anderen darf man nicht außer Acht lassen, dass die Materialien aus solchen Nachlässen für die Nachwelt zusammengestellt wurden; ihrem Besitzer obliegt es stets, bestimmte Quellen auszusortieren. Auch das schränkt ihre Aussagekraft ein. Da in der Streitgeschichte zugleich komplexe Wechselbeziehungen mit dem Berliner Alltagsleben erkennbar sind, werden als weitere Quellengattung Archivbestände zu entsprechend signifikanten Bereichen verwendet. Insbesondere inneruniversitäre und schulische, aber auch allgemein polizeiliche Sammlungen werden herangezogen, um zusätzliche Dimensionen der Kontroversen zu erhellen. In unterschiedlichen Teilen der Arbeit sind schließlich veröffentlichte Quellen vor allem aus der Tages- und Zeitschriftenpresse, aber auch unveröffentlichte wie Memoiren und Tagebücher benutzt worden. Dieser Studie liegt die Ausgangsthese zugrunde, dass sich aus dem Verhältnis zwischen Juden und Protestanten in der bürgerlichen Bildungskultur neue Formen jüdischer Identitäten ebenso wie neue Formen antisemitischer Ab37

grenzungen erklären lassen. Zwischen gebildeten Juden und Protestanten entstand ein kompliziertes, zutiefst ambivalentes Beziehungsgeflecht aus Allgemeinem und Partikularem, aus Nähe und Ferne. Mit der Verbürgerlichung der Juden waren in der Bildungskultur unheimliche Doppelgänger entstanden.64 Einerseits »verdoppelte« sich die Identität der gebildeten Juden. Juden eigneten sich die Kultur ihrer Umwelt an, wurden also in ihrer Lebensweise den Protestanten immer ähnlicher. Zugleich bemühten sich viele von ihnen, in ihrer Verbürgerlichung Juden zu bleiben, und benutzten dazu gerade die Bildungskultur. Dabei wurde das Fremde – die Bildungskultur – vertraut und das Eigene – die jüdische Tradition – fremd. Diesen gebildeten Juden erschien deswegen nicht zufällig ihre eigene Vergangenheit in einem gelegentlich nostalgischen, manchmal unerfreulichen, aber immer merkwürdigen Licht. Zugleich wurden für sie traditionelle Juden, etwa aus Osteuropa, zu unheimlichen Doppelgängern aus einer verlorenen Zeit. Im selben Zeitraum »verdoppelte« sich auch die Identität gebildeter Protestanten. Vor allem nach der nationalen Einheit ergaben sich für die gebildeten Bürger neue fundamentale Herausforderungen: der einsetzende Strukturwandel der Öffentlichkeit, die Machtansprüche anderer gesellschaftlicher und politischer Gruppen, die begrenzt bleibenden Handlungsspielräume im politischen System des Kaiserreichs, die nachlassende Integrationsfähigkeit des Liberalismus etc. Diese Veränderungen konnten für das Selbstverständnis gebildeter Bürger nicht ohne Einfluss bleiben. Einige dieser Transformationsprozesse – etwa die gewandelte Bedeutung des Liberalismus, die neuen Öffentlichkeitsstrukturen, die Machtkonkurrenz zu anderen Gruppen – standen für gebildete Protestanten in einem engen kausalen Zusammenhang mit der jüdischen Verbürgerlichung. So konnte es den gebildeten Juden zugeschrieben werden, dass sich die gebildeten Protestanten in ihrer eigenen Haut zunehmend unwohl fühlten. Die gesellschaftliche Dynamisierung schien sie zu bloßen Kopien ihrer selbst werden zu lassen; die gebildeten Protestanten glaubten sich von Halbgebildeten umgeben. Bei ihnen kam noch hinzu, dass sie auf die sich integrierenden Juden direkt reagierten. Dass Juden als Juden gebildet zu sein beanspruchten, mutete ihnen wie ein Paradox an. Für sie behaupteten hier Fremde vertraut – gebildet – zu sein, und wenn ihre Behauptung berechtigt war, so konnte das nur heißen, dass ihnen das Eigene – die vertraute Bildungskultur – fremd geworden 64 Diese Arbeit lehnt sich dabei an Überlegungen Sigmund Freuds über das Unheimliche an, versucht aber dessen Analyse der tiefenpsychologischen Bedeutung des Unheimlichen für soziale Tatbestände fruchtbar zu machen. Ausgehend von einer semantischen Betrachtung und untermauert mit literarischen Beispielen hatte Freud zu beweisen versucht, dass das Unheimliche jene Art des Schreckhaften darstelle, die auf etwas früher Altbekanntes und Vertrautes zurückgeht. Er zitierte dabei unter anderen Schellings Ausspruch: »Unheimlich nennt man Alles, was im Geheimnis, im Verborgenen […] bleiben sollte und hervorgetreten ist.« Freud, S. 248. Für den Zusammenhang dieser Arbeit ist insbesondere die unheimliche Wirkung des Doppelgängers interessant, der zu Zweifeln am eigenen Ich führt. Ebd., S. 257.

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war. Die Integration der Juden in die Bildungskultur führte zu unheimlichen Identitätsdoppelungen. Gebildete Juden und gebildete Protestanten waren sich ihrer selbst und ihrer Lebenswelt nicht mehr sicher. Die Geschichte ihres wechselseitigen Verhältnisses zu schreiben, bedeutet somit, eine Geschichte von gebildeten Doppelgängern zu erzählen, deren Eigenarten einander zu sehr glichen, als dass sie einander hätten ignorieren können, die sich aber zugleich zu sehr voneinander unterschieden, als dass sie nicht aufeinander fixiert hätten sein können. Soll in dieser Studie behauptet werden, dass Juden wirklich gebildete Doppelgänger verkörperten? Verunsicherten sie als von außen kommenden Elemente eine sich ursprünglich selbst genügende Kultur? Mit anderen Worten: Waren die Vorwürfe vielleicht doch berechtigt, die unter gebildeten Protestanten laut wurden? Eigentlich gibt es auf die Frage, die den »realen« Grad der Ambivalenz in der jüdischen Position unter den gebildeten Bürgern ergründen will, nur eine ambivalente Antwort. Es wäre ein Irrtum anzunehmen, dass, als sich die Juden mit großem Erfolg der nichtjüdischen Kultur und insbesondere der bürgerlichen Bildungskultur anpassten, diese Kultur sich selbst gleich bleiben würde. Solche komplexen Adaptationsprozesse funktionieren nur selten so, wie es die Zeitgenossen zumeist auffassten und wie es bis heute oft behauptet wird: nämlich dass eine Gruppe ihre Identität aufgibt, um sich in eine unveränderliche Umwelt restlos einzugliedern. In der Regel kommt es zu Transformationsprozessen bei beiden beteiligten Entitäten. Insofern dynamisierten gebildete Juden das soziokulturelle Milieu des gebildeten Bürgertums. Vorhandene Veränderungsängste konnten sich auf diejenigen kaprizieren, die sich sichtbar verändert hatten. Gleichwohl brauchte es ein weiteres Element, um aus den sich wandelnden Juden gebildete Doppelgänger zu machen. Die aufnehmende Kultur musste als essentielles Gegenmodell festgeschrieben werden. Ambivalenz musste für einen kulturellen Zusammenhang bedrohlich wirken und daher Abwehrstrategien hervorrufen. In Wirklichkeit waren die Juden, um die es in dieser Studie gehen soll, integrierte, oft hoch gebildete, kulturelle gewandte Bürger (oder entsprechende Bürgerinnen), die sich zudem als Juden verstanden. Diese Identität musste von gebildeten Protestanten als absonderndes Element definiert werden, damit aus ihnen unheimliche Doppelgänger werden konnten. Diese Studie handelt von diesem Differenzierungsmechanismus, der sich ein Anderes – aber auch das Eigene neu – schuf. Eine solche Geschichte von gebildeten Doppelgängern zu erzählen, heißt allerdings auch, implizit oder explizit Stellung zu Ereignissen zu beziehen, die über ein halbes Jahrhundert später geschahen. Eine Darstellung der Beziehungen zwischen deutschen Juden und Nichtjuden im 19. Jahrhundert wird immer daraufhin befragt werden, welche Entwicklungslinien sie präsentiert, die in der Machtübernahme der Nationalsozialisten und in der Vernichtung des europäischen Judentums endeten. Vom Ende her betrachtet, liefert die 39

neuere NS-Forschung in der Tat einige Anknüpfungspunkte für solche Überlegungen, hat sie doch zunehmend die willfährige Beteiligung, ja, den besonderen Eifer der akademisch gebildeten Eliten im Nationalsozialismus und in seiner Vernichtungspolitik betont.65 Zudem ist in den letzten Jahren, im Nachklang der Goldhagen-Debatte, die zentrale Bedeutung des Antisemitismus für das NS-Regime und den Holocaust offensichtlich geworden. Schließlich haben neuere Studien zur Geschichte der Juden die rapide Verschlechterung in den Beziehungen zu Nichtjuden nach 1933 nachweisen können – eine Verschlechterung, die ohne kulturelle Vorprägungen kaum möglich gewesen sein dürfte.66 Es erscheint somit auf den ersten Blick fruchtbar, im Verhältnis von gebildeten Juden und Protestanten einen deutschen Sonderweg zu behaupten.67 Gleichwohl lassen sich gegen solche Traditionslinien drei Argumente anführen. Zunächst beruhte die Sonderwegsthese, wie allgemein bekannt, auf einem schematischen Vergleich, der letztlich auf eine unhistorische Idealisierung eines westeuropäischen Weges in die Moderne hinauslief. Es dürfte in diesem Zusammenhang nicht ganz leicht sein, im europäischen Vergleich dem deutschen Antisemitismus im 19. Jahrhundert eine besonders drastische Qualität zuzuschreiben; in Frankreich und Russland bildeten sich Formen aus, die schon den Zeitgenossen als viel virulenter und, vor allem im letzteren Fall, barbarischer erschienen. Dass in Deutschland intellektuelle Trägerschichten, wie das gebildete Bürgertum, stärker antisemitisch waren als anderswo, ließe sich dem entgegenstellen. Manches in dieser Studie mag dafür sprechen. Allerdings müsste sich eine solche Argumentation auf einen systematischen Vergleich stützen, der hier nicht geleistet werden kann.68 Die Kollaboration vieler europäischer Eliten bei der Ausführung des Holocaust lässt an einer solchen These zumindest Zweifel erlaubt sein. Der zweite Einwand gegen einen antisemitischen Sonderweg im deutschen Bürgertum ist in dem Determinismus zu sehen, den man damit dem historischen Prozess unterstellt. Auch wenn in dieser Arbeit problematische Aspekte im Verhältnis von gebildeten Juden und Protestanten eine wichtige Rolle spielen, wird in ihr gleichfalls betont, dass dieses Verhältnis beachtliche Entwicklungschancen 65 Vgl. u. a. Herbert. 66 Vgl. Kaplan, Mut zum Überleben sowie Friedländer. 67 Es ist nach wie vor schwer zu verstehen, wieso in den Debatten um den deutschen Sonderweg Antisemitismus eine so geringe Rolle gespielt hat. Zwar haben die Protagonisten dieser Interpretation in einigen Passagen auf dieses Phänomen hingewiesen, aber das geschah merkwürdig unsystematisch. Man mag das auf die methodischen Schwierigkeiten der Sozial- und Gesellschaftsgeschichte gegenüber solchen ideologischen Gebilden zurückführen. Faktum bleibt, dass der eigentliche Kern des Zivilisationsbruches in der deutschen Geschichte – die Vernichtung des europäischen Judentums – gerade nicht zum Ausgangspunkt für ein systematisches Forschen über dessen »besonders deutsche« Ursprünge genommen wurde. 68 Ein analytischer Vergleich von Antisemitismusformen ist ein großes Forschungsdesiderat.

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barg. Juden fühlten sich in der bürgerlichen Bildungskultur zuhause – und hatten dafür gute Gründe. Eine andere Entwicklung nach 1880 war prinzipiell jederzeit möglich; Potential war in diesem so nahen Verhältnis genug vorhanden. Schließlich – und das stellt den dritten Einwand dar – würde die Sonderwegsthese diese Studie zu sehr auf 1933 ausrichten; möglicherweise mit dem Ergebnis, den Blick nicht mehr für die Gegenwart schärfen zu können. Diese Arbeit stellt einen Versuch dar, deutsche Geschichte zu analysieren, mit der Intention, Inklusions- und Exklusionsmechanismen zu beschreiben, die bis heute gegenüber unterschiedlichen Gruppen von ausländischen »Mitbürgern« (und immer noch gegenüber Juden) funktionieren. In unserer permissiven, Differenz vermeintlich tolerierenden Gegenwartskultur vergessen wir leicht, wie fein und unmerklich solche Mechanismen funktionieren können. Debatten über eine »deutsche«, christliche »Leitkultur« erinnern uns an ganz andere Aspekte im hier verhandelten Gegenstand.69 Die bürgerliche Bildungskultur des 19. Jahrhunderts wurde zu einer »Leitkultur« stilisiert, die im historischen Vergleich zu ihren kulturellen Vorgängern, welche die ständische Gesellschaft vornehmlich nach dem Herkunftsprinzip strukturierten, permissiver und durchlässiger zu sein schien. In ihr entstanden eben jene Probleme, mit Ambivalenzen leben zu lernen, die aus der sozialen und kulturellen Nähe resultierten, welche diese Kultur nun zuließ. Fremdheit war dabei ein relatives Ergebnis von Distanzierungsprozessen, die ihr Ziel nie vollständig erreichten. Zugleich aber gelang etwas anderes: Die Vorstellung, man könne Kultur zu einer Art gesellschaftlichem Leitfaden fixieren, setzte sich durch. Das ist nicht nur ein Problem des 19. Jahrhunderts.

69 Vgl. die Januar-Ausgabe der Zeitschrift »Aus Politik und Zeitgeschehen« im Jahre 2001.

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1. Die Entstehung der bürgerlichen Bildungskultur und das neue Zusammenleben von Juden und Protestanten

»Der Cultus muß Cultur sein, die Religion muß Bildung werden, innere Befreiung und Erlösung des Menschen, seine wahre Wiedergeburt; nicht in Worten und Bräuchen, sondern in der That, im Charakter, in der Gesammtheit des Lebens, in der Reinigung und Heiligung alles echten menschlichen Wirkens.«1

Im Sommer 1806 rief eine Gruppe von jüdischen Aufklärern (Maskilim) um David Fränkel, dem Direktor der Dessauer Franzschule, ein neues Publikationsorgan ins Leben: »Sulamith, eine Zeitschrift zur Beförderung der Kultur und Humanität unter der jüdischen Nation«. Mit dieser Zeitschrift war das erste deutschsprachige Forum für die Haskala, die Aufklärungsbewegung unter Juden, geschaffen. Fränkel sah es in direkter Nachfolge des »Ha-Measef«, mit dem eine erste Generation von Maskilim eine hebräischsprachige Variante der moralischen Wochenschriften herausgebracht hatte.2 Die Ziele der »Sulamith« beschrieb Joseph Wolf in einem Eröffnungsartikel. Sie liefen auf ein umfassendes Bildungsprogramm hinaus: Jedes Volk sei zur Bildung, zur Sittenverbesserung fähig, auch das jüdische, das sich, so gab der Maskil unumwunden zu, in einer »nachtheiligen Gestalt« befände. Um diesen Zustand zu beheben, sei nicht nur der aufgeklärte »Geist der Duldung« nötig, mit welchem die Scheidewand zwischen Juden und Nichtjuden beseitigt werden könne. Eine »wohlthätige Wirkung« ließe sich erst erwarten, wenn »angeborne, aber schlummernde Kräfte« der Juden selber wieder angeregt werden würden.3 Die wichtigste Ressource für diese Regeneration sah Wolf in der jüdi1 Auerbach, Gesammelte Schriften, S. 187. 2 Allerdings haben neue Forschungen, vor allem von David Sorkin gezeigt, dass die jüdische Haskala ein sich über mehrere Generationen von Maskilim hinstreckendes, nicht eben einheitliches Phänomen war. Von einer frühen orthodoxen Variante, die noch weitgehend dem traditionellen Bezugsrahmen verhaftet blieb, müssen spätere Formen unterschieden werden. »Sulamith« war ein vergleichsweise spätes Forum, das sich bereits weit von diesem Rahmen entfernt hatte. Vgl. Sorkin, Berlin Haskalah. 3 Wolf, S. 2.

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schen Religion: »[…] sie, die überall auf Bruderliebe und Menschenwerth das größte Gewicht legt; sie, bey der allgemeine Vernunft und ewige Wahrheit, Tugend und Gerechtigkeit stets Hauptregel und Tendenz ist.«4 In dem in dieser Weise universal gekennzeichneten Judentum offenbarte sich für den Dessauer Reformer ein Stück »Urbildung«. Folgerichtig lautete das Credo der Zeitschrift: »Sulamith will Ehrerbietung gegen die Religion, d.h. gegen diejenigen Wahrheiten, welche des Namens Religion allein würdig sind, bei der Nation erwecken; […] sie will aber zugleich die Wahrheit zeigen, daß die Begriffe und Sätze, die in der jüdischen Religion enthalten sind, weder dem einzelnen Menschen, noch der bürgerlichen Gesellschaft im mindesten schädlich sind; sie will ferner die Nation zur nativen Bildung zurückführen, indem mit einer unumstößlichen Gewißheit dargethan wird, daß diese Urbildung ganz rein ist […].«5

Das Bildungsprogramm, für das eine neue Generation von Maskilim unter den Juden nunmehr auf deutsch zu werben begann, stellte aus ihrer Sicht weder eine komplette Neuerfindung noch einen Fremdimport aus der nichtjüdischen Kultur dar; es war eine Rückkehr zu jenen Werten, für die das Judentum gestanden hatte, bevor es – durch christliche Verfolgung bedingt – in einen beklagenswerten Zustand geraten war.6 Vieles an dieser Argumentation stand durchaus im Einklang mit den Vorstellungen, die auf protestantischer Seite von der Emanzipation der Juden entwickelt worden waren. Bei Christian Wilhelm von Dohm, dem aufgeklärten Beamten im preußischen Staatsdienst, der mit seiner Schrift »Über die bürgerliche Verbesserung der Juden« (1781/83) die Emanzipationsdiskussion eröffnet hatte, waren das Motiv des degenerierten Zustandes, in den die christliche Unterdrückung die Juden gebracht hatte, ebenso präsent wie Entwürfe für ihre Gesundung. Unter »bürgerlicher Verbesserung« verstand Dohm – wie die Maskilim – nicht nur die rechtliche Gleichstellung der Juden, es ging ihm zugleich um eine sittliche Reform. Geprägt durch die aufgeklärt-etatistische Tradition der preußischen Bürokratie wollte Dohm die Juden zu nützlichen Bürgern des absolutistischen Staates erziehen. Wie sich nicht nur bei Dohm – in einem seiner konkreten Verbesserungsvorschläge forderte er, »für die sittliche Bildung und Aufklärung der Juden zu sorgen«7 – erweisen sollte, prägte ein Bildungsprogramm auch die Vorstellungen vieler protestantischer Reformer.8 4 Ebd., S. 5. 5 Ebd., S. 9. 6 Vgl. Sorkin, Transformation of German Jewry, S. 93 ff. 7 Dohm, S. 120. Allerdings war der Bildungsbegriff zu Dohms Zeiten noch nicht so omnipräsent wie ab der Jahrhundertwende; er kam in seiner Schrift daher auch kaum an prominenter Stelle vor. 8 Auch wenn einzelne Stimmen, wie beispielsweise Wilhelm von Humboldt, die Verqui-

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Die jüdische Traditionsanknüpfung, die Wolf mit der Vorstellung einer jüdischen »Urbildung« umschrieben hatte, war durchaus vergleichbar mit einem protestantischen Verständnis des Bildungsideals, das auch hier zugleich als Ermöglichung und Milderung der gesellschaftlichen Veränderungen angesehen wurde.9 In dieser Traditionserfindung ist keineswegs eine bloße Rechtfertigungsstrategie der Maskilim zu sehen, als ob sie zu kaschieren versuchten, dass sie den Juden Emanzipationskonzepte von außen, d.h. aus der nichtjüdischen Umwelt aufdrängten. Vielmehr muss man Wolfs Konzeption für die Zeitschrift »Sulamith« als einen jener Versuche verstehen, das neuzeitliche Bildungsideal in ein jüdisches Projekt umzuformen. Wie viele Protestanten konnten Juden im 19. Jahrhundert dieses Ideal als ihren eigenen Traditionen angemessen begreifen. Wolfs »Urbildung« sollte darüber hinaus einen weiteren Aspekt vorbereiten, der später in der Konfrontation von jüdischen und protestantischen Bürgern besonders wichtig wurde: Weil es jüdischen Traditionen zu entstammen schien, wurde das Bildungsideal Teil eines jüdischen Universalismus – Wolf hatte von Bruderliebe, Menschenwert und allgemeiner Vernunft gesprochen –, mit dem die Fortexistenz jüdischer Identitäten gerechtfertigt werden konnte. Protestantischer Bildungsemphase nicht unähnlich, sollte die Kulturmission der Juden in der Verbreitung des Bildungsideals liegen. Um die Bedeutung dieser Nähe von Juden und Protestanten in der bürgerlichen Bildungskultur ermessen zu können, soll im Folgenden die Entstehung der bürgerlichen Bildungskultur thematisiert werden. Dabei wird es zunächst um das neuzeitliche Bildungsideal und dessen Auswirkungen auf den jüdischen Akkulturationsprozess gehen. Wie dieses Bildungsideal zur Grundlage einer Reform der bürgerlichen Sozialisationsinstanzen wurde und dazu beitrug, dass sich die bürgerliche Bildungskultur entwickeln konnte, ist Thema daran anknüpfender Überlegungen. Diesen Bereich abschließend, soll das Verhältnis von gebildeten Juden und Protestanten diskutiert werden, das sich im zweiten Jahrhundertdrittel herauszukristallisieren begann und das auf beiden Seiten von einer legitimen Hoffnung auf ein friedliches und produktives Zusammenleben begleitet wurde. Obwohl dieser Optimismus angesichts der sozialen und kulturellen Integrationsfortschritte bereits vor der Reichsgründung gerechtfertigt erschien, sind bei genauerem Hinsehen schon Vorboten ckung von kultureller Anpassung und rechtlicher Emanzipation ablehnten, weil der Staat »kein Erziehungs-, sondern ein Rechtsinstitut« sei, so setzte sich auch in der Emanzipationsgesetzgebung vieler deutscher Staaten (z.B. im Emanzipationsedikt Badens von 1809) dieser »Quid pro quo«-Vertrag durch. Vgl. Rürup, Emanzipation und Antisemitismus sowie Sorkin, Emancipation and Assimilation. 9 Das Konzept der Traditionserfindung hat zuerst Volkov für die jüdische Geschichtsschreibung fruchtbar gemacht: Volkov, Erfindung einer Tradition. Vgl. allgemein Hobsbawm und Ranger.

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für problematischere Wahrnehmungen erkennbar. An der Genese der entsprechenden Muster waren insbesondere literarische und wissenschaftliche Werke beteiligt, wie in jeweils einem Kapitel ausführlicher darzustellen sein wird. Am Ende dieser Konstruktionsprozesse stand bereits ein gebildetes Syndrom gegen gebildete Juden, wie ein Blick auf Richard Wagners Schrift »Das Judenthum in der Musik« offenbaren wird. Wie aus der kulturellen Annäherung gleichzeitig kulturelle Abgrenzungen werden konnten und in welche Position das die Juden in der bürgerlichen Bildungskultur brachte, wird abschließend zu diskutieren sein.

1.1 Das neuzeitliche Bildungsideal und der jüdische Integrations- und Akkulturationsprozess in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts Der Bildungsbegriff entsprang, geistesgeschichtlich betrachtet, einem komplizierten Geflecht aus pietistisch-mystischer Tradition, Aufklärungspädagogik und neuhumanistischem Denken.10 Seine Herkunft lag dabei im Bereich des Religiösen – eine Tradition, die dem Begriff stets anhaftete und die sich in seiner späteren Geschichte und derjenigen der Bildungskultur fortsetzte.11 Bereits bei spätmittelalterlichen Mystikern waren die Begriffe »Bildung« und »bilden« zentrale Vokabeln. Im Pietismus wurde dann die Vorstellung prominent, dass sich Gott in die Menschen »einbildet« und sie nach seinem Ebenbild »bildete«. Da auch Natur und Mensch zu bildenden Kräften wurden, schuf der Pietismus bereits Anknüpfungspunkte für eine säkulare Verwendung des Begriffes. Die Übertragung des Bildungsbegriffes in den pädagogischen Bereich, die etwa in der Mitte des 18. Jahrhundert stattfand und die das neuzeitliche Bildungsideal hervorbrachte, stellte ebenfalls ein pietistisches Erbe dar, von dem viele Autoren dieser Transformationsphase (wie Klopstock, ja selbst noch Herder ) beeinflusst waren. Wie in der gesamten deutschen Aufklärung (etwa im Vergleich mit der französischen Variante) ein zwiespältigeres Verhältnis zur (protestantischen) Religion vorherrschte, ist auch für den Bildungsbegriff kein eindeutiger semantischer Bruch mit dem religiösen Erbe festzustellen. Es lässt sich vielmehr behaupten, dass die Verschränkung von (protestantischer) Religiosität mit aufklärerischen Auffassungen eine spezifische Vorstellung von innen geleitetem Individualismus generierte.12 10 Vgl. Vierhaus. 11 Zu den religiösen Ursprüngen des Begriffes vgl. Schaarschmidt, bes. S. 28 ff. 12 Vgl. Bollenbeck.

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Im neuzeitlichen Bildungsideal, wie es sich – auf dem religiösen Erbe des Begriffes fußend – in der Wende zum 19. Jahrhundert ausbildete und das für bürgerliche Erziehungskonzepte prägend wurde, wirkten verschiedene geistesgeschichtliche Stränge zusammen. Als Reaktion auf den Terror der Französischen Revolution verbreitete sich – besonders prominent in Schillers »Über die ästhetische Erziehung des Menschen« – die Auffassung, dass vor der politischen Emanzipation des Menschen zum Bürger dessen individuelle Selbstvervollkommnung nötig sei. Gebildetsein erschien somit als Voraussetzung politischer Handlungsfähigkeit. Gleichzeitig lieferte Goethes »Wilhelm Meister« ein Modell, das genrebildend für den bürgerlichen Bildungsroman der Folgezeit werden sollte. Das bürgerliche Individuum entwarf sich hierbei in einer allseitigen Selbstvervollkommnung, für die das Individuum die Konflikte zwischen Innenleben und Außenwelt überwinden musste.13 Harmonie, Vollkommenheit und Maß besetzten daher zentrale Sollstellen bürgerlicher Individualität. Ein ähnliches Ziel verfolgte der Neuhumanismus, insbesondere in seiner an Winkelmann anschließenden Verehrung der griechischen Antike. Hier erhielt das Bildungsideal auch seine Orientierung an einen Menschheitsgedanken; Universalismus wurde Teil der bürgerlichen Leitmaxime. Das Griechentum, so die Vorstellung, verkörpere weniger das kulturell begrenzte System einer spezifischen Nationalkultur, als es vielmehr universell akzeptablen Vorstellungen des Schönen und Wahren formvollendet Ausdruck verlieh.14 Die schrittweise Institutionalisierung der Altertumskunde trug solchen Ideen Rechnung und rechtfertigte das lange Zeit nahezu ungebrochene Primat des Griechischen im deutschen Bildungsideal. Schließlich fasste Wilhelm von Humboldt die unterschiedlichen Stränge zu seiner Bildungstheorie zusammen, in welcher der Bildungsbegriff endgültig zur zentralen Leitmaxime erhoben wurde. »Bildung« wurde hier zu einer allseitigen und harmonischen Entfaltung individueller Anlagen anhand von Bildungswissen, eine Persönlichkeitsentwicklung, die das Individuum um seiner selbst willen dazu bringen sollte, das Innenleben in immer neuen Konstellationen mit dem Weltgeschehen, vermittelt über Wissen, zu versöhnen.15 Nützlichkeitserwägungen, etwa im Sinne einer beruflichen Ausbildung, die in der aufklärerischen Pädagogik noch sehr wichtig gewesen waren, sollten hierbei keine Rolle spielen. Dieses Bildungsideal wurde von den deutschen Juden in der Phase seines Entstehens bereits adaptiert. Es lässt sich sogar zeigen, dass einzelne prominente Juden an diesem Umformungsprozess beteiligt waren.16 In diesem Zu13 Ebd., S. 131. 14 Vgl. Marchand. 15 Vgl. Bollenbeck, bes. S. 148 sowie Sorkin, Wilhelm von Humboldt. 16 Von zentraler Bedeutung ist hier Mendelssohn. Seine Wichtigkeit an der Schnittstelle von jüdischer und allgemeiner Bildungsgeschichte betont: Behm.

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sammenhang wird zumeist die soziale Offenheit des individualistischen Bildungsideals betont, das Juden, die außerhalb der ständischen Gesellschaft standen, Möglichkeiten zur Integration bot.17 Darüber hinaus hebt man die Rolle der Emanzipationsvorstellungen der nichtjüdischen Gesellschaft hervor, die als Gegenleistung für die rechtliche Gleichstellung einen Erziehungsprozess bei den Juden in Gang setzen wollte.18 Von entscheidender Bedeutung war jedoch, dass das Bildungsideal den Juden (wie den Protestanten) einen Modernisierungspfad bot, der sich mit den eigenen Traditionen verbinden ließ. In dieser Hinsicht haben nicht nur Protestanten, sondern auch Juden »Bildung« als Teil ihrer eigenen (religiösen) Vergangenheit gedeutet. Entscheidend für diese Anknüpfung war die Übergangsperiode von der traditionellen Gelehrsamkeit zur Haskala in ihren verschiedenen Ausformungen. Die Kontinuität von »Bildung« über den Bruch der (damit unvollständigen) Säkularisierung ihres Inhaltes und ihrer Formen hinaus entsprach dabei einem zentralen Interesse, und zwar bei Juden und Protestanten. In der traditionellen jüdischen Gemeinschaft der Frühen Neuzeit war die Bedeutung religiöser Gelehrsamkeit besonders hoch.19 Sie lieferte nicht nur das erhebliche soziale Prestige für die Elite der Gemeinschaft, sondern wurde durchaus als ein Vermögen verstanden, das zu erstreben jedem Juden aufgetragen war. Zugleich stellte religiöses Wissen einen Wert an sich dar, der nicht in das Ziel eines bestimmten Berufes zu münden hatte, sondern unabhängig von weltlichem Nützlichkeitsdenken eine religiöse Pflicht war. Seit der Frühen Neuzeit stieg – lange Zeit durchaus im Rahmen der traditionellen Gemeinschaft – das Interesse an profaner Bildung auch im aschkenasischen Kulturraum, der im Vergleich zur sephardischen Gelehrsamkeit für diese Wissensgebiete traditionell weniger offen war.20 Seit dem Humanismus boten die profanen Wissenschaften dafür mehr Möglichkeiten an, da sie sich von der christlichen Kirche zunehmend emanzipierten. Gleichzeitig nahm die Bedeutung des säkularen Wissens durch die vermehrten Sozialkontakte zu Nichtjuden etwa im Wirtschaftsleben zu.21 Seit dem Beginn des 18. Jahrhunderts wurden Abhandlungen, in denen das sich ausbreitende Wissen der humanistischen Disziplinen zusammengefasst wurde, in hebräischer Sprache veröffentlicht, darunter Wörterbücher, linguistische und grammatische Untersuchungen, Darstellungen mittelalterlicher Philosophie oder Einführungen in die 17 Vgl. Mosse, Jüdische Intellektuelle. 18 Diese These ist besonders von Sorkin vertreten worden: Sorkin, Transformation of German Jewry. 19 Für einen Überblick vgl. Katz, Tradition and Crisis, S. 183 ff. 20 Einige konkrete Hinweise, dass unter Juden bereits seit dem 17. Jahrhundert Interesse und eine gewisse Vertrautheit mit nichtjüdischen Lesestoffen vorhanden war, finden sich bei: Daxelmüller. 21 Schochat macht vor allem Veränderungen im Wirtschaftsleben für die gestiegene Bedeutung profanen Wissens verantwortlich. Vgl. Schochat, S. 218 ff.

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Algebra. Etwa seit der gleichen Zeit wurden die traditionellen Lehrformen zunehmend kritisiert. Neben autoritativen Stimmen wie dem Rabbiner Jacob Emden lässt sich solche Kritik auch im »Liebes-Brief« (1749) von Isaak Wetzlar finden.22 Interessanterweise deuten einige Passagen des Werkes auf pietistische Einflüsse hin, wie das auch bei »Liebliche Tefilloh« von Aharon b. Samuel der Fall war.23 Die unmittelbare Durchbruchsphase der Haskala war von einem Konglomerat von traditionellen und säkularen Bildungsvorstellungen gekennzeichnet – durchaus in Analogie zur Situation im protestantischen Umfeld. Hier besaßen die Erziehungsdebatten unter protestantischen Aufklärern erheblichen Einfluss, zumal sie seit den 1770er Jahren in einem Berliner Kreis von jüdischen und protestantischen Reformern breit diskutiert wurden und somit auch eine lebensweltliche Fundierung erhielten. Dennoch sollte man die Tatsache nicht gering schätzen, dass die beteiligten Juden durchweg traditionell ausgebildet worden waren und somit die Suche nach Vermittlungsmöglichkeiten nahe lag. Ein besonders prägnantes Beispiel dafür stellte »Divrei schalom ve-emet« (»Worte des Friedens und der Wahrheit«) von Naphtali Herz Wessely dar. Das Toleranzedikt, das der österreichische Kaiser Joseph II. 1781 erließ, verlangte von den Juden der Habsburger Monarchie u. a., deutschsprachige Schulen für ihre Kinder einzurichten, und erlaubte gleichzeitig den Besuch christlicher Schulen. Wessely plädierte mit seiner Schrift an die jüdischen Gemeinden dafür, den kaiserlichen Erlass wohlwollend aufzunehmen und umzusetzen. Um das jüdische Erziehungswesen zu reformieren, gegen dessen zeitgenössischen Zustand Wessely z. T. heftig polemisierte, regte er die Unterscheidung zwischen einer »Wissenschaft des Menschen« und einer »göttlichen Wissenschaft« an. Die erste sei weltliche Allgemeinbildung, in der die Regeln der menschlichen Vernunft und die Erkenntnisse der verschiedenen profanen Wissenschaften anerkannt werden sollten; die zweite umfasse die religiöse Tradition. Auch gehöre zur »menschlichen Lehre« die »Weltweisheit in allen ihren Theilen, worunter die Sittenlehre« sowie die »Regeln des guten Geschmacks, des Schicklichen, des Anständigen« zu zählen seien.24 Sie müsse der religiösen Ausbildung im Erziehungsplan zeitlich vorangestellt werden. Ein Jude, der, behauptete Wessely, über kein profanes Wissen verfüge, sei ein »unnützes Mitglied« der Gesellschaft und könne auch die Torah nicht verstehen. Ein Jude, der nur in den profanen Wissenschaften und nicht in der »göttlichen Wissenschaft« unterrichtet worden sei, könne zumindest noch ein nützliches Mitglied der allgemeinen Gesellschaft werden.25 Wesselys Auffassung, dass die jüdische Religion als solche nicht ausreiche, um nützliche und 22 23 24 25

Vgl. Faierstein. Vgl. zur Bedeutung Emdens für die Haskala Feiner und Sorkin. Vgl. Stein, Liebliche Tefilloh, bes. S. 70. (Wessely), S. 3f. Ebd., S. 6.

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charakterlich umfassend gebildete Menschen hervorzubringen, erregte, wenig überraschend, die traditionalistischen Rabbiner. Auch wenn Wessely in späteren Repliken um einen Kompromiss mit seinen Gegnern bemüht war, hielt er doch daran fest, dass weltliches und religiöses Wissen im jüdischen Bildungswesen neu geordnet werden müssten.26 Er hatte insofern einen externen Bildungsimpuls in Form des Toleranzediktes aufgenommen, nach Anleihen in der eigenen Tradition gesucht und so das erste systematische Werk des modernen jüdischen Bildungswesens geschaffen. Die zentrale Neuerung lag darin, den profanen Wissenschaften im Vergleich zum religiösen Studium eine umfassendere, gar größere Bedeutung beizumessen. Aus dieser Perspektive begann die Haskala mit einem Bildungsproblem: die (Neu-)Ordnung von traditionellen, dem religiösen Bezugssystem verpflichteten Erziehungsvorstellungen und modernen, an säkularen Wissensbeständen orientierten Auffassungen. Die weiteren Diskussionen unter den Maskilim, die insbesondere auf vielen Seiten des hebräischen »Ha-Measef« geführt wurden, verschärften die Frontstellung gegenüber den traditionellen Unterrichtsformen, die sie als veraltet und rückständig brandmarkten. Im späten 18. Jahrhundert bildeten fast ausschließlich die Maskilim unter den Juden diejenige Gruppe, die ihr Leben und ihren Alltag nach dem neuen Bildungsideal organisierte. Sie waren in der Regel Autodidakten, die fast nie eine höhere Schulbildung genossen und auch nur in Ausnahmefällen eine Universität besucht hatten. In der Regel hatten sie hingegen durchaus noch die traditionellen Einrichtungen wie Cheder oder sogar Yeshiva durchlaufen und verfügten somit über Kenntnisse des normativen Judentums. Ihre Hinwendung zu säkularen Stoffen der nichtjüdischen Umwelt verursachte nicht selten erhebliche innere Konflikte; eine Verbindung von traditionellem, jüdischem und neuem, säkularem Bildungswissen konnte nur in Einzelfällen gelingen. Moses Mendelssohns Biographie exemplifiziert viele dieser Aspekte und insbesondere die grundlegende Orientierung auf das individualistische Bildungsideal.27 Der gebildete Charakter Mendelssohns war bereits zeitlebens Legende, aber im Berlin des späten 18. Jahrhunderts lassen sich noch andere Beispiele finden: der Hofjude, Kunstliebhaber und Schriftsteller Benjamin Veitel Ephraim, der Mediziner und Literaturkritiker Marcus Herz oder der Kaufmann und Philosoph Salomon Gumpertz. Besonders charakteristisch für dieses noch nicht institutionalisierte Bildungsstreben waren die berühmten Salons und die in ihnen organisierte Geselligkeit. In einigen Berliner Häusern etablierten sich solche Einrichtungen, die oft von jüdischen Frauen geleitet und besucht wurden und in denen man sich besonders mit literarischen und kulturellen Themen beschäftigte.28 Ebenfalls der Geselligkeit und der Charakterformung soll26 Vgl. für entsprechende Gegenschriften sowie Wesselys Reaktion Eliav, S. 54 ff. 27 Vgl. Altmann sowie Sorkin, Moses Mendelssohn. 28 Vgl. Hertz. Zur allgemeinen Funktion der Salonkultur vgl. Gaus.

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ten in dieser Phase die Freimaurerlogen dienen: 1790 wurde in Berlin die »Toleranzloge« gegründet, in der auch Berliner Juden verkehrten. Ihr blieb jedoch die Anerkennung durch die deutsche Großloge verwehrt.29 Auf den verschiedensten Gebieten lässt sich somit erkennen, dass eine kleine Gruppe städtischer Juden danach strebte, in der Erfüllung des Bildungsideals ihrer protestantischen Umwelt zu entsprechen. Die nachfolgende Generation von Maskilim intensivierte den Kampf gegen die Tradition: Sie verließen, im Gegensatz zu Wessely, welcher der traditionellen Gelehrsamkeit entstammte, den Rahmen des normativen Judentums weitgehend und plädierten für eine offensive Adaptation von Bildungskonzepten aus der protestantischen, aufklärerischen Umwelt. Insbesondere das Erlernen der deutschen Sprache wurde für diese Gruppe zu einer zentralen Forderung, so dass der Schritt zu einem deutschsprachigen Publikationsorgan – zu »Sulamith« – logisch folgte. Zugleich war nicht nur der eingangs zitierte Text von Wolf, mit der die neue Zeitschrift eröffnet wurde, ein Anzeichen für den Versuch der Maskilim, ihre Bildungsvorstellungen als Fortsetzung der jüdischen Tradition zu verstehen. Obwohl die Haskala protestantische Konzepte der Aufklärung übernehmen und für einen Neuanfang fruchtbar machen wollte, gab es Anknüpfungspunkte in der eigenen Tradition, die nicht nur aus rhetorischen Erwägungen für den neuen Anfang in Dienst genommen wurden. Vielmehr war das ein Resultat einer – im doppelten Sinne – aufhebenden Transformation des Religiösen am Beginn der jüdischen Neuzeit. Dass dabei der Bildungsbegriff zu einem Zentralbegriff auch der jüdischen Selbstverständigungsdebatte werden konnte, lag letztlich an seiner Fähigkeit, diese Gemengelage zu repräsentieren – eine Fähigkeit, die er auch in der protestantischen Begriffsverwendung besaß.30 In ihm ließen sich traditionelle, religiöse Vorstellungen mit einem säkularisierenden Neuerungspotential vereinen, so dass an »Bildung« geglaubt werden konnte: Das Resultat – auf jüdischer wie protestantischer Seite – war eine Art postreligiöser Frömmigkeit, mithin die Säkularreligion Bildung.

29 Vgl. für den Kontext Hoffmann, Brothers or Strangers? sowie Katz, Jews and Freemasons. 30 In der Studie von George L. Mosse findet dieser Aspekt zu wenig Würdigung. Die Adaptation des Bildungsideals erscheint bei ihm als Teil einer Säkularisierung; wie stark gerade das Bildungsstreben im 19. Jahrhundert religiös aufgeladen war, erörtert Mosse nicht. Mit dieser Nichtberücksichtigung war dann auch seine Unterscheidung zwischen einem rationalen (aufklärerischen) Bildungsstreben der Juden und einem irrationalen (romantischen) der Protestanten möglich, wobei Mosse zwar von einer »weltlichen Religion« spricht, in ihr aber das weltliche Element überbetont: »Das Humanitätsideal war tatsächlich ein von den Offenbarungsreligionen unabhängiger weltlicher Glaube geworden – jedoch ein Glaube, der nicht etwa blind vertraute und dessen Wahrheiten nur ein durch stete Bildungsbemühungen geschärfter kritischer Verstand zu entdecken vermochte.« Mosse, Jüdische Intellektuelle, S. 42.

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1.2 Die Entstehung der bürgerlichen Bildungskultur und die gebildeten Juden in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts Elemente der Spätaufklärung, der Klassik und des beginnenden Neuhumanismus transformierten den protestantischen Bildungsbegriff zu einem Bildungsideal. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts etablierten sich durch das kollektive Streben nach diesem Ideal und mit Hilfe staatlicher Intervention Strukturen, die hier als bürgerliche Bildungskultur bezeichnet werden sollen. Der preußisches Staat trieb in dieser Phase gesamtgesellschaftlicher Reformen insbesondere die Institutionalisierung des Bildungsideals in den modernen Sozialisationsinstanzen Schule und Universität voran. Dieses Ideal hielt damit allmählich auch Einzug in die familiäre Primärsozialisation, mussten doch in der bürgerlichen Familie die Voraussetzungen für den späteren schulischen und universitären Erfolg gelegt werden. Um die benötigte gesellschaftliche Mobilisierung zu verstetigen, wurden in der Folgezeit besondere Vorkehrungen geschaffen, die im Bildungssektor individuellen Aufstieg belohnen sollten: Das »Berechtigungswesen« wurde installiert, d.h. ein System staatlicher Prüfungen an Schulen und Universitäten, deren erfolgreicher Abschluss den Zugang zu bestimmten Berufen eröffnete.31 Eine oder mehrere dieser Bildungsinstitutionen zu durchlaufen, war somit staatlicherseits sanktioniert; ein entsprechender Abschluss mit einer beruflichen Karriere eng verbunden und zugleich mit hohem Prestige versehen. Daher richteten sich die Hoffnungen des aufstiegswilligen Bürgertums auf diese Institutionen. Staatliche und gesellschaftliche Mobilisierung konnten sich so verzahnen. Zur Bewertung der Bildungsreformen muss allerdings auf folgenden Tatbestand hingewiesen werden: Es lag teilweise an den finanziellen, administrativen und politischen Grenzen der Reformversuche, dass das eigentliche Ziel der Reformer (insbesondere Humboldts), eine »Allgemeinbildung« in einem durchaus egalitären Sinne durchzusetzen, von einem nach Schichten und Klassen organisierten Ausbildungswesen konterkariert wurde. Die Rede von der Allgemeinbildung stand somit bald im Widerspruch zur realen Ordnung des Bildungssystems, da eine entsprechende Ausbildung praktisch bürgerlichen Kreisen vorbehalten blieb. Die Auswirkungen dieser Institutionalisierung in der Reformzeit schlugen sich auch in der Sprache nieder:

31 Eine sozialer Kreislauf entstand: »Die Gebildeten an Universitäten und die Meinungsführer in der Literatur formulierten, was Bildung sei, die hohen Beamten legten Bildungsgänge und Examina fest, welche den Eintritt in den Kreis der Gebildeten regulierten, die Heranwachsenden traten in diesen Bildungskreislauf ein, qualifizierten sich in ihm, um ihrerseits zu Interpreten, Verwaltern, Multiplikatoren von Bildung und zu Experten für die höheren Aufgaben in Wissenschaft, Staat und Gesellschaft zu werden.« Jeismann, S. 16f.

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Ab etwa 1830 wird der Aspekt der Bildung für den Bürgerbegriff entscheidend.32 Die Entstehung der Bildungskultur aus dem Bildungsideal erfolgte in dieser Phase durch die kulturprägende Kraft der Bildungsinstitutionen in der bürgerlichen Sozialisation. Zu keinem Zeitpunkt ging es an diesen Institutionen lediglich um die Verteilung von Bildungspatenten an ihre aufstrebenden Absolventen. Ein gleichrangiges Ziel stellte die Sozialisation in eine bestimmte Kultur dar.33 Das Distinktionspotential der Bildungskultur basierte auf der besonderen gesellschaftlichen Wertschätzung des Bildungsideals, die sowohl aus der staatlichen Privilegierung durch das Berechtigungswesen als auch aus der Tatsache resultierte, dass das Ideal das individualistische Leistungsdenken des Bürgertums verkörperte. Das kulturelle und soziale Kapital, das die Teilhabe an der Bildungskultur verlieh, muss für die Gesellschaft des 19. Jahrhunderts besonders hoch veranschlagt werden.34 Die Kenntnis der klassischen Sprachen oder des Literaturkanons konnten in Form von Bildungszitaten jederzeit mobilisiert werden; das wirkte nach außen distinktiv und innerhalb der Bildungselite zugleich vergemeinschaftend. Die Phase der Ausbildung von der Primärsozialisation in der Familie bis zum Universitätsabschluss wurde im 19. Jahrhundert zunehmend zu einem eigenen Lebensabschnitt, der aus der Perspektive des Einzelnen von der Berufswelt der Erwachsenen abgehoben war. Der entsprechende Alltag in den Bildungsinstitutionen verklärte sich nicht nur im Rückblick, wie ein Blick auf bürgerliche Autobiographien zeigt. Er konnte auch von den Teilnehmern selbst und von deren Umfeld zunehmend als eigene Welt beschrieben werden. Zugleich wirkten in vielerlei Hinsicht Anschauungen und Praktiken dieser Phase durchaus weiter. Das galt gerade für persönliche Bindungen, die in dieser Zeit geknüpft wurden: Die Bedeutung dauerhafter Schul- und Studentenfreundschaften im weiteren Leben lässt sich anhand vieler Biographien nachzeichnen. Überhaupt waren diese Institutionen der Hort inniger Beziehungen zwischen Gleichaltrigen und (in der Regel männlichen) Gleichgeschlechtlichen. In Abgrenzung zu den Lehrkräften oft nur intensiviert, kam es hier zu typischen Vergemeinschaftungen, welche die bürgerlichen Verkehrsformen prägten. Besonders deutlich wird die kulturprägende Kraft der Bildungsinstitutionen vor allem auch in jenem Alltag, der um sie herum organisiert wurde. 32 Vgl. Engelhardt. 33 In den üblichen sozialgeschichtlichen Analysen zum »Bildungsbürgertum« gehen solche Aspekte stets verloren, etwa wenn »Bildungsbürger« dadurch definiert werden, dass ihre »Lebenslage und Lebenschancen primär durch den Besitz und die Verwertung von Bildung (oftmals in Form von Bildungspatenten)« geprägt seien. Kocka, Bildungsbürgertum, S. 9. 34 Man kann für die Bildungskultur Bourdieus Terminologie weitgehend folgen: Auch seine Unterscheidungen des kulturellen Kapitals in eine habituelle, objektivierte und eine institutionalisierte Variante lassen sich mühelos übertragen. Vgl. allgemein Bourdieu, Die feinen Unterschiede sowie zur Terminologie zusammenfassend Bourdieu, Ökonomisches Kapital.

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Das reiche Organisationsgeflecht, das sich in geringerem Umfang bereits unter Schülern, aber vor allem unter Studenten ausbildete, ließ insbesondere die Universitätszeit zu einem prägenden Erlebnis werden. Hier wurden nicht nur eigenständige Riten (wie das Mensurwesen schlagender Verbindungen), eine eigene Sprache und eigene Moral- und Ehrvorstellungen gepflegt. Hier kam es auch zur Ausbildung gemeinsamer Wahrnehmungsmuster und zur Prägung interpersonaler Kommunikationsbeziehungen. Zusammenfassend lässt sich somit feststellen: Das Absolvieren des Gymnasiums oder der Universität bedeutete nicht nur, bestimmte Chancen auf einen Berufsweg zu erhalten, sondern damit wurde die Grundlage für einen »gebildeten« Habitus gelegt, d.h. die Absolventen verfügten über bestimmte Kulturtechniken, waren Mitglieder einer Gruppe mit einem bestimmten Selbstverständnis, hatten die Weltanschauungen dieser Gruppe in die eigenen Weltwahrnehmungen internalisiert, waren in der Lage, mit anderen »Gebildeten« zu kommunizieren und vor dem Hintergrund dieser Erfahrungen auch im späteren Leben gemeinsam zu handeln. Solche »realen« Kommunikationsund Interaktionsstrukturen der gebildeten Bürger kamen zugleich nur zustande, weil der »gebildete Bürger« ein Produkt der Imagination wurde. Das Bildungsideal wirkte mobilisierend auf die Gesamtheit der Bürger, die mit ihrem Streben nach diesem Kapital die lebenslange Aufgabe akzeptierten, an sich selbst zu arbeiten. Auf diese zwei Aspekte – der gebildete Bürger als Produkt der Imagination und als »realer« Ausgangspunkt kollektiver Strukturen – griffen Menschen im 19. Jahrhundert zurück, wenn man ihnen jemanden als »gebildet« vorstellte oder wenn sie sich selbst in dieser Weise einschätzten. Wie wirkte sich nun diese Erweiterung des Bildungsideals zur Bildungskultur auf die deutschen Juden aus? Die rechtlichen Veränderungen im frühen 19. Jahrhundert boten den Juden neue Möglichkeiten, gerade auch im Bildungswesen. Die Zahl der jüdischen Schüler und Schülerinnen an höheren Schulen stieg ebenso wie die der Studenten. Auch wenn von diesen Neuerungen zunächst nur eine kleine Elite profitierte, begann sich doch die jüdische Gemeinschaft mit Hilfe des Bildungsideals zu erneuern. Die Maskilim bemühten sich seit dem späten 18. Jahrhundert um konkrete Reformschritte im Bereich des Schulwesens. Bis 1816 wurden im deutschsprachigen Raum zehn neue jüdische Schulen eröffnet, wovon die Jüdische Freischule in Berlin, die JacobsonSchule in Seesen und das Frankfurter Jüdische Philanthropin wohl die bekanntesten waren.35 Jedoch wird man hierbei im Blick behalten müssen, dass diese philanthropischen Projekte für Kinder armer und mittelloser Familien in den jeweiligen Gemeinden gedacht waren. Die Kinder der sich verbürgerlichenden Juden gingen nur in geringem Umfang auf jüdische Schulen. In der Frühphase der Emanzipation und auch danach wurden sie noch häufig von 35 Vgl. Eliav, S. 91 ff. sowie für ein Beispiel Schlotzhauer.

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Privatlehrern im Haus der Familie unterrichtet, wobei das Curriculum schon länger säkulare Inhalte umfasste. Nachdem in der ersten Jahrhunderthälfte viele deutsche Staaten die allgemeine Schulpflicht auch für Juden eingeführt hatten, ließ sich das nur noch in einzelnen Fällen mit einem staatlich approbierten Lehrer fortsetzen. Durch staatliche Interventionen wurden jetzt jüdische Grundschulen geschaffen, die erst in der zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts wieder an Bedeutung für die Elementarausbildung der deutschen Juden verloren. Weil es kaum weiterführende jüdische Schulen gab, war schon nach dem Abschluss der Grundschulausbildung der Wechsel an eine christliche höhere Schule nötig. Der Zugang zum höheren Schulwesen konnte jedoch noch bis weit ins 19. Jahrhundert ein Problem sein. Zwar hatte die »Karlsschule« in Stuttgart schon 1785 ihre Türen für Juden geöffnet; ihr war 1802 das »Johanneum« in Hamburg gefolgt. Doch es konnte noch 1826 passieren, dass der spätere Herausgeber der »Allgemeinen Zeitung des Judenthums«, Ludwig Philippson, nur nach längeren Kämpfen in der »Lateinischen Schule« in Halle Aufnahme fand.36 Eine wichtige Gruppe, aus deren Reihen auch die Haskala entscheidende Impulse erhalten hat, waren die jüdischen Studenten. Im Laufe des 18. Jahrhunderts erfreute sich das Studium bereits einen gewissen Popularität: Die Gesamtzahl ist auf etwa 300 Studenten geschätzt worden, wobei vor allem im letzten Drittel eine starke Zunahme zu beobachten ist.37 Der überwiegende Teil bestand aus Medizinern, denen es seit dem frühen 18. Jahrhundert möglich war zu promovieren. In anderen Disziplinen konnten Juden ohne Taufe lange Zeit keinen Abschluss erhalten. Auf eine universitäre Karriere zu hoffen, war ohne Konversion ebenfalls unrealistisch. Zwar gab es im Vormärz in einzelnen deutschen Staaten einige jüdische Privatdozenten, doch das blieben Ausnahmen. In Preußen hatte man Juden 1822 den Weg zu einer Professur versperrt. Diese (mit Ausnahme der Medizin) schlechten Aussichten hielten dennoch viele nicht vom Studium ab. Die Akademisierung der deutschen Juden schritt weiter voran. Wie grundlegend die bürgerliche Bildungskultur die jüdische Selbstwahrnehmung zu verändern begann, lässt sich auch an der auf die Maskilim folgende Generation von jüdischen Intellektuellen ablesen. Nachdem das Primat der traditionellen religiösen Gelehrsamkeit immer weiter erodiert war, wurde nunmehr eine andere Form einflussreich, jüdische Identität neu zu formulieren: die Wissenschaft des Judentums, die ebenfalls als Teil jener Integration von Juden in die bürgerliche Bildungskultur verstanden werden muss.38 1819 gründete eine neue Generation junger Juden, die an der Universität ausgebildet worden war und die zeitgenössischen intellektuellen Trends verinnerlicht 36 Vgl. Toury, Eintritt der Juden, S. 180. 37 Vgl. Richarz, Eintritt der Juden, S. 46f. 38 Vgl. allgemein für den Zusammenhang Schorsch, From Text to Context und Funkenstein.

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hatte, den Verein für Cultur und Wissenschaft der Juden.39 Das Ziel dieser Gruppe – der sich später so berühmte Persönlichkeiten wie Heinrich Heine, Eduard Gans oder Leopold Zunz anschlossen – lag in dem Unterfangen, jenseits der religiösen Tradition das Judentum als Ganzes zu erforschen, um so zu einem erhaltenswerten Kern jüdischer Identität vordringen zu können. Die Juden über sich selbst aufzuklären, um somit Kriterien für ihre sinnvolle Veränderung, d. h. die Verbürgerlichung zu gewinnen – das sollte eines der beiden großen Vorhaben der Wissenschaft des Judentums werden. Die andere Funktion dieser Wissenschaft richtete sich nach außen: Sie sollte die Emanzipation rechtfertigen. Wenn Protestanten deutlich gemacht werden könnte, dass das Judentum eine andere, ebenbürtige Geschichte besitze, dann würden sie, so hofften jüdische Wissenschaftler, den Juden das »Bürgerrecht des Geistes« verleihen.40 Die Verbürgerlichung anhand eines Bildungsideals steuerte nahezu zwangsläufig auf eine wissenschaftliche Unterfütterung zu, und das nicht nur aufgrund der gestiegenen Wertschätzung der (historischen) Forschung im Geistesleben des beginnenden 19. Jahrhunderts allgemein. Individuelle »Bildung« basierte auf einem Bildungswissen, das nicht zuletzt die Geistes- und Kulturwissenschaften bereitzustellen und an die sich ausformenden Bildungsinstitutionen weiterzugeben hatte. Die individuelle Adaptationsleistung ausgerichtet am Bildungsideal glich zugleich dem methodischen Erarbeiten von Kenntnissen über die Welt und der eigenen (geschichtlichen) Identität, das gerade den Geisteswissenschaften zugrunde lag. Gleichfalls ergab sich die Hochschätzung von Wissenschaftlichkeit aus der besonderen Bedeutung der traditionellen Gelehrsamkeit im Judentum, umgeformt mit Hilfe des unvollständig säkularisierten Bildungsideals. Allerdings konnte man an der Wissenschaft des Judentums auch stets die Grenzen der jüdischen Integrationsbestrebungen erkennen. Der Wunsch, diese neben anderen wissenschaftlichen Disziplinen und Themengebieten gleichberechtigt auch von gebildeten Protestanten anerkannt zu sehen, blieb bis ins 20. Jahrhundert hinein unerfüllt. Nicht nur hier galt: So sehr die Verbürgerlichung unter den Juden bereits im frühen 19. Jahrhundert auf eine Teilhabe an der bürgerlichen Bildungskultur drängte, so schwierig gestaltete sich das im Alltag. Da Juden aus vielen Vergemeinschaftungsformen ihrer protestantischen Umwelt – und die wissenschaftliche Forschung hatte hier symbolhaften Charakter – ausgeschlossen blieben, schufen sie seit dem Ende des 18. Jahrhunderts eine ganze Reihe von eigenen Institutionen, die sie, das Vorbild protestantischer Einrichtungen aufgreifend, mit dem Ziel entwarfen, die Integration in die bürgerliche Gesellschaft zu ermöglichen und dabei ihre jüdische Identität nicht zu verleugnen. Von besonderer Bedeutung war hierbei 39 Vgl. für diese Anfänge Ucko sowie Livné-Freudenthal. 40 Zunz, S. 58f.

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das jüdische Vereinswesen. Diese jüdische Parallelwelt bürgerlicher Existenz – auf den Begriff der »Subkultur« thesenhaft zugespitzt – reproduzierte lange Zeit im 19. Jahrhundert die Differenz zur protestantischen Umwelt, der sie nachempfunden war: Juden wurden Bürger, aber in ihren eigenen Institutionen und Welten.41 In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts bemühten sich die Juden in dieser »Subkultur« um eine Verbürgerlichung mit Hilfe der Bildungskultur. Dabei lässt sich der ihnen von außen auferlegte Druck, sich als Gegenleistung für die in Aussicht gestellte Emanzipation bürgerlich zu verbessern, im Nachhinein schwer von dem unter ihnen durchaus vorhandenen Veränderungswunsch trennen. Die Attraktivität der bürgerlichen Bildungskultur strahlte auf viele Juden aus, welche die jüdische Gemeinschaft ihrer Gegenwart an den entsprechenden bürgerlichen Maßstäben gemessen negativ bewerteten und daher die Verbürgerlichung zu ihrem eigenen Anliegen machten. Zugleich sahen sie in den neuen Möglichkeiten auch Anknüpfungspunkte an die jüdische Tradition. Verbürgerlichung und Bildungskultur standen für sie nicht im Gegensatz zu einer jüdischen Identität, sondern erschienen als deren Fortsetzung mit anderen Mitteln.

1.3 Das neue Verhältnis von Juden und Protestanten in der bürgerlichen Bildungskultur Juden eigneten sich die bürgerliche Bildungskultur während ihrer Entstehung an. Sie interessierten sich für den Bildungsbegriff, wie das Beispiel Mendelssohn zeigt, als dieser durch Klassik und Neuhumanismus zu einem Kardinalbegriff im protestantischen Geistesleben wurde. Sie erkannten die mobilisierende Funktion des Bildungsideals und strebten diesem – zumeist noch als Autodidakten – nach. Insbesondere junge Jüdinnen halfen in Salons die ersten überkonfessionellen Vergesellschaftungsformen zu organisieren, die für die Verbreitung dieses Ideals von großer Bedeutung waren. Schließlich nutzte kaum eine gesellschaftliche Gruppe die Chancen, die sich mit der Institutionalisierung des Bildungsideals in den bürgerlichen Sozialisationsinstanzen boten, so konsequent wie die Juden. Sie waren von Beginn an und im Verlauf des 19. Jahrhunderts immer stärker in der bürgerlichen Bildungskultur präsent. Es kann folglich keine Rede davon sein, dass sich Juden einer ursprünglich protestantischen Kultur bemächtigten; sie waren an ihrer Erzeu41 Vgl. Sorkin, Transformation of German Jewry. Dass Sorkin diese Argumentation auch für die späte Emanzipationsphase und sogar darüber hinaus aufrechterhält, wird deutlich in: Sorkin, Invisible Community.

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gung maßgeblich beteiligt. Ihr Aufstieg in die bürgerliche Bildungskultur wurde so Teil der Erfolgsgeschichte der deutschen Juden im 19. Jahrhundert. Auf politischem Gebiet sah es weniger positiv aus: Entgegen der Hoffnung, die unter deutschen Juden nach dem preußischen Emanzipationsgesetz von 1812 aufgekommen war, verbesserte sich ihre rechtliche Lage im Vormärz zunächst kaum, ja, in einzelnen Regionen und Bereichen kam es gar zu Rückschlägen.42 Es wurde folglich schnell klar, dass sie ihr ganzes Streben auf die soziale und kulturelle Integration und Akkulturation verlegen mussten, weil die rechtliche Gleichstellung mittelfristig nur zu erreichen sein würde, wenn sich hier Erfolge einstellten. In diesem Zusammenhang erhielt die Teilhabe an der bürgerlichen Bildungskultur – unabhängig von einer individuellen Hoffnung auf Anerkennung – kollektive Bedeutung. Der Nachweis, dass Juden zu diesem gesellschaftlich so bedeutenden Bereich ihren »Beitrag« leisteten, konnte wie kaum etwas anderes die volle rechtliche und politische Gleichstellung rechtfertigen. Das war die Lage am Abend der Revolution. In der Revolution 1848 explodierten vielfältige politische, soziale und ökonomische Krisenherde. In ihr wurde der Ruf nach einer Bildungsreform ebenso laut wie der nach der Emanzipation der Juden. Der Unmut über den Zustand des Bildungswesens war groß, gerade weil sich alle über dessen gesellschaftliche Bedeutung einig waren. Zwar war es nach 1815 zu einem Ausbau des Bildungssystems gekommen; das geschah jedoch mit der reaktionären Absicht, den bildungspolitischen Status quo zu verteidigen.43 Trotz der viel versprechenden Leitsätze von Allgemein- und Menschenbildung, mit der das Bildungsideal seit dem Ende des 18. Jahrhunderts propagiert wurde, hatte die Realität der Bildungsinstitutionen ganz anders ausgesehen. Ungeachtet der anfänglichen sozialen Mobilitätschancen gerade für Angehörige des Mittelstandes bestimmten zunehmend restriktive Aspekte die Bildungspolitik: Bildungsambitionen wurden begrenzt, und es herrschte eine deutliche Differenzierung zwischen Massen- und Elitenbildung vor. Insbesondere wurde das Gymnasium als Paradigma der höheren Schule durchgesetzt, so dass dessen Besuch durch ein immer differenzierteres Berechtigungswesen für immer mehr Berufskarrieren unabdingbar gemacht wurde.44 Durch die Reformpläne von 1848 und später wurde das Monopol der Gymnasien in Frage gestellt und mehr Berechtigungen für die Realschulen gefordert. Gleichzeitig trat jedoch auch bei Vorschlägen der Reformer deutlich hervor, dass den Gleichheitsforderungen im Bildungswesen weiterhin enge Grenzen gesetzt werden sollten. Eine hierarchische Abstufung im Schulwesen galt als notwendig, auch wenn 42 Vgl. Rürup, Tortuous and Thorny Path. 43 1810 gab es in Preußen 91 Gymnasien; 1864 waren es bereits 145. Die Zahl der Schüler an den höheren Schulen Preußens stieg von 21.000 (1822) auf 68.000 (1864). 44 Vgl. zum Gymnasium Kraul sowie zum Berechtigungswesen Lundgreen, Konstituierung des »Bildungsbürgertums«.

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das Postulat der Allgemeinbildung damit fragwürdig blieb. Für wie bedeutsam solche Fragen für die gesellschaftliche Organisation gehalten wurden, kann man spätestens an den Äußerungen zum Wahlrecht erkennen, das auch liberale Reformer fast immer an den Bildungsstand gekoppelt sehen wollten. Die Revolution politisierte Bildungsfragen in ungeahntem Ausmaß. Die meisten Forderungen nach Bildungsreformen scheiterten zunächst. Die Restaurationsphase setzte ein, wobei Friedrich Wilhelm IV. mit seiner Polemik gegen das aufmüpfige Bildungsstreben (»Afterbildung«) bereits die Stoßrichtung vorgegeben hatte. Die Forderung nach Bildungsreformen und besonders nach einer Aufwertung der Realschulen wurde mit revolutionären Umtrieben assoziiert; das Gymnasium mit seiner klassischen Sprachausbildung erschien als Bollwerk dagegen. Seit diesen Tagen bis weit ins Kaiserreich standen sich die Vertreter der realistischen und derjenigen der klassischen Bildung auch politisch als Reformer und Reaktionäre gegenüber. Die Klage über den um sich greifenden Materialismus, für den die Forderungen der Realschulmänner und später all derjenigen standen, die einen um naturwissenschaftliche und technische Kenntnisse erweiterten Wissenskanon forderten, etablierte sich nun ebenso wie das Hohelied auf die idealistische Gesinnung, mit welcher der etablierte Kanon verteidigt wurde.45 Der Reformdruck blieb trotz der restriktiven Politik in der Restaurationsphase bestehen und sollte in den späten 1850er Jahren zu ersten Umgestaltungen führen. Dass Preußen 1859 in der neuen »Unterrichts- und Prüfungsordnung der Real- und höheren Bürgerschulen« einige Realschulen zu »Realschulen I. Ordnung« aufwertete, brachte die Reformwünsche aber keineswegs zum Schweigen. Eher im Gegenteil läutete dieser Schritt den Anfang eines bis weit ins Kaiserreich hinein andauernden »Schulkampfes« über das gymnasiale Monopol ein.46 Die entsprechende Auseinandersetzung verursachte einige Unruhe unter gebildeten Bürgern. Die Spannungen wurden bis zur Reichseinigung nur selten gelöst, die Reformwünsche blieben zahlreich und die grundsätzlichen Aporien des Bildungssystems bestehen. Das konnte langfristig nicht ohne Folgen für die bürgerliche Bildungskultur bleiben, deren wichtigster Reproduktionsmechanismus die Sozialisation in den entsprechenden Institutionen darstellte. Durch die Revolution 1848 wurde auch die Emanzipation der Juden erneut auf die politische Agenda gesetzt.47 Vor allem in den ersten Monaten der Revolution schien die Zeitstimmung die Judenemanzipation notwendig zu fordern. Dazu kam es nicht zuletzt deshalb, weil viele Juden diese Revolution von Beginn an mitprägten: Sie kämpften auf den Barrikaden; sie engagierten sich 45 Vgl. zum allgemeinen Hintergrund der Debatten in diesen Jahren Gregory und WittkauHorgby. 46 Von einem Schulkampf spricht: Herrmann, S. 150. 47 Die Forschungsergebnisse zur Revolution fasst für die jüdische Geschichte zusammen: Rürup, Fortschritt und seine Grenzen.

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in den demokratischen Vereinen; jüdische Politiker wurden in die neuen Parlamente gewählt, wo sie z. T. sogar zu den führenden Persönlichkeiten gehörten. Gleichzeitig aber ereigneten sich, ebenfalls in der Frühphase der Revolution, antisemitische Ausschreitungen, vor allem in Südwest- und Mitteldeutschland und im östlichen Preußen. Diese Ausschreitungen waren ganz offenkundig nicht nur aus der wirtschaftlichen Notlage zu erklären, sondern verdeutlichten, dass auch in sich modernisierenden Gesellschaften mit antijüdischen Vorurteilen und einer entsprechenden Gewaltbereitschaft gerechnet werden musste.48 Diese Exzesse konnten die Diskussionen über die Judenemanzipation nur negativ beeinflussen, wobei sich im weiteren Verlauf der Revolution ohnehin zeigte, wie schwierig sich eine rechtliche Regelung gestaltete. Die meisten rechtlichen Fortschritte in den verschiedenen Staaten wurden nach der Revolution wieder zurückgenommen oder zumindest eingeschränkt. Langfristig betrachtet ergab die Revolution allerdings eine Art Moratorium. Die grundsätzlichen Argumente waren 1848 ausgetauscht, ihr Für und Wider erörtert. Es konnte keine prinzipiellen Zweifel mehr geben, dass mit dem Voranschreiten der Entwicklung in Richtung eines National- und Rechtsstaats auch die Emanzipation der Juden folgen würde. An den bemerkenswerten Auftakt, den die Revolutionstage somit in doppelter und widersprüchlicher Weise für die deutschen Juden bedeuteten, schloss sich eine erstaunlich ruhige Phase des wirtschaftlichen Aufstiegs und der sozialen Integration an. Während 1848 noch etwa die Hälfte der deutschen Juden arm gewesen war und nur 15–30 Prozent mit einem mittleren Einkommen den bürgerlichen Mittelschichten angehört hatten, so sah die Lage 1871 anders aus. Die Größe der jüdischen Mittelschichten hatte zugenommen, so dass das jüdische Groß- und Mittelbürgertum nunmehr über sechzig Prozent der deutschen Juden umfasste.49 Der wirtschaftliche Erfolg war insbesondere auf die Dynamik im Handel zurückzuführen, da dieser mit Abstand den bedeutendsten Berufszweig der deutschen Juden darstellte. Während 1843 dort ca. 48 Prozent aller preußischen Juden tätig waren, fanden 1861 hier bereits 57 Prozent eine Beschäftigung. Hinzu kamen die beginnende Industrialisierung, 48 Vgl. Rohrbacher. 49 Vgl. die Angaben bei: Toury, Soziale und politische Geschichte, S. 100 ff. Tourys Schätzungen aus den Steuerstatistiken, wonach 1871 über sechzig Prozent der deutschen Juden eine bürgerlich gesicherte Existenz führten, wird zwar häufig zitiert, aber kaum überprüft. Das liegt vor allem daran, dass die dafür nötigen Quellen, insbesondere die Angaben zur Einkommensstatistik nur selten vorliegen. Nur im Falle Breslaus kann man neben dem Steueraufkommen auch die Einkommen der dortigen Juden untersuchen. Das wurde von van Rahden unternommen, der zu dem Ergebnis kommt, dass innerhalb der bürgerlichen Schichten deutlicher unterschieden werden muss. In der generellen Tendenz, dass die Juden mehrheitlich dem Bürgertum angehörten, muss Tourys Aussage demnach differenziert werden: Der Anteil kleinbürgerlicher Existenzen war größer als angenommen, vor allem wenn man die Einkommen betrachtet. Jedoch scheint weiterhin gerechtfertigt zu sein, von einer erfolgreichen Verbürgerlichung der Juden zu sprechen. Vgl. van Rahden, Juden und andere Breslauer.

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die Expansion und Umstrukturierung des Finanzwesens, der Auf- und Ausbau des Transportwesens u. ä. Man wird also – trotz mancher Unsicherheiten angesichts der vorhandenen Zahlen, was den Grad der Verbürgerlichung angeht – eine generelle Tendenz konstatieren können: die »Tatsache eines spektakulären jüdischen Sozialaufstiegs«.50 Die Verbürgerlichung der deutschen Juden lässt sich gleichwohl nicht allein als sozialer Prozess begreifen, sondern muss als eine Integration in ein kulturelles Umfeld aufgefasst werden. Es erwies sich für die Juden als wichtig, die wirtschaftlichen Erfolge kulturell abzusichern. So stolz man auf die Fortschritte auch sein konnte, diese konnten die Anerkennung durch die nichtjüdische Umwelt nicht ersetzen. Dass dafür vielmehr bürgerliche Umgangsformen wie ein bürgerlicher Habitus und entsprechende Wertvorstellungen, kurz ein bürgerlich gebildeter Charakter notwendig war – diese Erkenntnis begann sich in immer weiteren Kreisen des deutschen Judentums durchzusetzen. In der Mitte des 19. Jahrhunderts reichte es nicht mehr aus, wie noch am Ende des 18. Jahrhunderts, einen solchen Charakter als Dilettant und Autodidakt anzustreben. Der formalisierte Besitz von Bildungspatenten wurde immer wichtiger, auch und gerade im gesellschaftlichen Verkehr des alltäglichen Lebens. Dass die Sprache der Zeitgenossen zwischen »gebildet« und »studiert« kaum mehr einen Unterschied machte, konnte auch den nach Anerkennung strebenden Juden nicht verborgen bleiben. Das erklärt zu einem nicht unerheblichen Teil ihre Bemühungen um die bürgerliche Bildungskultur, obwohl ihnen bei ihrer Karriereplanung auch mit einem höheren Schulabschluss und einem universitären Titel immer noch viele Steine in den Weg gelegt wurden. Die Phase nach der Revolution war von einem sich verbreiternden »Intellektualisierungsprozess der jüdischen Berufstätigkeit« gekennzeichnet.51 Bereits im Vormärz bildete sich eine intellektuelle Elite heraus, auch wenn dieser nur wenige aus jedem Jahrgang angehörten. Der überwiegende Teil der deutschen Juden erlebte hingegen bis zur Revolution kaum Veränderungen in ihrer Lebenswelt. Erst in der postrevolutionären Phase erfasste das Bildungsideal immer weitere Kreise der jüdischen Gemeinschaft. Als seit den 1830er Jahren die Aufnahme von Juden in eine höhere Schule nur noch selten Schwierigkeiten verursachte, ließ sich hier ein deutliches Wachstum verzeichnen. 1857 waren nur knapp sechs Prozent der fast 60.000 Schüler auf den höheren Schulen Preußens Juden. 1869 stieg ihr Anteil auf 8,6 Prozent. Während sich jedoch die Gesamtanzahl der Schüler nahezu verdoppelt hatte, verdreifachte sich der Anteil der jüdischen Schüler in diesem Zeitraum.52 Hier zeigt sich die Bedeutung, die einer guten Schulbildung unter den sich akkulturierenden Juden seit 50 Toury, Soziale und politische Geschichte, S. 113. 51 Ebd., S. 95. 52 Ebd., S. 174.

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Mitte des Jahrhunderts beigemessen wurde. Wenn man dem die Beobachtung aus den 1860er Jahren hinzufügt, dass beispielsweise unter den Berliner jüdischen Schülern eine deutliche Mehrheit und unter den Schülerinnen Zweidrittel an einer höheren Schule unterrichtet wurden, wird das ganze Ausmaß des Bildungsdrangs in dieser Stadt sichtbar.53 Andere Zahlen belegen das weiter: Wie sich anhand der Berliner Schulstatistik beispielhaft zeigen lässt, wurden insbesondere Gymnasien von Juden stark frequentiert, in weitaus größerem Umfang als z.B. von Katholiken. So kamen 1863 von den 3767 Gymnasiasten in Berlin immerhin 428 (oder 11,4 Prozent) aus einem jüdischen Haushalt, hingegen nur zwei Prozent aus einem katholischen und 86,6 Prozent aus einem protestantischen. Bei den anderen höheren Schulen Berlins ergab sich ein ähnliches Bild, wenn auch der Anteil jüdischer Schüler hier etwas geringer war.54 Die Juden, insbesondere in den großen Städten wie Berlin, wollten ihren wirtschaftlichen Erfolg in kulturelles Kapital für die nächste Generation ummünzen. Die Entwicklung der Schülerzahlen in der nachrevolutionären Phase deuten daher weniger auf das Ergebnis einer bereits abgeschlossenen Verbürgerlichung hin. Vielmehr handelt es sich um die Antizipierung eines weiteren sozialen Aufstiegs.55 Die akademische Ausbildung war in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts durchaus noch unattraktiv, weil Juden der Zugang zu einer universitären Lehrtätigkeit verwehrt blieb. Erst 1847 eröffnete ihnen Preußen die Möglichkeit einer akademischen Karriere, allerdings beschränkt auf die Fächer Medizin, Geographie, Natur- und Sprachwissenschaften. Trotz dieser ungünstigen Bedingungen entschieden sich erstaunlich viele Juden für ein Studium: 1852 studierten in Deutschland insgesamt knapp 14.000 Studenten, wovon geschätzte zehn Prozent jüdischer Herkunft waren. Für die preußischen Universitäten ergab sich dabei folgende Relation: Von gut 5500 Studenten entstammten laut der gleichen Schätzung mehr als 700 dem Judentum, also nahezu 13 Prozent.56 Auch hier wird somit deutlich, wie stark Juden mittels akademischer Ausbildung einen weiteren sozialen Aufstieg vorbereiteten, einen Aufstieg, der aufgrund der administrativen Rahmenbedingungen in der Restaurationszeit noch dornenreich war. Eine sozialgeschichtliche Betrachtung kommt dann an ihre interpretatorischen Grenzen, wenn das große Vertrauen in die zukünftige Bedeutung des Bildungswegs, das jüdische Eltern an den Tag legten, genauer in den Blick genommen wird. Warum sollte – um einen modellhaften Fall zu nehmen – ein 53 Toury gibt an, dass 58 Prozent der jüdischen Jungen und 66 Prozent der Mädchen eine höhere Schule Berlins besuchten. Ebd., S. 174. 54 Vgl. Wiese. Neben den vier königlichen sowie vier städtischen Gymnasien gingen eine königliche Realschule 1. Ordnung, vier städtische Realschulen 1. Ordnung sowie eine städtische Gewerbeschule 2. Ordnung in diese Statistiken ein. 55 Vgl. Richarz, Jüdisches Leben, S. 52. 56 Die Universitätsstatistiken enthalten bis in die 1880er Jahre keine Angaben zur Konfession. Für die Schätzung vgl. Toury, Soziale und politische Geschichte, S. 138.

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jüdischer Kaufmann Mitte des 19. Jahrhunderts seinem Sohn, der sofort im Unternehmen des Vaters angelernt werden konnte, nicht nur zu einem weiterführenden Schul-, sondern auch zu einem Universitätsbesuch raten, obwohl er wissen musste, wie schwierig sich die Berufschancen für Juden mit einer entsprechenden Ausbildung gestalteten? Das geschah aufgrund der besonderen Struktur und Bedeutung der bürgerlichen Bildungskultur. Ein Schul- und Universitätsbesuch eröffnete eben nicht nur bestimmte Chancen auf dem Arbeitsmarkt, er bedeutete auch den Zugang zu einer bürgerlichen Teilkultur, die für Juden gesellschaftliche Anerkennung versprach. Gleichzeitig erschien auf jüdischer Seite die Aneignung der bürgerlichen Bildungskultur eben nicht als Abkehr vom Judentum, sondern konnte auch Mitte des Jahrhunderts noch als Fortsetzung der jüdischen Identität mit anderen Mitteln angesehen werden. Insbesondere die sich in dieser Phase konstituierende jüdische Popularkultur verband die bürgerliche Bildungskultur mit Aspekten der jüdischen Identität. Es entstanden neue jüdische Zeitungen, von denen einige kurzlebige, andere (wie die »Allgemeine Zeitung des Judenthums«) dauerhafte und einflussreiche Einrichtungen waren. Jüdische Almanache, Kalenderblätter, aber auch literarische Werke erschienen, die sich ebenso wie religiöse Leitfäden explizit an bürgerliche Leser wandten und oft entsprechende Projekte von Protestanten nachahmten.57 Es entstand ein jüdischer Bücherklub, der sich die Verbreitung von Werken, die in dieser populären Weise zwischen Bildungskultur und Judentum vermittelten, mit großem Erfolg zur Aufgabe machte: das »Institut zur Förderung der israelitischen Literatur«, das Ludwig Philippson 1855 der Öffentlichkeit vorstellte.58 Auch solche Bemühungen um Popularisierung vertiefen den Eindruck, dass die bürgerliche Bildungskultur eine zusätzliche Attraktivität für viele deutsche Juden erhielt, weil sie mit der Suche nach einer eigenen modernisierten jüdischen Identität kompatibel war.59 Auch das alltägliche Zusammenleben von Juden und Protestanten wandelte sich nach der Revolution 1848. Die Revolutionsereignisse hatten diese Veränderungen schon symbolhaft angekündigt: Juden wie Gabriel Riesser oder Johann Jacoby betraten in den Revolutionstagen weithin sichtbar die politische Arena. Sie nahmen wichtige Positionen in den Parlamenten ein und forderten die Emanzipation der Juden als Menschenrecht. Die Gleichstellung sei Juden nicht mehr großzügig zu gewähren, sondern sie seien im Namen der Menschenrechte gleichberechtigt am Leben der Völker zu beteiligen. Diese prominenten Juden akzentuierten einen generellen Trend der nachrevolutionären Phase: Am öffentlichen Leben vor allem in den Städten nahmen Juden mehr Anteil, womit sich auch Fragen des alltäglichen Zusammenlebens verstärkt 57 Als Beispiel sei der häufig verschenkte Konfirmandenführer Ludwig Philippsons von 1867 erwähnt: Philippson. 58 Horch, S. 153 ff. 59 Vgl. Volkov, Erfindung einer Tradition.

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stellten. Neben die Parallelwelt der jüdischen Subkultur traten in den 1850er und 60er Jahren vielfältige gemeinsame Aktivitäten von Juden und Protestanten. Nun erhielten Juden – mit dem Anwachsen des liberalen Einfluss auf die Kommunalpolitik – auch vermehrt Zutritt zu gesellschaftlichen Bereichen und Institutionen, in denen sie zuvor nur selten anwesend waren oder sein wollten. Es gab die Möglichkeit, die eigenen Kinder auf eine jüdische oder eine nichtjüdische Schule zu schicken. Es war Juden freigestellt, an einer der Einrichtungen der Wissenschaft des Judentum oder an einer Universität zu studieren. Auch im Vereinswesen gab es jüdische Einrichtungen, die klar auf jüdische Interessen ausgerichtet waren, etwa im Wohlfahrtswesen oder im religiösen Bereich, aber auch allgemeine gesellige Vereine wie z. B. die Freimaurerlogen, die sich in dieser Phase Juden öffneten.60 Viele Juden bewegten sich seit dieser Zeit nur noch in ganz bestimmten Fällen in einer Juden vorbehaltenen »Sphäre«. Die separate jüdische »Subkultur« verlor zwar zu keinem Zeitpunkt vollständig ihre Bedeutung; sie wurde jedoch von vielen Juden erheblich weniger frequentiert und – wenn andere Optionen in der allgemeinen Kultur vorhanden waren – z. T. gar ignoriert. Sobald solche Wahlmöglichkeiten, in einer antisemitischen Welle beispielsweise, eingeschränkt wurden, konnte auf die entsprechenden Bereiche der »Subkultur« zurückgegriffen werden. Ziel vieler jüdischer Lebensentwürfe im 19. Jahrhundert blieb es jedoch, den Weg in die allgemeine Kultur nicht nur anzutreten, sondern ihn auch soweit wie möglich zu verfolgen, ohne dadurch die jüdische Identität zu verleugnen, ja, ohne sich grundsätzlich die Möglichkeit nehmen zu lassen, dieser Identität auch in eigenen Foren Ausdruck zu verleihen. Juden hatten auf diesem komplexen Weg zu lernen, wann sie sich wie in welchem Umfeld bewegten und welche Konsequenzen das für ihre Identität jeweils mit sich brachte.61 Im selben Atemzug wird man dieses Urteil jedoch auf öffentliche Aktivitäten einschränken müssen. Zu den privaten, intimen Lebensbereichen von Protestanten, die im Bürgertum vor allem mit der Familie assoziiert waren, fanden Juden nur selten Zugang. Insgesamt entstanden Beziehungen zu Protestanten zwar häufiger, aber sie waren zugleich »distanzierter, formeller und weniger herzlich und persönlich geblieben als man vielleicht erwarten könnte«.62 An der Geschichte einer Freundschaft lassen sich die hoffnungsfroh stimmenden Möglichkeiten, aber auch die erst allmählich sichtbar werdenden Grenzen ablesen, die das Zusammenleben von gebildeten Juden und Protestanten mit sich brachte. In den 1850er Jahren begegnete Theodor Mommsen dem jüdischen Altphilologen Jacob Bernays an der Breslauer Universität. 60 Vgl. Hoffmann, Politik der Geselligkeit. 61 Das ist der Grundgedanke hinter dem Konzept der »situativen Ethnizität«: van Rahden, Weder Milieu noch Konfession. 62 Toury, Soziale und politische Geschichte, S. 138.

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Mommsen arbeitete damals gerade an seiner »Römischen Geschichte«, die er nur Bernays zum Korrekturlesen gab. Der Kontakt ging offensichtlich schnell über fachliche Interessen hinaus; es entwickelte sich eine »vieljährige Freundschaft«, wie Bernays ihr Verhältnis später charakterisieren sollte.63 Ihm »nahe gekommen zu sein«, rechnete Bernays zu den »edelsten Lebensgütern«, die ihm zuteil geworden seien. Ihr Verhältnis sei – so fügte er hinzu – »seiner Natur nach eines von den wenigen, über welche die Jahre keine Macht haben werden«, wobei er sich leider täuschen sollte.64 Die freundschaftliche Nähe, die sich zwischen den beiden Forschern entwickelt haben muss, wird in dem Beileidsschreiben greifbar, das Bernays anlässlich des Todes von Mommsens Schwiegervater Karl Reimer 1858 verschickte: »Was können wir aegri mortales bei solchem Leid einander für Trost sprechen? Meiner Theilnahme waren Sie gewiß, und daß ich sie recht sehr lieb habe, kann Ihnen wohl auch nichts Neues sein; jetzt schreibe ich es dennoch hier hin, aus demselben Antriebe des Herzens, der mich Ihre Hand wärmer als sonst hätte drücken lassen, wenn ich Ihnen bei Ihrer Rückkehr aus dem Trauerhause begegnet wäre [...].«65

In Mommsens Haus war Bernays offensichtlich ein gern gesehener Gast, für den Mommsens Frau sogar »Küchenschwierigkeiten« zu bewältigen versuchte, da der jüdische Gelehrte zeit seines Lebens sehr observant und orthodox war.66 Eine der typischen Einladungen lautete: »Wir bitten, lieber Freund, heute abend zu guter Zeit zu uns zu kommen; meine Frau ist bereits auf Hexameter und Opsonium gerüstet.«67 Neben solchen Augenblicken der Vertrautheit und ihren gemeinsamen Interessen gab es zwischen den beiden aber auch genügend Trennendes. Mommsen irritierte jedwede Form ostentativer Religiosität – sei sie jüdisch wie bei Bernays, katholisch oder protestantisch – er empfand das als Schrulle, die einer stupenden Gelehrsamkeit im besten Falle nicht hinderlich sein sollte, aber oft genug war. Bernays beharrte hingegen darauf, dass sich tiefe Religiosität und Gelehrsamkeit nicht ausschließen würden. In den besten Momenten offenbarte ihr zeitweise fast täglicher Zettel- und Briefverkehr die Fähigkeit der beiden, solche Differenzen mit Humor und Ironie auszutragen. Mommsen etwa schrieb 1858 über einige bald zu schickende Bogen einer neuen Veröffentlichung: »Erwarten Sie diese Seccatur mit – ich hätte gleich geschrieben christlicher Geduld.«68 Als Neujahrsgruß schickte er 63 Das geschah in einem Brief vom 2.1.1871: Nl. Mommsen, Kasten 7, Mappe Bernays. 64 Zitiert nach: Wickert, S. 285. 65 Zitiert nach: ebd., S. 285. 66 Der Ausspruch findet sich in einem späteren Brief von Mommsen an seine Frau. Zitiert nach: ebd., S. 280. Zu Bernays Biographie vgl. Bach. 67 Zitiert nach: Wickert, S. 275. »Opsonium« bezeichnet die in diesem Fall koschere »Zukost«, insbesondere Fisch und Gemüse. Frau Mommsen schätzte vor allem Bernays’ literarische Kenntnisse, worauf »Hexameter« anspielen sollte. 68 Zitiert nach: ebd., S. 277.

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Bernays 1860: »Addio. Ich würde Ihnen ein gutes Neujahr wünschen, wenn Sie nicht auch in diesem absonderlich wären und am 1. Thischri – was denn? – äßen.«69 Bernays war keineswegs blind für die Spannungen, die sich gegenüber Mommsen durch seine jüdische Identität ergaben. Mommsen fehle, schrieb er gegenüber Dritten, sowieso »jedes Organ für alles was Religion und Philosophie betrifft«, und er hege eine »echt holsteinische Antipathie gegen das Orientalische«.70 Als dem Althistoriker in einer Veröffentlichung eine biblische Anspielung misslang, kleidete Bernays seine Kritik in gekonnten Spott: »Mir aber ist dabei Ihre heitere Unbekümmertheit um alle semitischen Dinge und die ganze Gestalt Ihres geistigen Wesens so lebendig vor die Seele getreten, daß ich zur Feder greifen mußte, um mich wieder einmal mit Ihnen in Rapport zu setzen.«71 Der feine Humor, mit dem sich die beiden Gelehrten gelegentlich begegneten, war ein in solchen Beziehungen seltenes Glück. Durch die witzige Exposition ihrer tiefen Differenzen konnten diese thematisiert werden, beide konnten sich in ihrer Unterschiedlichkeit erkannt fühlen. Damit wurde ein freundschaftlicher Umgang möglich, ohne dass die eine oder die andere Seite gänzlich von ihren Überzeugungen abrücken musste. Möglicherweise war auf diese Weise die weitgehendste Annäherung an ein reziprokes und gleichfalls in Maßen intimes Verhältnis zwischen einem (gläubigen) Juden und einem (ungläubigen) Protestanten erreicht. Doch ein Rest von Unbehagen blieb immer erhalten und verlieh dem Witz im besten Fall seine Spitzen. In einem Brief Mommsens an Otto Jahn aus dem Jahre 1856 manifestierte sich dieses permanente Gefühl der Differenz allerdings markant als Unbehagen: »[…] auch sonst gibt es hier ja Menschen, aber einen eigentlich anregenden Verkehr habe ich doch gar nicht bis auf Bernays, der immer zugleich anregt und abstößt, und dazu hoffärtig ist wie König Belsazar. Nichtdestoweniger sind wir sehr gute Freunde und ich habe wirklich allen möglichen Respekt vor ihm, und keineswegs bloß vor dem Gelehrten; nur das rein menschliche Behagen, auf dem doch am letzten Ende alles beruht, ist nicht da und kommt auch nicht.«72

Jahrelang unterstützte Mommsen tatkräftig Bernays Bemühungen um eine Professur, wozu es aber aufgrund seines Judentums nicht kommen sollte. Gleichwohl besaß auch der Althistoriker Zweifel, ob ein akademisches Lehramt mit einer so tiefen Gläubigkeit vereinbart werden konnte. Im Rückblick fügte er einer Beurteilung seines jüdisch-orthodoxen Schülers Hermann Dessau hinzu: »Ob er [Dessau, d. Vf.] bei seinem Naturell und seiner Glaubens69 Zitiert nach: ebd. »Thischri« ist der jüdische Neujahrsmonat. 70 Siehe für das erste Zitat die Kopie eines Briefes von Bernays an Bunsen vom 29.12.1855, Nl. Wickert, Kasten 23, Nr. 407, Bl. 6, und für das zweite den Brief von Bernays an Paul Heyse vom 14.5.1856, zitiert nach: Wickert, S. 279. 71 Zitiert nach: ebd., S. 278. 72 Zitiert nach: ebd., S. 281.

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strenge für die akademische Laufbahn taugt, ist mir zweifelhaft; selbst ein Talent ersten Ranges wie J. Bernays hat doch eigentlich sich dafür unqualifiziert gezeigt.«73 Auch später sollte Mommsen auf die aus seiner Sicht manifesten Spannungen zwischen jüdischem Glauben und allgemeiner Kultur anspielen, als er 1880 etwa den Juden in seiner Replik auf Treitschke empfahl: »Wem sein Gewissen, sei es positiv oder negativ, es verbietet dem Judenthum abzusagen und sich zum Christenthum zu bekennen, der wird dementsprechend handeln und die Folgen auf sich nehmen.«74 Bernays konnte sicher nicht anders, als diesen Satz, der wie eine Drohung mit nationaler Exkommunikation klang, auf sich zu beziehen. Seine jahrelangen Bemühungen, Mommsen durch das eigene Beispiel zu demonstrieren, dass sich moderne Sittlichkeit und Gebildetsein einerseits und eine jüdische Identität und tiefe Religiosität andererseits nicht widersprechen, waren gescheitert. Bernays verstummte bis zu seinem Tod 1881 und schrieb seinem ehemaligen Weggefährten keine Zeile mehr: Diese Differenz konnte kein Witz mehr mildern. Auch mit Blick auf diese so ungewöhnliche Freundschaft ist also zu konstatieren, dass engere Beziehungen zwischen gebildeten Juden und Protestanten nunmehr möglich geworden waren und in einzelnen Fällen auch entstanden. Allerdings blieben sie selten, und häufig konnte die jüdische Identität eines Teilnehmers – je artikulierter sie war, desto größere – Konflikte verursachen. Freundschaftliche Nähe und Intimität zwischen gebildeten Juden und Protestanten blieben bis zum Kaiserreich (und noch lange danach) eine bemerkenswerte Seltenheit und auch dann prekär. Dennoch hatte sich am Ende der 1860er Jahre aufgrund der intensivierten sozialen Integration eine optimistische Einschätzung der Lage unter den deutschen Juden durchgesetzt. Noch im Rückblick auf seine Kindertage in dieser Zeit sprach Caesar Seligmann von der »ungetruebteste[n] Zeit im Leben der deutschen Juden«.75 Nicht zuletzt durch den Besuch des preußischen Königspaares in der neu gebauten Berliner Synagoge 1869 fühlten Juden sich dazu berechtigt, auf die Beseitigung der letzten Hindernisse für die Integration und Akkulturation hoffen zu dürfen. Unter gebildeten Protestanten manifestierten sich zwar unmittelbar nach der Revolution einige kritische Stimmen, die insbesondere den Veränderungsdruck auf die Juden angesichts der bevorstehenden rechtlichen Gleichstellung erhöhen wollten.76 Allerdings blieb das 73 Zitiert nach: ebd., S. 283. Der Mommsen-Biograph Lothar Wickert kann es nur unbegreiflich finden, dass Mommsen hier Bernays Religiosität ins Spiel bringt. Vor dem Hintergrund der Judensicht vieler gebildeter Protestanten erscheint das wesentlich weniger mysteriös. Wickerts Text trägt auch an anderen Stellen Züge einer deutlichen Mommsen-Verteidigung. 74 Mommsen, Auch ein Wort über unser Judenthum, BAS, Bd. 2, S. 709. 75 Siehe das Manuskript von Caesar Seligmann, Mein Leben. Erinnerungen eines Grossvaters, LBI-NY, ME 595, Bl. 40. 76 Vgl. Freytag, Juden in Breslau.

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Episode. Die Jahrzehnte zwischen Revolution und Reichsgründung waren so arm an politischen Diskussionen über die »Judenfrage« wie kaum eine andere Epoche in der modernen deutschen Geschichte. Angesichts der sozialen und kulturellen Nähe zwischen Juden und Protestanten, die sich entwickelte, als beide Seiten aus tatsächlich sehr unterschiedlichen Ausgangslagen heraus ein neues Zusammenleben zu erlernen versuchten, gab es viele gute Gründe, hoffnungsfroh in eine produktive Zukunft zu blicken. Es wurde allerdings erst allmählich klar, dass gerade diese Nähe auch einige Gefahren barg. Nähe kann auch zu neuen Abgrenzungsbemühungen führen, wie sich in der bürgerlichen Bildungskultur zeigen sollte.

1.4 Die Suche nach dem anderen Wesen: Die Konstruktionen des Jüdischen in der bürgerlichen Bildungskultur »Es ist in der That auffallend, welche innige Wahlverwandtschaft zwischen den beiden Völkern der Sittlichkeit, den Juden und Germanen, herrscht […] und beide Völker sind sich ursprünglich so ähnlich, daß man das ehemalige Palestina für ein orientalisches Deutschland ansehen könnte, wie man das heutige Deutschland für die Heimath des heiligen Wortes, für den Mutterboden des Prophetenthums, für die Burg der reinen Geistheit halten sollte.«77

Parallel zu dem Prozess, in dem gebildete Juden und Protestanten ein neues Zusammenleben lernten, veränderten sich auch ihre wechselseitigen Wahrnehmungen. Im mittleren Drittel des 19. Jahrhunderts ist hier ein grundsätzlicher Wandel zu erkennen: Juden wie Protestanten waren dabei auf vielfältige Weise damit beschäftigt, sich die moderne Existenzform der Juden zu erklären. Zwar setzten diese Interpretationsversuche unmittelbar mit dem Beginn der Emanzipationsdiskussion in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ein.78 Gleichwohl intensivierten sich diese Versuche in dem Maße, wie die Integration und Akkulturation der deutschen Juden voranschritt. Die zunehmenden Diskussionen über die Teilhabe der Juden an der bürgerlichen Bildungskultur können hierbei als Beispiel gelten: Bereits um die Jahrhundertwende gab es Schriften, die direkt das Problem jüdischer Bildung ansprachen, aber erst mit den 1830er Jahren sollten sie lauter werden und die Debatten über die jüdische 77 Heine, S. 125. 78 Vgl. Sterling.

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Integration insgesamt prägen.79 Seit dem Beginn der Emanzipation war unter Protestanten ein Gefühl der Differenz gegenüber den Juden erhalten geblieben.80 Entgegen der Erwartung, dass die Juden ihre jüdische Identität im Verlauf der Emanzipation und Integration ablegen würden, identifizierten sich weiterhin viele Juden selbst als solche.81 Zugleich verschwand bei Protestanten ungeachtet größter Akkulturationsanstrengungen der Juden der Verdacht nicht, dass diese vornehmlich Juden bleiben wollten. Das galt auch und gerade für gebildete Juden. In gewisser Hinsicht machten Integration und Akkulturation diese Juden nur noch bedrohlicher: Sie erschienen gleich und waren es doch nicht. Zudem begriffen Protestanten die Juden nunmehr als Vorreiter des sich ausbreitenden Wandels.82 Diese einsetzende Reflexion richtete sich somit auf die Rolle der Juden in der veränderten Gesellschaft. Das Gefühl der Differenz zu ihnen erhielt dabei immer mehr Facetten, je ähnlicher sich jüdische und protestantische Bürger in der Bildungskultur wurden. Die reale Nähe verlangte nach immer vielschichtigeren Differenzierungen. Die zentrale Frage lautete: Warum blieben gebildete Juden trotz Emanzipation, Integration und Akkulturation weiterhin Juden? Bei den deutschen Juden war die Ausgangslage – durch die gleichen Prozesse bedingt – anders. Jene durch die Emanzipation ermöglichte Verbürgerlichung hatte ihre Lebens- und Vorstellungswelt grundlegend verändert. Insbesondere die Aneignung der bürgerlichen Bildungskultur ließ vollständig andere Existenzformen entstehen, so dass im europäischen Vergleich das deutsche Judentum bereits im frühen 19. Jahrhundert ein eigenwilliges Gepräge besaß.83 Der Vermittlungs- und Adaptationsarbeit, die sich gegenüber den eigenen Traditionen ergab, hatten sich die Juden während der gesamten Folgezeit – nicht nur in Deutschland – zu stellen. Die Konstruktion moderner jüdischer Identität wurde damit zu einer ihrer zentralen Aufgaben. Auch hier ergab die entstehende Nähe zur nichtjüdischen Kultur- und Lebenswelt die Notwendigkeit, das Verhältnis aus Eigenem und Fremdem neu zu bestimmen. Dabei machten die Fremdzuschreibungen der Nichtjuden im Allgemeinen 79 Für frühe Äußerungen vgl. etwa Grattenauer oder das erfolgreiche Bühnenstück »Unser Verkehr« (1815) von Karl B. A. Sessa, das jüdische Gebildete in Gestalt jüdischer Salondamen karikierte – allerdings mit sehr traditionellen Mitteln als Verlachjuden. 80 Gerade der Ablauf des rechtlichen Emanzipationsprozesses, in dem es über einen lang gestreckten Zeitraum nach Fort- gleich wieder zu Rückschritten kam, konservierte die Unterschiede zwischen Juden und Nichtjuden in Form realer politischer und rechtlicher Benachteiligung. Vgl. Rürup, ›Judenfrage‹ der bürgerlichen Gesellschaft, S. 82. 81 Vgl. zum Konzept des Emanzipationsvertrags Sorkin, Transformation of German Jewry. 82 Hingegen waren selbst die liberalen Diskussionen im Vormärz noch von der Annahme jüdischer Rückständigkeit geprägt gewesen. Vgl. Herzog, S. 54 ff. 83 Vgl. Sorkin, Transformation of German Jewry. Der europäische Vergleich innerhalb der modernen jüdischen Geschichte gehört zu den großen Forschungsaufgaben der jüdischen Geschichtsschreibung in den nächsten Jahren.

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und der gebildeten Protestanten im Besonderen die Lage nicht einfacher. Die Ansprüche der allgemeinen Gesellschaft und die der jüdischen Gemeinschaft zu erfüllen, erwies sich für den einzelnen Juden als schwieriges Unterfangen. Dem Druck, sich als legitimer Teil der bürgerlichen Bildungskultur zu etablieren, entkamen gebildete Juden im gesamten 19. Jahrhundert nicht. Auf eine grundlegend andere Weise als bei den Protestanten waren die deutschen Juden daher ebenfalls mit Fragen der Grenzziehung beschäftigt. Hier spitzte sich alles auf das Problem zu: Wie konnten gebildete Juden trotz aller Veränderungen Juden bleiben? Diese unterschiedlichen Ausgangslagen führten gleichwohl zu einem gemeinsamen Problem: Wie war das jüdische Wesen beschaffen? Wie veränderbar war es, wie beständig? Gebildete Juden wie Protestanten entwickelten auf diese Frage eigene Antworten, wobei im 19. Jahrhundert vor allem zwei Gebiete von herausragender Wichtigkeit waren: die Literatur und die Wissenschaft. Diese beiden Wissensgebiete erfreuten sich besonderer Wertschätzung unter gebildeten Bürgern, ihre entsprechende Breitenwirkung kann kaum überschätzt werden. Die zunehmende Integration und Akkulturation der Juden blieb auf beiden Gebieten nicht ohne Wirkung: Gebildete Protestanten entwarfen einerseits häufiger Vorstellungen von den Juden, weil sie ihnen in der eigenen Lebenswelt öfter begegneten. Andererseits schrieben sie den alltäglichen Begegnungen mit Juden neue Bedeutung zu, weil sie in Literatur und Wissenschaft zunehmend auf das Problem der jüdischen Identität gestoßen waren. Analog dazu stellte sich die Lage für die gebildeten Juden dar: Zum einen produzierten sie mit Hilfe von Literatur und Wissenschaft Auffassungen von der eigenen Identität, weil der alltägliche Veränderungsprozess interpretiert werden musste. Zum anderen trieben die neuen Selbstbilder den Transformationsprozess im Alltag voran. Im Folgenden sollen zunächst einige Grundlinien des Judenbildes in der Literatur des 19. Jahrhunderts diskutiert werden, wobei sowohl auf Aspekte in der protestantischen wie in der jüdischen literarischen Produktion eingegangen werden soll. In ähnlicher Weise kommt danach das Judenbild in einigen geistes- und kulturwissenschaftlichen Disziplinen zur Sprache. Es soll dabei gezeigt werden, dass sich in diesen ganz unterschiedlichen Konstruktionen Muster manifestierten, mit denen sich gebildete Juden und Protestanten gegenseitig wahrnahmen.

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1.4.1 Der jüdische Charakter und der bürgerliche Held: Die Konstruktionen des Jüdischen in der Literatur »Wenn doch nur einer von all den Romanen, welche im letzten Jahr in Deutschland geschrieben sind, uns das tüchtige, gesunde, starke Leben eines gebildeten Menschen, seine Kämpfe, seine Schmerzen, seinen Sieg so darzustellen wüßte, daß wir eine heitere Freude daran haben könnten.«84

Seit dem Ende des 18. Jahrhunderts begegneten dem aufmerksamen Leser schöngeistiger Literatur und dem eifrigen Besucher deutschsprachiger Theater immer häufiger Judenfiguren: Shylock-Varianten, edle Nathan-Gestalten oder deren Parodien, schöne Jüdinnen, burleske Theaterjuden oder lächerliche Salondamen.85 Im Verlauf des 19. Jahrhunderts wurden diese Juden immer hämischer und bedrohlicher gezeichnet; die ihnen ursprünglich oft noch anhängende Komik, die insbesondere für die Verlachjuden im Drama typisch war, ging allmählich verloren.86 Bereits in der Romantik kam es zu einer ambivalenten Aufladung des Judenbildes: Eine tiefe Faszination mit dem antiken Judentum verband sich mit einer negativen Haltung gegenüber dem zeitgenössischen Judentum.87 In den folgenden Jahren entwickelte insbesondere der historische Roman, der bereits in seinem gattungsbegründenden Werk, Walter Scotts »Ivanhoe« von 1820, paradigmatische Judenfiguren aufwies, eine eigene Dynamik. Nicht wenige deutsche Nachahmungen knüpften hier an, etwa Carl Spindlers »Der Jude« von 1829. Jüdische Literaten griffen ebenso auf Scott zurück, allerdings mit charakteristischen Anpassungen.88 Ein besonders bemerkenswertes Beispiel für eine Adaption lieferte Wilhelm Hauff. Im Juli 1827 veröffentlichte der junge Literat im »Morgenblatt für gebildete Stände«, dessen Redakteur er seit Beginn des Jahres war, die Novelle »Jud Süß«. Die Grundlage dafür lieferte ihm das Leben des Hofjuden Joseph Oppenheimer (1698/99–1738), das er authentisch wiederzugeben beanspruchte. In der Novelle tritt dem als skrupellosen Wucherer dargestellten Jud Süß eine Opposition aus achtbaren christlichen Bürgern unter Führung des Landschaftskonsulenten Lanbek entgegen. Dessen Sohn Gustav, der sich in 84 Freytag, Deutsche Romane, S. 213. 85 Vgl. Och. 86 In Bezug auf das »Literaturjiddisch« wird die gleiche Tendenz behauptet in: Gubser, S. 140. Zum »Literaturjiddisch« allgemein vgl. Richter. 87 Vgl. Hartwich, Jüdische Gespenster sowie zum Problem des romantischen Antisemitismus insgesamt Och, S. 273 ff. 88 Vgl. Glasenapp.

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die schöne Schwester Jud Süß’, Lea, verliebt hat und der sie nach dem Willen des Hofjuden heiraten soll, muss zwischen den beiden Lagern wählen. Er entscheidet sich gegen seine Liebe, und die Verschwörung gegen Jud Süß endet mit dem Todesurteil für den Hofjuden. Der Text ist außergewöhnlich ambivalent.89 Aus der Erzählperspektive wird das eigentlich schändliche Verhalten Jud Süß’ mehrfach relativiert. Eine Textstelle lässt den Hofjuden als »Rächer« seines Volkes erscheinen.90 In einer anderen Passage liefert die Novelle die klassische Sündenbock-These: Man habe am Ende alles auf den Juden geschoben und diesen deshalb zum Tode verurteilt.91 Zugleich berichtet der Erzähler aus einer zeitlichen und mentalen Distanz über das Geschehen. »Beides, die Art, wie dieser unglückliche Mann mit Württemberg verfahren konnte, und seine Strafe sind gleich auffallend und unbegreiflich zu einer Zeit, wo man schon längst die Anfänge der Zivilisation und Aufklärung hinter sich gelassen, wo die Blüte der französischen Literatur mit unwiderstehlicher Gewalt den gebildeteren Teil Europas aufwärts riß.«92

Auch hier wird man die Doppeldeutigkeit der Zuschreibungen nicht ignorieren können: Das Verhalten des Juden ist ebenso mittelalterlich wie der Hass, den er sich damit zuzieht. Dieser widersprüchliche Eindruck des Textes verstärkt sich noch, wenn man sich etwa die Figuren genauer anschaut. »Jud Süß« ist in seiner Physiognomie unwürdig und schön zugleich: »[…] die ganze Erscheinung imponierte, und sie hätte sogar etwas Würdiges und Erhabenes gehabt, wäre es nicht ein hämischer, feindlicher Zug um die stolz aufgeworfenen Lippen gewesen, was diesen Eindruck störte und manchen, der ihm begegnete, mit unheimlichen Grauen füllte.«93 Die Unheimlichkeit, mit der Jud Süß auf sein Gegenüber wirkt, gründet sich somit in seiner paradoxen Erscheinung. Ähnliches gilt für Lea, die Schwester des Hofjuden. Diese Figur steht in der Tradition der schönen Jüdin, welche in ihrer unter den sonstigen Judenfiguren so sonderbaren Anmut den christlichen Held betört und vom rechten Weg abzubringen droht.94 Dennoch geht die Novelle darüber hinaus und zeichnet die Jüdin nicht einfach nur schön. Lea strahlt eine seltsame Magie aus: »[…] da war es, ich weiß nicht, ob Eitelkeit, Torheit, Liebe oder gar der Einfluß jenes wunderbaren Zaubers, der sich aus Rahels Tagen unter den Töchtern Israels erhalten 89 Dem wird nur selten Beachtung geschenkt, und die meisten Interpretationen werfen Hauff vor, »Ahnherr der antisemitischen Süß-Tradition« zu sein, die schließlich im gleichnamigen NS-Propagandafilm mündete. Gerber, S. 282. 90 Hauff, S. 170. 91 Ebd., S. 221. 92 Ebd., S. 221. 93 Ebd., S. 176. 94 Vgl. Krobb, Die schöne Jüdin.

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haben soll – es zog ihn ein unwiderstehliches Etwas nach jener Seite hin […].«95 Am Ende des Textes bleibt Lea – der Tradition der schönen Jüdin folgend – von allen verlassen und melancholisch zurück. Ihre Schönheit ist nun gespenstisch geworden: »Ihre Wangen waren bleich und eingefallen, die schönen Augen lagen tief, und der Mund, der sonst nur zum Lächeln geschaffen schien, zeigte, daß er jenes Lächeln längst nicht mehr kenne. Das schwarze Haar, das um die weiße Stirne hing, und das bleiche Gesicht vollendeten das Gespenstige ihres Anblicks.«96

Das lässt sich unterschiedlich interpretieren: als eine weitere Variante hinlänglich bekannter Geschlechterzuschreibungen, als eine besondere Spielart des Klischees von der »schönen Jüdin« oder – gerade auch im Lichte anderer Textstellen in der Novelle – als eine späte Form der romantischen Faszination für das Unheimliche. Gleichwohl zeigt sich hier das zentrale Problem des modernen Antisemitismus: Am wirkungsmächtigsten sind ambivalente Figuren, die ihren antisemitischen Gehalt gerade daraus erhalten, das sie zu etwas Eindeutigem verdichtet werden müssen, um nicht mehr zu verwirren. An ihrem Anfang steht die Irritation. Diese muss ebenso gezeigt, wie beseitigt werden – und genau das geschieht in der Hauffschen Novelle besonders eindrücklich. Das Verführerische an Lea und an »Jud Süß« wird soweit getrieben, dass eine Verbindung dieser »Partei« mit derjenigen der ehrbaren Württemberger Familie Lanbek zumindest möglich erscheint. Dass der »Jude« dazu gehört, lässt sich nicht mehr ganz leugnen; sein Ausschluss geschieht vor dem Horizont seiner fast vollständigen Integration. An der Person des erst verliebten, dann geläuterten Gustav Lanbek soll der Leser eine Erkenntnis nachvollziehen: Lass Dich nicht betrügen vom Schein der Juden, mag er noch so perfekt wirken. Doch selbst das ist noch ambivalent: Der »Lernprozess«, den Gustav durchläuft, ist zugleich eine Unterwerfung unter den strengen Vater. Nie wieder wird Gustav lieben oder gar lachen können. Um den Juden zu widerstehen, braucht es Triebverzicht, also doch eines Opfers, unter dem man auch leidet. Die Hauffsche Novelle – entstanden im Zusammenhang von Emanzipationsdebatte und Judenverfolgungen, geschrieben für ein gebildetes Publikum – hebt sich von der langen Tradition literarischer Judenbilder ab, indem in ihr der entscheidende Motor für die Modernisierung solcher Bilder erkennbar wird: die niemals vollständig gelingende Beseitigung der Ambivalenz. Mit dem nach 1848 aufkommenden bürgerlichen Realismus veränderte sich die Literarisierung von Judenfiguren entscheidend, indem diese nunmehr für die Beschreibung einer bürgerlichen Lebenswelt konstitutiv wurden und damit die Beseitigung der Ambivalenz noch notwendiger wurde. Die Fähigkeit des bürgerlichen Romans, unterschiedliche Wirklichkeiten und damit 95 Hauff, S. 194. 96 Ebd., S. 218.

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eine gewisse Zerrissenheit zu thematisieren, um die auseinanderstrebenden Elemente schließlich zu versöhnen, konnte besonders leicht für das Verhältnis von Juden und Protestanten nutzbar gemacht werden. Vor allem mittels des Bildungsromans ließen sich bürgerliche Ideale ebenso ent- wie unbürgerliche Gegenmodelle verwerfen. Der Roman popularisierte Judenbilder in einer bis dato ungeahnten Weise, weil er sie einer polaren Ordnung zu unterwerfen versprach. Ein oft beschriebenes Beispiel für dieses literarische Phänomen ist Gustav Freytags Roman »Soll und Haben« von 1855.97 Die Kontrastierung der beiden Hauptpersonen – des Bürgers Anton Wohlfart und des Juden Veitel Itzig, demgegenüber der Adelige Fritz von Fink an Bedeutung zurücksteht – steigert sich zu einem »manichäischen Grundmuster«, dem die gesamte Figurenkennzeichnung untergeordnet wird.98 Die vorher diskutierte Ambivalenz des Jüdischen löst sich in diesem Fall, so scheint es, in einen letzten Rest von Bezogenheit auf: In der Gesamtkonzeption des Romans benötigt der bürgerliche Held weiterhin den jüdischen Schurken als Gegenspieler. Nur durch ihn kann seine Bürgerlichkeit auf die Probe und am Ende unter Beweis gestellt werden. In einem Aspekt zeigt sich die ambivalente Bezogenheit der Figuren dennoch deutlicher und hier bricht die manichäische Polarisierung des Romans auf: in Bernhard Ehrenthal, dem gelehrten Sohn des jüdischen Geldverleihers, bei dem Veitel sein Handwerk lernt. »Wie aber kam der Sohn in diese Familie?« – mit diesen Worten führt der Roman diesen Ausnahmejuden ein.99 Bernhard passt scheinbar nicht in sein habgieriges Umfeld: Er ist schüchtern, zurückhaltend und vor allem gebildet. Dennoch erweist er sich im Laufe der Romanhandlung als zu schwächlicher Charakter, um ein innerjüdisches Gegenmodell zu Veitel Itzig zu verkörpern. Sein Bildungswissen, das sich auf wenig relevante Gebiete der Orientalistik richtet, lässt ihn genauso wie seine übertriebene Empfindsamkeit und seine schlechte Gesundheit als nicht lebensfähig erscheinen. Seine Liebe zu einer der adeligen Hauptfiguren hat groteske Züge. Er ist ein weltfremder Sonderling und als solcher stirbt er früh im Roman. Es mag dem heutigen Leser anmuten, als habe Freytag die durch die jüdische Akkulturation veränderte Wirklichkeit aus seinem gefeierten realistischen Roman nicht gänzlich verbannen können.100 Ein letzter, wenn auch kläglicher Rest Ambivalenz konnte sich so Bahn brechen. Während bei Freytag die Kontrastierung der jüdischen und nichtjüdischen Charaktere vergleichsweise monoton durchgehalten wird und deshalb in der Tat von einem manichäischen Grundmuster gesprochen werden kann, ist das 97 Vgl. Gubser, bes. S. 187 ff. 98 Ebd., S. 192. 99 Freytag, Soll und Haben, S. 45. 100 Es gibt eine Reihe von Hinweisen, dass nicht zuletzt die Bernhard-Figur die durchaus vorhandene Popularität des Romans unter deutschen Juden beeinflusste. Vgl. Rossbacher, S. 317 ff.

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bei einem anderen Hauptwerk des bürgerlichen Realismus anders: Wilhelm Raabes »Der Hungerpastor« von 1864. Die Bildungsgeschichten der beiden Hauptakteure, Hans Unwirsch und Moses Freudenstein, verlaufen parallel zueinander und sind zudem über das gleiche Hauptmotiv verbunden. Die ambivalente Bedeutung des Hungers als Streben und Gier wird dabei auf die Lebensgeschichten der beiden Figuren bezogen. Beide sind soziale Aufsteiger, wobei der Protestant Hans einen ganzheitlich gebildeten Charakter anstrebt, während der Jude Moses Gebildetsein nur als Mittel zum Zwecke seines Fortkommens ansieht. Dennoch ist die Bezogenheit der Figuren zu Beginn kaum zu übersehen: Moses braucht Hans, der ihn gegen die antijüdischen Handgreiflichkeiten seiner Mitschüler schützt. Hans braucht Moses, da dieser sich weniger in Schwärmereien verliert und kühlen Kopf bewahrt. Interessanterweise ist diese wechselseitige Beziehung aber von Beginn an unausgewogen: Der Protestant ist stärker auf den Juden angewiesen, dessen Charakter sich immer negativer entwickelt. Als sich die Wege der beiden Schulfreunde trennen, heißt es: »Eine große Lücke war in Hans Unwirsch Leben entstanden, und schwer, schwer vermißte er trotz allen seinen unliebenswürdigen Eigenschaften diesen ›Freund‹ […].«101 In der Gestalt Moses Freudenstein verdichten sich vier unterschiedliche Muster zu einem immer negativeren Bild. Moses ist zunächst ein klassischer jüdischer Parvenü. Noch als Schuljunge bekommt er vom Vater den Rat (in typischem »Literaturjiddisch«) mit auf den Weg: »›Wenn se dir hinhalten an Stück Kuchen und an Buch, so laß den Kuchen und nimm das Buch. Wenn du was kannst, kannste dich wehren, brauchste dich nicht lassen zu treten, kannste an großen Mann werden und brauchst dich zu fürchten vor keinem, und den Kuchen wirst du auch dazu bekommen.‹«102 Moses nimmt diese Lektion allzu gerne an und sieht von nun an im Gebildetsein ein Instrument seiner Rache an seiner judenfeindlichen Umwelt. Für den Juden ist Bildung kein Wert an sich, sondern ein »Talisman«, »der zugleich mit dem Gelde ein Schild und eine Waffe sei für sein immer noch ob seiner und der Väter Sünden so vielfach bedrängtes und zurückgesetztes Volk«.103 Zugleich verbleibt Moses mit seinem Bildungswissen an der Oberfläche; es formt aus ihm keinen sittlich gefestigten Charakter, sondern nur eine »ewig wechselnde Kreatur«.104 Zweitens kennzeichnet der Roman Moses als jüdischen Talmudisten. Der Jude erweist sich im Verlauf der Handlung als äußerst scharfsinniger, »talmudistische[r] Spitzkop«, dem allerdings jegliche Herzensbildung fehlt.105 Er wird immer geschickter darin, »die bunte Mannigfaltigkeit des Lebens aufzulösen 101 102 103 104 105

Raabe, S. 135. Ebd., S. 60. Ebd., S. 59. Ebd., S. 282. Ebd., S. 160.

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und sie in die Fächer einer unbarmherzigen Logik zu ordnen. Je mehr Wissen er anhäufte, desto kälter wurde sein Herz […].«106 Drittens verkörpert sich in Moses der jüdische Materialist. Sein wahrer Charakter zeigt sich zum ersten Mal, als er nach seinem Abitur erfährt, dass sein Vater ihm erhebliche Reichtümer zusammengespart hat: »Es war eine böse Minute, in welcher Samuel Freudenstein seinem Sohn verkündete, daß er ein reicher Mann sei und daß der Sohn es dereinst sein werde. Von diesem Augenblick liefen tausend dunkle Fäden in die Zukunft hinaus; was dunkel in Moses’ Seele war, wurde von diesem Augenblick an noch dunkler, heller wurde nichts; der Egoismus richtete sich dräuend empor und streckte hungrige Polypenarme aus, um damit die Welt zu umfassen.«107

In seiner Gier nach materiellem Wohlstand tötet Moses, zumindest symbolisch, seinen Vater und wird damit zum reichen Mann. Alle vorher im Roman verhandelten Beweggründe für Moses’ Bildungsstreben – insbesondere seine Rache an den christlichen Peinigern – werden nun ad absurdum geführt: Übrig bleibt die reine Gier. Schließlich offenbart sich Moses selbst als jüdischer Nomade, als er ein entsprechendes Glaubensbekenntnis ablegt: »Ich habe das Recht, nur da ein Deutscher zu sein, wo es mir beliebt, und das Recht, diese Ehre in jedem mir beliebigen Augenblick aufzugeben. Wir Juden sind doch die wahren Kosmopoliten, die Weltbürger von Gottes Gnaden oder, wenn Du willst, von Gottes Ungnaden.«108 Der grenzenlose Egoismus und Materialismus der jüdischen Hauptfigur entpuppt sich damit im selben Augenblick als Folge seiner Heimatlosigkeit: Die Juden seien nur Passagiere auf dem Schiff der Nichtjuden; wenn es untergehe, ertränken nur die Nichtjuden – »wir haben unsere Schwimmgürtel und schaukeln lustig und wohlbehalten unter den Trümmern«.109 Diese vier Muster – Parvenü, Talmudist, Materialist und Nomade – popularisiert Raabes Roman erfolgreich, indem er sie in einer Figur, einem überdeterminierten jüdischen Antihelden vereinigt. Die Frage, ob Raabe mit dem »Hungerpastor« als antisemitischer Autor zu gelten hat, wurde, wie auch im Falle Gustav Freytags, kontrovers diskutiert.110 Angesichts der Eindeutigkeit vieler negativer Zuschreibungen dürfte es gleichwohl unmöglich sein, diese Autoren gänzlich von dem Vorwurf freizusprechen. Das ist jedoch aus einer historischen Perspektive nicht entscheidend; von größerer Bedeutung ist das Problem, welche Figuren wie rezipiert werden konnte. Hier dürfte der eigentliche Beitrag des bürgerlichen Realismus zum literarischen Judenbild des 19. 106 107 108 109 110

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Ebd., S. 88. Ebd., S. 109. Ebd., S. 128. Ebd., S. 129. Vgl. Denkler. Für Freytag vgl. Köhnke.

Jahrhunderts liegen: negative Typisierungen mit viel Geschick zu wirklichkeitsnahen Antihelden verdichtet zu haben. Um es für den »Hungerpastor« deutlich festzustellen: Gerade in seinem realistischen Anspruch ist es bedeutsam, dass Raabe mit Moses Freudenstein eine Figur wählte, die in klassischer Weise den Aufstieg vieler Juden aus einer gesellschaftlichen Randexistenz in das Zentrum des Bürgertums repräsentierte. Dass seine Funktion zunächst nicht eindeutig ist, dass sich seine Rolle als deutlicher Gegenpol und letztendlicher Feind des bürgerlichen Helden erst allmählich herausbildet und dass dem Leser einsichtige Begründungen für sein negatives Verhalten geliefert werden, macht aus Moses Freudenstein eine realistisch anmutende Figur, die sich für die zeitgenössischen Wahrnehmungen des Jüdischen als anschlussfähig erwies. Entscheidend war dabei die Bezogenheit von Hans und Moses. Die protestantische Figur ist von der gleichen negativen Bildungsgeschichte bedroht, die an der jüdischen Figur veranschaulicht wird. Erst der Gegensatz zu Moses macht aus Hans einen guten gebildeten Bürger: Er wird protestantischer Pastor auf dem Land. Je weiter die beiden Figuren in ihrer Entwicklung voranschreiten, desto stärker entfernen sie sich voneinander. Am Schluss kann der Jude vom Protestanten nur noch gehasst werden: »Er sah die Augen des Mannes, der vor ihm stand, leuchten wie die eines bösen Geistes, der sich an einem Unglück weidet. Die ganze Herzlosigkeit dessen, den er einst seinen Freund nannte, offenbarte sich in diesen Augen, diesem Lächeln. Hans Unwirsch fühlte zum erstenmal in seinem Leben, was der Haß sei; er haßte die schlüpfrige, ewig wechselnde Kreatur, die sich einst Moses Freudenstein nannte, von diesem Augenblick mit ganzer Seele.«111

Zugleich ist Moses damit zum bösen Geist geworden. Sein Andersgewordensein ist der Weg, den der Protestant nicht gegangen ist; allein die Erinnerung daran löst Unbehagen aus. Die Verdichtungsarbeit, mit der Juden zu gebildeten Doppelgängern werden, lässt sie unheimlich erscheinen, weil an ihnen stets etwas an die eigentlich vorhandene, aber verdrängte Nähe erinnert. Diese Erinnerung macht sie zugleich bedrohlich. An der Literatur des 19. Jahrhunderts nahmen Juden, wie es die voranschreitende Integration und Akkulturation vermuten lässt, als Konsumenten und zunehmend auch als Produzenten Anteil. Es kann an vielen Beispielen gezeigt werden, dass gerade diese Teilhabe zunehmend zum Problem für Protestanten wurde. Eines davon lieferte Heinrich Heine. Das Bild, das sich gebildete Bürger im 19. Jahrhundert von diesem Schriftsteller machten, war von einer charakteristischen Ambivalenz durchzogen.112 1838 brachte Franz Dingelstedt es in der »Mitternachtzeitung für gebildete Leser« prägnant auf den Punkt, als er Heine eine »schlüpfrige und schillernde Kamäleons-Natur« 111 Raabe, S. 282. 112 Zur Heine-Rezeption vgl. Peters.

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nannte.113 Bereits seit seinen frühen Schaffenstagen artikulierten sich kritische Stimmen gegen Heines Arbeit und Person, die sich allerdings erst mit seiner Übersiedlung nach Paris 1831 intensivierten. Im Laufe der 1830er Jahre wurden dabei antijüdische Verunglimpfungen immer häufiger. Als charakteristisch kann hier etwa die erste längere Abhandlung über »Heine’s Schriften und Tendenz« (1838) des Schriftstellers Gustav Pfizer gelten.114 Pfizer konnte nicht umhin, Heine ein gewisses Talent und literarische Bedeutung zuzugestehen. Zugleich kritisierte er ihn heftig und benutzte dabei viele Argumente, die Heine-Gegner in den folgenden Jahren gebetsmühlenartig wiederholten. Für ihn war Heine mehr als nur ein literarisches Phänomen; in ihm manifestierte sich das Grundproblem der damaligen Juden: »das Juste milieu zu treffen […] zwischen entwürdigender Kriecherei und herausfordendem Uebermuth«.115 Der Schriftstellerkollege war sich dabei sicher, dass Heine »so wenig ein normaler Jude, als er ein guter Christ« sei; zweifelhaft erschien ihm nur, »ob er ein Emissär des Judenthums sey, der sich ins christliche Lager geschlichen, um Zwietracht zu säen und Unheil zu stiften, oder ob er einen Groll gegen seine Stammesgenossen befriedigen wolle«.116 Damit hatte Pfizer genau jene zwei Aspekte angedeutet, die für große Teile der Literaturkritik bestimmend wurden. Einerseits offenbare sich in Heine eine tiefe Zerrissenheit zwischen Anpassung und Ablehnung, die seine Einordnung in den literarischen Kanon der deutschen Literatur unmöglich erscheinen ließ. Andererseits stellte er eine Bedrohung dar: Weil er ein literarisches Talent sei und gelesen werde, könne er von innen heraus Unheil stiften. Heine wurde in solchen Texten oft als jüdischer Parvenü, Nomade oder als Materialist gekennzeichnet. Er ist das Talent, das schnell zu Ruhm aufstieg, aber zu keiner echten literarischen Leistung fähig war.117 Spätestens nachdem er in Paris zu leben begonnen hatte und in seinen Schriften Kritik an den politischen Verhältnissen in Deutschland übte, wurde er als undeutsch denunziert.118 Sein Eintreten für einen heidnischen Sensualismus brachte ihm 113 Galley und Estermann, S. 388. 114 Darüber hinaus muss hier auf Wolfgang Menzels wirksame Attacke hingewiesen werden, die sich allerdings gegen die gesamte Bewegung des »Jungen Deutschlands« wandte und diese als jüdisch zu denunzieren versuchte. Vgl. Peters, S. 81f. 115 Galley und Estermann, S. 268. 116 Ebd., S. 267. 117 Der Literaturhistoriker Julian Schmidt urteilte über Heine: »Er drängt sich mit seiner Person auf eine Weise hervor, wie es noch kein anderer Dichter gethan, er feiert sich selber als einen großen Dichter […]; man fühlt aber überall heraus, daß diese Renommage nicht einem sichern Selbstgefühl entspringt, sondern der dunkeln Empfindung, daß er sich eine pikante Charaktermaske aufsetzen müsse, um in guter Gesellschaft gelitten zu werden, und auch dann kaum.« Schmidt, S. 843. 118 Treitschke stellte über Heines Wirken kurz und bündig fest: »Das Alles war undeutsch von Grund aus.« Treitschke, Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert, B. 4, S. 423.

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schließlich den Vorwurf ein, gröbsten Materialismus ohne Sinn für das Ideale zu predigen.119 Gleichwohl lassen sich auch zahlreiche positive Beurteilungen von Heines Werk im 19. Jahrhundert finden. Zudem wurde er vom Publikum geliebt, insbesondere das »Buch der Lieder« erfreute sich nachhaltiger Wirkung auch unter gebildeten Bürgern. Allerdings fällt auch an der positiven, liberalen Heine-Rezeption auf, dass sie die vermeintlich negativen Aspekte in seinem Werk nicht einfach bestreiten konnte, sondern mit dem Hinweis auf die Verwirrungen seiner Epoche relativieren musste.120 Vor allem die tiefe Ambivalenz, die Zeitgenossen in Heines Person und Verdiensten sahen, stellte das eigentliche Problem dar: »Aber gerade weil die Deutschen fühlten, daß sie in den Künsten des Pikanten und Charmanten mit dem gewandten Juden nicht wetteifern konnten, ließen sie sich von ihm blenden, sie hielten für künstlerischen Zauber, was im Grunde nur der prickelnde Reiz der Neuheit war.«121 So konnte Heine zum Betrüger, zum Paradebeispiel eines gebildeten Doppelgängers werden. Ein anderer jüdischer Literat erreichte im 19. Jahrhundert einen nur wenig geringeren Bekanntheitsgrad, ohne allerdings die gleichen negativen Reaktionen hervorzurufen: Berthold Auerbach. Auch weil er nicht konvertierte, erreichte er – als Gegenpol zu Heine – eine geradezu paradigmatische Stellung für die sich verbürgerlichenden Juden: Kaum jemand sonst verknüpfte Teilnahme an der allgemeinen Kultur mit dem Festhalten an einer jüdischen Identität erfolgreicher als Auerbach.122 Während sein Frühwerk noch vor allem an jüdische Leser und Leserinnen gerichtet war, so erlangte er spätestens mit seinen »Schwarzwälder Dorfgeschichten«, die er ab 1843 veröffentlichte, auch bei einem nichtjüdischen Publikum beachtliche Erfolge. In diesen Geschichten liefert Auerbach vom Dorfleben seiner Kindheit ein idealisiertes und sentimentales Bild, das jeder nachvollziehen konnte. Die vereinzelten jüdischen Figuren, die hier auftauchen, sind ebenso wenig Karikaturen wie die Nichtjuden. Sie leben mit ihren Dorfnachbarn in wechselseitigem Respekt und bleiben dem Judentum treu. Das darf man für programmatisch halten, vor allem aufgrund entsprechender Äußerungen Auerbachs zum Judenbild in der Literatur. Im Vorwort zu seinem Roman »Spinoza« hatte er die stereotype Art, mit der nichtjüdische Autoren immer die gleichen schönen Jüdinnen und abgeschmackten Juden präsentierten, mit feinem Spott offen gelegt, um dann festzustellen: 119 Wolfgang Menzel schätzte ihn so ein: »Sein Geist und Witz, an sich schätzenswerthe und eines bessern Gebrauchs würdige Dinge, mußten ihn nur dienen, alles Heilige und Hohe, Edle und Unschuldige in der Welt zu lästern. Seine Feder wurde buchstäblich eine Kothschleuder.« Menzel, S. 465. 120 Vgl. Peters, S. 74 ff. 121 Treitschke, Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert, Bd. 4, S. 423. 122 Vgl. Sorkin, Invisible Community.

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»[…] man wird mir es nicht als Anmaßung auslegen, wenn ich behaupte, daß es für einen Christen unendlich schwieriger ist, sich ganz in die Innerlichkeit und die Details des jüdischen Lebens zu versetzen […]. Wir, die wir aus demselben hervorgegangen sind, haben den Beruf es der Welt darzulegen.«123

Die Veränderungen des jüdischen Lebens wahrhaftig zu dokumentieren, das war Auerbachs Ziel in seinen zwei Romanen, die er unter der Überschrift »Das Ghetto« zu einer Reihe zusammenfasste: »Spinoza« von 1837 und »Dichter und Kaufmann« von 1840. In beiden Werken thematisierte Auerbach die Zerrissenheit eines Juden zwischen den Ansprüchen seiner traditionellen jüdischen Gemeinschaft und den Verlockungen des modernen nichtjüdischen Lebens. Diese jüdische Variante des Bildungsromans lief zwar nicht auf eine Lösung der Konflikte hinaus, führte aber zu einer entschiedenen Bejahung einer modernisierten jüdischen Identität. Entsprechend bekannte sich die Hauptfigur in »Dichter und Kaufmann«, Ephraim Moses Kuh, zu einem universalistisch gewendeten Judentum: »Ich bin allerdings kein Jude in dem Sinne, daß ich die aberwitzigen Mährchen und Traditionen glaube […] ich kann und will aber im Judenthum verharren, weil auch innerhalb seiner Grenzen die Möglichkeit und Gelegenheit gegeben ist, zur Vorbereitung auf das wahre und allgemeine messianische Reich: der Vernunftreligion […].«124

In solchen Passagen trat eine immer geläufigere Figur in den literarischen Diskussionen unter deutschen Juden zutage: der Menschheitsjude, mithin die Annahme, dass dem Judentum im Kern eine universalistische Botschaft innewohne, die der ganzen Menschheit gehöre. Dieser Botschaft in der Welt Gehör zu verschaffen, begründete eine jüdische Missionsvorstellung. Auerbachs selbsternannte »Ghetto«-Romane halfen eine neue deutsch-jüdische Literaturgattung zu begründen, die sich nach der Jahrhundertmitte unter deutschen Juden steigender Beliebtheit erfreute: die Ghettogeschichten.125 Diese Geschichten bemühten sich ähnlich wie bereits Auerbach um eine Vermittlung von Tradition und Moderne, wobei sie noch stärker auf die nostalgischen Gefühle zielten, die ihr Publikum für eine verlorene Welt empfand. Ab 1848 veröffentlichte vor allem Leopold Kompert solche Erzählungen und wurde damit schnell bekannt. Insbesondere an seinen Geschichten, wie etwa »Der Dorfgeher« von 1851, lässt sich der Versuch ablesen, vor einem traditionell jüdischen Hintergrund jüdische und bürgerliche Identitätsentwürfe zu versöhnen und einen solchen Ausgleich wirksam zu propagieren.126 Gestützt durch journalistischen Beistand – besonders von Philippsons »Allgemeiner Zeitung des Judenthums« – entstand hier eine eigene deutsch-jüdische 123 124 125 126

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Auerbach, Spinoza, S. VII. Auerbach, Dichter und Kaufmann, Bd. 1, S. 136f. Vgl. Glasenapp und Krobb, Selbstdarstellungen. Zum »Dorfgeher« vgl. Krobb, Selbstdarstellungen, S. 89ff.

Literatur, welche die spezifischen Probleme einer Gemeinschaft im Umbruch artikulieren konnte.127 Im Gegensatz zu protestantischen Autoren bemühten sich somit jüdische Autoren in ihren Werken um Figuren, die bürgerliche Modernität und jüdische Identität nicht als Gegensatz verkörperten, sondern die um eine Vermittlung dieser Aspekte rangen. Das ließ die Figuren konzeptionell weniger statisch erscheinen. Dennoch war es für jüdische Literaten schwierig, alternative Figuren wirksam zu popularisieren. Sie stießen hier schnell an die Grenzen, welche die Wahrnehmungsmuster der Literatur zugleich diktierten. Das Interesse protestantischer Leser und Leserinnen richtete sich auf Figuren, die ihnen erklären konnten, wieso Juden noch immer Juden waren. Die Wahrnehmungsmuster suggerierten ihnen eine einfache Antwort: weil sie immer Juden waren und bleiben werden. Die Figuren, die wie Veitel Itzig oder Moses Freudenstein eine Nachfrage bedienten, popularisierten und verfestigten im selben Moment eben diese Wahrnehmungsmuster weiter. Da halfen kritisch-satirische Stimmen wie die Auerbachs ebenso wenig wie alternative Porträts jüdischen Lebens. Der Wertekosmos der bürgerlichen Bildungskultur, den zu bestimmen immer mehr Literaten im 19. Jahrhundert antraten, gründete sich zunehmend auf ein problematisches Verhältnis zu seinen jüdischen Mitgliedern, die aus einer ambivalenten Position immer häufiger zum eigentlichen Gegenpol stilisiert werden konnten.

1.4.2 Der Ursprung des Anderen: Die Konstruktionen des Jüdischen in den Geistes- und Kulturwissenschaften »Die Suche nach einem solchen Ursprung ist die Suche nach dem, ›was schon war‹, nach dem ›es selbst‹ eines mit sich selbst übereinstimmenden Bildes [...]. Am historischen Anfang der Dinge findet man nicht die immer noch bewahrte Identität ihres Ursprungs sondern die Unstimmigkeit des Anderen.«128

Während sich in der Literatur des 19. Jahrhunderts unterschiedliche Strategien beobachten lassen, das Verhältnis von Judentum und Bürgerlichkeit in der Gegenwart neu auszuloten, so bemühten sich verschiedene Autoren in den Geistes- und Kulturwissenschaften um eine Klärung vergangener jüdischer Existenzformen. Ein Aktualitätsbezug war dabei nicht immer sofort erkenn127 Vgl. Horch. 128 Foucault, S. 71.

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bar. Zugleich versprachen diese Debatten eine fundamentalere, weil ewig gültige Antwort auf die anstehende Frage nach dem jüdischen Wesen. Häufig lassen sich die Ergebnisse als Ursprungsphantasien verstehen, d.h. in ihnen bemühten sich gebildete Bürger, einen arbiträren Anfangspunkt für eine gegenwärtige Identität zu imaginieren. In den Phantasien über Ursprachen, Urvölker, Urnationen oder Urreligionen stießen protestantische Bürger zu Beginn oft fast beiläufig, aber doch mit einer gewissen Zwangsläufigkeit immer wieder auf das Paradigma, in dem sich aller Ursprung zu vereinen schien: das Jüdische.129 Die Ewigkeit der jüdischen Identität – das Alter des Hebräischen, das lange als die Sprache des Paradieses gegolten hatte, die andauernde Existenz des jüdischen Volkes, die Erhabenheit des monotheistischen Judentums – wurde fast notwendig Gegenbild vieler Konstruktionen gebildeter Protestanten. Die ideengeschichtlichen Voraussetzungen für die Ursprungsphantasien waren komplexer Natur. Als ausschlaggebend erwies sich in jedem Fall das Volksgeistkonzept Herders.130 Kultur wurde dabei an einen Volksbegriff gebunden und zugleich zu einer analysierbaren Totalität, die alle »Lebensäußerungen« eines Kollektivs umfasste, wie Sprache, Religion, Sitten, Mythen, aber auch Aspekte der materiellen Kultur bis hin zu vermeintlich körperlichen Eigenschaften. In diesen Ursprungsphantasien spielten – z. T. durchaus unbewusst – religiöse Motive eine große Rolle; viele der Konstruktionen lassen sich überhaupt nur als säkularisierte Sehnsüchte nach Transzendenz begreifen.131 Allerdings sollte man auch die Säkularisierung dieser Motive in ihrer Bedeutung nicht unterschätzen, schließlich gewannen sie nur aus dieser unvollständigen Verwandlung ihre Akzeptanz und Kraft. Ihnen wohnte eine Unschärfe inne, so dass über die religiösen Anteile der eigenen Überzeugungen nicht mehr reflektiert werden konnte. An allen im Folgenden zu erörternden Bemühungen waren zudem Juden aktiv beteiligt. Dabei ließen sie eine charakteristische Ver-

129 Als übergreifende Literatur zu diesen Diskussionen sind nur Werke zur Geschichte des Rassismus zu erwähnen. Die Arbeit von Olender, in der wichtige Autoren wie Renan, Müller, Grau u. a. diskutiert werden, benutzt die auch hier verwandte Terminologie, verzichtet jedoch bewusst darauf, Verbindungen zwischen den einzelnen Ansätzen und dem »widerwärtigen Gebrauch« für politische Zwecke aufzuzeigen. Olender, S. 29. In den meisten Studien werden außerdem nur sehr selten Binnendifferenzierungen vorgenommen. Insbesondere die Studien von Poliakov und Römer glätten dabei die Vielschichtigkeit rassistischen Denkens, so dass eine deutliche Teleologie auf das nationalsozialistische Gedankengut entsteht. Vgl. Poliakov, Der arische Mythos sowie Römer. Zur Verwendung des Begriffes »Phantasie« vgl. Zantop. In diesem Zusammenhang interessiert insbesondere die Bedeutung emotionaler Aspekte an wissenschaftlicher Tätigkeit. Die Ursprungsphantasien stellen selbst kaum hinterfragbare Voraussetzungen der Forschungen dar. 130 Für einige Hinweise auf die Wirksamkeit des Konzeptes im anthropologischen und ethnologischen Denken vgl. Mühlmann, S. 67 ff. 131 Diesen Zusammenhang hebt besonders hervor: Olender, passim.

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mischung von Kritik und Affirmation erkennen. Sie legten die Verzerrungen und Fälschungen, die sich ihre protestantischen Kollegen bei Fragen der jüdischen Geschichte, Sprache usw. leisteten, oft schonungslos offen. Die jüdischen Wissenschaftler propagierten damit eine eigenständige, genuin jüdische Perspektive. Zugleich waren sie mit eigenen Ursprungsphantasien beschäftigt, für welche die Erfordernisse einer modernen jüdischen Identität den Ausgangspunkt darstellten. Hier wurde bereits das Paradigma der Ursprungsphantasie unter deutschen Juden seit der Mitte des 19. Jahrhunderts offenbar: die universalistische Umdeutung jüdischer Vergangenheit. Zunächst sollen die wissenschaftlichen Versuche erörtert werden, die Ursprünge von Sprach- und Volksgemeinschaften freizulegen. Im 19. Jahrhundert waren daran vor allem philologische und anthropologische Untersuchungen beteiligt.132 In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts etablierte sich die Philologie in der deutschen Wissenschaftslandschaft mit erstaunlicher Geschwindigkeit.133 Nachdem Sir William Jones bereits 1786 die linguistischen Gemeinsamkeiten zwischen Sanskrit und einigen europäischen Sprachen betont und Franz Bopp 1816 den entsprechenden sprachwissenschaftlichen Nachweis erbracht hatte, wurde der Aufbau des Sanskrits zum absoluten linguistischen System idealisiert, an welches andere Sprachgruppen nicht heranreichen konnten. Auch die semitischen Sprachen erwiesen sich hier bereits als inferior, obwohl sie dem indogermanischen Sprachstamm am nächsten standen. Die Verwandtschaft der indogermanischen Sprachen gab in der Folgezeit der vergleichenden Sprachforschung beträchtlichen Auftrieb. Dabei ging es nicht nur darum, die Ähnlichkeiten und Unterschiede herauszuarbeiten; stets war es auch das Ziel, die verschiedenen Sprachen auf einer Skala anzuordnen und demgemäß ihren Beitrag zur Sprachgeschichte zu bewerten. Es ist nur auf den ersten Blick verwunderlich, dass man schnell begann, der gerade entdeckten indogermanischen die semitische Sprachfamilie entgegenzustellen. Das Hebräische hatte bis weit ins 18. Jahrhundert als Sprache, die im Paradies gesprochen worden war, also als eigentliche Ursprache gegolten.134 Sanskrit stand damit, wenn dies auch kaum reflektiert wurde, in einem Konkurrenzverhältnis zum Hebräischen.135 In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts war man zunächst noch der Auffassung, dass der semitische Sprachstamm dem indogermanischen nahezu gleichrangig sei. Nach 1850 wandelte 132 Oft waren dabei die Grenzen zur orientalistischen Forschung fließend. Darauf soll im Weiteren jedoch nicht eingegangen werden. 133 Vgl. Gardt. 134 Vgl. Olender, S. 13 ff. 135 Die Mühelosigkeit, mit der hier von der semitischen Sprachfamilie plötzlich zum Hebräischen gesprungen wurde, ist lediglich ein Reflex auf denselben Vorgang in den Quellen. Die Autoren des 19. Jahrhunderts sprachen über die semitische Sprachfamilie, hatten aber häufig das Hebräische vor Augen. Said betont hingegen den »Orientalismus« im Antisemitismus: Said.

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sich das; eine deutlichere Abgrenzung gegenüber den semitischen Sprachen etablierte sich, womit stillschweigend auch deren Abwertung gemeint war.136 Die sprachwissenschaftlichen Erörterungen waren eng mit anthropologischen verbunden, wobei diese Verschränkung zur Jahrhundertmitte hin zunahm. Das war durch die allgemein verbreitete Annahme begründet, dass Verwandtschaft zwischen Sprachen auch eine Verwandtschaft unter ihren Sprechern voraussetzen müsste.137 Daher konnte es nicht überraschen, dass die Vorstellung einer Gemeinsamkeit zwischen den indogermanischen Sprachen die Annahme eines indogermanischen oder arischen Volkes hervorrief.138 Im »Brockhaus« fand sich 1845 erstmals der Eintrag »Indogermanische Sprachen«, 1866 wurde dem der Abschnitt »Indogermanen« hinzugefügt. Die Verquickung von Sprach- und Sprecherverwandtschaft war also spätestens in den 1860er Jahren Allgemeingut geworden. Eines der wichtigsten Werke, mit welchen anthropologische und ethnologische Zuschreibungen über die Arier Verbreitung fanden, stellte Christian Lassens fünfbändige »Indische Alterthumskunde« (1847–1862) dar. Im ersten Band von 1847 war ein Kapitel über die »arischen Inder« enthalten, worin sich eine scharfe Kontrastierung von Ariern und Semiten fand. Dabei umschrieb Lassen fünf Eigenschaften der Semiten, die sie von den Ariern unterschieden und die in der Folgezeit in zahlreichen Permutationen immer wieder Verwendungen finden sollten: subjektive Anschauungsweise, eingeschränkte Kulturfähigkeit, fehlendes Abstraktionsvermögen, ausschließende Religiosität, geringe politische Fähigkeiten.139 In diesem Text lässt sich ein qualitativer Sprung erkennen, der zwar nicht ohne Vorbilder war, jedoch eine Isolierung der Semiten bedeutete, die zuvor noch zusammen mit den Indogermanen zur weißen oder kaukasischen Rasse gezählt worden waren. Hier kombinierte sich die wissenschaftliche Ursprungsphantasie mit einer Abgrenzung, die stets zweierlei Aspekte enthielt. Am arischen Ursprung fand sich der semitische Andere, und das Wesen des arisch/indogermanischen Volkes bekam nur in der Kontrastierung Gehalt. Insofern kann man die gestiegene Häufigkeit der Gegenüberstellung – sei es der Sprachen oder der Völker – auf die grundsätzliche Vagheit dieser Kategorien und eine zunehmende Verzweiflung darüber zurückführen. Die Ursprungssuche drohte an ihren eigenen Ansprüchen zu scheitern. Übrig blieb der Gegensatz zu den Juden, deren Ursprungshaftigkeit man neidisch anerkennen musste. Unter der Hand fanden sich auch hier ähnliche Wahrnehmungsmuster wie in der literarischen Debatte wieder: Die fehlende Kulturfähigkeit passte zum Muster des Parvenüs, die isolierende Religion zum Talmudisten und die geringen politischen Fähigkeiten zum Nomaden. Somit wurden diese 136 137 138 139

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Vgl. Schleicher. Vgl. Römer, S. 62. Vgl. etwa Pott, insbes. S. 26. Lassen, S. 414 ff.

Muster auf mythische Urzeiten übertragen und auf einen anderen, wissenschaftlichen Begriff gebracht. Vor dem Hintergrund der gekennzeichneten Entwicklungen ist das Ausmaß überraschend, in dem sich Juden an diesen Debatten beteiligten. Seit Beginn des 19. Jahrhunderts ließ sich im deutschsprachigen Raum eine vergleichsweise große Zahl von Juden zu Orientalisten ausbilden. Man muss nicht auf die populären Versionen einer orientalischen Kultur unter europäischen Juden verweisen, wie sie beispielsweise in der Synagogenarchitektur oder auch in einigen literarischen Werken deutscher Juden sichtbar wurde.140 Schon in ihren wissenschaftlichen Betrachtungen findet sich ein anderer Blick auf den Orient. Der Herkunftsstolz, den hervorzubringen sich die romantische Indiensehnsucht bemühte, ließ sich auch auf die aristokratisch anmutende Abkunft der Juden aus dem orientalischen Altertum übertragen. Bei den gebildeten Juden gestalteten sich die Ursprungsphantasien allerdings weitaus komplizierter: Ihren Texten war ein charakteristischer Zwiespalt aus romantischer Sehnsucht und aufklärerischem Impetus eigen, so dass man eigene Identitätskonstruktionen in Angriff nahm, während man sich zugleich vielen Bemühungen von protestantischen Forschern gegenüber kritisch zeigte. Affirmation und Kritik waren in diesem Zusammenhang die zwei Seiten ein und derselben Medaille. Der Orientalist und Bibliograph Moritz Steinschneider lieferte ein Beispiel für eine kritische Haltung gegenüber den sich ausbreitenden Vorstellungen eines »Semitismus«. Für ihn lag 1873 – mit einigem zeitlichen Abstand also – der Mechanismus, der diesen Bemühungen zugrunde lag, auf der Hand: Nachdem die Indologen sprach- und religionsgeschichtliche Erkenntnisse gesammelt hätten, habe man durch »Zusammenfassung des Gemeinschaftlichen die Grundlinien zu einem Culturbild des Urstammes der ›Arier‹« erhalten.141 Gleiches wollte man in der Folgezeit auch für den »Semitismus« unternehmen, wobei hier die antisemitischen Vorurteile häufig den Autoren die Feder führen würden. Grundsätzlich sei es seiner Meinung nach schon schwer genug, »dem Character eines Individuums gerecht zu werden, um wie viel schwerer, allgemeine Urtheile über Völker und Racen zu fällen.«142 Es sei daher ratsam, einen Schritt zurückzugehen: »Die bisher vorgeführten Schriften nehmen die »Semiten« gewissermassen als etwas Gegebenes […]; sie fragen: Was oder wie sind die Semiten? aber nicht: Wer sind die Semiten?«143 Als Steinschneider 1873 diese Frage aufwarf, war die Zeit für solche grundsätzlichen Überlegungen aber wahrscheinlich schon vorbei: Die entsprechenden Forschungsgebiete waren fest etabliert und breiteten sich weiter 140 141 142 143

Vgl. zur Synagogenarchitektur Kalmar, Morish Style. (Steinschneider), Anzeigen, S. 18. Ebd. S. 45f. Ebd. S. 46.

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aus. Zugleich waren viele der hier generierten Annahmen über Arier und Semiten bereits auf den Weg in die bürgerliche Öffentlichkeit. Gegenüber den vielfältigen Bemühungen in diesen philologischen und anthropologischen Studien spielte die Völkerpsychologie eine besondere Rolle, deren jüdische Gründungsväter – der Sprachwissenschaftler Heymann Steinthal und der Philosoph Moritz Lazarus – mit den hier erörterten Diskussionen bereits seit den 1850er Jahren bestens vertraut waren. Ihre Wissenschaft schlug sich im Wesentlichen in der »Zeitschrift für Völkerpsychologie und Sprachwissenschaft« nieder. Institutionell konnte sie sich aber in Deutschland – auch aufgrund der jüdischen Herkunft ihrer Begründer – nie verankern. Die beiden Forscher bemühten sich gleichwohl, aus dieser unglücklichen Lage das Beste zu machen und schufen so eine Art »Wissenschaft in Gestalt einer Zeitschrift«.144 Auf deren Seiten liest man die Beiträge eines illustren Gelehrtenkreises aus den unterschiedlichsten Disziplinen. Wissenschaftsgeschichtlich etablierte die Völkerpsychologie eine Vorform des modernen Kulturbegriffes, wie er erst im 20. Jahrhundert durch die Kultursoziologie oder die Ethnologie durchgesetzt wurde.145 In ihr wurde Kultur (Volksgeist) als ein in sich geschlossenes System (objektiver Geist) präsentiert, das sich selbst reproduziert und fortschreibt, indem es neue Elemente nur dann aufnimmt, wenn diese den bereits vorhandenen Strukturen angepasst werden können.146 Bereits an dieser Stelle fällt auf, wie der Kulturbegriff der Völkerpsychologie als ein Reflex auf die Gesamtsituation der deutschen Juden zwischen Integration und Selbstbehauptung verstanden werden kann. Der Begriff des Volksgeistes war geschlossen genug, um erklären zu können, warum Juden trotz der Integration einen Rest eigener jüdischer Identität behalten wollten; gleichzeitig war er jedoch ausreichend offen, um die Integration der Juden in ihre Umwelt überhaupt nachvollziehbar zu machen.147 Einer der wichtigsten Ansatzpunkte für die neue Zeitschrift waren die hier vorgestellten Diskussionen. Zu ihnen verhielt sich die Völkerpsychologie wie eine Art Metawissenschaft, versuchten doch Lazarus und Steinthal nichts anderes als alles das zu systematisieren, was für viele gebildete Bürger einen erheblichen vorwissenschaftlichen Überzeugungsgrad besaß. Die schwierige Aufgabe für sie musste es daher sein, sich von den größten Phantastereien zu emanzipieren. Das zeigte sich bereits im ersten Jahrgang von 1860, in dem sich neben den »Einleitenden Gedanken über Völkerpsychologie« der beiden He144 Graevenitz, S. 29. 145 Die Völkerpsychologie ist immer noch ein Desiderat in der Wissenschaftsgeschichte. Vgl. Kalmar, Völkerpsychologie sowie Graevenitz. 146 Lazarus und Steinthal wenden hier den Apperzeptionsbegriff der Herbartschen Individualpsychologie auf die kollektive Ebene an. Vgl. Lazarus und Steinthal sowie Lazarus, Einige synthetische Gedanken. 147 Vgl. Kalmar, Völkerpsychologie, S. 687.

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rausgeber auch eine scharfe Abrechnung Steinthals mit den Forschungen des Religionswissenschaftlers und Orientalisten Ernest Renans befand, in der er programmatisch feststellte: »Wir wollen erklärt, aufgehellt sehen; jene Instincte, mit welchen Renan den Menschen beschenkt, sind einschläfernde Namen für die Lücken unseres Wissens, ein bequemes Kopfkissen.«148 Hinter solchen Abgrenzungen wurde das Bemühen der beiden Völkerpsychologen deutlich, ein nicht-rassistisches Konzept von »Volksgeist« zu propagieren, das immer wieder zum Credo ihrer Beiträge werden sollte.149 Zugleich ist der aufklärerische Impetus, mit dem sie sich in diese oft diffusen, von ungeklärten Identitätsansprüchen verkleisterten Debatten einmischten, mit Händen zu greifen. Jenseits einer letztlich rassischen Engführung, auf die auch die scharfe Trennung von semitischem und indogermanischem Geist hinauslief, strich Steinthal etwa 1862 in einer Erörterung der Simsonsage die Bedeutung allgemeingültiger, psychologischer Gesetzmäßigkeiten heraus. Für ihn gab es zwar Unterschiede zwischen den Völkern, aber diese waren historisch, nicht rassisch bedingt. Für den Fall der semitischen und der indogermanischen Völker betonte Steinthal sogar eine ursprüngliche Einheit, wie er sie anhand des von ihm durchgeführten Mythenvergleiches aufzeigte: »Der Kern dieser mannichfachen Uebereinstimmung dürfte in der That auf eine ursprüngliche Identität der mythischen Anschauung der erst später von einander getrennten Semiten und Indogermanen zurückzuführen sein.«150 Mit solchen Beispielen bemühte sich der Völkerpsychologe Steinthal um eine Abgrenzung gegenüber jenen wissenschaftlichen Ursprungsphantasien, die auf eine immer eindeutigere Isolierung der Semiten von den Indogermanen hinausliefen. Eine Kulturanalyse, die sich auf rassische Kategorien berief, konnte zugleich den einzelnen Kulturen nicht gerecht werden, da sie jeden Vergleich zwischen ihnen eigentlich ad absurdum führte.151 Betrachtet man die Bemühungen der beiden Völkerpsychologen Lazarus und Steinthal insgesamt, fällt auf, dass sie ihre neue Wissenschaft immer wieder durch Hinweise auf ihre eigene jüdische Identität erläuterten. In den frühen Jahren ihrer neuen Disziplin vermieden es die beiden Berliner Wissenschaftler jedoch, mit völkerpsychologischen Methoden eine größere Darstel148 Steinthal, Charakteristik, S. 330. 149 Ein besonders deutliches Beispiel lieferte 1875 wiederum Steinthal: Steinthal, Zur Darwinschen Frage. 150 Steinthal, Sage von Simson, S. 164. Steinthals Beschäftigung mit der Sage begann mit einer scharfen Kritik an einer Studie eines protestantischen Kollegen. Vgl. Steinthal, Die Simsonsage. 151 In ihren schlechten Momenten erlag die Völkerpsychologie den Versuchungen des Volksgeistkonzeptes. Insbesondere bei anderen Völkern fiel das, was man bei den Verfälschungen des jüdischen Volksgeistes kritisierte, nicht so sehr ins Gewicht. Vgl. Graevenitz.

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lung jüdischer Themen in Angriff zu nehmen.152 Wenn diese Aspekte zur Sprache kamen, geschah das meist in kritischer Absicht gegen protestantische Forscher. Dadurch verblieben die problematischen Aspekte der Völkerpsychologie, die sie mit den wissenschaftlichen Ursprungsphantasien teilte, lange Zeit im Hintergrund. In den späteren Werken, insbesondere von Lazarus, sollte jedoch deutlich werden, dass auch sie den Fallstricken des Volksgeistkonzeptes nicht entkam. Durch die Auseinandersetzung mit dem aufkommenden Antisemitismus der 1870er Jahre wurde Lazarus dazu veranlasst, seine schließlich zum Alterswerk gewordene »Ethik des Judentums« zu entwerfen.153 Auch von Steinthal sind erst seit den 1880er Jahren verstärkt Aufsätze zu jüdischen Themen überliefert.154 In ihrer methodischen Differenzierung des Volksgeistkonzeptes hatten die beiden Forscher die Allgemeingültigkeit der völkerpsychologischen Gesetze für alle Menschen und Völker hervorgehoben. In ihren inhaltlichen Aussagen, mit denen sie jüdische Themen aufgriffen, betonten sie die welthistorische Aufgabe der Juden im Dienst einer humanen Kultur. In seiner Schrift »Was ist national?« entwarf Lazarus dementsprechend eine eigene Vision der deutschen Zukunft. Dieses Volk müsse auf seinem Wege zur Erfüllung des menschheitlichen Ideals weiter voranschreiten, und die deutschen Juden hätten es dabei zu unterstützen: »Nicht nur berechtigt, vielmehr verpflichtet sind wir, was wir als Stamm an geistiger Eigenart, als Religion an Erbtugend oder Erbweisheit besitzen, auch zu erhalten, um es in den Dienst des deutschen Nationalgeistes als einen Theil seiner Kraft zu stellen.«155 Konzeptionell deutete sich hier schon an, dass Lazarus’ Spätwerk auf einer vergleichbaren Ebene angesiedelt war wie jene Arbeiten protestantischer Forscher, gegen die sich die Völkerpsychologen kritisch gewandt hatten: Der jüdische Volksgeist wurde essentialisiert, nur eben nicht mit negativen, sondern mit positiven Konnotationen, da Lazarus im jüdischen Volksgeist ein menschheitliches Ideal verwirklicht sah. Lazarus’ »Ethik des Judenthums« muss dabei als sein letzter entsprechender Versuch interpretiert werden.156 Zu einer kritischen Kulturtheorie, welche die Aporien des Volks152 Die diesbezügliche Zurückhaltung mag unterschiedliche Gründe haben: Zum einen könnte es damit zusammenhängen, dass Lazarus und Steinthal lange Zeit vor allem mit dem Aufbau der neuen Wissenschaft beschäftigt waren. Eine noch offensivere Beschäftigung mit jüdischen Themen hätte die ohnehin prekäre Stellung der Völkerpsychologie sicher nicht gefestigt. Es ist zudem offensichtlich, dass sie erst der an Vehemenz gewinnende Antisemitismus der 1870er und 1880er Jahre zu solchen Schritten veranlasste. Die problematischen Aspekte der philologischen und anthropologischen Forschung, die sie ja durchaus thematisierten, hatten sich ihnen bis dahin als überkommene Vorurteile dargestellt, die sich allmählich verlieren würden. 153 Zu diesem Plan vgl. Belke, Einleitung. 154 Vgl. Steinthal, Ueber Juden und Judentum. 155 Lazarus, Was ist national?, BAS, Bd. 1, S. 69. 156 Die Kritik Cohens an dem Werk Lazarus’ war entsprechend schneidend und bemängelte vor allem dessen Versuch, einen jüdischen Volksgeist als Einheit von der Umwelt isolieren zu wollen: Cohen, Problem der jüdischen Sittenlehre.

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geistes zwischen Essentialismus und Offenheit hinter sich lässt, gelangte die Völkerpsychologie nicht. Ein weiteres Gebiet, auf dem es in der Mitte des 19. Jahrhunderts zu ähnlichen Diskussionen wie in der Philologie und Anthropologie kam, war die protestantische Theologie, die sich seit dem Beginn des Jahrhunderts in einem tief greifenden methodischen und konzeptionellen Wandel befand. Die Anfänge der christlichen Religion – das Urchristentum – sollten nunmehr anhand historisch-kritischer Methoden analysiert werden. Damit entstand das zentrale Problem der protestantischen Theologie, zwischen Glauben und Historie vermitteln zu müssen. In diesem Zusammenhang etablierte sich in der deutschen Debatte ein charakteristischer Blick auf die jüdische Geschichte bis zum Aufkommen des Christentums.157 Eine idealisierte »hebräische« Phase, in der die wichtigsten Elemente des Monotheismus wie der Glaube an einen Gott, die mosaischen Gesetze oder die prophetische Literatur entstanden, wurde einer degenerierten, »jüdischen« Periode nach dem babylonischen Exil gegenübergestellt, in der die Rabbiner die Macht ergriffen und einen ritualisierten, legalistischen Kultus durchsetzten. Diese Zweiteilung erlaubte es den protestantischen Forschern, die theologischen Konzepte, nach denen die jüdische Geschichte auf die Entstehung des Christentums hinauslief, nunmehr als historische und soziale Prozesse zu skizzieren, in denen das Judentum immer noch die Negativfolie abgab. Die historische Gestalt des Urchristentums und die Figur Jesu standen schnell im Mittelpunkt des Interesses, insbesondere angeregt durch das Werk David Friedrich Strauß’ »Das Leben Jesu kritisch beleuchtet« von 1835. Dabei spielten bereits jene Probleme eine wichtige Rolle, welche die protestantische Theologie den Rest des 19. Jahrhunderts, ja, vielleicht bis heute maßgeblich prägen sollten: Ab wann lässt sich eigentlich von einem Christentum sprechen? War Jesus wirklich Christus oder doch »nur« ein gläubiger Jude? Notwendigerweise wurde an dieser Stelle das christliche Verhältnis zur jüdischen Religion überdacht. Fast immer hatte das Judentum als Kontrastbild für die Verherrlichung des Christentums im protestantischen Sinne zu dienen. Ein überaus deutliches Beispiel für diese Tendenz, die sich im zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts verstärkt ausprägte, ist die fünfbändige »Geschichte des Volkes Israel« (1843–1855) von Heinrich Ewald. Dem Anspruch methodischer Objektivität verpflichtet, wurde hier zum ersten Mal die Geschichte des antiken Israels als historische und damit (vordergründig) profane Entwicklung beschrieben. Israels welthistorische Aufgabe liege, so Ewald, im Erkennen der wahren Religion. Die Menschen im antiken Israel waren – so lässt sich seine Geschichtsbetrachtung verstehen – dieser wahren Religion jedoch nicht ge157 »It might thus be argued that Protestant Biblical scholars were less interested in representing the Jewish past than Protestant present.« Vgl. Pasto, S. 449.

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wachsen. Die göttliche Unmittelbarkeit wurde von ihnen als von außen kommender Zwang interpretiert. Daher prägte die antike jüdische Geschichte eine Dialektik aus der Offenbarung der wahren Religion und ihrer heteronomen Umdeutung.158 Spätestens hier erkennt man die grundlegende Tendenz Ewalds, seinen Anspruch auf historische Objektivität durch ein theologisches Programm zu unterlaufen, das letztlich auf reformatorische Wurzeln zurückging. Die ganze Wucht der Zuschreibungen, die in diesen Ursprungsphantasien aufbrechen konnte, zeigte sich in dem Bild, das solche Werke vom Judentum der zweiten Tempelperiode zeichneten. Insbesondere die Gestalt des Pharisäers verdichtete man zu einem Negativklischee, vor dem sich Jesus als religiöser Erneuerer und damit das Urchristentums umso konturschärfer abhob.159 Ewalds »Geschichte« führte die Pharisäer folgendermaßen ein: »[...] ihr Trieb ging von Anfang an weit weniger auf stilles Erkennen, mühevolles Ergründen und schweres Arbeiten als vielmehr auf Handeln und Herrschen im Volke [...]. Sie begriffen dass nur die Frömmigkeit auch im großen Volke so große Thaten bewirken und die Gemeinde zusammenhalten und stark machen konnte: aber von Herrschsucht getrieben und dunkler oder bewußter der eignen Selbstsucht fröhnend, machten sie die Frömmigkeit zu einer Art von Kunst und Gewerbe, um durch sie dauernd zu herrschen.«160

Neben Forschungen, die sich allgemein dem antiken Judentum widmeten, um letztlich das Urchristentum untersuchen zu können, entwickelte sich seit den 1860er Jahren erneut ein reges Interesse am Leben Jesu. Die Jesus-Biographie von Ernest Renan erlebte bereits im Laufe eines Jahres fünf deutsche Übersetzungen.161 Es war erklärtes Ziel des Franzosen, in mehreren Bänden analysieren zu wollen, wie die Indogermanen Christen werden konnten, wofür sie doch die Religion einer ihnen eigentlich unterlegenen Rasse annehmen mussten.162 Die Biographie Jesu sollte dafür nur der erste Schritt sein, den Ursprung der christlichen Religion aus der semitischen Rasse umfassend zu beschreiben. Entscheidend war dabei für ihn die Genialität Jesu. Mit ihm habe sich das Christentum vom Judentum entfernt und sei erst zu sich selbst gekommen. Später begann Renan diese Erkenntnis sogar in rassische Terminologie zu kleiden.163 Diese ahistorische Apotheose der Figur Jesus passte – trotz aller Kritik unter deutschen Theologen – durchaus zu deren Verständnis des Urchristentums: Es sollte möglichst wenig mit dem Judentum der zweiten 158 Vgl. Waubke. 159 Für die wissenschaftsgeschichtliche Aufarbeitung des Pharisäerbildes in der protestantischen Theologie vgl. allgemein Deines und Waubke. 160 Ewald, S. 415. 161 Vgl. das Nachwort in: Renan. 162 Ebd., S. 41. 163 Vgl. Olender, S. 75.

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Tempelperiode zu tun haben, dafür um so mehr mit dem einmaligen Charakter Jesus. Mit überraschendem Selbstvertrauen ging man nun über die bibelkritischen Zweifel hinweg, ob eine echte Biographie angesichts der Quellenlage überhaupt möglich sei. Im Hinblick auf das grundlegende Dilemma der Leben-Jesu-Forschung – war Jesus Christus? – betonte man dessen spirituelle Kraft. Hier eröffnete sich in der Nachfolge Schleiermachers die Möglichkeit, Jesus eine innere Innovationsfähigkeit jenseits seiner jüdischen Umwelt zuzuschreiben. Weil diese These letztlich ohne historische Beweise auszukommen hatte, musste sie rhetorisch umso vehementer vertreten werden. Der Rabbiner und Gelehrte Abraham Geiger durchschaute die Konstruktionen Renans und anderer, mit der die Leser zur Verherrlichung Jesu angehalten werden sollten.164 Geiger sah es als seine Pflicht an, gegen die theologischen Grundhaltungen seiner Zeit durch wissenschaftliche Forschung zu protestieren, beruhten sie doch weiterhin auf einer durchgängig negativen Sicht der jüdischen Religion: »Während die christliche Literatur jahraus jahrein das Judenthum und seine Bekenner in den mannichfachsten Wendungen bis zur Ekelhaftigkeit schmäht, während sie es sich als Verdienst anrechnet, durch das widerwärtigste Missionswesen in die Seelen unvorbereiteter Menschen einzudringen, Millionen verwendet, um das Judenthum zu vernichten, ist sie, die Starke, so reizbar, wenn die Schwächere ein Wort der Entgegnung wagt, und wägt und mißt es, ob es auch anständig genug ist, ihr Ohr nicht zu verletzen [...]. Und wenn s.g. christliche Gelehrte, die kein unpunktirtes hebräisches Wort lesen können, die sich blos der gebrechlichen Krücke früherer böswilliger oder halbwissender Scribenten zu bedienen wissen, mit souveräner Selbstsicherheit ihre albernen Urtheile auf den Markt bringen, so ist es Pflicht, ihnen das faule Handwerk zu legen.«165

Von hier aus muss man Geigers Versuch betrachten, eine konsequente Kritik der bei diesen theologischen Konstrukten vorausgesetzten Prinzipien zu betreiben. In einem offenen Sendschreiben an den protestantischen Theologen Heinrich Julius Holtzmann legte Geiger die Grundsicht seiner protestantischen Kollegen offen: »Sie und Ihre Genossen müssen zwar auf der einen Seite zugestehn, daß im Judenthum die volle reine Religionsidee lebendig war, [...] und möchten doch auf der andern Seite für das Christenthum ein Neues, vorher kaum Geahntes retten und können dies nicht anders als wenn Sie wiederum das Judenthum nicht blos in dem zeitlichen Ausdrucke seiner Erscheinung, sondern auch in seinem Grundwesen, in seiner tiefsten Innerlichkeit niedrig stellen.«166

164 Vgl. etwa Geiger, Judenthum und seine Geschichte. 165 Siehe das Schreiben Geigers an Franz Julius Delitzsch vom 18.7.1872, in: (Geiger), Aus Briefen, S. 310. 166 Geiger, Judenthum und seine Geschichte, S. 197.

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Seit seiner »Urschrift« von 1857 kehrte Geiger die gängigen Überzeugungen der protestantischen Theologie in Bezug auf das Judentum der zweiten Tempelperiode um. Von besonderer Bedeutung war hier ebenfalls das Bild des Pharisäers. Für Geiger waren die Pharisäer die liberalisierenden Kräfte innerhalb des damaligen Judentums, während er die Sadduzäer als die konservative Aristokratie ansah.167 Hiermit griff er das gängige Klischee, das den Pharisäern eine verknöcherte Frömmigkeit unterstellte, frontal an. Für ihn verkörperten diese vielmehr die Fähigkeit, religiöse Vorschriften kreativ an die politischen und sozialen Gegebenheiten ihrer Gegenwart anzupassen. Als Geiger dann 1863 seine Vorlesungen »Das Judenthum und seine Geschichte« veröffentlichte, ging er einen Schritt weiter: Er beschrieb Jesus als jüdischen Pharisäer, der ganz im Rahmen des zeitgenössischen Judentums verblieben und keineswegs der große religiöse Erneuerer gewesen sei. In Geigers Arbeit, die nicht nur die antijüdischen Verzerrungen der Theologen historisch zu widerlegen, sondern auch deren Argumentationsziel zu attackieren versuchte, blieb nicht viel von der Christlichkeit Christi übrig. Die Schlussfolgerung, die Geiger aus seiner Neubetrachtung der Pharisäer zog, ging insofern weit über eine einfache Kritik an Verzerrungen in der protestantischen Forschung hinaus. Die Reformfreudigkeit der Pharisäer spielte auch für Geigers eigene Reform eine wichtige Rolle.168 Geiger war nicht nur einer der profiliertesten Gelehrten der Wissenschaft des Judentums, sondern zugleich als Rabbiner tätig und gilt als der eigentliche Begründer des Reformjudentums. Für Geiger wurde historisches Bewusstsein zur unabdingbaren Voraussetzung für die seiner Ansicht nach notwendige Reform der jüdischen Religion. Das traditionelle Judentum versuchte – aus Geigers Sicht fälschlicherweise –, die jüdische Religion als unveränderliches System von Normen und Praktiken zu präsentieren. Demgegenüber sei die reale Geschichte des Judentums voll von Entwicklungen und Brüchen. Der jüdische Geist offenbare sich in verschiedenen Ausprägungen durch die Jahrhunderte hinweg; auch in der Gegenwart sei es also nicht richtig, jeden Veränderungsversuch als unerlaubten Eingriff in eine festgelegte Tradition zu verbieten.169 Einen weiteren Aspekt der Ursprungsphantasie, mit der Geiger seine Reformvorstellungen für eine zeitgenössische jüdische Religion in der jüdischen Geschichte zu verankern versuchte, stellte sein Universalismus dar. Das Judentum erschien ihm als die Religion per se – eine Institution, die sich bereits in einer Zeit entwickelt habe, als das erste geschichtliche Bewusstsein in die Welt getreten sei, und bis heute fortbestehe:

167 Vgl. Geiger, Urschrift. 168 Zur Bedeutung der Pharisäer für die Reformbewegung vgl. Schwartz. 169 Vgl. Meyer, Response to Modernity.

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»Eine weltgeschichtliche Erscheinung, indem es aus sich heraus ähnliche Erscheinungen erzeugt hat, das Christenthum und den Islam, sie als großartige Mächte in die Geschichte hineingeworfen hat, die umgestaltend, belebend auf große Kreise wirkten, maßgebend in der ganzen Richtung des Geistes, in der ganzen Entwickelung der Verhältnisse, und so auch das Judenthum vermittelst ihrer.«170

Geiger kann als ein hervorstechendes Beispiel für jenes Muster des Menschheitsjuden bezeichnet werden, mit dem viele deutsche Juden die historische Bedeutung des Judentums begriffen.171 Geiger war damit einer der ersten Vertreter der vielleicht wirkungsmächtigsten Ursprungsphantasie unter den deutschen Juden: das Judentum als allgemeine Mission in der Menschheitsgeschichte. Ein letztes Gebiet, auf dem die Wissenschaftsgeschichte des 19. Jahrhunderts wichtige Impulse für das Judenbild der Zeit lieferte, war die Geschichtswissenschaft. Im Verlauf des 19. Jahrhunderts kam der sich verwissenschaftlichenden Geschichtsschreibung zunehmend öffentliche Bedeutung zu.172 Protestantische Historiker interessierten sich in ihren Werken zunächst nur selten für das Judentum oder jüdische Geschichte. Ihre Disziplin als Ganzes beteiligte sich daher kaum an den in anderen Fächern weit verbreiteten Konstruktionen des Jüdischen. Lediglich im Rahmen der Forschungen zur antiken Geschichte wurde auch das Judentum der alten Welt in den Blick genommen.173 Selten kamen die Juden hingegen in Arbeiten zur mittelalterlichen Geschichte vor, ähnlich stellte sich das Bild für die neuzeitliche Geschichte dar.174 Hier mögen sich zunächst die von christlichen Überzeugungen getragenen Vorstellungen ausgewirkt haben, wonach die Juden in der Diaspora keine eigentlich geschichtliche Rolle mehr spielen, vielmehr als ein unveränderliches Überbleibsel über die Erde zerstreut leben würden. Für eine Disziplin, deren wichtigste Forschungsfragen im Zeitalter des Historismus um die Entwicklung moderner Staatlichkeit und Nationalität kreisten, bot jüdische Geschichte zudem kaum einen attraktiven Untersuchungsgegenstand. Daher blieb die biblische Geschichte der Juden genuines Gebiet der Theologen; auch die historische Altertumsforschung konkurrierte mit ihnen auf diesem Feld kaum, da sie die eigentlich biblischen Aspekte selten behandelte. Die »Römische Geschichte« (1854–1856) des Althistorikers Theodor Mommsen bildete hierbei eine gewisse Ausnahme. Zentrale Fragen von Staat170 Geiger, Judenthum und seine Geschichte, Bd. 1, S. 1f. 171 Vgl. allgemein Funkenstein, S. 31. Für Geiger vgl. Heschel. 172 Vgl. Hardtwig. 173 Hierzu ist grundlegend: Hoffmann, Juden und Judentum. 174 Hier bildeten erst später die von jüdischer Seite sehr beachteten Studien Otto Stobbes sowie des Botanikers Matthias Schleiden eine Ausnahme: Stobbe, Schleiden, Bedeutung der Juden sowie Schleiden, Romantik des Martyriums. Für die Neuzeit sollte sich das 1879 mit dem Erscheinen von Treitschkes »Deutscher Geschichte im 19. Jahrhundert« ändern.

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lichkeit und Nationalität wurden in diesem Werk auch auf die Juden und ihre Rolle in der antiken Welt bezogen. Allerdings spielte dieser Aspekt in der gesamten Darstellung Mommsens nur eine untergeordnete Rolle. Die »Römische Geschichte« lässt sich als eine »ursprungsmythische Fundierung europäischer Staatlichkeit« durchaus den wissenschaftlichen Ursprungsphantasien zuordnen.175 Bedeutsam für Mommsens Diskussion der Rolle der Juden ist die Tatsache, dass er die »Römische Geschichte« in zwei Hauptabschnitte unterteilte: Der erste Teil thematisierte die Herausbildung der inneren Einheit Italiens, der zweite die Geschichte der römischen Weltherrschaft.176 Die Juden nahmen bei Mommsen eine bestimmte Position an der Nahtstelle dieser beiden Stränge ein. Dabei offenbarte sich Mommsens Fixierung auf das Volksgeistkonzept, mit dessen Hilfe er die Dar- und oft Gegenüberstellung verschiedener Völker organisierte. Implizit wurde in diesem Zusammenhang häufig auf eine Werteskala angespielt, nach welcher der Althistoriker verschiedene Völker anzuordnen bereit war. An jener Stelle in der »Römischen Geschichte«, an der Mommsen auf die Rolle der Juden in der antiken Welt zu sprechen kam, versuchte er den Prozess zu beschreiben, mit dem die römische Kultur in das Zeitalter des Kosmopolitismus einmündete, die innere Einheit der italischen Völker also von der römischen Weltherrschaft als ordnendes Prinzip seiner Darstellung abgelöst wurde. Dem Völkergemisch auf der italienischen Halbinsel hatte Mommsen eine gemeinsame Nationalität unterstellt, der es allerdings nicht gelang, den ihm eigentlich zukommenden Nationalstaat zu begründen. Ihr späterer Weg zu einem kosmopolitischen Weltreich erschien folgerichtig als Verlust des Eigenen. Allerdings war für ihn dieser Prozess notwendig. Da die äußere Einheit in Form eines Nationalstaates den italischen Völkerschaften versagt geblieben sei, müsse nun die innere Einheit durch eine gemeinsame kosmopolitische Kultur erlangt werden. Das bedeute der historische Kompromiss zwischen der griechischen und lateinischen Nationalität.177 Eine der wichtigsten Gruppen, die diese Kultur hervorzubringen half, identifizierte Mommsen in den Juden: »Auch in der alten Welt war das Judenthum ein wirksames Ferment des Kosmopolitismus und der nationalen Decomposition und insofern ein vorzugsweise berechtigtes Mitglied in dem caesarischen Staate, dessen Politie doch eigentlich nichts als Weltbürgerthum, dessen Volksthümlichkeit eigentlich nichts als Humanität war.«178

In seinen Ausführungen schnitt der Althistoriker die Eigenschaften, die er dem jüdischen Volk zuschrieb, auf die Funktion hin zu, die er diesem im Rah-

175 176 177 178

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Flaig, S. 322. Vgl. Mommsen, Römische Geschichte, Bd. 1, S. 5f. Mommsen, Römische Geschichte, Bd. 2, S. 390. Mommsen, Römische Geschichte, Bd. 3, S. 507.

men seiner Darstellung zugewiesen hatte.179 Dabei hielt er ausdrücklich fest, dass diese Merkmale »in der alten wie in der neuen Welt« vorkämen. Die Juden zeichneten sich vor allem durch Mobilität und Anpassungs- bei gleichzeitiger Beharrungsfähigkeit aus: »Das merkwürdig nachgiebig zähe Volk war in der alten wie in der heutigen Welt überall und nirgends heimisch und überall und nirgends mächtig.«180 »Der Jude« sei in der Lage, sich die »fremde Volksthümlichkeit« anzueignen, ohne dabei den »Kern seiner nationalen Eigenthümlichkeit« aufzugeben.181 Das wesentlichste Merkmal der Juden, darauf lässt sich Mommsens Erörterung kondensieren, war ihre Ambivalenz: Sie muteten ihm zugleich höchst eigen und veränderlich, fest und flüssig an. Darin lag die historische Bedeutung, die Mommsen ihnen im römischen Staat zuerkannte. Der große publizistische Erfolg der »Römischen Geschichte« sollte auch Mommsens Behandlung des antiken Judentums in der Folgezeit eine nicht zu unterschätzende Wirkung verleihen: Seine These von dem Ferment der Dekomposition wurde zu einem antisemitischen Schlagwort.182 Entscheidend für die folgende Entwicklung war es, dass Mommsen dem jüdischen Charakter eine überzeitliche Funktion als Antikörper der Nationsbildung zuwies, obwohl er, wie er den Antisemiten gegenüber immer wieder einwandte, das im Falle Roms als eine letztlich positive Eigenschaft verstanden wissen wollte.183 Bereits in dieser Zuschreibung als antinationales Prinzip tauchte der Anschlusspunkt auf, mit dem später die jüdische Geschichte – und dabei auch gerade die Rolle der Juden in der Neuzeit – eingeordnet werden sollte, ohne zugleich das Grundverständnis historistischer Geschichtsschreibung ad acta legen zu müssen: Die sperrige Geschichte der Juden sollte sich in der Folgezeit ex negativo in den Rahmen etablierter Nationalstaatskonzepte integrieren lassen. Gleichzeitig hatte sich hierin ein weiteres Mal das Wahrnehmungsmuster des jüdischen Nomaden manifestiert. Auch hierzu gab es ein jüdisches Pendant: Einige Jahre später begann der jüdische Historiker Heinrich Graetz, seine monumentale »Geschichte der Juden« zu veröffentlichen. Da er die gesamte jüdische Geschichte »von den ältesten Zeiten bis auf die Gegenwart« betrachten wollte, wurde für ihn deren Ein-

179 Zum Folgenden vgl. Hoffmann, Juden und Judentum, S. 90 ff. Dabei ist dem Hinweis, dass Mommsen hier offensichtlich zeitgenössische Annahmen über den vermeintlichen jüdischen Volksgeist auf die Vergangenheit überträgt, nur zuzustimmen. 180 Mommsen, Römische Geschichte, 1. Aufl., Bd. 3, S. 506. 181 Ebd., S. 507. 182 Das wurde besonders im Zusammenhang des noch zu diskutierenden doppelten Streits um Treitschkes deutlich. Vgl. allgemein Hoffmann, Juden und Judentum, S. 96 ff. 183 Vgl. etwa den Brief des kaiserlichen Kammerherrn von Gordon, den dieser im September 1881 an Mommsen sandte, sowie das überlieferte Konzept der Antwort Mommsens. Beides ist zu finden in: Nl. Mommsen, Kasten 37.

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heit zum zentralen Problem.184 Graetz versuchte die Gesamtheit der jüdischen Geschichte mit Hilfe von drei Elementen zu begreifen. Jüdische Geschichte wurde gerade durch die beständigen Verfolgungen und Gewaltexzesse der Christen zu einem Ganzen. Aber dieser Einheit von außen stand etwas anderes zur Seite: Im fünften Band, mit dem Graetz nach der Tempelzerstörung den eigentlichen Diaspora-Teil seiner Geschichte beginnen ließ, definierte er den Zusammenhalt der jüdischen Geschichte über die Zeiten hinweg: »Auf der einen Seite der unsterblich scheinende jüdische Stamm, als der Leib, auf der andern Seite die nicht minder unvergänglich scheinende Lehre des Judenthums, als die Seele.«185 Mit Leib und Seele ausgestattet, erschien die jüdische Geschichte nunmehr wesentlich substantieller, als es eine reine Religionsgeschichte sein konnte. Folgerichtig führte er dann auch aus, dass man sie aus sich selbst heraus verstehen müsse. Leib und Seele vereinheitlichten bei Graetz die jüdische Geschichte, die Ambivalenz von Festigkeit und Beweglichkeit zog sich – durch äußere Bedrohung unterstützt – in einem Wesen zusammen. Demgegenüber traten in Graetz’ Argumentation universalistische Definitionen der jüdischen Geschichte im Sinne einer welthistorischen Mission zurück.186 Den Begriff der Nation benutzte Graetz nur selten, aber die besondere Beständigkeit, die er dem jüdischen Volk in seiner Geschichte zuschrieb, konnte von protestantischen Nationalisten als ein Assimilationshindernis verstanden werden. Die Juden waren jedenfalls auf keinen Fall das antinationale Prinzip, sie waren das vielleicht reinste Volk. Die hier beschriebenen Debatten in den Geistes- und Kulturwissenschaften sind sicherlich zu vielschichtig, um sie auf einen einfachen gemeinsamen Nenner bringen zu können. Zugleich demonstrieren auch sie die Bedeutsamkeit der Wahrnehmungsmuster für das Verhältnis von gebildeten Juden und Protestanten. Während in der protestantischen Theologie besonders das Muster des jüdischen Talmudisten verwandt wurde, stand in der historischen Forschung vornehmlich das des jüdischen Nomaden im Vordergrund. Die philologischen und anthropologischen Arbeiten griffen demgegenüber auf nahezu alle Muster, also auch auf den Materialisten und den Parvenü, zurück. Jüdische Forscher kritisierten diese Zuschreibungen, z. T. in ganz grundsätzlicher Form, benutzten jedoch ebenso häufig ein eigenes Muster: das des Menschheitsjuden. Allen diesen Bemühungen war das Ziel gemeinsam, jenseits der 184 Dies war bereits der Ausgangspunkt für seine 1846 erschienene »Konstruktion der jüdischen Geschichte«. Vgl. Graetz, Konstruktion. 185 Graetz, Geschichte der Juden, Bd. 5, S. 2. Die Hervorhebungen befinden sich im Original. 186 Sie sind allerdings an einigen Stellen angelegt, etwa wenn Graetz anzuerkennen forderte, dass die sittliche Kultur der Gegenwart nicht nur auf griechisch-antiken, sondern ebenfalls auf jüdischen Fundamenten ruhe. Schon in der »Geschichte der Juden« tauchte bereits ein bürgerliches Ideal der Sittlichkeit auf, welches das Judentum als erstes zu verkörpern vermochte. Vgl. Graetz, Geschichte der Juden, Bd. 1, S. XXII ff.

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verwirrenden historischen Fakten und Prozesse einen Angelpunkt für ein gegenwärtiges Problem zu finden. Wenn es sich zeigen ließ, dass es ein überzeitliches jüdisches Wesen gibt, das sich bereits in antiken Urzeiten offenbarte, wäre die Frage nach dem jüdischen Charakter im modernen Wandel geklärt – und das für Juden wie Protestanten. Daraus entwickelte sich kein im eigentlichen Sinne historisches Unterfangen, um das Gewordensein der Juden aus einer Vergangenheit zu untersuchen. Es war ein Sprung an den vermeintlich ewig gültigen Anfang.

1.5 Das gebildete Syndrom gegen gebildete Juden: Richard Wagners »Das Judenthum in der Musik« »Wer war es nun, der zuerst die Stirn hatte, in den Sphären der Bildungswelt offen und geradezu auszusprechen, er empfinde eine Idiosynkrasie gegen die Juden? Wer war es, der den Juden das Recht und die Fähigkeit, in einem bestimmten Kunstgebiete sich schaffend zu erweisen, absprach? Es war Richard Wagner! Er begann den kühnen Frevel an der Bildung und Humanität.«187

Als Richard Wagner seinen Essay »Das Judenthum in der Musik«, den er bereits 1850 unter dem Pseudonym K. Freigedank in der »Neuen Zeitschrift für Musik« veröffentlicht hatte, 1869 erneut dem Publikum zugänglich machte, kündigte sich eine neue Ära an. Der Komponist bündelte das bis dato diffuse und weitgehend latente Gemisch aus einzelnen antisemitischen Stimmen und problematisierenden Wahrnehmungsmustern zu einem gebildeten Syndrom gegen gebildete Juden. Wagner bezog seine antisemitischen Vorwürfe konkret auf das Kulturleben der Zeit und konstatierte hierbei einen schädlichen Einfluss der Juden. Damit entstand kurz vor der endgültigen Vollendung der rechtlichen Gleichstellung der Juden ein äußerst gefährlicher Antagonismus. Konnte man bei der Erstveröffentlichung 1850 noch eine unaufgearbeitete Rivalität mit dem damals berühmteren jüdischen Komponisten Giacomo Meyerbeer als (zumindest teilweise) Erklärung für die Publikation, die ja noch dazu unter einem Pseudonym geschehen war, ins Feld bringen, so entfiel das fast zwei Jahrzehnte später.188 Wagner brachten diesen Text nunmehr unter 187 Auerbach, Richard Wagner, S. 353. 188 Die ermüdende Debatte über die Bedeutung des Textes für Wagners Gesamtwerk hält unvermindert an. Für wie wichtig man Wagners Antisemitismus für sein musikalisches Schaffen

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seinem eigenen Namen heraus und erweiterte, ja, verschärfte diesen mit einem Vor- und Nachwort erheblich. Die Resonanz ließ nicht lange auf sich warten und fiel diesmal auch wesentlich umfangreicher aus.189 Darüber hinaus war der Essay seines ursprünglichen Bezugsrahmens enthoben und wirkte damit gleichsam wie eine allgemeingültige Betrachtung der Zustände, kurz vor Beginn des postemanzipatorischen Zeitalters. Es lassen sich einige grundlegende Aspekte hervorheben, die diesem Text eine Vorreiterrolle für nachfolgende Äußerungen mit ähnlicher Stoßrichtung verliehen. Zunächst zauderte Wagner überhaupt die Stimme gegen Juden zu erheben. Er könne sich »nicht ohne Beklemmung« dazu durchringen, gestand er dem Leser in dem neuen Vorwort.190 Oft werden solche Redehemmungen als nur vorgetäuschte Zurückhaltung interpretiert, die es dem Autor erlaubt, umso aggressiver gegen Juden vorgehen zu können. Dabei werden jedoch die kulturellen Sagbarkeitsregeln außer Acht gelassen, die einen solchen Angriff auf Mit-Bürger verboten. Wenn man diese Schranken ernst nimmt, erkennt man die eigentlichen Schwierigkeiten antisemitischer Autoren in der bürgerlichen Bildungskultur. Auch im Falle der Juden mussten die Sagbarkeitsregeln außer Kraft gesetzt werden, welche normalerweise den Umgang von gebildeten Bürgern und Bürgerinnen organisierten – paradoxerweise ein weiteres Zeichen für den hohen Grad an Integration, den die Juden bereits erreicht hatten. Um einen Angriff auf gebildete Juden dennoch lancieren zu können, entwickelte Wagner diverse Rechtfertigungsstrategien. Zunächst nahm er einige Juden vom Kreis derer aus, die er attackierte. Wagner gab sich überzeugt, dass »diese seltenen Freunde mit mir auf ganz gleichem Boden stehen«, ja, dass sie selber unter den Problemen, die er beschrieb, am meisten litten.191 Mit diesem Argumentationstrick galten die Sagbarkeitsregeln scheinbar weiter, zumindest für »jüdische Freunde«. Der Angriff konnte nun noch heftiger ausfallen, zumal der Angreifer auf stillschweigende Zustimmung von Ausnahmejuden hoffen zu können glaubte. Darüber hinaus kehrte Wagner das Verhältnis von Täter und Opfer in später oft zu beobachtender Weise um. Er sah sein Werk von Juden verunglimpft und sich selber als das Opfer einer »umgekehrten Judenverfolgung«.192 Wer in diesem Sinne nur in Notwehr handelt, darf laut dieser Logik die Sagbarkeitsregeln missachten, um die eigene Haut zu retten. Mit einem letzten Mittel der Rechtfertigung, das in solchen Texten populär ist, auch einschätzen mag, es kann keinen Zweifel über den antisemitischen Charakter dieser Schrift geben, die zudem kein einmaliger »Ausrutscher« unter seinen politischen Äußerungen darstellte. Vgl. Borchmeyer, Maayani und Vill. 189 Der Text ist wieder abgedruckt in: Wagner. Dort findet sich auch eine umfangreiche Dokumentation der Reaktionen. 190 Wagner, S. 142. 191 Ebd., S. 142. 192 Ebd., S. 176.

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berief sich Wagner auf eine höhere Instanz: die natürliche, unwillkürliche Abneigung gegenüber Juden. Gegen einen solchen Instinkt lassen sich, wurde hier impliziert, langfristig keine Barrieren aufrechterhalten. Die Ablehnung würde sich so oder so Bahn brechen. Nachdem Wagner die bürgerlichen Redehemmungen überwunden glaubte, ging er dazu über, seine Gegner zu kennzeichnen: die gebildeten Juden, deren vermeintliche Macht im Kultur- und insbesondere im Musikleben der Komponist aufzeigen wollte. Seine Gegner typisierte er dabei mit den in der bürgerlichen Bildungskultur bereits etablierten Wahrnehmungsmustern. Das Muster des jüdischen Parvenüs zog sich durch den ganzen Text. Es klang etwa bei den längeren Ausführungen zur Sprache an. Der Jude spreche die Sprache seines jeweiligen Landes nur als Ausländer, weswegen er auch zur wahren kulturellen Leistungen unfähig sei: »In dieser Sprache, dieser Kunst kann der Jude nur nachsprechen, nachkünsteln, nicht wirklich redend dichten oder Kunstwerke schaffen.«193 Der gebildete Jude habe sich, Wagner wollte es nicht leugnen, der Bildungskultur angepasst, wobei er allerdings Bildung als ein Mittel betrachte, nicht als Wert an sich. Er verbleibe an der Oberfläche: »[…] nie drängte es ihn, ein Bestimmtes, Notwendiges und Wirkliches auszusprechen; sondern er wollte gerade eben nur sprechen […].«194 Das Motiv des jüdischen Nomaden schloss sich hier nahtlos an: »Fremd und teilnahmslos steht der gebildete Jude inmitten einer Gesellschaft, die er nicht versteht, mit deren Neigungen und Bestrebungen er nicht sympathisiert, deren Geschichte und Entwicklung ihm gleichgültig geblieben sind.«195 Das gleiche gilt für das Muster des jüdischen Materialisten, da der Jude den »machtgebenden Adel« des Geldes zum Erwerb des »käuflichen Luxusartikel[s]« Bildung benutze.196 Der gebildete Jude habe, stellt Wagner in einer weiteren Wendung fest, keine tiefe Verwurzelung in einem Volksgeist und könne daher keine Kunst schaffen. Im Gegensatz zu Mitgliedern anderer Nationen besäßen die Juden einen solchen Zusammenhang überhaupt nicht, womit Wagner schließlich das Muster des jüdischen Talmudisten bemühte: »[…] hier hat sich seit Jahrtausenden Nichts aus innerer Lebensfülle weiterentwickelt, sondern Alles ist, wie im Judentum überhaupt, in Gestalt und Form starr haften geblieben. Eine Form, welche nie durch Erneuerung des Gehaltes belebt wird, zerfällt aber; ein Ausdruck, dessen Inhalt längst nicht mehr lebendiges Gefühl ist, wird sinnlos und verzerrt sich.«197

193 194 195 196 197

Ebd., S. 150. Ebd., S. 155. Ebd., S. 154. Ebd., S. 153f. Ebd., S. 158.

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Wie bis dato kein Autor kombinierte Wagner die Wahrnehmungsmuster und bezog sie auf die gebildeten Juden seiner Gegenwart. Bei ihm erschienen sie wie gebildete Doppelgänger: Sie waren Teil der eigenen Kultur, standen aber zugleich außerhalb von ihr – und darin lag ihre Gefährlichkeit. Mit dieser Konstellation verbanden sich drei weitere Eigenschaften, mit denen Wagners Text Maßstäbe für ihm folgende Autoren setzte. Der Essay spiegelt eine charakteristische Erlösungshoffnung. Der schädliche Einfluss der gebildeten Juden auf das allgemeine Kulturleben erschien dem Komponisten nur möglich, weil sich darin selbst eine »innere Lebensunfähigkeit« ausgebreitet habe.198 Die Abwehr der Juden und ihrer Macht war auf diese Weise untrennbar mit der Sehnsucht nach einer tiefgründigeren »eigenen« Kultur verknüpft. Sich von den Juden zu befreien, versprach eigene Glückseligkeit. Wenn man sich diesen Aspekt vor Augen führt, ist die kategoriale Ratlosigkeit um so bemerkenswerter, die Wagners Essay an den Tag legte, wenn es um Auswege aus dem vermeintlichen Dilemma ging. Hatte Wagner auf vielen Seiten argumentiert, dass Juden ungeachtet aller Akkulturation nicht echter Teil der allgemeinen Kultur geworden waren und das grundsätzlich auch nicht vermochten, widersprach das der trotzdem erhobenen Forderung nach weiterer Assimilation, die er am Ende seines Essays formulierte: »Gemeinschaftlich mit uns Mensch werden, heißt für den Juden aber zu allernächst so viel als: aufhören, Jude zu sein.«199 Wenn Juden an einem anderen Volksgeist keinen Anteil nehmen können, wie ließ sich dann behaupten, dass sie genau das weiter versuchen sollten? Aus diesem Widerspruch, den Fallstricken des Volksgeistkonzeptes, heraus, den Wagner an mehreren Stellen des Textes zu bemerken scheint, erklärt sich, dass er eine viel radikalere Lösung zumindest in Erwägung zieht: »gewaltsame Auswerfung des zersetzenden fremden Elementes«.200 Der letzte und vielleicht bemerkenswerteste Bestandteil von »Das Judentum in der Musik« liegt in dem beachtlichen Bedrohungspotential, das den sich akkulturierenden Juden darin unterstellt wird. Wie sonst kommt es zu schaurigen Passagen wie der folgenden, mit der Wagner auf den fatalen Einfluss der Juden einging? »Erst wenn der innere Tod eines Körpers offenbar ist, gewinnen die außerhalb liegenden Elemente die Kraft sich seiner zu bemächtigen, aber nur um ihn zu zersetzen; dann löst sich wohl das Fleisch dieses Körpers in wimmelnde Viellebigkeit von Würmern auf; wer möchte aber bei ihrem Anblick den Körper selbst noch für lebendig 198 Ebd., S. 171. 199 Ebd., S. 173. 200 Bei solchen Textstellen ist die Verlockung groß, eine eindeutige Traditionslinie zum Holocaust zu ziehen. Darauf beruht es sicher auch, dass über Wagners Antisemitismus nach wie vor heftig gestritten wird. Vor dem historischen Hintergrund des 19. Jahrhundert darf jedoch nicht außer Acht gelassen werden, dass eine körperliche Vernichtung der Juden kaum denkbar war. Es ist daher wenig sinnvoll, solchen eher seltenen Zitaten eine konkrete Absicht oder gar einen eliminatorischen Antisemitismus zu unterstellen.

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halten? […] nur im wirklichen Leben können auch wir den Geist der Kunst wiederfinden, nicht bei ihrer Würmer-zerfressenen Leiche.«201

Woher stammen solche Zerstörungsphantasien und wieso projizieren sie sich auf Juden? Am Anfang solcher Texte lag die Angst vor dem Unheimlichen, das nur derjenige ausstrahlen kann, der einem zu nahe gekommen ist. Die gebildeten Juden stellten eine Gefahr dar, weil sie in den Augen ihrer antisemitischen Gegner die bürgerliche Bildungskultur von innen heraus bedrohten – und das unterschied sie von anderen gesellschaftlichen Gruppen. Sie waren im Kern Betrüger, indem sie die Nichtjuden über ihre eigentliche Identität und ihre eigentlichen Ziele zu täuschen versuchten. Dieser Schwindel – Bildung und Kultur nur zu heucheln – bildete die Voraussetzung für den zersetzenden Einfluss der Juden. Mit Wagners »Das Judenthum in der Musik« war das gebildete Syndrom gegen gebildete Juden fast vollständig entwickelt; nur die politischen Schlussfolgerungen blieben noch weitgehend unerörtert. Das sollte sich mit dem neuerlichen Aufkommen der »Judenfrage« ein Jahrzehnt später ändern. Erst mit Beginn der postemanzipatorischen Phase nach 1871 politisierte sich dieses Syndrom, vor allem weil viele gebildete Bürger glaubten, dass ihre Bildungskultur in einer Krise steckte.

1.6 Beseitigung der Ambivalenz? Die Position der Juden in der bürgerlichen Bildungskultur Die tief greifenden Veränderungen, denen das deutsche Judentum seit dem Ende des Ancien Régime unterworfen war, resultierten größtenteils aus der Verbürgerlichung, wobei die bürgerliche Bildungskultur von besonderer Bedeutung war. Es lassen sich in diesem Zusammenhang folgende Schlussfolgerungen ziehen: Die bürgerliche Bildungskultur entstand zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Sie basierte auf dem Bildungsideal, das im protestantischen Raum seit der Frühen Neuzeit beständig an Autorität gewann, ohne sich vollständig von der religiösen Tradition zu lösen. In der preußischen Reformzeit konnte es zur Institutionalisierung dieses Ideals in den bürgerlichen Ausbildungsinstanzen kommen. Das war der entscheidende Schritt zur Ausformung einer Bildungskultur. In den neu gestalteten Bildungsinstitutionen ging es um die Vermittlung und Aneignung von Bildungswissen, die in »Berechtigungen« für das spätere Berufsleben umgewandelt werden konnten. Zugleich bedeutete das Durchlaufen dieser Institutionen, an einer Kultur teilzuhaben. Ihre Absolventen verfügten über ähnliche Anschauungen und Wertvorstellungen, 201 Wagner, S. 171f.

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sie teilten einen Habitus sowie bestimmte Kommunikationsformen und besaßen auch im späteren Leben gemeinsame Handlungspotentiale; kurz, sie wurden gebildete Bürger. Viele Juden orientierten sich im Prozess der Verbürgerlichung am Bildungsideal und wurden damit in einem beachtlichen Ausmaß Teil der Bildungskultur. Der Erfolg dieses Wandels lag nicht zuletzt in Voraussetzungen, durch welche die Juden eine ähnliche Position zum Bildungsideal und der entstehenden Bildungskultur wie protestantische Bürger einnehmen konnten. Sie lasen ihre religiösen Traditionen in diesen Wandel hinein, so dass sich der Bildungsbegriff auch für ihre Herkunft als kompatibel erwies. Dadurch erhielt die bürgerliche Bildungskultur im 19. Jahrhundert für Juden wie für Protestanten eine religiöse Fundierung, die – und das war das entscheidende Resultat der Veränderungen – nicht immer offen zutage trat. Die Säkularreligion »Bildung« funktionierte in weiten Teilen wie eine Religion, ohne explizit eine zu sein. »Der Cultus muß Cultur sein, die Religion muß Bildung werden« – hatte Auerbach gefordert.202 Mit Voranschreiten des Jahrhunderts entwickelte sich hier eine charakteristische Konstellation: Die religiöse Verbrämung band Juden und Protestanten gemeinsam an die Bildungskultur und konnte sie dennoch leicht voneinander trennen – schließlich unterschieden sie sich in ihrem religiösen Bekenntnis. Im zweiten Jahrhundertdrittel begann eine Phase des Fortschritts bei der Integration und Akkulturation der Juden. In Antizipierung eines weiteren Aufstiegs intensivierten die Juden vor allem ihre Bemühungen um die Bildungskultur, was angesichts ihrer beruflichen Chancen in diesem Umfeld durchaus überrascht und von der besonderen Bedeutung der Bildungskultur für die jüdische Integration zeugt. Die Revolution 1848 setzte sowohl die Bildungsreform als auch die Emanzipation der Juden auf die politische Agenda. Diese Bemühungen schlugen zunächst fehl: Während es in der Bildungsreform keinen Durchbruch gab und der »Schulkampf« sich bis zum Beginn des Kaiserreiches und danach eher verschärfte, wurde die Judenemanzipation erst 1869 im Norddeutschen Bund und dann 1871 im ganzen Reich vollendet. In der Phase zwischen Revolution und Reichsgründung wirkte sich der intensivierte Integrationsprozess vor allem dahingehend aus, dass die Alltagskontakte zwischen Juden und Protestanten – und besonders zwischen den gebildeten Bürgern unter ihnen – zunahmen. Neben den Orten der jüdischen »Subkultur« entstanden vermehrt Einrichtungen, wo Juden und Protestanten aufeinander trafen. Auch wenn persönliche, freundschaftliche Intimität zwischen gebildeten Juden und Protestanten noch selten war, kam sie doch vor, obwohl ihr durch die explizite jüdische Identität eines der Beteiligten Grenzen gesetzt sein konnten. Es gab somit auf mehreren Ebenen Grund zur Hoffnung, dass 202 Auerbach, Gesammelte Schriften, S. 187.

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die jahrhundertealten Probleme zwischen Juden und Nichtjuden endgültig der Vergangenheit angehörten. Gerade die Weiterexistenz jüdischer Identität trotz aller sozialen und kulturellen Annäherung löste jedoch Fragen nach der Unveränderlichkeit im jüdischen Wesen aus – und zwar auf beiden Seiten, wenn auch aus unterschiedlichen Antrieben heraus. Noch vor der Reichsgründung etablierten sich die Selbst- und Fremdwahrnehmungen von gebildeten Juden und Protestanten weitgehend. An der Verbreitung von Judenbildern wirkten im 19. Jahrhundert viele gesellschaftliche Funktionsbereiche mit. Von herausragender Bedeutung für gebildete Bürger waren Literatur und Wissenschaft. Deshalb trugen gebildete Juden wie Protestanten ihren Klärungsbedarf angesichts der sich transformierenden jüdischen Gemeinschaft dort aus. So vergleichbar die Debatten in den beiden unterschiedlichen Bereichen verliefen, so anders war doch eine grundlegende Tendenz: Während sich die Literatur zunehmend gegenwärtiger Lebenswelten des 19. Jahrhunderts zuwandte und einen bürgerlichen Wertekosmos zu beschreiben versuchte, richtete sich das Interesse in den Geistes- und Kulturwissenschaften auf eine oft weit zurückliegende Vergangenheit. Allerdings zielten Protestanten in beiden Bereichen auf das gleiche Ergebnis: ein unwandelbares jüdisches Wesen, das der protestantischen Variante der bürgerlichen Bildungskultur diametral gegenüberstand. In der entsprechenden Verdichtungsarbeit versuchten sie, die irritierende Ambivalenz der Juden in ein Gegenbild zu vereinheitlichen. Hierbei zeigten sich Strukturen, deren Bedeutung über eine simple Proliferation von Stereotypen weit hinausgeht. Juden wie Protestanten benutzten nicht einfach nur Vorurteile, wenn sie über einander sprachen. Sie sahen vielmehr ihre eigene Identität in Relation zu derjenigen der anderen Seite. In ihren Texten lassen sich daher bestimmte Muster isolieren, mit denen sie einander wahrnahmen. Für Protestanten lassen sich vier solcher Muster beschreiben: Das Muster des Parvenüs: Juden wird unterstellt, trotz einer oberflächlichen Anpassung an die allgemeine Kultur in ihrer jüdischen Subjektivität gefangen zu sein. Daher seien sie nur eingeschränkt kulturfähig, insbesondere die für Wissenschaft, Kunst und Philosophie nötigen Fähigkeiten besäßen sie nicht. Hierfür wäre ein tieferes Eindringen in die Kultur nötig, was Juden aber unmöglich sei. Sie verblieben an der Oberfläche der Kultur, benutzten diese eher als Mittel denn als Wert an sich. Das Muster des Talmudisten: Von Juden wird in solchen Überlegungen behauptet, dass sie in ihrer Religiosität exklusiv und legalistisch seien. Zwar habe das Judentum der Menschheit die monotheistische Religion geschenkt, doch sei es seitdem unter dem Einfluss der Rabbiner zu einem ritualisierten Formalismus erstarrt. Zudem neigen Juden zu einem talmudistischen Scharfsinn, der sich im logischen Zergliedern von Sachverhalten gefällt, ohne deren Kern erfassen zu können. 103

Das Muster des Materialisten: Seit alters her seien die Juden, wirft man ihnen hierbei vor, ein Händlervolk gewesen, welches keine beständigen Werte zu schaffen in der Lage sei. Folglich orientierten sie sich nur an der sichtbaren, verwertbaren Welt und besäßen keinen Sinn für das Ideale. Das Muster des Nomaden: Die Juden erwiesen sich in den Wahrnehmungen schließlich als ein staatenloses Volk, das zum Aufbau eines politischen Gemeinwesens unfähig sei. Folglich seien sie heimatlose Vagabundierende, die in allen funktionierenden Nationen das antinationale Prinzip verkörperten und damit andere Nationen in ihrem Kern zersetzen könnten. Besaßen diese Muster ihren gemeinsamen Fixpunkt in der Uneigentlichkeit – sie alle beruhten auf dem Kontrast mit einer positiven Selbstwahrnehmung als eines wahrhaft gebildeten, sittlichen, idealistisch und nationalistisch gesinnten Bürgers –, so stellten Juden eine Selbstwahrnehmung der Eigentlichkeit dagegen: Das Muster des Menschheitsjuden: Juden würden seit Urzeiten eine auf besonderer Sittlichkeit und Gelehrsamkeit beruhende Kultur besitzen, in deren Dienst sie immer noch tätig seien. Zur deutschen Kultur könnten sie mit ihrer universalistischen Mission beitragen, so dass es zu einer kongenialen Vereinigung zweier Kulturen kommen könne. In gewisser Hinsicht porträtierte dieses Muster die Protestanten als Nachahmer, mithin als Doppelgänger der bürgerlichen Bildungskultur, die eigentlich eine jüdische Erfindung sei. Bei den Protestanten schien durch Ex-negativo-Definitionen, die auf je unterschiedliche Weise ein jüdisches Wesen trotz allen Wandels konstruierten, das Eigene geklärt, ohne dass der Klärungsprozess selbst deutlich werden musste. Der gebildete Protestant blieb etwas Gegebenes. Der Wille zur Identität – als einer Eigenheit, die Gleichförmigkeit meinte – schuf sich ein Gegenüber, hinter dem er unsichtbar werden konnte. Hinter allen Wahrnehmungsmustern auf der protestantischen Seite lag letztlich das zentrale Mysterium der jüdischen Existenz. Dass Juden sich angeblich immer gleich blieben, in ihrer Subjektivität, ihrer Exklusivität, ihrem Materialismus und ihrer Heimatlosigkeit auf ewig verharrten, war nur die eine Seite der Medaille. Zugleich wandelten sie sich ständig, wie vor allem die Akkulturations- und Integrationsbemühungen der Gegenwart deutlich machten. Ihre Ungreifbarkeit zwischen Beweglichkeit und Konstanz machte sie zu nahen Fremden der Bildungskultur, welche die jüdischen Bürger sich anzueignen, jedoch gleichzeitig außerhalb ihrer stehen zu bleiben, ja, sie gar für ihr vermeintlich feindliche Zwecke zu entfremden schienen. Der Eindruck, ein unheimlicher Doppelgänger der Bildungskultur zu sein, legte sich im 19. Jahrhundert wie ein Schatten über die jüdischen Bürger. Hier setzte die antisemitische Verdichtungsarbeit an: Ambivalentes musste vereinheitlicht werden. Paradigmatisch trat das gebildete Syndrom gegen gebildete Juden zuerst bei Richard Wagner auf, der bereits vorhandene Konstruktionen gegen sie bündelte, ihnen neue Rechtfertigungen 104

beifügte und in bis dato ungeahnter Deutlichkeit die ambivalente Stellung der gebildeten Juden zum Grundproblem erklärte. Die gebildeten Juden verhielten sich zu solchen Zuschreibungen. Die einfachste Form ihrer Reaktion stellte die Kritik an solchen Behauptungen dar. Der satirische Tadel, mit dem Berthold Auerbach die Klischees seiner protestantischen Schriftstellerkollegen entlarvte, gehört ebenso hierher wie das Insistieren auf dem Zweifel, ob der Begriff des Semitismus in wissenschaftlichen, insbesondere nicht-philologischen Zusammenhängen, überhaupt sinnvoll zu gebrauchen sei, oder die Frage, ob ein christlicher Jesus wirklich den jüdischen Pharisäern gegenübergestellt werden könne. Die Kritik wurde jedoch in einzelnen Fällen weiter radikalisiert. Tendenziell sollten hier nicht nur einzelne Konstruktionen als ungerechte Verzerrungen entlarvt, sondern zugleich der dahinter vorhandene Wille zur Identität desavouiert werden. Das wurde insbesondere bei Abraham Geigers Versuchen deutlich, die historische Figur Jesu dem Judentum zuordnen und ihm jede Originalität absprechen zu wollen. Die letzte und vielleicht nachhaltig wirksamste Form gegen den Eindruck des Unheimlichen verkörperten die eigenen Gegenkonstruktionen, die allerdings zugleich ein unveränderliches jüdisches Wesen unterstellten. Die in diesem Zusammenhang zu erwähnenden literarischen oder wissenschaftlichen Zeugnisse entwarfen das Judentum als die Kultur schlechthin. Der darin verborgene Universalismus betonte die weltgeschichtliche Bedeutung des israelitischen Monotheismus, mit dem die Grundlagen moderner Sittlichkeit überhaupt erst in die Welt gekommen seien. Hatte das Geschichtsbewusstsein der Juden bis ins 19. Jahrhundert noch die Einzigartigkeit der Juden unter den Völkern, ihr »Unterschieden-Sein von anderen« betont, wurde nun die menschheitliche Mission des Judentums den anderen gegenüber zum Drehund Angelpunkt der Konstruktionen.203 In diesem Sinne sollten Christentum und Islam dann nur noch als weitere Verbreitungen des eigentlich genuin jüdischen Ideals zu verstehen sein. Interessanterweise hatte sich die jüdische Integration und Akkulturation in die bürgerliche Bildungskultur derart gestaltet, dass die Juden ein ganz ähnliches Verhältnis zu ihrem religiösen Erbe entwickelten wie die Protestanten. Dabei setzten auch sie unter der Hand religiöse Muster fort, denn worauf sonst basierte ihre Vorstellung von einer universalistischen Mission der Juden in der Menschheitsgeschichte, wenn nicht auf einer verbrämten Weiterentwicklung des Auserwähltheitspostulates? Das Wahrnehmungsmuster des Menschheitsjuden erwies sich als sehr wirkungsmächtig in der Geschichte des deutschen Judentums im 19. Jahrhunderts. Alle ihre wichtigsten Vertreter – vielleicht mit Ausnahme der orthodoxen Juden – bedienten es mit ihren Überlegungen. Gegenüber dem Anschein des Unheimlichen war Folgendes entscheidend: Universalismus schuf Nähe 203 Vgl. Funkenstein, S. 31.

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und hob Fremdheit auf. Das Beharren auf dem jüdischen Erbe in der abendländisch-europäischen Zivilisation sollte den Integrations- und Akkulturationsprozess in der bürgerlichen Bildungskultur geistesgeschichtlich absichern. Gebildete Juden und Protestanten versuchten damit letztlich auf analoge Weise in der bürgerlichen Bildungskultur Homogenität herzustellen – bei den Protestanten durch den Kontrast zu den Juden und bei den Juden durch die Eintracht mit den Protestanten. In beiden Fällen konnte man mit dem Bildungsideal argumentieren und dabei das Ziel verfolgen, die Ambivalenz, die durch die Integration und Akkulturation der Juden in der Bildungskultur drohte, still zu stellen.

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2. Die Gründung des Kaiserreiches und das öffentliche Verhältnis von gebildeten Juden und Protestanten

»Massen sind immer nur durch Furcht oder Religion, durch weltliches oder kirchliches Regiment in Ordnung gehalten worden, und der Versuch, es ohne diese große Weltprofosse leisten zu wollen, ist als gescheitert anzusehn. Man dachte, in ›Bildung‹ den Ersatz gefunden zu haben, und glorifizierte den ›Schulzwang‹ und die ›Militärpflicht‹. Jetzt haben wir den Salat.«1

Als Anfang 1871 das deutsche Kaiserreich gegründet wurde, schuf das bei den Juden weitere Identifikationsmöglichkeiten mit dem deutschen Gemeinwesen, soweit es derer überhaupt noch bedurfte. Das Kaiserreich brachte die rechtliche Gleichstellung, auf die Juden so lange gewartet hatten. Damit verband sich die Aussicht, auch im Alltag die noch vorhandenen sozialen und kulturellen Schranken niederreißen zu können. Die Tatsache, dass die Staatsgründung unter preußischer Führung zustande kam und die Konflikte über die Liberalisierung des politischen Systems ungelöst blieben, gab zwar auch unter ihnen Anlass zu Zweifeln.2 Grundsätzlich konnte das Ereignis von Juden jedoch kaum negativ gesehen werden. In durchaus typischer Weise schrieb die »Allgemeine Zeitung des Judenthums«: »Ueberlassen wir uns daher unbehindert den freudigen Empfindungen über diesen Neubau des Vaterlandes; hoffen wir, daß er zum Segen der gesammten Menschheit gereichen, ein Tempel des Friedens, der höchsten Gesittung, der Wissenschaft und Kunst werden wird.«3 Deutlich wurde dabei nicht nur die ehrliche Freude über die nationale Einigung, sondern auch die Hoffnung, dass Politik und Gesellschaft des neuen Reiches durch die bürgerliche Bildungskultur geprägt werden würden. Die1 Siehe den Brief Theodor Fontanes an seine Frau Emilie am 2.6.1878 in: Fontane, Sämtliche Werke, S. 576. Fontane schrieb diese Zeilen nach dem Kaiser-Attentat von Dr. Karl Eduard Nobiling. 2 Berthold Auerbach sah seine Freude durch die »herrischen Niederdrückungssucht Bismarcks« durchaus getrübt. Siehe seinen Brief an Karl Gruber vom 28.5.1871, Nl. Auerbach, AR 1146, Nr. 32. 3 »AZJ« vom 17.1.1871.

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sen Optimismus teilten gebildete Juden mit gebildeten Protestanten, die sich seit langem als die rechtmäßigen Interpreten und aktivsten Propagandisten der Nation empfanden und sich von der Einheit neuen Einfluss für die bürgerliche Bildungskultur versprachen. Zunächst recht unmerklich sollte sich dabei die rhetorische Ausrichtung der bürgerlichen Bildungskultur umorganisieren: Während sie seit der Entstehung des Bildungsideals in der Phase von Spätaufklärung, Klassik und Neuhumanismus noch stark auf einen weltbürgerlichen Universalismus orientiert gewesen war, geriet sie nun zunehmend in ein nationales Fahrwasser. Dass ein gebildeter Bürger Griechisch lernen musste, hinderte ihn nicht daran, ein Bildungssystem zu fordern, das dem neuen Gemeinwesen angemessener sein sollte.4 Die seit der Jahrhundertmitte allmählich anschwellenden Debatten über eine Neuausrichtung des Ausbildungswesen erhielten durch die Nationalstaatswerdung neue Nahrung: Dabei gründete sich der Veränderungswille nicht nur auf der notwendig gewordenen Vereinheitlichung der unterschiedlichen Schulsysteme im Reich. Mit dem Ruf nach einer »nationalen Bildung« verbanden gebildete Bürger die Hoffnung auf eine moralische Erneuerung. Eine andere Folgewirkung der Reichsgründung, die rechtliche Gleichstellung der Juden, rief bei den gebildeten Protestanten ein gesteigertes Problembewusstsein hervor. Der Heidelberger Kirchenrechtler Emil Herrmann behauptete beispielsweise 1880 über die Einstellung der Juden in der postemanzipatorischen Phase: »Sie sehen nicht ein, daß für den deutschen Staat ein Grund vorlag, ihnen, weil Juden, die volle Rechtsgemeinschaft zu versagen, und sie bemächtigen sich daher der ihnen gewährten Rechtsgleichheit mit dem entschiedenen Bewußtsein und Willen, sie als Juden zu gebrauchen, nicht als Genossen eines Volks, welches sie, trotzdem daß sie Juden sind, in der Hoffnung auf das allmählige Schwinden dieses trennenden Schranke als Gleiche aufgenommen hat.«5

Durchaus charakteristisch war dabei, dass Herrmann es zunächst ablehnte, die Emanzipation der Juden wieder einzuschränken, weil das »nach Lage der Dinge kein Verständiger« »jetzt« für möglich halten könne.6 Nur die Juden seien in der Lage, durch tiefere Einsicht und verstärkte Anstrengungen die Probleme zu beseitigen. Mit der Emanzipation entfiel, das wurde in solcher Rückschau offen gelegt, die letzte Entschuldigung für jüdische Differenz. Juden wurden

4 Als ein Beispiel kann angeführt werden: de Lagarde, Deutsche Schriften. 5 Siehe den Brief Herrmanns an Treitschke vom 27.2.1880, Nl. Treitschke, Kasten 6, Mappe Herrmann. Die Hervorhebungen befinden sich im Original. Noch deutlicher wurden »Die Grenzboten«: »Die Emancipation hat keine guten, aber viele schlimme Folgen gehabt. Sie hat die Juden im Grunde ihres Wesens nicht geändert, weil das überhaupt nicht möglich war, sie hat sie nur mächtiger und damit schädlicher gemacht.« Anonymus, Beiträge, S. 45. 6 Siehe den Brief Herrmanns vom 27.2.1880. Die Hervorhebung befindet sich im Original.

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nun offenkundig nicht mehr benachteiligt, womit die gerade unter liberal gesinnten, gebildeten Protestanten übliche Deutung wegfiel, die Juden würden solange Juden bleiben, wie man sie unterdrücke. Die Protestanten glaubten nun den Preis für die Gleichstellung fordern zu können. »Die Emancipation hat insofern günstig gewirkt,« brachte es Heinrich von Treitschke auf den Punkt, »als sie den Juden jeden Grund berechtigter Beschwerde entzog.«7 Da die Juden allerdings offensichtlich Juden bleiben wollten, entstand ein Deutungsvakuum, wodurch die Mechanismen kultureller Grenzziehung neue Nahrung erhielten: Jüdische Differenz als solche wurde zum politischen Problem. Durch diese Entwicklung entfalteten die Wahrnehmungsmuster, die sich in den Jahrzehnten zuvor mit Hilfe der Literatur sowie der Geistes- und Kulturwissenschaften herausgebildet und popularisiert hatten und deren Sprengkraft bereits in Wagners Essay gegen die Juden offenkundig war, schrittweise eine eigentümliche Wirkungsgeschichte, um schließlich das Verhältnis von gebildeten Juden und Protestanten als Ganzes zu prägen. Das im zweiten Jahrhundertdrittel enger gewordene Verhältnis von gebildeten Juden und Protestanten ließ die Präsenz von Juden in der Gesellschaft im Allgemeinen und in der bürgerlichen Bildungskultur im Besonderen stärker auffallen. Die größere Sichtbarkeit manifestierte sich vor allem in der Öffentlichkeit, zugleich der Ort, an dem über die politische Relevanz der jüdischen Differenz diskutiert werden musste. Wie sogleich erörtert werden wird, waren Juden hier nicht nur als Konsumenten, sondern zugleich als Produzenten wichtiger geworden. Sie gestalteten ihre eigene Öffentlichkeit und prägten diejenige mit, die sie mit gebildeten Protestanten teilten. Bedingt durch den Strukturwandel der Öffentlichkeit, der nach 1871 allmählich einsetzte, artikulierte sich in der Öffentlichkeit des jungen Kaiserreiches ganz generell eine Krisenstimmung, die sich mit einer frühen Form der Medienkritik vermischte. Aus der Perspektive der gebildeten Protestanten hatte sich die Nation unter Führung der gebildeten Bürger und der Bildungskultur zu entwickeln, was vornehmlich in der Öffentlichkeit durchgesetzt werden sollte. Nach der Reichsgründung wuchsen allerdings die Zweifel, ob das gelingen werde. Dieses Unbehagen an Nation, Bildungskultur und Öffentlichkeit konnten sie auf die Juden projizieren, weil sie in ihrem Beharren auf einer jüdischen Identität die hegemonialen Ansprüche gebildeter Bürger unterliefen. Hieraus ergab sich eine charakteristische Wahrnehmungsspirale, in der sich die wechselseitigen Erwartungen von Juden und Protestanten verquickten und aufschaukelten.

7 Treitschke, Noch einige Bemerkungen zur Judenfrage, BAS, Bd. 1, S. 281.

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2.1 Die Strukturveränderungen der Öffentlichkeit im neuen Kaiserreich »Telegraph und Eisenbahn sind Organe der menschlichen Existenz geworden, ohne die wir uns gar nicht mehr denken können, mit denen wir operiren wie mit den eigenen Gliedmaassen [sic!]. Und all dies doch nur der Anfang. Dahin kommen muß es daß alle Menschen gleichsam ein einziges Hirn haben, das im Moment denselben Gedanken aufnimmt. Man sieht kein Ende dieser Entwicklung.«8

In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, und beschleunigt nach 1871, fand ein »zweiter Strukturwandel der Öffentlichkeit« (Weisbrod) statt. Bürgerliche Öffentlichkeit und Mediensystem fielen dabei zunehmend auseinander: Es bildeten sich abgrenzbare Teilöffentlichkeiten heraus, die von einem sich entwickelnden massenmedialen Markt überwölbt wurden. Die verschiedenen Teilöffentlichkeiten waren zumeist eng an soziale und kulturelle Milieus und Gruppen gebunden.9 Die bürgerliche Teilöffentlichkeit wurde zu einer Sphäre unter anderen. Die bürgerlichen Öffentlichkeitsarbeiter gaben allerdings in diesem Fragmentierungsprozess keineswegs ihren Anspruch auf, ihre für die einzig maßgebliche Öffentlichkeit zu halten; nur dass sich dieser immer weniger mit der neuen Realität komplizierterer Öffentlichkeitsstrukturen in der neuen Nation vertrug.10 Im Gegenteil, viele öffentliche Kämpfe, die nach 1871 an entscheidender Stelle von gebildeten Bürgern ausgefochten wurden – zu erinnern sei hier sowohl an den »Kulturkampf« gegen die Katholiken als auch an die Auseinandersetzungen über die »soziale Frage« –, lassen sich als Versuche verstehen, die (aus ihrer Sicht) ins Chaos abgeglittene Öffentlichkeit wieder bildungskulturell zu ordnen. Die Debatten um die »Judenfrage« müssen ebenfalls in diesem Zusammenhang gesehen werden, auch weil die Juden gerade in diesen Auseinandersetzungen eine besondere Position einnahmen. In einem umfangreicheren Ausmaße, als es für Katholiken oder Sozialdemokraten der Fall war, bildeten sie selbst einen Teil des Publikums und der Pro8 Siehe den Tagebucheintrag Hermann Grimms vom 30.7.1870, Nl. Grimm, Bestandsnr. 340, Ms 139, Bl. 125. 9 Vgl. Requate, Öffentlichkeit und Medien, S. 11f. 10 An der bürgerlichen Teilöffentlichkeit nahmen die unterschiedlichen Fraktionen des Bürgertums teil. Zugleich existierten jedoch spezialisierte Öffentlichkeitsarbeiter, die zu einem ganz überwiegenden Teil aus gebildeten Bürgern bestanden. Die bürgerliche Teilöffentlichkeit sollte daher auch in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entscheidend von der bürgerlichen Bildungskultur geprägt werden.

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duzenten in der bürgerlichen Teilöffentlichkeit: Der entscheidende Unterschied lag in ihrer Präsenz in derselben. Wenn man die bürgerliche Teilöffentlichkeit in ihren medialen Formen zu beschreiben versucht, kann man eine beachtliche Mobilisierung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts beobachten. Dieser Prozess setzte mit der Revolution 1848 ein, in deren Folge viele Zeitungen und Zeitschriften gegründet wurden. Gerade die liberalen Tageszeitungen befriedigten in der parteipolitisch segmentierten Presselandschaft der Jahrhundertmitte die Bedürfnisse vieler Bürger nach Information und (politischem) Meinungsaustausch.11 Speziell bildungskulturelle Interessen der gebildeten Bürger wurden häufig von Zeitschriften bedient. Eine der bereits vor der Reichseinigung gegründeten Zeitschriften, die eine wesentliche Prägekraft in der bürgerlichen Teilöffentlichkeit entfaltete, waren die »Preußischen Jahrbücher«. Nach der Reichsgründung 1871 fällt ein weiterer Schub auf, an dem sich die Konzentration auf eine Öffentlichkeit von gebildeten Bürgern ablesen lässt. Hier ist besonders »Die Gegenwart« von Paul Lindau erwähnenswert, die mit ihrem ersten Erscheinen 1872 den Revuetypus in Deutschland etablierte. Dieser fand in den folgenden Jahren viele mehr oder weniger erfolgreiche Nachahmer. Als die wichtigste Zeitschrift dieses Typus darf Julius Rodenbergs »Deutsche Rundschau« gelten, die ab 1874 erschien. Die Ausrichtung dieser Zeitschriften auf die Bildungskultur brachte es mit sich, dass sie selbstbewusst in einen öffentlichen Raum zu sprechen beanspruchten, der nunmehr nationale Ausmaße besaß. Dass das neue Deutschland – und die gebildeten Bürger darin – solcher Organe bedurfte, bestimmte deren Rezeption und bedingte ihre schnellen Erfolge.12 Die Welle von Neugründungen deutet auf die zentrale Bedeutung der Reichsgründung für das kulturpolitische System Deutschlands im 19. Jahrhundert hin. Zugleich erkennt man hier das Zusammentreffen von zwei Tendenzen: die Fragmentarisierung des Mediensystems und – damit verbunden – dessen stärkere Spezialisierung. Die bürgerliche Teilöffentlichkeit hatte endlich Foren gefunden, die sie zur Artikulation ihrer Anliegen und Befriedigung ihrer Bedürfnisse benötigte; zugleich wurde sie damit stärker auf ihre eigenen Bereiche eingeschränkt. Die bürgerliche Teilöffentlichkeit bot ihren Teilnehmern verschieden legitimierte Formen an, sich in ihr zu positionieren. Dabei ist zu beachten, dass diese Unterscheidungen nur idealtypisch vorgenommen werden können; sie entsprechen keineswegs realen Personen, sondern bezeichnen bestimmte Kommunikationspositionen und -haltungen. Der popularisierende Gelehrte wechselte aus der Fachöffentlichkeit der Wissenschaft, die nach den Regeln wissenschaftsinterner Kommunikation funktionierte, in die bürgerliche Teil11 Zur Pressegeschichte vgl. Koszyk, Deutsche Presse im 19. Jahrhundert. 12 Vgl. Rodenberg.

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öffentlichkeit.13 Dieser Wechsel bedeutete nicht nur veränderte Ansprüche an die Vermittlungsleistung, mit ihm wurden die Themen und Erkenntnisse der wissenschaftlichen Fachöffentlichkeit auch dem Maßstab ihrer Verwertbarkeit für ein breiteres Publikum unterworfen. Wenig verwunderlich war es daher, dass dieser Wechsel (nicht nur) unter den Gelehrten des 19. Jahrhunderts umstritten war. Zugleich stieg aber das Verlangen außerhalb der Fachwelt, über die wissenschaftlichen Neuerungen, von deren zentralem Einfluss auf die eigene Lebenswelt und Weltsicht die bürgerlichen Zeitgenossen des 19. Jahrhunderts gerade nach 1848 überzeugt waren, verlässliche Informationen zu erhalten. Hier prägten Widersprüche die Szenerie. So sehr man von der wissenschaftlichen Durchdringung der modernen Welt allseits überzeugt war, so skeptisch beäugten gerade viele Bürger die radikalen Ansichten insbesondere der naturwissenschaftlichen Popularisierer, die nicht zuletzt häufig mit politischen Veränderungswünschen Hand in Hand gingen. Die reflexartige Betonung, den Sieg des naturwissenschaftlichen Materialismus über das idealistische Weltverständnis verhindern zu müssen, war in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in der bürgerlichen Teilöffentlichkeit vielfach anzutreffen. Der ehrenwerte Journalist prägte die bürgerliche Teilöffentlichkeit als sich allmählich professionalisierender Bestandteil. Fühlte sich der Gelehrte der wissenschaftlichen Fachöffentlichkeit verbunden, stand der Typus des Journalisten zugleich mit einem Bein in der sich entwickelnden allgemeinen, massenmedialen Öffentlichkeit. Die langsame Professionalisierung der Journalisten im 19. Jahrhundert wurde von Vorwürfen begleitet, dass dadurch die freie, räsonierende Öffentlichkeit für wirtschaftliche Eigeninteressen und individuelles Karrierestreben zweckentfremdet werden würde.14 Um solchen Vorwürfen vorzubeugen, erhielt ihre gesellschaftliche Position eine auf die Bildungskultur ausgerichtete Ehrverpflichtung, so dass die meisten Journalisten bis zum Ende des 19. Jahrhunderts noch den Status eines gebildeten Bürgers für sich in Anspruch nehmen konnten.15 Beide Kommunikationshaltungen in der bürgerlichen Teilöffentlichkeit – die des popularisierenden Gelehrten und die des ehrenwerten Journalisten – verweisen auf die fundamentale Prägung dieser Sphäre durch Elemente der bürgerlichen Bildungskultur: Wie hoch auch immer die Bedeutung wissenschaftlicher Vermittlung und Bildung eingeschätzt wurde, galt doch stets die Einschränkung, dass durch Wissenschaftspopularisierung die Orientierung auf das Ideale, Sittliche nicht verloren gehen dürfe. Dass der journalistische Beruf für eine funktionierende Öffentlichkeit unabdingbar geworden war, wollte man nur dann akzeptieren, wenn sich dessen Professionalisierung nicht 13 Vgl. Daum. 14 Zur Professionalisierung und zu den sie begleitenden Wertediskussionen vgl. Requate, Journalismus als Beruf. 15 Vgl. z. B. Wehle.

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aus wirtschaftlichem Eigeninteresse, sondern aus der ethischen Grundhaltung des Journalisten speise, einen idealen und sittlichen Dienst an der Öffentlichkeit zu leisten. Journalisten und Gelehrte waren in weiten Bereichen nicht nur den Vorstellungswelten ihres eigenen Berufstandes, sondern zugleich den Grundlagen der bürgerlichen Bildungskultur verpflichtet. Neben (und über) ihnen stand folglich der gebildete Bürger. Im Idealbild der räsonierenden Öffentlichkeit wurde dieser Typus des kompetenten Laien insofern präferiert, als das Funktionieren der Öffentlichkeit stets an die möglichst ungehinderte Beteiligung aller (männlichen) politischen Subjekte gebunden blieb. Dieser Typus überwölbte normativ die beiden anderen; denn er – es war idealiter und zumeist realiter ein »Er«16 – besaß keine abgehobene Gelehrsamkeit, sondern Bildung, sowie er auch keine wirtschaftlichen Interessen verfolgte, sondern im Dienste des Allgemeinwohls tätig zu werden versprach. Insofern sollte dieser Typus die Reproduktion der Bildungskultur im Rahmen der bürgerlichen Teilöffentlichkeit sichern. Angesichts der Struktur der Öffentlichkeit in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts treten zugleich die Mechanismen zutage, mit denen der gebildete Bürger »im Allgemeinen sprechen« konnte: Bildung, Sittlichkeit und Allgemeinwohl dienten dazu, den öffentlichen Deutungsanspruch der realen Bürger zu verbergen. »Er« sprach stets nur als Staatsbürger, im Dienste des reinen Räsonnements und des sittlichen Allgemeinwohls. In der hegemonialen Position der Bildungskultur konnte die soziale und geschlechtliche Gebundenheit dieser Kommunikationshaltung unsichtbar werden. Dass hier auch religiöse Bindungen, mithin die protestantische Identität des gebildeten Bürgers zunehmend wichtig wurden, machte nicht nur der »Kulturkampf« deutlich, sondern insbesondere die Debatten über die »Judenfrage«. Die Abgrenzung der bürgerlichen gegenüber der jüdischen Teilöffentlichkeit erscheint nur auf den ersten Blick unproblematisch: In der jüdischen Teilöffentlichkeit äußerten sich Juden vornehmlich über »jüdische« Themen in »jüdischen« Zeitungen und Zeitschriften. Die vielfältige, nach religiösen Standpunkten segmentierte Zeitungs- und Zeitschriftenwelt der deutschen Juden wäre in diesem Zusammenhang besonders beachtenswert. Allerdings erschließt sich dem Betrachter erst bei einer genaueren Betrachtung der jüdischen Teilöffentlichkeit deren Verwobenheit mit der bürgerlichen. Die starke Prägung der jüdischen Teilöffentlichkeit durch die bürgerliche Bildungskultur lässt es in gewisser Hinsicht sogar zweifelhaft erscheinen, ob für die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts überhaupt von einer abgrenzbaren jüdischen Teilöffentlichkeit gesprochen werden kann. Sie war von ihrer inhaltlichen Ausrichtung, aber auch von ihrer formellen Gestaltung und nicht zuletzt von ih16 Die geschlechtliche Differenzierung ist in der Konzeption sowie in der Realität der Öffentlichkeit, wie sie sich im 18. Jahrhundert herausbildete, stets unübersehbar. Vgl. u. a. Hull.

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ren Medien her der bürgerlichen Teilöffentlichkeit sehr ähnlich. Jüdische Wochenschriften wie die großen konfessionellen Zeitschriften (Philippsons reformorientierte »Allgemeine Zeitung des Judenthums«, die Berliner orthodoxe »Jüdische Presse«, der Frankfurter orthodoxe »Israelit« oder die Magdeburger konservative »Israelitische Wochenschrift«) waren in ihrer Struktur bürgerlichen Blättern entlehnt. Hinzu kamen jüdische Familienzeitschriften wie die »Laubhütte«, das »Israelitische Gemeinde- und Familienblatt« oder das »Jüdische Familien-Blatt«, aber auch Zeitschriften, die sich wie die »Populärwissenschaftlichen Monatsblätter« oder die Breslauer »Monatsschrift für Geschichte und Wissenschaft des Judenthums« explizit an gebildete Juden bzw. Gelehrte richteten. Ungeachtet aller Überschneidungen muss die Existenz einer unterschiedlichen öffentlichen Sphäre für jüdische Bürger konstatiert werden. Das schloss nicht aus, dass sie an der nichtjüdischen bürgerlichen Teilöffentlichkeit teilnahmen. Sie taten das, allerdings nur selten – und, wie noch zu zeigen sein wird, nur mit schwerwiegenden Konsequenzen – als Juden. Es macht in diesem Zusammenhang Sinn, eine »interne«, an jüdische Leser gerichtete Kommunikation von einer »externen«, außerhalb der jüdischen Teilöffentlichkeit stattfindenden Kommunikation mit Nichtjuden zu unterscheiden. Wie die beiden Teilöffentlichkeiten zueinander standen, demonstrierte die seltene Teilnahme nichtjüdischer Bürger an der jüdischen Teilöffentlichkeit. Die Debatten um die »Judenfrage« war einer der wenigen Anlässe, bei dem solche Grenzüberschreitungen vorkamen. Die jüdische Teilöffentlichkeit wurde oft dann in den anderen Öffentlichkeiten beachtet, wenn es galt, sich von ihr zu distanzieren.17 Ein besonders markantes Beispiel dafür war der protestantische Theologe und Judenmissionar Franz Julius Delitzsch. Er konnte als einer der wenigen protestantischen Gelehrten seiner Zeit mit gewissem Recht von sich behaupten, die zeitgenössische jüdische Presse- und Literaturszene zu kennen – auch wenn das weniger seiner vorgeblichen »Liebe zu Israel« denn seinem missionarischen Eifer geschuldet war. Regelmäßig beschwerte er sich über die »Zunahme der rücksichtslosen Keckheit« in der jüdischen Teilöffentlichkeit, mit der Juden angeblich das Christentum als ein »heidnisch entarteter Absenker des Judentums« und Jesus als eine »unbedeutende und nicht einmal originelle Erscheinung« schmähten.18 In der jüdischen Presse seien zudem sehr viele Mitarbeiter tätig, »welche ihr Bildungsgang und Bildungsstand ganz und gar nicht zu schriftstellerischem Auftreten« qualifiziere.19 Diese würden nun mit ihrer »Halbwisserei« auf den »Kampfplatz« treten und über den christlichen Glauben und über Jesus Urteile abgeben. 17 Weitere Beispiele liefert Tal, S. 43 ff. 18 Delitzsch, Talmudjude, S. 8. 19 Delitzsch, Christentum, S. 8.

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Es bedurfte eines »Experten« wie Delitzsch, um die bürgerliche Teilöffentlichkeit über (vermeintliche) Tendenzen in der jüdischen zu informieren. Das geschah allerdings fast immer unter polemischen Vorzeichen. Entgegen der für den heutigen Betrachter frappierenden Ähnlichkeit der beiden Öffentlichkeitsformen, die beide der bürgerlichen Bildungskultur verpflichtet waren, betonten die zeitgenössischen Beobachter die Unterschiede zwischen den beiden. Die jüdische Teilöffentlichkeit stellte sich für Protestanten wie Delitzsch als Gefährdung der Bildungskultur dar. Angeblich halbwissende jüdische Redakteure bedrohten die Sittlichkeit der bürgerlichen Teilöffentlichkeit. Auf eine dialektische Weise bewiesen solche Stimmen gerade den hegemonialen Anspruch der Bildungskultur in der bürgerlichen Teilöffentlichkeit und darüber hinaus. Ungeachtet der Tatsache, dass die Bildungskultur seit dem Ende des 18. Jahrhunderts stets steigenden Einfluss auf die jüdische Teilöffentlichkeit erhalten hatte, trieben solche Kommentatoren auch hier die Disziplinierung voran und exekutierten damit – in krisenhaften Zeiten, wie zu zeigen sein wird – den Deutungsanspruch gebildeter Bürger.

2.2 Die Krisenwahrnehmungen in der bürgerlichen Bildungskultur und die bürgerliche Medienkritik »Die Thatsache ist nicht wegzuleugnen, daß unser gebildeter Mittelstand schlimm dran ist […] der tiefste Grund, der berechtigste, unseres Mißvergnügens, ist […] in dem inneren Mißverhältniß, daß in dem Theile unserer Nation herrscht, welcher so recht eigentlich der Träger der nationalen Cultur sein sollte. Dies innere Mißverhältniß aber entspringt aus der Halbbildung […].«20

1872 trat der Theologe David Friedrich Strauß mit der Schrift »Der alte und der neue Glaube. Ein Bekenntniß« an die Öffentlichkeit. Viele Zeitgenossen interessierte daran vor allem seine Absage an das Christentum, den »alten Glauben«; gleichzeitig war es aber ein Bekenntnis zu einem neuen, genuin bürgerlichen Glauben: »Ich bin ein Bürgerlicher, und bin stolz darauf es zu sein. Der Bürgerstand […] bleibt doch immer der Kern des Volks, der Herd seiner Sitte […].«21 Für die Bürger ergab sich eine besondere Herausforderung 20 Hillebrand, S. 433f. 21 Strauß, S. 273.

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aus der scheinbar postreligiösen Situation der Gegenwart: Der alte Glaube hatte eine Lücke hinterlassen, die erst durch eine neue Form bürgerlicher Frömmigkeit geschlossen werden musste. Den Bürgerstand quäle ein tiefgehendes Orientierungsproblem: »Es ist eine Krisis in ihm selbst, herbeigeführt durch die veränderten Erwerbs- und Lebensverhältnisse der Zeit.«22 Angesichts dieser Lage müsse der Bürgerstand seine Welt neu ordnen. »Strauss«, ist zu Recht von dieser »Bürgertheologie« (Graf) behauptet worden, »bot seinem bürgerlichen Publikum nichts weniger als einen neuen Katechismus, eine Anleitung zur Orientierung in einer radikal diesseitigen Welt.«23 Nur darf dabei nicht übersehen werden, auf welchen profunden Pessimismus sich dieser Aufruf zur bürgerlichen Ordnung gründete. Der Mensch stand in Strauß’ Welt einem Universum gegenüber, dessen Sinn sich allenfalls in seiner Regelhaftigkeit offenbarte. Strauß’ Vision – mit Anleihen bei Darwin ausgeschmückt – war tatsächlich schauerlich: »Man sieht sich in die ungeheure Weltmaschine mit ihren eisernen gezahnten Rädern, die sich sausend umschwingen, ihren schweren Hämmern und Stampfen, die betäubend niederfallen, in dieses ganz furchtbare Getriebe sieht sich der Mensch wehr- und hülflos hineingestellt, keinen Augenblick sicher, bei einer unvorsichtigen Bewegung von einem Rade gefaßt und zerrissen, von einem Hammer zermalmt zu werden.«24

Der Theologe qua Bürger ließ sogleich ein Fünkchen Hoffnung für den Menschen in der Weltmaschine folgen: »Es bewegen sich in ihr nicht blos unbarmherzige Räder, es ergießt sich auch linderndes Oel.«25 Den Kern des mildernden Schmieröls für die leidende bürgerliche Seele wollte Strauß nicht verschweigen: Er lag in der bürgerlichen Bildungskultur. In der ästhetischen Kontemplation, in jenem »Aether, worein unsre großen Dichter uns erheben, in dem Meere von Harmonie, das unsre großen Tonsetzer um uns ergießen«, darin finde sich Erlösung aus dem »irdische[n] Weh«.26 Goethe, Schiller, Mozart, Beethoven gegen die existentielle Nichtigkeit des Darwinistischen Universums – das war der letzte Balsam, zu dem Strauß’ postreligiöse Frömmigkeit greifen konnte.27 22 Ebd., S. 275. 23 Hettling und Hoffmann, Der bürgerliche Wertehimmel. Innenansichten des 19. Jahrhunderts, S. 7. Im Konzept des »bürgerlichen Wertehimmel« kommt der fundamental religiöse Charakter des neuen Glauben zu kurz, den Strauß begründen wollte. Viele Wertekonstruktionen waren von einer postreligiösen Religiosität protestantischer Prägung durchdrungen, so dass Sittlichkeitsvorstellungen nur selten jenseits des Religiösen angesiedelt werden konnten. 24 Strauß, S. 371. 25 Ebd. 26 Ebd., S. 369. 27 Nietzsche durchschaute den selbsternannten »Religionsstifter« Strauß’: »Sein Buch […] ist einmal durch seinen Inhalt und sodann als Buch und schriftstellerisches Product eine ununterbrochene Confession […].« Nietzsche, Unzeitgemäße Betrachtungen, S. 169f. Vgl. zur »Bürgertheologie« allgemein Graf.

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Auf den ersten Blick muten weder Strauß’ Materialismus, seine Adaptation des Darwinismus noch sein auswegsloser Monismus für das deutsche Bürgertum der 1870er Jahre konsensfähig an, waren dieses doch Reizwörter und konzepte, die ihn jenseits des idealistischen Selbst- und Weltbildes vieler Bürger zu positionieren schienen.28 Jedoch lag sein eigentliches Unterfangen darin, die darwinistisch-materialistische Weltanschauung religiös und ästhetizistisch zu verbrämen und durch eine Mobilisierung der Bildungskultur einzufangen.29 In seiner Schrift spiegelten sich zwei charakteristische Aspekte: Da war zunächst das Unbehagen gebildeter Bürger gegenüber der Gegenwart im neuen Reich. Diese Krisenwahrnehmung schlug sich nicht zufällig in öffentlichen Debatten nieder, verband sie sich doch mit den Strukturveränderungen in der Öffentlichkeit und die dadurch bedrohte Hegemonie der Bildungskultur. Zum zweiten bot Strauß auch gleich die charakteristische Lösung, zu der alle gebildeten Bürger griffen, die ihm in den nächsten Jahren folgen sollten: Er schickte die Bildungskultur in die Offensive. In der offen zutage tretenden Säkularreligion »Bildung« muss daher immer beides gesehen werden: Krisenwahrnehmung und Offensive. Der damals noch unbekannte Friedrich Nietzsche nahm Strauß’ Schrift zum Anlass für seine erste »Unzeitgemäße Betrachtung«: »David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller« (1873). Nietzsches Schrift war keineswegs eine Kulturkritik avant la lettre; sie hatte in Strauß ihren zeitgenössischen Ansatzpunkt und passte auch sonst in vielem zur Situation der Bildungskultur in der Reichsgründungsphase.30 Nietzsche analysierte Strauß’ Vorhaben treffend: »Alles dieses thut er, weil jene [Strauß’ Adressaten, d. Vf.] sich fürchten und er selber sich fürchtet – und hier gerade ist die Grenze seines Muthes, selbst seinem ›Wir‹ gegenüber. Er wagt es nämlich nicht, ihnen ehrlich zu sagen: von einem helfenden und sich erbarmenden Gott habe ich euch befreit, das ›Universum‹ ist nur ein starres Räderwerk, seht zu, dass seine Räder euch nicht zermalmen! Er wagt es nicht: so muss denn doch die Hexe dran, nämlich die Metaphysik.«31 28 Viele Repliken – mit Ausnahme Nietzsches – ordneten die Schrift Strauß’ stärker den Debatten um ein zeitgemäßes theologisches Selbstverständnis als den um ein bürgerliches zu. Für entsprechende Nachweise vgl. Graf. Auch im Namen der jüdischen Religion gab es scharfen Protest gegen Strauß’ Absage an den alten Glauben. Vgl. z. B. »IWS« vom 8.1.1873. 29 Nietzsche brachte das lakonisch auf den Punkt: »Denn mit einer ächten und ernst durchgeführten Darwinistischen Ethik hätte man den Philister gegen sich, den man bei allen solchen Ausfällen für sich hat.« Nietzsche, Unzeitgemäße Betrachtungen, S. 191. 30 Zu Nietzsches Einfluss auf die Pädagogik vgl. Niemeyer. Hier wird zugleich anhand der Rezeption in der Reformpädagogik die generelle Tendenz der Nietzsche-Interpretation deutlich, ihn als Stichwortgeber für die Kulturkrise nach 1890 zu sehen. Nietzsche schrieb allerdings vor dem Hintergrund der 1870er Jahre und stand hier nicht derart alleine, wie es die Forschungsliteratur oft suggeriert. 31 Nietzsche, Unzeitgemäße Betrachtungen, S. 195.

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Die Furcht der gebildeten Bürger und der metaphysische Trost der Bildungskultur – darin erblickte Nietzsche die Zutaten, aus denen Strauß seinen »neuen Glauben« mischte. Für Nietzsche redeten hier nur »Bildungsphilister« miteinander: jene Bürger, die ihre eigene ›Bildung‹ für den »satte[n] Ausdruck der rechten deutschen Kultur« hielten.32 Dem setzte Nietzsche kategorisch entgegen: »Aber die systematische und zur Herrschaft gebrachte Philisterei ist deshalb, weil sie System hat, noch nicht Kultur und nicht einmal schlechte Kultur, sondern immer nur das Gegenstück derselben, nämlich dauerhaft begründete Barbarei.«33 Dennoch war aus einer historischen Perspektive der Unterschied zwischen Strauß und Nietzsche keineswegs so dramatisch: Auch Nietzsche gruppierte seine Polemik um einen archimedischen Punkt herum, der keineswegs außerhalb der bürgerlichen Bildungskultur lag. Seinen Wertmaßstab lieferte die »Hoffnung auf eine wirkliche ächte deutsche Bildung«, von der er bei allem Spott nicht lassen wollte.34 In seinem Bild vom Bekenner und Schriftsteller Strauß formte Nietzsche eine Negativfolie, eine Figur aus dem Kulturleben seiner Zeit, von deren realer Existenz er überzeugt war: den Bildungsphilister, den Halbgebildeten. Nietzsche stand auch damit keineswegs allein. Im Gegenteil, viele andere professionelle Beobachter des öffentlichen Lebens des noch jungen Reiches schrieben mit an jener immer realer anmutenden Figur, die in ihrer Bildung ungebildet war.35 Die Bildungskultur wurde stets durch die Rede von der Un-, Afteroder Halbbildung stabilisiert; hierin materialisierte sich ihre Distinktionsfunktion. Nach 1871 erhielt diese Rede – thematisiert in den Medien der bürgerlichen Teilöffentlichkeit, insbesondere in Zeitschriften wie der »Deutschen Rundschau« oder den »Preußischen Jahrbüchern« – jedoch klare Konturen, die mit Verweisen auf die unterschiedlichsten Bedrohungspotentiale weiter 32 Ebd., S. 161. 33 Ebd., S. 162. 34 Ebd., S. 157. Die bedeutende Neuerung, die über die Vorstellungswelt der gebildeten Bürger im Bismarck-Reich hinausreichte und nicht zufällig erst im Wilhelminismus wirkungsmächtig werden sollte, dürfte dagegen in Nietzsches Präferenz einer avantgardistischen Kultur gelegen haben. Sein Gegenbild zum Bildungsphilister bekommt so Züge jener »Geistesaristokratie«, welche die Bildungsutopien der Jahrhundertwende forderten. Vgl. Bollenbeck, S. 238. Hier mag der Ursprung dafür gelegen haben, Nietzsches Kulturkritik als eine einsame Stimme zu interpretieren, deren Wirkung sich erst in den 1890er Jahren entfalten sollte. 35 Dementsprechend schrieb Treitschke 1873 an seinen alten Freund Franz Overbeck über Nietzsches Werk: »Es ist ja alles erschreckend wahr, was N. über die Halbbildung der Gegenwart sagt […].« Allerdings kritisierte er die Schrift ansonsten in aller Deutlichkeit und schloss mit der Empfehlung: »So dünkt auch Ihr Euch nicht zu vornehm, an den Werken des deutschen Idealismus durch positive Arbeiten theilzunehmen. Gegen heftige Scheltworte junger Männer sind die Nationen von Rechts wegen unempfindlich. Dein Freund hat ein so schönes Talent; möchte er endlich lernen es zu verwenden im Dienste seines Volkes, statt es zu zerstören in unfruchtbarer Einsamkeit!« Siehe die Abschrift eines Briefes Treitschkes an Overbeck vom 28.10.73, Nl. Treitschke, Kasten 17, Bl. 63–65.

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akzentuiert wurden. »Halbbildung« gehörte in einen Zusammenhang mit Debatten über die Sozialdemokratie, den Ultramontanismus, das höhere Schulwesen und dessen Reform oder über das Verhältnis von Geistes- und Naturwissenschaften und deren jeweilige gesellschaftliche Bedeutung. In solchen Texten wurde die Oberflächlichkeit angeprangert: »Bildung« missverstünden viele als pures Wissen ohne die notwendige Charakterformung, so dass noch so reich vorhandene Kenntnisse unverbunden und ohne organisierendes Zentrum blieben. Der Halbgebildete verkörperte eine Art Bildungsscharlatan, der von jenem vermeintlichen Wissen zehrte, das er (oder sie) sich durch die Lektüre von Konversationslexika und Klassikerausgaben aneignete.36 Dieser Scharlatan konnte umfangreiche Literaturkenntnisse vorgaukeln, wenn er (oder sie) etwa mit Hilfe von Büchmanns »Geflügelten Worten« mehrsprachige Literaturzitate in seine Konversation einfließen ließ.37 Der Göttinger Orientalist Paul de Lagarde stellte dementsprechend fest: »Homer, Sophocles, Demosthenes, wer liest sie, nachdem er dem gymnasium entronnen? die kenntnis der deutschen classiker ist auf die bekanntschaft mit dem geflügelten worten beschränkt, deren fundorte man ohne Büchmanns hülfe gar nicht anzugeben wüßte.«38 De Lagarde geißelte gerade die Berechnung, mit der man sich Bildungsgüter schon auf der Schulbank aneignen würde. Durch das »Berechtigungswesen« lege sich ein »zäher, widerlicher schleim von bildungsbarbarei« über das preußische Bildungswesen.39 »latein, griechisch, englisch, französisch, mathematik, geschichte haben von nun an in Preußen geldwert [...]: haben [sie] aber [...] geldwert, so haben sie für den geist gar keinen wert: denn der geist trägt kein porte-monnaie.«40 Ein ruhiggestellter Bildungskanon, dem jedes Leben entzogen sei, treffe auf Bildungsbeflissene, die nur nach ihrem eigenen Vorteil strebten; rein additives Wissen gelte mehr als die produktive Aneignung, aus der Neues entstehen könne; die Nation bringe nur 36 Im »Klassikerjahr« 1867 erlosch der dreißigjährige Urheberrechtsschutz für viele Werke des 18. Jahrhunderts. Vor allem Reclams Universal-Bibliothek eröffnete in diesem Jahr (mit Goethes »Faust«) eine Edition von Klassikern in Massenauflage, die in der Folgezeit beispiellosen Erfolg haben sollte. Dadurch kam es zu einer ersten großen Welle privaten Buchkaufes. Vgl. Becker. Nietzsche wollte die Mentalität entlarven, mit der der Bildungsphilister den »Klassikern« begegnete: Nietzsche, Unzeitgemäße Betrachtungen, bes. S. 163. Vgl. allgemein Mandelkow. 37 Ab 1864 veröffentlichte Büchmann die Zitatensammlung der »Geflügelten Worte«, die in der Folgezeit ständig erweitert wurde und um 1900 mindestens 100.000-mal verkauft worden war. Das Vorhaben lässt sich folgendermaßen beschreiben: »Georg Büchmann […] sammelte so all jene Redensarten, welche, durch die sich ausbreitende literarische Bildung, der Konversations- und Standardsprache eine im Kern festen, an den Rändern ungemein wandelbaren Vorrat an Zitaten hinzufügten, durch dessen Gebrauch, dessen kenntliche und erkennbare Entstellung, dessen Erkennung und Verkennung sich die gebildeten Bürger legitimierten, verständigten und gegenseitig einschätzten.« Frühwald, S. 204. 38 De Lagarde, Ueber die gegenwärtige Lage des Deutschen Reichs, S. 148. 39 Ebd., S. 147. 40 Ebd.

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noch »diese buchhalter- und magazinaufseherexistenzen, welche wir gebildete nennen«, hervor.41 Das Bild, welches dem Leser solcher Texte entgegentrat, war eines der Uneigentlichkeit: Der gebildete Bürger glaubte nicht mehr bei sich, sondern nur noch eine Karikatur seiner selbst, zum Halbgebildeten, zum Philister, zum Scharlatan degeneriert zu sein.42 Gleichzeitig herrschte in den Texten kein Mangel an Rezepten, wie man zur Eigentlichkeit zurückfinden wollte. Bei ihren Reformvorschlägen ging es im Wesentlichen um eine Rückkehr: Die echte »Bildung« gelte es wieder in ihr Recht zu setzen. Solche Tendenzen lassen sich sogar in Texten isolieren, die bewusst versuchten, das Bildungsideal von außen als bürgerliches Machtinstrument zu kritisieren und die bürgerliche Bildungskultur damit fundamental in Frage zu stellen, wie das der Sozialdemokrat Wilhelm Liebknecht unternahm.43 Auch solche Angriffe beriefen sich auf das Ideal, das sie als exklusiv denunzierten, um eine gerechtere Ordnung zu propagieren.44 An diese Beobachtungen lässt sich eine übergreifende These über die Reichsgründungsphase nach 1871 anschließen: Die gebildeten Bürger des frühen Kaiserreiches – eigentlich am Ziel ihrer nationalen Träume – begannen mit ihrer eigenen Situation und der Lage der Nation insgesamt unzufrieden zu sein. Vor der Kulturkritik des Wilhelminischen Reiches gab es eine Kritik an der Bildungskultur; der Kulturkrise ging die Wahrnehmung einer Bildungskrise voraus.45 Jedoch blieb der utopische Überschuss der öffent41 Ebd., S. 104. Vgl. zu Lagardes Kritik am Erziehungswesen auch de Lagarde, Zum Unterrichtsgesetze. 42 Für wie weit einige Zeitgenossen die Degeneration schon fortgeschritten hielten, demonstriert ein anderes Beispiel: Hier konstatierte ein Autor eine »Selbstmordneigung«, insbesondere bei der zeitgenössischen Jugend. Die Zunahme dieser »krankhaften Sucht, seinem Leben ein Ende zu machen«, sei sicherlich auf verschiedene Gründe zurückzuführen. Für besonders wesentlich habe jedoch der Mangel an Bildung zu gelten: Ein Selbstmord stelle meistens den »Abschluß eines fast immer unsittlichen Lebens« sowie eine »Folge schlechter intellektueller oder moralischer Bildung« dar. Vor allem sei das durch die Vorherrschaft der Halbbildung in Form eines Intellektualismus verursacht, der eine bloße Schulung des Geistes beinhalten und in dem die Bildung des Gemüts und des Willens vernachlässigt werden würde. Dem stellte der Autor – wenig überraschend – das Gebot einer sittlichen Charakterbildung entgegen. Kirchner, Zweck des Daseins, S. 4f. 43 Vgl. Liebknecht. Vgl. auch Titze, S. 219 ff. 44 Liebknecht stellte fest: »Es hat noch nie eine herrschende Kaste, einen herrschenden Stand, eine herrschende Klasse gegeben, die ihr Wissen und ihre Macht zur Aufklärung, Bildung, Erziehung der Beherrschten benutzt und nicht im Gegenteil systematisch ihnen die echte Bildung, die Bildung, welche Frei macht, abgeschnitten hätte.« Liebknecht, S. 59. 45 In der Forschung zum Kaiserreich wird generell der Beginn der Kulturkrise auf das Wilhelminische Reich festgelegt. Das Erscheinen von Julius Langbehns »Rembrandt als Erzieher« 1890 kann gemeinhin als Anfangspunkt gelten. In vielen Überblicksdarstellungen werden zwar gelegentlich frühere Texte (von Nietzsche oder de Lagarde ) erwähnt, deren breitere Rezeption wird jedoch erst auf das Fin de Siècle datiert. Vgl. dazu klassischerweise Stern. Sicherlich lässt sich nicht bestreiten, dass das Wilhelminische Kaiserreich eine kulturelle Dynamik entfaltete, die den wirtschaftlichen und sozialen Veränderungsprozessen kaum nachstand. Demgegenüber ver-

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lichen Debatten unmittelbar nach 1871 weiterhin an die bürgerliche Bildungskultur gebunden: Gegen das Zuwenig an »Bildung« stellte man ein »Mehr« an echter, eigentlicher »Bildung«. Krisenwahrnehmung und Bildungsoffensive lagen in der Bildungskultur im Reichsgründungsjahrzehnt sehr nahe beieinander. Es lassen sich verschiedene Veränderungsprozesse isolieren, die solche Krisenwahrnehmungen befördert haben: das generelle Unbehagen an der Gegenwartskultur, das sich insbesondere gegen den Liberalismus richtete; die Expansion des Politischen, die sich auch auf die Bildungskultur auswirkte; die Strukturveränderungen im Erziehungswesen; die fortschreitende innere Fragmentierung der Bildungskultur durch soziale Mobilität; die zunehmend unklare Position des Bildungswissens in einer modernen Wissensgesellschaft. Zum ersten Aspekt, dem Verhältnis von Gegenwartskultur und Liberalismus, lässt sich feststellen: Viele gebildete Bürger glaubten die Kultur im neuen Reich durch den Verlust an idealen Bestrebungen gekennzeichnet. »Mir wird zuweilen«, gestand Treitschke dem »Alt-48er« Rudolf Haym, »ganz einsam zu Muthe in dieser Generation, die vor lauter Realismus und Materialismus Gefahr läuft den schlichten Menschenverstand zu verlieren […].«46 Die Gründereuphorie nach der Reichseinigung ergriff zwar auch gebildete Bürger, aber gleichzeitig brachte die damit verbundene Dynamisierung der eigenen Lebenswelt Veränderungsängste mit sich. In Städten wie Berlin entstand ein geradezu fieberhafter Erneuerungswille, der das kleinstädtische Erscheinungsbild der Stadt ein für allemal beseitigen sollte. Das Bedrohungspotential dieser Prozesse wirkte sich insbesondere mit dem plötzlichen Zusammenbruch der Konjunktur im »Gründerkrach« 1873/74 aus. Im Gefolge der Wirtschaftskrise wurden die kritischen Stimmen lauter, die sich besonders gegen den Liberalismus richteten, den man zunehmend für die Probleme der Gegenwart verantwortlich machte. Die Diskussion über Halbbildung entpuppte sich in diesem Zusammenhang als umfassender Zweifel am liberalen Projekt in Politik, Wirtschaft und Kultur. Es war also ganz verständlich, dass die eindeutig liberale »Allgemeine Zeitung des Judenthums« in einem Text über blassen die kulturellen Krisenerscheinungen früherer Jahre. Zugleich deuten die hier in Betracht gezogenen Quellen auf eine längere Inkubationsphase der Kulturkrise, zumindest in der zeitgenössischen Perzeption, hin. Schon für das frühe Kaiserreich galt, dass die »diskursiven Turbulenzen« in der »Bildungssprache« wie in der »Wissenschaftssprache« zunahmen. Bollenbeck, S. 231. Jedoch wurden die Krisenwahrnehmungen in der Bildungskultur von ihrer offensiven Wendung abgefedert. Hierin dürfte der Unterschied zur Dynamik ab 1890 liegen: Im Fin de Siècle hatte jeder Versuch, sich erneut auf die Bildungskultur zu berufen, um sie vor ihren eigenen inneren Zerwürfnissen zu retten, fundamental an Glaubwürdigkeit verloren. 46 Siehe die Abschrift eines Briefes von Treitschke an Haym vom 26.3.78, Nl. Treitschke, Kasten 15, Bl. 49. Der Gegensatz zwischen Materialismus und Idealismus war eines der beherrschenden Themen dieser Zeit; um nur ein Beispiel zu nennen: Schasler, Ueber materialistische und idealistische Weltanschauung.

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Halbbildung die liberalen Bemühungen um Volksbildung folgendermaßen kommentierte: »Der Liberalismus aber thut wohl daran, die Mängel, die an ihm haften, die Auswüchse, die sich bei ihm, wie bei jeder menschlichen Richtung einstellen, zu erkennen und auf deren Beseitigung hinzuwirken.«47 In Folge der Fundamentalpolitisierung durch die Einführung des allgemeinen Wahlrechts für alle männlichen Staatsbürger wurden – das ist der zweite Problemkreis – Fragen der Bildungsvoraussetzungen politischer Handlungsfähigkeit vordringlicher. »Die durch das gleichmässige directe Stimmrecht gesetzte Prämie auf Uncultur wird dämonisch ausgebeutet werden«, befürchtete Hermann Grimm und fuhr fort: »Deshalb heute die Frage an uns, die wir die Macht und die Verantwortung in Händen haben: wollen wir diese Frage umgehen oder wollen wir sie uns klar legen und klar Antwort geben. Ich, der ich unausgesetzt mit allen Classen des Volkes in unbefangenen Verkehr gerathe, empfinde als eigentliche Ursache der ungemeinen Verstimmung den Mangel an einfacher Erkenntniß, wo eigentlich die Autorität liege.« 48

Gebildete Bürger begriffen die Fundamentalpolitisierung als eine Bedrohung für ihre eigene Stellung als natürliche Repräsentanten und Interpreten des politischen Systems. Von der nationalen Einheit hatten sie sich wie selbstverständlich einen größeren Einfluss auf Politik und Gesellschaft versprochen. Nach 1871 musste sich angesichts der übersteigerten Hoffnungen unter ihnen allmählich Enttäuschung breit machen. Darauf reagierten gebildete Bürger, indem sie die eigenen Grundsätze noch offensiver in die Gesellschaft zu tragen versuchten. Dabei wurde die Bildungskultur zu einer Art gesellschaftlichem Allheilmittel: In allen Teilbereichen ging es um Bildung; stets musste man nur die eigenen Vorstellungen durchsetzen, um der Probleme Herr zu werden. Die Wahlrechtsreform stellte jedoch lediglich ein Gebiet dar, auf dem sich für gebildete Bürger ein erhöhtes Konfliktpotential manifestierte. Letztlich lassen sich viele der politischen Konflikte des Kaiserreiches (»Kulturkampf«, »soziale Frage«) entsprechend interpretieren. Die Gründung des Reiches 1871 hatte gebildeten Bürgern wie selbstverständlich suggeriert, die politische und kulturelle Führung in der neuen Nation übernehmen zu können. Die realen Gegebenheiten des politischen Alltags zeigten aber schnell, dass dieser Führungsanspruch weder direkt umsetzbar noch in der gesellschaftlichen Diskussion unumstritten war. Somit erklärt sich der Versuch von gebildeten Bürgern, die Bildungskultur als eine Art »Leitkultur« des Deutschen Reiches zu etablieren. Auf den verschiedensten Ebenen gerieten drittens die Bildungseinrichtungen – als die institutionalisierten Reproduktionsorgane der Bildungskultur – seit der Jahrhundertmitte unter Veränderungsdruck. Im Schulwesen profilier47 »AZJ« vom 28.8. 1877. 48 Siehe den Brief Grimms an Treitschke vom 20.5.1874, Nl. Treitschke, Kasten 6, Mappe Grimm.

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te sich zunehmend die realistische höhere Schule, die stärker an den Interessen und Bedürfnissen des gewerbetreibenden, städtischen Bürgertums ausgerichtet war, als eine Alternative zum Gymnasium. Diese Profilierung konnte nur über das Berechtigungswesen Aussicht auf Erfolg haben, was eine weitgehende Anpassung an das gymnasiale Vorbild zur Folge hatte. Seit es 1859 zu den ersten Einschränkungen des gymnasialen Monopols – die Realschulen 1. Ordnung entstanden – kam, verstummte die vielstimmige Debatte um die Zukunft des höheren Schulwesens und die Organisation des Berechtigungswesens nicht mehr. Dabei ging es jedoch keineswegs nur um praktische Fragen der Schulorganisation; dahinter standen weltanschauliche Konflikte um das Selbstverständnis gebildeter Bürger. Auch in den universitären Bildungseinrichtungen wandelte sich vieles: Die 1860er Jahre stellten eine Periode raschen Wachstums, aber auch der inneren Differenzierung der Universitäten dar. Die Tendenz zur wissenschaftlichen Spezialisierung stand immer häufiger im markanten Gegensatz zur Forderung nach einem einheitlichen Bildungsideal.49 Der Auf- und Ausbau der Technischen Universitäten erhielt mit der Reichsgründung neuen Schwung und damit wurde das Problem, die wachsende technische Intelligenz in die Bildungskultur einzuordnen, immer offensichtlicher. Alle diese Strukturveränderungen an den verschiedenen Bildungsinstitutionen ließen die Zweifel in der Bildungskultur wachsen, weil die Konturen und die gesellschaftliche Relevanz des neuhumanistischen Bildungsideals unklarer wurden. Spätestens mit dem Beginn des Kaiserreiches war viertens die Gleichsetzung von gebildet und studiert etabliert.50 Gleichzeitig vernahm man zunehmend Stimmen, die sich gerade mit dieser Koppelung kritisch auseinandersetzten. Insbesondere das Berechtigungswesen wurde häufiger angegriffen. Dennoch differenzierte es sich im Laufe des 19. Jahrhunderts immer weiter aus. Es galt nicht mehr nur in der Verwaltung, sondern verstärkt auch in Bereichen der Wirtschaft.51 Diese allmähliche Akademisierung aller gesellschaftlichen Leitungspositionen trug dazu bei, dass es zu einer innerbürgerlichen Mobilisierung in der Bildungskultur kam. Während sich zu Beginn des 19. Jahrhunderts der soziale Aufstieg vor allem aus dem alten Mittelstand speiste, stammte im weiteren Verlauf ein wachsender Bestandteil der Studenten aus Unternehmerfamilien.52 Auch Mitglieder der Wirtschaftselite wurden zu ge49 Vgl. Turner. 50 Vgl. Engelhardt. 51 Erst jetzt sollte sich das Berechtigungswesen in vollem Umfang entfalten: »Dieses Berechtigungswesen war ein für das Kaiserreich typischer Kompromiss, weil es den Berufseingang objektivierte (auf meritokratische Prüfungsleistung bezog), aber gleichzeitig den Andrang begrenzte und dadurch die akademischen Berufe standesgemäß absicherte.« Jarausch, Universität und Hochschule, S. 332. 52 Es lässt sich feststellen, dass im frühen 19. Jahrhundert der Trend gerade umgekehrt war: Es bestand erhebliche soziale Mobilität aus unteren Gesellschaftsschichten in die Bildungsinsti-

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bildeten Bürgern.53 Die Dynamik der Bildungskultur ließ im 19. Jahrhundert ihre Ränder immer weiter ausfransen und sie damit auch im Inneren unsicher werden. Das neuhumanistische Bildungsideal entstammte – so der letzte Aspekt – der Gesellschaft des 18. Jahrhunderts. Die fundamentalen Veränderungen im 19. Jahrhundert, insbesondere die Ausdifferenzierung und Umstrukturierung der Wissenschaftslandschaft, führten in der Folgezeit nur bedingt zu institutionellen Reformen; zudem blieb das ganzheitliche Bildungsideal in Sprache und Praxis davon weitgehend unberührt. Ob die Transformation zu einer modernen Wissensgesellschaft mit der bürgerlichen Bildungskultur vereinbar sein konnte, darüber herrschte Uneinigkeit, wie z.B. die Diskussionen über den naturwissenschaftlichen Materialismus seit den 1850er Jahren demonstrierten.54 Alle diese Entwicklungen führten nicht nur zu einem erheblichen Druck auf die Fundamente der bürgerlichen Bildungskultur. Von den gebildeten Bürgern wurden diese Strukturveränderungen als Krise wahrgenommen, die ihre gesellschaftliche Bedeutung zu unterminieren drohte. Aus ihrer Sicht ging es hierbei um nichts Geringeres als um die Zukunft der Nation. Nur der entscheidende Einfluss der Bildungskultur auf die nationale Entwicklung konnte den Aufbau des neuen Gemeinwesens wirklich dauerhaft sichern. Aus dem Unbehagen über die Entwicklung der Bildungskultur entwickelte sich der Wunsch, ihr gesellschaftlich mehr Einfluss zu verschaffen. Für die gebildeten Bürger lag als professionelle Öffentlichkeitsarbeiter nichts näher, als die entsprechenden Versuche in die Öffentlichkeit zu tragen – die erwähnten bildungskritischen Schriften stellen letztlich nichts anderes dar. Das war auch deshalb logisch, weil sich die wahrgenommene Krise der Bildungskultur gerade in der Öffentlichkeit offenbarte. Bis weit über die Jahrhundertmitte hinaus war das Verhältnis gebildeter Bürger zur Öffentlichkeit vom liberalen Kampf gegen die obrigkeitsstaatliche Einschränkung geprägt gewesen. Seit den Karlsbader Beschlüssen von 1819 war es immer wieder zu teilweise erheblichen Eingriffen in die Meinungs- und Versammlungsfreiheit gekommen. Nach der Revolution 1848, die sich die Deregulierung des öffentlichen Raumes zum Ziel gesetzt hatte, brach eine erneute Phase der Restriktionen in Form von presserechtlichen Beschränkungen an, obwohl diese gegenüber 1819 bereits gemäßigter ausfielen. Die Freisetzung der öffentlichen Sphäre gehörte in dieser gesamten Phase zu den Grundanliegen des liberalen Bürgertums. Als dieses Ziel jedoch spätestens mit dem 1874 erlassenen Reichspressegesetz – tutionen hinein, während größere Distanz zur Wirtschaftselite vorhanden war. Vgl. Bödeker, S. 27. Vgl. ebenfalls Zunkel. 53 Für ein Beispiel einer entsprechenden Professionalisierung vgl. Franz. 54 Vgl. Daum. Vgl. zu diesem Problem auch du Bois-Reymond.

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wenigstens weitgehend55 – erreicht worden war, setzte sich unter gebildeten Bürgern allmählich eine andere Sichtweise durch: Ungehinderte Öffentlichkeit wurde zu einem Problem, dem Bürger mit neuen, diesmal allerdings nichtstaatlichen Einschränkungen beizukommen hofften. Die Zensurmaßnahmen seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts hatten nicht nur festgelegt, was im Bereich des Erlaubten lag, sondern sie hatten auch bei den bürgerlichen Öffentlichkeitsarbeiter Denkstrukturen etabliert, die sich nicht nur in einem Gegenanschreiben erschöpften.56 Die ungehinderte Entfaltung der öffentlichen Sphäre ließ nunmehr neue Fragen entstehen: Wie konnte die Entgrenzung aufgehalten werden? Wer war für sie verantwortlich? Konnte eine (bürgerliche) Selbstbeschränkung Abhilfe schaffen und wie wäre sie zu erreichen? Die postliberale Phase der bürgerlichen Kultur entstand aus der Frage nach den Grenzen der Liberalität – eine Frage, die dem liberalen Bürgertum bis dahin erspart geblieben war, weil der Staat diese Grenzen gezogen hatte. Der Liberalität Grenzen selbst ziehen zu wollen, drohte jedoch Ausgrenzungsdebatten hervorzurufen. Der Wunsch nach Einhegung der Öffentlichkeit wurde nach 1871 in einer ersten Welle bürgerlicher Medienkritik laut, die im engen Zusammenhang mit den bildungskritischen Texten der gleichen Phase zu sehen ist. In seiner Schrift über die öffentliche Meinung zeichnete beispielsweise der Münchener Staatsrechtler Franz von Holtzendorff ein typisches Bild der Situation. Dass die öffentliche Meinung im modernen Staatswesen von zentraler Bedeutung war, machte ihren gegenwärtig chaotischen Zustand nur noch beklagenswerter. Seit dem späten 18. Jahrhundert – bei Holtzendorff die ideale Periode einer bürgerlichen Öffentlichkeit – sei es zu einem Verfall der öffentlichen Meinung gekommen. Von einer Reizüberflutung durch die Informationsfülle bedroht, verfolge der Einzelne nur noch seine Privatinteressen. Die öffentliche Meinung kopple sich zunehmend von der direkten Kommunikation unter Individuen ab und bilde sich in unpersönlichen Prozessen, etwa im Pressewesen. Insgesamt sei sie dabei ungeregelter; Autoritäten in Form von Meinungsführern würden nicht mehr anerkannt. Zugleich sei das für diese Rolle prädestinierte Bürgertum zu sehr auf wirtschaftlichen Erfolg fixiert, um noch eine wirklich auf das Gemeinwohl konzentrierte öffentliche Meinung formen zu können. Dem Bild verloren gegangener Eindeutigkeit und zunehmender Entgrenzung stellte der Staatsrechtler eine Idealvorstellung des selbstlosen, akademisch gebildeten und wissenschaftlich arbeitenden Individuums entgegen. 55 Allerdings gab es in eingeschränktem Maße die Möglichkeit der nachträglichen Zensur. Vgl. dazu Wetzel, S. 61 sowie zum Kompromisscharakter des Reichspressegesetzes Stöber, S. 136. 56 Grimm beklagte in seinem Tagebuch, dass mit dem Wegfallen der Zensur das Grelle und Rohe zum guten Ton unter Literaten werde. Vgl. den Eintrag vom 28.7.1880, Tagebuch Hermann Grimms, Nl. Grimm, Bestandsnr. 340, Ms 139, Bl. 15f.

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Dem Parteikampfe fern stehend, »bereit, jede Wahrheit von neuem zu prüfen« und »jeden Irrthum einzugestehen«, trete hier der mustergültige »Bildner der öffentlichen Meinung« in Erscheinung.57 Durch den Verlust bürgerlicher Autorität drohten die Prozesse der öffentlichen Kommunikation ins Chaos abzugleiten, nur die Wiederherstellung der Deutungsmacht, gegründet auf die Kompetenz der Bildungskultur, konnte das verhindern. Die soziale Unschärfe, in der von Holtzendorf sein Ideal reiner und selbstloser wissenschaftlicher Qualifikation propagierte, ist für die hegemoniale Position der Bildungskultur durchaus charakteristisch. Der Verweis auf Bildungskompetenz unterband die Frage nach ihren Trägern und deren sozialen Interessen, die vielmehr als das Gemeinwohl maskiert werden. Diese Art bürgerlicher Medienkritik muss als Teil umfassenderer Wandlungsprozesse in der Teilöffentlichkeit gelesen werden. Im neuen Reich war die hegemoniale Stellung der bürgerlichen Bildungskultur umstritten, so dass sich gebildete Bürger gezwungen glaubten, den öffentlichen Raum zu ihrer Verteidigung einzusetzen. Der hegemoniale Charakter der bürgerlichen Bildungskultur lässt sich auch daran beobachten, wie stark sie auch unter gebildeten Juden als Referenzpunkt benötigt wurde. In diesem Zusammenhang ist es durchaus berechtigt, eine bildungs- und medienkritische Haltung nicht nur bei gebildeten Protestanten zu suchen. So war etwa der Historiker Harry Breßlau geneigt, seinem Kollegen Treitschke zu konzedieren, dass es mit der Presse nicht zum Besten stehe.58 Nur sei diese Entwicklung eben nicht die Schuld der Juden, sondern ein allgemeines Problem. Gleichzeitig gab es jedoch andere Stimmen, die das Pressewesen stärker als Möglichkeit ansahen, eine von Erosion bedrohte jüdische Identität zu schützen. Charakteristisch dafür war beispielsweise Isidor Singers Flugschrift »Presse und Judenthum«, in der er die Juden aufforderte, die moderne Medienlandschaft offensiver zu nutzen, um das Judentum zu stärken. Eine lebendige Presse erschien ihm als die zukünftige Quelle für eine Renaissance des Judentums. Unter gebildeten Juden waren Befürchtungen über die Ausbreitung eines Indifferentismus gegenüber der jüdischen Religion oft anzutreffen. »Das jüdische Wissen«, schrieb Adolf Brüll in einer Besprechung von Singers Schrift, »ist geschwunden. Nichts als Öde, dumpfe Öde, gähnt dem ernsten Betrachter im ganzen Lager Israels entgegen und das Judentum wird so von einem Teile der Juden misshandelt, verzerrt, bis zur Unkenntlichkeit entstellt.«59 Der Unterschied zwischen solchen Äußerungen zu denen von Breßlau lag jedoch nicht in der Wahrnehmung einer moralischen Krise, sondern in der fehlenden Verknüpfung mit einer Medienkritik. Im Gegenteil, hier hegte man die größten Hoffnungen gegenüber der Presse, so dass auch Brüll 57 Holtzendorff, S. 142. 58 Breßlau, Zur Judenfrage, S. 20. 59 Brüll, S. 3.

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behauptete: »Die Presse soll die Hindernisse des Raumes überwindend, ein festes Band der Einigung um die von den gleichen Ideen erfüllten Israeliten schlingen und bahnen helfen den Weg, der zu den Idealen führt […].«60 Diese unterschiedlichen Tendenzen unter den deutschen Juden sind so überraschend allerdings nicht, wenn man sich klar macht, dass man es hier mit zwei verschiedenen Kommunikationshaltungen zu tun hat: Diejenigen jüdischen Autoren, die wie Breßlau ihre Referenzpunkte extern in der bürgerlichen Teilöffentlichkeit besaßen, hatten eine vermittelnde Position einzunehmen, weshalb sie eher die dort geltenden Kommunikationsformen und -regeln übernahmen. Jüdische Themen kamen in ihren Texten vor allem »ex negativo« vor, d.h. wenn die jüdische Identität verteidigt werden musste. Interne, auf ein jüdisches Publikum hin orientierte Sprechakte kamen oft von Autoren, die sich mit einer (Neu-) Begründung jüdischer Traditionen beschäftigten, d.h. sie sprachen als Juden für Juden. Im Zusammenhang dieser »Traditionsschaffung« (Volkov) waren die vermittelnden Medien von zentraler Bedeutung, die dementsprechend positiv bewertet wurden. Alle diese Phänomene müssen in Betracht gezogen werden, will man die vermehrten Debatten über die Rolle der Juden in Öffentlichkeit und Gesellschaft verstehen. Die Krisenwahrnehmung in der bürgerlichen Bildungskultur offenbarte die tiefe Verunsicherung der gebildeten Bürger, die sich daher umso stärker dafür einsetzten, ihrer Kultur gesellschaftlichen Einfluss zu verschaffen. Die medienkritische Haltung war einer jener Auswüchse des dabei entstehenden Kampfes um Hegemonie, den die gebildeten Bürger im Namen der Bildungskultur führten und der auch alle Diskussionen über die »Judenfrage« überwölbte. Das galt ebenso für gebildete Protestanten wie für gebildete Juden. Das Verhältnis beider zueinander betraf die öffentliche Sphäre keinesfalls zufällig, weil beide sich in ihr bewegten und mit ihrer Hilfe ihre Identität konstruierten. Zugleich war dieser Bezug auch dadurch unvermeidlich, dass die hohe Sichtbarkeit von Juden in der öffentlichen Sphäre diese zu prägen und dem Deutungsmonopol gebildeter Protestanten zu entziehen schien.

60 Ebd.

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2.3 Die Juden in der bürgerlichen Teilöffentlichkeit »Besonders treffend finde ich, daß Sie die Juden auch vor ihrer Eitelkeit warnen: es ist dies ein gar nicht zu unterschätzendes Moment. Denn dieses sich Brüsten, von der Aufdringlichkeit mancher Schriftsteller, die ihren Witzreichthum ans Schaufenster stellen und sich gegenseitig Reklame machen […] liefert der Verstimmung stets neues Motive und wirkt mit als Resonanzboden für die Hetzrufe.«61

Die Stellung von Juden in der Öffentlichkeit des 19. Jahrhunderts ist nicht ausreichend erforscht. Selbst einfache Aussagen über den Anteil von Juden am Presse- und Verlagswesen sind kaum zu erhalten, geschweige denn eine eingehendere Betrachtung zu jüdischen Journalisten.62 Diese missliche Lage führt dazu, dass die einzigen Aussagen zu diesem Problemfeld von antisemitischen Autoren stammen, in deren Vorstellungswelt eine jüdische Herrschaft über das Presse- und Verlagswesen bekanntermaßen eine prominente Rolle spielte.63 Auch wegen dieser Forschungslage ist Zahlenmaterial, aus dem die konfessionelle Zusammensetzung von Journalisten zu erkennen wäre, für den hier in Frage kommenden Zeitraum des frühen Kaiserreiches nicht zu erhalten. Für 1899 lässt sich jedoch die Lage einschätzen, da in diesem Jahr das preußische Innenministerium eine Liste aller Berliner Redakteure z. T. mit biographischen Angaben zusammenstellen ließ. In diesem Jahr waren demnach unter allen Berliner Redakteuren 18 Prozent jüdischer Konfession, denen rund 68 Prozent Protestanten und elf Prozent Katholiken gegenüberstanden.64 Gleichzeitig lässt sich eine ungleiche Verteilung der jüdischen Redakteure über die Presselandschaft konstatieren. Sie konzentrieren sich vor allem in der linksliberalen und sozialdemokratischen Presse, mit 28 gegenüber 61 Prozent Protestanten, waren dagegen nur in Ausnahmefällen bei »regierungsfreundlichen« Organen tätig. Eine ganze Reihe von Zeitungen (die 61 Siehe den Brief Schotts an Lazarus vom 21.2.1881, Nl. Lazarus, HU-Bibliothek, BriefNr. 506. Die Hervorhebung befindet sich im Original. 62 Dass das schon lange als bedeutsam erkannt wurde, demonstriert etwa der Aufsatz Volkovs von 1991, in dem sie die Wichtigkeit der Popularisierungsbemühungen von jüdischen »Traditionsschaffenden« in einer neuen Öffentlichkeit betont. Vgl. Volkov, Erfindung einer Tradition, S. 610 ff. 63 Dies kann in einzelnen Fällen sogar dazu führen, dass durchaus wohlmeinende Aufsätze auf solches Material zurückgreifen. Vgl. Koszyk, Der jüdische Beitrag. 64 Vgl. Requate, Journalismus als Beruf sowie Enke, Die Presse Berlins in der Statistik des Königlichen Polizeipräsidiums (I) und ders., Die Presse Berlins in der Statistik des Königlichen Polizeipräsidiums (II).

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»Norddeutsche Allgemeine Zeitung«, die »Kreuzzeitung«, der »Reichsbote«, die »Deutsche Tageszeitung«, die »Post« etc.) wurde – bis auf einige wenige Katholiken – ausschließlich von protestantischen Redakteuren geschrieben. Ob dieses eindeutige Bild, nach dem die Konfession bei den verschiedenen Presseorganen durchaus ein Beschäftigungskriterium gewesen sein muss, auch für die Phase unmittelbar nach der Reichseinigung Geltung beanspruchen kann, ist nicht mit Sicherheit zu entscheiden. Eine entsprechende Tendenz, wonach jüdische Redakteure vor allem in der liberalen und linken Presse zu finden gewesen sind, dürfte jedoch bereits in dieser Periode ausgeprägt gewesen sein. Darüber hinaus mag man Zweifel anmelden, ob der Gesamtanteil von Juden an den Berliner Redakteuren bereits in den 1870er Jahren so hoch gewesen ist. Dennoch bleibt die Erkenntnis, dass sie in einem beachtlichen Ausmaß, der über dem der katholischen Journalisten gelegen haben dürfte, in der Berliner Presselandschaft tätig gewesen sind. Damit wird die Bedeutung des Journalistenberufs (wie die anderer freier Berufe) für die jüdische Bevölkerung erneut unterstrichen, der ja andere Karrieren in der Bildungskultur (etwa viele Professuren sowie in manchen Bereichen das höhere Beamtentum) häufig verschlossen blieben. Im zahlenmäßigen Anteil von Juden an den Produzenten erschöpft sich keineswegs die Bedeutung von Juden in der sich wandelnden öffentlichen Sphäre. Eine vollständige Erfassung derselben würde – bei den Produzenten – eine Analyse der konkreten Tätigkeiten von Juden im Presse- und Verlagswesen sowie ihrer Lese- und Rezeptionsgewohnheiten – bei den Konsumenten – voraussetzen. Ein systematischer Vergleich der entsprechenden Erkenntnisse mit Daten für die nichtjüdische Seite ergäbe dann erst das vollständige Bild. An dieser Stelle kann es nur um einige schlaglichtartige Problematisierungen gehen. Dass Juden an prominenten Positionen im Presse- und Verlagswesen eine Rolle spielten, lässt sich auch behaupten, ohne dass dafür eine antisemitische Sichtweise eingenommen werden muss. Literaten wie Heinrich Heine oder Ludwig Börne wurden bereits von zeitgenössischen Stimmen als Vertreter eines neuartigen Journalismus gekennzeichnet – eine Sichtweise, die sich durchaus in der Forschungsliteratur wieder finden lässt.65 Der prägende Einfluss der Verleger Rudolf Mosse und Leopold Ullstein für das Entstehen eines massenmedialen Marktes wird heute anerkannt.66 Eine der heute kaum noch bekannten Persönlichkeiten, der jedoch für die bürgerliche Teilöffentlichkeit des neuen Reiches eine große Bedeutung beigemessen werden muss, war Julius Rodenberg, der Begründer und langjährige Herausgeber der bereits erwähnten »Deutschen Rundschau«. Rodenberg, der als Julius Levy geboren 65 So behauptet z.B. für das Gebiet der Literaturkritik in: Requate, Journalismus als Beruf, S. 348. 66 Vgl. Koszyk, Der jüdische Beitrag.

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wurde, seinen Namen aber in der Studienzeit änderte, stammte aus einer noch weitgehend traditionellen jüdischen Familie und konvertierte zeitlebens nicht.67 Obwohl er nahezu vollständig assimiliert lebte, erscheint sein Lebensweg retrospektiv paradigmatisch für viele seiner jüdischen Zeitgenossen, insbesondere in seiner tiefen Verbundenheit mit der Bildungskultur und dem darauf gründenden Aufstiegs- und Integrationsweg. Die Gründung und Etablierung der »Deutschen Rundschau« war eine der bedeutsamsten Entwicklungen in der bürgerlichen Teilöffentlichkeit nach der Reichsgründung. Zusammen mit der »Gegenwart« von Paul Lindau verkörperte sie einiges von dem kulturpolitischen Potential, das durch die nationale Einheit freigesetzt wurde. In den nationalen Raum zu sprechen und ihn zugleich mit Mitteln der bürgerlichen Bildungskultur zu durchdringen, war das zentrale Anliegen der Zeitschrift. In ihrem ungebrochenen Vertrauen in die Prägekraft der Bildungskultur war sie ein typisches Kind des bürgerlichen 19. Jahrhunderts, zugleich aber auch ein Reflex der kulturellen Orientierung, die Juden wie Rodenberg lebten. Von der jüdischen Identität ihres Herausgebers wurde die Zeitschrift allerdings nicht in offen zutage tretender Weise geprägt: Auch in der Höchstphase des Antisemitismus bezog sie beispielsweise keine Stellung, im Unterschied etwa zur »Gegenwart«, für die es Lindau gelang, einen entsprechenden Artikel von Heinrich B. Oppenheim einzuwerben.68 Ihre beachtliche und schnell erlangte Reputation gründete sich vor allem auf die Mitarbeit vieler bekannter Literaten und Gelehrten der Zeit, unter ihnen Theodor Storm, Paul Heyse, Wilhelm Scherer, Heinrich von Sybel, Eduard von Hartmann, Wilhelm Wundt u. a. Rodenberg besaß zu vielen seiner Autoren ein langjähriges Vertrauensverhältnis; einige zählte er zu seinen Freunden. Der geachtete Herausgeber eines der wichtigsten Organe der bürgerlichen Bildungskultur kann somit stellvertretend für die enorme Integrationsleistung vieler Juden auf diesem Feld stehen, die in vielen Fällen eben bis zu persönlichen Beziehungen reichte. Rodenbergs Konkurrent auf dem Zeitschriftenmarkt, Paul Lindau, dessen Großvater bereits zum Christentum übergetreten war, gehörte im frühen Kaiserreich zu den bekanntesten Literaten.69 Er gab zwei erfolgreiche Zeitschriften – »Die Gegenwart« ab 1872 und »Nord und Süd« ab 1877 – heraus, die ebenso wie die »Deutsche Rundschau« die bürgerliche Teilöffentlichkeit mitprägten und in ihr der Bildungskultur ein Forum schufen. 1869 war es Lindau gelungen, mit den »Harmlosen Briefen eines deutschen Kleinstädters« seinen Ruf als bedeutender Satiriker und Kommentator des zeitgenössischen Kultur67 Zu seiner Biographie vgl. Spiero. Im Gegensatz zur Literatur über Rodenberg und seine Zeitschrift wird in dieser Biographie sein jüdischer Hintergrund zumindest erwähnt. 68 Vgl. Oppenheim, Stöcker und Treitschke. 69 Zu Lindau vgl. die folgende Studie, die allerdings mit Vorsicht zu genießen ist, da sie z. T. unkritisch Wertungen über Lindau aus den Quellen übernimmt: Eismann-Lichte.

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lebens zu begründen. Bereits in diesen frühen Texten pflegte Lindau einen erkennbar an Heine angelehnten, aber immer noch neuen Ton: Die Briefe bestachen durch ihre leichten Plaudereien, ihren Witz, die zahlreichen Anspielungen und die unbekümmerte Kritik. Die Zeitgenossen führten diese Mischung auf seine Prägung durch die literarischen Traditionen Frankreichs zurück. Lindau bemühte sich besonders nach seinem Umzug nach Berlin 1871, wo er seine beachtliche Wirkungskraft erst vollständig entfalten sollte, eine neue, der steigenden Bedeutung Berlins angemessene Literatur- und Kulturkritik zu etablieren. Neben seiner Herausgebertätigkeit machte sich Lindau darüber hinaus schnell einen Namen als einer der meistgespielten Bühnenautoren. Seine Theaterstücke sollten dabei ähnlich ausgerichtet sein wie seine Literaturkritik, die Vokabeln wie Wahrheit, Realitätsnähe oder Wahrscheinlichkeit besonders positiv belegte. Jenen Stücken, die er mit Blick auf seine Zeit geschrieben hatte, sollte man den Gegenwartsbezug auch anmerken. Lindau passte damit sehr gut in ein Kulturleben, das sich zu dynamisieren begann. Ein Kennzeichen dieser Entwicklung war es, dass seine Art, Literaturkritik zu betreiben ebenso wie seine eigenen Theaterstücke zu verfassen, erfolgreich und zugleich äußerst umstritten war. Mit seiner offenen Zurschaustellung französischer Vorbilder gab er Anlass für nationalistische Kritik an ihm; mit seiner betonten Leichtigkeit und seinem Witz machte er sich für Kritiker angreifbar, die einen ernsten und »gebildeten« Ton für angemessener erachteten. In seiner Person kristallisierten sich die Hoffnungen und Befürchtungen angesichts der Veränderungen im Kulturleben und in der bürgerlichen Bildungskultur: »Lindau ist in der Literatur unserer Zeit vielleicht der bestgehaßte Mann […].«70 Nietzsche nannte ihn einen »Gründer in scandalosis«.71 Viele Charakteristiken über ihn wuchsen sich zu Hasstiraden oder zu Lobeshymnen aus; eine sachlich-ruhige Stellungnahme findet sich kaum.72 Die Rezeption Lindaus erinnert dabei an die Art und Weise, wie gebildete Bürger Heine und sein Werk betrachtet hatten. Kein Zufall sind somit auch die gelegentlich eingestreuten Bemerkungen über seine jüdische Abkunft. Dass eine jüdische Identität nur schwierig zu unterstellen war, störte dabei längst nicht immer. So schrieb etwa der Reichstagsabgeordnete, Literat und Publizist Karl F. Frohme unter dem Pseudonym »Junius«: »Allerdings gehörte der Vater Lindau’s bereits der christlichen Kirche an, doch dürfte wohl Niemand die talmudistischen Traditionen seiner Abstammung ernstlich bezweifeln wollen. Und dann ist ja auch die Religion hier durchaus irrelevant, das Ju70 Kürschner, S. 513f. 71 Nietzsche, Neujahrswort, S. 290. 72 Neben den erwähnten seien noch folgende, durchweg kritischen Stimmen angeführt: Plerr sowie Hartwich.

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denthum der Gesinnung [...] feiert in Lindau den berufenen Messias einer vermauschelten Literatur-Epoche.«73

Nur ein Jude, und sei es ein Jude aus Gesinnung, konnte demnach den »Typus des Berliner Journalismus« verkörpern. In der gegenwärtigen Kulturszene sah Frohme alias Junius einen »literarischen Vernichtungskrieg«, in dem jedes deutsche Talent zerstört, die deutsche Klassik zugunsten französischer Schundliteratur zurückgedrängt und schließlich ein »literarische[s] Neu-Jerusalem« errichtet werden sollte.74 Dafür stand Lindau. Zusammenfassend lässt sich behaupten, dass Paul Lindaus Position jüdisch wurde, weil er erfolgreich Eigenschaften, die seit Heine immer häufiger als jüdisch denunziert wurden, im Kulturbetrieb des frühen Kaiserreichs etablierte. Es ist natürlich nicht zu beweisen, dass es gerade Lindau war, der in den Köpfen jener Autoren herumschwirrte, die sich über die »Judenrevuen« (Eugen Dühring ) und ihren Einfluss beschwerten; unmöglich erscheint es nicht. Dass seine Identität kaum eine jüdische genannt werden konnte, spielte im Zweifelsfall keine Rolle. Lindau und Rodenberg gehörten zu den in ihrer Zeit prominenten Vertretern des schreibenden Gewerbes, und sie waren durch ihre Zeitschriften über einen lange Zeitraum einflussreich. Es lassen sich jedoch andere Fälle der Mitarbeit von Juden in der bürgerlichen Teilöffentlichkeit finden, die weniger bekannt, aber für das Verhältnis von gebildeten Juden und Protestanten ebenfalls aufschlussreich sind. Ein solches Beispiel ist die kurzzeitige Redaktionstätigkeit Heinrich Hombergers in den »Preußischen Jahrbüchern«, die dritte prägende Zeitschrift der bürgerlichen Teilöffentlichkeit. Der Essayist jüdischer Herkunft lebte Anfang der 1870er Jahre in Italien, wo er neben seinen literarischen und kulturgeschichtlichen Studien als Korrespondent für die »National-Zeitung« arbeitete. 1872 erkundigte sich der damalige Herausgeber der »Preußischen Jahrbücher«, Wilhelm Wehrenpfennig, ob Homberger seine Nachfolge als Redakteur der renommierten Zeitschrift antreten könnte. Wehrenpfennig hatte neben seinen diversen politischen Funktionen in Parlament und Regierung die Redaktion der »Haude und Spenerschen Zeitung« übernommen und wollte daher die »Jahrbücher« abgeben. Er scheint von Anfang entschlossen gewesen zu sein, später wieder in die Redaktion zurückzukehren, ohne das jedoch seinem Freund Homberger gegenüber zu erwähnen. Die Übertragung der Redaktion an Homberger machte seinen Umzug nach Berlin nötig; er musste seine Korrespondententätigkeit aufgeben und seine diversen Studien zurückstellen. Trotzdem willigte Homberger nach kurzer Bedenkzeit ein, die reizvolle Aufgabe in der neuen Hauptstadt zu übernehmen.75 73 Junius, S. 3. Die Hervorhebung befindet sich im Original. 74 Ebd., S. 3 ff. 75 Vgl. den Brief Hombergers an Wehrenpfennig vom 16.5.1872, Nl. Wehrenpfennig, GStA Pk, I. HA Rep. 92, C III 4.

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Insbesondere der zweite Herausgeber Heinrich von Treitschke war von den redaktionellen Qualitäten seines neuen Kollegen gleichwohl nicht überzeugt: »Hombergers Berufung wurde mir sehr sauer. Daß er besten Falls nicht allen Anforderungen genügen wird, weiß ich leider. Ein Mann, der zugleich bedeutender Publicist und ein Gelehrter von selbständigem Urtheile ist, läßt sich schwer finden. Muß man wählen, so halt’ ich’s für richtiger, einen tüchtigen Publicisten zu nehmen.«76

Die ersten Hefte der »Jahrbücher«, die unter Hombergers redaktioneller Führung erschienen, waren seinen Neigungen entsprechend stärker literarisch und kulturgeschichtlich, als das sonst der Fall zu sein pflegte. Nur hier und dort brachten die »Jahrbücher« – meist aus Treitschkes Feder – einen jener politischen Artikel, für welche die Zeitschrift bekannt war. Das wird der Hintergrund gewesen sein, dass Treitschke bereits im Mai 1873 wieder zu murren begann: Homberger erweise sich als immer unfähiger; seine politischen Korrespondenzen seien »Stümperarbeit«; er sei außerdem »grundfaul«. Es müsse endlich etwas geschehen, »um das Blatt zu retten«. Im Sommer des gleichen Jahres eskalierte Treitschkes Wut über den »kaum mittelmäßige[n] Publicist[en]« Homberger, der keinen »wissenschaftlichen Sinn« besitze, derart, dass Wehrenpfennig sich mit einem Ultimatum konfrontiert sah: Entweder es gäbe eine Änderung bis zum Beginn des neuen Jahres oder Treitschke würde sich aus den »Jahrbüchern« zurückziehen und der Verleger Georg Reimer das Blatt dann wohl einstellen.77 Dieser Schritt war umso beachtlicher, als er in jene Phase fiel, in der die »Jahrbücher« ihre größte Auflage erreichten und dem Verlag einen Gewinn abwarfen.78 Trotzdem erging im Februar 1874 in einem Schreiben des Verlegers Reimer die Kündigung an Homberger. Homberger war – von der Kündigung vollkommen überrumpelt – über die schnöde Abfertigung durch den Verleger erbost, blieb sie doch ohne ein Wort von den Herausgebern, denen er sich freundschaftlich verbunden fühlte. Er schrieb einen entsprechenden Brief an Treitschke und drohte die Vorgänge in einem Aufsatz »zur Pathologie des deutschen Journalismus« für die »weiteste Oeffentlichkeit« zu dokumentieren.79 In einem weiteren Schreiben an Treitschke einige Tage später kam Homberger schließlich auf den entscheidenden Punkt zu sprechen: die Frage der Ehre. Er habe die Überzeugung gewonnen, den Redaktionsplatz nur für seinen ehemaligen Freund Wehrenpfennig freigehalten zu haben. Erst als er sich über das unwürdige Verfahren seiner Kündigung durch den Verleger beschwert habe, hielt man ihm seine für 76 Siehe die Abschrift eines Briefes von Treitschke an Grimm vom 11.11.1872, Nl. Treitschke, Kasten 15, Bl. 5. 77 Siehe den Brief Treitschkes an Wehrenpfennig vom 24.8.1873, Nl. Wehrenpfennig, GStA Pk, I. HA Rep. 92, C III 3a. 78 Vgl. Kirchner, Das deutsche Zeitschriftenwesen S. 472. 79 Siehe den Brief Treitschkes an Wehrenpfennig vom 2.3.1874, Nl. Wehrenpfennig, GStA Pk, I. HA Rep. 92, C III 3a, Bl. 184.

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die Tätigkeit angeblich ungenügenden Fähigkeiten vor, wovon man vorher niemals gesprochen habe.80 Das gesamte Verhalten der Herausgeber Treitschke und besonders Wehrenpfennig, zu denen er doch das »so viel wichtigere, innere, moralische Verhältnis« besessen zu haben glaubte, sei »unter Gentlemen schlechterdings nicht üblich«.81 Aufgrund dieses kränkenden Verhaltens behalte er sich daher weiterhin den Gang an die Öffentlichkeit vor. Dazu kam es unmittelbar danach: Die »National-Zeitung« hatte am 10. März in einer kurzen Notiz den Wechsel in der Redaktion der »Preußischen Jahrbücher« bekannt gegeben.82 Als nun Homberger eine Erklärung an die Zeitung schickte, damit es nicht zu »unrichtigen Deutungen« kommen konnte, entspann sich ein Austausch von Erklärungen in der »National-Zeitung«, gespickt mit gegenseitigen Vorwürfen. Treitschke beendete dieses Wortgefecht mit dem Bedauern, dass sein ehemaliger Redakteur sich entschieden hatte, »eine für das Publikum völlig gleichgiltige, rein persönliche Angelegenheit« öffentlich auszutragen.83 Dadurch sei ihm jede Gewährung einer »private[n] Genugthuung« unmöglich geworden, die ihm im Falle eines Fehlverhaltens der beiden Herausgeber zugestanden hätte.84 Homberger schließlich brach diesen publizistischen Schlagabtausch über seine persönliche Ehre mit seiner Überzeugung ab, »[…] daß es allgemein nützlich sei, zu zeigen, welches Maß von kollegialischer Rücksicht und gesellschaftlichem Anstand zweier ihrer sittlichen Vornehmheit bewusste Politiker und Schriftsteller einem Manne, welcher seit zwei Jahren ihr Mitarbeiter war, schuldig zu sein geglaubt haben«.85

Hombergers Kränkung wurde damit nicht nur öffentlich dokumentiert, sie erschien auch vielen in seinem Umfeld nachvollziehbar. So behauptete Hermann Grimm, der regelmäßiger Autor in den »Jahrbüchern« war, dass überall »nur eine Stimme« herrsche: Homberger sei von den drei Herren »auf das unverantwortlichste« behandelt worden.86 Wehrenpfennig habe Homberger »wie einen wirklichen Freund« fast täglich zu Hause empfangen, ihn dann aber »wie einen Bedienten durch Reimer« fortschicken lassen.87 Eine solche Praxis dürfe man dem ersten Journal des Landes auf keinen Fall durchgehen lassen. Wenn man die ganze Episode Revue passieren lässt, fallen einige Aspekte an ihr auf. Es ist zumindest fraglich, ob Homberger wirklich ein gänzlich unge80 Siehe die Abschrift eines Briefes von Homberger an Treitschke vom 10.3.1874, Nl. Wehrenpfennig, GStA Pk, I. HA Rep. 92, C III 3a. 81 Ebd. 82 Vgl. »NZ« vom 10.3.1874. 83 »NZ« vom 15.3.1874. 84 Ebd. 85 »NZ« vom 17.3.1874. 86 Siehe den Brief Grimms an Scherer vom 14.3.1874, Nl. Scherer, Mappe 449. 87 Ebd.

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eigneter Kandidat für die redaktionelle Betreuung der »Preußischen Jahrbücher« war. Zwar konnte er von seiner Ausbildung her nicht als gestandener Gelehrter wie Treitschke gelten, ebenso besaß er nicht die praktische politische und administrative Erfahrung, über die Wehrenpfennig verfügte – beide damit Garanten für zwei der wichtigsten thematischen Bereiche der »Preußischen Jahrbücher«. Zugleich aber lagen die eigentlichen Stärken Hombergers in der Kulturgeschichte und Literatur, welche für die »Preußischen Jahrbücher« wichtiger wurden, seit diese Gebiete durch Rodenbergs »Rundschau« und Lindaus »Gegenwart« im bürgerlichen Publikum an Bedeutung gewannen. Nur sah jemand wie Treitschke das nicht so: Im Zentrum seiner Bemühungen um das Blatt stand die besondere Bedeutung, welche die »Preußischen Jahrbücher« (historischer) Wissenschaft als Inhalt, politischer Meinung als Tenor und Gelehrsamkeit als Modus einzuräumen hatten, um so die bürgerliche Teilöffentlichkeit zu prägen. »Weiche« Themen hatten sich dem unterzuordnen. Fatalerweise konnte sich auch in diesem Fall eine ähnliche Assoziation aktualisieren, wie sie im Falle Lindaus zum Tragen gekommen war: Juden als Vertreter einer leichten Kost in der öffentlichen Bildungskultur oder, wie Treitschke sie später titulieren wird, als »betriebsame Schaar der semitischen Talente dritten Ranges«88. An der Art und Weise, wie Homberger auf die Zumutungen vor allem der Herausgeber reagierte, lässt sich der Grad seiner Integration in die Bildungskultur ablesen. Er wusste genau, wie die üblichen Lösungsmechanismen in solchen Konflikten auszusehen hatten und an welchen Stellen er von denjenigen, die er für seine Freunde halten konnte, enttäuscht sein musste. Ganz zwangsläufig verstand Homberger seine Kündigung als einen Angriff auf seine Ehre und reagierte entsprechend. Auf dieser Ebene zeigt sich im Kleinen, wie sehr Juden die Formen und Regeln der bürgerlichen Bildungskultur verinnerlicht hatten. Andererseits mag man in dem schnöden, ehrverletzenden Umgang mehr lesen – jenem Umgang, mit dem vor allem Wehrenpfennig, aber auch Treitschke ihren Freund Homberger erst im guten Glauben an eine gesicherte Karriere wiegten, um ihn dann um so rücksichtsloser vor den Kopf zu stoßen: War das nicht eine Missachtung, die sie sich im Falle Hombergers leisten zu können glaubten? Dass diese Ehrverletzung grundlegender aufgefasst werden muss, demonstrieren auch einige Äußerungen, die Treitschke während dieser Phase en passant in Briefe einfließen ließ. In einem Schreiben an seinen Kollegen Lujo Brentano glaubte er von einer (jüdischen) Verschwörung zu wissen: »Natürlich« würden »Bamberger & Co hinter Homberger’s seltsamen Briefen« stecken.89 Von Anfang an hatte er seinem Umfeld nicht 88 Treitschke, Unsere Aussichten, S. 574. 89 Siehe die Abschrift eines Briefes von Treitschke an Brentano vom 11.3.1874, Nl. Treitschke, Kasten 15, Bl. 2. In der Tat war Homberger mit Bamberger eng befreundet, und es

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verschwiegen, dass er seinen neuen Kollegen auch als Jude wahrzunehmen bereit war. Bereits kurz nach der Einstellung fühlte er sich in einem Brief an Grimm gemüßigt, seinen Zweifeln über Hombergers Qualitäten die folgende Bemerkung beizufügen: »Was ich über die Rasse denke, wissen Sie. H[omberger] gehört aber zu den anständigen, germanischen Semiten. Bewährt er sich nicht, so kann man ihn entlassen.«90 Als Treitschke später in einem Schreiben an Wehrenpfennig auf die erste Beschwerde Hombergers reagieren musste, interpretierte er Hombergers Verhalten als »Rachsucht des orientalischen Blutes«.91 Von Beginn an sah Treitschke die Mitarbeit Hombergers vor dem Hintergrund seiner jüdischen Herkunft; der Jude Homberger wurde zu einem Redakteur auf Bewährung. Als er die Probe aufs Exempel nicht bestand, erwies er sich um so mehr als Vertreter seiner Herkunft, da er sich seine Fehler nicht einzugestehen vermochte. Die Kränkung, die Homberger wie jeder gebildete Bürger in seiner Lage empfunden hätte, war für Treitschke nicht etwa ein durch den Angriff zumindest einsichtiger Reflex, geschweige denn eine nach den Maßstäben der Bildungskultur gerechtfertigte Reaktion. Sie war als orientalische Rachsucht Ausfluss von Hombergers Judentum und damit in der Bildungskultur wertlos. Auch wenn sich die geschilderten Erkenntnisse schwer verallgemeinern lassen, kann doch konstatiert werden: Juden spielten insbesondere in der bürgerlichen Teilöffentlichkeit eine führende und oft prägende Rolle. Die damit verbundene Sichtbarkeit konnte zu allerlei Mutmaßungen veranlassen, auf welcher Weise diese gebildeten Juden die ihnen zufallende Macht in der Öffentlichkeit und damit auf die bürgerliche Bildungskultur benutzen würden. Ihnen zu unterstellen, ihre Position als Juden zu bekleiden und entsprechend Einfluss nehmen zu wollen, geschah längst nicht immer in antisemitischen Behauptungen einer »verjudeten Presse«.

2.4 Das Jüdische in der bürgerlichen Teilöffentlichkeit An der Schnittstelle von Öffentlichkeit und Bildungskultur, deren Verhältnis den Integrationsweg der deutschen Juden im 19. Jahrhundert beeinflusste, entstanden zugleich wesentliche Bestandteile antisemitischer Ressentiments. ist wahrscheinlich, dass er mit diesem sein Vorgehen absprach. Dahinter muss man deshalb aber noch keine Verschwörung vermuten. 90 Siehe die Abschrift eines Briefes von Treitschke an Grimm vom 11.11.1872, Nl. Treitschke, Kasten 15, Bl. 5. 91 Siehe den Brief Treitschkes an Wehrenpfennig vom 2.3.1874, Nl. Wehrenpfennig, GStA Pk, I. HA Rep. 92, C III 3a.

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Im speziellen Fall der bürgerlichen Teilöffentlichkeit verbanden sich Wahrnehmungen des beginnenden Strukturwandels mit Wahrnehmungen des jüdischen Aufstieges in die öffentliche Sphäre. Konkrete Anhaltspunkte hierfür liefert die private (Brief-)Kommunikation unter gebildeten Protestanten, in der sich mit gewisser, in den 1870er Jahren allmählich ansteigender Regelmäßigkeit Bemerkungen finden lassen, in denen die zunehmende Präsenz von Juden in der Öffentlichkeit konstatiert und bewertet wurde. Da kursierten Vermutungen über die jüdische Identität bestimmter Autoren, mit denen man gerade einen Dissens auszufechten hatte. So behauptete etwa Hermann Grimm in einem Brief an den Literaturhistoriker Wilhelm Scherer über den Germanisten Karl Friedrich Bartsch, mit dem Scherer aneinander geraten war: »Obendrein ist er ja wohl ein Jude?« – dem fügte Scherer handschriftlich ein »Leider nein!« hinzu.92 In der relativen Sicherheit privater Kommunikation entrüsteten sich gebildete Protestanten über jüdische Autoren: »Es ist doch unerträglich, daß man solche freche Judenfürze sich doch unter der Nase muß abfeuern lassen mit dem Anschein als sei es Luft wie andre Luft. Daß diese Bande noch einmal zu Brei gestampft werden wird, ist eine Überzeugung die zu hegen ich eingestehe.«93 In anderen Korrespondenzen wird die wirkliche oder nur vermutete jüdische Herausgeberschaft eines Presseorgans mit dessen politischer Orientierung verknüpft. Der Historiker Hermann Baumgarten stellte im Frühjahr 1879 Mutmaßungen über die »Neue Frankfurter Zeitung« an: »Dieses Blatt […] ist seit kurzem in andern Hände, ich fürchte, dem Namen nach zu schließen, in jüdische übergegangen, und stößt nun noch viel stärker als früher in die Trompete Lasker-Bamberger.«94 Häufiger kam in der privaten Kommunikation unter gebildeten Protestanten schließlich der Verdacht auf, Juden würden ihren angeblichen Einfluss auf die Öffentlichkeit benutzen, um unliebsame Äußerungen fernzuhalten. Treitschke führte die aus seiner Sicht konzertierte Aktion der (liberalen) Presse, seine »Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert« dem deutschen Publikum vorzuenthalten, auf den Einfluss jüdischer Journalisten zurück. Die Privatheit der Kommunikation erlaubte es oft, mit direktem Bezug auf konkrete Personen oder Geschehnisse zu reden. Man sprach hier nicht nur allgemein über die Juden, sondern hatte konkrete Personen im Blick. Die Kommunikation über Juden, die sich in veröffentlichten Texten finden lässt, verließ hingegen die Ebene des abstrakten Bezugs auf »die Juden« nur selten. Die »Judenbelletristen und Judenrevuen«, von denen Eugen Dühring sprach, waren hierfür ebenso ein Beispiel wie das beständige Wehklagen Stoeckers 92 Siehe den Brief Grimms an Scherer vom 6.11.1875, Nl. Scherer, Mappe 449. 93 Ebd. 94 Siehe den Brief Baumgartens an Treitschke vom 25.5.1879, Nl. Treitschke, Kasten 5. 1866 war die »Neue Frankfurter Zeitung« in »Frankfurter Zeitung und Handelsblatt« umbenannt wurden.

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über die Herrschaft der Juden in den Zeitungsredaktionen.95 Allerdings bemühte sich Stoecker in seinen Reden gelegentlich doch um eine Personalisierung seiner Vorwürfe. In dieser Weise versuchte er, an dem Vorsteher der Berliner Stadtverordnetenversammlung, Dr. Wolf Straßmann, die Intoleranz zu exemplifizieren, mit der Juden angeblich gegen die christliche Religion wetterten. In einer Äußerung hatte Straßmann vor den Vertretern der »kirchlichen Reaction« gewarnt, deren »Zunge […] wie die der giftigen Viper und ihr Athem […] wie der Hauch des Sumpfes [seien], in dessen Miasmen das Leben hinsiecht«.96 Stoecker glaubte angesichts solcher »Beleidigungen« als »Diener des Evangeliums« sein »Volk vor der Entchristlichung« schützen zu müssen, die es »von Seiten der jüdischen Presse« bedrohe.97 Das Problem der Personalisierung in öffentlichen Äußerungen war aber gerade die potentiell mögliche Widerlegung. So konnte Straßmann darauf hinweisen, dass er nur allgemein Personen habe treffen wollen, die religiösen Unfrieden zu stiften versuchten – womit gerade Stoecker wieder angeschwärzt war. Das kommunikative Einverständnis, das durch die Privatheit häufig gewährleistet war, das augenzwinkernde »Das nur unter uns«, ließ sich in der Öffentlichkeit nicht ohne weiteres herstellen. Die medialen Debatten blieben dementsprechend oft auf einer entpersonalisierten, unspezifischen Ebene, auf der sogleich umso moralischer und grundsätzlicher argumentiert werden konnte. Solche Stimmen formten aus dem Unspezifischen selbst ein Argument, drückte sich doch darin ein struktureller Einfluss der Juden aus, der eben nicht beweisbar war. So warnte ein anonymer Autor jeden Staatsbürger, der des Morgens zum Kaffee das »Berliner Tageblatt«, die »Börsenzeitung«, den »Börsen-Courier« oder die »National-Zeitung« zur Hand nehme und gar nicht wisse, was er lese: »Er hat sich an den arsenigen Knoblauchgeruch und Geschmack bereits so gewöhnt, daß er in garnicht mehr verspürt. In einem wohlschmeckenden, interessanten, mit großer Kunst präparirten Brei von Stadtklatsch, Politik, Kunstberichten, Reiseskizzen, »Staats- und gelehrte Sachen« und sonstigen Neuigkeiten werden ihm die liberal überzuckerten Pillen semitischer Doctrin unaufhörlich, Tag für Tag eingegeben [...].«98

Es war sicherlich im Sinne dieses Anonymus, dass Anfang der 1880er Jahre auf den Straßen Berlins Flugblätter verteilt wurden, die unter der Aufforderung »Schafft die Judenblätter ab!« bestimmte Tageszeitungen auflisteten: Für die »Interessen des Judenthums« schrieben demnach die »National-Zeitung«, die »Vossische«, die »Berliner Zeitung«, der »Börsen-Courier«, das »Berliner Tageblatt« u. a.; hingegen seien die »Kreuzzeitung«, die »Germania«, die »Post«, der 95 96 97 98

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Vgl. Dühring, Die Judenfrage als Racen-, Sitten- u. Culturfrage, S. 67 sowie Stoecker. Stoecker, S. 25f. Ebd. Anonymus, Fremdlinge in unsrem Heim!, S. 39.

»Reichsbote«, die »Norddeutsche Allgemeine Zeitung« von »jüdischem Einfluß« unabhängig.99 Insbesondere der »Berliner Börsen-Courier« und sein Herausgeber, Georg Davidsohn, wurden häufig zum Paradigma des jüdischen Blattes mit entsprechend unsittlicher Machart stilisiert.100 Für die Lösungen, die gebildete Protestanten für die vermeintlich problematische Rolle der Juden in der Öffentlichkeit parat hatten, ist ein Text Karl Hillebrands über die Halbbildung von Interesse. Bei der »für Deutschland so wichtige[n]« Frage handele es sich eigentlich um die »Frage nach der Absorption dieser intelligenten und gewandten Nation«, der »wir so Vieles danken«. Für ihn existierte also weiterhin eine durch Absorption zu beseitigende Einheit, eine andere »Nation«, die zu allem Überfluss drohe, durch ein »unverhältnißmäßiges Uebergewicht des Semitismus« dem »echten Deutschthum« hinderlich zu sein. Um das zu verhindern, müsse der »Semitismus« beseitigt werden, wofür die Mischehe laut Hillebrand wenig, vielmehr nur die »einheitliche classische Bildung des ganzen wohlhabenden Mittelstandes« geeignet sei. Diese »für unsere nationale Cultur und Tradition befriedigende Lösung« wies den Juden eine Stellung außerhalb der Bildungskultur zu, solange sie Anhänger des »Semitismus« waren und dadurch wie andere Formen der Halbbildung die Bedrohung für die eigene Echtheit steigerten. Juden als Juden standen der Bildungskultur fern und galten nicht als gebildet. In solchen Debattenbeiträgen reflektierten und problematisierten ihre Autoren die zunehmende Präsenz von Juden – als Juden – in der Bildungskultur. Dabei bildete sich ein Kristallisationspunkt der Selbstverständigungsdebatten unter gebildeten Bürgern, weil die selbstbewusste Anwesenheit der Juden in der Bildungskultur deren ansonsten verbrämte Grundlagen hervorkehrte. In den Texten manifestierte sich die soziale und kulturelle Gebundenheit der Bildungskultur, wie sie protestantische Bürger verstanden. Ihr Protestantismus, ihre Bürgerlichkeit schimmerte hinter dem Pathos des Universellen plötzlich durch; ihre vermeintliche Offenheit entpuppte sich als ein sprachlicher Modus, als die bloße Rede im Allgemeinen. Gleichwohl gab es auch in der jüdischen Öffentlichkeit Klagen und Befürchtungen, die wie Echos auf jene protestantischen Stimmen anmuten, welche die Lage der Bildungskultur beschrieben hatten: ein ähnliches Nebeneinander von Krisenwahrnehmung und Offensivdrang. Unter dem Titel »Bildung und Sittlichkeit« veröffentlichte der Koblenzer Rabbiner Adolf Lewin eine deutliche Polemik gegen die Bildungskultur. In der Gegenwartskultur glaube man offensichtlich, dass »vermehrtes Wissen und Kennen« auch die »sittliche Kraft« stärke, dass daraus ein »höherer Grad von Gesittung«, ein »ed99 Vgl. die Akte »Zur Juden-Frage (1881–1882)«, Abteilung der Politischen Polizei, Brand. LHA Rep. 30 Berlin C, Tit. 95, Sekt. 5, 15220. 100 Vgl. z. B. Stoecker, S. 30 ff. Stoecker führte 1880 einen Beleidigungsprozess gegen den »Berliner Börsen-Courier«.

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leres Tugendleben« entstehe, als es mit der überlieferten Religion möglich sei.101 »Aber was beansprucht nicht Alles den Namen Bildung? Die gewöhnlichsten Elementarkenntnisse – und nun gar »so’n bischen [sic!] Französisch« – wie spreizen sie sich und wie verachtend schauen sie von der Höhe ihrer Bildung hernieder auf Kirchenthum und Religion überhaupt. Das ist eben die Karikatur, dass das Rechenbuch und der kleine Ploetz an die Stelle der Bibel und Gebetbuches treten.«102

Als die »Allgemeine Zeitung des Judenthums« einige Jahre später fragte »Was fehlt uns?«, lautete die Antwort ähnlich: »es fehlt unsrer heutigen Bildung die rechte religiöse Bildung als Unter- und Grundlage!«103 Die Diagnose bestand also darin, dass Verstandes- und Gemütsbildung in der modernen Kultur zunehmend auseinander treten würden. Wissenschaft, Bildung, Kunst ständen der Religion unvereinbar gegenüber, ja, würden letztere gar bekämpfen. Gerade für die deutschen Juden liege hierin eine Gefahr, was man daran erkennen könne, dass die »jüdische Intelligenz« dem »Reiz der Geistesbildung« erliege.104 Doch nicht nur der Glaubensverlust wurde als Problem empfunden, Juden geißelten auch andere Entwicklungen wie den expandierenden Materialismus.105 Der Kampf gegen diese Gefahren hatte in der jüdischen Öffentlichkeit zwei Aspekte: einen internen und einen externen. Nach innen reagierten gebildete Juden durchaus auf die Angriffe gegen sie. Nicht alle Behauptungen lehnten sie als antisemitisch ab, sondern leiteten daraus einen Veränderungsauftrag gegenüber ihren Glaubensgenossen ab.106 Moritz Lazarus sprach beispielsweise vor sechshundert jüdischen Zuhörern in der Berliner »Gesellschaft der Freunde«, als er erklärte: »Das Verhalten der Juden ist nicht immer das richtige. Viel mehr noch als das, was unsere Feinde uns vorwerfen und mit Recht vorwerfen, tadele ich an ihnen den Mangel an Stolz und Selbstbewußtsein. Beides macht sich in Eitelkeit und Prunksucht, beides in Andrängen an höhere Gesellschaftsschichten geltend, denen man nicht

101 Lewin, S. 41. 102 Ebd. 103 »AZJ« vom 22.6.1875. 104 Ebd. 105 Vgl. z. B. »AZJ« vom 15.4.1873 oder vom 31.3.1874. 106 Der »DIGB« etwa verhandelte seit 1878 verstärkt über antisemitische Angriffe; zeitweise war es gar das alles beherrschende Thema der Ausschusssitzungen. Verschiedene Überlegungen wurden angestellt, wie man sich wirksam gegen die Schmähungen zu Wehr setzen könnte: von persönlichen Interventionen bei der Staatsführung, Einflussnahme auf den Gesetzgebungsprozess bis zur Erwägung rechtlicher Schritte gegen einzelne Personen. Gleich zu Beginn dieser Beratungen kam auch ein Vorschlag auf, der von da ab immer wieder erörtert wurde: »Selbstbesserung« sei das »beste Mittel zur Abwehr bzw. zur Vermeidung von Gehässigkeiten«. Siehe das Protokoll der Ausschusssitzung vom 11.9.1878, CAJHP M1/7, Bl. 24.

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durch das, was man ist, gefällt, aber durch das, was man scheint, gefallen möchte. Mehr Stolz fordere ich – aus dem echten Stolz folgt die richtige Bescheidenheit.«107

Zugleich argumentierten verschiedene Presseorgane – jeweils entlang der durch sie repräsentierten Glaubensrichtung – für eine Stärkung des Judentums. Dass der jüdische Charakter jedes einzelnen entscheidend im Kampf gegen diese Gefahren sein würde, da war sich etwa die »Allgemeine Zeitung des Judenthums« sicher.108 Meistens empfahl das reformorientierte Blatt in solchen Fällen eine breite Bildungsoffensive. Dafür sollte neben der Förderung des jüdischen Religionsunterrichtes vor allem in den einzelnen Familien mehr getan werden.109 Andere Organe der jüdischen Öffentlichkeit hätten dem sogar weitgehend zugestimmt; insbesondere bei der Forderung nach einem jüdischen Religionsunterricht – auch gerade an den höheren Schulen – gab es einen breiten, in zahlreichen Leitartikeln erneuerten Konsens.110 Gleichzeitig gingen weniger reformorientierte Blätter über solche allgemeinen Appelle hinaus: Die »Israelitische Wochenschrift« etwa stellte fest, dass die »jüdischen Tugenden« auf der »gemeinsamen Lebensgewöhnung, Erziehung und Entwickelung« der Juden – und damit vornehmlich der jüdischen Religion – beruhten. Zentral dabei sei – so das wichtigste Organ der um das Breslauer Rabbinerseminar entstehenden konservativen Bewegung – die Treue der Juden zum religiösen Gesetz.111 So sehr die verschiedenen Parteiungen über einzelne Maßnahmen im Kampf gegen das Auseinanderdriften von Bildung und Religion uneins waren, so sehr glichen sich die Strategien, wenn es um die Verteidigung des Judentums in der allgemeinen Bildungskultur ging. Wenn Juden also nach außen gerichtet sprachen, sich an ein vornehmlich protestantisches Publikum wandten, rückte der Verteidigungsaspekt in den Vordergrund, wobei stets Fragen der Bildung und der Sittlichkeit im Zentrum standen. Das wichtigste und übergreifende Argument bot die Vorstellung einer jüdischen Mission. Unmittelbar nach der Reichsgründung erschien beispielsweise die Flugschrift »Das Judenthum und seine Aufgabe im neuen deutschen Reich«, die eigentlich als eine Art Werbeschrift für den sich gerade in der Gründung befindlichen »Deutsch-Israelitischen Gemeindebund« gedacht war. Die deutschen Juden besäßen, hieß es dort, immer noch eine kulturelle Mission, auch im neuen 107 Lazarus, Unser Standpunkt, S. 143. Hermann Cohen glaubte die Juden auffordern zu müssen: »Werdet besser, redlicher, anständiger, taktvoller, haltet strenger auf persönliche Ehre […].« Holzhey, S. 201. 108 Vgl. »AZJ« vom 15. u. 22.12.1874. 109 »AZJ« vom 22.6.1875. 110 In allen Zeitschriften war die schulische Erziehung ein durchgehendes Thema, das keineswegs auf die Frage des Religionsunterrichts reduziert wurde. Es sei verwiesen auf: »IWS« vom 24.6.1875 sowie »AZJ« vom 15.2., 4.4. u. 29.8.1876. 111 »IWS« vom 16.8.1871.

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Deutschland: »[…] voraus zu schreiten in allem Guten und die Liebe der Menschen nicht nur mit Prätention […] zu verkünden, sondern sie in der That zu üben und in diesem Sinne zu sein: ›das auserwählte Volk‹ […].«112 Besonders aktiv trat die »Allgemeine Zeitung des Judenthums« für die Missionsidee ein. In zahllosen Artikeln wurde diese Idee in immer neuen Varianten propagiert. »Die Aufgabe des Judenthums in unsrer Zeit« liege in der universalistischen Verbindung von Religion, Sittlichkeit und Bildung: »Das geklärte Judenthum, das sich von dem abgeschlossenen mittelalterlichen Standpunkte loslöst und mit der fortgeschrittenen Geistescultur erfüllt hat, hat gegen den Aberglauben und den Unglauben in gleicher Weise Front zu machen.«113 Das habe, so Philippsons Zeitung in ausführlichen historischen Exkursen, durch die Propagierung des mosaischen Monotheismus, der reinen Sittlichkeit der Propheten zu geschehen. Am Ende eines langen Adaptationsprozesses waren die deutschen Juden in der bürgerlichen Bildungskultur angekommen. Das manifestierte sich auch darin, dass sie sich in ihren Selbstverständigungsdebatten an Mustern orientierten, die in der protestantischen Kultur von großer Wichtigkeit waren. Bezeichnenderweise führte das dazu, dass sich in ihren Diskussionen über ein zeitgemäßes Judentum Versatzstücke aus den allgemeinen Debatten über die bürgerliche Bildungskultur und deren Krise wieder finden lassen. Die Schwierigkeiten der jüdischen Gemeinschaft wurden vor diesem Hintergrund gelesen: Auch hier handelte es sich um bürgerliche und um Bildungsprobleme. Derselbe Lösungsvorschlag, der schon in den Debatten um die Bildungskrise aufgetaucht war, kam auch hier zum Tragen: eine Bildungsoffensive. Jüdischer Halbbildung konnte nur durch verstärkte Anstrengungen im jüdischen Bildungswesen, im Familienleben und in der jüdischen Öffentlichkeit begegnet werden. Die jüdische Identität, die durch die Säkularisierungs- und Modernisierungsprozesse unsicher geworden war, verband sich mit der Frage der Halbbildung. Nach innen forderten diese Stimmen damit nicht nur mehr Bildungskultur, sondern mehr Judentum. Zugleich spürt man in einigen Kommentaren das Unbehagen, ob eine verstärkte Orientierung auf die Bildungskultur nicht zwangsläufig zur Schwächung der jüdischen Identität führen musste. Dieser Zweifel wurde jedoch schnell unterdrückt, drohte doch sonst die Verteidigungsstrategie gegenüber den gebildeten Protestanten zusammenzubrechen. Diese Strategie besagte im Kern, dass Jüdischsein und Gebildetsein auf gar keinen Fall ein Widerspruch seien. Aus diesem Grund heraus nahmen Juden nicht nur teil an der Bildungskultur; sie konnten diese Teilhabe auch als Fortsetzung ihrer jüdischen Tradition sehen, die im Kern nichts anderes sei als eben jene universalistischen Ideale, auf die man sich in 112 Anonymus, Das Judenthum und seine Aufgabe im neuen deutschen Reich, S. 8. 113 »AZJ« vom 26.6.1877.

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der bürgerlichen Bildungskultur berief. Dass sie in der Übernahme der universalistischen Ideale Juden bleiben wollten, erschien ihnen daher nicht wie ein Zeichen eines illegitimen Partikularismus, auch wenn es eine Umwandlung einer uralten Vorstellung des Judentums darstellte. Sie waren vielmehr bereit, ihre Eigenheit in den Dienst der deutschen Nation zu stellen. Die so begründete Bedeutung der jüdischen Mission in der deutschen Bildungskultur sollte die Fortexistenz einer jüdischen Identität auch im anbrechenden postemanzipatorischen Zeitalter rechtfertigen. Es muss an dieser Stelle jedoch noch einmal auf die protestantische Seite eingegangen werden, irritierten gebildete Protestanten doch gerade solche Vorstellungen einer besonderen Kulturmission der Juden ungemein. Der Theologe und Missionar Carl Friedrich Hemann bezeichnete die Behauptungen der »großsprecherischen Wortführer der Juden«, dass die Juden die »Lichtträger der Cultur« seien und dass von ihnen »Aufklärung, Humanität und vernünftige Religiosität« ausgehe, schlicht als »Anmaßung«.114 Auch der Berliner Hofprediger Stoecker rieb sich an den Vorstellungen eines jüdischen Universalismus. Hieran knüpfte er seine Forderung an die Juden, ein »klein wenig bescheidener« zu werden.115 Dass es sich hierbei im Kern um eine Auseinandersetzung über die bürgerliche Bildungskultur handelte, in der sich gebildete Juden eine Position anmaßten, die ihnen nicht zustand, machte schließlich der Königsberger Theologe Rudolf Friedrich Grau in seiner Schrift »Die Judenfrage und ihr Geheimnis« deutlich: »Eine Hand voll Menschen, dem unbeweglichen, in Kultursachen gänzlich unproductiven Orient entsprungen, Splitter und Trümmer eines Volkes, von dem man mit Recht sagen kann, daß es in keinem Gebiete der Kultur im engeren Sinne [...] schöpferisch gewesen sei, eine Hand voll Menschen macht uns bange, daß unsere viel gerühmte Kultur in ihren Händen eine Waffe gegen uns selbst werde, zu Zielen geleitet werde, die uns, den Schöpfern dieser Kultur, fremd und zuwider sind!«116

Dass Juden Protestanten zu einer bloßen Kopie einer ursprünglich jüdischen Kultur, mithin zu gebildeten Doppelgängern degradierten, musste in dieser Weise energisch zurückgewiesen werden. Juden waren in der bürgerlichen Bildungskultur zur Konkurrenz geworden, gerade weil sie die universalistische Bildungsemphase in ein jüdisches Projekt umdeuten konnten. Nähe produzierte Antipathie – und dabei war es kein Zufall, dass sich gerade Theologen über den jüdischen Missionsgedanken indigniert zeigten. Sie hatten den aus ihrer Sicht entscheidenden sittlichen Kern der bürgerlichen Bildungskultur – das protestantische Erbe – besonders vor Augen und damit eben auch jenen Aspekt, der gebildete Juden und Protestanten trotz des ihnen gemeinsamen 114 Heman, S. 16. 115 Stoecker, S. 9. 116 Grau, S. 8.

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Verbrämungsmechanismus auch wieder voneinander entfernte: das religiöse Erbe. Die Kulturmission, die gebildete Bürger entwickelten, um den gesellschaftlichen Einfluss der bürgerlichen Bildungskultur zu sichern, entblößte das religiöse Fundament dieser Kultur. Damit im Kampf um die kulturelle Hegemonie im neuen Reich die eigentlichen Schöpfer der Kultur den Sieg davontragen konnten, mussten aus gebildeten Bürgern wieder Protestanten und Juden werden.

2.5 Die Wahrnehmungsspirale zwischen gebildeten Juden und Protestanten Die nationale Einheit hatten gebildete Bürger lange herbeigesehnt, nicht zuletzt weil sie sich selbst als die wichtigsten Propagandisten des nationalen Gedankens verstanden. Als das Reich endlich gegründet war, bot freilich nicht nur die mangelnde Liberalisierung des politischen Systems und die deutliche Vormachtstellung Preußens Anlass für Zweifel und Kritik unter gebildeten Bürgern. Die Veränderungen in der bürgerlichen Bildungskultur waren als solche schon Besorgnis hervorrufende Entwicklungen. Zugleich besaßen gebildete Bürger im neuen politischen System des allgemeinen Männerwahlrechts nicht den Einfluss, den sie sich von der nationalen Einheit versprochen hatten. Die wirtschaftlichen, sozialen und politischen Spannungen im neuen Reich taten ein Übriges, um die Verunsicherung zu steigern. Die mahnenden Stimmen zur Zukunft der Bildungskultur häuften sich. Auch wenn sich die Kritiker in der Regel weiterhin auf diese Kultur beriefen und ein mehr an Bildungskultur forderten, machte sich doch ein Unbehagen breit. In und an der Öffentlichkeit manifestierten sich dabei viele dieser Entwicklungen. In der Zeit nach der Reichsgründung, in der sich das mediale System auszudifferenzieren und sich die Öffentlichkeitsstrukturen zu fragmentarisieren begannen, wurde dieser Strukturwandel von gebildeten Bürgern zunehmend problematisiert. Auch die Medienkritik, der Befürchtungen über die hegemoniale Position der bürgerlichen Bildungskultur in der öffentlichen Sphäre zugrunde lagen, wurde unter gebildeten Bürgern immer beliebter. Zugleich vermischte sich die breite Krisenstimmung mit Wahrnehmungen der Juden und des Jüdischen. Tendenziell schienen sie die Veränderungen in der Bildungskultur zu verkörpern und voranzutreiben. Besonders deutlich vermeinte man das auch im öffentlichen System zu spüren. Juden wurden zu Repräsentanten moderner medialer Strukturen, in denen sich aus wirtschaftlichen Interessen das Primat der bloßen Unterhaltung durchzusetzen schien. Die öffentliche Sphäre als Ganzes entzog sich immer mehr, davon war man zunehmend überzeugt, 144

dem bürgerlichen Deutungsanspruch, und die Juden würden diesen Prozess beschleunigen, wenn nicht gar verursachen. Hier begann der Kampf um die Hegemonie der Bildungskultur. Allerdings ist die Stellung der Juden in der Öffentlichkeit ebenso schwer eindeutig zu bestimmen wie in der bürgerlichen Bildungskultur. Auf der einen Seite wird man auch auf diesem Gebiet von einer Erfolgsgeschichte der jüdischen Integration und Akkulturation sprechen müssen. Der zahlenmäßige Anteil von Juden an den Berliner Redakteuren war beachtlich, weshalb sich auch in diesem klassischen freien Beruf die Besonderheiten der Integrationswege vieler deutscher Juden ablesen lassen. Auch die individuellen Biographien von jüdischen Redakteuren, Publizisten und Verlegern müssen oft als Erfolgsgeschichten bezeichnet werden: Mosse und Ullstein sind die prominentesten Beispiele; auf Rodenberg wurde hier näher eingegangen, weil sich an ihm u. a. exemplifizieren lässt, wie weit man in diesem Bereich als Juden kommen konnte, wenn man sein Judesein nicht besonders thematisierte. Allerdings war das nur die eine Seite der Geschichte: Die Position der Juden in der bürgerlichen Teilöffentlichkeit wurde, weil sie ein Erfolg war, oft nicht als solcher wahrgenommen. Ein Großteil der antisemitischen Literatur argumentierte mit dieser Position und damit zugleich mit einer bestimmten Haltung der Öffentlichkeit und dem Mediensystem gegenüber. Für die generellen Vorwürfe wurde in solchen Beiträgen längst nicht immer nach konkreten Belegen gesucht, so dass die Rede von den »Judenbelletristen und Judenrevuen« entsprechend vage bleiben musste. Allerdings lassen sich einzelne Figuren wie Lindau isolieren, die weniger durch ihre eigentliche Identität als vielmehr durch die Art und Weise ihrer publizistischen Tätigkeit dem »Judenthum der Gesinnung« zugerechnet wurden. Es konnte im Falle Hombergers auch demonstriert werden, dass dessen jüdische Herkunft einer erfolgreichen Redaktionskarriere bei den »Preußischen Jahrbüchern« von Beginn an im Wege stand. In den Auseinandersetzungen um die öffentliche Rolle der Bildungskultur und die Bedeutung der gebildeten Juden dabei manifestierte sich ein grundlegender Mechanismus, in dem sich Juden und Protestanten in ihren jeweiligen Wahrnehmungen gegenüberstanden: Die Protestanten wurden der zunehmenden Präsenz von Juden in der bürgerlichen Bildungskultur und Teilöffentlichkeit gewahr und thematisierten sie. Die Juden wiederum hoben – gerade anlässlich der Vorwürfe, denen sie ausgesetzt waren – ihre Teilhabe an der bürgerlichen Bildungskultur und der Teilöffentlichkeit hervor und wollten diese gleichzeitig vertiefen. Beide Perspektiven waren ohne einander nicht denkbar, da die sich beständig intensivierende Integration der Juden in die bürgerliche Bildungskultur deren Thematisierung durch die Protestanten bedingte, welche angesichts der Krisenwahrnehmung in der Bildungskultur häufig genug zu Gehässigkeiten führte. Diese negativen Zuschreibungen 145

wiederum hinterließen bei den Juden den Wunsch, ihre Bemühungen um Integration zu steigern. Die so entstandene Wahrnehmungsspirale besaß den Charakter eines Teufelskreises, mischten sich doch nahezu unentwirrbar Perzeptionen einer sich wandelnden Realität mit dem Imaginationshaushalt, den die gebildeten Bürger gerade anreicherten. Besonders deutlich war das in den Diskussionen über eine jüdische Kulturmission: Während Juden diese Vorstellung als Begründung für ihre eigene Existenz in der bürgerlichen Bildungskultur und als Zeichen ihrer Akkulturation verstanden, sahen Protestanten darin ein Symbol für die unterminierenden Tendenzen, mit denen sie nach der Reichsgründung zu kämpfen hatten. Von den Juden mehr Bescheidenheit zu fordern, sollte den Anpassungsdruck auf sie erhöhen, machte jedoch vor allem wahrscheinlicher, dass Juden ihre Position in der bürgerlichen Bildungskultur erneut zu legitimieren versuchten.

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3. Die Kommunikation zwischen gebildeten Juden und Protestanten: Die Flugschriften als Medium der »Judenfrage«

»Die unterzeichnete Verlagsbuchhandlung nimmt hier Veranlassung, die verehrten Herrn Autoren darauf aufmerksam zu machen, daß sie es sich ganz besonders angelegen sein läßt jederzeit sensationelle Broschüren auf den Büchermarkt zu bringen, die für eine bestimmte Sache, einen Stand, eine Secte etc. eintreten oder aber Schäden in derselben aufdecken.«1

Als der Redakteur des »Berliner Tageblatts«, Richard Nathanson, 1881 die zeitgenössischen Debatten über die »Judenfrage« kommentierte, brachte er eine zugleich deutliche und – unter seinen Zeitgenossen – seltene Einsicht zum Ausdruck: Es sei ebenso verderblich gegen wie für die Unterstellungen der Antisemiten Partei zu ergreifen. Wer den »Kampf an einer falschen Stelle« aufnehme, kompromittiere ihn von Anfang an. Man würde so seinen Gegnern nur die »Fahne als die eines rechtmäßigen Gegners« zugestehen. Entsprechend lautete seine Schlussfolgerung: »Nicht die Forderung der Antisemiten, nicht ihre Begründung sind lügenhaft und verbrecherisch, die Lüge und das Verbrechen ist die Stellung irgend welcher Forderung, die Construirung einer Judenfrage überhaupt.«2 Nathanson, der seine Schrift unter dem nichtjüdisch klingenden Pseudonym Richard Norton publizierte, offenbarte mit diesen Worten ein Gespür für die Mechanismen, mit denen »rechtmäßiges« Sprechen in der öffentlichen Sphäre organisiert wird: Wer durfte wann was über wen und zu wem sagen? Mit dem Eintreten in die Öffentlichkeit, z. B. indem man sich gegen eine antisemitische Schrift verteidigte, bekam man bereits einen Platz in ihr zugewiesen, etwa weil man mit der Antwort schon die Existenz der »Judenfrage« akzeptiert hatte. Der Angreifer war so stets einen Schritt schneller, da er zuerst da gewesen war. Die Struktur der Öffentlichkeit, in der über die jüdische Identität gesprochen wurde, wirkte sich auf dieses Sprechen und damit auf das Verhältnis von Juden und Protestanten aus. 1 Siehe Anhang von: Sulzbach. Die Hervorhebungen befinden sich im Original. 2 Norton, S. 6.

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Die bürgerliche Bildungskultur ermöglichte und regulierte Kommunikation unter gebildeten Bürgern sowie mit anderen Bürgern und Nichtbürgern. Sie bestimmte dort, wo sie einflussreich war, die »Rechtmäßigkeit« des Sprechens. Die bürgerliche Teilöffentlichkeit – wie Öffentlichkeit insgesamt – sollte keineswegs als »herrschaftsfreier Raum« missverstanden werden.3 Vielmehr gilt es zu untersuchen, wie gebildete Bürger durch die Bildungskultur ihre soziale, religiöse und kulturelle Bindung an das Bürgertum unsichtbar machen konnten, wenn sie sich öffentlich zu Worte meldeten. Wer konnte rechtmäßig sprechen, d. h. mit Worten an vermeintlich universell gültige Wertvorstellungen appellieren, hinter denen sich die sozialen, kulturellen, religiösen, geschlechtlichen und politischen Interessen eines Bürger (seltener einer Bürgerin) verbergen konnten? Wer erschien demgegenüber als partikular und aus welchen Gründen? Die öffentlichen Debatten über die »Judenfrage« nach 1871 fanden vornehmlich im Medium der Flugschrift statt. Über die herausragende Bedeutung, die Flugschriften für die öffentliche Kommunikation in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts besaßen, waren sich jüdische wie protestantische Kommentatoren einig.4 Ein Rezensent der protestantischen Zeitschrift »Der Beweis des Glaubens« zeigte sich besonders von den Möglichkeiten des Mediums überzeugt:

3 Das ist eines der zentralen Probleme der berühmt gewordenen Öffentlichkeitskonzeption in Jürgen Habermas Werk »Strukturwandel der Öffentlichkeit«. Für eine Kritik vgl. Calhoun, darin insbesondere die Aufsätze von Eley und Fraser. Indem er am universalistischen Konzept der bürgerlichen Öffentlichkeit festhält, verteidigt sich Habermas insbesondere gegen Kritik vonseiten der feministischen Theorie. Zwar räumt er ein, dass der Ausschluss u. a. von Frauen für die bürgerliche Öffentlichkeit konstitutiv war, meint jedoch weiterhin, dass das »nicht die ins Selbstverständnis der liberalen Öffentlichkeit eingebauten Rechte auf uneingeschränkte Inklusion und Gleichheit« dementieren würde. Vielmehr konnte die Frauenbewegung mit Berufung auf dieses Selbstverständnis den gleichberechtigten Zugang zur Öffentlichkeit einklagen. Habermas, S. 20. Man muss dem jedoch entgegenhalten, dass gerade die universalistische Struktur der Öffentlichkeit das zentrale Problem darstellt, wird so doch für jeden potentiellen Teilnehmer der öffentlichen Debatten vorausgesetzt, dass er »im Allgemeinen« spricht. Hier erst werden die Zugangsregeln offensichtlich. Die Frage nach der Struktur der Öffentlichkeit, die gerade für die Position der jüdischen Identität in ihr von besonderer Bedeutung ist, lässt sich mit Mah formulieren: »[…] why and how certain groups are able to render their social particularity invisible and therefore make viable claims to universality, while other groups are consigned to public performances that always undo themselves because those performances end up proclaiming their own identity, their social particularity.« Mah, S. 168. 4 Der Begriff der Flugschrift scheint zuerst 1788 von Christian F. D. Schubart verwandt worden zu sein. Die Assoziation mit dem Fliegen bezieht sich auf die Wahrnehmung der Zeitgenossen, dass Texte und Bilder durch dieses Medium in einer enormen Geschwindigkeit Verbreitung finden konnten. Viele andere Begriffe wie »Libelle«, »Schmähschrift« oder »Pamphlet« betonen im deutschen Sprachraum oft die polemischen Aspekte des Mediums. Der in den Quellen häufige Begriff »Broschüre« wurde hingegen zumeist wertneutral verwandt. Vgl. Schwitalla, S. 2 ff.

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»Als moderne Waffe hat man in den Kampf eingeführt die Broschüre, neben dem schwereren Geschütz umfassender Bücher und neben der leichteren Waffe der Zeitungspresse. Gewiß ist das ein glücklicher Griff und wir dürfen gute Erfolge von dieser Waffe erwarten. Nur wenige können größere Werke studieren, – die tägliche erscheinende Zeitung rauscht vorüber wie ein Platzregen, meist ohne nachhaltige Wirkung; die Broschüre hält die Mitte zwischen beiden. Sie kann eine Frage eingehender behandeln, als die Zeitung, ohne durch allzugroßen Umfang abzuschrecken. Ihre Verbreitung in weiteren Kreisen ist leicht ausführbar; sie kann von Hand zu Hand gehen, sie kann gelesen und wieder gelesen werden und ist ganz geeignet, eine nachhaltigere Wirkung auszuüben.«5

Die Zwitterstellung des Mediums, die leichte Konsumierbarkeit und der hohe Verbreitungsgrad – einige der zentralen Aspekte der Flugschrift schlugen sich hier bereits nieder. Die Beschäftigung mit den Flugschriften zur »Judenfrage« im Rahmen dieser Studie ist aus zwei Gründen sinnvoll. Einerseits waren die Flugschriften ein beachtenswertes Medium, in dem sich grundlegende Diskussionen unter den – wie zu zeigen sein wird: bürgerlichen – Zeitgenossen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bündelten. Andererseits droht gerade dieses Medium der Aufmerksamkeit des nachträglichen Betrachters zu entgehen. Flugschriften sind ein flüchtiges Medium, gar ein Medium des Flüchtigen. Ihre mediale Form erlaubt kaum eine permanente Aufbewahrung.6 Ihre Inhalte richten sich auf augenblickliche Konstellationen; sie büßen schnell an Aktualität ein, werden oft sogar unverständlich. Doch das ist nur die eine Seite der Flugschriftenkommunikation; der erwähnte Rezensent der Zeitschrift vergaß nicht an deren negative Aspekte zu erinnern. Durch sie könne sich, lautete der Hauptvorwurf, die Oberflächlichkeit weiter ausbreiten. »Wenn man die Resultate ernster Studien so bequem in leichtfaßlicher Form hören und lesen kann, so liegt die Versuchung nahe, sich damit zu begnügen […], wozu ohnehin unsre unruhige, vielgeschäftige, nervöse Zeit nur allzusehr hinneigt.«7 Dass der Segen dieses Mediums, von dem sich das christliche Blatt gerade für die Propagierung ihrer Anliegen in der bürgerlichen Teilöffentlichkeit viel versprach, auch ein Fluch sein konnte, war Juden wie Protestanten von Beginn an klar. Im Folgenden soll der Flugschriftenkommunikation über die »Judenfrage« unter kommunikations- und medienhistorischen Gesichtspunkten besondere Aufmerksamkeit geschenkt werden. Hierbei lässt sich detailliert zeigen, wie aus den beschriebenen Wahrnehmungs- Kommunikationsmuster des Jüdi5 (Dieffenbach), S. 200. Die besondere Bedeutung des Mediums war auch in der jüdischen Öffentlichkeit bekannt. Vgl. »AZJ« vom 27.4.1880. 6 Dass Flugschriften – weder zur »Judenfrage« noch zu anderen Themen – bisher kaum die Aufmerksamkeit der Geschichtsschreibung zum 19. Jahrhundert erweckt haben, dürfte auch damit zusammenhängen, dass sie nur selten von Bibliotheken oder Archiven gesammelt wurden. 7 (Dieffenbach), S. 201.

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schen wurden. Seit der Jahrhundertmitte hatte das Problem des jüdischen Wesens zu Definitionsversuchen insbesondere in der Literatur und den Geistes- und Kulturwissenschaften geführt und dabei immer wieder bestimmte Wahrnehmungsmuster hervortreten lassen. Nach der Reichsgründung war es durch die gestiegene jüdische Präsenz in der bürgerlichen Teilöffentlichkeit zu einer Art Spirale gekommen, mit der sich die gegenseitigen Wahrnehmungen von Juden und Protestanten aufschaukelten. Das war bereits ein Resultat der wachsenden Kommunikation der gebildeten Bürger über die so unterschiedlichen Wahrnehmungen. Als in der Öffentlichkeit zunehmend offensichtlich wurde, dass man sich gegenseitig völlig anders auffasste, kam es zu Versuchen des kommunikativen Abgleichens. Zentrale Aspekte der Flugschriftenkommunikation über die »Judenfrage« lassen sich vor diesem Hintergrund interpretieren. Damit traten gebildete Juden und Protestanten in einen direkten Austausch – einen Austausch, der ein charakteristisches kommunikatives Gefälle zwischen den beiden Seiten offenbarte.

3.1 Medien- und kommunikationshistorische Analyse der Flugschriften zur »Judenfrage« Die vor allem für die Frühe Neuzeit existierende Flugschriftenforschung lässt sich auf die folgenden Definition verdichten8: Eine Flugschrift besteht aus mindestens zwei Blättern, die zwar nicht fest eingebunden werden, aber dennoch selbständig erscheinen. Sie ist eine nichtperiodische Gelegenheitsschrift, die auf einen aktuellen Anlass hin verfasst wird, wobei das Ziel des Autors die agitatorische Beeinflussung im Idealfall der gesamten Öffentlichkeit ist. Sie thematisiert ein umstrittenes Problem, dem in der Regel hohes Interesse zukommt. Hieran schließt sich der Streitcharakter der Flugschriften an, die jeweils ein bedeutsames Maß an Parteilichkeit aufweisen. Das beinhaltet zumeist, »daß das von dem oder den Autoren unterbreitete Lösungsangebot die Übernahme der Autorenmeinung als einzig mögliche Konfliktlösung mit dem Ziel eines allgemeinen Konsenses profilierte«. Konflikt verursachend ist hingegen nur der Standpunkt des Gegners. Die rhetorische Gestaltung der Flugschrift ist darauf ausgerichtet, kommunikative Nähe zum potentiellen Leser herzustellen. Dabei werden im Text durch dialogische, diskursive oder intertextuelle Elemente Kommunikationssituationen simuliert, mit deren Hilfe der Leser »in die Mitte des Textes gezogen« werden soll. Flugschriften sind somit stets als Komponenten eines verzweigten Systems öffentlicher Kommu8 Zur Definition vgl. Köhler, Mörke sowie Schwitalla.

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nikation anzusehen, in dem sich vielfältige Einflussnahmen und Rückkoppelungen aufzeigen lassen.9 Diese allgemeinen Aspekte wurden jedoch vor dem Hintergrund des frühneuzeitlichen Mediensystems festgestellt, in dem Flugschriften den Charakter eines eigenständigen Mediums besaßen. Die Flugschriften in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erweisen sich demgegenüber als ein Zwischenmedium, dessen Funktionsweise zwischen den sich z. T. stark ausbreitenden Medien Zeitschrift, Zeitung, Buch und Brief nicht mehr exakt bestimmt werden kann. Eben weil es Aspekte eines eigenständigen Mediums, für das es seit seiner Einführung während der Reformation zu gelten hat, zu diesem Zeitpunkt noch behielt, konnte es in den Debatten um die »Judenfrage« eine beachtliche Wirkung entfalten. Zugleich brachten die einsetzenden Strukturveränderungen im medialen System des Kaiserreiches auch eine Veränderung in der Position der Flugschriften mit sich. Sie verloren vitale Funktionen allmählich an andere Medien, insbesondere an Zeitungen und Zeitschriften. Diese erhielten in der Folgezeit vor allem die Aufgabe, kontroverse Themen zu besetzen und unterschiedliche Positionen zu ihnen zu präsentieren. Die allmählich sich verändernde Position der Flugschriften im Mediensystem wurde gelegentlich dazu benutzt, vorschnell das Ende der Flugschrift auf die Zeit nach 1848 festzulegen.10 Die Debatten um die »Judenfrage« sind hingegen ein deutlicher Hinweise darauf, dass die Flugschrift auch nach 1871 noch Funktionen im medialen System erfüllen konnte. In der Struktur der öffentlichen Sphäre ließen sich die Flugschriften ebenfalls nicht eindeutig positionieren. Als eine Art anarchisches und flüchtiges Medium verbanden sie unterschiedliche Ebenen: Verschiedene Teilöffentlichkeiten konnten von ihnen genauso überbrückt werden, wie sich der Wechsel zwischen medialer, Versammlungs- und »Encounter«-Öffentlichkeit vollziehen konnte. Bestimmte Flugschriften ließen sich weder präzise der bürgerlichen noch der jüdischen Teilöffentlichkeit zuordnen: Ihre Autoren waren offensichtlich bemüht, sowohl jüdische als auch protestantische Bürger anzusprechen.11 Es gab Fälle, in denen sich eine Flugschrift zugleich an eine nichtbürgerliche Teilöffentlichkeit richtete.12 Der wesentlichste Aspekt der Flugschriftenkommunikation war jedoch ihre dynamisierende Funktion: Sie trugen durch ihre rhetorische und stilistische Gestaltung Elemente der All9 Vgl. Köhler. 10 So etwa zu finden bei: Schwitalla, S. 91f. 11 Vgl. beispielsweise Ritter. 12 Hier wird man zunächst an die diversen Flugschriften Theodor Fritsch’ erinnern, der seine »Brennenden Fragen« nicht in erster Linie an ein bürgerliches Publikum richtete, wofür nicht zuletzt der niedrige Preis spricht. Vgl. stellvertretend (Frey). Einzelne Flugschriften schlossen bewusst ein katholisches Publikum mit ein. Vgl. Anonymus, Der Mauscheljude. Andere Flugschriften bezogen sich auf Beobachtungen aus anderen Teilöffentlichkeiten: Anonymus, Arbeiter zur Judenfrage.

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tagskommunikation in die mediale Kommunikation. Diese Nähe zu unmittelbaren Kommunikationssituationen machte die Flugschriften zu einem extrem beweglichen, schwer einzuschätzenden oder gar zu kontrollierenden Medium, dessen Bedeutung für den Historiker gerade in dieser Nähe liegt. In der bisherigen Forschung wurden die Flugschriften zur »Judenfrage« kaum thematisiert. Weder die jüdische Geschichtsschreibung noch die Antisemitismusforschung haben sich ihnen systematisch zugewandt. Zwar wurden immer wieder einzelne, zumeist bekanntere Flugschriften zur Illustration bestimmter Gesichtspunkte oder als Beleg für zeitgenössische Meinungen herangezogen.13 Das geschah jedoch nie mit Blick auf das Medium: Ein besonderes Manko dieser »anekdotischen« Herangehensweise an die Flugschriften liegt daher im Desinteresse an medien- und kommunikationshistorischen Ansätzen, mit deren Hilfe sich erst die Konturen und die Bedeutung dieses Quellenkorpus offenbaren. Zugleich haben sich bisher weder die Mediengeschichte, genauer die Buch- und Flugschriftenforschung, noch die aufkommende Kommunikationsgeschichte diesem Medium im 19. Jahrhunderts zugewandt. Die bisherige Behandlung der Flugschriften verweist auf eine bestimmte Sichtweise: Es handele sich dabei um einige wenige Werke, die von ihren weitgehend unbekannten Autoren zumeist im Selbstverlag hergestellt und anschließend im eigenen Umkreis verteilt worden seien. Dass sich eine eingehendere Behandlung dieser Quellen nicht lohne, sei spätestens durch deren relative Wirkungslosigkeit begründet, die aus den geringen Auflagenhöhen und -stärken resultiere. Wie im Folgenden nachzuweisen sein wird, entspricht so gut wie keine dieser Annahmen den Tatsachen. Die Diskussionen über die »Judenfrage« fanden sicherlich an vielen Orten und in vielen Kommunikationssituationen statt, die allerdings für den Historiker nicht alle rekonstruierbar sind. Dennoch besaß das Medium Flugschrift eine herausragende Bedeutung für das gesamte Feld der Diskussionen. Viele Alltagsdiskussionen (in Kneipen, auf Schulhöfen oder Universitätsflure u. ä.) bezogen ihre Streitpunkte aus Flugschriften, und sie trugen gelegentlich dazu bei, dass neue Flugschriften geschrieben wurden.14 Innerhalb der medialen Öffentlichkeit nahmen die Flugschriften über die »Judenfrage« ebenfalls eine 13 Bestimmte Flugschriften sind in diesem Sinne geradezu Klassiker geworden, etwa Treitschkes »Ein Wort über unser Judenthum« oder Mommsens Replik »Auch ein Wort über unser Judenthum«. Das gilt aber auch für die Flugschriften von Marr und Stoecker. Eine etwas geringere Rolle spielen die Flugschriften von Juden in der jüdischen Geschichtsschreibung, im größeren Umfang eigentlich nur in der Forschung zu jüdischen Reaktionen auf den aufkommenden Antisemitismus. Vgl. etwa Meyer, Great Debate. Eine Ausnahme bildet: Wassermann. 14 Als ein Beispiel ist hier die Auseinandersetzung zwischen den beiden Lehrern, Bernhard Förster und Hans Jungfer, und dem Fabrikanten Edmund Kantorowicz erwähnenswert. Der Streit entstand, weil sich die beiden Lehrer lautstark über die »Judenfrage« in der Berliner Pferdebahn unterhielten, und mündete nicht nur in Handgreiflichkeiten, sondern auch in einigen Flugschriften. Vgl. Kapitel 5.

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hervorragende Position ein. Nicht nur wurden sie Thema in anderen Medien wie der Zeitung und der Zeitschrift; zugleich erfüllten sie zur weiteren Verbreitung von Artikeln, die in diesen Medien zuerst erschienen waren, eine essentielle Funktion. Das ging schließlich soweit, dass alle wesentlichen Beiträge zur »Judenfrage« im Medium der Flugschrift zur Verfügung standen. Es ist aus allen diesen Gründen keineswegs übertrieben zu behaupten, dass diese Debatten entscheidend vom Medium der Flugschrift geprägt wurden. Das entspricht auch der Einschätzung vieler Zeitgenossen, die den Flugschriften durchaus ihre Aufmerksamkeit schenkten. Diese Beachtung ging in einzelnen Fällen sogar so weit, dass Flugschriften zu einem Problem für die öffentliche Ordnung wurden. Ende 1882 verbot der Rektor der Berliner Universität der »Freien wissenschaftlichen Vereinigung«, »Broschüren politischen Inhalts« herauszugeben.15 Diverse Flugschriften wurden von der politischen Polizei beschafft, analysiert und archiviert, da sie in diesen Werken offensichtlich ein Gefahrenpotential vermutete. Ein weiterer Hinweis auf die Bedeutung, die Zeitgenossen den Flugschriften beizumessen bereit waren, sind die Diskussionen auf den Ausschusssitzungen des Deutsch-Israelitischen Gemeindebundes. Viele dieser Sitzungen in den Jahren 1879 und 1880 waren geprägt von der Frage, wie der Gemeindebund auf die aufkommende »Judenfrage« reagieren sollte. Bei den verschiedenen Vorschlägen behielten die Anwesenden meistens den medialen Charakter dieser Diskussion im Blick, d. h. sie sprachen über Maßnahmen gegen oder über Veröffentlichungen eigener Flugschriften.16 Häufig problematisierten Flugschriftenautoren das Medium selbst. Der oft erhobene Vorwurf an die Adresse der Verfasser, ein »Pamphletist« zu sein, verdeutlicht, dass ein Autor sich mit einer Flugschrift in Gefahr begab. Nachdem Heinrich von Treitschke seinem Verleger Georg Reimer vorgeschlagen hatte, aus seinen antisemitischen Artikeln eine separate Flugschrift zu veranstalten, antwortete ihm dieser zustimmend: »So gut es war, daß der erste Judenartikel nur in den Jahrbüchern erschienen und damit unzweideutig erwiesen ist, daß es sich um einen Hetzartikel nicht handelte, so scheint es mir bei der Fluth von Gegenartikeln jetzt allerdings nothwendig einen besonderen Abdruck zu veranstalten.«17 Dieser besondere Abdruck hätte, so muss man Reimers Befürchtungen wohl verstehen, durchaus den Eindruck eines Hetzartikels erwecken 15 Siehe die Akten zur Freien wissenschaftlichen Vereinigung, Archiv der Humboldt-Universität, Rektorat und Senat, Akten-Nr. 623, Bl. 41. Gegen die Studentenvereinigung wurde dieses Verbot ausgesprochen, nachdem ihr Vorsitzender Max Spangenberg eine Flugschrift zur »Judenfrage« im Namen der Vereinigung veröffentlicht hatte. Vgl. Spangenberg. 16 So beriet der Ausschuss zusammen mit Moritz Lazarus am 7. Oktober 1879 u. a. über die Einschätzung dieser »zahllosen Schmähschriften« und mögliche Gegenstrategien. Siehe das Protokoll der Ausschusssitzung vom 7.10.1879, CAJHP, M1/7, Bl. 134 f. 17 Siehe den Brief Georg Reimers an Treitschke vom 31.12.1879, Nl. Treitschke, Kasten 8, Mappe Reimer. Die Hervorhebungen wurden von Verfasser hinzugefügt.

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können. Das war in der Tat vom Medium abhängig: Gegen einen Artikel in den renommierten »Preußischen Jahrbüchern« ließ sich der Vorwurf der Hetze wesentlich schwieriger erheben. Hingegen stand das Medium der Flugschrift in dem Ruf, gegen Sittlichkeit und Anstand zu verstoßen. Deshalb bemühten sich die meisten Flugschriftenautoren, einem solchen Eindruck in ihrer Schrift entgegenzutreten. Polemisieren würde nur der Gegner, bei ihnen galt das Primat der Sachlichkeit. Die Wahrnehmung des Mediums stimmte – diese Schlussfolgerung drängt sich in der Tat auf – nicht mit der Art und Weise überein, in der es verwandt wurde. Es lassen sich nur wenige offen polemische Exemplare finden. Beides verweist in diesem Zusammenhang auf die grundlegende Bedeutung der bürgerlichen Bildungskultur: Mit ihr ließ sich behaupten, was ein anständiger und sittlicher Gebrauch des Mediums hätte sein sollen, und demgegenüber konnte auch festgelegt werden, was das Wesen desjenigen Pamphletisten ausmachte, der es zur Polemik missbrauchte. Auf einer übergeordneten analytischen Ebene richteten sich viele der Flugschriftenautoren in ihrer Sachlichkeit nach den Gepflogenheiten der Bildungskultur. Das Ausufern der Flugschriftenkommunikation konnte dann im Bedarfsfall – und da man ja von der jeweils eigenen, weil anständigen Schrift absehen konnte – jenen medialen Veränderungen zugeordnet werden, durch welche die hegemoniale Stellung der Bildungskultur bedroht schien. Im »Pamphletisten« fand die im letzten Kapitel beschriebene Medienkritik einen dankbaren Gegenstand, der allen einleuchtete, auch wenn er tatsächlich kaum vorhanden war und man selbst keiner sein konnte. War der »Pamphletist« aus Sicht gebildeter Protestanten ein Jude? Die Vorbehalte, die manche gebildeten Bürger gegen das Medium der Flugschriften hegten, ähnelten frappierend denjenigen, die oft gegen den jüdischen Einfluss in der Öffentlichkeit verwandt wurden. Zudem stellten die Zeitgenossen gelegentlich eine Verbindung her. Als Heinrich von Treitschke die antisemitische Bewegung öffentlich lobte, fühlte er sich verpflichtet, seine Würdigung zu spezifizieren. Die Bewegung führe zu unschönen Begleiterscheinungen: »[…] Antisemitenvereine treten zusammen, in erregten Versammlungen wird die Judenfrage erörtert, eine Fluth von judenfeindlichen Libellen überschwemmt den Büchermarkt.«18 Es sei, musste Treitschke zugeben, darin »des Schmutzes und der Roheit« »nur allzu viel«. Offenbar bezog er sich dabei vor allem auf die Flut von Pamphleten, denn er fuhr fort: »[…] man kann sich des Ekels nicht erwehren, wenn man bemerkt, daß manche jener Brandschriften offenbar aus jüdischen Federn stammen; bekanntlich sind seit Pfefferkorn und Eisenmenger die geborenen Juden unter den fanatischen Judenfressern immer stark vertreten gewesen.«19 18 Treitschke, Unsere Aussichten, S. 572. 19 Ebd.

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Unabhängig davon, dass es für diese Behauptung keinerlei Grundlage gab, ist doch der Versuch Treitschkes bemerkenswert, für das Verfassen ›ekelhafter Pamphlete‹ Juden verantwortlich machen zu wollen. In solchen Momenten wurden die Juden nicht mehr nur mit den Vorwürfen konfrontiert, die gegen sie in solchen Flugschriften erhoben worden; jetzt sollten sie auch noch für die problematischen Aspekte des Mediums haftbar gemacht werden, das ihre Gegner wegen ihnen gegen sie benutzen mussten. Das anarchische Medium Flugschrift konnte mit der widersprüchlichen Position der Juden assoziiert werden. Die folgende statistische Auswertung bezieht sich auf Flugschriften, die zwischen 1871 und 1890 von Juden wie Protestanten zur so genannten »Judenfrage« veröffentlicht wurden. Im Rahmen dieser Arbeit werden auch die Äußerungen von Juden als Teil der Debatte um die »Judenfrage« verstanden. Das entspricht der zeitgenössischen Wahrnehmung auf beiden Seiten. Es kommen bei dieser Analyse insgesamt 432 Flugschriften in Betracht.20 Zu20 Es finden hierbei keine Flugblätter Berücksichtigung, d. h. Einblattdrucke, von denen vor allem im Nachlass Stoeckers im Geheimen Staatsarchiv und in der Sammlung zum »DeutschIsraelitischen Gemeindebund« im Jerusalemer Zentralarchiv noch Bestände vorhanden sind. Um die Flugschriftensammlung zusammenzustellen, wurden neben neueren auch zeitgenössische Bibliographien benutzt. Vgl. für die neueren Auerbach, The ›Jewish Question‹ sowie Kehr. Die wichtigste, zeitgenössische Bibliographie stellt die Zusammenstellung des britisch-jüdischen Gelehrten Joseph Jacobs dar. Die Bibliographie verzeichnet für den Zeitraum 1875–1884 1230 Eintragungen in zwölf Sprachen. Darunter sind 496 deutsche Zeitungsartikel, Flugschriften und -blätter, wobei Jacobs 186 einem antisemitisch eingestellten, 295 einem prosemitisch eingestellten Verfasser und 15 einem Konvertiten zurechnet. Vgl. Jacobs. Des Weiteren wurden verwandt: Steinschneider, Hebræische Bibliographie sowie die antisemitische Auflistung Westphal. Die Berliner Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz verzeichnet darüber hinaus in ihrem Altbestand eine ganze Reihe dieser Flugschriften, wobei jedoch ein Großteil durch den Zweiten Weltkrieg verloren ging. Größere, noch vorhandene Bestände konnten im Nachlass Stoeckers – etwa achtzig Flugschriften – sowie in der Jerusalemer Nationalbibliothek eingesehen werden. Letztere besitzt eine einmalige Sammlung dieser Flugschriften. Ursprünglich stammt diese aus den Beständen von jüdischen Gemeinden und jüdischen Leihbibliotheken, die solches Material oft als einzige systematisch gesammelt haben. Zusammen mit Beständen einiger anderer Institutionen, darunter auch nationalsozialistische, gelangte diese Sammlung nach dem Zweiten Weltkrieg im Rahmen der »Jewish Reconstruction« nach Israel. Vgl. zur »Jewish Reconstruction« Wiedebach. Einige Einschränkungen sind jedoch zu machen: In der hier verwandten Sammlung wurden stenographische Berichte ignoriert, die beispielsweise im Zusammenhang mit der Parlamentsdebatte über die »Judenfrage« im November 1880 entstanden. Im Ausland erschienene Flugschriften fanden nur dann Berücksichtigung, wenn sie offensichtlich Teil der deutschen Debatte waren oder in Deutschland vertrieben wurden. Das gilt vor allem für einige Werke, die in Zürich oder Wien Verlage fanden. Grundsätzlich muss für die folgende statistische Auswertung festgestellt werden, dass die notwendigen Daten längst nicht in allen Fällen vorhanden waren. Angaben zum Verfasser sowie über Preise, Auflagenhöhe und -stärke u. ä. sind z. T. bereits für den »normalen« Buchhandel notorisch schwierig zu erheben; bei den flüchtigen Flugschriften gilt das umso mehr. Bei einigen Datengruppen lassen sich daher auch nur Tendenzen erkennen, da keine lückenlosen Datenreihen erstellt werden konnten. Hier ist die Rubrik »Keine Angabe«

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nächst lassen sich einige Erkenntnisse über ihre äußere Form anführen. Sie besaßen zumeist eine schlichte Aufmachung. Obwohl sie keinen Einband im eigentlichen Sinne hatten, so waren sie doch mit einem zumeist etwas dickeren Titelblatt versehen, das – oft in einer anderen Farbe – auf die Schrift aufmerksam machen sollte. Die Mehrzahl der Flugschriften besaß einen Umfang von unter 40 Seiten (57 Prozent), ein Großteil gar unter 16 Seiten. Zwar waren die Flugschriften recht unterschiedlich gesetzt, so dass die Anzahl der Zeichen auf jeder Seite stark variierte. Dennoch dürfte die Mehrzahl der Flugschriften einen Umfang von 60.000 Zeichen nicht überschritten haben.21 Damit lässt sich vermuten, dass viele Flugschriften innerhalb von bis zu zwei Stunden gelesen werden konnten. Die rhetorische Form und stilistische Gestaltung von Flugschriften muss als ein wesentliches Kennzeichen für ihre Funktion im medialen System angesehen werden. Als ein flüchtiges Medium, das an das unmittelbare Tagesgeschehen gebunden war, musste es so präsentiert werden, dass der thematische Bezug und die inhaltliche Ausrichtung schnell deutlich wurden. Beliebt waren daher griffige Haupttitel wie »Schuldig oder Nichtschuldig« oder »Votum eines Unbefangenen«, die ein erstes Interesse wecken sollten. Signalwörter wie »Mahnwort« oder »Ein Wort zur Verständigung« sollten zudem über die Tendenz der Flugschrift informieren. In vielen Fällen wurde mit Begriffen wie »Sendschreiben« oder »Ein Wort an« eine Kommunikationssituation simuliert, die den Leser gleich in die Debatte ziehen sollte. Das setzte sich in einigen Fällen (knapp zehn Prozent der Flugschriften) auch im eigentlichen Text fort: Diese Werke waren in Briefform verfasst. Ein (gelegentlich fiktives) Gegenüber wurde darin direkt angesprochen. Das brachte den Leser in die Position eines abwesenden Beobachters einer Kommunikation unter (scheinbar) Anwesenden. Ein Beispiel ist in diesem Zusammenhang eine Flugschrift von L. Jolenberg, der darin einen Briefwechsel mit Stoecker abdruckte. Nach einem kurzen Vorwort begann der eigentliche Text mit der Anrede Stoeckers: »Geehrter Herr!«. Dem folgte die Versicherung, es nicht zu beabsichtigen, »irgendwie leidenschaftlich Ihnen gegenüber aufzutreten«.22 Solche Versiche-

entsprechend umfangreich. Trotz dieser Einschränkungen muss jedoch festgehalten werden, dass angesichts der Flüchtigkeit des Mediums überraschend viele Angaben gemacht werden können, bzw. zumindest interessante Tendenzen erkennbar werden. Es ist schließlich darauf hinzuweisen, dass alle 432 Flugschriften nur in diesem ersten Teilkapitel analysiert werden; in die folgende inhaltliche Untersuchung ist nur knapp die Hälfte dieses Korpus eingeflossen. Im Anhang der Arbeit befindet sich ein vollständiges Verzeichnis aller 432 Flugschriften. 21 Einige Stichproben ergaben folgende Angaben: für Bambergers »Deutschthum und Judenthum« 60.000 Zeichen auf 44 Seiten, für Cassels »Wider Heinrich von Treitschke« 32.000 auf 28, für Cohens »Bekenntniß« knapp 50.000 auf 25, für Joëls »Offenen Brief« 25.000 auf 16 sowie für Lazarus »Was ist national?« ca. 100.000 auf 61 Seiten. 22 Jolenberg, S. 5.

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rungen waren in vielen Texte üblich: Als der Rabbiner und Gelehrte David Kaufmann sein offenes »Wort im Vertrauen« an Stoecker sandte, betonte auch er, dass »mir jede Voreingenommenheit gegen Ihre Worte fremd war«23. Voreingenommen oder leidenschaftlich zu sein, hätte offensichtlich die Kommunikationssituation, die der Text vorgeben sollte, unmöglich erscheinen lassen. Der Leser musste den Eindruck einer kommunikativen Offenheit erhalten. Das ging in der Regel mit der Zusicherung einher, den Angesprochenen eigentlich wertschätzen zu wollen. Kaufmann gestand selbst Stoecker zunächst einmal zu, dass ein »Mann, bei dem man vermöge seiner Stellung ein gebührendes Maß von Wissen und Sittlichkeit vorauszusetzen verpflichtet ist«, »nicht ohne schwere Gründe« öffentlich als »Hetzer und Wühler« aufgetreten sei.24 Ein hier anschließendes rhetorisches Merkmal, das sich in der überwiegenden Mehrheit der Flugschriften finden lässt, ist das Primat der Sachlichkeit. Selbst polemische Texte waren angefüllt mit Behauptungen, dem Gegenstand neutral gegenüber zu stehen und ruhig über ihn urteilen zu können. Gleichzeitig war das genau die Sachlichkeit, die dem jeweiligen Gegner fehlen würde. Die beständigen Klagen über den vermeintlich hohen Grad der Polemik offenbaren sich bei genauerem Hinsehen mehr als ein Instrument, seinen jeweiligen Gegner zu diffamieren, denn als eine Aussage über den Stil der Flugschriften. Nur eine Minderheit der Flugschriften war offen polemisierend oder glossierend geschrieben. Die Debatten um die »Judenfrage« im Medium der Flugschrift erweisen sich folglich immer auch als ein Streit über Rhetorik: Wer spricht angemessen und gemäßigt; wer hingegen hetzt? Darin lag, wie einigen Autoren auch durchaus bewusst war, eine Konsequenz des Mediums selbst. Flugschriften wurden ja gerade für den Zweck der Agitation eingesetzt. Ihrer Form nach konnten sie gar nicht unbeteiligt sein. Wenn man dabei den kulturellen Hintergrund der bürgerlichen Bildungskultur, die zwar Parteilichkeit im Namen des Gemeinwohls, aber nicht die Vertretung eines partikularen Standpunktes zuließ, mit in Betracht zieht, wird klar, weswegen es für die Flugschriftenautoren um so notwendiger wurde, eine sachliche Distanz zu behaupten. Flugschriften konnten ihre bürgerlichen Autoren in Verruf bringen. Die rhetorische und stilistische Gestaltung der Texte verwies somit auf ihre tiefe Verwurzelung in der Bildungskultur. Wenn man sich den Verfassern der Flugschriften zur »Judenfrage« zuwendet, lassen sich einige Angaben zur Motivlage anführen, aus der heraus ein Autor beschloss, eine Flugschrift zu verfassen. Die Beweggründe können zweifellos vielschichtig gewesen sein und sind für den nachträglichen Betrachter auch nicht immer rekonstruierbar, da für viele Autoren biographische 23 (Kaufmann), S. 1. 24 Ebd.

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Angaben oder gar Selbstauskünfte fehlen. Eine weitere Schwierigkeit ist dadurch bedingt, dass sich die Gründe, eine öffentliche Meinungsäußerung zu tätigen, mit medialen Strategien vermischten, dafür die Form der Flugschrift zu wählen. Der Betrachter ist somit mit einer Gemengelage aus Motiven auf verschiedenen Ebenen konfrontiert.25 Zunächst lässt sich festhalten, dass viele Texte aus Empörung oder gar Wut geschrieben wurden.26 Einige Autoren gerieten über einen vermeintlichen oder wirklichen gesellschaftlichen Missstand so in Rage, dass sie das öffentlich artikulieren zu müssen glaubten. Andere erregten sich über die Meinungsäußerung eines Autors in einem solchen Ausmaß, dass sie sich gezwungen sahen, ihn öffentlich zur Rede zu stellen. Der schlesische Pastor Bernhard Gruber rechtfertigte seine 1880 veröffentlichten »Friedensworte« in einem Schreiben an Moritz Lazarus damit, dass er »wenigstens dem kirchlichen Demagogen Berlins« – gemeint war der Hofprediger Stoecker – »von seinem eigenen religiösen Standpunkt aus« das Handwerk habe legen wollen.27 Für eine solche Gefühlslage bot sich die Flugschrift als besonders geeignetes Ventil an: Ihre Schnelligkeit – sie konnte innerhalb kurzer Zeit, gelegentlich weniger Tage, auf dem Markt sein – erlaubte eine direkte und daher wirkungsvolle Reaktion auf eine andere Schrift. Die Ungebundenheit des Flugschriftenverfassers – der Autor musste den Text von keinem Herausgeber oder Redakteur gegenlesen lassen – war ein weiterer Vorteil, wenn er seine Empörung relativ ungehindert artikulieren wollte. Schließlich bot das Medium der Flugschrift eine erstaunliche formelle und rhetorische Offenheit, die für ganz unterschiedliche Textsorten und Textstrategien genutzt werden konnte, sicher auch für solche, die polemischen Interessen des Autors entgegenkamen, was aber, wie bereits erwähnt, gar nicht oft der Fall war. Ein weiteres Motiv, das sich ebenfalls direkt mit der medialen Strategie der Flugschrift verband, war der Wunsch nach Popularisierung. Ein nicht geringer Anteil aller Flugschriften (27 Prozent) wurde zuerst in einem anderen Medium veröffentlicht, davon fast die Hälfte in einer Zeitschrift oder Zeitung. Die 25 Ob finanzielle Interessen für das Verfassen von Flugschriften eine Bedeutung hatten, lässt sich nicht endgültig entscheiden. Diese von zeitgenössischen Beobachtern häufig vorgebrachte Begründung mag in Einzelfällen durchaus eine Rolle gespielt haben. Da es aber – das Phänomen der Flugschriften insgesamt betrachtet – nur selten ein lukratives Unterfangen war, mit einer Flugschrift an die Öffentlichkeit zu treten, sollte man das den Autoren nicht grundsätzlich unterstellen. Andere Beweggründe wie Eitelkeit oder Geltungssucht lassen sich hingegen durchaus hinter einigen Flugschriften vermuten. 26 Sicherlich ist Empörung auch als rhetorische Strategie zu begreifen. In einigen Fällen kann allerdings durch Äußerungen aus anderen Zusammenhängen verifiziert werden, dass gerade in der Flugschriftenkommunikation über die »Judenfrage« Wut nicht rein funktional inszeniert wurde. 27 Siehe den Brief Grubers an Lazarus vom 30.1.1880, Nl. Lazarus, HU-Bibliothek, BriefNr. I/476.

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Zweitverwertung als Flugschrift konnte deshalb interessant sein, weil in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts Zeitungen und Zeitschriften ausschließlich im Abonnement zu erhalten waren. Ein potentieller Interessent an nur einem Artikel in einer Zeitschrift, die er nicht bezog, dürfte daher Schwierigkeiten gehabt haben, sich diesen Text zu beschaffen. Gerade wenn über einen solchen Text viel diskutiert wurde, entstand somit schnell die Notwendigkeit, ihn in anderer medialer Form zugänglich zu machen. Hier bot sich die Flugschrift an, wie auch das Beispiel Heinrich von Treitschkes zeigt. Nachdem sein Artikel »Unsere Aussichten« in den »Preußischen Jahrbüchern« auf heftigen öffentlichen Widerspruch (in Form von Flugschriften) getroffen war, schrieb er an seinen Verleger Georg Reimer: »Es ist aber durchaus nöthig, daß diese schon in einem Dutzend Flugschriften und in ein paar hundert Zeitungsartikeln angegriffenen Worte dem großen Publikum bekannt werden; die Deutschen müssen sehen, was ich wirklich gesagt habe […]. Von den verschiedensten Seiten her werde ich um Veranstaltung eines Sonderabdrucks gebeten. Wollen Sie darauf eingehen?«28

Reimer wollte, und so wurde kurze Zeit später Treitschkes »Ein Wort über unser Judenthum« einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich. Das Medium der Flugschrift eröffnete also in diesem Fall die Möglichkeit, mehr Leser zu erreichen als mit einem Zeitschriftenartikel, selbst in einem so renommierten Blatt wie den »Preußischen Jahrbüchern«. Eine letzte Begründung, seinen Text in einer Flugschrift zu veröffentlichen, lieferte die Minderheitsposition vieler Autoren. Dafür war Treitschke sicherlich kein geeignetes Beispiel. Andere Autoren jedoch besaßen keinen direkten Zugang zum Mediensystem, um die ihnen unter den Nägeln brennenden Fragen zu verhandeln. Zudem waren sie häufig – berechtigter- oder unberechtigterweise – der Überzeugung, dass sie mit ihren Ansichten über die normalen Vermittlungswege wie Zeitung und Zeitschrift nicht durchdringen würden. Diese Vermutung erscheint angesichts der Struktur der bürgerlichen und der jüdischen Teilöffentlichkeit auch nicht völlig aus der Luft gegriffen, vielmehr fanden sich hier die (antisemitischen) Angreifer durchaus mit ihren (jüdischen) Gegner in ein- und demselben medialen Boot wieder. Das lässt sich vor allem durch die Beobachtung erhärten, dass ihnen lange Zeit nur ganz bestimmte Sektoren der Medienlandschaft ein Forum für ihre Positionen boten. Auf der antisemitischen Seite gab es einige Zeitungen und Zeitschriften, die sich insbesondere auf dem klerikalen, konservativen Rand früh für solche Meinungsäußerungen öffneten.29 Auf der jüdischen Seite blieben die Wo28 Siehe die Abschrift eines Briefes von Treitschke an Georg Reimer vom 30.12.1879, Nl. Treitschke, Kasten 17, Bl. 76. 29 Hierbei seien Zeitungen wie die katholische »Germania« oder die konservative »Kreuzzeitung« zu nennen.

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chenschriften der jüdischen Teilöffentlichkeit.30 Wollten die Autoren jedoch darüber hinaus die öffentliche Sphäre besetzen, mussten sie bis weit in das Jahr 1880 auf ein anderes Medium ausweichen.31 In diesem Sinne ließ sich die Flugschrift benutzen, um in der öffentlichen Sphäre der eigenen Minderheitenmeinung Gehör zu verschaffen und sich damit gleichzeitig als legitimer Teilnehmer der räsonierenden Öffentlichkeit zu behaupten – eine Inszenierung, die dem Anspruch gebildeter Bürger auf Deutungsmacht entsprach. Zugleich erhielt damit das Medium einen »anarchischen« Charakter, da sich Autoren seiner unkontrolliert bedienen konnten, um in die öffentliche Sphäre zu wirken. Es ist vor dem Hintergrund der unter gebildeten Bürgern verbreiteten Medienkritik leicht vorstellbar, wie das Medium der Flugschrift dadurch den Anschein des Bedrohlichen erhielt. Abgesehen von der Motivlage der Autoren fällt eine Charakteristikum dieser Flugschriften auf, das den gängigen Sichtweisen auf dieses Medium zuwiderläuft. In der großen Mehrheit (66 Prozent) haben die Autoren ihre Schriften unter ihrem eigenen Namen veröffentlicht; nur eine Minderheit veröffentlichte anonym (18 Prozent) oder unter einem Pseudonym (16 Prozent). Diese Erkenntnis ist deshalb interessant, weil so gezeigt werden kann, dass das Verfassen einer Flugschrift durchaus als eine legitime öffentliche Meinungsäußerung akzeptiert war. Das hieß allerdings nicht, dass die Autoren keine weiteren Legitimierungsversuche einsetzten, wie bereits bei der Erörterung der rhetorischen Strategien angedeutet worden ist. Im Gegenteil, obwohl es offensichtlich grundsätzlich als legitim galt, eine Flugschrift – trotz ihres parteilichen Charakters – ohne Ansehensverlust zu veröffentlichen, musste der einzelne Autor noch durch Form und Inhalt nachweisen, dass sich dieses Zugeständnis auch als gerechtfertigt erwies. Es lässt sich gerade zeigen, dass sich ein erheblicher Teil der zeitgenössischen Diskussionen über einzelne Flugschriften und auch über das Medium als solches um die Frage der Legitimität drehte. Hier lassen sich interessante Beobachtungen über das Verhältnis von jüdischen und protestantischen Autoren anfügen. Die bereits erwähnte Schrift von David Kaufmann trug den vollen Titel: »Ein Wort im Vertrauen an Herrn Hofprediger Stoecker von Einem, dessen Name Nichts zur Sache 30 Interessanterweise reagierte nicht nur die reformorientierte »Allgemeine Zeitung des Judenthums« mit einer breit angelegten Berichterstattung über die antisemitische Bewegung und ihre Folgen. Ähnlich verhielt sich auch die orthodoxe Presse, wie ein Blick in die »Jüdische Presse« zeigt. Vgl. Breuer, S. 303. 31 Erst als mit dem Eingreifen Mommsens gegen Treitschke ein Konflikt innerhalb des liberalen Lagers auftrat, reagierte die bürgerlich-liberale Tagespresse entsprechend und begann über antisemitische Vorfälle zu berichten. Juden wie Antisemiten erhielten aber dennoch nicht als solche eine Stimme in diesen Foren. Dass jüdische auf die gleiche Stufe mit antisemitischen Autoren gestellt wurden, entspricht der Sicht der Zeitgenossen und stellt eines der zentralen Probleme der öffentlichen Position von Juden im Kaiserreich dar. Beides erschien als partikulare Position.

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thut«.32 Diese Form der Anonymisierung dürfte anderen Ursprungs sein und nicht auf eine Furcht vor dem Verlust von Reputation zurückzuführen sein. Die Flugschrift stellte jüdische Autoren vor ein zusätzliches Dilemma: Wenn sie sich gleich zu Beginn der Schrift als Juden zu erkennen gaben, liefen sie Gefahr, bereits vom Bannstrahl des Leser geächtet zu werden, eine unerlaubte, weil partikulare Meinung zu vertreten. Die Verfasser der Flugschriften, die alle – bis auf eine Ausnahme33 – männlichen Geschlechts waren, bestanden in einem beachtlichen Ausmaß aus Juden. Wenn man in Rechnung stellt, dass für 27 Prozent aller Flugschriftenautoren die ethnische und religiöse Zugehörigkeit nicht geklärt werden konnte, zeigt sich für die restlichen 317 Werke folgendes Bild: Während 199 Schriften, also 62 Prozent, von Nichtjuden geschrieben worden waren, stammten 118 Schriften, oder 38 Prozent, aus jüdischer Feder.34 Es lässt sich also mit einigem Recht behaupten, dass die Diskussion um die »Judenfrage« nicht nur als ein Teil der nichtjüdischen Geschichte oder gar der Antisemitismusforschung, sondern ebenso der deutsch-jüdischen Geschichte behandelt werden muss, wollte man nicht Gefahr laufen, eine beträchtliche Zahl der Diskussionsbeiträge zu missachten. Bei den Nichtjuden konnte nicht durchgehend nach den verschiedenen christlichen Konfessionen unterschieden werden. Da sich nur etwa ein halbes Dutzend der Autoren mit Sicherheit der katholischen Konfession zuordnen lässt und ebenso viele sich als Freireligiöse zu erkennen gaben, kann aber der Eindruck erhärtet werden, dass diese Flugschriftendebatten weitgehend zwischen Juden und Protestanten ausgetragen wurden. Der konfessionellen Zuordnung lassen sich aber noch weitere Angaben über die Autoren hinzufügen. Zunächst muss man sich vergegenwärtigen, dass immerhin 28 Prozent von ihnen promoviert hatten. Da viele Berufe, in denen die anderen Autoren tätig waren, zumindest ein Studium voraussetzten, dürfte der Anteil der Verfasser mit akademischer Ausbildung noch um einige Prozentpunkte höher liegen. Interessanterweise ist der Anteil von Juden unter den promovierten Autoren sogar größer als ihr relativer Anteil an den Flugschriftenverfassern insgesamt. Von 120 Promovierten war eine Mehrheit, nämlich 64, jüdisch. Es scheint demnach einiges dafür zu sprechen, dass die jüdischen Beiträge zu den Debatten insgesamt von besser ausgebildeten Autoren stammten. Soweit Angaben zum beruflichen Hintergrund der Autoren möglich sind, was nur in 53 Prozent der Flugschriften der Fall ist, zeichnet sich der bürgerliche Charakter der Flugschriftenkommunikation ab (vgl. Abb. 1): Die größte 32 Vgl. (Kaufmann). 33 Die einzige Ausnahme war: Schleinitz. 34 Dabei wurden nur solche Autoren als jüdisch eingeordnet, die sich selbst als solche bezeichneten. Konvertiten, z. B. der als evangelischer Geistlicher tätige Paulus Cassel, wurden zu den Protestanten gezählt.

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Beruflicher Hintergrund der Autoren

Theologen 13%

Arbeiter 1%

Juristen Lehrer 3% 5% Mediziner 2% Politiker 3%

Schriftsteller 2%

Rabbiner 14%

Professoren 19%

Publizisten 38%

Abbildung 1

Einzelgruppe stellen mit 37 Prozent (88 Flugschriften) die Publizisten. Diese Gruppe ist zugleich die heterogenste, reicht sie doch von etablierten Autoren bekannterer Publikationsorgane zu weitgehend unbekannten Verfassern. Immerhin 18 Prozent der Autoren (42 Flugschriften) waren Professoren. Jeweils 14 Prozent (31 Flugschriften) der Flugschriften stammten von Theologen bzw. Rabbinern. Zählt man hierzu noch die Juristen, Mediziner und die Lehrer (zusammen noch einmal elf Prozent), kann man den bürgerlichen Charakter der Flugschriftenkommunikation erkennen; wesentlichen Anteil daran nahmen gebildete Bürger.35 Bei der Betrachtung der Verlagsstruktur fällt auf, dass sich – zumindest mit Blick auf die hier interessierenden Flugschriften – eine weitere, häufig geäußerte Annahme über dieses Medium widerlegen lässt. Die Flugschriften zur »Judenfrage« sind nur in Ausnahmefällen (6 Prozent) im Selbstverlag erschienen.36 Die überwiegende Mehrheit der Autoren (88 Prozent) fand für ihren

35 Es dürfte aus den bisherigen Erörterungen in dieser Studie offensichtlich geworden sein, dass einer solchen These keineswegs die Annahme zugrunde liegt, ein so vielschichtiges Problem wie die Zugehörigkeit zum Bürgertum sei allein durch eine Analyse des beruflichen Hintergrundes zu klären. 36 Vgl. für ein typisches Beispiel eines Selbstverlegers Witt.

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Text einen Verlag.37 Zur gesamten Verlagsstruktur kann man kaum einheitliche Aussagen treffen, da hier eine breite Streuung vorherrschte. Allerdings gab es einige Verlage, die für die Flugschriften über die »Judenfrage« einschlägig waren, wie der Verlag von Richard Skrzeczek im westpreußischen Löbau und die antisemitischen Verlage von Theodor Fritsch, Ernst Schmeitzner oder Otto Hentze. Eine gewisse Häufung ergibt sich auch bei Zeitschriften- oder Zeitungsartikeln, die später als Flugschrift herausgegeben wurden. Die »Israelitische Wochenschrift« ließ immerhin 13 Flugschriften »in Expedition« erscheinen. In einzelnen Fällen nahmen renommierte Verlage Flugschriften in ihr Programm auf.38 Insgesamt jedoch handelte es sich bei den Verlagen größtenteils um mittlere und kleinere Unternehmen. Die meisten Flugschriften erschienen nur in einer Auflage. Wenn es zu weiteren Auflagen kam, konnten diese in schneller Folge nacheinander erscheinen. So kündigte beispielsweise der Inhaber der Weidmannschen Buchhandlung, Hans Reimer, am 17. Dezember 1880 Theodor Mommsen, dem Verfasser von »Auch ein Wort über unser Judenthum«, den vierten Abdruck seiner Schrift an. Bereits sechs Tage später teilte er ihm mit, dass nach den Feiertagen der fünfte Abdruck erfolgen werde.39 Einige der Flugschriften wurden oft wieder aufgelegt, u. a. erschien Wilhelm Marrs »Der Sieg des Judenthums über das Germanenthum« in kurzer Zeit mindestens elf Mal. Die erste Antwort eines Juden auf Treitschke, Manuel Joëls »Offener Brief«, wurde in mindestens acht Auflagen vertrieben. Wie stark die Auflage jeweils war, lässt sich nur schwer belegen. Hier ist man auf Rückschlüsse aus verstreuten Äußerungen angewiesen: Stoecker prahlte im Vorwort zur fünften Auflage seiner Flugschrift »Das moderne Judenthum in Deutschland« mit dem Absatz seiner Schriften. Die vorherige Auflage, die er als »stark« bezeichnete, sei in wenigen Wochen vergriffen gewesen. Von der ersten Rede »Unsere Forderungen an das moderne Judenthum« hatte er zuerst ein Flugblatt veröffentlicht, das, wie er weiter behauptete, 14.000 Mal abgesetzt worden sei.40 Auch wenn die dann folgende, nunmehr in fünfter Auflage erschienene Flugschrift solche Zahlen nicht erreicht haben dürfte, scheint gleichfalls eine Auflagenstärke von mehreren Tausend Stück nicht übertrieben. Von Treitschkes »Ein Wort über unser Judenthum« wurden in der ersten Auflage 2000 Stück gedruckt; es sind 37 Dazu muss allerdings einschränkend festgehalten werden, dass einige Flugschriften von Autoren verfasst wurden, die selbst über einen Verlag verfügten. Das gilt insbesondere für die Flugschriften von Theodor Fritsch, die dieser unter seinem Pseudonym Thomas Frey veröffentlichte. 38 Hier wären der Verlag Georg Reimers, die Weidmannsche Buchhandlung oder die Verlagsbuchhandlung Ferdinand Dümmlers (alle Berlin) zu nennen. 39 Vgl. die Briefe Hans Reimers an Mommsen, Nl. Mommsen, Kasten 101. 40 Das Flugblatt befindet sich im Nachlass Stoecker: Sammlung der Flugblätter der christlich-sozialen Partei, GStA Pk, I. HA Rep. 92, NL Stoecker, IX, 6, Bl. 109–114. Dort wird gar der Vertrieb von 18.000 Stück behauptet.

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insgesamt mindestens vier Auflagen erschienen.41 Joëls Gegenschrift soll im Januar 1880 die beachtliche Zahl von 20.000 Stück erreicht haben.42 Darüber hinaus ist verbürgt, dass der Deutsch-Israelitische Gemeindebund in Einzelfällen mehrere Tausend Stück bestimmter Flugschriften aufkaufte. Etwa im Falle der Schrift von Joël kaufte er 2500 Stück auf.43 Bei anderen Flugschriften, wie dem Sendschreiben »Zur Judenfrage« von Harry Breßlau oder Moritz Lazarus’ »Was ist national?« kaufte der DIGB jeweils hundert Stück.44 Von dem Zeitschriftenaufsatz »Stöcker und Treitschke«, den Heinrich Bernhard Oppenheim 1880 in der »Gegenwart« veröffentlicht hatte, ließ der DIGB 5000 Stück in einer separaten Flugschrift unter dem Titel »Zur Abwehr« drucken.45 Zusammenfassend wird man trotzdem davon auszugehen haben, dass – von solchen allerdings beachtenswerten Ausnahmen abgesehen – die Auflagenstärke bei dem größten Teil der Flugschriften kaum einige hundert Stück überschritten haben dürfte.46 Die Flugschrift sollte oft einen erweiterten Kreis von Lesern und Leserinnen ansprechen, zumal wenn das in ihr Abgedruckte bereits in einer teuren Abonnementzeitschrift erschienen war. Über Zweidrittel aller Flugschriften – es konnten nur von 46 Prozent aller Flugschriften die Preise ermittelt werden – kosteten unter sechzig Pfennig. Es gab eine ganze Reihe von Flugschriften, die sehr billig vertrieben wurden, vor allem die fast fünfzig Schriften, die für weniger als zwanzig Pfennige zu erhalten waren. Zugleich lag die größte Einzelgruppe der Preisstruktur – die zwischen 41 und 60 Pfennig – bereits in einem Preissegment, das für viele selten erschwinglich gewesen sein dürfte. Ein Erwerb mehrerer Schriften, wozu die Flugschriftenkommunikation aus Schrift und Gegenschrift besonders anregte, dürfte bürgerlichen Schichten vorbehalten gewesen sein. Es deutet sich, wie bei anderen Aspekten der Medienanalyse, auch hier an, dass die Flugschriften zumeist von Bürgern für Bürger geschrieben wurden und maßgeblich eine Kommunikation unter gebildeten Bürgern darstellte. 41 Vgl. die Abschrift eines Briefes von Treitschke an Georg Reimer vom 30.12.1879, Nl. Treitschke, Kasten 17, Bl. 76. 42 Vgl. »IWS« vom 14.1.1880. 43 Vgl. das Protokoll der Ausschusssitzung vom 6.1.1880, GAHJP, M1/7, S. 179. 44 Ebd., Bl. 180. 45 Vgl. das Protokoll der Ausschusssitzung vom 2.2.1880, CAHJP, M1/3, Bl. 558 ff. 46 Gegen die sich an diese Erkenntnis häufig anschließende Behauptung, dass damit dieser Quellenkorpus erheblich an Relevanz einbüßt, seien hier zwei Argumente erlaubt. Erstens muss von der Masse der Flugschriften, selbst wenn deren Verbreitungsgrad gegen Null gehen würde, darauf geschlossen werden, dass sich hier ein Anliegen artikulierte, das einer nicht geringen Zahl von Autoren wichtig genug war, um sich darüber auf vielen Seiten auszulassen. Das rechtfertigt als solches eine historische Analyse. Zweitens ergibt sich aus der Position der Flugschriften im medialen System, dass viele Aspekte der Debatten um die »Judenfrage« ohne eine Berücksichtigung dieses Mediums unverständlich bleiben müssen.

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Zeitliche Verteilung der Flugschriften 90 80 70 60 50 40 30 20 10

88

86

84

90 18

18

18

80

78

76

74

72

82

18

18

18

18

18

18

18

18

70

0

Abbildung 2

Zur zeitlichen Verteilung der Flugschriften zur »Judenfrage« sind eindeutige Aussagen erlaubt, weil bei allen (außer fünf) Flugschriften das Erscheinungsjahr angegeben werden kann. Die Streuung über den Zeitraum von 1870 bis 1890 (vgl. Abb. 2) legt offen, wie stark sich diese Debatte auf die Jahre 1879 bis 1883 konzentrierte. In dieser Phase erschienen 266 Flugschriften, also 61 Prozent der Gesamtzahl. Zwar ist es weiterhin richtig, von einer vorbereitenden Phase für diese Debatte auszugehen, die mit der »Gründerkrise« 1873/74 einsetzte.47 Für die hier analysierten, die Debatten wesentlich prägenden Schriften sollte diese Phase jedoch nicht überbewertet werden. Bis Ende 1878 waren 38 der 432 Flugschriften erschienen. Es bleibt die Frage offen, warum zwischen der »Gründerkrise« 1873/74 und der eigentlichen Explosion der »Judenfrage« fast ein Jahrfünft verstreichen konnte. Die Gründerkrise wird in der Forschungsliteratur nicht zufällig als Bezugspunkt gewählt; mit ihr verbindet sich die Interpretation, dass die »Judenfrage« eine Folge der wirtschaftlichen und sozialen Schwierigkeiten des jungen Reiches gewesen sei.48 Der zeitliche Abstand zwischen dieser Krise und dem Aufkommen der »Judenfrage« verweist dagegen einmal mehr auf die Schwierigkeit, einen allzu direkten Zusammenhang zwischen wirtschaftlichen Veränderungen und kulturellen Selbstverständigungsdebatten anzunehmen. Die räumliche Struktur, die sich aus den Orten ergibt, an denen die Flugschriften veröffentlicht wurden, ist ebenfalls recht eindeutig: Berlin (147 Flugschriften) und – mit einigem Abstand – Leipzig (91 Flugschriften) waren 47 Vgl. u. a. Katz, Preparatory Stage sowie Berding. 48 Diese Interpretation geht auf Rosenberg zurück, für den die antisemitische Bewegung den »Klimawechsel« im Zuge der »Großen Depression« symbolisierte. Rosenberg, S. 88.

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die wichtigsten Verlagsorte. Das war nicht ohne Auswirkungen: Die beiden Städte taten sich in dieser Phase als die beiden wichtigsten Stätten der »Judenfrage« hervor. In beiden lassen sich eindeutige Hinweise finden, dass die entsprechenden Debatten auch in die nichtmediale Öffentlichkeit getragen wurden. In Leipzig kam es zu einer antisemitischen Bewegung unter den dortigen Studenten, deren Auswirkungen auch die Berliner Universität erreichten. Berlin, als die neue Hauptstadt des Reiches, etablierte sich sehr schnell als Ort der »Berliner Bewegung«, wie man das Umfeld von Stoeckers »ChristlichSozialer Partei« nannte. Zur thematischen Ausrichtung der untersuchten Flugschriften lässt sich Folgendes feststellen: Knapp 43 Prozent der Autoren bezogen ihre Schrift direkt auf eine Diskussion oder eine Person, die den unmittelbaren Anlass boten, sich öffentlich in dieser Form zu äußern.49 Bei der Mehrheit der Flugschriften konnte ein solcher Bezugspunkt entweder nicht ermittelt werden, oder die entsprechenden Autoren nahmen an der »Judenfrage« allgemein – ohne konkrete Veranlassung – Anstoß. Für den Rest ergibt sich dieses Bild:

Bezugspunkte der Flugschriften AntisemitenPetition 4%

Blutbeschuldigungen 4% Dühring 2%

andere 27%

Marr 12% Rohling 9%

Treitschke 17% Stöcker 25%

Abbildung 3

49 Dabei wurden nur solche Schriften einem Bezugspunkt zugeordnet, in denen entweder der Titel bereits auf einen solchen verwies oder der Text deutlich machte, wodurch die Schrift veranlasst wurde. Natürlich gab es daneben auch in anderen Flugschriften gelegentliche Verweise auf hier genannte Debatten oder Personen.

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Die größte Gruppe neben der Rubrik »Andere«50 ist die der Schriften, welche sich auf Stoecker bezogen. Insgesamt fallen darunter 46 Werke. Die zweitgrößte Einzelgruppe von Flugschriften (32 Schriften) bezieht sich auf die Konflikte, die Heinrich von Treitschke durch seine antisemitische Haltung auslöste. Mit etwas Abstand folgt darauf eine Gruppe von 22 Flugschriften, die Wilhelm Marrs Beteiligung an der »Judenfrage« thematisierten. Diese Gruppe zeichnet sich durch zwei Merkmale aus, die sie von den beiden vorherigen unterscheidet. Erstens setzten diese Werke einige Monate früher ein: Ein Großteil der Schriften zu Marr erschien bereits im Laufe des Jahres 1879. Zweitens waren sie durch scharfe Zuspitzungen und einen – für die zeitgenössische Verwendung des Mediums eher ungewöhnlich – hohen Grad an Polemik charakterisiert. In diesem Zusammenhang dürfte es nicht zuletzt auf Marrs zugespitzte Formel vom Sieg des Judentums über das Germanentum zurückzuführen sein, dass selbst Autoren wie Treitschke zugestehen mussten, dass in den Diskussionen um die »Judenfrage« »des Schmutzes und der Roheit nur allzu viel« vorhanden sei.51 Die Gruppe der 16 Schriften, die sich auf den katholischen Theologen August Rohling bezogen, erschienen über einen längeren Zeitraum, da dessen Hauptschrift »Der Talmudjude« bereits 1871 veröffentlicht worden war und über die kommenden Jahre bei jeder Thematisierung des Talmuds und seiner Bedeutung für das zeitgenössische Judentum immer wieder aktuell wurde.

50 Hierunter wurden Schriften zusammengefasst, die sich erkennbar auf einzelne Debatten oder Personen bezogen, die vor dem Hintergrund der gesamten Debatten um die »Judenfrage« allerdings Episode blieben. Als ein typisches Beispiel wäre hier die Diskussion über den Anteil von Juden an der Kriminalität zu nennen, auf die noch zurückzukommen sein wird. 51 Vgl. Marr. Für das Zitat siehe Treitschke, Über unser Judenthum, S. 1.

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3.2 Von den Wahrnehmungs- zu den Kommunikationsmustern: Die inhaltliche Typologie der Flugschriften »Wer über die jetzige Antisemitenbewegung mit einem vornehmen Achselzucken glaubt hinwegsehen zu können und im Bewußtsein der modernen Bildung, im Vertrauen auf das zu einem Allgemeingut gewordene Princip unbedingter Toleranz diesem »Rückfall in mittelalterlich-barbarischen Fanatismus« nur mit Spott und Hohn begegnet, ihn sonst als ungefährlich meint ignorieren zu dürfen, der ist doch wie uns scheint in einem gewaltigen Doppelirrthum befangen. Er denkt von der fraglichen Bewegung zu gering, indem er die berechtigten Elemente […] verkennt und andererseits die Tiefe und Widerstandsfähigkeit der modernen Bildung, ihren ethischen Werth, zu hoch anschlägt.«52

Eine Analyse der Flugschriften, die sich den inhaltlichen Aspekten dieser Debatten zuwendet, steht angesichts der Fülle der darin geäußerten Standpunkte und Überlegungen vor einer schwierigen Aufgabe. Sie muss daher zwangsläufig die quantitative Analyse hinter sich lassen und sich einer qualitativen zuwenden.53 Dadurch erhält sie ebenso zwangsläufig einen anekdotischen Charakter, weil bestimmte Merkmale, von denen hier behauptet werden soll, dass sie für viele der Schriften charakteristisch seien, nur anhand einiger besonders augenfälliger Beispiele diskutiert werden können. Dabei müssen bestimmte wiederkehrende Motive aufgezeigt werden, die nur selten in einem einzelnen Text in der nötigen Klarheit vorkamen. Es werden Schneisen in das Dickicht der Texte geschlagen, die manchen Aspekt, der in ihnen ebenfalls vorhanden war, außer Acht lassen. Grundsätzlich soll hierbei die Flugschriftenkommunikation so systematisch wie möglich auf ihren kulturellen Hintergrund bezogen werden: die bürgerliche Bildungskultur. Dass das Zusammenleben von gebildeten Juden und Protestanten bereits seit den 1840er Jahren anhand bestimmter Muster wahrgenommen wurde, 52 (Quidde), S. 3. 53 Von den insgesamt 432 Flugschriften, die für die statistische Auswertung in Betracht gezogen wurden, fand die Hälfte für eine detaillierte inhaltliche Analyse Verwendung. Einige der Flugschriften konnten zwar bibliographisch erfasst, aber nicht mehr eingesehen werden, da sie verschollen oder nicht mehr benutzbar sind. Zudem konzentriert sich die folgende Untersuchung auf die Debatten zwischen gebildeten Juden und Protestanten, so dass einige Flugschriften (etwa zur Schächtfrage) weniger relevant erscheinen. Schließlich wurden einige Veröffentlichungen mit eindeutig lokalem Zuschnitt ignoriert. Trotzdem beansprucht die folgende Betrachtung einige der grundlegenden Aspekte der Flugschriftenkommunikation zu erfassen.

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wirkte sich auf die Flugschriftenkommunikation vor allem in zweierlei Hinsicht aus. Einerseits war es nur durch diesen Vorlauf möglich geworden, die »Judenfrage« als ein drängendes Problem der bürgerlichen Bildungskultur zu begreifen. Insbesondere das Judenbild in der Literatur stellte den Bezug (oder vielmehr den Gegensatz) zwischen Bürgerlichkeit und Judentum her. Aber auch die wissenschaftlichen Arbeiten in den verschiedenen Disziplinen wirkten vornehmlich auf bürgerliche Schichten und beeinflussten deren Selbstverständigungsprozesse. Viele Debatten um die »Judenfrage« nach der Reichsgründung konnten ihren Gegenstand so automatisch auf Fragen von Bürgerlichkeit und Bildungskultur beziehen. Andererseits erhielten gebildete Bürger durch den Rückgriff auf die älteren Erörterungen das Instrumentarium, um über die »Judenfrage« reden zu können. Vor allem die Ergebnisse der wissenschaftlichen Forschungen lieferten dafür eine neue Sprache und neue Konzepte. In den Debatten nach 1871 standen sich dadurch mit einer verblüffenden Selbstverständlichkeit Semiten und Indogermanen/Arier gegenüber. Zugleich setzte sich ab 1879 der Begriff »Antisemitismus« sehr schnell durch. Das gilt nicht nur als Selbstbezeichnung der Antisemiten, wobei oft behauptet wird, dass der Begriff im Umfeld Wilhelm Marrs zuerst benutzt wurde.54 Mit der gleichen Geschwindigkeit etablierte sich der Begriff auch unter jüdischen wie protestantischen Gegnern der Antisemiten. Die rasante Verbreitung, die innerhalb weniger Monate das gesamte Diskussionsfeld erfasste, lässt sich nur dadurch erklären, dass seit der Jahrhundertmitte Vorstellungen eines »Semitismus« aus den wissenschaftlichen Diskussionen schrittweise Allgemeingut geworden waren. Aber nicht nur die Sprache hatte sich verändert, auch die entsprechenden Konzepte waren neu. Es herrschte nun auch hier die Idee des Volksgeistes vor, wobei nur selten eine eindeutig biologistisch-rassistische Sprache verwandt wurde.55 Ein gewisser E. Hübsch behauptete in seiner Flugschrift »Wer trägt die Schuld an der Antisemiten-Bewegung?« in durchaus charakteristischer Weise: »Der Jude bildet zum Christen und der Christ zum Juden einen unaustilgbaren Gegensatz. Dieser elementare Gegensatz liegt nicht 54 Der begriffsgeschichtliche Befund ergibt, dass »Antisemitismus« im September 1879 in einem Artikel des Berliner Korrespondenten der »Allgemeinen Zeitung des Judenthums« auftaucht. Dieser berichtete über ein »antisemitisches Wochenblatt«, dessen Veröffentlichung Marr angekündigt habe. Es gilt als wahrscheinlich, dass er den Begriff im Berliner Umfeld gehört hatte. Vgl. Rürup und Nipperdey, S. 137f. Allerdings taucht das Wort bereits früher auf, nämlich in den wissenschaftlichen Debatten über den »Semitismus«. Vgl. Thiede. 55 Als Ausnahmen dürften hier die eher marginalisierten Stimmen der radikalen Antisemiten gelten. Das prominenteste Beispiel dafür waren die Schriften Dührings, der unmissverständlicher als die meisten seiner Zeitgenossen ein »naturwissenschaftliches« Konzept der Rasse für sich in Anspruch nahm: »Die naturwissenschaftliche Betrachtungsweise ist also auch hier angebracht. Sie reicht wenigstens für die rohen Grundlagen zu und ist nur durch eine Untersuchung zu ergänzen, die den Einflüssen der Cultur gehörig Rechnung trägt. Da aber die Cultur selbst nur eine Schöpfung auf dem Naturgrunde ist, so bleibt Alles in Uebereinstimmung […].« Dühring, Die Judenfrage als Frage der Racenschädlichkeit, S. 5.

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im Unterschied der Racen, sondern im Unterschied der Charaktere, der Erziehung und Denkweise […].«56 Vor dem Hintergrund der bürgerlichen Bildungskultur sind solche Aussagen wenig überraschend, galt doch ein naturwissenschaftliches, gar darwinistisches Weltbild als materialistische Verirrung. Die Verdichtungsarbeit, durch die mit Hilfe des Volksgeistkonzeptes ein jüdischer Charakter konstruiert werden konnte, hatte nach 1871 die weitgehend abstrakte Ebene reiner Gegensätze erreicht: »Diese Thesen«, erläuterte Ottomar Beta dementsprechend seine Vorgehensweise in seiner Flugschrift »Darwin, Deutschland und die Juden«, »handeln über generelle, nicht individuelle Begriffe, über das Judenthum, nicht über die Juden, über das Deutschthum, nicht über die Deutschen.«57 Gleichwohl liegt hier keine bloße Fortsetzung der älteren Diskussionen über das jüdische Wesen vor; bei genauerem Hinsehen wird der Betrachter einiger charakteristischer Verschiebungen gewahr. Nach 1871 kam es zu einer Umwandlung der Zeitstruktur, die allerdings vom bürgerlichen Realismus vorbereitet worden war. Die Diskussionen richteten sich nicht mehr auf eine nebulöse Vorzeit, sondern machten bei dieser Vergangenheit höchstens Anleihen, um Aussagen über gegenwärtige Zustände untermauern zu können. Eine aussagekräftige Begründung für ein solches Verfahren lieferte der Orientalist und Philologe Adolf Wahrmund: »Wenn nun dabei auf die tiefsten Grundlagen menschlicher Anschauung und in die ältesten aufgehellten Zeiten der Menschheit zurückgegangen wird, so kann dies vielleicht manchem als unnötig erscheinen, der Verfasser aber lebt in der Ueberzeugung, daß nur auf diese Weise Klarheit in die Sache gebracht, und nur so auch eine richtige Vorstellung von den Mitteln gewonnen werden kann, deren es zur Abhülfe bedarf.«58

Hauptinteresse der Debatten nach 1871 lieferte das gegenwärtige Verhältnis zu den Juden. Ihre Stoßrichtung gestaltete sich daher automatisch politischer; den Verlust an Wissenschaftlichkeit nahmen die Autoren in Kauf. Zwar bezog man sich gelegentlich direkt, wie im Falle Wahrmunds, auf sprachwissenschaftliche Erkenntnisse, um die eigenen Thesen zu untermauern; das Argumentationsziel hatte sich jedoch in den politischen Bereich verschoben. Diese Neuorientierung dieser Debatten nach 1871 sollte freilich nicht zu eingeschränkt verstanden werden. Viele Autoren bemühten sich, ihre Texte in einen umfassenden kulturgeschichtlichen Zusammenhang zu stellen. Bei dem Hofprediger Adolf Stoecker ist beispielsweise deutlich erkennbar, dass die »Judenfrage« als ein kulturelles Gesamtproblem verstanden wird. Es sei nie seine Ab-

56 Hübsch, S. 1f. 57 Beta, S. 9. 58 Wahrmund, S. V.

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sicht gewesen, lediglich gegen »volkswirthschaftliche Irrthümer« vorzugehen. »Der Jammer um mein Volk«, rechtfertigte er sich, »das dabei sittlich und religiös zu Grunde geht, treibt mich, diese Bosheit in die Oeffentlichkeit zu ziehen und den Kampf gegen dieselbe aufzunehmen.«59 Zwar gab es auch zeitgenössische Stimmen, welche die sozialen und wirtschaftlichen Aspekte besonders betonten; erinnert sei nur an Otto Glagaus Feststellung, dass die soziale Frage wesentlich eine »Judenfrage« sei, oder an das Wort von der »goldenen Internationale«, mit dem der Stadtgerichtsrat Karl Wilmanns die Existenz einer internationalen jüdischen Verschwörung andeutete.60 Zu nennen wären hier auch die z. T. abenteuerlichen Mutmaßungen über eine jüdische Schuld an der »Gründerkrise«.61 Allerdings waren auch diese Autoren bereit, den vermeintlichen Konflikt als einen größeren, kulturellen Grundsatzstreit zu betrachten. Ähnlich fremd war es ihnen, die »Judenfrage« auf ihre politische Dimension, d.h. im Wesentlichen auf die Frage nach der Zukunft des Liberalismus zu verengen. Zwar ist es grundsätzlich zutreffend, dass in vielen Attacken, die sich nach 1871 gegen den Liberalismus richteten, zugleich gegen die Juden bzw. ihre Emanzipation, die den Kernbestand liberalen Politikverständnisses betraf, zu Felde gezogen wurde. Besonders in der Frühphase der Debatten um die »Judenfrage« engagierten sich hier Personen aus dem klerikalen und dem konservativen Milieu. Für diese Autoren war offensichtlich, um die Worte des erzkonservativen Publizisten und Politikers Constantin Frantz zu verwenden, »wie innig mit dem Nationalliberalismus die Judenherrschaft zusammenhängt«. »Was uns also«, schrieb er weiter, »vom Nationalliberalismus befreit, wird uns auch von der Judenherrschaft befreien […].«62 Solche Äußerungen nahmen bereits die Zeitgenossen zum Anlass für eine Interpretation der »Judenfrage«, die bis in die Historiographie der Gegenwart nachwirkt. So wichtig die Verbindung von Liberalismuskritik und Antisemitismus für ein Verständnis der politischen Kultur im neuen Kaiserreich auch ist, darüber dürfen die Veränderungen in der Bildungskultur der Zeit nicht vergessen werden. Die Autoren waren häufig bereit, die »Judenfrage« in aller Grundsätzlichkeit anzuerkennen: Sie hielten sie keinesfalls für das Resultat eines kurzfristigen Politikwechsels. Bezeichnend ist dafür eine Äußerung des Theologen Karl Friedrich Heman: »Es heißt die Judenfrage in ihrer Größe und Wichtigkeit nicht verstehen, wenn man sie nur für einen Kampf zwischen dem landläufigen Liberalismus und landläufigem Conservatismus auffaßt. Es stehen höhere und größere Dinge auf dem Spiel. Wie

59 Stoecker, S. 33. 60 Die Wortprägung Wilmanns’ spielt auf die zeitgenössische Rede von einer roten (sozialdemokratischen) und schwarzen (katholischen) Internationalen an. Vgl. Wilmanns sowie Glagau. 61 Vgl. (Perrot). 62 Frantz, S. 64.

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immer, wenn die Juden in die Weltgeschichte eingreifen, handelt es sich um die höchsten Interessen der Menschheit […].«63

In der Weltsicht gebildeter Bürger signalisierte die »Judenfrage« fundamentale Umwälzungen in der bürgerlichen Bildungskultur. Die Krisenstimmung in der Bildungskultur war auch der tiefere Grund für einen weiteren Unterschied zu früheren Debatten: die Kommunikativierung des Jüdischen. Die literarischen und wissenschaftlichen Arbeiten des zweiten Jahrhundertdrittels waren zweifellos ebenfalls Teil kommunikativer Prozesse. Dennoch fanden hier nach 1871 charakteristische Verschiebungen statt. Zunächst war mit der Flugschriftenkommunikation eine mediale Ausweitung verbunden, die sich gleichwohl nicht in absoluten Leserzahlen messen lässt; hier waren die literarischen Werke des bürgerlichen Realismus kaum zu überbieten. Die Möglichkeit, sich an diesen neuerlichen Diskussionen zu beteiligen, war indes ungleich größer. Mittels insbesondere der Flugschriften konnten zusätzliche Autoren eingreifen; es entstand eine wahre Flut von Veröffentlichungen in relativ kurzer Zeit. Dadurch konnte der Eindruck entstehen, die »Judenfrage« werde überall besprochen. Die mediale Ausweitung bedeutete demnach größere Sichtbarkeit und mithin kommunikativen Bedeutungszuwachs. Obendrein hatten sich die Debatten des zweiten Jahrhundertdrittels nicht direkt auf eine »Judenfrage« bezogen, auch wenn Ähnliches im Hintergrund eine wichtige Rolle gespielt hatte. Die Absichten der entsprechenden Werke waren andere gewesen: einen bürgerlichen Wertekosmos durch literarische Vorbilder zu propagieren, bzw. den Ursprung der indogermanischen Sprache, des arischen Volkes, der christlichen Religion oder den Ursprung von moderner Staatlichkeit und Nationalität zu klären. In gewisser Hinsicht zielten die entsprechenden Autoren auf die eigene, protestantische Kultur. Dass sie dafür über Juden reden mussten, hatte eine gewisse Zwangsläufigkeit, geschah aber dennoch eher nebenbei. In der Flugschriftenkommunikation nach 1871 kamen hingegen die Juden direkt zur Sprache; das Zusammenleben mit ihnen bildete den eigentlichen Kommunikationsgegenstand. Darauf spielten zeitgenössische Beobachter an, wenn sie sich erstaunt zeigten, dass die »Judenfrage« überall besprochen wurde.64 Ausgelöst durch die Krisenwahrnehmung in der bürgerlichen Bildungskultur und der daraus folgenden Politisierung, entwickelten sich aus den Wahrnehmungs- Kommunikationsmuster. Es kam zu einer grundlegenden Kommunikativierung des Jüdischen. Neben der veränderten Zeitstruktur, der Politisierung und der Kommunikativierung fand in den Debatten über die »Judenfrage« eine Normativierung statt. Die bürgerliche Bildungskultur prägte die Diskussionen nicht nur im

63 Heman, S. 36. Die Hervorhebungen befinden sich im Original. 64 Vgl. etwa Berlin in der Judenhetze, BAS, Bd. 1, S. 149–162.

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Hintergrund mit, wie das noch für die wissenschaftlichen oder literarischen Bemühungen des zweiten Jahrhundertdrittels behauptet werden kann. Vielmehr dokumentierten die Flugschriften zur »Judenfrage« eine neue Qualität der Aufladung und Verfestigung, mit denen die Bildungskultur nunmehr explizit zur Handlungsanleitung (nicht nur) für die Integration der Juden gewendet werden konnte. Eng mit der »Judenfrage« war nun plötzlich die Zukunft der eigenen Kultur verknüpft. Es artikulierte sich eine kulturelle Erlösungshoffnung. Antisemiten wie ihre Gegner teilten die Krisenstimmung in der bürgerlichen Bildungskultur, was die wirksame Bekämpfung des Antisemitismus stets behinderte. Als die Umrisse dessen, was ein gebildeter Bürger eigentlich sein sollte, immer undeutlicher wurden, begann man in der Auseinandersetzung mit der »Judenfrage« eine neue Konturenschärfe zu fordern. In seiner berühmten Rede »Unsere Forderungen an das moderne Judentum« vom September 1879 verlangte Stoecker von den Juden dreierlei: »ein klein wenig bescheidener«, »ein klein wenig toleranter«, »etwas mehr Gleichheit« – und zugleich adressierte er diese Forderung an die gebildeten Protestanten.65 Die Flugschriftkommunikation erscheint folglich als ein Aspekt jenes umfassenden Kampfes um die kulturelle Hegemonie der Bildungskultur als »Leitkultur« der neuen Nation. Wenn man sich die Flugschriften von antisemitischen Autoren anschaut, lassen sich einige allgemeine Erkenntnisse gewinnen. Zunächst gab es bei diesem heiklen Thema – denn um ein solches handelte es sich – bestimmte Strategien, um die eigene Legitimität nachzuweisen und dadurch die Glaubwürdigkeit zu erhöhen. Viele Autoren der Flugschriften – und gerade die gebildeten Bürger unter ihnen – bemühten sich, eventuellen Gegnern rhetorisch entgegenzukommen und entsprechende Zugeständnisse zu machen. Damit versuchten sie, sich von den eigentlichen »Antisemiten« zu distanzieren. Von besonderer Bedeutung war in diesem Zusammenhang die Strategie des »Ausnahmejuden«, ein Motiv, das sich bereits in Wagners »Das Judenthum in der Musik« zeigen lässt und sich bis in die Gegenwartskultur hält (»Einige meiner besten Freunde sind Juden!«). In paradigmatischer Eindeutigkeit findet es sich bei Treitschke, der mit Blick auf seinen verstorbenen Freund Alphons Oppenheim schrieb: »Als ich jenen Aufsatz schrieb, mußte ich unwillkürlich an einen verstorbenen Jugendfreund denken, einen guten Deutschen von jüdischer Abstammung, einen der treuesten, liebevollsten und uneigennützigsten Menschen, die ich je gekannt; ich richtete meine Worte so ein, als ob ich mit ihm spräche, und hoffte auf die Zustimmung jener Juden, die sich ohne Vorbehalt als Deutsche fühlen.«66

65 Stoecker, S. 9 ff. 66 Treitschke, Über unser Judenthum, S. 17.

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Aufmerksame Zeitgenossen legten bereits den Mechanismus des »Ausnahmejuden« offen; beispielsweise stellte Moritz Lazarus mit direktem Bezug auf Treitschke fest: »Das allgemeine Gefängnis des Gesammturteils, in welches man Alle sperrt, obgleich nur Einige schuldig sind, pflegt wohl eine kleine Hintertür zu haben, durch welche diese logischen Gefangenenwärter, bestochen von den Vorzügen derselben, Einzelne herausschlüpfen lassen. Man gibt zu, daß es Ausnahmen gibt, die man sogar als »Freunde« anerkennt.«67

Die Strategie des »Ausnahmejuden« sollte nach außen hin Objektivität inszenieren, zeigten die Autoren mit dessen Hilfe doch, dass sie durchaus zu Differenzierungen bereit und in der Lage waren. Das gehörte zu jener rhetorischen Gestalt, die eine Flugschrift als legitime Äußerung erscheinen lassen sollte: Man geselle sich keineswegs zu jenen »Radauantisemiten«, welche an den Juden kein gutes Haar ließen. Zugleich ermöglichte die Strategie eine Artikulation jener normativen Vorstellungen, mit deren Hilfe die Integration der Juden in die Bildungskultur gestaltet werden sollte; denn die »Ausnahmejuden« – der Theologe Adolf Hausrath sprach einmal von einem »judainfreien Sohn Israels«68 – verkörperten die Eigenschaften, welche sich die anderen Juden erst noch aneignen müssten. Grundsätzlich reflektierten viele der Flugschriften den kulturellen Hintergrund, vor dem sie geschrieben wurden: Die bürgerliche Bildungskultur strukturierte dann die Sicht auf die Integration der deutschen Juden sowie insgesamt auf das Verhältnis zu ihnen. Im Hintergrund jener Texte standen freilich immer noch die Wahrnehmungsmuster, die sich seit den 1840er Jahren herausgebildet hatten. Aus den Wahrnehmungsmustern des jüdischen Parvenüs, des Talmudisten, des Materialisten und des Nomaden wurden nunmehr entsprechende Kommunikationsmuster. Charakteristisch für diese Kommunikationsmuster war ein Oszillieren zwischen den jüdischen Negativ- und den bürgerlichen Positivbildern, das nie ganz aufgehoben wurde, zugleich aber für die ungemeine Plausibilität dieser Konstruktionen verantwortlich war. Es erlaubte in ihnen die größten Widersprüche zu vereinen und keine Realität konnte sie wirklich außer Kraft setzen. Alles ließ sich mit ihnen vereinbaren. Der jüdische Parvenü war – wenig überraschend angesichts der Gegebenheiten in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts – eines der beliebtesten Motive 67 Lazarus, Was ist national?, S. 36. Auch einer der noch lebenden jüdischen Freunde Treitschkes wehrte sich vehement dagegen, als »Ausnahme« gelten zu müssen: »Dem gegenüber betone ich als völlig unannehmbar, dass jedes Mitglied der an sich schlechten Race oder Religionsgenossenschaft sich als einen ausnahmsweise ordentlichen Menschen legitimiren müßte.« Siehe den Brief Goldschmidts an Treitschke vom 4.5.1881, Nl. Treitschke, Kasten 6, Mappe Goldschmidt. 68 Siehe Brief an Treitschke vom 5.12.1879, Nl. Treitschke, Kasten 6, Mappe Hausrath.

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in den Flugschriften zur »Judenfrage«. Der sich in seinem Inneren transformierende Aufsteiger, der nicht mehr ganz bei sich, aber auch (noch) nicht im Anderen angekommen ist, passte gut zu jedem Abgrenzungsgestus gegenüber den deutschen Juden, bezog er doch den real stattfindenden kulturellen Transformationsprozess mit ein. Das stattete die entsprechenden Texte mit einem gewissen Wirklichkeitsgehalt aus, ohne dass damit eine Verurteilung dieser Entwicklungen unmöglich wurde. Was aber meinte das Muster genauer? In seiner Flugschrift lieferte Hübsch einen Hinweis auf den hier bedeutsamen Zusammenhang von bürgerlicher Bildungskultur und sozialer Mobilität: »Ein höheres, ebenfalls streng geschultes Beamten- und vornehmes Bürgerthum soll stillschweigend zusehen, wie ein großer Theil Jener von parvenistischer Bildung mit formloser Dreistigkeit Stellung in der Gesellschaft nimmt, die nur in vollständiger Verblendung solche Unbefangenheit annehmen kann.«69

Da der Aufstieg der Juden nicht im luftleeren Raum stattfand, sondern durch die konkreten Strukturen einer bestimmten Kultur geprägt wurde, blieb dieser Aufstieg in der Kommunikation auf die Bildungskultur bezogen. In seinem Kern drehte sich das Muster vom Parvenü um die Frage, inwieweit die Juden zur Kultur – in einem emphatischen, normativen Sinne – überhaupt fähig waren. Exemplarisch vertrat die Flugschrift »Das Verhältniss des modernen Judenthums zur deutschen Kunst« des Berliner Lehrers Bernhard Förster die Überzeugung, dass Juden zur echten Kulturschöpfung nicht in der Lage seien. Mit deutlicher Referenz auf Richard Wagners »Das Judenthum in der Musik« stellte Förster bei den Juden einen »völligen Mangel alles und jedes Talentes« fest.70 Im Umkehrschluss stand daher für ihn fest: »Man kann sich etwas ›Antisemitischeres‹ als die Beethoven’schen Symphonien und den ›Don Juan‹, den ›Faust‹ und ›Werther‹, die ›Meistersinger‹ und den ›Ring der Nibelungen‹ gar nicht denken.«71 Zugleich – und hier knüpft Förster an die Ambivalenz im Bild des Parvenüs an – seien die Juden besonders für die kulturelle Produktion zweiten Grades geeignet: »Sie haben es verstanden«, schrieb er über Juden wie Börne oder Offenbach, »sich in die technische Seite der Künste einzuarbeiten und die dazu nöthigen Hülfsmittel zu erwerben.«72 Was Förster für die Kunst behauptete, führte der Philosoph und Nationalökonom Eugen Dühring für das Gebiet der Wissenschaft weiter aus. Er legte für die »Geschichte des Judenstammes als ein Ganzes« dar, dass in ihm keine »Faser von eigentlicher Wissenschaft« zu finden sei: »Für eigentliche und ernsthafte Wissenschaft um ihrer selbst willen haben die Juden auch heute noch keinen Sinn. Wenn sie sich mit der Wissenschaft äusserlich befassen, 69 70 71 72

Hübsch, S. 2. Förster, S. 12. Ebd., S. 35. Ebd., S. 36.

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so verhandeln sie, so gut sie können, die Gedanken Anderer, und ihr ganzes Treiben in der Wissenschaft hat, wo nicht unmittelbar einen geschäftlichen Zweck, doch stets einen geschäftlichen Charakter.«73

Neben den hier angeführten Texten von Hübsch, Förster und Dühring ließen sich noch andere Passagen aus der Flugschriftensammlung anfügen, die das Muster des Parvenü mit ähnlichen Motiven ausfüllen. In ihnen allen wurden dem Parvenü freilich auch positive Gegenbilder gegenübergestellt. Förster betonte den »Grundcharakter des arischen Volksthums«, das in seiner Neugier, Vielseitigkeit und seinem Vorwärtsstreben alle Fähigkeiten zur künstlerischen Produktion besitze.74 Hübsch sah den Aufstieg der Juden als Symptom für den drohenden Verlust der Kardinaltugenden: »Individualität, Tiefe, Idealität, Natürlichkeit und freie Entwicklung der Herzensbildung«.75 Dühring feierte die »freie und uneigennützige Thätigkeit des Geistes, die allein zur uninteressirten Wahrheit und Schönheit vordringt«.76 Bei dem Verhältnis von Konstrukt und Gegenkonstrukt sollte nicht vergessen werden, wie instabil das im Falle des Parvenüs war: Dieser Figur lag ja gerade zugrunde, dass sich die Juden in einem gewissen Umfange dem Ideal anzupassen verstanden. Sie seien zur Kulturschöpfung nicht vollständig unfähig; freilich gelängen ihnen nur Schöpfungen zweiter Klasse. In Anbetracht aller Gesichtspunkte, die sich in dem Kommunikationsmuster des Parvenü vereinen, erkennt man einen Aspekt des Wertehorizontes, der in der bürgerlichen Bildungskultur von zentraler Bedeutung war: Kulturfähigkeit und Schöpfergeist. Die Fähigkeiten, künstlerisch tätig zu sein, wissenschaftliche Forschungen zu betreiben, an den Bildungseinrichtungen zu unterrichten usw., betrafen elementare Aufgaben, welche die gebildeten Bürger im neuen Kaiserreich für sich in Anspruch nehmen wollten. Wo, wenn nicht hier, hatten sich ihre hegemonialen Ansprüche zu materialisieren? Zugleich schrieben sich hier die fundamentalen Zweifel über die eigene Rolle und über die Möglichkeiten ein, dem selbst gestellten Machtanspruch gerecht zu werden. An der Figur des jüdischen Parvenüs brach sich somit das gebildete Begehren – und gerade aufgrund des charakteristischen Oszillierens zwischen Machtanspruch und Machtzweifel erwies sich der Jude als dienliche Projektionsfläche. Das Kommunikationsmuster des jüdischen Talmudisten zielte auf den sittlichen Gehalt des jüdischen Charakters. Dabei wurde davon ausgegangen, dass der Talmud, in einem weiteren Sinne die gesamte jüdische Traditionsliteratur, eine Quelle für die Erkenntnis des jüdischen Wesens darstelle, da dieses 73 74 75 76

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Dühring, Die Judenfrage als Frage der Racenschädlichkeit, S. 46 ff. Förster, S. 11. Hübsch, S. 15. Dühring, Die Judenfrage als Frage der Racenschädlichkeit, S. 78.

Schrifttum dem jüdischen Volksgeist entwachsen sei und ihn zugleich auch in Gegenwart und Zukunft präge. Dementsprechend behauptete der Theologe Karl Heinrich Christian Plath 1881 in seiner Schrift »Was machen wir Christen mit den Juden!?«: »Die in früheren Jahrhunderten fast passioniert einseitige Beschäftigung mit dem Talmud [...], durch welche seine Denkformen und Denkeigenheiten ganzen Geschlechtern gleichsam in Fleisch und Blut übergegangen sind und weiter übergehen, können selbstverständlich nicht ohne Einfluß geblieben sein.«77

Über die Folgen dieses Einflusses besaß Plath keinerlei Zweifel: Der »jüdische Verstand« sei »kritisch, ätzend, zersetzend und nicht kontemplativ, konstruierend, productiv«.78 In einer zweiten Schrift über die »Judenfrage« von 1882 behandelte Plath Shakespeares »Kaufmann von Venedig«, um damit ein Gegenstück zu Lessings »Nathan« zu konturieren. Die berühmte Szene, in der Shylock von dem Kaufmann Antonio seinen »Schein« und damit den Pfand – ein Kilo Fleisch aus Antonios Körper – einfordert, zeichnete laut Plath den jüdischen Charakter aus: Die darin offenbar werdende Halsstarrigkeit und Härte verbinde sich mit einer vermeintlichen Rechtsauffassung aus der jüdischen Traditionsliteratur. Folglich schrieb Plath über Shylock: »Seine Seele ist fern von der Einsicht, daß das höchste Recht in gewissem Sinne das höchste Unrecht sein kann, ja daß sein Hauptnerv, der Buchstabendienst, ein zweischneidiges Schwert sei.«79 Die Sittlichkeit des jüdischen Charakters, wie auch im Falle der Religionsausübung, erschöpfe sich in einem Formalismus: Die Regeln würden ihrem äußeren Gehalt nach befolgt; ihre Einhaltung geschähe nicht aufgrund einer inneren Überzeugung. Zugleich lege der Talmud eine bestimmte Haltung anderen Menschen und Völkern gegenüber nahe. Die religiösen Gebote der Juden würden den Verkehr mit anderen Völkern einschränken: Hier gelte eine Art »Abschließungsprincip«.80 Gleichzeitig wurde in vielen Werken hervorgehoben, dass der Talmud den Juden unterschiedliches Verhalten vorschreibe, je nachdem ob sie mit einem Juden oder einem Nichtjuden verkehrten. Im Umgang mit Nichtjuden reiche ein lediglich formal korrektes Verhalten. In der Schrift »Babylonierthum, Judenthum und Christenthum« von 1882 äußerte sich Wahrmund ausführlich über den Talmudismus: Die Juden hätten starrsinnig an ihren semitischen Überzeugungen festgehalten und – trotz aller Einflussmöglichkeiten durch die umliegenden Kulturen – eine praktische und religiöse Ausschließlichkeit ausgebildet. Seit dem Aufkommen des Christentums sei dieser Zustand besonders sichtbar: 77 78 79 80

Plath, Was machen wir, S. 77. Ähnlich argumentierte: Hübsch, S. 11. Plath, Was machen wir, S. 76. Plath, Shakespeares Kaufmann von Venedig, S. 23. Heman, S. 14.

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»So steht das Völkchen […] noch heute, unter die Völker der Welt vertheilt, als unverstandenes Denkmal uralter Geisteszustände, mitten unter den Bekennern jener Religion der Menschlichkeit, deren Stifter es vor neunzehnhundert Jahren ans Kreuz geschlagen hat, und auf den Zügen des Talmudismus spielt noch heute jener halb blöde, halb wahnwitzige Hochmuth, aus seinem Auge blitzt noch heute jener dämonische Haß, der im Juden allein Menschen mit göttlichem Odem, in den übrigen Geschöpfen Gottes von menschlicher Gestalt nur Wesen halb tierischer Natur erblickt, die ihm zur Beute gegeben sind, und welche an Hab und Gut, an Lebensgenuß und Freiheit, ja am Leben selbst zu schädigen, Gebot seines Nationalgottes ist. So wandelt ein urzeitlicher Dämon noch mitten unter uns.«81

An diesem Zitat lässt sich gut illustrieren, wie das Muster des Talmudisten religiös überhöht war. Das geschah nicht nur, weil sich der sittliche Charakter der Juden aus ihrer religiösen Überlieferung ergeben sollte. Gleichzeitig artikulierten sich in diesem Zusammenhang Annahmen über die eigene Sittlichkeit, die sich aus christlicher, zumeist protestantischer Tradition speisten. Das Dämonische bei Wahrmund, aufgeladen mit kannibalischer Metaphorik, muss ebenfalls mit der christlichen Tradition des jüdischen Untoten in Verbindung gebracht werden. Dieses Dämonische führt gleichzeitig auf die Instabilität des Musters, verwies es doch auf eine ursprüngliche und verunsichernde Nähe zum Eigenen. Der Talmudist verkörperte Egoismus, Exklusivität, moralischen und logischen Formalismus. Im Kern – das konnten die Verfasser solcher Gedankengebäude nicht gänzlich ignorieren – entstammte der Talmudist jedoch einer Zeit, zu der sich auch die eigene christliche Tradition aus derselben Quelle entwickelte. Protestantische Sittlichkeit funktionierte mithin nur oberflächlich als Gegenbild zu diesem Kommunikationsmuster. Das Muster des jüdischen Materialisten besaß vor allem die Funktion, in der gegenwärtigen Gesellschaft Träger der wirtschaftlichen und sozialen Veränderungen ausmachen zu können, die dort zunehmend sichtbar wurden. Auch das geschah nicht im luftleeren Raum, sondern vor dem Hintergrund der bürgerlichen Bildungskultur. Hier eröffnete sich ein grundsätzlicher Konflikt: Den christlichen Völkern wohne, so stellte beispielsweise Plath fest, ein »edler Idealismus« inne, während dem Judentum ein »Zug des Ringens, Arbeitens, Wirkens, Strebens, Schaffens und Schaltens« zuzuschreiben sei.82 Ein realistisches Wesen des Judentums wurde mit der Orientierung auf den Handel und Wucher verbunden, die man den Juden seit alters her als »Cultus des goldenen Kalbes« nachsagte.83 Wirtschaftliches Verhalten wurde in den Flugschriften nicht isoliert betrachtet, sondern stets in weitschweifige kulturgeschichtliche Zusammenhänge gestellt. Demgemäß behauptete Wahrmund eine Verbin81 Wahrmund, S. 251f. Für eine zeitgenössische Verteidigung des Talmuds vgl. Cohen, Nächstenliebe. 82 Plath, Was machen wir, S. 84. 83 Förster, S. 51.

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dung zwischen Handelstätigkeit und Charakter, als er feststellte, dass eine entsprechende Beschäftigung zwar äußerlich korrekte Formen voraussetzen, zugleich aber die Absonderung von den anderen nötig machen würde. Weil der Händler seine Kunden notwendigerweise um seinen Gewinn übervorteilen müsse, sei er gezwungen, sich von diesen fern zu halten, ja, sie sogar für dumm zu erachten. Das führe zu den bei den Juden zu beobachtenden Formen des Hochmuts: »[…] und dieser Hochmuth sucht dann seine letzte und höchste Rechtfertigung in einem ausschließlichen Verhältniß zur Gottheit, welches ihm erlaubt, was Andern nicht erlaubt ist.«84 Weniger für die kulturgeschichtlichen Implikationen als vielmehr für die Verschwörungsthese interessant war die Schrift Wilmanns: »Die ›goldene‹ Internationale und die Nothwendigkeit einer socialen Reformpartei« von 1876. Die Titel gebende »Internationale« führte er mit folgenden Worten ein: »Mit ihren erheblichen Geldmitteln, mit ihrer steten Bereitwilligkeit, Hunderte zur Unterstützung talentvoller Glaubensgenossen zu opfern, deren Einflüsse in den Regierungen, in den Parlamenten, in der Presse etc. ihnen demnächst Millionen wieder einbringen, mit ihrer alle Staaten umfassenden Organisation, welche es ihnen möglich macht, überall die günstigen Conjuncturen in ihrem Interesse auszunutzen, bilden sie den festen Kern der immer mehr zur Herrschaft gelangenden ›goldenen Internationale‹.«85

Während das Bild des jüdischen Wucherers, das häufig in den Texten auftauchte, eine längere Tradition besaß, gab es in diesem Zusammenhang auch neue Vorwürfe gegen Juden.86 Die anonyme Schrift »Der Juden Antheil am Verbrechen« bekundete, ihre Erkenntnisse über eine überproportionale Kriminalität der Juden auf amtliche Statistiken gründen zu können, welche die Tätigkeit der Berliner Schwurgerichte nach konfessionellen Gesichtspunkten auswerteten. Das Zahlenmaterial dokumentiere einen Anstieg von Eigentumsdelikten, an denen insbesondere »jüdische Gauner« beteiligt seien. Die allgemeinen kulturellen Entwicklungen, die dieses Phänomen bedingten, lagen für den anonymen Autor auf der Hand: »Die große Mehrzahl der Verbrechen gegen das Eigenthum hat ihren Ursprung im rücksichtslosen Streben nach Geld, in Genußsucht und laxer Moral, welche sicher eine Folge schlechter Erziehung sind, die den Verstand entwickelt und das Gemüht leer gelassen hat.«87 84 Wahrmund, S. 170f. 85 Wilmanns, S. 66f. 86 Vgl. u. a. (Röhrich) sowie für eine Erwiderung aus jüdischer Feder Anonymus, Vom Judenthum im geschäftlichen Leben. Vgl. zur Geschichte des Wuchervorwurfs Rohrbacher und Schmidt, S. 79 ff. 87 Anonymus, Der Juden Antheil, S. 3. Der mit dieser Schrift angegriffene Direktor des Statistischen Büros Berlins, Richard Böckh, legte die Fehler des anonymen Autoren im »Statistischen Jahrbuch« offen. Vgl. Böckh, S. 196f. Für eine Widerlegung von jüdischer Seite vgl. Löwenfeld.

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In allen diesen Diskussionssträngen gelangten neben den abgrenzenden Bildern auch positiv besetzte Eigenbilder an die Oberfläche, die sich stets um bildungskulturelle Begriffe wie Idealismus und Sittlichkeit drehten. Die Autoren waren sich hingegen weitgehend einig, dass diese Qualitäten auf alle ihre Zeitgenossen immer weniger zuträfen; die meisten von ihnen hätten daher der Diagnose Reichenbachs zugestimmt: »Bis in die höheren Kreise hinein ging die sittliche Versumpfung, griff das mit Ehr- und Charakterlosigkeit verbundene Jagen nach Gewinn und Genuß um sich.«88 Das Muster des jüdischen Materialisten reagierte demnach unmittelbar auf Krisenwahrnehmungen in der bürgerlichen Bildungskultur. Ein an bloßem egoistischen Vorankommen orientiertes Verhalten, dass sich in der modernen Wirtschaftskultur herauszubilden schien, bedrohte die Fähigkeit zum Idealismus als Selbstzweck, den gebildete Bürger rhetorisch zu verteidigen versuchten. Wie instabil auch dieses Muster war, erwies sich dadurch, dass der den Juden vorgeworfene Materialismus angeblich bereits unter Protestanten seinen Siegeszug begonnen hatte. Im selben Moment konnten die Juden als das idealistischste Volk der Weltgeschichte – ein Volk, das über Jahrtausende trotz aller Anfeindungen an einer Religion und Kultur festgehalten hatte – hingestellt werden. Aus dieser Perspektive ergab sich schnell die bange Frage: Wer war jetzt der Materialist? Das Kommunikationsmuster des Nomaden konzentrierte sich auf einen weiteren, wesentlichen Vorstellungskomplex: die Juden als wurzellose Antination. Dem jüdischen Volk wurde in diesem Zusammenhang jegliche Form von Sesshaftigkeit abgesprochen; zugleich zweifelte man dessen Fähigkeit an, ein »normales« politisches und soziales System – im Rahmen eines Nationalstaates – aufbauen zu können. Gelegentlich wurden solche Zuschreibungen sogar so weit ausgedehnt, dass den Juden eine Art nomadenhafte Geisteshaltung unterstellt wurde, die alles Beständige in Staat, Kultur und Gesellschaft aufzuweichen bemüht sei. Besonders prägnant trat dieses Muster bei Dühring auf, der mit Blick auf die Menschheitsgeschichte behauptete, dass das Nomadentum ein bestimmtes Urstadium ausmache, das bei jedem Volk vorkomme, aber überwunden werde. Das Nomadentum der Juden sei demgegenüber ein dauernder Zustand und habe sich erst mit der Zerstreuung des Volkes in voller Blüte entfaltet. Die Juden hätte seit Jahrtausenden »politisch kein eignes Haus«, sie »hausierten« vielmehr bei den anderen Völkern. »Sie sind«, schlussfolgerte Dühring, »ein zersetzendes Element geworden, welches sich in die andern Völker eindrängt und deren politisches Gefüge zum Vortheil der auserwählten Interessen ausnutzt.«89 Solche Argumentationen liefen stets auf das Eindringen der jüdischen Nomaden in die sesshaften Kulturen des Abendlandes hinaus, in denen sie eine »zerstörende Wirkung« ausübten: die Juden als 88 Reichenbach, Nach der Hatz, S. 6. 89 Dühring, Die Judenfrage als Frage der Racenschädlichkeit, S. 80.

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»wirksames Ferment des Kosmopolitismus und der nationalen Decomposition«, wie man mit gelegentlichem, verfremdenden Bezug auf Mommsen behauptete.90 Die bedrohte Nation lieferte den Dreh- und Angelpunkt dieser Argumentation: »Indem sich das Judenthum selbst in diese Masse mischt, dieselbe immer flüssiger und beweglicher macht und in fortwährender Bewegung erhält, verhindert es nicht nur ein Wiederansetzen derselben an die noch bestehenden festen Theile des Staates, sondern es unterwühlt, unterspült und lockert dieselben mit steigender Gewalt immer mehr, so daß auch sie, endlich zerfallen, in der wachsenden Fluth versinken müssen.«91

Mit der Reichsgründung und der damit verbundenen Unsicherheit, wie die Nation zu gestalten sei, erhielt dieses Muster gerade unter gebildeten Bürgern große Plausibilität. Die Assoziation des Judentums mit Wanderung bot dabei den argumentativen Hintergrund für die Debatte über die jüdische Einwanderung aus dem Osten, die Heinrich von Treitschke auslöste: »[...] über unsere Ostgrenze aber dringt Jahr für Jahr aus der unerschöpflichen polnischen Wiege eine Schaar strebsamer hosenverkaufender Jünglinge herein, deren Kinder und Kindeskinder dereinst Deutschlands Börsen und Zeitungen beherrschen sollen; die Einwanderung wächst zusehends, und immer ernster wird die Frage, wie wir dies fremde Volksthum mit dem unseren verschmelzen können.«92

Treitschkes rhetorisch gekonnte Angriffe deuten jedoch über das Nationale hinaus, wie andere ähnliche Texte ebenfalls: Der Nomade dringe nicht nur ein, er verändere auch die Kultur der Sesshaften, indem er – vom Hosenverkaufen zur Herrschaft über Börse und Presse – unliebsame Kulturtechniken aus dem fernen Osten zu verbreiten helfe. Hier erst wurde die Frage dringlicher: Was hatte als kultureller Maßstab der »Verschmelzung« zu dienen? Insofern griffen jene Verteidigungsversuche zu kurz, die lediglich Treitschkes Tatsachenbehauptungen über die Einwanderung in Zweifel zogen.93 Die Autoren der Flugschriften zur »Judenfrage« setzten eine bestimmte, nämlich ihre Bildungskultur als Maßstab für die Nationalkultur. Eine Zersetzung und Verflüssigung des nationalen Körpers bedrohte zugleich ihre bürgerliche »Leitkultur«, die sie mit hegemonialem Anspruch vertraten. Das Muster des Nomaden implizierte somit die bildungskulturelle Orientierung auf einen erstarkten Nationalismus, die aber gerade nicht mehr selbstverständlich, sondern in der jungen Nation zutiefst umstritten war. Wie gefestigt war der eigene Nationa90 Wilmanns, S. 61. 91 Anonymus, Fremdlinge in unsrem Heim!, S. 50. 92 Treitschke, Über unser Judenthum, S. 2. 93 Für einen jüdischen Verteidigungsversuch vgl. Neumann. Treitschke veröffentlichte seine uneinsichtige Antwort in: Treitschke, Notizen: Die jüdische Einwanderung in Deutschland, BAS, Bd. 2, S. 800–802. Vgl. zu diesem Komplex auch Regneri.

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lismus? Waren die Juden nicht doch viel eher die Nation schlechthin; schließlich hatte ihr Zusammengehörigkeitsgefühl sie schon seit Jahrtausenden überleben lassen? Die Nähe zwischen Eigen- und Fremdbild konnte auch hier nur mit großem rhetorischem Aufwand geleugnet werden. Die beschriebenen Kommunikationsmuster besaßen eine beachtliche Überzeugungskraft, weil sie auf dieselbe Fragen nach dem Wesen der Juden ganz unterschiedliche Antworten lieferten. Mit ihnen ließ sich die Wandelbarkeit der Juden betonen (wie im Bild des Parvenüs) oder das genaue Gegenteil: das unveränderliche jüdische Wesen (wie im Talmudisten). Gleichzeitig zirkulierten darin Beobachtungen aus der unmittelbaren Gegenwart (wie im Muster des Materialisten) und, im selben Moment, Vorstellungen aus einer weit entfernten Vorzeit (wie im Bild des Nomaden). Die Muster umfassten zudem sowohl weltliche als auch religiöse Aspekte und mischten Bilder des Eigenen mit Bildern des Fremden. Dieses Oszillieren zwischen sich eigentlich ausschließenden Ansichten verlieh allen Debatten über die »Judenfrage« etwas Unangreifbares: Es schien, als sei die Flugschriftenkommunikation immer schon da, als konnte sie jedem Gegenargument mit einem Ausweichmanöver entgegentreten, gerade diesen Aspekt doch ebenfalls zu behaupten. Gleichwohl muss man dieses Oszillieren noch genauer betrachten. Im Idealfall zielten die Autoren auf eine einfache Struktur: Hier die Juden, da die Protestanten. Dabei wurden die Juden als klare ›Outsider‹ porträtiert. Stellvertretend für andere Autoren sei Franz Stöpel angeführt, der behauptete, dass der Hauptgrund für die Beunruhigung über die »Judenfrage« der Umstand sei, »daß man, namentlich in Deutschland, eine nicht unbeträchtliche Anzahl Juden rasch zu großen Reichthümern gelangen und in der That eine sehr gefährliche Macht werden sieht.«94 Dieser Macht müsse man versuchen, durch »solidarisches Beispiel« »bessere Sitten aufzunöthigen«.95 Die Juden standen demnach außerhalb der eigenen Kultur, mit deren Hilfe es vielmehr galt, sie zu ›zivilisieren‹. Es war wesentlich für diese Sichtweise, dass die eigene Kultur, die »besseren Sitten« der Bildungskultur, als Instrument der kulturellen Integration und Transformation normativ vorausgesetzt wurde. Um die bürgerliche Bildungskultur legte sich somit eine Art »Cordon sanitaire«, der sie zugleich abschottete, bestätigte und aufwertete. Den Kommunikationsmustern des Jüdischen standen die positiven Eigenschaften gebildeter Bürger gegenüber: Hinter dem Parvenü stand der kulturschaffende Bürger, dessen gesellschaftliche Position auf eine gediegene, über Generationen angeeignete Bildung gegründet war, hinter dem Talmudisten die autonome bürgerliche Sittlichkeit, hinter dem Materialisten der Idealismus der nach Echt- und Wahrheit strebenden gebildete Bürger und hinter dem Nomaden die tiefe Verwurzelung in einer nationa94 (Stöpel), S. 36. 95 Ebd., S. 37.

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len Kultur. Diese Gegenbilder – Kulturfähigkeit, Sittlichkeit, Idealismus, Nationalismus – verkörperten rhetorische Eckpfeiler der bürgerlichen Bildungskultur des 19. Jahrhunderts: Sie waren die bürgerlichen Kardinaltugenden, denen die gebildeten Juden niemals zu genügen schienen. Doch funktionierten die Kommunikationsmuster des Jüdischen keineswegs so eindeutig, wie es sich ihre Autoren erhofften. Jedes von ihnen war, wie die Analyse gezeigt hat, in sich instabil, d.h. in ihm blieben sowohl Negativ- als auch Positivbild eingeschrieben. Die Flugschriftenverfasser konnten nicht gänzlich abstreiten, dass der jüdische Parvenü sich an die Bildungskultur angepasst hatte. Er stellte ja überhaupt nur deshalb ein Problem dar, weil er nicht mehr als ungebildet gelten konnte. Auf ganz andere Weise mischten sich in das Muster des Talmudisten positive Anteile. Wenn die jüdische Religion eine solche verachtungswürdige Entwicklung genommen hatte, wieso war dann überhaupt das Christentum aus ihrer Mitte entstanden? Musste man dafür nicht ein positives Judentum behaupten? Schließlich konnte man sich fragen, ob es nur Juden waren, die Materialismus und Kosmopolitismus verkörperten. Waren das nicht weit verbreitete Eigenschaften der protestantischen Kultur, die rundweg abzulehnen gar nicht unkompliziert war? Vertraten nicht einflussreiche Gelehrte der Gegenwart, vor allem in den Naturwissenschaften, eine materialistische Weltsicht? Wurden nicht deutsche Geistesgrößen des 18. Jahrhundert für jenes universelle Weltbürgertum gefeiert, das man jetzt in den Juden ablehnte? Und war diese Ablehnung berechtigt? Es brauchte nicht viel an rhetorischem Aufwand, um die Juden als das idealistischste und nationalistischste Volk der Weltgeschichte hinzustellen; dafür bürgte ihre religiöse Standhaftigkeit und ihr nationaler Überlebenswille. In den Kommunikationsmustern selbst waren diese Widersprüche enthalten; schließlich wurde z. B. in einem Muster behauptet, die Juden seien verstockt und würden an erstarrten Traditionen festhalten (im Talmudisten), während es in einem anderen von ihnen hieß, sie seien Motoren traditionsgefährdender Veränderungen (im Materialisten). Gelegentlich kamen die Autoren der Flugschriften deshalb nicht umhin, die kompliziertere Wirklichkeit anzuerkennen. Dabei zeichneten sie die Juden stärker als ›Insider‹: Der soziale und kulturelle Aufstieg der Juden wurde registriert und in einem erstaunlichen Maße als erfolgreich gekennzeichnet. Zitiert sei für diesen Zusammenhang Heman: »Man mag von den Juden denken, was man will, das Zeugnis wird man ihnen nicht versagen können, daß sie in wenigen Jahrzehnten das Menschenmögliche geleistet und sich aus dem Staube ohnmächtiger, zertretener cultur- und bildungsarmer Parias auf die Höhe unserer Künste und Wissenschaften, und vielfach sogar an die Spitze der wichtigsten Geschäfte zu stellen vermocht haben.«96 96 Heman, S. 33f.

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Diese kulturelle Adaptationsleistung problematisierte allerdings – nicht nur in den Augen dieses Theologen – jenen kulturellen Zusammenhang, dessen Aneignung zur Debatte stand. »Die Zustände der europäischen Staaten müssen in rapider Zersetzung und Auflösung begriffen sein, dass sie den Juden ein solch rapides Eindringen, Aufschwingen und sich zu Herrn der Situation zu machen ermöglichten […].«97 Nur auf diese Weise konnte sich Heman erklären, dass in einigen Staaten der jüdische Einfluss insbesondere auf geistigem Gebiete so stark gewachsen sei, dass die Juden die »christlichen Culturzustände« durch eine »moderne, kosmopolitische und sogar specifisch jüdisch gemodelte Cultur« zu verdrängen versuchten.98 Während also einige Flugschriftenautoren einen Schutzzaun um die bürgerliche Bildungskultur zu errichten versuchten, mit dem sie fixiert und bestätigt werden sollte, sahen sie andere in einer grundlegenden Krise. Aus beidem ergab sich die Position der Juden: einmal außerhalb, einmal innerhalb dieser Kultur. Gleichwohl waren beide Sichtweisen nicht weit voneinander entfernt: Während die eine vor allem die Symptome – die Krise – registrierte, stellte die andere in der Festschreibung der Kultur eine Reaktion dar. In beiden Fällen erschien die Bildungskultur als bedroht und instabil: Gerade der Ausweis ihrer Wirkungsmacht – nämlich die Tatsache, dass sie seit dem frühen 19. Jahrhundert als Integrationsideal an die Juden herangetragen und von diesen akzeptiert worden war – gefährdet sie zugleich. Die Juden hingegen imaginierte man in einer grundlegenden Ambivalenz als ungenügende Mitglieder der Bildungskultur: Entweder wurden sie nicht vollständig in die Bildungskultur aufgesogen oder Teil einer Kultur, die damit ihres wahren Kernes verlustig gegangen war. Stets konnten die Juden selbst dann draußen bleiben, wenn sie eigentlich drinnen waren. Sie besaßen wahre Bildung, tiefe Sittlichkeit, echten Idealismus und treuen Nationalismus – und besaßen alles das doch nicht. Es gab noch zwei weitere Gruppen, die an der Flugschriftenkommunikation teilnahmen: die protestantischen Gegner der Antisemiten und die Juden. Wenn man sich die Pamphlete anschaut, die als Gegenschriften offensiv gegen die Antisemiten gerichtet waren, lassen sich zwei Varianten unterscheiden.99 Auf der einen Seite traten Liberale gegen die Antisemiten an, weil sie deren Schriften als Angriff auf sich werteten. Die »Judenfrage« erschien ihnen nur als ein weiterer Affront gegen liberale Gesellschaftsvorstellungen, nach denen die rechtliche und gesellschaftliche Gleichstellung der Juden als ein unumkehrbarer Bestand des modernen, freiheitlichen Staatswesens zu gelten hatte. Es ging 97 Ebd., S. 34. 98 Ebd. 99 Die Flugschriften, die sich gegen die Antisemiten richteten und von protestantischen Autoren stammten, bildeten innerhalb der Flugschriften von Protestanten eine Minderheit von weniger als zwanzig Prozent; gegenüber der Gesamtheit aller erfassten Texte machten sie sogar weniger als zehn Prozent aus.

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diesen Autoren keineswegs um eine Verteidigung der Juden als solche; vielmehr lag ihr Interesse in einer politischen Auseinandersetzung über das Prinzip der Emanzipation. Die zweite Autorengruppe, fast immer mit theologischer Ausbildung und nicht selten in einem geistlichen Amt, richtete Flugschriften gegen die Antisemiten, weil es sich für sie um einen Konflikt über das richtige Verständnis des (protestantischen) Christentums handelte. Sie sahen durch die antisemitischen Angriffe das Gebot christlicher Nächstenliebe verletzt und verstanden das wiederum als ein Symptom der um sich greifenden Entchristlichung der Gesellschaft. Auch auf dieser Seite lag kein Bemühen vor, die Juden als solche zu verteidigen, zumal in den entsprechenden Texten häufig die theologischen Differenzen zur jüdischen Religion hervorgehoben wurden. Es finden sich in den Gegenschriften von protestantischer Seite prinzipiell drei verschiedene Argumentationstypen: Fakten gesättigte Widerlegungen, moralische Vorhaltungen sowie ambivalente Problematisierungen, die sich bis zu integrationalistischen Veränderungsaufforderungen auswachsen konnten. Nur selten ist ein bestimmter Text ausschließlich von einem dieser Aspekte geprägt; sie treten häufig an verschiedenen Stellen derselben Texte auf. Einige Texte bemühten sich in einzelnen Fragen um eine mehr oder weniger detaillierte Widerlegung der gegen Juden gerichteten Vorwürfe. Ein gutes Beispiel dafür lieferte die Flugschrift »Die moderne Judenhetze« (1879) von Andreas Reichenbach, in der er die typischen Argumente gegen Juden nacheinander erörterte und zu widerlegen versuchte.100 Die Verteidigungslinie war dabei zumeist von zwei Argumentationen geprägt: Einerseits führte man bestimmte Defekte unter den Juden auf historische Entwicklungen zurück, welche durch die Schuld der Christen entstanden seien. Andererseits meinten diese Schriften den Antisemiten entgegenhalten zu können, dass viele der Vorhaltungen, die sie den Juden machten, auch auf die allgemeine Gesellschaft zuträfen, ja, gelegentlich, dass das eigentliche Problem in ihr zu sehen sei. Beide Argumentationen besaßen jedoch eine Schwachstelle: Sie ließen sich auf die Erörterung von Fehlern der Juden ein und mussten damit ihren Gegner stets (zumindest teilweise) Recht geben. Charakteristisch für die moralischen Vorhaltungen, derer sich manche Schriften gegen die Antisemiten bedienten, waren die Veröffentlichungen des schlesischen Pastors Bernhard Gruber: »Der neue Sturm der Judenfrage« sowie »Christ und Israelit«, beide aus dem Jahre 1880. Als protestantischer Geistlicher sah sich Gruber verpflichtet, zur »Judenfrage« Stellung zu nehmen und ein »Friedenswort« zu sprechen: »Tritt denn Niemand aus der Kirche auf, um zu zeigen, daß ihre eifernden Glieder dem Fanatismus ihrer Leidenschaft das große Prinzip des Christenthums, die weltumfassende und weltversöhnende Liebe 100 Vgl. Reichenbach, Die moderne Judenhetze.

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opfern […]?«101 Die protestantische Religion, von der aus Gruber argumentierte, verpflichte zur Liebe gegenüber Israel und schließe bestimmte Vorwürfe aus: So sei es irrig zu behaupten, dass das »Volk des Glaubens schlechthin« »alles Idealismus bar und ledig« sei.102 Das Christentum besitze seine Wurzeln im Judentum; da Deutschtum Christentum sei, dürfe es keine radikale Gegenüberstellung von semitischem und germanischem Geist geben. Hier drohe ein weiterer Abfall vom Christentum – eine Tendenz, die in der Gegenwartskultur bereits die größten Probleme verursache. Gruber zeigte sich bereit zuzugestehen, dass einzelne Juden für den Materialismus und Kosmopolitismus in der Gegenwartskultur besonders empfänglich seien; nur habe das nichts mit dem Wesen des Judentums zu tun, sondern stelle eine Konsequenz der säkularisierten Kultur dar. Wie bei Gruber argumentierten diejenigen Schriften, die den Antisemiten moralische Vorhaltungen machten, häufig religiös, wobei die konkreten Wertorientierungen der Texte eine weitgehende Ausrichtung an der bürgerlichen Bildungskultur verrieten.103 Das wurde jeweils in den Krisenwahrnehmungen deutlich, welche die Grundlage für den moralischen Standpunkt bildeten. In der deutschen Hauptstadt habe die »Gottlosigkeit ihr freches Maul« aufgetan, und es seien »Tausende von Lästerungen« laut geworden – so umschrieb der Reichstagsabgeordnete Michael Baumgarten seinen Eindruck vom Hofprediger Stoecker und seiner Bewegung.104 Die moralischen Vorhaltungen, die sich in solchen Flugschriften offen legen lassen, verweisen auf das Dilemma, in das sich viele zeitgenössische Kritiker der Antisemiten verstrickt sahen: Auf der einen Seite teilten sie mit ihnen die Unsicherheiten über die Gegenwartskultur des neuen Reiches; auf der anderen Seite wollten sie sich der These verweigern, dass die Juden an den kulturellen Fehlentwicklungen schuld seien. Aus diesem Zwiespalt gab es zwei Auswege: Der eine – den man bei Gruber beobachten konnte – lag in der Selbstanklage. Nicht die Juden seien für die Veränderungen verantwortlich, sondern man selbst entferne sich von der rechten moralischen Haltung immer weiter. Der andere Ausweg eröffnete sich, wenn man klassische theologische Motive für diese moralische Abwehr des Antisemitismus erneuerte. Wer die »Judenfrage« thematisiere, müsse laut Baumgarten wissen, dass er ein »Geheimnis« anspreche, welches für alle Ungläubigen »mit sieben Siegeln« verschlossen sei: 101 Gruber, Der neue Sturm der Judenfrage, S. 4. Die Hervorhebungen befinden sich im Original. 102 Gruber, Christ und Israelit, S. 8f. 103 Weitere Beispiele für diese Art der Schriften lieferte Paulus Cassel. Vgl. z. B. Cassel, Die Antisemiten und die evangelische Kirche, und ders., Der Judengott und Richard Wagner. Eine interessante Untergruppe bilden im Übrigen die Schriften von Freireligiösen. Vgl. u. a. Scholl oder Hofferichter. 104 Baumgarten, S. 3f.

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»Von Abrahams Berufung bis zum himmlischen Jerusalem geht durch die Tiefen der Völkerwelt und der Menschheit ein Strom des ewigen Lebens und erst dann, wenn das siebente Siegel gelöst sein wird, erst dann wird man den Wundergang übersehen und verstehen, erst dann wird man auch völlig begreifen, was es mit dieser unserer Gegenwart ist.«105

Selbst die »Judenfrage«, die als ein ewiges Geheimnis nicht in dieser Welt zu klären sei, blieb aber eine Frage; die Juden blieben ein Problem. Das war auch dann noch der Fall, wenn man die »Judenfrage« nur als ein Teil eines allgemeinen Kulturproblems ansah. Die moralischen Vorhaltungen, die bestimmte Autoren gegen die antijüdische Bewegung erhoben, blieben insofern in ihrer Aussage widersprüchlich. Der Argumentationstyp der ambivalenten Problematisierung ist der interessanteste unter den Schriften gegen die Antisemiten. Der Historiker Ludwig Quidde veröffentlichte 1881, im Jahr seiner Promotion, anonym die Flugschrift »Die Antisemitenagitation und die deutsche Studentenschaft«. Darin argumentierte er gegen die unter seinen Kommilitonen verbreitete Bereitschaft, sich aktiv aufseiten der Antisemiten in die Debatten einzumischen. An seinem Text kann man erkennen, dass es die bürgerliche Bildungskultur den protestantischen Autoren unmöglich machte, eine Schrift gegen die Antisemiten zu verfassen, die zugleich eine Verteidigungsschrift für die Juden darstellte. Quidde sah hinter der »Antisemitenbewegung« durchaus berechtigte Elemente, auch wenn er sie in einzelnen Auswüchsen scharf zu verurteilen wusste. Er bestritt insbesondere den Studenten die sittliche Reife, in einer so wichtigen sozialen Frage die politische Arena betreten zu dürfen. Gleichzeitig suchte er nach den Ursachen für die Bewegung, die er in sozialen und wirtschaftlichen Missständen, aber auch in einem falsch verstandenen Liberalismus sah. Quiddes Zugeständnisse hingen stets mit vorhandenen Missständen in der deutschen Gesellschaft zusammen, für welche er in der Tat Juden verantwortlich machte. Wie so viele andere protestantische Autoren bestritt Quidde die Existenz der »Judenfrage« nicht; er konstatierte einen ererbten »Widerwille[n], den der christlich-germanische Deutsche im Allgemeinen gegen den Juden hegt«.106 In der antisemitischen Agitation sah Quidde eine »Reaction gegen religiösen Liberalismus und Radicalismus, gegen die moderne Bekenntnißlosigkeit, gegen Skepticismus und Materialismus« – Entwicklungen, die dem jungen Historiker ebenfalls nicht behagten und die auch er den Juden anzulasten bereit war. Daraus ergab sich Quiddes Aufforderung zur Läuterung: »Was wir zu thun haben, das ist, uns selbst tüchtig zu machen, um den Einflüssen, die man jetzt als Verjudung bezeichnet, zu widerstehen [...], jenen auch in uns mächtigen Geist des Materialismus niederzuhalten, der überall vor dem Götzen der Macht auf 105 Ebd., S. 14. 106 (Quidde), S. 7.

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den Knien liegt, vor dem Einfluß, der unsere Carriere bestimmt und dem Gelde, das die materiellen Genüsse des Lebens verschafft.«107

Der junge Promovend Quidde konnte die »Judenfrage« nur als ein in der Tat existierendes Problem wahrnehmen, weil er, ganz gebildeter Bürger, der er war, sie als Teil einer umfassenderen Kulturkrise auffassen musste. Auch wenn man nicht gewillt war, alle Argumente der Antisemiten zu akzeptieren – so lässt sich die ambivalente Haltung in dieser Art Schriften beschreiben –, einige Probleme mit den Juden gab es ja durchaus. Viele entsprechende Abhandlungen leiteten aus einem ähnlichen Krisengefühl Forderungen an die Juden ab, sich zu ändern. Die Texte dieser »Judengenossen«, wie sie von ihren Gegnern polemisch genannt wurden, waren gespickt mit entsprechenden Empfehlungen und Ermahnungen. Dieser Integrationalismus drückte sich beispielsweise bei Franz Stöpel aus, der die säkularisierten Juden zum Verzicht aufforderte, »ein ›specifisches Judenthum‹« zu pflegen«. Vielmehr sollten sie »in offener und herzlicher Gemeinschaft mit ihren Gesinnungsverwandten anderen Stammes« nach einer Religion streben, die »von allen confessionellen Beengtheiten frei« und nur der »Pflege des vollen und reinen Menschenthums« verpflichtet sei.108 Bei Pastor Gruber verband sich der paradox formulierte Wunsch, dass die Juden »Deutsche bleiben und Deutsche von ganzem Herzen werden« mögen, mit der Hoffnung, dass eines Tages die »Schranke« fallen möge, »die zwischen dem innersten Leben des Christen und Juden aufgerichtet bleibt, die religiöse«.109 Die bürgerliche Bildungskultur wirkte im Hintergrund dieser Texte. Sie lieferte Begründungen, um die stattfindende Integration der Juden zu verteidigen, verhinderte aber gleichzeitig die Verteidigung der Juden selbst, da es eigentlich um ihre eigene Hegemonie ging. Der Integrationalismus besaß zwei Seiten. Vordergründig erging mit ihm eine mehr oder weniger deutliche Aufforderung an die Adresse der Juden, sich zu ändern, wobei deren entsprechenden Bemühungen quasi per Definition beständig ungenügend erschienen. Hintergründig sorgte der Integrationalismus jedoch dafür, dass die Bildungskultur normativ aufgeladen und durch Abgrenzung festgeschrieben wurde. Jeder Autor konnte aus einem ganzen Arsenal von Kardinaltugenden wie Treue, Bescheidenheit, Ernst oder Humanität nach Belieben auswählen und z. T. eigenwillige Kombinationen und Begründungszusammenhänge herstellen. Die Analyse derjenigen Flugschriften, mit denen sich Autoren gegen die antisemitische Bewegung richteten, führte in letzter Konsequenz zu einem klaren Ergebnis: Die protestantischen Verfasser schrieben keine Verteidigungsschriften für die Juden als solche, sondern arbeiteten sich an den antisemitischen Äußerungen ihrer Zeitgenossen ab. Sie waren Gegner der Juden107 Ebd., S. 12. 108 (Stöpel), S. 17. 109 Gruber, Der neue Sturm der Judenfrage, S. 12 ff.

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feinde, keine Freunde der Juden, weil sie im Rahmen der bürgerlichen Bildungskultur argumentierten. Die letzte, allerdings bedeutende Gruppe, die an der Flugschriftenkommunikation teilnahm, waren die Juden. Das sollte man nicht vorschnell als Selbstverständlichkeit abtun. An solcher Kommunikation teilnehmen zu können, bedeutete, eine ganze Reihe kultureller Verkehrsregeln verinnerlicht zu haben. Darin drückt sich vor allem ein Zugehörigkeitsgefühl aus, weil man die Probleme, die dort verhandelt werden, als die eigenen akzeptiert hatte. Das zentrale Dilemma der jüdischen Flugschriftenverfasser tritt demgegenüber umso deutlicher hervor: Sie mussten als Juden auftreten und zugleich im Namen des Allgemeinwohls zu sprechen versuchen. Dass die Juden sich an die ungeschriebenen Codes orientierten, mit denen die bürgerliche Bildungskultur legitimes Sprechen in der Öffentlichkeit strukturierte, kann kaum bezweifelt werden. Die überwiegende Mehrheit der jüdischen Flugschriften stammte von gebildeten Juden, ihre Form und Inhalt dokumentierten diese Orientierung. Wie konnte jedoch ein Jude eine Verteidigung seiner Identität schreiben, war es doch ein Leichtes, ihn als parteiischer Betroffener abzuklassifizieren? Die einzige Möglichkeit bestand darin, die eigene jüdische Identität gegen den Vorwurf des Partikularismus zu verteidigen und sie nicht als Widerspruch zum Allgemeinwohl zu verstehen. Gleichwohl hatte ein solches Vorgehen nicht nur taktische Gründe. Es passte gleichsam zu einer länger existierenden Tendenz, die jüdische Tradition im Sinne eines menschheitlichen Universalismus zu deuten. Die Auseinandersetzung der deutschen Juden mit dem Bildungsideal und der Bildungskultur der protestantischen Umwelt, die seit dem Ende des 18. Jahrhunderts verstärkt stattgefunden hatte, generierte solche Überzeugungen. Zugleich waren dabei überkommene religiöse Vorstellungen, insbesondere der jüdischen Auserwähltheit, umgewandelt und angepasst worden. Vor diesem Hintergrund ist es zu verstehen, dass die Flugschriften der gebildeten Juden an vielen Stellen von dem Kommunikationsmuster des Menschheitsjuden geprägt waren. Zunächst allerdings ähnelten sie an zwei offensichtlichen Punkten den Schriften derjenigen Protestanten, die sich gegen die Antisemiten wandten. Auch sie benutzten die Argumentationstypen der Fakten gesättigten Widerlegung und der moralischen Vorhaltung. Der jüdische Sanitätsrat E. Lefson etwa bemühte sich, in seinem offenen Brief »Anti-Stöcker« bei aller Polemik auch eine detaillierte Widerlegung von dessen Reden zu liefern.110 Zu einer noch sachlicheren Argumentationsweise rang sich David Kaufmann in der schon erwähnten Schrift gegen den Hofprediger durch.111 Moralische Vorhaltungen fanden sich ebenfalls in vielen Repliken; besonders die Empörung über die schamlosen Angriffe drang oft ungefiltert in die Texte. Als der Redakteur der 110 Vgl. Lefson. 111 Vgl. (Kaufmann).

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orthodoxen »Jüdischen Presse« Seligmann Meyer auf die antisemitischen Angriffe von Treitschke antworten musste, wies er dessen Vorgehen, das die »heiligsten patriotischen Gefühle« der Juden beleidige, in »tiefster Entrüstung« zurück.112 Meyer war es auch, der in einer weiteren Widerlegung auf eines der Hauptargumente in der jüdischen Flugschriftenkommunikation rekurrierte. Das Judentum sei eine sittliche Religion, deren Kern zum Erbe der Menschheit gehöre und damit auch von Nichtjuden nicht ignoriert werden könne: »Ein wahrer Deutscher hat dagegen keinen Grund, gegen das Judenthum feindlich aufzutreten, denn der Geist des Deutschthums hat als integrirenden Theil die Sittenlehre des Judenthums durch den Canal des Christenthums in sich aufgenommen.«113 Das universalistische Wesen des Judentums wurde in den Flugschriften von jüdischen Autoren häufig bemüht. Die Erben jener Religion, die als erste den Glauben an den einen Gott durchgesetzt und mit den Zehn Geboten eine universelle Sittlichkeit etabliert hatte, konnten unmöglich so verderbt sein, wie es die Antisemiten behaupteten. Im Gegenteil, viele jüdische Autoren zeigten sich überzeugt, dass die Juden immer noch Träger des Heils seien, die auch in der Gegenwart eine kulturelle Mission besäßen. In der Flugschrift »Der geklärte Judenspiegel« des Rabbiners Leopold Stein spürte man sogar kaum kaschierten Stolz über die Vorwürfe der Antisemiten: »Das ist das Selbstgefühl, welches den Juden der Neuzeit erhebt, die Hoffnung, die uns zuversichtlich beseelt, daß unsere Angelegenheit mit den hohen Angelegenheiten der Menschheit Hand in Hand geht, daß unsere Feinde selbst unsere Sache mit der Sache des Fortschritts als ein und dieselbe erklärt haben.«114

Die Juden als Motor des Fortschrittes in den »hohen Angelegenheiten der Menschheit« – die jüdischen Flugschriftenautoren, die jenseits einer detaillierten Widerlegung antisemitischer Beschuldigungen nach einem grundsätzlichen Modus suchten, um die jüdische Existenz in der modernen Gesellschaft zu rechtfertigen, griffen auf die Figur des Menschheitsjuden zurück. Darin steckte auch eine Art mahnender Selbstverpflichtung. Viele gebildete Juden stimmten der Klage gebildeter Protestanten über den Einflussverlust der bürgerlichen Bildungskultur zu und prangerten Materialismus und Partikularinteressen unter den eigenen Glaubensbrüdern an. Mit dem Rekurs auf die Sittlichkeit und den Universalismus, mithin auf die Figur des Menschheitsjuden, suchten sie daher nicht nur nach außen die Moral des Judentums zu verteidigen, sondern auch nach innen ein entsprechendes Verhalten einzuklagen. So schloss der Erfurter Rabbiner, Jecheskel Caro, eine Predigt über die antisemitischen Exzesse mit einer klaren Aufforderung an jedes seiner Ge112 Meyer, Ein Wort, S. 13. 113 Meyer, Zurückweisung, S. 12. 114 Stein, Der geklärte Judenspiegel, S. 30f.

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meindemitglieder. »Um Deines Menschthums willen, das man vernichten, um Deines Glaubens willen, den man verachtet, um Deiner Glaubensgenossen willen, die man in den Staub treten will, wandle grad und redlich vor Gott […].«115 Der jüdische Universalismus funktioniert auf mehreren Ebenen. Erstens sollte, wie schon an anderer Stelle ausgeführt, Universalismus Nähe zu den gebildeten Protestanten produzieren. Mit der Betonung der gemeinsamen abendländisch-europäischen Zivilisation konnte die Integration und Akkulturation der Juden gerechtfertigt werden. Zweitens gaben gebildete Juden damit religiösen Vorstellungen der Auserwähltheit ein neues Gewand. Drittens versuchten sie so, dem fatalen Eindruck des Partikularen zu entkommen. Wenn Juden als Juden behaupten wollten, dass auch sie nach Universalismus strebten, lag darin für Protestanten ein performativer Widerspruch, da der allgemeine Anspruch durch das Judesein negiert sei. So mussten Juden zunächst die Daseinsberechtigung des Judentums im Reich der Universalien nachweisen und das Kommunikationsmuster des Menschheitsjuden war ihre entsprechende Strategie.

3.3 Die Selbstimmunisierung einer Debatte. Das kommunikative Gefälle in der »Judenfrage« Flugschriften, deren mediale Bedeutsamkeit für die politischen Debatten des 19. Jahrhunderts unterschätzt wird, prägten die Diskussionen über die so genannte »Judenfrage« – und das nicht nur durch die Tatsache, dass fast jeder Beitrag (früher oder später) in dieser Publikationsform erhältlich war. Der Charakter der Flugschriftenkommunikation beeinflusste die Inhalte der »Judenfrage«. Die Flugschriften wurden vornehmlich von Bürgern für Bürger geschrieben; der Anteil gebildeter Bürger an dieser Kommunikation war beachtlich. Die besondere Form dieses Mediums erlaubte den unterschiedlichsten Autoren eine schnelle Vermittlung des eigenen Standpunktes zu einem drängenden Thema der Öffentlichkeit – und damit die ungehinderte Teilnahme an der öffentlichen Debatte. Bestandteile der Alltags- drangen dadurch in die mediale Kommunikation. Insgesamt erhielt die Flugschriftenkommunikation so einen anarchischen Charakter, der unter den Bürgern zugleich Ängste aktualisierte, welche die scheinbar ungeregelte Öffentlichkeit sowieso schon auslöste. Flugschriften waren insofern ein problematisches Medium, so dass sich jeder Teilnehmer an der Flugschriftenkommunikation zusätzlich legiti115 Caro, S. 8.

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mieren musste, weshalb sich insgesamt ein vergleichsweise sachlicher Ton in diesen Debatten durchsetzte. Der ungeregelte, bedrohliche Charakter der Flugschriftenkommunikation konnte zugleich Teil der »Judenfrage« selbst werden: Wie der Gegenstand so drohte das Medium, in dem über ihn räsoniert wurde, außer Kontrolle zu geraten. Inhaltlich wurden in der Flugschriftenkommunikation die Wahrnehmungsmuster der früheren Debatten aktualisiert, d.h. auf die gegenwärtige Lage bezogen und erheblich politisiert. Sie wurden damit zu Mustern, welche die Kommunikation unter Bürgern – und vor allem unter den Gebildeten – strukturierte. Die kommunikative Ausweitung, mit der immer mehr Teilnehmer immer öfter über das ausufernde Problem sprachen, verband sich mit einer Normativierung als Gegenstrategie, durch welche die bürgerliche Bildungskultur als Allheilmittel in den öffentlichen Debatten propagiert wurde. Das erwies sich als besonders schwierig, weil die einzelnen Kommunikationsmuster des Parvenüs, des Talmudisten, des Materialisten und des Nomaden auf eine eigentümliche Weise zwischen Negativ- und Positivvorstellungen oszillierten. Die Tatsache, dass es nie gelang, die Juden auf eine eindeutig negative Zuschreibung festzulegen, trieb die Konstruktionen hingegen umso mehr an. In gewisser Hinsicht immunisierte sich hier die »Judenfrage« selbst, indem praktisch kein Einwand gegen die zutiefst instabile Argumentationsstruktur möglich war. Die Versuche von protestantischen Gegnern, den Antisemiten mit Argumenten oder Vorhaltungen beizukommen, scheiterten vor allem an der Verstrickung dieser Autoren in die argumentativen Standards der Bildungskultur. Die gesamte Frage zu problematisieren, wie es der Journalist Richard Nathanson gefordert hatte, war nahezu unmöglich. In der Flugschriftenkommunikation um die »Judenfrage« redeten Juden wie Protestanten öffentlich über ihre eigene Bildungskultur – und zugleich über das öffentliche Reden selbst: Wie sollte man legitimerweise – »rechtmäßig« war der Begriff, den Nathanson bemüht hatte – sprechen? Die Problematik, ob und wenn ja, in welcher Form die »Judenfrage« öffentlich verhandelt werden sollte, beschäftigte viele der Flugschriftenautoren. Von antisemitischer Seite wurde angedeutet, dass die Juden ihre (vermeintliche) publizistische Macht ausnützten, um ihnen unliebsame Äußerungen zu unterdrücken. Als ein typisches Beispiel ließe sich hier Stoecker anführen: »Aber sehr merkwürdig ist, daß die jüdisch-liberalen Blätter nicht den Muth haben, auf die Klagen und Anklagen ihrer Angreifer zu antworten. Sonst erfinden sie den Skandal, wenn es keinen giebt; […] aber die Judenfrage suchen sie todt zu schweigen und vermeiden es durchaus, ihre Leser von jenen unangenehmen Stimmen irgend Etwas hören zu lassen.«116

116 Stoecker, S. 4f.

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Liberale und Juden andererseits glaubten hinter den antisemitischen Agitatoren eine konzertierte Aktion erkennen zu können, mit der die öffentliche Meinung im neuen Reich verändert werden sollte. »Es ist also kein Zweifel«, meinte der Jude und liberale Politiker Heinrich Bernhard Oppenheim, »daß die gegenwärtigen Versuche, eine Judenhetze zu bewerkstelligen, von langer Hand vorbereitet sind und daß sie mit dem systematischen Vorgehen einer politischen, kirchlichen und vor allem wirthschaftlichen Reaction zusammenhängen.«117 In Ansätzen drohte also für viele Bürger eine verschwörungsartige Beherrschung der öffentlichen Kommunikation. Die Frage, ob und wenn ja, wie man sich zu den Diskussionen verhalten sollte, beschäftigte ebenso viele jüdische Autoren. Anfang des Jahres 1880 – auf dem Höhepunkt des Streits um die antisemitischen Thesen Heinrich von Treitschkes – eröffnete der junge Philosoph und Neukantianer Hermann Cohen seine Flugschrift mit einem »Bekenntnis« seiner jüdischen Identität: »Es ist also doch wieder dahin gekommen, daß wir bekennen müssen. Wir Jüngeren hatten wol [sic!] hoffen dürfen, daß es uns allmählich gelingen würde, in die »Nation Kants« uns einzuleben [...].«118 Treitschkes Auftritt hatte für den Philosophen die Hoffnung auf eine baldige Integration in die Bildungskultur zerstört, auf die er mit der Rede von der »Nation Kants« anspielte. Gebildete Bürger wie Cohen, der ja als einer der ersten Juden eine ordentliche Professur an einer geisteswissenschaftlichen Fakultät erhalten hatte, hatten geglaubt, in der nichtjüdischen Kultur als Juden angekommen zu sein und damit ein Bekenntnis nicht mehr nötig zu haben. »Dieses Vertrauen ist uns gebrochen; die alte Beklommenheit wird wieder geweckt.«119 Sich bei einer öffentlichen Meinungsäußerung als Jude offenbaren zu müssen, bedeutete eine Niederlage; denn das brachte die Gefahr mit sich, nicht mehr »im Allgemeinen«, bzw. als auf Gemeinwohl, Idealismus und Sittlichkeit orientierter, gebildeter Bürger zu sprechen. Cohen ergriff als Jude das Wort, also als Vertreter partikularer, nämlich jüdischer Interessen. In der bürgerlichen Bildungskultur drohte er damit sein Sprechen sogleich wieder zu entwerten.120 Cohen hatte sich in seiner Schrift als Jude bekannt, andere Autoren vermieden diesen Schritt. Richard Nathanson veröffentlichte seine Schrift »Die Epoche der Begriffsverwirrung« unter dem Pseudonym Richard Norton. Es lässt sich darüber spekulieren, warum er einen so nichtjüdisch klingenden Namen wählte, um in der »Judenfrage« seinen Standpunkt öffentlich zu vertreten. Wiederum andere Autoren publizierten ihre Schriften anonym, etwa David Kaufmann, dessen »Name nichts zur Sache« tat. Auch wenn genauere Hinweise auf die Beweggründe dieser Unkenntlichmachung jeweils fehlen, lässt sich 117 118 119 120

Oppenheim, Zur Abwehr, S. 2. Cohen, Ein Bekenntniß, S. 3. Ebd. Vgl. Jensen, Falle der Partikularität.

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zumindest mutmaßen, dass diese Autoren ein Gespür dafür entwickelt hatten, dass sie ins Abseits der Öffentlichkeit gedrängt werden würden, wenn der Verfassername ihre jüdische Herkunft verriet. In diesem Zusammenhang lässt sich ein kommunikatives Gefälle beobachten, in dem gebildete Juden und Protestanten jeweils unterschiedliche Positionen in der öffentlichen Kommunikation zugeschrieben bekamen. Dieses Gefälle kalkulierten die Zeitgenossen durchaus mit ein. In einem Brief an Moritz Lazarus beklagte sich beispielsweise Franz J. Delitzsch 1883 über den mangelnden Absatz seiner Schriften, mit denen er vor allem gegen August Rohlings antisemitische Tiraden vorging. Der Verkauf seiner ersten Schrift sei »fast gleich Null« gewesen. Hingegen zeigte er sich überzeugt: »Antisemitische Schriften werden gekauft, und diese umso heißhungriger, je skandalöser sie sind […].«121 Delitzsch, der von problematischen Bezugnahmen auf die »Judenfrage« alles andere als frei war122, schloss seinen Brief mit der Behauptung: »Christliches Bekenntnis muß ich zugleich ablegen, sonst hätte mein Auftreten gar keinen Wert in den Augen der Gegner.«123 Den eigenen Standpunkt bekennen zu müssen, war Teil eines Mechanismus, dessen problematische Aspekte vor allem bei den jüdischen Verteidigern zum Tragen kamen. Gegen antisemitische Angriffe Stellung zu nehmen, warf automatisch die Frage nach den Beweggründen auf. Delitzsch widersprach den Antisemiten, glaubte aber bekennen zu müssen, dass er das als Protestant tat. Hingegen war ihm vollkommen klar: Einen solchen Schritt als Jude zu unternehmen, um die Juden zu verteidigen, hätte keinen Wert »in den Augen der Gegner« gehabt. Hier ergab sich eine Schieflage in den Debatten um die »Judenfrage«, die nicht zu beseitigen war. »Ach was, Sie sind ja nur ein Jude« – für die Gegner der Antisemiten entstand ein Bekenntniszwang, der zugleich für Juden und Protestanten unterschiedliche Folgen hatte.124 Dass die jüdische Identität der Autoren für die Bewertung ihrer Äußerung verstärkt herangezogen wurde, ist ein wesentlicher Unterschied zu den früheren Debatten über den jüdischen Charakter. In den wissenschaftlichen oder literarischen Auseinandersetzungen waren Juden Teil der Kommunikation gewesen: Ihre Texte wurden als solche, als Debattenbeiträge gelesen und diskutiert. Nach 1871 riss dieser Diskussionszusammenhang zunehmend aus121 Siehe den Brief von Delitzsch an Lazarus vom 5.1.1883, Nl. Lazarus, HU-Bibliothek, Brief-Nr. I/598. Delitzsch verfasste mehrere Schriften gegen Rohling: z. B. Delitzsch, Talmudjude. 122 Das beweist vor allem die bereits erörtere Schrift aus seiner Feder: Delitzsch, Christentum. 123 Siehe den Brief von Delitzsch an Lazarus vom 5.1.1883, Nl. Lazarus, HU-Bibliothek, Brief-Nr. I/598. 124 Der Ausspruch fiel im Rahmen eines öffentlich ausgetragenen Streits zwischen den protestantischen Lehrern Förster und Jungfer und dem jüdischen Fabrikanten Kantorowicz. Vgl. Kapitel 5.

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einander: Aus einfachen Beiträgen wurden protestantische oder jüdische Beiträge. Dadurch erhielten die Debatten über die »Judenfrage« etwas Zirkuläres: Es ging um ein bestimmtes Problem – die Integration der Juden in die deutsche Gesellschaft und das meinte für die meisten Diskutanten in die bürgerliche Bildungskultur –, und das Sprechen darüber wurde zu einem Teil des gleichen Problems. Kaum dass jemand die Stimme erhoben hatte, konnte er schon als das eine oder andere klassifiziert werden und damit jeden potentiellen Inhalt der Äußerung bereits an Wert geschmälert haben. In dieser Weise konnte die Debatte über die »Judenfrage« sich selbst thematisieren, und die jüdischen Beiträge in ihr vertieften das Problem, um das es überhaupt ging; denn dass sich Juden als Juden äußerten, demonstrierte aus der Sicht der Protestanten, dass sie eben nicht vollständig in der Bildungskultur angekommen waren. Diese so entstehende Zirkularität der »Judenfrage« schloss sie nach außen hin ab und immunisierte sie gegen ein grundsätzliches Infragestellen, ob es überhaupt eine Frage gab. Sich außerhalb dieses argumentativen Kreislaufes zu stellen, hätte einiges verlangt: Die Juden als legitime jüdische Teilnehmer der Debatten zu akzeptieren, bedeutete letztlich nicht weniger, als ihre Integration und ihre jüdische Identität öffentlich anzuerkennen. Dass sie hingegen am anderen Ende des kommunikativen Gefälles zwischen allgemeinen und partikularen Sprechern platziert wurden, aktualisierte die Sonderstellung der Juden in der bürgerlichen Bildungskultur, die es eigentlich nicht mehr hätte geben müssen.

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4. Treitschke gegen Juden: Der erste Streit über jüdische Identität in der bürgerlichen Bildungskultur

»Die ›Bombenwirkung‹ jener Treitschke’schen Artikel entstand nur aus der Ueberraschung, dass die Frage sogar in jene Kreise ›höchster Bildung‹ gedrungen sei, die für gewöhnlich zu ›gebildet‹ sind, um das wirkliche Leben zu begreifen.«1

Als Historiker Heinrich von Treitschke im November 1879 mit dem Artikel »Unsere Aussichten« eine publizistische Attacke auf die deutschen Juden lancierte und sich daran – in zwei verschiedenen Phasen – öffentliche Auseinandersetzungen entzündeten, wurden lange schwelende, innere Konflikte der bürgerlichen Bildungskultur offenbar. Dass diese Konflikte gerade in Berlin aufbrachen, war kein Zufall, hatte sich der reale Wandel der Stadt besonders mit den Veränderungen des jüdischen Lebens in ihr verbunden. In gewisser Hinsicht war die Stadt an der Spree ein Laboratorium, in dem unter öffentlicher Beobachtung ein neues Zusammenleben von Juden und Nichtjuden entstehen sollte. 1880 hatte Berlin die größte jüdische Bevölkerung im gesamten Deutschen Reich. Vor allem durch innerdeutsche Zuwanderung war die Reichshauptstadt im Reichsgründungsjahrzehnt zur wichtigsten Stadt des jüdischen Lebens in Deutschland geworden. Dennoch blieben die Berliner Juden zahlenmäßig – mit nicht mal fünf Prozent der Stadtbevölkerung – eine Minderheit. Wenn einer vergleichsweise so kleinen Gruppe eine herausragende Bedeutung für die Kultur einer Stadt beigemessen wird, muss diese Gruppe besonders ins Auge stechen. Das war bei den Berliner Juden der Fall, vor allem weil sie in einem erheblichen Maße die städtische Bildungskultur mitprägten. Unter den Schülern und Schülerinnen der höheren Bildungseinrichtungen der Stadt stellten Juden – im Gegensatz zu Katholiken – keine marginale, sondern eine Kerngruppe dar. Es lässt sich zudem konstatieren, dass es innerhalb des Berliner Judentums eindeutig eine Ausrichtung der (schulischen) Erziehungspraxis an der bürgerlichen Bildungskultur gab. An der Berliner Univer-

1 Anonymus, Theodor Mommsen, S. 7.

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sität sah es kaum anders aus: Die Juden nahmen auch hier deutlich den zweiten Rang hinter den protestantischen und vor den katholischen Studenten ein. Die Berliner Juden hatten also in ihrer Mehrheit begriffen, wie entscheidend die individuellen Bildungsvoraussetzungen in der entstehenden modernen Gesellschaft waren. Im selben Augenblick – und das mag bei der individuellen Entscheidungsfindung einflussreicher gewesen sein – verstanden sie die Teilhabe an der bürgerlichen Bildungskultur als ultimatives Zeichen einer gelungenen Integration. Nur das kann das Streben vieler Juden aus allen bürgerlichen Gruppen und Schichten – auch gerade aus der wirtschaftlichen Elite – nach Bildungspatenten erklären. In der Phase der »inneren Reichsgründung« erlangte die Situation in der neuen Reichshauptstadt besondere Bedeutung gerade für gebildete Bürger. Berlin wirkte auf die Zeitgenossen wie ein Experimentierfeld für die neue Kultur und für die jüdische Integration in sie. Folgerichtig wurde auch oft, wenn über die Juden diskutiert wurde, die städtische Kultur mitdiskutiert, und nicht selten galt das auch in umgekehrter Richtung. Ein besonders prägnantes Beispiel für die Ambivalenz in solchen Diskussionen stellt ein nie vollendeter Aufsatzentwurf Theodor Fontanes mit dem Titel »Adel und Judenthum in der Berliner Gesellschaft« dar. Diese Arbeit hatte Fontane wahrscheinlich im Herbst 1878 in Angriff genommen; er wollte das Resultat der Zeitschrift »Die Gegenwart« von Paul Lindau zum Abdruck anbieten.2 Fontane kontrastierte darin die adlige mit der jüdischen Gesellschaft Berlins und fragte nach deren jeweiliger Bedeutung für das gesellige Leben der Stadt. Die »DurchschnittsAdelgesellschaft« lasse, behauptete er, vieles zu wünschen übrig: »zu arm, zu binnenländisch-beschränkt, zu unkosmopolitisch und unvertraut mit dem was eine feinere Form schafft: mit Wissenschaft und Kunst«.3 Der Adel stand der bürgerlichen Bildungskultur fremd gegenüber. Die gesellschaftlichen Veränderungen seit dem Beginn des Jahrhunderts hatten das Bürgertum aufsteigen lassen und damit zugleich die Juden. Für Fontane war das jedoch keine »Calamität«, sondern ein »Fortschritt«. Über die jetzt dominierenden Juden in der Berliner Gesellschaft bemerkte er: »Das Gefühl einer kaum losgewordenen Pariaschaft verläßt sie nicht, und neben einem sechs Fuß hoch aufgeschossenen Arnim nehmen sie noch immer eine verlegene Stellung ein, selbst wenn letzterer hoch auf der linken Schulter ihrer Bücher steht. Das Vollmaß der Erscheinung fehlt noch und an die Stelle kräftigen Renommirtons ist eine stille lächelnde Eitelkeit und Selbstbespiegelung und Schönfinderei getreten. Aber in allem andren entfaltet sich eine Ueberlegenheit und das Enge, das Provinziale ist abgestreift. Große Interessen werden verhandelt, der Blick hat sich erweitert, er geht über die Welt. Die Sitten sind verfeinert, geläutert, gebessert. Vor allem der Ge2 Vgl. für eine entsprechende Einordnung Schillemeit. 3 Ebd., S. 37.

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schmack. Der Courszettel verträgt sich besser mit der Weltbildung als der Rennbahn oder WochenMarkt-Bericht.«4

Auch wenn sein Judenbild von negativen Anklängen an das Pariahafte durchtränkt war, konnte Fontane dem Gesamtresultat doch vieles abgewinnen: Durch ihre Teilhabe an der Bildungskultur gelang es den Juden, die Berliner Gesellschaft immer stärker zu prägen – und das tat dieser offensichtlich gut. Als Treitschke die Juden angriff und sich daran zwei unterschiedliche Phasen der Auseinandersetzungen anschlossen, war das die innerstädtische Ausgangslage. Die dadurch ausgelösten Debatten veränderten die Bedingungen des Zusammenlebens zwischen gebildeten Juden und Protestanten. Nicht zuletzt entschloss sich Fontane am Ende dieser Kontroversen dagegen, seinen erwähnten Text zu vollenden und zu veröffentlichen. Er schrieb Ende 1880 an Mathilde von Rohr über seine veränderte Sicht auf die Juden und ihre gesellschaftliche Rolle: »[…] ich bin von Kindesbeinen an ein Judenfreund gewesen und habe persönlich nur Gutes von den Juden erfahren, – dennoch hab’ ich so sehr das Gefühl ihrer Schuld, ihres grenzenlosen Uebermuthes, dass ich ihnen eine ernste Niederlage nicht blos gönne, sondern wünsche.«5 Mit diesem Stimmungswandel stand Fontane keineswegs alleine; viele gebildete Protestanten betrachteten nach den Kontroversen um Treitschke das Zusammenleben von gebildeten Juden und Protestanten mit veränderten Augen. Im Folgenden soll daher der doppelte Streit um Treitschke analysiert werden, um seine Auswirkungen in der Stadt und darüber hinaus einschätzen zu können. Die zwei Auseinandersetzungen hatten grundlegende Bedeutung für die politische Kultur des noch jungen Kaiserreiches, da in ihnen um die Rolle des Liberalismus gerungen wurde. Zugleich waren der Zustand der Nation und die spezifische Rolle der nunmehr emanzipierten Juden in ihr Hauptthemen der Diskussion. Alle diese politischen Aspekte entwickelten ihre Dramatik allerdings erst durch das kulturelle Umfeld, in dem sie standen: Der doppelte Streit um Treitschke ist nur vor dem Hintergrund der Krisenwahrnehmungen in der bürgerlichen Bildungskultur zu verstehen. Auch hier war die »Judenfrage« nicht nur eine politische, sondern vor allem eine Kulturfrage. Im Kern ging es bei den Kontroversen um Treitschke also nicht nur um Antisemitismus im engeren Sinne, sondern auch um Fragen der jüdischen Identität als einer Differenz in der Bildungskultur und um die Frage, wie damit umzugehen sei. Warum identifizierten sich Juden auch zehn Jahre nach der Emanzipation immer noch als Juden? War das überhaupt ein Problem und wie konnte darüber diskutiert werden? Gleichwohl gaben die Auseinandersetzungen, die Treitschke mit seinem Angriff auf die deutschen Juden provozierte, nicht nur den Diskussionen un4 Ebd. S. 8. 5 Fontane, Briefe, S. 113.

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ter gebildeten Protestanten neue Nahrung. Vielmehr muss der doppelte Streit als der Wendepunkt angesehen werden, von dem an sich die Angegriffenen in einem erheblichen Ausmaß in solche Debatten einmischten. Die postemanzipatorische Phase hatte nicht nur neue Fragen nach der veränderten Rolle der jüdischen Identität aufgeworfen, sie etablierte auch eine neue Dimension in den Interaktionsbeziehungen von Juden und Nichtjuden. Die Juden waren jetzt offiziell gleichberechtigter Bestandteil dieser Gesellschaft – das ließ sich nicht mehr ignorieren. Nicht zuletzt dadurch war unter gebildeten Juden das Selbstbewusstsein gestärkt, das Feld nicht einfach den Angreifern zu überlassen. Nun musste das Ziel sein, als (jüdischer) Partner in der Interaktion Anerkennung zu finden. Als Treitschke die Juden angriff, hatte sich zu erweisen, ob das gelingen konnte. Als entscheidend sollte sich dabei herausstellen, wie über seinen Angriff gestritten wurde. Ein Streiten über die Juden sollte sich in ein Streiten mit ihnen verwandelt werden – dieses Ziel wurde ein gleichgewichtiger Bestandteil der sich nun entwickelnden Kontroversen. Dass eine gemeinsame Streitinteraktion von Juden und Protestanten, wie die folgenden zwei Kapiteln zeigen werden, nicht möglich war, offenbart die Interaktionsmuster, die zwischen ihnen existierten. Nach der Wahrnehmungsspirale und dem kommunikativen Gefälle erweist sich somit anhand des doppelten Streits um Treitschke eine dritte Dimension: die Interaktionsdistanz zwischen gebildeten Juden und Protestanten. Wie jedoch verliefen die Auseinandersetzungen? Seit Walter Boehlich 1965 eine Edition mit vielen der Schriften, die durch Treitschkes Angriff provoziert wurden, veröffentlichte, galt es als ausgemacht, die vielschichtigen Diskussionen unter dem Namen »Berliner Antisemitismusstreit« zusammenzufassen.6 6 Die entsprechende Literatur bezog sich lange Zeit auf die seit 1965 erhältliche Dokumentation: Boehlich. Boehlich prägte mit dieser Veröffentlichung den Begriff »Berliner Antisemitismusstreit«; die Zeitgenossen hatten in der Regel keinen solchen Namen, wenn man einmal von polemischen Wortprägungen wie »Treitschkiade« absieht: BAS, Bd. 1, S. 400. Seit kurzem liegt eine neue, wesentlich erweiterte Edition vor, die, obwohl sie leider den Namen beibehält, hier Verwendung – unter dem Kürzel BAS – findet, soweit die entsprechenden Texte ungekürzt darin enthalten sind: Der »Berliner Antisemitismusstreit« 1879–1881. Bedauerlich ist allerdings, dass auch in dieser Edition die umfangreichen Notizen Treitschkes, die er für »Unsere Aussichten« und während der folgenden Kontroversen anfertigte, unberücksichtigt blieben. In vielen Forschungen zum Kaiserreich finden sich Erörterungen der Kontroverse. Die beste Zusammenfassung des Streites bietet: Hoffmann, Der Berliner Antisemitismusstreit. Schiefe und z. T. ahistorische Urteile finden sich hingegen bei: Lenk und Geismann. Für die jüdischen Reaktionen immer noch unverzichtbar ist: Meyer, Great Debate. Für die einzige selbständige Arbeit zu diesem Thema, die allerdings die verschiedenen Standpunkte mehr referiert als analysiert, vgl. Borries von Loccum. Als neuere Veröffentlichungen zu einzelnen Juden sei verwiesen auf: Sieg und Regneri. Eine detaillierte Semantikanalyse von »Unsere Aussichten« findet sich in: Holz, Nationaler Antisemitismus. Für die Auseinandersetzung zwischen Treitschke und Graetz vgl. Michael. Zum Konflikt zwischen Treitschke und Mommsen sind zudem lesenswert: Liebeschütz, Treitschke and Mommsen sowie der entsprechende Teil in: Ders., Das Judentum im deutschen Ge-

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Diese Bezeichnung war jedoch irreführend: Es gab keinen »Berliner Antisemitismusstreit«. Um diese These begründen zu können, muss zumindest in Ansätzen geklärt werden, was unter einem öffentlichen Streit grundsätzlich zu verstehen ist. Es wäre ein Irrtum, einen öffentlichen Streit lediglich als scheiternde Kommunikation zu begreifen. Selbstverständlich häufen sich in ihm Missverständnisse, Animositäten und Konkurrenzsituationen – das ist sein Wesen. Dennoch ist für einen Streit zunächst einmal gelungene Kommunikation konstitutiv.7 In ihm fließen Informationen in reger Folge; die Kanäle sind also alles andere als gekappt, sondern bis zum Bersten gefüllt mit Argumenten, Meinungen, Polemiken etc. Gleichzeitig sind sich die Beteiligten im Streit ähnlicher, als ihnen oft bewusst sein dürfte: Es bestehen grundlegende Gemeinsamkeiten auf einer ›materialen‹ Ebene. Einen öffentlichen Streit zu führen, heißt das medialisierte System der Öffentlichkeit nicht nur verstanden zu haben, sondern auch kreativ nutzen zu können. Zudem verweist die Tatsache des Streites auf eine viel grundlegendere Gemeinsamkeit der Streitenden: Sie müssen sich verstehen, um sich zu streiten.8 Argumente müssen rezipierbar sein, was sie nur vor einem gemeinsamen kulturellen Horizont können, wodurch sich erst ein sozialer und kultureller Kommunikationszusammenhang eröffnet. Ein Streit hält sich somit in einem dialektischen Verhältnis zu seinem kulturellen Hintergrund: Er ist nur durch ihn möglich, obwohl er in ihm zugleich Brüche produziert. Wer sich streitet, gehört demselben kulturellen System an und stellt zugleich eben jenes System zumindest partiell in Frage – in beiden Fällen gäbe es sonst gar nichts zu streiten. Es lassen sich drei Aspekte einer Phänomenologie des öffentlichen Streites isolieren: Provokation, Explosion, Konzentration. Am Anfang eines Streites steht die Provokation, d.h. eine bestimmte Aussage, die zum Objekt des Streites, zur »Streitinformation« wird. In der Regel ist diese Aussage allerdings nicht vollständig neu; sie entstammt vielmehr den ungerichteten, diffusen Dialogen der Alltagskommunikation. Das, was bisher nur unter dem Schutz der Kommunikation unter Anwesenden – »hinter vorgehaltener Hand« – gesagt werden konnte, wird durch einen bestimmten, in der Regel besonders ausgezeichneten Kommunikator gebündelt und öffentlich verbreitet. Erst aus der Verbindung von Aussage, Kommunikator und einem empfänglichen, durchaus konkreten Kreis an Rezipienten entsteht die Streitinformation: Etwas Be-

schichtsbild. Das Engagement Mommsens verteidigt: Rebenich, Theodor Mommsen und Adolf Harnack. Kritischer urteilt: Brenner. Im Übrigen sei noch verwiesen auf: Reemtsma. Für eine Neubetrachtung aus dem Blickwinkel der Antisemitismusforschung vgl. Jensen, Getrennt streiten. 7 In der Kommunikationstheorie werden unterschiedliche Formen von Gemeinsamkeiten unter Kommunikationsteilnehmern unterschieden. Vgl. dazu Schulz. 8 Vgl. Simmels Ausführungen zum Streit in: Simmel, S. 284 ff.

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stimmtes wird durch eine ganz bestimmte Persönlichkeit vor einem bestimmten Publikum gesagt. Weil sie gegen die in der Öffentlichkeit etablierten Sagbarkeitsregeln verstößt, wirkt die Streitinformation provozierend. Oberflächlich betrachtet bestehen Sagbarkeitsregeln in jeder Öffentlichkeit aus normativen Regeln, d.h. Maximen des gebotenen Verhaltens. Viel grundlegender gestaltet sich jedoch die zweite Ebene der Sagbarkeitsregeln, nämlich als Regeln des Denkbaren, d.h. die Formen von Wissen, die in einer gegebenen Kultur möglich sind, im Gegensatz zu denen, die nicht gedacht und gesagt werden können. Gleichzeitig sind die beiden Formen von Sagbarkeitsregeln miteinander verbunden: Das, was nicht gesagt werden darf, erscheint den Mitgliedern einer Kultur als undenkbar – und wenn es doch einmal gesagt wird, als unerhört. Eine Provokation der ›normativen Sagbarkeitsregeln‹ setzt zugleich eine Verschiebung in den ›strukturellen Sagbarkeitsregeln‹ voraus. Wenn eine eigentlich ›unsagbare‹ Auffassung gesagt wird, ist das unerhört, und die der Öffentlichkeit zur Verfügung stehenden Sanktionen werden mobilisiert. Eine Rückführung in die ›Unsagbarkeit‹ erweist sich jedoch oft als schwierig. Wenn Sanktionen eingesetzt werden müssen, um eine Aussage zu bekämpfen, ist bereits einiges an Terrain verloren, weil die Sagbarkeitsregeln in diesem Punkt schon ihre Selbstverständlichkeit verloren haben. Die Sanktionierung läuft daher zumeist ins Leere: Nur allzu oft muss sich das Erlaubte an das einmal Gesagte anpassen. Nicht selten ist in diesem Zusammenhang wichtig, wo die Aussagen gemacht werden. Man wird zumeist zeigen können, dass eine Aussage erst im privaten Raum der Alltagskommunikation in den Bereich des Denkbaren gelangt, um dann – beim Schritt in die Öffentlichkeit – in einen Konflikt mit dem Erlaubten zu geraten. Nachdem aus der diffusen Alltagskommunikation eine Streitinformation gebündelt wurde, welche die Sagbarkeitsregeln verletzt, kommt es zu einer Explosion von Repliken und Gegenrepliken. Empörung über die Provokation des Kommunikators macht sich in Erwiderungen Luft. Man fühlt sich persönlich angegriffen, was nicht selten in Begriffen der Ehre artikuliert wird. Die Sprache der Empörung ist jedoch meistens gruppenspezifisch: Die individuelle Ehre zu verteidigen, heißt eben diejenige der Gruppe bewahren zu wollen.9 Gerade in den emotionalen Aspekten eines Streites lassen sich die inneren Konstitutionsbedingungen einer soziokulturellen Formation beobachten. Die Repliken versuchen auf unterschiedlichste Weise und mit unterschiedlichsten Argumenten, die Streitinformation zurückzuweisen, den Kommunikator zur Rechenschaft für seine Grenzüberschreitung zu ziehen, den provozierten Konsens erneut einzufordern usw. Diese Repliken können sogleich beantwortet werden. Gleichzeitig wird die Streitinformation Ausgangspunkt für viele 9 Ebd., S. 536.

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kleine Diskussionen der Alltagskommunikation – ein dynamisches System aus Gesprächen, Gerüchten, Gerede mit äußerst schwer zu kalkulierenden (und unmöglich zu rekonstruierenden) Rückkoppelungen entsteht. Es kommt somit zu einem immer schwerer zu durchschauenden Kommunikationsnetz. Zugleich reicht ein solcher Streit schnell über eine rein kommunikative Ebene hinaus. Die alltäglichen Beziehungen, mithin die Interaktionsverhältnisse werden durch ihn gestört: Man reagiert gereizt aufeinander; Treffen können zu Eklats führen; Freundschaften werden auf die Probe gestellt usw. An dem ausufernden Wesen des Streites setzt der dritte Aspekt der Konzentration an. Durch das Mediensystem, in dem der entstandene Streit kommentiert und analysiert wird, kann die chaotische Struktur des Streites gebändigt werden. Die Kommentarfunktion der Medien reduziert die Streitinformation wieder auf ihre wesentlichen Aspekte. Die ausufernde Diskussionen werden dokumentiert, die einzelnen Elemente mit Bedeutung versehen, die unterschiedlichen Positionen konturierter und prononcierter, kurz die Debatten werden nachvollziehbar. Mit diesen allgemeinen Überlegungen über den Charakter eines öffentlichen Streites lässt sich präziser bestreiten, dass es einen »Berliner Antisemitismusstreit« gegeben hat. Wenn man sich die allgemeine Struktur der Auseinandersetzungen anschaut, fällt auf, dass diese in zwei zeitlich, personell, physisch, medial, sprachlich und inhaltlich getrennte Streitphasen zerfallen. Der erste Streit begann mit Treitschkes Veröffentlichung im November 1879 und dauerte bis spätestens Februar 1880. In ihm standen sich Treitschke und jene gebildeten Juden gegenüber, die sich gegen seine Anmaßungen verteidigten. Davon muss ein zweiter Streit getrennt werden, der weit mehr als ein halbes Jahr später ausbrach und vom November 1880 bis in den Januar 1881 dauerte. Als sich bekannte Protestanten gegen den sich immer mehr ausbreitenden Antisemitismus in einer öffentlichen Erklärung richteten und dabei auch auf Treitschkes Engagement verwiesen, kam es erneut zu einer Kontroverse, in dessen Verlauf sich vor allem Treitschke und sein Kollege Theodor Mommsen gegenüberstanden. Der zeitliche Bruch zwischen den beiden Phasen – immerhin von Februar bis November 1880 – deutet darauf hin, dass ein neuer Streit entstanden sein musste. Dieser Eindruck verstärkt sich beim Blick auf die Beteiligten: Waren es im ersten Fall noch Treitschke und die Juden gewesen, die sich stritten, tobte die Auseinandersetzung beim zweiten Mal fast ausschließlich unter gebildeten Protestanten, während sich Juden kaum noch engagierten. Die Unterscheidung von zwei Streitphasen gibt nicht nur die Ereigniskette angemessener wieder; sie führt auch zu einer ganz grundlegenden Frage: Was bedeutet es, dass sich gebildete Juden und Protestanten, deren Zusammenleben für die bürgerliche Bildungskultur gerade in Berlin immer wichtiger geworden war, nicht gemeinsam stritten? Wenn es richtig ist, dass Streiten Gemeinsamkeiten voraussetzt, impliziert dann die Trennung in ver203

schiedene Streitphasen auch fundamentale Differenzen? Kurzum: Was sagt der doppelte Streit um Treitschke – zehn Jahre nach dem Beginn des postemanzipatorischen Zeitalters – über das Verhältnis von gebildeten Juden und Protestanten aus?

4.1 Angriffsvorbereitungen: Der Weg zu »Unsere Aussichten« Wenn man sich der Analyse des ersten Streites zuwendet, wird man zunächst auf Folgendes hinweisen müssen: Heinrich von Treitschkes antisemitische Provokation in »Unsere Aussichten« besaß eine Vorgeschichte. Eine ganze Reihe von Aspekten bewog ihn zu der Abfassung des Textes: die zeitgenössische politische Lage, seine Biographie und das persönliche Umfeld des Historikers sowie schließlich seine Arbeit an der »Deutschen Geschichte des 19. Jahrhunderts«. Alle diese Aspekte gilt es kurz zu betrachten. Als Treitschke ein knappes Jahrzehnt nach der Gründung des Kaiserreiches die Juden angriff, stand seine Attacke im Zusammenhang großer politischer Umwälzungen. Die Jahre 1878/79 leiteten das Ende des Einflusses auf die Reichspolitik ein, den vor allem die Nationalliberale Partei, für die Treitschke im Reichstag saß, durch die parlamentarische Unterstützung Bismarcks über Jahre gehabt hatte. Das Kalkül des Reichskanzlers, die Nationalliberalen auseinander zu treiben und insbesondere den linken Flügel unter der Führung des jüdischen Politikers Eduard Lasker abzuspalten, begann im Sommer 1879 aufzugehen: Zunächst trat ein rechter Flügel aus, zu dem auch Treitschke gehörte. 1880 verließen dann die so genannten »Sezessionisten«, d.h. der linke Flügel um Lasker, die nationalliberale Reichstagsfraktion. Diese Wende besaß weitergehende Relevanz. Der konservative Schwenk Bismarcks erhielt einen gewichtigen Teil seiner politischen Bedeutung aus seinem symbolischen Zäsurcharakter, während der Liberalismus auf Länder- und gerade auch kommunaler Ebene seine Vorherrschaft noch weit länger behaupten konnte. Die Wahrnehmung, Zeuge einer Zäsur zu sein, deren Relevanz weit über die unmittelbare Parteipolitik hinausging, war unter gebildeten Bürgern weit verbreitet. In diese Auffassung flossen zugleich viele der generellen Krisenwahrnehmungen ein, die in der bürgerlichen Bildungskultur anzutreffen waren. Demgemäß wurden politische Fragen emotional aufgeladen: Einzelfragen der Finanz- und Wirtschaftspolitik erschienen als weltanschauliche Grundsatzentscheidungen über die Zukunft der Nation. Erhebliche politische Differenzen unter den gebildeten Bürgern offenbarten sich plötzlich. Die gleichzeitig aufkommende antisemitische Bewegung wurde in diesem Umfeld als ein weiteres Krisenphänomen aufgefasst. Sie drohte wie andere politi204

sche Kräfte die Vorherrschaft des Liberalismus zu gefährden.10 Nun begann man langsam, das Gefahrenpotential ernst zu nehmen, das in der polemischen Verknüpfung von Liberalismus und Judentum lag. Dennoch erschien die Bewegung gebildeten Bürgern lange Zeit als externes Problem, mit dem sich der politische Liberalismus auseinandersetzen musste, das aber nicht den Kern der bürgerlichen Bildungskultur tangierte. Das zeigte gerade die Wahrnehmung Stoeckers, der zwar als eine politische Bedrohung gesehen wurde, aber dessen Haltungen man als klerikalen und unbürgerlichen Radauantisemitismus abzutun bemüht war. Welches Unruhepotential – gerade auch unter gebildeten Bürgern – die entstehende »Judenfrage« mittelfristig barg, konnte so allerdings kaum gesehen werden. Als Treitschke die Juden angriff, war das die politische Gesamtlage, vor deren Hintergrund er seine Argumentation entwarf. Treitschke hatte bis dato bereits einige Jahre der nationalliberalen Reichstagsfraktion angehört. Obwohl er dort schon immer ein Außenseiter gewesen war, verschärfte sich das durch den Konflikt der Partei mit Bismarck, auf dessen Seite sich Treitschke bedingungslos stellte. Es war daher auch nur konsequent, dass er zu jener Gruppe rechter Abweichler gehörte, die bereits 1879 aus der Fraktion austraten. Seine Entfremdung von der Nationalliberalen Partei stand im Zusammenhang einer immer fortschreitenden Radikalisierung seines Unitarismus und Nationalismus. Sein politisches, publizistisches und historiographisches Wirken ordnete sich schon lange diesem Ziel unter. Allerdings besaß die Propagierung der inneren Einheit, nach dem die äußere Form der Staatlichkeit erlangt worden war, viele Facetten. Die »innere Reichsgründung« war nicht nur eine politische oder verwaltungstechnische; sie wurde auch von Treitschke als kulturelle Aufgabe ersten Ranges wahrgenommen. Bei Treitschke war neben seinen politischen Intentionen stets offensichtlich, wie sehr er ein Verfechter der bürgerlichen Bildungskultur war. Aus diesem Selbstverständnis heraus griff er auch die Juden an. Für Treitschke war die »Judenfrage« eine politische Diskussion, soweit sich damit der Liberalismus kritisieren ließ; sie war aber auch eine kulturelle Diskussion, weil die Juden Beispiele für jene kulturellen Entwicklungen in der noch jungen Nation verkörperten, die es zu bekämpfen galt, um zu einem »gekräftigte[n] Nationalgefühl« zu gelangen.11 »Unsere Aussichten« stellte daher in einem umfassenden Sinne eine Art Rechtfertigungstext für Treitschkes politische Neuausrichtung dar. Auch noch aus anderen Gründen suchte sich Treitschke die Juden aus. In seiner Biographie lassen sich schon in den Jahren vor 1879 Anzeichen für ein problematisches Judenbild finden. Während seines Studiums in Bonn etwa 10 Für die politische Entwicklung des Antisemitismus zu einer eigenständigen Bewegung war der Kurswechsel Bismarcks entscheidend. Vgl. Jochmann, Struktur und Funktion. 11 Treitschke, Unsere Aussichten, S. 576.

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scheint Treitschke gehässige Judenwitze goutiert zu haben.12 Auch in den folgenden Jahren tauchte das Thema bei Treitschke immer wieder auf, wenn auch meist in eher harmloser Form. Treitschke hielt sich selbst nicht für einen Antisemiten. Um das zu untermauern, pflegte er auf seine langjährige Freundschaft mit dem Chemiker Alphons Oppenheim zu verweisen. Ihn kannte Treitschke bereits aus Studienzeiten in Bonn, wo beide der gleichen Studentenverbindung beigetreten waren. Treitschke muss sich bald für den Juden Oppenheim erwärmt haben; 1856 etwa schrieb er über ihn: »Aber er ist ein reicher, denkender Kopf und zeigt mir täglich mehr ein so warmes, liebenswürdiges Herz, dass an ihm alles zuschanden werden muß, was man über den Charakter der Juden gefabelt hat.«13 Als Oppenheim 1877 nach dem Tod seiner Frau Selbstmord beging, bedauerte Treitschke diesen Verlust ehrlich. Sicherlich ist diese Freundschaft für Treitschkes Judensicht nicht irrelevant; gleichfalls sollte sie nicht überschätzt werden. Alphons Oppenheim war eine Ausnahme, ein Jude, der alles negierte, »was man über den Charakter der Juden gefabelt hat«. In den Monaten vor »Unsere Aussichten« wurde Treitschkes negative Judensicht virulenter und aggressiver. Die »Israelitische Wochenschrift« meldete im Februar 1879, dass der berühmte Publizist und Geschichtsforscher »die geweihten Hallen der Wissenschaft« zu einem »Ausfalle gegen das gesammte Judenthum« missbraucht habe.14 Als Treitschke in seiner Vorlesung auf das Haus Rothschild zu sprechen kam, warf er diesem vor, die schmutzigen Geschäfte einiger Staaten Europas ermöglicht zu haben.15 Gegen diese Behauptungen protestierte ein jüdischer Zuhörer zunächst brieflich bei Treitschke.16 Der Historiker ließ die Zeitungsmeldung nicht unbeantwortet. Er stellte fest, dass die betreffende Bemerkungen in einer nichtöffentlichen, akademischen Vorlesung seines Privatkollegs gefallen seien, in die sich ein jüdischer Arzt eingeschlichen habe, um dann in verschiedenen Zeitungen falsche Anschuldigungen erheben zu können. Und Treitschke fügte eine Formulierung hinzu, die er später fast wortgetreu aufgreifen sollte: »Vielmehr ist heute in der deutschen Presse, die größtentheils von jüdischen Federn beherrscht wird, schon längst ein umgekehrtes Hep-Hep-Geschrei üblich! […] Während Jedermann über die Schwächen des deutschen, des französischen und englischen Volkscharakters sein Urtheil sagen darf, wird jede noch so gerechte Aeußerung über unzweifelhafte Fehler des modernen Judenthums sofort als Unduldsamkeit verlästert. Ich denke mich diesem Terrorismus nicht zu fügen.«17 12 Vgl. etwa die Episode in dem Brief Wünsch’ an Treitschke vom 25.1.1880, Nl. Treitschke, Kasten 9, Mappe Wünsche. 13 Kobler, S. 258. 14 »IWS« vom 19.2.1879. 15 Vgl. den Bericht im »BT« vom 9.2.1879. 16 Vgl. »IWS« vom 30.4.1879. 17 Zitiert nach: ebd.

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Die »Israelitische Wochenschrift« fügte ihrem Bericht über Treitschkes Ausfall prophetisch hinzu: »Hier entpuppt sich der Herr Geschichtsprofessor als ein Herr Marr in nuce!«18 Der Berliner Historiker hegte also seit längerem Ansichten, die sich über die Jahre allmählich zu einem virulenten Antisemitismus verdichteten. Aber die biographischen Kontinuitätslinien bildeten nur eine von mehreren Voraussetzungen. Eine weitere lag in den Diskussionen über die »Judenfrage« im privaten Umfeld Treitschkes, die ihm den Eindruck vermittelten, mit seiner Sichtweise keineswegs alleine zu stehen. Seit dem Frühjahr 1879 – also zur gleichen Zeit, als er in seinen Vorlesungen antisemitische Spitzen vortrug – finden sich vermehrt Stellungnahmen befreundeter Kollegen Treitschkes zur »Judenfrage«. Als die Gesellschaft im Allgemeinen begann, sich mit den Juden zu beschäftigen, griffen gebildete Bürger dieses Thema sogleich auf, allerdings »hinter vorgehaltener Hand«, wie es die Briefkommunikation unter Gleichgesinnten gewährleistete. Der Heidelberger Kirchenrechtler Emil Herrmann schrieb Treitschke am 23. April 1879 anlässlich von Treitschkes erstem Band der »Deutschen Geschichte im neunzehnten Jahrhundert« einen langen Brief, den Treitschke eingehend studierte und mit Anstreichungen versah. Herrmann sprach darin die Hoffnung aus, dass das Werk zu einem »Knotenpunkt der vaterländischen Entwicklung« werden könnte, indem in ihm ein »übereinstimmendes öffentliches Gewissen« zum Ausdruck komme. Dieses Gesamtgewissen sei gerade in der Gegenwart noch umkämpft; es habe viele Feinde, unter denen das Judentum neuerdings eine Position einnähme, die Herrmann »von Tag zu Tag schwerer« auf der Seele laste.19 Die Juden würden, so behauptete er, »nicht mit und in der Gemeinschaft« der Nation leben.20 Gegen die Gefahr, die damit durch die Integration der Juden drohe, müssten Werke wie das von Treitschke eine »Wiedergewinnung unserer Selbst« vorantreiben.21 Aber nicht nur Herrmann debattierte mit Treitschke über die »Judenfrage«. Als Treitschke im Sommer 1879 aus der nationalliberalen Reichstagsfraktion austrat, gab es Stimmen, die bereits darin ein Einschreiten gegen die vorlauten Juden – verkörpert etwa im nationalliberalen Parteiführer Eduard Lasker – sahen.22 Andere befreundete Briefeschreiber behaupteten, dass das Thema in ihrem Umfeld bereits ausgiebig diskutiert wurde. So teilte der Bonner Historiker Wilhelm Maurenbrecher Treitschke mit, dass er sich in einer Abendgesellschaft über Stoecker gestritten habe – mit einer so ähnlichen Argumenta18 Ebd. 19 Siehe den Brief Herrmanns an Treitschke vom 23.4.1879, Nl. Treitschke, Kasten 6, Mappe Herrmann. 20 Ebd. 21 Ebd. 22 Vgl. etwa den Brief Ernst von Eynerns, dem Berliner Korrespondenten der »Kölnischen Zeitung«, an Treitschke vom 3.8.1879, in: Wentzcke, S. 264.

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tionsweise, wie sie Treitschke sie später verwenden sollte.23 Bei manchen Kollegen verdichteten sich entsprechende Beobachtungen sogar zu einem »Glaubensbekenntniß«: So nannte Hermann Grimm seine Anmerkungen über die veränderte Stimmung seit der politischen Wende 1878/79. Es gehe gar nicht um Fragen der Zollpolitik, sondern um »eingeborenes deutsches nationales Wesen«.24 Dieses eigene Wesen würde nach Jahren der Verborgenheit wieder hervorbrechen und die Folgen seien offensichtlich: »Man verlangt nach Grobheit. Man will glauben, man hat es satt, sich die Dinge beweisen zu lassen.«25 Zuallererst richtete sich, davon war Grimm überzeugt, die aggressive Stimmung gegen das »fremde Volk der Juden«.26 Dieser Stimmungsumschwung könne allerdings kaum öffentlich konstatiert werden: »Überall empfindet man dass es so sei, und nirgends darf man es zugestehen!«27 Dem Historiker gegenüber, der doch die »Zeichen der Zeit« zu sammeln habe, wollte Grimm daher sein Bekenntnis dokumentieren.28 Einstweilen musste man – das legte Grimms Argumentation nahe – noch im Verborgenen über diese Dinge reden. Allerdings nahm der Druck zu: Die Äußerungen im Umfeld des Berliner Historikers griffen die aufkommende antisemitische Bewegung auf und gewannen diesem Phänomen grundlegende Bedeutung ab. Wie lange diese Diskrepanz zwischen dem öffentlichen Schweigen über diese Fragen und der privaten Einsicht in deren Wichtigkeit noch aufrechterhalten werden konnte und wann es zu den Grobheiten kommen sollte, nach denen man angeblich allerorts verlange – das war bis Ende 1879 noch offen. Schließlich muss noch auf einen letzten Aspekt eingegangen werden, der Treitschke zum Abfassen seiner Schrift bewog. Nach langfristigen, z. T. bis in die 1860er Jahre zurückgehenden Planungen veröffentlichte Treitschke im Frühjahr 1879 den ersten Band seiner auf fünf Bände projektierten »Deutschen Geschichte im neunzehnten Jahrhundert«. Hatte er vor der Publikation befürchtet, dass die Presse versuchen würde, sein Buch totzuschweigen, glaubte er eine eindeutige Tendenz erkennen zu können, als sie doch reagierte.29 Einem »ganzen Berg von Besprechungen« gegenüber sitzend, schrieb er an den Historiker Friedrich von Weech: »[…] ich bin entsetzt darüber, weniger über die Kothspritzerei des Wiener Juden Richter & Co [in der ›Neuen Freien Presse‹, U. J.] als über die Ignoranz und Armseligkeit der Deutschen, die den Band auf ihre Weise loben. Eine Parteischrift! – das ist so ziemlich die allge23 Vgl. den Brief Maurenbrechers an Treitschke vom 23.12.1879, Nl. Treitschke, Kasten 7, Mappe Maurenbrecher. 24 Siehe den Brief Grimms an Treitschke vom 26.5.1879, Nl. Treitschke, Kasten 6, Mappe Grimm. 25 Ebd. Die Hervorhebungen befinden sich im Original. 26 Ebd. 27 Ebd. 28 Ebd. 29 Vgl. den Brief Treitschkes an Hirzel vom 9.11.1878, in: Cornicelius, S. 465.

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meine Redensart.«30 »Die Presse« war für den Historiker bereits im Frühjahr 1879 kein Abstraktum mehr; sie war von Juden beherrscht, die sich gegen seine Interpretation der vaterländischen Geschichte zu Wehr setzten: »Manchmal fällt es mir schwer auf die Seele, wie sehr der Charakter unseres Volkes durch seine Judenpresse verderbt worden ist.«31 Niemand anderes als die Juden würde sein Projekt gefährden, den Deutschen mittels Geschichtsschreibung wieder Liebe und Ehrfurcht gegenüber der eigenen Geschichte zu lehren. In den Monaten vor »Unsere Aussichten« verstärkten sich Treitschkes Ablehnung der liberalen Presse und sein Antisemitismus gegenseitig. Bei weiteren Recherchen zur »Deutschen Geschichte« stieß Treitschke im Sommer auf die »Geschichte der Juden« von Heinrich Graetz, die im elften Band die Zeit bis 1848, also Treitschkes Themengebiet behandelte. Die beiden Projekte ähnelten einander in vielen Aspekten. Beide Historiker waren Identitätsproduzenten für ihre jeweiligen Kollektive. Deshalb kam es zu erheblichen inhaltlichen Differenzen. Bei Graetz tauchten bedeutende nichtjüdische Denker vor allem auf, wenn es galt, ihre Haltung gegenüber den Juden zu thematisieren. So hielt er Berühmtheiten wie Schleiermacher, Goethe oder Fichte ihre negativen Ansichten über die Juden vor. Für Graetz befanden sie sich damit durchaus in Einklang mit ihrer Umwelt: »Aufgebläht von einer Cultur, die in Deutschland erst von gestern datierte und noch von Roheit begleitet war, stempelten die Deutschen diese Kultur zur christlichen und versperrten den Juden den Eingang dazu […].«32 Bei Treitschke klang das ganz anders: Goethe und Fichte verkörperten Höhepunkte der von ihm betonten Geistesströmungen, welche die deutsche Nation im Chaos der Staatenlosigkeit überleben ließen.33 Bei einem anderen Thema unterschieden sich die beiden Historiker ebenfalls diametral: die preußische Erhebung gegen Napoleon. Sah Graetz in dieser Phase ebenfalls die Anfänge eines neuen Chauvinismus und Antisemitismus, glaubte Treitschke hier den Keim des neuen Deutschlands entdecken zu können. Solche inhaltlichen Unterschiede ergaben sich fast zwangsläufig, wenn man jeweils die sie generierende Ratio akzeptierte. Die beiden Identitätsproduktionen mussten die gleichen Themen genau umgekehrt interpretieren: vom jüdischen oder vom protestantischen Standpunkt aus.34 30 Siehe den Brief Treitschkes an von Weech vom 6.4.1879, in: ebd., S. 496f. 31 Siehe den Brief Treitschkes an Overbeck vom 17.3.1879, in: ebd., S. 468. 32 Graetz, Geschichte der Juden, Bd. 11, S. 246. 33 Vgl. seine Ausführungen für die Zeit nach dem Westfälischen Frieden Treitschke, Deutsche Geschichte, Bd. 1, S. 87. 34 Wenn man einmal die historiographisch-methodische Perspektive hinter sich lässt, muss daran erinnert werden, dass es einen Unterschied macht, ob man, wie es Treitschke vor allem in seinen späteren Bänden unternahm, Geschichtsschreibung in den Dienst einer aggressiven Ausgrenzung stellt oder ob man, wie Graetz trotz aller polemischen Zuspitzungen versuchte, das Ziel einer reziproken Anerkennung propagiert.

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Die beiden beim Publikum jeweils erfolgreichen Werke konnten damit kaum ähnlicher und zugleich kaum verschiedener sein.35 Gerade diese Mischung aus Nähe und Ferne barg eine Sprengkraft, die leicht gefährlich werden konnte. Als Treitschke nun den elften Band las, berichtete er von seinem unmittelbaren Eindruck: »Ich habe hier oben den 11. Band von Grätz Gesch. der Juden gelesen und finde kaum Worte um meinen Ekel auszusprechen. Dieser Todhaß gegen ›den Erzfeind‹, das Christenthum, und gegen die deutsche Nation, die freilich dem jüdischen Wesen immer fremder bleiben wird als die Romanen, und mitten unter dieser Schimpferei die beständige Klage darüber, dass wir dem Volke Gottes zwar die Gleichheit, aber noch nicht die Brüderlichkeit zugestanden haben! Wie sollen wir diese unversöhnlichen Gegensätze bewältigen?«36

Die Vorgeschichte zu Treitschkes »Unsere Aussichten« war also durchaus vielschichtig; entsprechend komplex fiel auch seine Argumentation aus, als er sich entschieden hatte, die »Judenfrage« zu thematisieren.

4.2 Angriff I: Heinrich von Treitschkes »Unsere Aussichten« und die Verschiebung der Sagbarkeitsregeln »Und es ist doch wahrlich eine viel wohlthätigere Motion und aristotelische Katharsis, wenn man seine Galle über Millionen Juden ausgießt, als über dieses Individuum, welches zufällig auch Jude ist [...].«37

Im Oktober 1879 hatte sich Treitschke noch in Rom von der kräftezehrenden Arbeit an der »Deutschen Geschichte« erholt. Am 30. Oktober begann er wieder mit seinen Vorlesungen an der Berliner Universität und verfasste zugleich einen Essay, den er ebenfalls als Schlussaufsatz in der zweiten Auflage seiner »Deutschen Kämpfe« unterbringen wollte. Treitschke maß diesem Stück offensichtlich soviel Bedeutung bei, dass es wie selbstverständlich in dieser Sammlung von »Schriften zur Tagespolitik« enthalten sein musste.38 Am 35 Graetz’ »Geschichte der Juden« wurde in zahlreichen Auflagen in verschiedenen Sprachen veröffentlicht, einige Bände der deutschen Ausgabe hatten bis 1914 fünf Auflagen erlangt. Treitschkes »Deutsche Geschichte« war ähnlich erfolgreich: Von dem ersten Band wurden bis 1908 24.000 Exemplare verkauft. 36 Siehe den Brief Treitschkes an Herrmann vom 25.8.1879, in: BAS, Bd. 1, S. 4. 37 Steinthal, Ueber religiöse und nationale Vorurteile, S. 193. 38 Vgl. Treitschke, Zehn Jahre deutscher Kämpfe.

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17. November kündigte Treitschke seinem Verleger Georg Reimer noch einige letzte Korrekturen an: Gerade bei der »heillosen Judensache« müsse man jedes Wort abwägen. Seine Absichten teilte er Reimer ebenfalls vorab mit: »Ich will nicht reizen, sondern versöhnen, da wir das Volk Gottes leider nicht loswerden können. Und doch muß man den Kerlen auch sagen, dass nicht wir, sondern sie selber an der jetzt losbrechenden furia tedesca schuld sind.«39 Wie es bei Treitschke oft der Fall war, stand der Text im krassen Gegensatz zu seinen versöhnlicher klingenden Intentionen. Am 21. November 1879 erschien schließlich das neueste Heft der »Preußischen Jahrbücher«. Am Ende der Ausgabe fand der Leser eben jenen Essay.40 »Unsere Aussichten« dürfte als solches wohl kaum überrascht haben, gab es solche Überblicksanalysen in dem Blatt doch häufiger. Treitschke setzte diese Form des politischen Essays besonders gerne ein, weil sie seinem Bemühen entgegenkam, historisch-politische Argumentationen in die breitere Öffentlichkeit zu tragen.41 Weniger die Form als der antisemitische Inhalt war für viele Leser allerdings bemerkenswert; wohl kaum ein Essay der »Jahrbücher« sollte derart für Aufsehen sorgen. Für die Struktur des Textes sind die Aufzeichnungen in Treitschkes Nachlass aufschlussreich, weil sie Einsicht in den Entstehungsprozess geben.42 In »Unsere Aussichten« bildeten die Juden nur ein Thema, das allerdings an prominenter Stelle platziert war: Die letzten fünf der insgesamt 17 Seiten handelten von ihnen.43 Der Hauptteil war einer Analyse der Lage des jungen Deutschen Reiches vorbehalten. Am Ende seiner außenpolitischen Beurteilung verzeichneten die Notizen Treitschkes Schlussfolgerung: »überall Zündstoff«.44 Im Essay hieß es dazu dann: »Wohin wir auch blicken, überall erweckt die Schwerste der europäischen Fragen, nun sie einmal in’s Rollen kam, das Gefühl der Unsicherheit. Was wir in solcher Lage vor allem brauchen ist eine starke Regierung, treue Eintracht zwischen der Krone und dem Volke.«45 39 Siehe die Abschrift eines Briefes von Treitschke an Georg Reimer vom 17.11.1879, Nl. Treitschke, Kasten 17, Bl. 72. 40 Vgl. Treitschke, Unsere Aussichten. 41 Zu Treitschkes Vorliebe für Essays vgl. Metz, S. 352. 42 Die Notizen zu »Unsere Aussichten« bestehen aus mehreren Blättern, die z. T. beidseitig beschrieben, allerdings nicht vollständig lesbar sind. Insbesondere das zweite Blatt ist für die Rekonstruktion von Treitschkes Anliegen von einigem Interesse, sind hier doch auch einige vom veröffentlichten Text abweichende Ideen formuliert. Siehe die Notizen Treitschkes, Nl. Treitschke, Kasten VIIB, Mappe »Zur Judenfrage«, Bl. 117–120. 43 Die von Treitschke selbst gekürzte Fassung für den späteren Separatdruck »Ein Wort über unser Judenthum« (1880) konzentrierte sich auf diesen Teil. Da der Text auch in der Edition von Boehlich unvollständig abgedruckt war, übersah man bei späteren Analysen oft, dass »Unsere Aussichten« ursprünglich viel länger gewesen ist. Leider korrigiert auch die neue Edition das nicht. Es wird hier daher auf das Original verwiesen. 44 Siehe die Notizen Treitschkes, Nl. Treitschke, Kasten VIIB, Mappe »Zur Judenfrage«, Bl. 118. 45 Treitschke, Unsere Aussichten, S. 570.

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Damit war der Historiker bei seinem zweiten Großthema angelangt: der Situation im Inneren des Deutschen Reiches. Die Wende Bismarcks und die damit verbundenen Schwierigkeiten des Liberalismus bildeten sowohl in den Notizen als auch im Text den Kontext seiner Analyse. Die nationale Selbstbesinnung stellte das zentrale Argumentationsziel Treitschkes dar; damit hob der Textteil an: »Unterdessen arbeitet in den Tiefen unseres Volkslebens eine wunderbare, mächtige Erregung. Es ist als ob die Nation sich auf sich selber besänne, unbarmherzig mit sich in’s Gericht ginge.«46 Dieses »Erwachen des Volksgewissens« manifestiere sich nicht in der Tagespresse, deren Blick noch zu sehr durch den »liberalen Wunschzettel der sechziger Jahre« und einem »naiven Glauben an die unfehlbare sittliche Macht der ›Bildung‹ « beherrscht werde.47 Dagegen wende sich nunmehr der Zeitgeist, für dessen Veränderung Treitschke ein ganzes Bündel von Ursachen liefert: »Die wirtschaftliche Noth, die Erinnerung an so viele getäuschte Hoffnungen und an die Sünden der Gründerzeiten, der Anblick der zunehmenden Verwilderung der Massen, die mit der Verbreitung der Geheimkünste des Lesens und Schreibens mindestens gleichen Schritt hält, und nicht zuletzt das Gedächtnis jener Gräueltage vom Frühjahr 1878 – das alles hat Tausende zum Nachdenken über den Werth unserer Humanität und Aufklärung gezwungen.«48

Zugleich wird dabei deutlich, dass das »Nachdenken über den Werth unserer Humanität und Aufklärung« – oder, wie es in seinen Notizen geheißen hatte, den »Glauben an die Wunder der Bildung«49 – die Selbstbesinnung der Nation spezifizierte. Treitschkes Rede vom Erwachen des Volksgewissen musste solange unbestimmt bleiben, wie er nicht verdeutlichen konnte, welche Referenzgruppe er vor allem ansprach.50 Mit seiner Kritik an der liberalen Ausrichtung der bürgerlichen Bildungskultur zielte er auf die gebildeten Bürger, für die er in den »Preußischen Jahrbüchern« schrieb. Hier sollte der Verweis auf die Halbbildung – die Verwilderung der Massen stand im Zusammenhang mit der Alphabetisierung; das liberale Vertrauen in die Macht der Bildung war

46 Ebd., S. 570f. 47 Ebd., S. 571. 48 Ebd. Mit den Gräueltaten waren die beiden Attentate auf den Kaiser gemeint. 49 Siehe die Notizen Treitschkes, Nl. Treitschke, Kasten VIIB, Mappe »Zur Judenfrage«, Bl. 118. 50 Sich allein auf die nationalistische Argumentationslinie konzentriert zu haben, ist ein Manko der bisherigen Forschung. So nahe es lag (und so hilfreich es war), Treitschke als radikalen Nationalisten zu begreifen, der daraus seinen Antisemitismus wesentlich entwickelte, so wenig sollte vergessen werden, für wen Treitschke vor allem sprach, nämlich die gebildete Bürger. In der bürgerlichen Bildungskultur war der Nationalismus, wie radikal er auch immer gewesen sein mag, in kulturelle Vorstellungswelten eingebunden (und umgekehrt). Vgl. für die bisherige Sicht vor allem die Einleitung in: Boehlich sowie Hoffmann, Der Berliner Antisemitismusstreit.

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erschüttert – Wirkung zeigen.51 Angesichts dessen kann die Schlussfolgerung Treitschkes nicht überraschen: »Tausende fühlen, dass wir Gefahr laufen über unserem Bildungsdünkel den sittlichen Halt des Menschenlebens ganz zu vergessen.«52 In einer Zeile seiner Notizen hatten sich solche Zusammenhänge vorher schlagwortartig verdichtet: »Besitz, Bildung – Noth, Verwilderung, Mord«.53 Das Aufbegehren im Volk richtete sich laut Treitschke gegen die »weichliche Philanthropie unseres Zeitalters«.54 Es ging ihm nicht um einzelne Aspekte, es ging um eine Gesamtstruktur: Nur so konnte Treitschke an dieser Stelle auf die zeitgenössische Diskussion um eine Reform des Strafrechtes zurückgreifen, wofür er die Schrift »Gegen die Freiheitsstrafen« des Hamburger Oberlandesgerichtsrats Otto Mittelstädt zustimmend anführte.55 In seinen Notizen wurde zudem deutlich, dass er noch andere Bezüge zum kulturellen Feld herzustellen bereit war, die er dann in der Endfassung allerdings wegließ.56 Es finden sich Stichworte zum »Kulturkampf« sowie zu den Auseinandersetzungen um ein modernes Schulwesen, die bereits seit einiger Zeit für Unruhe unter gebildeten Bürgern sorgten. Die gesamte Argumentationsstrategie war deutlich genug: Mit seinem Verweis auf das Rumoren im »Volk« erhielt Treitschke einen quasi externen Standpunkt, von dem aus er die Verhältnisse in der bürgerlichen Bildungskultur, die doch sein Argumentationsziel blieben, um so wirkungsvoller angreifen konnte. Während das »Volk« bereits begriffen habe, dass sich die Nation auf selbst besinnen müsse, war das den gebildeten Bürgern erst zu vermitteln. Deshalb musste gegen das liberale Verständnis von Bildungskultur vorgegangen werden, wollte man die richtige nationale Gesinnung unter den gebildeten Bürgern stärken. Die nationale hatte eine kulturelle Wende zu sein. Nachdem die kulturelle Tiefendimension, die Treitschke der nationalen Selbstbesinnung unterstellte, deutlich geworden war, strebte der Essay dem inhaltlichen und rhetorischen Höhepunkt entgegen: der »Judenfrage«. Dieses Thema ging er ganz ähnlich an wie zehn Jahre zuvor Richard Wagner in seiner Schrift »Das Judenthum in der Musik«. Auch bei Treitschke fand sich z.B. eine

51 Nur selten ist in den späteren Repliken auf Treitschkes Kritik an den Bildungsbemühungen eingegangen worden. Eine Ausnahme bildet: Röckner. 52 Treitschke, Unsere Aussichten, S. 571. 53 Siehe die Notizen Treitschkes, Nl. Treitschke, Kasten VIIB, Mappe »Zur Judenfrage«, Bl. 118. Es sei in diesem Zusammenhang erwähnt, dass in gebildeten Kreisen durchaus bemerkt worden war, dass Karl Eduard Nobiling, der zweite Attentäter auf Kaiser Wilhelm I., einen Doktortitel besaß. 54 Treitschke, Unsere Aussichten, S. 571. 55 Vgl. Mittelstädt. 56 Siehe die Notizen Treitschkes, Nl. Treitschke, Kasten VIIB, Mappe »Zur Judenfrage«, Bl. 118.

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bürgerliche Redehemmung.57 Der Einstieg in das Thema war dementsprechend: Unter den »Symptomen der tiefen Unstimmung«, welche das Volk empfinde, erscheine keines so »befremdend« wie die »leidenschaftliche Bewegung gegen das Judenthum«: »Vor wenigen Monaten«, fügte Treitschke dem hinzu, »herrschte in Deutschland noch das berufene »umgekehrte Hep Hep Geschrei«. Ueber die Nationalfehler der Deutschen, der Franzosen und aller anderen Völker durfte Jedermann ungescheut das Härteste sagen; wer sich aber unterstand über irgend eine unleugbare Schwäche des jüdischen Charakters gerecht und maßvoll zu reden, ward sofort fast von der gesammten Presse als Barbar und Religionsverfolger gebrandmarkt.«58

Der Textabschnitt begann also mit dem heiklen Charakter des Themas. An anderer Stelle kam der Historiker darauf zurück: »Peinlich genug, über diese Dinge zu reden; selbst das versöhnliche Wort wird hier leicht mißverstanden.«59 In der Tat war es für einen gebildeten Bürger oder gar eine Berühmtheit wie Treitschke gefährlich, die antisemitische Bewegung öffentlich zu loben. Daher kamen die Namen Stoecker und Marr zwar in den Notizen vor, tauchten aber in der veröffentlichten Fassung nicht mehr auf.60 Sicherlich wird es für die Leser und Leserinnen offensichtlich gewesen sein, auf wen mit der »leidenschaftlichen Bewegung gegen das Judenthum« angespielt werden sollte. Dass davon der – aus Sicht gebildeter Bürger – Radauantisemitismus eines Stoeckers profitieren könnte, bewegte auch viele Kollegen und Freunde Treitschkes. Emil Herrmann etwa sah dieses Problem und forderte Treitschke auf, in einer anstehenden Replik einen »kräftiger[en] Abschüttelungsact« in Stoeckers Richtung zu unternehmen.61 Selbst ohne diese nachträglichen Warnungen war es Treitschke von Anfang an klar gewesen, dass er sich auf Glatteis begab. Sein Ausweg aus dem Dilemma lag in der Objektivierung seines Standpunktes. Über die Bewegung gegen die Juden, die er zu einem Teil jener mächtigen Volkserregung erklärte, bemerkte er: »Es ist des Schmutzes und der Roheit nur allzu viel in diesem Treiben […].«62 Die Lösung bestand also in Umarmung bei gleichzeitiger Abgrenzung. Dem Text verlieh das Objektivität, zeichnete er doch ein vermeintlich differenziertes Bild von der Bewegung. Zugleich versuchte Treitschke damit, den Bann, der für viele gebildete Bürger über die Bewegung verhängt worden 57 Vgl. Kapitel 2. 58 Treitschke, Unsere Aussichten, S. 572. 59 Ebd., S. 573. 60 Siehe die Notizen Treitschkes, Nl. Treitschke, Kasten VIIB, Mappe »Zur Judenfrage«, Bl. 118. 61 Ebd. 62 Treitschke, Unsere Aussichten, S. 572. In seinen Notizen hatte es geheißen: »tiefgreifend Umsturz«, »gräul Ausschweifungen«, Schmutz«, »aber selbst im Irrth etw Wahres«. Siehe die Notizen Treitschkes, Nl. Treitschke, Kasten VIIB, Mappe »Zur Judenfrage«, Bl. 118.

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war, zu durchbrechen, damit die aus seiner Sicht notwendige Diskussion über den wahren Kern der Bewegung geführt werden konnte: »[…] es ist schon ein Gewinn, dass ein Uebel, das Jeder fühlte und Niemand berühren wollte, jetzt offen ausgesprochen wird.«63 Auch viele Zeitgenossen feierten Treitschkes Angriff als einen längst fälligen Bruch eines unbegründeten Tabus. Hermann Grimm behauptete im Rückblick auf »Unsere Aussichten«, dass mit dem ungehemmten Spielraum, mit dem sich die Juden durch die Emanzipation hätten entfalten können, auch die »Unfreiheit« gewachsen sei, über das jüdische Wesen offen seine Meinung zu sagen.64 Treitschke komme der Verdienst zu, die Frage »endlich discussionsfähig« gemacht zu haben.65 Treitschkes Provokation verstieß gegen die normativen Sagbarkeitsregeln in der bürgerlichen Bildungskultur. Dort gab es nicht nur wegen der Radikalität vieler Antisemiten Reservationen, offen und öffentlich über die »Judenfrage« zu diskutieren. Die Präsenz der Juden in diesem kulturellen Umfeld bedeutete, dass die Regeln bürgerlicher Anständigkeit auch für sie zu gelten hatten. Es war mit dem Bildungsideal und insgesamt mit bürgerlichen Sittlichkeitsvorstellungen nicht ohne weiteres vereinbar, offen gegen Andere zu hetzen, schon gar nicht, wenn diese selbst gebildete Bürger waren. Die folgende Debatte war daher immer besonders heikel, wenn es nicht mehr um die abstrakte »Judenfrage«, sondern um konkrete Juden, um Kollegen oder gar Freunde ging. Das Hilfskonstrukt des »Ausnahmejuden«, zu dem nicht nur Treitschke griff, verkörperte dabei den Versuch, den Angriff weiter zu führen, ohne die Anstandsregeln gänzlich zu missachten. Wie bei Wagner dokumentierte sich auch in Treitschkes Distanzierung von der antisemitischen Bewegung paradoxer Weise gerade die Integration der Juden in die Gemeinschaft der gebildeten Bürger, die er wieder rückgängig machen wollte. Ob die Juden als gebildete Bürger voll anerkannt werden sollten, stellte allerdings die eigentliche Frage dar. Diejenigen, die wie Treitschke das ablehnten, rieben sich an den normativen Sagbarkeitsregeln, die ihnen verboten, offen ihre Meinung auszusprechen. Als Treitschke es dann doch tat, musste er diese Regeln selbst thematisieren: Aus den Normen des Sprechens übereinander in der bürgerlichen Bildungskultur wurde bei ihm ein lästiges Tabu, das von außen auferlegt und unbegründet erschien, also gebrochen gehörte. Die Inszenierung eines Tabus sollte letztlich verdrängen helfen, dass die Tugend, 63 Treitschke, Unsere Aussichten, S. 575. 64 Siehe den Brief Grimms an Mommsen vom 11.12.1880, Nl. Mommsen, Kasten 39, Mappe Grimm. 65 Ebd. Über den durchschlagenden Erfolg war Grimm im Nachhinein offenbar selbst überrascht. 1881 schrieb er in sein Tagebuch: »Das Resultat der Antisemitenbewegung ist, dass Juden und Judenthum überall heute mit einer rohen Unbefangenheit besprochen werden, die geradezu erstaunlich ist. Die Scham, die man früher hatte, die Frage auszuüben [sic!], scheint selbst den Semiten abhanden gekommen zu sein.« Siehe den Tagebucheintrag vom 25.4.1881, Nl. Hermann Grimm, Bestandsnr. 340, Ms 139, Bl. 24.

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Menschen nicht zu diffamieren, keineswegs nur vor dem Hintergrund des bürgerlichen Anstandes einsichtig war. Ein wichtiges Produkt dieses inszenierten Tabubruches verkörperte die Umkehrung von Opfer und Täter. Derjenige, der glaubte, einfach seine Meinung rechtmäßig äußern zu wollen, rieb sich an einem Tabu, das ihn vermeintlich ungerechtfertigt daran hinderte. Der Gegenstand seiner eigentlich polemischen und verletzenden Meinungsäußerung – die Juden – erschien ihm daher als Verursacher dieser Einschränkung. Der Meinende wurde zum Opfer und der Gemeinte zum Täter. Was jedoch war die so provozierende Aussage des Textes eigentlich genau und wie funktionierte sie? Der zentrale Satz von Treitschkes »Unsere Aussichten« lautete: »Bis in die Kreise der höchsten Bildung hinauf, unter Männern, die jeden Gedanken kirchlicher Unduldsamkeit oder nationalen Hochmuths mit Abscheu von sich weisen würden, ertönt es heute wie aus einem Munde: die Juden sind unser Unglück!«66 Diese Aussage ist von einigen Zeitgenossen, aber auch von der späteren Forschung als ein rhetorischer Trick hingestellt worden: als bloße Übertreibung der persönlichen Meinung Treitschkes. Obwohl man in seinen Texten häufig solchen Konstruktionen begegnet, ist auch eine andere Interpretation möglich.67 Der Historiker konnte sich durch die Diskussionen in seinem unmittelbaren Umfeld ermuntert fühlen. Wie bereits zuvor anhand von Briefen dargelegt, hatte er spätestens ein halbes Jahr vor »Unsere Aussichten« begonnen, sich mit Kollegen und Freunden über dieses Thema auszutauschen. Parallel zu den antisemitischen Umtrieben, die gerade in Berlin immer mehr um sich griffen, bekam er in der Tat den Eindruck, dass auch viele gebildete Bürger diese Frage für drängend hielten, sich aber nicht zu einer öffentlichen Stellungnahme durchringen konnten. Aus dieser Perspektive war der zentrale Satz des Textes kein rhetorischer Trick, sondern eine durchaus wörtlich gemeinte Feststellung. Wenn man sich diesen Satz allerdings genauer anschaut, wird es möglich, die eigentliche Streitinformation des Textes zu isolieren. Die Kernaussage lautete: »Die Juden sind unser Unglück!«68 Für die Streitinformation sind jedoch neben einer solchen Aussage der Kommunikator und das Publikum entscheidend. Der provozierende Charakter einer Aussage reicht nicht aus; es kommt stets darauf an, wer sie ausspricht und gegenüber wem. In diesem Fall konnte der Kommunikator kaum bekannter sein: Treitschke war als Historiker, Professor, Politiker, Publizist und Herausgeber der »Preußischen Jahrbücher« 66 Treitschke, Unsere Aussichten, S. 575. 67 Die rhetorische Strategie Treitschkes beschreibt Metz: »Bezeichnend ist die Verwendung von Zitaten, die nicht als wissenschaftliche Belege angeführt werden, sondern als eine »Art geistiger Kurzschrift« dienen, welche weitläufige Sachverhalte ebenso drastisch wie scharfsichtig zusammenfassen und dazu noch einen Hauch von Authentizität spüren lassen.« Metz, S. 348. 68 Bamberger sollte das ganz richtig für den Kernsatz des Textes ansehen. Vgl. Bamberger, Deutschthum und Judenthum, BAS, Bd. 1, S. 239.

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nicht nur eine Berühmtheit, er wurde von vielen gebildeten Bürgern als »Reichsherold« gefeiert. Diese Verehrung wurde von Juden geteilt. Ein sicher ungewöhnliches, aber dennoch aufschlussreiches Beispiel findet sich in dem Brief einer Jüdin, die aus einem religiösen Elternhaus stammte, sich aber immer weiter von der Religion entfremdet hatte. Ihrer anschließende Sinnsuche führte sie zu Treitschkes politischen Aufsätzen: »Ich kann Ihnen kaum sagen wie tief ich ergriffen war […]. Sie waren mir eine Art Erlösung.«69 Der Kommunikator von »Unsere Aussichten« konnte also für gebildete Bürger kaum gewichtiger sein. Dass sie das Publikum abgaben, vor dem Treitschke sprach, verdeutlichte schon das Medium, in dem er es tat: Die »Preußischen Jahrbücher« waren ein typisches Organ der bürgerlichen Bildungskultur. Viele Passagen des Textes richteten sich außerdem an diese Zielgruppe. Nicht zuletzt in dem zitierten, zentralen Satz bezog er sich ja auf die »Kreise der höchsten Bildung«. Die wesentlichste Information des Streites, d.h. derjenige Bestandteil von »Unsere Aussichten«, der im Kern die folgende Kontroverse auslöste, lautete daher: Der berühmte Historiker Heinrich von Treitschke behauptete öffentlich und im Namen der gebildeten Bürger, dass die Juden ihr Unglück seien. Treitschke suchte die Provokation bewusst, musste sich aber deswegen rechtfertigen. Seine Legitimation sah er vor allem in der generellen Volkserregung und speziell in der antisemitischen Bewegung: »Täuschen wir uns nicht: die Bewegung ist sehr tief und stark.«70 Der »Instinkt der Massen« habe einen »hochbedenklichen Schaden des neuen deutschen Lebens« erkannt.71 Er, Treitschke, verstand sich nur als neutraler Beobachter dieser Entwicklung, der jedoch nicht anders könne, als sich zum Sprachrohr dieses begründeten Unmutes zu machen. Die vielleicht wichtigste Begründung für seine Haltung bildete zudem das Motiv der Fremdheit, das Treitschke mit der Behauptung einer jüdischen Einwanderung einführte: »[…] über unsere Ostgrenze aber dringt Jahr für Jahr aus der unerschöpflichen polnischen Wiege eine Schaar strebsamer hosenverkaufender Jünglinge herein, deren Kinder und Kindeskinder dereinst Deutschlands Börsen und Zeitungen beherrschen sollen; die Einwanderung wächst zusehends, und immer ernster wird die Frage, wie wir dies fremde Volksthum mit dem unseren verschmelzen können.«72

Mit den »hosenverkaufenden Jünglingen« lieferte Treitschke einmal mehr ein Beispiel seiner rhetorischen Fähigkeit zur bilderreichen Zuspitzung.73 Nicht 69 Siehe die anonyme Zuschrift an Treitschke vom 10.1.1880, Nl. Treitschke, Kasten VIIB, Mappe »Zur Judenfrage«. Als diese Jüdin Treitschke schrieb, kannte sie »Unsere Aussichten« noch nicht. 70 Treitschke, Unsere Aussichten, S. 575. 71 Ebd., S. 572. 72 Ebd., S. 572f. 73 Vgl. Metz, S. 336 ff.

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nur an dieser Stelle legte der Essay Treitschkes Hang zu einer Ästhetik des Gehässigen offen. Den Typus des fremden Nomaden sah Treitschke auch noch in der literarischen Tätigkeit eines Ludwig Börnes verkörpert: »Börne führte zuerst in unsere Journalistik dem eigenthümlich schamlosen Ton ein, der über das Vaterland so von außen her, ohne jede Erfurcht abspricht, als gehöre man selber gar nicht mit dazu, als schnitte der Hohn gegen Deutschland nicht jedem einzelnen Deutschen in’s tiefste Herz.«74

Von außen her schamlos zu reden – Börne (und in etwas abgeschwächter Form auch Heine) repräsentierte in Treitschkes Denken eine Gestalt, an der die Grenzen der jüdischen Integration in die nationale Gemeinschaft überdeutlich hervortraten: Sie stand für die Halbheit, den Schein der Akkulturation und zugleich für nationale Unzuverlässigkeit. Somit wurde greifbar, wie Treitschke das Motiv nationaler Fremdheit auf die bürgerliche Bildungskultur zu beziehen wusste. Daher bildete die Fremdheit auch zugleich ein kulturelles Problem: Es drohe ein »Zeitalter deutsch-jüdischer Mischcultur«.75 Unter den Juden herrsche ein »gefährlicher Geist der Ueberhebung«, wofür vor allem das Werk des jüdischen Historikers Heinrich Graetz ein Beispiel abgebe. Mit solchen Elementen konnte man keine gemeinsame Kultur aufbauen bzw. sichern. Darüber hinaus lieferte er zusätzliche Argumente. So personifizierten die Juden auch das Gegenmodell zum Idealismus. »[…] unbestreitbar hat das Semitenthum an dem Lug und Trug, an der frechen Gier des Gründer-Unwesens einen goßen Antheil, eine schwere Mitschuld an jenem schnöden Materialismus unserer Tage […].«76 Gleichzeitig trugen die Juden zur Bildungskultur nichts Produktives bei: »Unter den führenden Männern der Kunst und Wissenschaft«, glaubte Treitschke zu wissen, »ist die Zahl der Juden nicht sehr groß; umso stärker die betriebsame Schaar der semitischen Talente dritten Ranges.«77 Um die Provokation erläutern zu können, die er mit der These, die Juden seien für die gebildeten Bürger ein Unglück, lanciert hatte, griff er folglich auf die etablierten Wahrnehmungs- und Kommunikationsmuster zurück: Der Jude war auch bei Treitschke ein Parvenü, Materialist und ein Nomade; später, als seine Argumentation religiöser wurde, kam das Muster des Talmudisten hinzu. Zehn Jahre nach der vollzogenen Emanzipation wollte Treitschke mit »Unsere Aussichten« die Differenz zu den deutschen Juden erneut festschreiben. Sein Text funktionierte als Verdichtungsarbeit, so dass die Juden als ein eigenständiges, kaum veränderliches Wesen erschienen. Was aber war der Kern die74 75 76 77

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Treitschke, Unsere Aussichten, S. 574. Ebd., S. 573. Ebd., S. 574. Ebd., S. 574.

ses Wesens, der jüdische Charakter? Treitschke war kein Rassist im engeren biologistisch-körperlichen Sinne. Folglich zeichnete er den gesamten Konflikt als geistiges Problem: Letztlich handelte es sich um die »Kluft zwischen abendländischem und semitischem Wesen«.78 Dementsprechend lief die zentrale Forderung Treitschkes auf einen Integrationalismus hinaus: »sie sollen Deutsche werden, sich schlicht und recht als Deutsche fühlen […]«.79 In der Tradition der Volksgeistkonzepte stehend, besaßen die Juden für ihn gleichwohl ein eigenes Wesen, das kulturell extrem gefestigt war. Folglich werde die Kluft bleiben, oder, wie Treitschke feststellte: »[…] es wird immer Juden geben, die nichts sind als deutsch redende Orientalen«.80 Sein prononcierter Integrationalismus kam an dieser Stelle an seine Grenze, und der Essay verstrickte sich bei seiner Kernforderung in einem kategorialen Widerspruch. Indem er etwas von den Juden mit aller rhetorischen Energie forderte, das zu erlangen er sie zugleich nicht für fähig hielt, stolperte er auch (wie schon Richard Wagner) über die Fallstricke des Volksgeistkonzeptes. Die Verdichtungsarbeit in dem Essay richtete sich aber keineswegs bloß auf die Juden; mindestens so wichtig war Treitschke die Gegenseite. »Gebe Gott«, lautete der letzte Satz des Artikels, »dass wir aus der Gährung und dem Unmuth dieser ruhelosen Jahre eine strengere Auffassung vom Staate und seinen Pflichten, ein gekräftigtes Nationalgefühl davontragen.«81 »Unsere Aussichten« stellte einen Reflex auf die Verunsicherung unter gebildeten Bürgern dar. Auch Treitschke gehörte zu den Männern, die von der Krise der Bildungskultur überzeugt waren und dagegen anschrieben – nur tat er das mittels der Juden. Das gekräftigte Nationalgefühl brauchte eine Folie, vor deren Hintergrund es Konturen erhalten, mithin normativiert werden konnte. Dabei war es ganz entscheidend, nicht einfach von einem unspezifischen, bloß allgemein bedrohlichen Anderen zu sprechen; es musste ein konkreter, ein kulturell Anderer sein.82 Aus diesem Grund vermischten sich die allgemeinen nationalistischen Fremdheitsmotive mit den konkreten, kulturellen der Bildungskultur. Die nationalistische Bewegung gegen die Juden erweiterte Treitschke mit den Mitteln der bürgerlichen Bildungskultur zu einem kulturellen Feldzug gegen sie.

78 Ebd., S. 576. 79 Ebd., S. 573. 80 Ebd., S. 576. 81 Ebd. 82 Insofern lässt sich von hier aus das Bild des Juden als nicht-nationaler Dritter spezifizieren. Dabei wird davon ausgegangen, dass Juden nicht wie Engländer einfach Mitglieder einer anderen Nation waren, sondern dass sie das Prinzip der nationalen Unterscheidung als solches unterliefen. Sie verkörperten allerdings dieses »Tertium non datur« nicht nur für die Unterscheidung zwischen Nationen, sondern stellten alle Unterscheidungen in Frage. Vgl. Holz, Die Figur des Dritten.

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4.3 Verteidigung: Ein Kaleidoskop jüdischer Abwehrstrategien »Wahrscheinlich waren die Juden bisher in der Vorstellung befangen, dass Bildung nicht blos Macht verleiht, sondern auch vor den Menschen wohlgefällig macht.«83

Treitschkes »Unsere Aussichten« löste innerhalb kurzer Zeit eine umfangreiche Kontroverse aus. Nahezu ausschließlich deutsche Juden nahmen den Fehdehandschuh auf, den Treitschke ihnen hingeworfen hatte, und antworteten auf den Essay. Schon vorher hatten sie erste Auswirkungen der antisemitischen Bewegung auf gebildete Protestanten registriert. Ein Beispiel dafür lieferte z. B. Heymann Steinthal, der in einem Artikel »Ueber religiöse und nationale Vorurtheile« allgemeine Aussagen über diese Phänomene traf, diese aber oft anhand des Hasses gegen Juden konkretisierte, wie sich an einem längeren Zitat illustrieren lässt: »Man spricht nur den Namen Hellas oder Rom, Italien aus, und man glaubt schon leibhaftig eine andere Bläue des Himmels über seinem Haupte gezaubert zu haben. Es sind eben die glänzendsten Erscheinungen der Art, welche das Gefühl am mächtigsten wecken. Und so geschieht es umgekehrt an den abstoßendsten Gestalten. Vor dem überlieferten Phantasiebild des abscheulichsten, seine innere Nichtswürdigkeit auf der Stirn tragenden Juden fragt man sich: wie kann dieses Volk, ein solches Volk Gemüth haben? Dichtung? Gesang und Musik? gar Poesie im Leben? sittliche Grundsätze? Liebe aller Art? Freude an Reinlichkeit, an sauberer Umgebung? kurz, wie kann es haben, was ich habe? sein, wie ich bin? Wie können, fährt der Gebildete fort, Semiten deutsch sein? [...] Wie kann in der semitischen Race hellenisch-römisch-germanisches Gemüth sein? Verständnis für Plato, Kant, Beethoven? oder gar Fähigkeit, in ihrem Geiste zu schaffen?«84

Steinthal definierte das Vorurteil als den »leere[n] Schein eines Urtheils«, das insbesondere aus der Unbildung, aus einer »Trägheit des Geistes« resultiere.85 Allerdings passte gerade diese generelle Auffassung wenig zum Vorurteil unter Gebildeten, das ihn offensichtlich besonders umtrieb. Speziell für diesen Fall stellte der Völkerpsychologe daher fest, dass Gebildete entweder schon so gefestigt in ihrer Vorurteilsstruktur seien, dass eine gegenteilige Erfahrung gar nicht mehr gemacht werde, oder dass sie bereit seien, Ausnahmen von der Regel anzuerkennen. Die etwas unklare Ursachenanalyse Steinthals korrelierte mit der Unsicherheit, wie man gegen Vorurteile unter Gebildeten vorgehen 83 Oppenheim, Stoecker und Treitschke, BAS, Bd. 1, S. 275. 84 Steinthal, Ueber religiöse und nationale Vorurteile, S. 196. 85 Ebd., S. 191f.

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sollte. Wenn das Vorurteil aus einem Mangel an Wissen oder Reflektiertheit entstehe, müsste Aufklärung helfen. Steinthal schien auch an mehren Stellen seines Essays genau diese Strategie im Kampf gegen Antisemitismus zu favorisieren. Gleichzeitig besaß er große Zweifel: »Vorurtheile werden wie Lieblinge, Kinder der Liebe, gehegt, deren Schwäche wir kennen, von denen wir alles Schädliche fern halten.«86 Steinthals Skepsis war angebracht: Nach der Veröffentlichung seines Textes erhielt die Redaktion der »Deutschen Revue« anonyme Leserbriefe, die, wie der Herausgeber mitteilte, »gerade von gelehrten Männern« geschrieben und voller Angriffe gegen Juden gewesen seien.87 Steinthals Erörterung, deren Aktualität in den Wochen nach der Veröffentlichung noch zunehmen sollte, legte einige grundlegende Fragen offen, die sich gebildete Juden immer wieder stellten: Wie konnte Antisemitismus unter gebildeten Bürger überhaupt entstehen, und wie konnte man ihn wirksam bekämpfen? Und gleichzeitig: Wie konnte man im selben Moment die eigene Teilhabe an der bürgerlichen Bildungskultur nachweisen, die mit den antisemitischen Angriffen offensichtlich bezweifelt werden sollte? Die letzte Frage deutet ein wichtiges Element der meisten Repliken von gebildeten Juden an: Die Verunsicherung durch die Angriffe gründete sich auf den wachsenden Zweifeln über die eigene Position in der bürgerlichen Bildungskultur. Erst unter diesem Gesichtspunkt wird die ganze Brisanz der jüdischen Verteidigung erkennbar: Es handelte sich keineswegs »nur« darum, einige mehr oder weniger gekonnte, mehr oder weniger gehässige Angriffe zu widerlegen; das Problem war ihre eigene Existenz in einem immer unsicherer erscheinenden kulturellen Umfeld. Innerhalb weniger Tage lagen die ersten Reaktionen auf Treitschkes Essay vor. Relativ schnell wurde klar, dass vor allem gebildete Juden auf Treitschke antworteten. Das Abwehrproblem stellte sich mit Treitschke völlig neu: Viele Juden begriffen, dass die Debatten über die »Judenfrage« mit »Unsere Aussichten« eine andere Qualität bekommen hatten. Die antisemitischen Ausfälle eines Wilhelm Marr waren nur von wenigen Juden ernst genommen worden; insbesondere die Gebildeten unter ihnen hatten wenig Anlass gesehen, auf solche Provokationen zu antworten. Selbst als Stoecker in den Versammlungen seiner Christlich-Sozialen Partei gegen die Juden zu hetzen begann, rief das nur einige Reaktionen hervor. Stoecker wurde trotz seiner hervorgehobenen Stellung als Hofprediger auch von Juden als religiöser Fanatiker wahrgenommen, der noch dazu pöbelhafte Exzesse in Kauf zu nehmen schien. Dass sich dabei vor allem Angehörige des Kleinbürgertums und des unteren Mittel86 Ebd., S. 197. 87 Siehe den Brief von Richard Fleischer an Lazarus vom 3.1.1880, Nl. Lazarus, HU-Bibliothek, Brief-Nr. 418. In der Folgezeit war Steinthal offensichtlich immer weniger von dem Sinn eines Abwehrkampfes überzeugt. Vgl. dazu seinen Brief an Gustav Glogau vom 3.10.1890, in: Belke, Lazarus und Steinthal, Bd. 40, S. 302 ff.

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standes hervortaten, konnte die gebildeten Bürger unter den Juden noch weniger veranlassen, offenen und deutlichen Widerstand gegen diese Auswüchse zu organisieren.88 Diese Lage sollte sich mit dem Auftreten Treitschkes jäh ändern: »Er war der erste Mann von Ruf, der in solcher Weise sich äußert. Mit den Marr, Stöcker, Glagau ff. wollte und konnte man sich nicht herumstreiten.«89 Auf der ersten Ausschusssitzung des Deutsch-Israelitischen Gemeindebundes nach dem Erscheinen von »Unsere Aussichten« zeigten sich alle Anwesenden alarmiert. Der Vorsitzende Jakob Nachod sprach die »ernstliche Befürchtung« aus, »dass die öffentliche Meinung durch solche Arbeiten von solchen Persönlichkeiten wie Treitschke corrumpirt werde und in Folge dessen die Kluft immer größer werden könnte«.90 Plötzlich mussten sich Juden, die sich für integriert halten konnten, wieder mit diesem Thema beschäftigen: Ludwig Bamberger klagte gegenüber seiner Tante Henriette Belmont: »[…] Hier, in der literarischen Polemik spielt der liebe alte ›Risches‹ wieder seine Rolle und ein Aufsatz von Treitschke hat alle Welt in Harnisch gebracht […].«91 Dabei war völlig klar, dass ein Großteil der Aufregung seiner öffentlichen Position geschuldet war: »Die Ehre der Erwiderung gilt nicht ihm, sie gilt der hohen Bildungsanstalt, deren Professor er ist.«92 Allerdings ging die Verunsicherung weit über Fragen eines wirkungsvollen Abwehrkampfes hinaus. Wie weit die persönliche Irritation reichte, spiegelte die Sprache wider. Hatte sich Treitschkes Angriff durch eine Ästhetik des Gehässigen ausgezeichnet, fiel an den jüdischen Zurückweisungen auf, wie häufig der Begriff der Ehre verwandt wurde. In der ausbrechenden Kontroverse ging es nicht allein um Inhalte, sondern auch um die Normen des gesellschaftlichen Umgangs unter gebildeten Bürgern. Dabei wurde »Ehre« zum Ausdrucksmittel für die besondere Kränkung, die Treitschkes Angriff für die gebildeten Juden bedeutete. Dahinter verbargen sich zumeist Vorstellungen einer Ehre als Jude, als Deutscher – das beides explizit – und als gebildeter Bürger – das häufig nur implizit. »Der Kampf in seiner jetzigen Ausdehnung ist«, schrieb der orthodoxe Publizist Seligmann Meyer, »nicht mehr ein Kampf für die Juden; er ist ein Kampf für die Ehre und die Gesittung, für den guten Ruf der deutschen Nation.«93 In einer ähnlichen Weise sprach der Philosoph Hermann Cohen von einer »Ehrenfrage«.94 Auch für einige Nichtjuden war einsichtig, dass sich die Juden in ihrer Ehre gekränkt fühlten. So unterstützte 88 89 90 91 93. 92 93 94

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Vgl. Meyer, Great Debate, S. 143. »AZJ« vom 17.1.1880. Siehe das Protokoll der Ausschusssitzung vom 4.12.1879, CAJHP M1/7, Bl. 169. Siehe den Brief Bambergers an Belmont vom 19.12.1879, Nl. Bamberger, Mappe 3, Bl. Meyer, Zurückweisung, S. 6. Ebd., S. 4. So geschehen bereits in seinem ersten Brief an Treitschke: Holzhey, S. 187.

der Schriftsteller Ernst Wichert Moritz Lazarus in seiner Haltung zu Treitschke: »Dass überhaupt geantwortet werden mußte – jeder Zeile merkt man’s an, wie bitter schwer Ihnen, einem Manne wie Sie, diese Nothwendigkeit einging. Aber es war in der That Ehrenpflicht, gerade für diejenigen, die ganz sicher sind nicht gemeint zu sein, ihre Stimme zu erheben und Zeugniss abzulegen für die Beleidigten.«95

Gleichzeitig signalisierte die Sprache der Ehre, wie existentiell der Angriff aufgefasst wurde: Wer von Ehre sprach, sah seine ganze Person involviert. »Begreift Ihr aber nicht«, warf die orthodoxe »Jüdische Presse« den Antisemiten entgegen, »dass es für den Menschen etwas giebt, was heiliger ist und schmerzlicher verwundet wird, als die politischen Rechte, seine Sittlichkeit, sein Charakter und seine Ehre?96 In ganz ähnlicher Weise, persönlich aber viel drängender meinte der Berliner Historiker und jüdische Kollege Treitschkes, Harry Breßlau, über dessen Verhalten: »Wie es scheint, empfindet er gar nicht, wie verletzend gerade diejenigen unter den Juden, welche sich ganz deutsch zu denken und zu fühlen bewußt sind, der [...] Satz: ›Die Juden sind unserer Unglück‹ berühren mußte. Hier waren nicht blos Auswüchse des Judenthums angegriffen, sondern alle Juden; es war als die Anschauung der besten Kreise unserer Nation eine Behauptung hingestellt, die zurückzuweisen nicht eine übertriebene Empfindlichkeit, sondern unsere Pflicht und unsere Ehre uns geboten.«97

Die Sprache der Ehre offenbarte, wie tief sich die jüdischen Kontrahenten Treitschkes in ihrem Persönlichsten verletzt empfanden. Dass Treitschke ihnen – und Breßlau persönlich – deshalb übertriebene Empfindlichkeit vorwarf, bestätigte nur den Tatbestand der Beleidigung. Wie stets so verwandte man auch hier den Begriff der »Ehre«, um eine persönliche Kränkung zu markieren und um damit gleichzeitig die »Erhaltung der Gruppe« zu gewährleisten.98 Indem sich die Juden individuell verteidigten, verteidigten sie ihre Referenzgruppe: die deutsch fühlenden, gebildeten Juden. Dass eine neue Stufe der Auseinandersetzung erreicht worden, als Treitschke die Juden angriff, sieht man gerade an dem Verhalten vieler herausragender Persönlichkeiten des deutschen Judentums. Wie sehr man vor allem von dieser Seite Unterstützung erwartete, hatte die »Allgemeine Zeitung des Judenthums« sofort deutlich gemacht:

95 Siehe den Brief Wicherts an Lazarus vom 11.1.1880, Nl. Lazarus, HU-Bibliothek, BriefNr. 424. 96 »JP« vom 15.1.1880. 97 Breßlau, Nachwort zur zweiten Auflage, BAS, Bd. 1, S. 361f. 98 Simmel, S. 602.

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»Haben wir nicht gegenwärtig eine große Zahl tüchtiger Juristen? Sind nicht aus unserer Mitte bedeutende Professoren und Docenten hervorgegangen? Haben sich nicht Mehrere als ausgezeichnete Publizisten einen Namen erworben? Und doch alle diese haben das vollste Stillschweigen beobachtet, obschon die Angriffe speziell auch sie trafen [...].«99

Das sollte sich ändern: Die führenden Protagonisten der jüdischen Integration in die bürgerliche Bildungskultur reagierten direkt auf Treitschke und traten damit offen für die jüdische Sache ein, was nicht bei allen von ihnen selbstverständlich war. In ihre Antworten mischte sich vieles: ihr eigener intellektueller, politischer und wissenschaftlicher Standpunkt, ihre Haltung zum Judentum, ihre religiösen Überzeugungen und ihre Position innerhalb des deutschen Judentums. So ergab sich ein Kaleidoskop von Antworten auf die zeitgenössischen Formen des Antisemitismus, das gleichzeitig ein Gradmesser für die Versuche dieser Protagonisten war, aus der Defensive heraus positive Bestimmungen für eine zeitgemäße jüdische Identität zu gewinnen. Die Debatte auf einen Streit um Antisemitismus zu reduzieren, würde bedeuten, den Reichtum dieser Antworten zu ignorieren und unter der Hand die alte Tendenz ein weitere Mal zu bestätigen, das selbstbewusste Auftreten der Juden für apologetische Unterwürfigkeit zu halten.

4.3.1 Juden in der Bildungskultur I: Das Vorbild des Gebildeten bei Harry Breßlau Im Dezember 1879 veröffentlicht der Mediävist Harry Breßlau seine Schrift »Zur Judenfrage. Sendschreiben an Herrn Prof. Dr. Heinrich von Treitschke«. Breßlau war ein Kollege Treitschkes an der Berliner Universität; seiner Replik kam allein deshalb besondere Bedeutung zu. Er fühle sich verpflichtet, schrieb Breßlau direkt an die Adresse Treitschkes, seine Stimme gegen ihn zu erheben, weil er bisher zu ihm »in freundlich-collegialischen Beziehungen« gestanden habe, weil er ein »Jünger derselben Wissenschaft« und in politischen Dingen bisher zumeist einer Meinung mit dem berühmteren Kollegen gewesen sei.100 Breßlaus Text enthielt nüchterne, detaillierte Widerlegungen der Behauptungen Treitschkes. So stellte er etwa fest, dass die »Judenfrage« nicht, wie sein Kollege gemeint hatte, plötzlich aus einem Instinkt der Massen hervorgegangen, sondern das Resultat einer politischen Strategie sei. Im ultramontanen und erzkonservativen Umfeld habe man seit 1875 mit dem Angriff auf die Juden den Liberalismus schwächen wollen; die antisemitische Bewegung sei 99 »AZJ« vom 13.1.1880. 100 Breßlau, Zur Judenfrage, BAS, Bd. 1, S. 196.

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»von bestimmten politischen Parteien zu bestimmten politischen Zwecken« »künstlich« erzeugt worden.101 Sicherlich aufgrund solcher sachlichen Einwände wurde die Schrift Breßlaus zumeist sehr positiv aufgenommen: »Zum ersten Mal wird hier Herrn v. Treitschke in einer dieses Gegners würdigen Weise geantwortet.«102 Im Kontrast zu der nüchterner Form der Replik stand nur eine einzelne Passage, in der die persönliche Dimension des Themas aufschien. Breßlau meinte, dass im Gegensatz zu seinen französischen oder italienischen Glaubensgenossen die deutschen Juden im öffentlichen Verkehr schon allein wegen ihres äußeren Erscheinungsbildes auffielen. Und er fügte hinzu: »Es ist eine der trübsten Erinnerungen aus meiner Kinderzeit, mit welchem Schmerz und mit welcher Bitterkeit es mich erfüllte, wenn mir als siebenjährigem Knaben, der sich keiner Schuld bewußt war und von nationalen Unterschieden noch wenig verstand, die Buben auf der Straße schmähend Jude nachriefen. Heute denke ich milder davon und wundere mich ebensowenig darüber, wie es mich in Erstaunen setzt, unsere Gassenjungen eine fremde Uniform oder einen chinesischen Zopf anstarren und betasten zu sehen.«103

Die Erfahrung der Differenz in fernen Kindertagen erschien dem Historiker in der Gegenwart weniger schmerzhaft, aber die Differenz – und liege sie nur in der Exotik äußerer Merkmale – war erhalten geblieben. Allerdings offenbarte sich für Breßlau das eigentliche Problem hinter dem symbolhaften Äußeren: der Prozess der inneren, der geistigen Integration. Breßlau forderte alle Nichtjuden dazu auf, endlich ihre Ignoranz gegenüber der »jüdischen städtischen Durchschnittsbevölkerung« aufzugeben und zur Kenntnis zu nehmen, dass diese »ohne den vordringlichen Luxus der Geldaristokratie« und »ohne den verkommenen Schmutz des Wucher- und Trödlerthums« »in stiller bürgerlicher Arbeitsamkeit« lebe.104 Diese Gruppe in ihrer Bedeutung wahrzunehmen, würde helfen die wirklichen Erfolge, aber auch die Probleme zu sehen. Die verbürgerlichten Juden – oder gar die gebildeten Juden wie er selbst – müssten nicht mehr zu einer Ausnahme stilisiert werden.105 Zudem könnte so seine eigene Arbeit – und die anderer gebildeter Juden – für das Voranschreiten des Integrationsprozesses gewürdigt werden: 101 Ebd., S. 200. 102 »IWS« vom 14.1.1880. Eine Ausnahme bildete: Meyer, Zurückweisung. 103 Breßlau, Zur Judenfrage, BAS, Bd. 1, S. 202f. 104 Ebd., S. 216. 105 Eine solche Ausnahmestellung wies Breßlau empört zurück und legte zugleich die Ratio solcher Zuschreibungen offen: »Jeder einzelne Jude muss sich somit [...] seine bürgerliche und gesellschaftliche Stellung erst von Neuem erkämpfen, und wenn er sie errungen hat, dann gilt auch er höchstens als eine Ausnahme, dem man, wie mir das noch vor kurzem von einem hochgebildeten, mir sehr wohlgesinnten Manne begegnet ist, ein zweifelhaftes Compliment macht, indem man ihm sagt, dass er doch eigentlich gar kein Jude sei.« Ebd., S. 215f. Gemeint war mit dem »wohlgesinnten Manne« höchst wahrscheinlich Leopold Ranke. BAS, S. 216.

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»[...] während ich und meine jüdischen Gesinnungsgenossen unablässig bestrebt sind, durch das Beispiel, das wir geben, und durch directe Einwirkung, durch unsere Lehre und durch unseren Wandel jenen Proceß zu beschleunigen, – gesellen Sie Sich zu den Männern, die unser Werk erschweren und die Gegensätze verschärfen [...].«106

Breßlau bemühte sich im Namen dieser Männer zu sprechen, als er die bittere Enttäuschung über den Kernsatz von »Unsere Aussichten« zum Ausdruck brachte. Die Juden hätten nicht bloß an dem materiellen, sondern auch an dem geistigen Kapital der deutschen Nation Anteil; allein an deutschen Hochschulen gäbe es siebzig Professoren jüdischer Abkunft. Nicht nur in Bezug auf diese gebildeten Bürger könne man unmöglich von einem Unglück sprechen. Durch ›Lehre und Wandel‹ an der Integration in die Bildungskultur mitzuarbeiten – das sah Breßlau als die Aufgabe der gebildeten Juden an. Ob mit Abschluss der Integration noch eine eigenständige jüdische Identität bestehen bleiben könnte oder ob sie sich durch die Einwirkung der Bildungskultur auflösen werde, ließ der Mediävist offen; man mag aber an einer fortgesetzten Bedeutung zweifeln, da jüdische Identität in Breßlaus Sicht allenfalls als ein Gut verstanden wurde, das man gegen Angriffe zu verteidigen hatte. Es war wie ein chinesischer Zopf – kurios, aber in letzter Konsequenz kaum der Rede wert. Mit Emotionalität belud Breßlau hingegen den Prozess der Integration und Akkulturation in die Bildungskultur; sich an dessen Fortschritt versündigt zu haben, war sein zentraler Vorwurf an Treitschke.

4.3.2 Juden in der Bildungskultur II: Die Dialektik der Integration bei Ludwig Bamberger Der liberale Politiker jüdischer Herkunft, Ludwig Bamberger, hatte als eine der herausragenden Persönlichkeiten bis Sommer 1879 zusammen mit Heinrich von Treitschke in der nationalliberalen Reichstagsfraktion gesessen. Bamberger reagierte sofort auf »Unsere Aussichten«: In der Revue »Unsere Zeit« publizierte er den Artikel »Deutschthum und Judenthum«, der später auch als eigene Flugschrift erschien. Dieser Schritt war auch deshalb beachtlich, weil es fast die einzige öffentliche Stellungnahme Bambergers darstellte, in der er sich zum Judentum äußerte und bekannte. Zunächst war es das vornehmliche Ziel des Textes, die politischen Hintergrunde der Attacke offen zu legen; stellte sie doch nur eine »Diversion im heutigen großen Feldzuge gegen den Liberalismus« dar.107 Bamberger entgingen die verschiedenen Dimensionen der Liberalismuskritik Treitschkes nicht. Er fand hellsichtige, sich nur zu sehr be106 Ebd., S. 206. 107 Bamberger, Deutschthum und Judenthum, BAS, Bd. 1, S. 223.

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wahrheitende Worte für den »Cultus der Nationalität«, den dieser propagierte.108 Gleichwohl lässt sich auch ein anderer Argumentationsstrang in Bambergers Artikel isolieren. In seinen einleitenden Sätzen formulierte er eine lohnende Aufgabe für den Historiker und Patrioten: »[…] sich mit den eigenthümlichen Erscheinungen zu befassen, welche aus der Vermischung des jüdischen Elements mit modernem Volkswesen sich herausgebildet haben«.109 An diesem ›jüdischen Element‹ würden wahrlich erstaunliche Phänomene sichtbar: das »Hineinragen eines Stückes ältester Zeit in die Gegenwart«, eine »wundersame Lebenskraft«, hinter der sich eine »starke Individualität« verberge, und dabei gleichzeitig diese »wundersame Fähigkeit der Assimilation, welche auf der Möglichkeit beruht, Eigenes preiszugeben und Fremdes in sich aufzunehmen«.110 Gleichzeitig könne der Beobachter in allen diesen Vorgängen die »Grundzüge des deutschen Wesens selber« am Werke sehen.111 Das Thema der Verschmelzung stellte sich ihm als eine komplizierte Wechselbeziehung zweier eigenständiger Entitäten dar: »Deutschtum und Judentum«, und er kam in der Folge immer wieder darauf zurück, wie dialektisch sich diese Beziehung gestaltete. Zwar war für Bamberger Kultur keine Frage der Reinheit, sondern immer eine Mischung verschiedener Einflüsse, mithin die Integration eines ursprünglich fremden Elementes in einen Volksgeist möglich. Dennoch fällt an seinen Ausführungen auf, wie stark er noch von eigenständigen, ›unverschmolzenen‹ Einheiten ausging. Gemeinsame Berührungspunkte zwischen ›Deutschtum‹ und ›Judentum‹ müssten allerdings vorhanden gewesen sein, um die enorme Anpassungsbewegung zu ermöglichen. Die Deutschen seien durch ihre Anlagen besonders geeignet, die »spiritualistischen Anschauungen des Judenthums«, die in Form des Christentums auf die Germanen gewirkt habe, in sich aufzunehmen.112 Beide, Juden und Deutsche, seien kosmopolitisch veranlagt; sie besäßen das »Geheimniß der Spekulation, wie im philosophischen, so auch im kaufmännischen Sinne«.113 Gleichwohl gäbe es auch Trennendes zwischen den beiden. »Bedächtiges, feierliches, andächtiges, ernstes, gehorsames Wesen [der Deutschen, d. Vf.] sticht ab gegen einen wundersam beweglichen, sarkastischen, skeptischen, undisziplinirbaren Geist [der Juden, d. Vf.].«114 Insgesamt trafen Bambergers Beschreibungen jene Dialektik von Nähe und Ferne, welche die Integration der Juden in die bürgerliche Bildungskultur prägte – und das auch gerade da, wo er über die problematischen Aspekte dieser Beziehung sprach: »Aber neben dem, was sie gegenseitig an108 109 110 111 112 113 114

Ebd., S. 224. Ebd., S. 217. Ebd. Ebd., S. 218. Ebd., S. 231. Ebd. Ebd., S. 231f.

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zieht, gibt es auch wieder so manches, was die einen von den andern abstößt […]. Eine Mischung von heterogenen und verwandten Geisteseigenschaften: das ist gerade der Stoff, aus welchem die intimen Feindschaften gebraut werden.«115 Trotz dieser Schwierigkeiten stand für den Liberalen Bamberger felsenfest, dass durch die Juden eine Mischkultur, wie sei Treitschke befürchtete, gerade nicht drohe. Woher hätten die Juden, die in den Hörsälen der Mediziner, Juristen und Historiker Vorlesungen hörten und sich sogar die Hälse für die Musik Richard Wagners brächen, diese fremde Kultur auch haben sollen? Eines jedoch war durch den Angriff Treitschke für Bamberger erkennbar geworden: Mit den Vorurteilen gegen die Juden müsse gerechnet werden. »Es ist besser, die Juden kennen das Gefühl des Widerstrebens, welches unter dem Zwange der äußern Höflichkeit sich verbirgt.«116 Und wie zu sich selber sagte er dabei, dass sich durch diese Angriffe nunmehr auch diejenigen zum Widerspruch herausgefordert fühlten, die lange Zeit geglaubt hätten, dass es Wichtigeres gäbe, als sich um diesen alten Hader zu kümmern. Auch Bamberger – als einer derjenigen Juden, »[…] welche nur noch durch die Bande der Pietät mit dem Judenthum zusammenhängen« – fühlte sich nun zum publizistischen Protest aufgefordert.117 Gerade auch dieses Verantwortungsgefühl für seine Glaubens- und Stammesgenossen wurde gewürdigt.118 Neben der dominanten politischen Argumentationslinie lieferte Bamberger ein Beispiel dafür, wie wenig diese politische Debatte im luftleeren Raum stattfand. Dass Treitschke den Liberalismus mit Hilfe der »Judenfrage« kritisieren konnte und die Art, wie er es tat, verurteilte auch seine jüdischen Gegner dazu, ihre Widerlegungen auf mehreren Ebenen zu entwerfen. Sichtbar wurden daher nicht nur die (partei-)politischen Differenzen zwischen Bamberger und Treitschke; offen gelegt wurden auch ihre unterschiedlichen kulturellen Maßstäbe. Bambergers Gedanken zur kulturellen Dialektik der Integration sollten die Dimension des Angriffes deutlich machen und ihn gleichzeitig entschärfen helfen: So kompliziert die kulturelle Angleichung der beiden Pole – Deutsche und Juden – auch sein möge, es fand ein solcher Prozess statt, und diesen wollte Bamberger positiv bewertet wissen. Als bemerkenswert an seinen Ausführungen sticht hingegen eine Ähnlichkeit mit Treitschke ins Auge: Die Dominanz des Volksgeistkonzepte führte auch Bamberger zu essentialistischen Aussagen über Deutschtum und Judentum. Auch wenn er nicht wie Treitschke in die Falle dieses Konzeptes tappte – nämlich die Unaufhebbarkeit der jüdischen Identität zu konstatieren und sie zugleich abschaffen zu wollen –, vermittelte er doch 115 Ebd., S. 230. 116 Ebd., S. 241. 117 Ebd., S. 242. 118 Die jüdische Presse lobte Bambergers Schrift sehr, selbst die orthodoxe »Jüdische Presse« zitiert ausführlich und zustimmend aus der Schrift: »JP« vom 5.2.1880. Die »Allgemeine Zeitung des Judenthums« fand besonders die sprachliche Form lobenswert: BAS, Bd. 1, S. 400f.

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den Eindruck, dass sich zwei wesenstarke Entitäten gegenüberstanden, deren dialektische Anpassung aneinander sowohl befruchtende als auch feindselige Effekte haben werde – und Treitschke war ein Beispiel solcher intimen Feindschaft. Den Stellenwert einer jüdischen Identität klärte Bamberger in seinem Text nur implizit. Die Entität »Judentum« postulierte er gleichwohl nicht nur in ihrer Eigenständigkeit, ihre Qualitäten – Beweglichkeit und Skeptizismus des Geistes – erschienen zugleich moderner und fortschrittlicher als diejenigen des »Deutschtums«.

4.3.3 Juden in der Bildungskultur III: Die religiöse Vereinheitlichung bei Hermann Cohen Der junge Marburger Philosophieprofessor Hermann Cohen veröffentlichte erst Ende Januar seine Replik auf Treitschke; vorher hatte er sich zweimal brieflich an ihn gewandt. Ihn trieb der »Wunsch nach einer, wie mir trotz Allem scheint, durchaus möglichen Verständigung« an.119 Cohen forderte seinen Berliner Kollegen auf, seinen ersten Brief in den »Preußischen Jahrbüchern« zu veröffentlichen. »Sie werden«, wurde diese Bitte im zweiten Brief dringlicher, »so am bestimmtesten Ihre Gerechtigkeit darstellen, und ausdrücken, dass mir Gleichgesinntem die Hoffnung zur fernern Mitarbeit auf ihrem Boden unverletzt bleibt.«120 Treitschke schrieb nur unverbindlich zurück und ging nicht auf Cohens Wunsch ein.121 Später legte er nur mit einer kleinen Bemerkung in »Noch einige Bemerkungen zur Judenfrage« nach, die noch dazu ein vergleichsweise nebensächliches Detail betraf.122 Mit diesem Schritt Treitschkes sah Cohen seinen Verständigungsversuch endgültig als gescheitert an. Insbesondere dass Treitschke die Debatte durch seine späteren Äußerungen verstärkt auf das religiöse Gebiet zog und das Judentum als die »Nationalreligion eines uns ursprünglich fremden Stammes« bezeichnete, veranlasste Cohen zu einer eigenständigen Veröffentlichung.123 Sein »Bekenntniß« setzte er dabei – nicht ganz glücklich – aus den beiden vorherigen Briefen zusammen. Der Ausgangspunkt von Cohens Argumentation lautete, dass eine Nation durch ein gemeinsames religiöses Fundament objektiv verbunden sein müsse. 119 Siehe den ersten Brief Cohens an Treitschke vom 13.12.1879, in: Holzhey, S. 189. 120 Siehe den Brief Cohens an Treitschke vom 27.12.1879, in: ebd., S. 202. 121 Der Brief gilt wie der ganze Nachlass Cohens seit der Deportation seiner Frau Martha nach Theresienstadt als verschollen. Eine kurze Schilderung der Auseinandersetzung zwischen Treitschke und Cohen findet sich in: Rosenzweig, S. XXVII ff. 122 Vgl. Treitschke, Noch einige Bemerkungen zur Judenfrage, BAS, Bd. 1, S. 85. 123 Ebd., S. 92.

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»Eine Nation, welche ihr staatliches Dasein gründen und festigen will, hat für ihre religiöse Grundlage zu sorgen. Was zu Einem Volke gehören will, muß an dieser gemeinsamen religiösen Grundlage Antheil haben.«124 Mit Bezug auf Kants Religionsphilosophie wollte Cohen zwischen den verschiedenen historischen Religionen und einer ihnen allen gemeinsamen Vernunftreligion differenzieren. Religiöse Unterschiede in einer Nation dürften sich nur aus den historischen Religionen ergeben; darunter müsse noch eine tiefere religiöse Gemeinsamkeit vorhanden sein. Im Verhältnis des Judentums zur deutschen Nation ergäbe sich daraus aber kein Dilemma; denn, so Cohens Hauptthese, im »wissenschaftlichen Begriff der Religion« könne er zwischen »dem israelitischen Monotheismus« und »dem protestantischen Christenthum« keine Differenz erkennen.125 Den israelitischen Monotheismus sah er geprägt durch einen besonderen Gottesbegriff und die Heilserwartung für alle Menschen, das protestantische Christentum hingegen durch die Menschwerdung Gottes und damit durch die Humanisierung der Religion zur Sittlichkeit. Für den Kantianer Cohen war das die entscheidende Leistung des Christentums für die Begründung von moralischer Autonomie. Natürlich war Cohen sich bewusst, welch’ heikle Thesen er in den Raum stellte, wenn er den historischen Wert des Christentums betonte. Er fügte daher sogleich hinzu, dass er von Juden keinen Übertritt zum Christentum erwarte. Bei aller notwendigen Humanisierung der Religion müsse doch »ein der Vermenschlichung unzugänglicher Kern des alten Prophetengottes« gewahrt bleiben. Trotzdem ergaben sich gerade aus diesen Passagen die häufigsten Missverständnisse, so dass Cohen in seinen späteren Richtigstellungen auf diesen Punkt zurückkommen musste.126 Cohens Bekenntnis wurde auch deshalb als Missionsschrift fehlgedeutet, weil er nicht nur den historischen Sinn des Christentums betonte, sondern eine gemeinsame religiöse Grundlage der deutschen Nation voraussetzte, an der auch die Juden teilhaben müssten.127 Zudem glaubte er, dass der Prozess der religiösen Angleichung – auf jüdischer Seite verkörpert durch die Reformbewegung – schon lange im Gange sei. Die christliche Errungenschaft der Humanisierung könne von den Juden übernommen werden, weil die Geschichte der deutschen Juden »in der geschichtlichen Tendenz des deutschen Protestantismus« verlaufe.128 »Ich habe nur auf die unbestreitbare Thatsache hin124 Cohen, Ein Bekenntniß in der Judenfrage, BAS, Bd. 1, S. 343. 125 Ebd., S. 340. Die Hervorhebungen befinden sich im Original. 126 Hierbei unterschied Cohen deutlicher zwischen einer kulturgeschichtlichen Anerkennung und einem religiösen Bekenntnis des Christentums; ersteres habe er gefordert, letzteres nicht. Vgl. Cohen, Nachwort, S. 69. 127 Die orthodoxe »Jüdische Presse« sah in Cohen eines jener »Elemente des Neujudenthums«, »[…] welche der wandelbaren Mode und dem philosophischen Systeme das unveräußerliche Erbe der Jacobsgemeinde opfern«. Der Philosoph sei nichts anderes als ein jüdischer Missionar. »JP« vom 12.2.1880. 128 Cohen, Bekenntniß, S. 344. Die Hervorhebung befindet sich im Original.

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zuweisen«, verteidigte er sich, »dass die deutschen Juden, ob zum Schaden oder ob etwa auch zu einigem allgemeinen Nutzen, in der Mitarbeit an der deutschen Cultur ihre religiöse Entwickelung vollzogen und ihr Dasein als Deutsche bezeugt haben.«129 Kulturelle Integration beinhalte eine religiöse Angleichung, wiederholte Cohen einen Grundgedanken der bürgerlichen Bildungskultur. Demgemäß gestaltete sich Cohens »Ideal nationaler Assimilation«: Wenn die rechtliche Emanzipation der Juden uneingeschränkt bleibe, werde sich »allmählich« »Gesinnungsgleichheit« herausbilden; »und der geistige und sittliche Untergrund zu nationaler Verschmelzung wird wachsen und reifen«.130 Dadurch werde es zu weiterer sozialer Annäherung kommen, »Anstößigkeiten des Benehmens« würden seltener werden und die Mischehe häufiger. In seinen Vorstellungen einer weitgehenden, essentiellen Verschmelzung der Juden mit der protestantischen Kultur und Religion näherte sich Cohens Bekenntnis am weitesten von allen jüdischen Stellungnahmen der Position Treitschkes an – eine Tatsache, die deutliche Kritik hervorrief.131 Auch wenn er durchaus richtige Thesen über den historischen Prozess aufstellte, in dem sich viele deutsche Juden durch die Anpassung an die Bildungskultur befanden, konnten sich die wenigsten seiner jüdischen Zeitgenossen in seinem Bild ihrer Gemeinschaft wieder finden. Da half es auch nicht, dass Cohen der jüdischen Religion – bis zur endgültigen Verschmelzung mit dem Christentum zu einer Vernunftreligion – eine besondere Rolle zugedacht hatte, nämlich die der Bewahrung des reinen Monotheismus. Damit verlieh auch Cohen der jüdischen Identität eine positive Relevanz, die jedoch durch das Primat der Vernunftreligion gering erschien. Andere Aspekte jüdischer Existenz außerhalb der religiösen Frage erörterte er nicht. Cohen antwortete Treitschke letztlich mit einer Normativierung der Bildungskultur: Eine Essenz – die religiöse Gemeinsamkeit – sollte die vermeintlich freie kulturelle Angleichung in der Nation objektivieren. Juden und Protestanten sollten nicht mehr ›nur‹ an der Bildungskultur teilnehmen; sie hatten sie zu bekennen.

129 Ebd., S. 345. 130 Ebd., S. 353. 131 Besonders schmerzhaft war für Cohen vor allem die scharfe Kritik seines Studienfreundes Adolf Moses. Vgl. Moses. Cohen gab später zu, dass es eine »betrübende Lebenserfahrung« gewesen sei, »vielen meiner Glaubensgenossen nicht aus ihrem Herzen heraus geredet zu haben«. Cohen, Zur Verteidigung, S. 95.

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4.3.4 Juden in der Bildungskultur IV: Heinrich Graetz als der jüdische Andere Der jüdische Historiker Heinrich Graetz war von Treitschke in »Unsere Aussichten« als einziger persönlich angegriffen worden; sein Werk hatte als Beispiel für die maßlose Selbstüberschätzung der Juden herhalten müssen. Der Breslauer Gelehrte antwortete darauf zweimal, ein zweites Mal, als Treitschke ihn in einer weiteren Schrift erneut direkt diffamiert hatte. In »Herr Graetz und sein Judenthum« bezeichnete er Graetz als »Fremdling auf dem deutschen Boden ›seines zufälligen Geburtslandes‹, ein Orientale, der unser Volk weder versteht noch verstehen will.«132 Der jüdische Historiker hatte sofort verstanden, dass es sich bei Treitschkes Angriff um eine Polemik handelte, die seine Ehre betraf, indem sie sein Selbstverständnis als Jude und seinen Status als Wissenschaftler tangierte. »Der von Ihnen gebrauchte Ausdruck, dass in meiner Geschichte eine fanatische Wuth gegen den ›Erbfeind‹, das Christentum, enthalten sei, ist, parlamentarisch gesprochen, eine Illoyalität.«133 Schließlich habe er sich nur an die Fakten gehalten: »Ich hatte es nicht mit der Gegenwart, sondern mit der Vergangenheit zu thun, ich hatte die tausendfachen, blutigen, unbarmherzigen Verfolgungen gegen meine Stamm- und Religionsgenossen zu erzählen und wollte sie der Wahrheit gemäß erzählen. Hätte ich die Geschichte fälschen sollen?«134 In dem Konflikt mit Treitschke wurden jedoch interne Spannungen des Graetzschen Werkes deutlich: An der Geschichtsschreibung des jüdischen Historikers fällt die Unklarheit der zentralen Kategorien auf. Eigentlich war Graetz auf einer Suche nach einer ethnischen Definition von Judentum, die es in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts jedoch höchstens in Ansätzen gab. Ein wichtiger Versuch dafür war der Begriff des Stammes, der allerdings noch nicht durchgesetzt war, aber in den Kontroversen um Treitschke nicht nur von Graetz benutzt und weiter popularisiert wurde.135 In seinem Werk verwandte Graetz gelegentlich »Stamm«, manchmal »Nation« oder einfach »Judenthum«. 132 Treitschke, Herr Graetz und sein Judenthum, BAS, Bd. 1, S. 125. 133 Graetz, Erwiderung an Herrn von Treitschke, BAS, Bd. 1, S. 99. Die Hervorhebung befindet sich im Original. 134 Ebd. 135 Eine Ausnahme bildet die Schrift des Wiener Rabbiners Adolf Jellinek, der schon früh die Stammesmetaphorik verwandte. Vgl. Jellinek, Der jüdische Stamm. Ethnographische Studien. Das war allerdings in der Habsburger Monarchie auch naheliegender, da der Stammesbegriff dort in der politischen Sprache häufiger vorkam. Diesen Hinweis verdanke ich Till van Rahden. Vgl. auch van Rahden, Juden und andere Breslauer, S. 21f. Im ersten Streit um Treitschke wandte Moritz Lazarus den Begriff ebenso auf die deutschen Juden an wie Theodor Mommsen: Lazarus, Was ist national?, BAS, Bd. 1, S. 69 sowie Mommsen, Auch ein Wort über unser Judenthum, BAS, Bd. 2, S. 695–709.

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Stets jedoch zielte er dabei auf eine abgrenzbare Entität, die im umfassenden Sinne eine kulturelle und ethnische – er hätte »geistige« und »körperliche« gesagt – Abstammungsgemeinschaft darstellte. Diese Einheit aus Geist und Körper, welche er als jüdische Nation bezeichnete, war ohne eigenes Staatswesen lebensfähig, weil sie besonders starke kulturelle Kräfte besaß, unter die er die religiösen subsumierte. Seit Mendelssohn sah er diese Kräfte sogar erneuert und gefestigt. Im aufkommenden Zeitalter des Nationalismus musste diese Position nun unter Beschuss geraten: Dass eine ethnische Einheit mit eigenständiger Kultur in einer Staatsnation existierten konnte, war für Nationalisten wie Treitschke undenkbar. Mehr noch: Jede Forderung nach kultureller Eigenheit konnte so als Anspruch auf nationale Autonomie missverstanden werden. Treitschke griff Graetz folglich mit gewisser Zwangsläufigkeit an, auch wenn er ihn dafür leicht, aber entscheidend uminterpretieren musste. Graetz’ Forderung nach Anerkennung kultureller Eigenständigkeit der Juden unterstellte er einen Anspruch auf eine Nation in der Nation und verwies dabei auf dessen Terminologie, die allerdings nicht eindeutig mit nationalen Kategorien arbeitete, sondern unklar und mehrdeutig blieb. In seinen zwei Repliken auf Treitschke blieb Graetz an entscheidenden Stellen bei dieser Vagheit, so dass er seinen Lesern eine genaue Definition von Judentum letztlich schuldig blieb. Einmal spielte er mit einer ethnischen, gar rassistischen Definition, einmal mit einer rein religiösen. Graetz’ erste »Erwiderung« auf Treitschkes Polemik wirkte gedämpft, da auch der Angriff von Treitschke erst im Folgenden schärfer wurde. Er wies »als Historiker dem Historiker gegenüber« nach, dass Treitschke einige Ungereimtheiten in seiner Schrift unterlaufen waren und ging auf einzelne Punkte detaillierter ein.136 Am Ende seiner »Erwiderung« findet sich zudem eine merkwürdige, aber aufschlussreiche Passage, in der Graetz einen Ausspruch des britischen Ministerpräsidenten, Benjamin Disraeli alias Lord Beaconsfield, gegen Treitschkes Vorwurf der »jüdischen Überhebung« ins Spiel brachte:137 »Kein jüdischer, noch so national gesinnter Literat der Gegenwart hat den stolzen Satz geschrieben [...]: ›Sie können nicht eine reine Rasse von kaukasischer Organisation zerstören. Es ist ein physiologisches Factum, ein Naturgesetz, welches die egyptischen und assyrischen Könige, römischen Kaiser und christlichen Inquisitoren beschämt hat. Kein Strafgesetz, keine physische Tortur kann bewirken, dass eine höhere Rasse von einer niederen aufgesogen oder zerstört werde.‹ Rechten Sie mit Lord Beaconsfield oder mit einem Naturgesetz.«138

136 Graetz, Erwiderung an Herrn von Treitschke, BAS, Bd. 1, S. 97. 137 Treitschke hatte in »Unsere Aussichten« seinen Vorwürfen gegen Graetz die rhetorische Frage folgen lassen: »Welcher englische Jude würde sich je unterstehen, in solcher Weise das Land, das ihn schützt und schirmt, zu verleumden?« Vgl. Treitschke, Unsere Aussichten, S. 573f. 138 Graetz, Erwiderung an Herrn von Treitschke, BAS, Bd. 1, S. 101.

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Vordergründig lieferte Graetz hier nur den Nachweis, dass der britische Ministerpräsident von der Beharrungskraft des jüdischen Volkes überzeugt war und dass sich somit auch in England Juden finden ließen, die ähnliche Ansichten wie Graetz besaßen. Jüdische Existenz wurde aber darüber hinaus – über den Umweg dieses Zitates – nicht nur verkörperlicht, sondern geradezu auf die Stufe eines Naturgesetzes gehoben, gegen das Treitschke sinnlos aufbegehre. Hinter dem Zitat versteckt und mit dem Anschlusssatz signalisiert, fand sich Graetz’ Überzeugung vom Faktum der jüdischen Existenz als Ethnie, eigentlich als Rasse. Dieser stolze Passus wurde in der zweiten Antwort »Mein letztes Wort an Professor von Treitschke » relativiert, da Graetz nun eine religiöse Definition des Judentums zu favorisieren schien. Hiermit versuchte er den wichtigsten Vorwurf Treitschkes abzuwehren, indem er ihm eine bewusste Fehlinterpretation unterstellte: »Zum Schlusse des [elften] Bandes [der »Geschichte der Juden«, d. Vf.] sagte ich zum Beginne des Jahres 1848: ›Die Anerkennung der Juden als vollberechtigte Glieder ist bereits so ziemlich durchgedrungen, die Anerkennung des Judenthums aber unterliegt noch schweren Kämpfen.‹ Jeder Unbefangene liest daraus, dass die jüdische Religion oder Lehre noch nicht anerkannt ist, dass das Judenthum nicht als Religion oder Confession gilt [...]. Sie aber imputiren mir, als spräche ich von jüdischer Nationalität, als wollte ich diese anerkannt wissen. Ist Judenthum mit Nationalität identisch?«139

Den dahinter liegenden Aspekt in Treitschkes Argumentation – die Juden als Nation in der Nation zu verstehen – vermied Graetz an dieser Stelle eher, so dass seine Repliken insgesamt an diesem zentralen Punkt eine Leerstelle aufwiesen. Die politischen Implikationen seiner Geschichtsschreibung für die nach Integration strebenden deutschen Juden blieben vage. Das galt umso mehr, da Graetz in seinen Repliken keinen Hinweis lieferte, wie er sich den Integrations- und Akkulturationsprozess, seine Möglichkeiten und Grenzen vorstellte. Es war offenkundig, dass er diesen Veränderungen nicht gänzlich negativ gegenüberstand; schließlich begriff er die Phase der Emanzipation und Integration als jüdische Wiedergeburt. Dass er Treitschkes zentralen Punkt – die Juden sollten deutsch werden –, dem andere Gegner ihre Vorstellungen von einer Integration der Juden entgegenstellten, nicht einmal diskutierte, stellte eine weitere Auslassung in seinen Texten dar. Seine Hauptaufgabe sah der jüdische Historiker darin, das Fortleben des Judenthums zu sichern und dafür die Anerkennung in der nichtjüdischen Umwelt zu fordern. Aus seinen Repliken erhielt man aber so den Eindruck, dass er die Integration in die deutsche Kultur skeptisch begleitete, weil sich damit jede Form jüdischer Identität auflösen konnte. 139 Graetz, Mein letztes Wort an Prof. von Treitschke, BAS, Bd. 1, S. 191. Die Hervorhebungen befinden sich im Original. In späteren Versionen der »Geschichte der Juden« ließ Graetz den Passus streichen, den Treitschke kritisiert hatte.

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In Graetz offenbarten sich viele der strukturellen Schwächen, mit denen sich die Juden konfrontiert sahen, die gegenüber Treitschke für die Anerkennung der jüdischen Identität in der bürgerlichen Bildungskultur eintraten. Der Angriff Treitschkes auf Graetz hatte den Spielraum für mögliche Interpretationen der jüdischen Identität eingegrenzt. Fast lässt sich behaupten: Wer gegen Treitschke einschreiten wollte, musste sich auch gegen Graetz stellen. Das ist sich nicht nur der Kritik Hermann Cohens abzulesen, der sich über die »Partei der Palästinenser« echauffierte und bei Graetz eine »erschreckliche Perversität der Gefühlsurtheile« beklagte.140 Auch wenn das keineswegs repräsentativ gewesen ist, so war ein solcher Ausspruch ein Zeichen für die Verunsicherung und Ablehnung, die Graetz mit seiner Sicht des Judentums bei manchen gebildeten Juden hervorrief. Dazu passte, dass Ludwig Bamberger ihn – allerdings durch einen Konjunktiv eingeschränkt – einen »Stöcker der Synagoge« nannte.141 Ludwig Philippson nahm gegenüber Graetz in der »Allgemeinen Zeitung des Judenthums« eine etwas widersprüchlichere Haltung ein. Einerseits hob er die wissenschaftliche Leistung des Breslauer Historikers hervor. Andererseits suggerierte er eine verräterische Nähe zwischen den Kontrahenten: »Treitschke und Graetz sind beide als Geschichtsforscher Parteigänger und Romantiker, dabei erpicht, eigentümliche Ansichten zu haben und deshalb zu Hypothesen geneigt. Der Parteimann Treitschke fühlte an dem Geschichtsschreiber Graetz dieselben Eigenschaften heraus und klagte ihn deshalb an [...].«142

Die Schlussfolgerung aus diesen Worten wird für den Leser auf der Hand gelegen haben: So wie der Historiker mit nationalem Auftrag, Treitschke, den Rahmen des Erlaubten verlassen hatte, so schoss Graetz über das Ziel hinaus und konnte kaum als Autorität gelten. Graetz registrierte das wohl und schrieb einen erbosten Brief an die Redaktion: »In einer der letzten Nummern Ihrer Zeitung waren Sie so edelmütig auch Ihrerseits einen Stein auf mich zu werfen, um sich einen guten Namen zu machen, ohne zu erwägen, dass [...] Treitschke meine Geschichte nur zum Vorwand für seine judenfeindliche Gesinnung genommen hat, und ohne zu bedenken, dass solcher wüsten Feindseligkeit nur durch Einigkeit im Innern begegnet werden kann.«143

Aus dieser Äußerung wird zweierlei klar: Graetz zog sich auch deshalb aus der Debatte zu einem frühen Zeitpunkt zurück, da er die Uneinigkeit unter den Juden nicht weiter publik werden lassen wollte.144 Außerdem deutete er die Funktion an, die ihm im ersten Treitschke-Streit zugewiesen wurde: Man 140 141 142 143 144

Cohen, Ein Bekenntniß in der Judenfrage, BAS, Bd. 1, S. 351. Bamberger, Deutschthum und Judenthum, BAS, Bd. 1, S. 220. »AZJ« vom 13.1.1880. »AZJ« vom 10.2.1880. Vgl. Michael, S. 319.

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machte sich »einen guten Namen« auf seine Kosten. Gleichwohl waren es vor allem die gebildeten Protagonisten der jüdischen Integration wie Cohen, Breßlau oder Lazarus, die zu dem jüdischen Historiker auf Distanz gingen. Selbst ein Breslauer Kollege von Graetz wie Manuel Joël ging auf vorsichtige Distanz.145 Günstigere Urteile waren jedoch nicht selten: So veröffentlichte das »Jüdische Literaturblatt« am 28. Januar 1880 eine Verteidigung unter dem Titel »Professor Graetz und seine Gegner«, in der es hieß: »Aber es war gar nicht edel, dass so viele, die Treitschke widerlegten, das bequeme Widerlegungsmittel, nämlich dies, Graetz ganz zu desavouiren, nicht verschmäht haben.«146 Eine andere positive Stimme war der Herausgeber der orthodoxen »Jüdischen Presse«, Seligmann Meyer. Auch wenn hierbei ebenfalls hervorgehoben wurde, Graetz’ Ansichten könnten keineswegs für die Überzeugungen aller deutschen Juden herhalten, erschien diesen Juden die Graetzsche Geschichtsschreibung wesentlich weniger problematisch – und sie nahmen an, dass ihr Publikum eine Verteidigung des Breslauer Professors von ihnen erwartete. In der jüdischen Öffentlichkeit existierten z. T. durchaus ähnliche Vorstellungen, wie sie Graetz auszudrücken versuchte. Nach außen wurde allerdings vermieden, diesen Eindruck zu erwecken. Insgesamt erschien Graetz wie ein Sündenbock, der auch von vielen jüdischen Verteidigern in die Wüste geschickt wurde, als sie sich dazu veranlasst sahen. Treitschke hatte folglich einen Schwachpunkt in den jüdischen Verteidigungslinien gefunden. Zwar war die Verwendung des Nationsbegriffes bei Graetz nicht mit derjenigen deckungsgleich, die Treitschke ihm unterstellte; aber Graetz hatte ihm bei seinem Versuch, die jüdische Identität möglichst wirkungsvoll zu propagieren, in der Tat eine Angriffsfläche geboten. Gleichzeitig vermochte es Graetz durch die Leerstellen seiner Repliken nicht, seine Position klarer zu beschreiben, insbesondere eine eindeutige Bejahung von Integration und Akkulturation kam ihm nicht über die Lippen. Natürlich konnte er damit Treitschke nicht zufrieden stellen; aber auch die gebildeten Juden sahen ihr Lebenswerk bedroht. In der Figur Graetz zeigte sich gleichwohl ein fundamentales Problem von Streitkommunikation: Der Angreifende ist immer im Vorteil, da er die Themen setzt. Jede Replik auf Treitschke von jüdischer Seite musste zu den Vorwürfen an die Adresse Graetz Stellung nehmen und gleichzeitig klar machen, dass man natürlich keinesfalls auf dem Weg weitergehen wolle, den Treitschke Graetz unterstellte. Stets lief man Gefahr, Treitschke an dieser Stelle recht gegeben zu wollen: »[…] das Vorwerk Grätz musste preisgegeben werden, um die Festung des Judenthums zu halten.«147 Graetz wurde von verschiedenen 145 Joël, Offener Brief an Herrn Professor Heinrich von Treitschke, BAS, Bd. 1, S. 35. 146 »Jüdisches Literaturblatt« vom 28.1.1880. 147 »IWS« vom 28.1.1880.

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Seiten – z. T. mit seiner Mithilfe – zum Symbol der Integrationsverweigerung, zum Anderen der eigenen Bildungskultur erklärt. Bei den gebildeten Protestanten – Treitschke stand hier keineswegs alleine – konnte sich in dem jüdischen Historiker alle Verunsicherung über den Zustand der eigenen Kultur zu einer unbändigen Wut kristallisieren. Es war ja kein Zufall, dass Treitschke in Graetz’ Konzept der jüdischen Nation – staatenlos, mit kultureller, innerer Kraft ausgestattet, kosmopolitisch und doch eigenständig – Vorstellungen aufdeckte, von denen er und viele gebildete Protestanten hofften, sie mit der Nationalstaatsgründung selbst endlich hinter sich gelassen zu haben. Graetz stellte also auch darin eine unheimliche Erinnerung an das dar, was man selbst um keinen Preis mehr sein wollte. Der Vorwurf der Selbstüberhebung spiegelte zugleich, durchaus unbewusst, den eigenen hegemonialen Anspruch der gebildeten Bürger auf kulturelle Dominanz. Treitschkes Exorzismus gegen den »Orientalen« Graetz war im Kern gegen die unheimliche Verdoppelung in der bürgerlichen Bildungskultur gerichtet. In diesem Punkt folgten ihm viele gebildete Juden, und besonders die Protagonisten der Integration, so dass auch für sie Graetz zum Anderen ihrer Integrationsbemühungen wurde. Ihr Wille zu einer positiven deutsch-jüdischen Identität, ihre gleichzeitige Verunsicherung über den eingeschlagenen Weg, ihre Suche nach Schuldigen für die Zurückweisungen der Protestanten – alles das ließ sie den Breslauer Historiker angreifen. Graetz verkörperte dadurch eine Art Urtypus jenes unheimlichen Wiedergängers einer überwunden geglaubten Identität.

4.3.5 Juden in der Bildungskultur V: Nationale Multikultur bei Moritz Lazarus Am 2. Dezember 1879 hielt der Berliner Völkerpsychologe Moritz Lazarus den Vortrag »Was ist national?« auf der Generalversammlung der Hochschule für die Wissenschaft des Judentums. Dabei nahm er die Provokation Treitschkes zum Anlass für einige grundlegende Erwägungen, die ältere Erkenntnisse der Völkerpsychologie für die gegenwärtige Auseinandersetzung fruchtbar machen sollten.148 Zu dem Vortrag war ein ausschließlich jüdisches Publikum eingeladen wurden, was der Redner damit begründete, dass man angesichts der neuerlichen Angriffe »Klarheit für uns selbst, über uns selbst« anstreben müsse.149 Es gehe darum, mit der »Ruhe wissenschaftlicher Betrachtung« zu erkennen, »wie wir in Wahrheit stehen«.150 Die Frage im Titel berührte das 148 Indem er den Volks- mit dem Nationsbegriff in eins setzte, konnte Lazarus vor allem auf die Einleitung von 1860 zurückgreifen: Lazarus und Steinthal. 149 Lazarus, Was ist national?, BAS, Bd. 1, S. 41. 150 Ebd.

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gleiche Problem, das auch Cohen umgetrieben hatte: Welche Art von Vergemeinschaftung müsse es zwischen Juden und Nichtjuden geben? Den Ausgang nahmen Lazarus’ Überlegungen bei dem Vorwurf Treitschkes: »[…] der Jude hat eine besondere, von der deutschen verschiedene, Nationalität«.151 Was nun aber heißt Nationalität? Seine Antwort lief auf eine Verknüpfung der für die Völkerpsychologie charakteristischen Kulturtheorie (»Volksgeist«) mit dem Nationsbegriff hinaus. Insofern stand im Hintergrund stets die zweite Frage »Was ist kulturell?«. Für Lazarus war es dabei völlig abwegig, wie Cohen nach einer substantiellen Einheit zu suchen: »Die wahre Cultur aber liegt in der Mannigfaltigkeit.«152 Es gelte somit eine klare Relation: je reichhaltiger, desto höher entwickelt. Logischerweise musste Lazarus daher auch alle substantiellen Möglichkeiten verwerfen, Nationalität eindeutig zu bestimmen. Weder die Gemeinsamkeit von Sitten und Gebräuchen, noch das Territorium, noch die Staatsangehörigkeit, noch die Religion oder die Abstammung könnten eine Nation hinreichend von einer anderen abgrenzen. Lediglich die Sprache sei eine wichtige Bedingung, weil das »eigentlich Wesen der Nationalität« »nur aus dem Geiste« zu verstehen sei.153 Dementsprechend sei die sprachliche Einheit aller Mitglieder einer Nation von herausragender Bedeutung, auch wenn das nicht ausreiche. Letztlich müsste aus dem gemeinsamen Geist die Überzeugung wachsen, der Nation anzugehören. Eine Nation entstehe aus der »subjektiven Ansicht der Glieder des Volkes selbst von sich selbst, von ihrer Gleichheit und Zusammengehörigkeit«.154 Dieser subjektive Zusammenhalt erwachse aus dem geistigen Austausch der Mitglieder: »Die gleichen Stoffe und Stufen der Bildung, der Austausch der Kräfte und Erzeugnisse des Geistes, die gemeinsame Erhebung des Gemüths und Läuterung der Gesinnung durch Dichten und Denken, die emsige, sich gegenseitig unterstützende Forschung in gleichen, die fruchtbare Durchdringung in verschiedenen Gebieten des Willens, kurz die das innere Leben bildende und gestaltende Strömung des Geistes erzeugt in Allen nach dem Maße ihrer Theilnahme daran auch das Bewußtsein ihrer nationalgeistigen Einheit.«155

Es braucht nicht viel Phantasie, hinter diesen Beschreibungen die bürgerliche Bildungskultur zu entdecken; und es ist historisch durchaus stimmig, die Entwicklungsprozesse unter den Gebildeten für einen wichtigen Aspekt in der Genese des deutschen Nationalismus zu halten.156 Das Zitat weist im gleichen Moment auf die Bedeutung der kulturellen Mitarbeit der Juden hin: Wer ei151 152 153 154 155 156

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Ebd. Ebd., S. 72. Die Hervorhebung befindet sich im Original. Ebd., S. 46. Ebd., S. 47. Ebd., S. 48. Vgl. Giesen, bes. S. 102 ff.

nen kulturellen Beitrag leistet, gehört zur Nation – in der Folgezeit fast eine Art Glaubenssatz im deutschen Judentum. Das war auch der Anknüpfungspunkt, um die Zuhörer direkt anzusprechen und ihre Situation als deutsche Juden zu thematisieren. Lazarus werden sicher alle Anwesenden zugestimmt haben, als er ihr Selbstverständnis so formulierte: »wir sind Deutsche, nichts als Deutsche«.157 Die Antisemiten müssten einfach zur Kenntnis nehmen, dass man dazugehöre und an den nationalen Aufgaben mitarbeite. Gleichzeitig geschehe das nicht durch eine Verleugnung der jüdischen Identität, vielmehr liege hierin gerade die kulturelle Mission des Judentums. Weil Kultur nur in der Vielfalt möglich sei, sei die Mitarbeit der Juden daran besonders wichtig. Schließlich seien nur sie »in sich selbst mannigfaltig«, weil sie durch die »Teilnahme an verschiedenen Nationalgeistern« quasi über sich selbst hinaus gewachsen seien; sie verkörperten in ihrer Partikularität ein Stück Universalität.158 In Lazarus’ Worten klang das so: »Die Juden aber gehen ganz in die besonderen Culturen ein, schöpfen daraus Erhöhung und Vertiefung des Eigenen. Dies Eigene hat in den verschiedenen Völkern wesentliche Momente der Gleichheit, darum können sie überall aus dem durch Vieles genährten, dem Allgemeinen näher stehenden Eigenen auf jedes Volk zurückwirken, mehr Allgemeines in ihm erzeugen.«159

Um dem Ziel einer allgemeinen Kultur – der Erfüllung des »menschheitlichen Ideals« – näher zu kommen, bräuchten die Deutschen die Juden als Juden.160 Die bürgerliche Bildungskultur bedürfe, so muss man Lazarus zusammenfassen, der Verallgemeinerung durch die Juden: »In voller Uebereinstimmung mit uns selbst können und sollen wir, wir deutschen Juden, zur Erfüllung dieses höchsten Ideals deutscher Nationalität beitragen. Wir dürfen nicht bloß, wir müssen, um vollkommene, im höchsten Maße leistungsfähige Deutsche zu seyn, Juden seyn und bleiben. Nicht nur berechtigt, vielmehr verpflichtet sind wir, was wir als Stamm an geistiger Eigenart, als Religion an Erbtugend oder Erbweisheit besitzen, auch zu erhalten, um es in den Dienst des deutschen Nationalgeistes als einen Theil seiner Kraft zu stellen.«161

Lazarus traf mit solchen Worten den Nerv seiner Zuhörer. In der jüdischen Presse waren die Reaktionen dementsprechend positiv.162 In privaten Briefen wurde er für sein Vorgehen gelobt, wobei hier besonders die Sachlichkeit hervorgehoben wurde, mit der er es vermied, seinen Gegner Treitschke auch nur namentlich zu erwähnen. Unter Protestanten waren die Reaktionen nicht so 157 158 159 160 161 162

Lazarus, Was ist national?, S. 52. Ebd., S. 73. Ebd. Ebd., S. 68. Ebd., S. 69. Vgl. z. B. »AZJ« vom 20.1.1880.

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eindeutig: Eine vergleichsweise ambivalente Haltung offenbarte sich in einer Zuschrift Karl Hillebrands. Er fand den Vortrag hochinteressant und habe ihn »mit Anmerkungen bedeckt«.163 Er sei zwar »im Grunde« mit Lazarus einverstanden, könne aber nicht alle Ansichten teilen.164 Das Nationskonzept Lazarus’ war ihm zu abstrakt: »Der Begriff der Nation ist durchaus ein geschichtlicher. Man wird Nation und zwar vornehmlich durch die staatliche Zusammengehörigkeit […]; nicht durch die Sprache allein […].«165 Hillebrand wollte damit, ähnlich wie Treitschke und Cohen, der Nation ein essentielles kulturelles Fundament unterlegen, etwa im Sinne der geschichtliche Zusammengehörigkeit in einem Staatswesen. Die leidige »Judenfrage« könne nur aus der Welt geschaffen werden, wenn die Juden sich besserten: »[…] das Meiste aber, nun wir die Rechtsgleichheit haben, muß von Ihnen kommen.«166 Es gab gleichwohl auch protestantische Briefeschreiber, die Lazarus’ Schrift Beifall spendeten. »Keine Spur von Gereiztheit« habe die Schrift gehabt, lobte der Königsberger Schriftsteller Ernst Wichert. Selbst liberale Zeitungen, die sonst kein Wort über den Konflikt zwischen Treitschke und den Juden verloren, berichteten über den Vortragsabend.167 Für gebildete Juden war der Vortrag zustimmungsfähig, weil Lazarus nicht nur die Vorstellung einer offenen Kultur präsentierte, an welcher Juden teilnehmen konnten, sondern diese Teilhabe zugleich mit einen tieferen Sinn, einer kulturellen Mission erfüllte. Jüdische Identität war keine abzulegende, negative Eigenschaft; sie war ein hohes, positives und bewahrenswertes Gut. Wenn man die jüdischen Repliken auf Treitschke noch einmal Revue passieren lässt, so kann man feststellen, dass Bamberger, Breßlau, Cohen, Graetz und Lazarus aus jeweils unterschiedlichen Motiven antworteten. Breßlau wandte sich gegen den eigenen Kollegen an der Universität. Bamberger trat Treitschke vor allem als Politiker entgegen und damit war in den politischen Meinungsunterschieden der Hauptgrund für sein Eingreifen zu sehen. Cohen glaubte zunächst daran, sich mit Treitschke verständigen zu können, und als dieser Versuch scheiterte, musste er das öffentlich konstatieren. Graetz war persönlich angegriffen worden und wollte sich seiner Haut erwehren. Lazarus schließlich sah sich als führender Vertreter der deutschen Juden zu einer Replik herausgefordert. Aber auch die Art und Weise ihrer Schreiben verriet viel über die Verfasser. Breßlau präsentierte sich als nüchtern abwiegender Historiker, der den Argumenten des Gegners kritisch auf den Grund ging und die 163 Siehe den Brief Hillebrands an Lazarus vom 6.1.1880, Nl. Lazarus, HU-Bibliothek, Brief-Nr. 419. 164 Ebd. Die Hervorhebung befindet sich im Original. 165 Ebd. Die Hervorhebungen befinden sich im Original. 166 Ebd. Die Hervorhebung befindet sich im Original. 167 Vgl. »BT« vom 5.12.1879.

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meisten Widerlegungen einzelner Punkte brachte. Bambergers Schrift, die mit rhetorischer Prägnanz und analytischer Schärfe glänzte und auch vor markanten Attacken nicht zurückschreckte, merkte man den Politiker an. Die Schrift des jungen Cohen besaß noch etwas Ungestümes, vor allem weil er oft ungeschützt äußerst umstrittene Themen berührte. Zugleich sprach er bewusst als Vertreter der Philosophie und bemühte sich um eine (religions-)philosophische Fundierung des Themas. Graetz hatte es von allen gebildeten Juden, die Treitschke antworteten, am schwersten, musste er sich doch persönlich verteidigen, was man seinen zwei Erwiderungen gerade in ihren argumentativen Auslassungen anmerkte. Lazarus’ Vortrag besaß offiziösen Charakter; er entwarf ihn als eine grundlegende, theoretisch fundierte Stellungnahme der deutschen Juden und hoffte auf die Zustimmung seiner Zuhörer, die er auch erhielt. Die Kernunterschiede zwischen den verschiedenen Positionen lagen dennoch auf der inhaltlichen Ebene. Die zentralen Fragen, vor denen Treitschke die gebildeten Juden gestellt hatte, richteten sich auf die zukünftige Rolle der jüdischen Identität in jenem Akkulturationsprozess, dem die deutschen Juden unterworfen waren. Graetz’ Hauptaugenmerk galt der Fortexistenz des Judentums und seiner Anerkennung durch die Nichtjuden. Aussagen zum Integrations- und Akkulturationsprozess, ob und welche Veränderungen die deutschen Juden bejahen sollten, machte er keine; aber man wird ihm unterstellen können, dass er diesen Veränderungen möglichst enge Grenzen setzen wollte, um die jüdische Identität bewahren zu können. Damit besetzte er ein Extrem, dessen krassesten Gegenpart Cohen abgab. Bei ihm gingen die Veränderungsforderungen an die Juden außergewöhnlich weit, so dass er selbst eine religiöse Einheit mit den Protestanten für richtig hielt. Zwar erkannte er die Bedeutung der jüdischen Identität für die Gegenwart an, aber ob sie diese noch nach Abschluss des Verschmelzungsprozesses, so wie er ihn präsentierte, besitzen würde, blieb unklar. Cohens Herzblut hing jedoch an der Integration und Akkulturation, so dass man den Eindruck gewinnen konnte, dass die Transformation der jüdischen Identität sehr weit gehen sollte. Breßlau sprach am wenigsten von diesem Thema; der Tendenz nach dürfte er sich Cohen annähern. Auch sein Interesse galt vor allem der Integration und Akkulturation, die er durch sein Beispiel vorantreiben wollte. Dass das vor Resten jüdischer Identität halt machen sollte, fühlte sich Breßlau jedenfalls nicht verpflichtet zu sagen. Bambergers Position war an diesem Punkt klarer, schien er doch Raum für die Entität »Judentum« beibehalten zu wollen; zumindest glaubte er mit deren Fortexistenz rechnen zu müssen. Lazarus schließlich besetzte zwischen den Extremen Graetz und Cohen die Mitte. Für ihn stand die jüdische Identität nicht im Gegensatz zu den Veränderungsprozessen, denen die Juden unterworfen waren und die er vorbehaltlos bejahte. Im Gegenteil, nur wenn Juden weiter Juden blieben, konnte der Integrations- und Akkulturationsprozess 241

gelingen. Die Vorstellung einer universellen Partikularität erlaubte es Lazarus, der jüdischen Identität eine Rolle zuzuweisen, die sich noch dazu vorteilhaft für die Kulturentwicklung auch der Protestanten auswirken sollte. Die Texte dieser gebildeten Juden markierten einen Einschnitt: Ein Jahrzehnt nach der Reichsgründung, mit der für die deutschen Juden die postemanzipatorische Phase angebrochen war, bot ihnen Treitschkes Angriff den Anlass, über die veränderten Bedingungen für eine jüdische Identität nachzudenken. Diese Protagonisten schufen Gründungstexte für jene Reflexion im emanzipierten deutschen Judentum, der erst mit der Vernichtung durch den Holocaust jäh die Grundlage entzogen werden sollte. Dieses Nachdenken lässt sich nicht als eine apologetische, devote Unterwerfungsgeste gegenüber der nichtjüdischen Gesellschaft und Kultur kennzeichnen. Selbst in seinen extremsten Varianten – in diesem Fall wohl Cohens Versuch, sich mit dem Antisemiten Treitschke zu verständigen – stützte es sich auf die Instrumente der sie umgebenden Kultur für andere, neue Zwecke: Bei Cohen war es ein religionsphilosophischer Kantianismus, der den Juden als Juden (zumindest in der Gegenwart) eine kulturelle Mission zuwies. Diese gebildeten Juden lieferten damit ein erstes Beispiel für eine selbstbewusste Suche nach einer modernen, durchaus positiven jüdischen Identität unter postemanzipatorischen Bedingungen.

4.4 Angriff II: Treitschkes Zurückweisungen »Tagaus tagein stürmt eine Heerschaar von Flugschriften und Zeitungsartikeln ge- gen die Schlußworte meiner November-Rundschau heran. [….] nachdem jede Zeile meines Aufsatzes durch ebenso viele Druckbogen voller Widerlegungen getödet worden ist, tritt an jedem neuen Tage ein neuer Streiter auf und hält für nöthig, die Blutarbeit von vorn zu beginnen.«168

Im Dezemberheft der »Preußischen Jahrbücher« erschien Treitschkes erste Replik auf die von Juden veröffentlichten Verteidigungsschriften: »Herr Graetz und sein Judenthum«. Seinem Verleger schrieb er am 11. Dezember, dass »das Gemauschel« so arg geworden sei, dass er seine ursprünglichen Pläne für das neue Heft ändern müsse, um dem Publikum zu zeigen, »was der vater168 Treitschke, Noch einige Bemerkungen zur Judenfrage, BAS, Bd. 1, S. 279.

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landslose Erzjude eigentlich ist«.169 Die Debatte war auch mit dieser Replik nicht beendet, obwohl Treitschke das gehofft hatte. Aufgrund der anhaltenden Diskussionen sah sich der Historiker erneut herausgefordert, seinen immer zahlreicher werdenden jüdischen Widersachern zu antworten. Im Januarheft fand sich ein neuer Text: »Noch einige Bemerkungen zur Judenfrage«. Zentrales Anliegen der beiden Texte war es, die Streitinformation weiter zu verteidigen und zu legitimieren; dabei wurde die Verbindung zwischen seinem aggressiven Nationalismus und kulturellen Selbstbildern noch deutlicher. In beiden Texten verstärkten sich die Anklänge an die religiöse Tradition.170 Gleichwohl wurde Treitschke nicht müde, den religiösen Charakter seines Antisemitismus abzustreiten. In diesem Zusammenhang darf man jedoch nicht vergessen, dass gebildete Bürger unter allen Umständen dem Eindruck entgegenwirken mussten, sie seien religiöse Fanatiker. Mit der »Judenfrage« einen offenen Kampf gegen eine andere Religion eröffnen zu wollen, wäre in der Tat als barbarisches und mittelalterliches Unterfangen begriffen worden. Der dahinter wirkende Mechanismus sollte aber ebenfalls nicht aus dem Blick geraten: Man lehnte es ab, die »Judenfrage« als religiöse zu diskutieren, und konzentrierte sich auf die kulturellen, nationalen, oder geistigen Aspekte. Keiner dieser Bereiche kam aber ohne direkten Anleihen bei der religiösen Tradition aus. Die Bedeutung der Religion erkennt man deshalb nicht nur an der Wut, mit der sich Treitschke über Graetz’ Kritik am Christentum erboste. Religion wurde insgesamt zum Signum der jüdischen Sonderidentität. In seinem Januartext leitete der Berliner Historiker das religiöse Thema mit einer kleinen Affäre aus Linz am Rhein ein. Treitschke muss sich im Vorfeld um eine solche Episode regelrecht bemüht haben. Offensichtlich trat er dafür an den Mitherausgeber der »Preußischen Jahrbücher« und langjährigen Referenten im preußischen Kultusministeriums, Wilhelm Wehrenpfennig, heran. Unmittelbar vor Abschluss des Essays schrieb ihm dieser, dass Linz nützlich sein könnte. Dort gäbe es eine katholische Volksschule, an der auch etwa ein halbes Dutzend jüdische Kinder unterrichtet werden würden. Der örtliche Synagogenvorstand hätte nun eine Beschwerde bei den preußischen Regierungsstellen eingereicht, weil in einem Bibellesebuch, das im Religionsunterricht Verwendung finde, behauptet werde, dass die Juden Jesus gekreuzigt hätten. Wehrenpfennig fügte hinzu, dass er sich eigens noch einmal bei den zuständigen Stellen nach der Richtigkeit erkundigt habe.171 Treitschke nutzte

169 Siehe die Abschrift eines Briefes von Treitschke an Georg Reimer vom 11.12.79, Nl. Treitschke, Kasten 17, Bl. 75. 170 »Der Vertreter des Germanenthums vom Novemberheft der Pr. Jahrb. hat sich bis zum Januarheft zum Vertreter des Christenthums entwickelt.« Meyer, Zurückweisung, S. 7. 171 Siehe den Brief Wehrenpfennigs an Treitschke vom 9.1.1880, Nl. Treitschke, Kasten 9, Mappe Wehrenpfennig. Trotz seiner Erkundigungen unterschlug Wehrenpfennig den für die

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die Amtshilfe und griff diese Geschichte sofort auf, nicht ohne zu konstatieren, dass das betreffende Schulbuch die Kreuzigung dem Neuen Testament gemäß wiedergebe. Seine Schlussfolgerung konnte kaum schärfer ausfallen: »Also im Namen der Toleranz maßt sich die winzige Minderheit ein Recht des Einspruchs an gegen die Glaubenslehre des Christenthums; für sich selber fordert sie unbeschränkte Freiheit.«172 Das sei nicht anderes als der »Terrorismus einer rührigen Minderzahl«.173 In dieser Argumentationsweise fuhr Treitschke fort. Alle staatlichen und gesellschaftlichen Institutionen seien christlich geprägt; Kunst und Wissenschaft würden durch das Christentum befruchtet. Das lebendige Bewusstsein nationaler Einheit könne sich aber unter Menschen nicht ausbilden, »die über die höchsten und heiligsten Fragen des Gemüthslebens grundverschieden denken«.174 Der Gegensatz zwischen Protestanten und Katholiken bleibe indes ein »häuslicher Streit« unter Christen, so dass man die Hoffnung auf eine »reinere Form des Christenthums« nicht aufgeben dürfe.175 Dahingegen sei das Judentum nun einmal die »Nationalreligion eines uns ursprünglich fremden Stammes« und könne folglich an jener nationalen Einheit nicht teilhaben.176 Am Schluss von »Noch einige Bemerkungen« beklagte sich Treitschke, dass ein für ihn zentraler Aspekt von »Unsere Aussichten« in der ganzen Debatte über diesen Text kaum aufgegriffen worden sei, nämlich seine Bemerkungen über die »Mitschuld der Deutschen an der Macht des Judenthums«.177 Schon in seinen Notizen hatte es geheißen: »Wichtigste – wir selbst«.178 Für Treitschke war dabei offenkundig, dass es bei der »Judenfrage« um die Zukunft von Religion und Kultur unter den gebildeten Bürgern ging, schloss er doch mit der für ihn hoffnungsfrohen Perspektive: »In den frivolen, glaubenlosen Kreisen des Judenthums steht die Meinung fest, dass die große Mehrheit der gebildeten Deutschen mit dem Christenthum längst gebrochen habe. Die Zeit wird kommen und sie ist vielleicht nahe, da die Noth uns wieder

Beschwerde des Synagogenvorstandes wichtigen Passus des Lehrbuches, wonach sich die Juden Kain als Vorbild nähmen. Ein Koblenzer Regierungs- und Schulrat berichtete Treitschke später aus seinen amtlichen Kenntnissen der Vorkommnisse und zitiert die Buchpassage: »Abel war ein Vorbild des von seinen Brüdern, den Juden, unschuldig getödteten Jesus; Kain war Vorbild der über die ganze Erde zerstreuten Juden.« Siehe den Brief von Stiehls an Treitschke vom 12.2.1880, Nl. Treitschke, Kasten 8, Mappe Stiehls. 172 Treitschke, Noch einige Bemerkungen zur Judenfrage, BAS, Bd. 1, S. 282. 173 Ebd. 174 Ebd., S. 289. 175 Ebd. 176 Ebd., S. 288f. 177 Ebd., S. 292. 178 Siehe die Notizen Treitschkes, Nl. Treitschke, Kasten VIIB, Mappe »Zur Judenfrage«, Bl. 132.

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beten lehrt, da die bescheidene Frömmigkeit neben dem Bildungsstolze wieder zu ihrem Rechte gelangt.«179

Im Vergleich zu »Unsere Aussichten« ergibt sich ein prägnanteres Bild, wenn man sich die gesamte Textlage anschaut, was Treitschke und sein Verleger schon ihren Zeitgenossen erleichterten, da sie noch im Januar 1880 die Flugschrift »Ein Wort über unser Judenthum« herausbrachten, in der alle relevanten Äußerungen Treitschkes zu dem Streit zusammengefasst waren.180 Man würde Treitschkes Haltung zur »Judenfrage« zu beschränkt interpretieren, wenn man das Motiv des Nationalen nicht im Zusammenhang kultureller Selbstbilder sehen würde. Die Texte funktionierten auf verschiedenen Ebenen, wobei mit der Veröffentlichung der letzten Essays vor allem die religiöse Dimension in den Vordergrund rückte. Letztlich erschließt sich das Gesamtbild nur, wenn man Treitschkes Aktivitäten im Zusammenhang der bürgerlichen Bildungskultur begreift. Aus ihr heraus ergaben sich die drei Diskussionsstränge – national, kulturell, religiös. Alle drei dienten der Propagierung der Bildungskultur nach innen (mit Blick auf die gebildeten Protestanten) und nach außen (mit Blick auf die gebildeten Juden). Treitschke griff also die vorhandenen Unsicherheiten in der Bildungskultur auf, und, indem er die »Judenfrage« diskutierte, fand er eine Gelegenheit, die entsprechenden Probleme zu behandeln. Er zog neue Grenzen um die Bildungskultur und essentialisierte sie, indem er ihr eine bestimmte Haltung zur Nation, zur Religion und zur Kultur einschrieb, um diese dann gegenüber den Juden einklagen zu können. Mit Treitschke hatte sich das gebildete Syndrom gegen gebildete Juden, das sich bereits seit Wagners Essay, mit dem Treitschkes Text viele strukturelle Gemeinsamkeiten aufwies, endgültig etabliert und war zudem ein außerordentlich politisiertes Problem geworden.

179 Treitschke, Noch einige Bemerkungen zur Judenfrage, BAS, Bd. 1, S. 293. 180 Vgl. Treitschke, Über unser Judenthum.

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4.5 Versagte Verteidigung: Das öffentliche Schweigen der liberalen Protestanten »Ich wollte meinen Augen nicht trauen, als ich an den Schaufenstern der Buchhandlungen die gemeinsten Schmähschriften gegen die Juden sah, als ich in den Kreisen, in welchen ich verkehrte, dem Widerhall dieser Agitation begegnete, als ich selbst in sonst ganz vorurtheilsfreien Familien große Zurückhaltung bei Anregung der sog. Judenfrage fand und von vielen Seiten hören mußte, dass dies Treiben doch eine gewisse Berechtigung habe.«181

Der Streit, der durch Treitschkes Angriff auf die Juden im November 1879 entbrannte und bis ins Frühjahr 1880 andauerte, fand im Wesentlichen zwischen Treitschke und gebildeten Juden statt. Andere Protestanten schalteten sich nur selten in die Diskussion ein, und wenn dann geschah das fast ausschließlich, weil sie selber Antisemiten waren und Treitschke zur Seite sprangen. Gegen den Historiker trat nahezu kein gebildeter Protestant öffentlich in Erscheinung. Eine Ausnahme stellte der Frankfurter Gymnasialprofessor Karl Fischer dar, der 1880 die Flugschrift »Heinrich von Treitschke und sein Wort über unser Judenthum« publizierte – einen sachlich gehaltenen Text, der sich bemühte, seinen Gegner in vielen Einzelaspekten zu widerlegen.182 Eine ganz anders gelagerte Gegenrede brachte der Berliner Prediger und Theologe Paulus Cassel, ein jüdischer Konvertit zum Protestantismus, auf den Markt.183 Cassel begriff den Konflikt vor allem unter religiösen Gesichtspunkten und bemühte sich, Argumente für eine wirkungsvolle Verteidigung der Juden zu finden. Christen sollten – liest man bei ihm – ihre jüdische Mutterreligion nicht angreifen. Insgesamt waren solche Stimmen jedoch Ausnahmen, zudem im Falle des Konvertiten Cassel umstrittene.184 Die anderen protestantischen Stimmen schlugen sich auf Treitschkes Seite, wenn ihn auch einige für nicht konsequent genug hielten. Der radikale Antisemit Johannes Nordmann etwa veröffentlichte unter dem Pseudonym H. Naudh die Flugschrift »Professoren über Israel. Von Treitschke und Bresslau«. Treitschke, ja, selbst Stoecker waren Nordmann zu gemäßigt. Außerdem war er ein ausgesprochener Rassist und polemisierte gegen das Bildungsideal, in dem er einen zentralen Auslöser für die »Judenfrage« sah. Der nicht weniger 181 182 183 184

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Berlin in der Judenhetze, BAS, Bd. 1, S. 150. Vgl. Fischer, Heinrich von Treitschke. Vgl. Cassel, Wider Heinrich von Treitschke, BAS, Bd. 1, S. 170–185. Es gab eigene Gegenstimmen zu Cassel, so z. B. Delff.

radikale Antisemit Wilhelm Endner publizierte eine »Offene Antwort auf das Sendschreiben des Herrn Dr. Harry Breßlaus an Herrn von Treitschke », um anhand der Person Breßlaus die »absolute Unverträglichkeit des Judenthums mit dem Deutschthum« zu zeigen.185 Der frontale, polemische Angriff Endners rieb sich vor allem daran, dass sich Breßlau wie selbstverständlich zu den Gebildeten zählte. Gleichwohl existierten auch weniger radikale Autoren als Nordmann und Endner, die sich trotzdem für die Sache Treitschkes engagierten. Der Oldenburger Pastor Georg Brake veröffentlichte im Sommer 1880 die Schrift »Zur deutschen Judenfrage. Ein Wort zum Frieden«. In dem hundertseitigen Werk finden sich z. T. detaillierte Ausführungen zu den Schriften von Treitschke, Lazarus, Cohen, Breßlau u. a. Die grundsätzliche Entscheidung, vor der die Juden stünden, fasste Brake ganz ähnlich wie Treitschke auf: »Entweder also giebt sich der deutsche Jude der deutschen Bildung rückhaltslos hin und dann nimmt er in demselben Maße Schaden an seiner jüdischen Seele, als er sich dem Christentum innerlich annähert, oder er sucht auch ihr gegenüber noch sein Judentum sich zu wahren und dann lebt er in ihr nur mit Reserve, also anders als der Deutsche.«186

Schließlich sei auf die Flugschrift »Die Judenfrage und ihr Geheimnis« von Rudolf Friedrich Grau hingewiesen, der ebenfalls der Argumentation Treitschkes zuneigte.187 Mit diesen Schriften war die Bilanz des ersten Streites zwischen Treitschke und den Juden vollständig: Über zwanzig selbständige Flugschriften waren erschienen sowie unzählige Artikel und einige Flugblätter; zahlreiche Briefe waren geschrieben und versandt worden. Die Trennlinie zwischen Treitschke auf der einen Seite und den gebildeten Juden auf der anderen war nur durch wenige Schriften verwischt worden; im Großen und Ganzen hatte sie Bestand. Diese Flut von Schriften und Gegenschriften ließ den Streit ausufern. Unglaublich viele Argumente zu den verschiedensten Themen wurden hin und her diskutiert: Man stritt über den Unterschied von aschkenasischen und sephardischen Juden, über die französische Judengesetzgebung, über die Entstehung des Christentums, über ein Zitat von Tacitus, über die Einwanderung von Juden, über ihre Rolle in der Presse, über Shakespeares Shylock-Figur. Wer wollte alles das kaufen und lesen, geschweige denn nachvollziehen und beurteilen? Der Eindruck eines chaotischen Zustandes musste sich aufdrängen, nun »da wieder einmal Alle wider Alle und Alles streiten«.188 Dringend notwendig war daher eine den Streit begleitende Bündelung, mit der die In185 Endner, Zur Judenfrage, BAS, Bd. 1, S. 311. 186 Brake, S. 87. 187 Vgl. Grau. 188 So nahm es Fischer in seiner relativ spät erschienenen Schrift – sie wurde am 15. Februar 1880 abgeschlossen – wahr: Fischer, Heinrich von Treitschke, S. 22.

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formationen verteilt, analysiert und bewertet wurden. In den öffentlichen Konflikten moderner Gesellschaften übernimmt die Presse diese Funktion. Auch während des Streites zwischen Treitschke und den Juden spielte die Presse eine wichtige Rolle, allerdings nur in bestimmten Segmenten. Generell lässt sich feststellen, dass sowohl die jüdischen Blätter als auch die Blätter der antisemitischen, konservativen und klerikalen Ränder ausführlich über den Konflikt berichteten. Die für viele gebildete Bürger entscheidende liberale Presse schwieg hingegen lange Zeit. Die jüdische Presse jedweder Couleur machte es sich zur Aufgabe, ihre Leser über die antisemitische Vorkommnisse detailliert zu unterrichten. Die »Allgemeine Zeitung des Judenthums« schrieb: »Wir erachten es für unsre Aufgabe, wenigstens die wichtigeren Schriften, die in dem gegenwärtigen Kampfe in der Arena erscheinen, zu besprechen. Die Momente dieses Streites werden dadurch fixirt […].«189 Vor Treitschkes Auftritt hatte man den aufkommenden Antisemitismus als politischen Radikalismus interpretiert: Konservative, Klerikale und Ultramontane sähen darin ein Instrument in ihrem Kampf gegen den Liberalismus und schürten den Antisemitismus bewusst. Das glaubte man – in liberaler Tradition – als einen Rückfall ins tiefste Mittelalter brandmarken zu können. Nach einigen Monaten jedoch büßte diese Strategie an Überzeugungskraft ein. Jüdische Zeitungen und Zeitschriften zeigten sich zunehmend irritiert von der Stärke der antisemitischen Tendenzen. Im Herbst 1879 begann man von »systematischen Hetzen« gegen die Juden zu sprechen, denen nichts entgegengestellt werde: »Die allgemeine Meinung schweigt; sie scheint Wohlgefallen daran zu haben; sie begünstigt sie offenbar.«190 Nicht selten wurde den Leser und Leserinnen jedoch gleich wieder versichert, es sei doch unmöglich, »dass in einer großen, hochstehenden und durchbildeten Nation eine so krasse und niedrige Leidenschaft eine längere Zeit ihr Spiel treiben könne.«191 Diese Mischung aus Sorge und Beschwichtigung war mit einem Schlag beendet, als Treitschkes Auftritt den Antisemiten Recht gab. Am 9. Dezember beschäftigte sich die »Allgemeine Zeitung des Judenthums« zum ersten Mal mit dem Berliner Historiker. Kaum sei »der Schwall der judenverfolgerischen Schmähschriften« etwas abgeflaut, beginne Treitschke mit dem Thema erneut.192 Nun sei zu befürchten, dass es auch in den »halbliberalen Organen« zu antijüdischen Wellen komme.193 Der Text versuchte dann, den Leser detailliert zu informieren und insbesondere den politischen Kontext von »Unsere Aussichten« ausleuchten. In dieser Phase wurde auch die Forderung nach einer 189 190 191 192 193

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»AZJ« vom 10.2.1880. »AZJ« vom 28.10.1879. Ebd. »AZJ« vom 9.12.1879, BAS, Bd. 1, S. 103. »AZJ« vom 9.12.1879, BAS, Bd. 1, S. 104.

Verteidigung gegen die Angriffe sofort vernehmlicher: »Wo bleiben denn die echten und rechten Kämpen, die sich der Geschmähten annehmen und die Gegner mit Erfolg zurückwerfen?«194 Von Beginn gestaltete sich die Verteidigung als Kommunikations- und Interaktionsproblem. Eine offensive Gegenstrategie barg zu viele Gefahren. Legitime Verteidigung könnte, so die Befürchtung, schnell als aggressiver Angriff und unerlaubte Provokation denunziert werden, womit man den Antisemiten nur Munition für weitere Schmähungen liefern würde. Der jüdische Abwehrkampf hatte sich in dieser Phase stets mit einer quietistischen Haltung auseinander zu setzen. Trotzdem wurden in der jüdischen Presse die Stimmen lauter, von gebildeten Juden eine Stellungnahme gegen die Antisemiten zu erhalten. Treitschke gegenüber, so die Feststellung, konnte man sich dieses Stillschweigen nicht mehr länger leisten. Die jüdische Presse intensivierte in der Folgezeit ihre Berichterstattung und meldete in jeder Ausgabe die neuesten Entwicklungen. Der Leser der »Allgemeinen Zeitung des Judenthums«, der »Israelitische Wochenschrift« oder auch der »Jüdischen Presse« war bis in alle Einzelheiten über die Debatten informiert, und ihm wurden die Mittel zur Verfügung gestellt, die Informationen zu ordnen und zu bewerten. In der nichtjüdischen Presse war das Bild wesentlich uneinheitlicher. In den Blättern mit eindeutig klerikalem, konservativem oder gar antisemitischem Charakter wurde über die Auseinandersetzungen um Treitschke berichtet. Die katholische »Germania« und die konservative »Kreuzzeitung« taten sich dabei besonders hervor. In vielen liberalen Blättern, die für die gebildeten Bürger von herausragender Bedeutung waren, geschah das hingegen nicht. Während selbst die ausländische Presse Korrespondentenberichte über Treitschkes Angriffe brachte, erfuhr beispielsweise der Leser der freisinnigen »National-Zeitung« lange Zeit gar nichts über die Vorkommnisse.195 Das Berliner Organ schilderte zwar regelmäßig den Verlauf, den die Versammlungen der Christlich-Sozialen Partei Stoeckers nahmen. Dass Treitschke die Juden angegriffen hatte, erfuhr der Leser freilich erst am 7. Dezember und dann auch nur versteckt in einem Bericht über eine Versammlung der Christlich-Sozialen, auf der Stoecker Treitschke für sich vereinnahmen wollte.196 Danach gab es in der »National-Zeitung« so gut wie keine Erwähnung des Vorfalls mehr. 194 »AZJ« vom 9.12.1879. 195 In der Habsburger Monarchie konnten sich zumindest die Leser der »Wiener Presse« und der »Neuen Freien Presse«, hier u. a. durch einen Artikel des Berliner Literaturprofessors Wilhelm Scherer, über die »Judenfrage« in Deutschland informieren. In Frankreich erschienen entsprechende Artikel in »Temps«, in »République française« sowie im »Figaro«. Eine ausführlichere Berichterstattung bot: Cherbuliez. In den USA wurde ebenfalls in einige Artikeln berichtet, so z. B. in der »New York Times« oder in: Anonymus, The Jew Question in Germany. Für einen umfangreicheren Bericht vgl. Adler. 196 Vgl. »NZ« vom 7.12.1879.

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Ähnlich verhielt sich die Lage bei einer anderen wichtigen liberalen Tageszeitung: der »Königlich privilegirten Berlinischen Zeitung von Staats- und gelehrten Sachen«, kurz »Vossische« genannt. Hier wurde in der Rubrik Lokales gelegentlich über die Berliner Bewegung oder über die Sitzungen der Antisemitenliga referiert.197 Die »Vossische« druckte zwar die Gliederung des Novemberheftes der »Preußischen Jahrbücher« ab, machte aber keine zusätzlichen Angaben.198 Erst einen Monat später erfuhr der Leser im Lokalteil von dem Vorgang: Dort empfahl man nun plötzlich die Schrift von Paulus Cassel »gegen den viel besprochenen Artikel der »Preußischen Jahrbücher«, in welchem Professor Heinrich von Treitschke so heftig gegen das Judenthum polemisirt«.199 Viel besprochen war der Text in dieser Zeitung nun wahrlich nicht. Erst am Heiligabend 1879 erschienen zwei eigenständige Artikel zu der Angelegenheit: neben einer Glosse eines »christlichen Beobachters« über »Berlin in der Judenhetze« der offene Brief des Oxforder Bibliothekars und Judaisten Adolf Neubauer.200 Diese generelle Tendenz bestätigt sich im »Berliner Tageblatt«, das allerdings gar kein Wort über die Ereignisse verlor. Das war insofern bemerkenswert, als es das »Tageblatt« im Frühjahr noch für wichtig erachtet hatte, eine antisemitische Bemerkung aus Treitschkes Vorlesungen zu dokumentieren. Besonders interessant war das Verhalten der »Deutschen Rundschau«. Ihr jüdischer Herausgeber, Julius Rodenberg, scheint ursprünglich – ähnlich wie Paul Lindau, der die Leser seiner »Gegenwart« durch einen Artikel von Heinrich B. Oppenheim informierte – geneigt gewesen zu sein, einen Artikel gegen Treitschke zu veröffentlichen. Zugleich musste er auf das beachtliche Renommee seines Blattes unter gebildeten Bürgern – und auf den illustren Kreis seiner Autoren – Rücksicht nehmen. Als Ludwig Bamberger seine Gegenschrift in Rodenbergs Zeitschrift veröffentlichen wollte, musste dieser schließlich ablehnen. Protestantische Autoren, vor allem Wilhelm Scherer, hatten dagegen interveniert.201 Insgesamt lässt sich festhalten, dass wichtige liberale Blätter lange Zeit über Treitschkes Essay schwiegen und über

197 Vgl. »Vossische« vom 18.11.1879. 198 »Vossische« vom 26.11.1879. Das gleiche gilt für das Dezemberheft: »Vossische« vom 21.12.1879. 199 »Vossische« vom 21. Dezember 1879. 200 Neubauer bemühte sich neben einzelnen Gesichtspunkte vor allem darum, die Bedeutung der Juden in der Bildungskultur zu verteidigen: »Ist es nicht Böswilligkeit, zu behaupten, dass »unter den führenden Männern der Kunst und Wissenschaft die Zahl der Juden nicht groß ist«, während wir doch statistische Angaben haben, dass in Deutschland sich proportional wenigstens dreimal so viele Juden als Christen der Wissenschaft und Kunst widmen, trotzdem Sal. Munk, Joseph Derenburg (beide Mitglieder der französischen Akademie) und Oppert (Professor im Collège de Françe) auf fremden Boden ihre Wirksamkeit suchen mussten?« (Neubauer), Offener Brief an Hrn. Professor Heinrich von Treitschke, BAS, Bd. 1, S. 147. 201 Vgl. den Brief von Karl Wilhelm Nitzsch an Wilhelm Schrader, BAS, Bd. 1, S. 295.

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den sich entwickelten Streit oder gar die jüdischen Gegenschriften erst recht nicht berichteten.202 Einzig »Die Grenzboten«, der »Berliner Börsen-Courier« und das Satiremagazin »Kladderadatsch« bildeten von dieser Regel eine Ausnahme. »Die Grenzboten« war wohl das einzige Presseorgan für gebildete Bürger, das in dieser Phase eine klare antisemitische Tendenz entwickelte. Das Blatt hatte sich seiner liberalen, später nationalliberalen Tradition mehr und mehr entfremdet, stand seit 1871 immer stärker unter direktem Einfluss Bismarcks und war seit dessen politischer Wende zu einer »Art Staatsorgan in halb konservativem Sinne« mutiert.203 Der Wiedereintritt von Moritz Busch in die Redaktion verstärkte 1878 diesen Eindruck, galt er doch als Sprachrohr des Reichskanzlers. Als die »Judenfrage« durch Treitschke an Virulenz gewann, brachten die »Grenzboten« eine ausführliche Artikelserie: »Beiträge zur Beurtheilung der Judenfrage«.204 Ein großer Teil der Beiträge dürfte aus der Feder Moritz Buschs stammen. Treitschke diente dabei als ein wichtiger Stichwortgeber; er wurde zitiert, seine Argumente flossen in den Text ein, und »Ein Wort über unser Judenthum« wurde »im Allgemeinen warm« empfohlen, obwohl man bemängelte, dass der Historiker die Einschränkung der Emanzipation (noch) grundsätzlich abgelehnt hatte.205 Ohne den Hergang des Konfliktes um Treitschke im einzelnen zu verfolgen, lieferte das Blatt Hintergrundinformationen und Argumentationshilfen für eine Perspektive, die noch radikaler als diejenige Treitschkes war. Nach ausführlichen Diskussionen, angereichert mit ethnologischen, kulturgeschichtlichen und statistischen Informationen, folgte eine Schlussbetrachtung: »Die deutschen Juden in der Gegenwart, und was nun?«206 Den Veränderungsbemühungen der Juden sei, argumentierten die »Grenzboten«, durchaus einiger Erfolg beschieden gewesen: »Wir müssen ihnen das Zeugniß geben, dass sie in den vier Generationen, die seit dem Beginn der Reform oder der »Selbstemancipation« dahingegangen sind, sich aus halbbarbarischen Orientalen in großentheils recht »gebildete« Leute verwandelt haben.«207 Gleichwohl sei diese Angleichung an die Bildungskultur gerade das Problem: Die Juden hätten sich äußerlich angepasst, seien aber in ihrem Innersten gleich geblieben. »Ihre Neigungen, ihre Art, die Dinge zu sehen, zu beurtheilen und zu behandeln, die ihnen angeborne Methode blieben […].«208 202 Allerdings berichtete das »Berliner Tageblatt« von Lazarus’ Vortrag: »BT« vom 5.12.1879. 203 Naujoks, S. 165. 204 Vgl. Anonymus, Beiträge. Das Werk erschien auch separat: Anonymus, Israel. 205 Anonymus, Beiträge, S. 318. 206 Nur dieser Teil ist in der neuen Edition der Kontroversen enthalten: BAS, Bd. 2, S. 458– 482. 207 Anonymus, Beiträge, S. 182. 208 Ebd., S. 183.

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Oberflächliche Beobachter konnten sich durch den Schein der Anpassung täuschen lassen, was die Juden noch gefährlicher werden ließ, da in ihnen keine Bedrohung mehr gesehen werden würde. Trotz aller Veränderungen blieben die Juden außerhalb der Bildungskultur, ja, sie bedrohten diese sogar durch ihre scheinbare Anpassung. Konsequenterweise plädierten »Die Grenzboten« für Maßnahmen zum Schutz vor dem jüdischen Einfluss.209 Dem »Berliner Börsen-Courier« war der Treitschke-Text bald nach seinem Erscheinen einen ausführlichen Bericht wert: »Die Judenhetze hat einen Bundesgenossen gewonnen, der uns gefährlicher erscheint, als die Stöcker und Marr, als die ›Germania‹ und die ›Kreuzzeitung‹, als die Antisemiten-Liga und was drum und dran hängt.«210 In den folgenden Wochen berichtete die Zeitung auch relativ konstant über die neuen Vorkommnisse und die Publikationen.211 Dabei schreckte das Börsenblatt auch nicht vor polemischen Spitzen zurück.212 In den Ohren vieler gebildeter Bürger hatten die offensiven Töne des Blattes einen schrillen Klang, was aber zu ihrer Einschätzung des »Berliner Börsen-Courier« gepasst haben dürfte. Wann immer sich gebildete Bürger über moralische Auswüchse in der Presselandschaft beschwerten, fiel der Name dieses Blattes. Es dürfte daher dieser Außenseiterrolle in der Bildungskultur geschuldet sein, dass es sich das linksliberale Organ leisten konnte, mit dem sonstigen Schweigen über die Affäre Treitschke zu brechen.213 Dass auch der »Kladderadatsch« das tat, war dagegen auf dessen Charakter als satirisches Blatt geschuldet. Schon am 7. Dezember machte sich das liberale Witzblatt über Treitschke lustig, u. a. mit der Zeile: »Man kann ein scheinbar ernster Mann und doch ein eitler Tropf nur sein, – Man kann ein sehr gelehrtes Haupt und doch – ein leerer Kopf nur sein.«214 Für den »Kladderadatsch« dürfte Treitschke einfach ein zu komischer Gegenstand gewesen sein, um ihn mit Nichtbeachtung zu strafen. Daher wurden die Witze auf seine Kosten auch bis in den Januar hinein in fast jeder Ausgabe fortgesetzt.

209 Dieser Maßnahmenkatalog sollte später von den Verfassern der Antisemiten-Petition aufgegriffen werden. 210 Kommentar des »BBC«, BAS, Bd. 1, S. 21. 211 So erfuhr der Leser von Lazarus’ Vortrag, er konnte Auszüge aus der Schrift Joëls lesen und fand Graetz’ Replik erwähnt. Vgl. den »BBC« vom 4., 7. und 9. Dezember 1879. 212 »BBC« vom 20.12.1879. Für die Flugschrift vgl. (Stein), Börne und Treitschke. 213 Ob dabei auch die Tatsache, dass mit Georg Davidsohn der Gründer und Herausgeber des Blattes sowie mit Isidor Landau der verantwortliche Redakteur Juden waren, eine Rolle gespielt hat, ist nicht nachweisbar, aber möglich. Gleichwohl scheint es auf die Berichterstattung der »National-Zeitung« keinen Einfluss gehabt zu haben, dass der 1879 verstorbene Verleger Bernhard Wolff und sein Nachfolger Ferdinand Salomon die gleiche Herkunft besaßen. Es ist bis heute Voraussetzung des antisemitischen Klischees von der »jüdischen Presse«, von der Herkunft eines Journalisten auf seine Arbeit zu schließen. Dies kann im Einzelfall möglich gewesen sein; als generelle Behauptung ist es natürlich falsch. 214 »Kladderadatsch« vom 7.12.1880.

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Am 30. Dezember 1880 wohnten Kaiser Wilhelm I. samt Ehefrau sowie Kronprinz Friedrich einem Wohltätigkeitskonzert in der großen Berliner Synagoge bei.215 Der Besuch als solcher wurde bereits als politisches Zeichen interpretiert; das verstärkte sich aber noch, als der Kronprinz bei dieser Gelegenheit offen seine Ablehnung der antisemitischen Umtriebe in der Stadt aussprach.216 Diese offizielle Verurteilung des als liberal geltenden Kronprinzen mobilisierte die liberale Presse; selbst diejenigen Organe, die zuvor geschwiegen hatten, ergriffen jetzt offensiver Partei gegen Treitschke. Am 8. Januar meldete die »National-Zeitung« das Ereignis und stellte fest: »Das Gewissen der Naton [sic!] gegenüber dieser Religionsverfolgung ist nach allgemeinem Gefühl in jenen Worten in befreiender Weise zum Ausdruck gekommen und man darf diese Worte als abschließend betrachten.«217 Andere Zeitungen folgten diesem Beispiel.218 In der »Weser-Zeitung« erschien ebenfalls am 8. Januar der erste Teil eines Leitartikels gegen Treitschke; am nächsten Morgen folgte der zweite.219 Obwohl dieser Artikel in der jüdischen Presse besondere Beachtung fand und z. T. sogar wieder abgedruckt wurde, ist sein Tenor nicht so eindeutig aufseiten der Juden, wie man hätte erwarten können. Weil die Gefahr drohe, dass die ungebildete Menge beeinflusst werden könne, müsse man Treitschkes Vorgehen »auf das Entschiedenste« ablehnen.220 In einer verräterischen Wendung fügt das Bremer Blatt hinzu: »Natürlich hat Treitschke wie Jedermann das Recht seiner Meinung über die Stellung des Judenthums in der Geschichte wie in der Gegenwart […]; unser Tadel richtet sich gegen den Augenblick, in welchem die Meinungsäußerung erfolgte, und gegen den Ton, in welchem sie stattfand.«221

Daraus muss man wohl schlussfolgern, dass eine antisemitische Meinung nicht als solche verurteilt werden muss; an ihr störe vor allem der äußere Umstand, nämlich dass sie einer »schlechten, verwerflichen Bewegung« zu mehr Popularität verhelfe.222 Für viele Stellungnahmen von liberaler Seite war dieser Artikel charakteristisch: Man lehnte Antisemitismus aus politischen Gründen ab, weil darin eine Bedrohung für den Liberalismus lag, war aber ansonsten kaum bereit, aktiv zu werden und bezog niemals eindeutig Stellung für die Juden. Die liberalen Protestanten wussten genau zu trennen zwischen 215 Eine ausführlichere Beschreibung des Ereignisse findet sich in: »NZ« vom 31.12.1879. 216 Vgl. »IWS« vom 7.1.1880 sowie »AZJ« vom 20.1.1880. 217 »NZ« vom 8.1.1880. 218 Am 18. Januar erschien ein Artikel in der »Kölnischen Zeitung« unter dem Titel »Die neueste Judenhetze in Deutschland«, der allerdings von »schwächlicher Art« war. »AZJ« vom 3.2.1880. 219 Vgl. »Weser-Zeitung« vom 8.1.1880 sowie vom 9.1.1880. 220 Zitiert nach: »IWS« vom 21.1.1880. 221 Ebd. 222 Ebd.

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der Ablehnung von Antisemitismus und der Verteidigung der jüdischen Identität. Den Streit zwischen Treitschke und den Juden übersah man, solange das möglich war. Dem Leser der wichtigsten liberalen Zeitungen blieb nur die Möglichkeit, die vielen verschiedenen Stellungnahmen selbst zu lesen, da die liberale Presse ihre Bündelungs- und Kommentarfunktion nicht wahrnahm. Einfluss auf den Meinungsbildungsprozess zu nehmen, überließ sie somit anderen und griff erst ein, als sich der Kronprinz öffentlich erklärte, und auch dann noch zurückhaltend. Die »Allgemeine Zeitung des Judenthums« kommentierte dieses Verhalten bitter: »Die Organe des deutschen Liberalismus haben sich nicht eher mit ihrer Meinung herausgetraut, als bis der kaiserliche Hof in der Berliner Synagoge erschien, und der dereinstige Kaiser und preußische König seinen Unwillen über die bekannten Vorgänge Ausdruck gegeben. Fürwahr, dass die liberalen Pressorgane so lange gewartet, bis sie sich hinter den kaiserlichen Thron bergen konnten, zeugt von einer Schwächlichkeit des deutschen Liberalismus, die man nur tief beklagen kann.«223

Das Blatt hatte ganz Recht: Insgesamt blieb die protestantische, liberale Verteidigung gegen den Antisemitismus unter gebildeten Bürgern eine stumpfe Waffe. Mit Treitschke war deutlich geworden, dass die »Judenfrage« in diesem Umfeld Erfolg haben konnte. Die Anschlussfähigkeit zu Krisenwahrnehmungen in der bürgerlichen Bildungskultur war offenkundig und unterstützte die Wirkungsmacht von »Unsere Aussichten«. Die liberalen Blätter – und wohl auch viele liberale Gebildete insgesamt – befanden sich dabei in einem Dilemma: Sie teilten viele der Krisenwahrnehmungen, auf die Treitschke anspielte, auch wenn sie seine Schlussfolgerungen oft ablehnten. Sicherlich werden auch einige liberale Gebildete insgeheim mit vielen Thesen der Antisemiten geliebäugelt haben. Offen gegen Treitschke und die anderen Antisemiten vorzugehen, bedeutete für die Zeitungen zwangsläufig, ihnen mehr Beachtung zu schenken, als ihnen vielleicht zustand. Die eigentlich lächerliche »Judenfrage« – so mögen die Gutwilligen unter den gebildeten Protestanten gedacht haben – sei es nicht wert, durch aktive Gegnerschaft mit Aufmerksamkeit bedacht zu werden. Zugleich mögen sie davor zurückgeschreckt sein, in dieser Frage die offen zutage tretende Schwäche des Liberalismus weiter herauszustreichen. Der langfristige Fluch dieser Haltung lag jedoch darin, sich einer gewichtigen Chance zu berauben: offensiv aufseiten der Juden für deren Rechte einzutreten.

223 »AZJ« vom 3.2.1880.

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4.6 Stille Hilfstruppen: Private Reaktionen von liberalen Protestanten »Es scheint mir wirklich nicht in der Ordnung, dass ich in dieser ernsten Sache zwar privatim und privatissime tausendfache Zustimmung erhalte, aber öffentlich fast nur von Leuten wie Stöcker und Marr, die meine Freunde nicht sind, unterstützt werde.«224

Dass sich gebildete Protestanten nicht öffentlich zu positionieren trauten, bedeutete allerdings nicht, dass sie das gegenüber Treitschke auch privatim unterließen. Hier war das Meinungsbild eindeutiger: Viele unterstützten den Historiker und das, was er in »Unsere Aussichten« und danach geäußert hatte. So bedankte sich der Heidelberger Philologe Adam Eisenlohr für Treitschkes Auftreten in der »Semitenfrage« und fügte hinzu: »Auch sollte diesem anmaßenden Volke einmal gesagt werden, wie groß unsere Duldung, dass wir sie, die [Wort unleserlich, d. Vf.] ekelhaften, in unserer Nähe ertrangen [sic!], dass wir uns tagtäglich ihre Frechheit Vorlautheit und Überhebung gefallen lassen in unsrem anerzognen Humanitätsdusel.«225 Der Heidelberger Theologe Adolf Hausrath gestand Treitschke in den letzten Jahren ebenfalls »antijudaistische Anwandlungen« gehabt zu haben.226 Auch Emil Herrmann freute sich über den »treuen Wächterruf« Treitschke, hatte er mit ihm doch bereits vor »Unsere Aussichten« die »Judenfrage« brieflich diskutiert.227 Es lassen sich noch weitere Beispiele anfügen: Dem Wiener Historiker Adalbert Horawitz tat es wohl, wie er an Treitschke schrieb, »einen Mann, der immer als Leuchte für mich erschien, in ähnlicher Weise sich äußern zu hören, es festigt Überzeugung & gibt Muth & Kraft in dem Streite«.228 Der Wormser Gymnasiallehrer Dr. Th. Goldmann schrieb Treitschke im März 1880 und berichtete über

224 Siehe den Brief Treitschkes an Schmidt vom 17.12.1880, Nl. Treitschke, Kasten 17, Mappe Schmidt. Die Hervorhebung befindet sich im Original. 225 Ebd. 226 Siehe den Brief Hausraths an Treitschke vom 5.12.1879, Nl. Treitschke, Kasten 6, Mappe Hausrath. 227 Siehe den Brief Herrmanns an Treitschke vom 27.2.1880, Nl. Treitschke, Kasten 6, Mappe Herrmann. 228 Siehe den Brief Horawitz’ an Treitschke vom 30.1.1880, Nl. Treitschke, Kasten 7, Mappe Horawitz. Horawitz’ Brief erinnert allerdings daran, dass solche Briefen auch noch aus anderen Gründen (Opportunismus, Lobhudelei) als die vorbehaltlose Unterstützung einer Position geschrieben werden konnten. Als einige Zeit später Mommsen Stellung gegen Treitschke bezog, griff Horawitz erneut zur Feder, um diesmal allerdings Mommsen für seine mutige Tat zu danken. Vgl. den Brief Horawitz’ an Mommsen vom 28.11.1880, Nl. Mommsen, Kasten 61, Mappe Horawitz.

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seine Erfahrungen aus dem schulischen Alltag, durch die er das bestätigt sah, was Treitschke in seinen Aufsätzen gesagt hatte.229 Treitschke erhielt auch Argumentationshilfen: Der Berliner Journalist im Ruhestand Karl Mertens wollte Treitschke umfangreiches Material zur »Judenfrage« bereitstellen, das er über 25 Jahre gesammelt hatte.230 Treitschke ging darauf sofort ein und erhielt drei Bände mit Schriften und Zeitungsartikeln.231 Außerdem schickte der Leipziger Geograph und Ethnologe Richard Andree detailliertes Zahlenmaterial für die Stadt Leipzig.232 Auch radikale Antisemiten wandten sich an Treitschke, wie das Vorstandsmitglied der Antisemitenliga, Hector de Grousilliers, der – wilde Verschwörungstheorie über die Alliance Israélite und den Berliner Bankier Gerson von Bleichröder reproduzierend – Treitschke zu weiteren publizistischen Schritten in der »Judenfrage« bewegen wollte.233 Treitschke neigte dazu, diese Korrespondenz ernst zu nehmen. Er registrierte genau, wie auf seine Worte reagiert wurde. Für ihn wichtige Briefstellen strich er an. Er begann eine Korrespondenz mit wildfremden Personen und bedankte sich, wenn ihm jemand Zustimmung signalisiert hatte. So wichtig die Briefe für Treitschke gewesen sein mögen, bei einer nachträglichen Analyse dieser Äußerungen, die für den Briefeschreiber den Vorteil hatten, in der Abgeschiedenheit der privaten Kommunikation vonstatten gehen zu können, wird man diverse Einschränkungen in Rechnung stellen müssen: Die Schreiber waren, wenn sie mit Treitschke länger bekannt oder gar befreundet waren – was aber längst nicht immer der Fall war –, sicherlich parteiisch. Manche der Autoren hätten, wären sie zu einer öffentlichen Stellungnahme gezwungen worden, möglicherweise über den Sachverhalt noch einmal nachgedacht; eine persönliche Unterstützung in einem Brief an einen Freund oder Kollegen verpflichtete zu wenig. Auch mag man sich fragen, unter welchen Umständen selbst ein befreundeter Professor seinen berühmten Kollegen direkt kritisieren würde. Außerdem ist Kritik, die sich in Schweigen äußert, kaum zu messen: Was bedeutete es, wenn ein Kollege wie der Heidelberger Historiker Bernhard Erdmannsdörffer erst ein Jahr später Unterstützung signalisierte, nicht ohne den Zusatz, er habe es schon zuvor oft gewollt?234 Das gleiche gilt für verschwiegene Zustimmung. Dass auch Personen Treitschke schrieben, die ihm 229 Siehe den Brief Goldmanns an Treitschke vom 29.3.1880, BAS, Bd. 2, S. 453–457. 230 Siehe den Brief Mertens’ an Treitschke vom 26.12.1879, Nl. Treitschke, Kasten 7, Mappe Mertens. 231 Siehe den Brief Mertens’ an Treitschke vom 27.12.1879, ebd. 232 Siehe den Brief Andrees an Treitschke vom 23.1.1880, Nl. Treitschke, Kasten 5, Mappe Andree. Andree schrieb an einer, wie er es nannte, »Ethnographie der Juden«, die wenig später veröffentlicht wurde: Andree. 233 Siehe den Brief de Grousilliers an Treitschke vom 27.1.1880, Nl. Treitschke, Kasten 6, Mappe Grousilliers. 234 Vgl. den Brief Erdmannsdörffers an Treitschke vom 19.1.1881, Nl. Treitschke, Kasten 5, Mappe Erdmannsdörffer.

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völlig unbekannt waren und entweder Unterstützung oder Kritik anmeldete, überrascht angesichts des so strittigen und damit mobilisierenden Themas kaum. Beides gilt – aufgrund von Treitschkes vorhandener Distanz zu diesen Kreisen – besonders für antisemitische und jüdische Briefeschreiber, zwei Personengruppen also, auf deren Sichtweise Treitschke wenig gab. Hingegen waren kritische Bemerkungen von protestantischer Seite äußerst selten. Eine langjährige Freundin von Treitschke, Gustava von Haselberg, zweifelte an dem Sinn der Agitation: Ändern könne man die Juden kaum, und aus der Welt zu schaffen seien sie auch nicht. Ihr seien die Reden von Stoecker und anderen immer »so abgeschmackt« vorgekommen und sie sei daher erschrocken, Treitschke in dieser Nachbarschaft zu sehen: »War es durchaus nöthig, in dies Wespennest zu stoßen?«235 Auch über die Form fand von Haselberg missbilligende Worte: »Etwas persönlich Verletzendes hatten Ihre Ausdrücke, das reizt immer am heftigsten.«236 Auch der Berliner Althistoriker Theodor Mommsen beschwerte sich bereits im Januar 1880 heftig über seinen Kollegen.237 Zudem scheint Treitschke mit seiner Schrift in seinem unmittelbaren Umfeld an der Universität keineswegs auf einhellige Zustimmung gestoßen zu sein. Angeblich hielten dort nur zwölf Kollegen zu ihm.238 Ohne diese Einschränkungen ignorieren zu wollen, ergibt sich dennoch ein aussagekräftiges Bild: Eine beträchtliche Anzahl protestantischer Gebildete unterstützte Treitschke und seine Sicht auf die »Judenfrage«; jüdische Gebildete äußerten fast ohne Ausnahme Kritik. Treitschke, der weit davon entfernt war, Argumente von Juden ernst zu nehmen, konnte sich zumindest größtenteils in seinem Handeln bestätigt fühlen; ärgern musste ihn nur, dass sich die Zustimmung vornehmlich brieflich und nicht öffentlich manifestierte. Den Unterstützern erschien es offensichtlich nicht opportun, an die Öffentlichkeit zu gehen, wie etwa Grimm zugab: »Ich habe ein Gefühl, als hätte ich ein böses Gewissen, dass ich Sie allein lasse und nicht wenigstens offen erkläre, wie sehr Sie mir, und Vielen, aus der Seele gesprochen. Aber ich glaube, dass für dergleichen noch lange nicht der richtige Moment gekommen ist, und, zweitens, ich würde in der That mein spezielles Gefühl in so subtilen Unterscheidungen vorbringen müssen, dass ich gar kein Publikum dafür fände.«239

Aus welchen Gründen auch immer es geschah, viele protestantische Gebildete versteckten sich in Briefen, wie Treitschke abfällig feststellte.240 235 Siehe den Brief von Haselbergs an Treitschke vom 8.1.1880, Nl. Treitschke, Kasten 6, Mappe von Haselberg. 236 Ebd. 237 Vgl. Kapitel 5. 238 Vgl. den Brief von Karl Wilhelm Nitzsch an Wilhelm Schrader, in: BAS, Bd. 1, S. 295. 239 Siehe den Brief Grimms an Treitschke vom 28.1.1880, Nl. Treitschke, Kasten 6, Mappe Grimm. 240 Siehe die Abschrift eines Briefes von Treitschke an von Weech vom 21.12.79, Nl. Treitschke, Kasten 17, Bl. 90.

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4.7 Treitschke gegen Juden: Auswirkungen einer gescheiterten Interaktion »Auf der andern Seite wollen die Juden nicht in uns aufgehen. Ich mache ihnen zum Vorwurfe, dass sie sich immer den Anschein geben als wollten sie es, heimlich aber fest entschlossen sind für sich zu bleiben.«241

Der erste Streit um Treitschke hatte unterschiedliche Auswirkungen, vornehmlich für die jüdischen Beteiligten, da die Konflikte unter gebildeten Protestanten zu diesem Zeitpunkt noch nicht offen ausgebrochen waren. Unter den Juden kam es zu erheblichen persönlichen Differenzen, die sich schnell zu Feindschaften steigern sollten. Insbesondere der Marburger Philosoph Hermann Cohen verscherzte sich sehr viele Sympathien. Seinem ehemaligen Lehrer am Breslauer Rabbinerseminar, Heinrich Graetz, hatte er eine »erschreckliche Perversität der Gefühlsurtheile« vorgeworfen und damit die Entfremdung weiter vertieft, die sich schon am Ende seiner Breslauer Zeit angebahnt hatte.242 Am deutlichsten grenzte sich Cohen in seiner Schrift allerdings von Lazarus ab. Auch das besaß eine Vorgeschichte, war doch der LazarusGefolgsmann und -Freund Heymann Steinthal ein weiterer Lehrer Cohens gewesen. Die beiden Völkerpsychologen hatten dem jungen Cohen zudem in ihrer »Zeitschrift für Völkerpsychologie und Sprachwissenschaft« Veröffentlichungsmöglichkeiten geboten und betrachteten ihn als ihren Mitarbeiter. Nachdem Cohens »Bekenntniß« erschienen war, brach Steinthal mit seinem ehemaligen Schüler.243 Die Fehde mit Lazarus hielt über Jahre an und kulminierte 1899 in Cohens harscher, wenn auch gut begründeter Abfertigung von Lazarus »Ethik des Judenthums«.244 Lazarus urteilte im Rückblick über Cohens Engagement nicht weniger deutlich: »Treitschke hatte seinen Unglücksartikel geschrieben. Ich war mit ›Was heißt national?‹ dagegen aufgetreten, da erschien eine Broschüre über die Judenfrage von diesem Menschen, worin er mir, seinem Mitarbeiter, mit einer unglaublichen Kritik in den Rücken fiel, mich angriff und Treitschke gegen mich verteidigte. Glücklicherweise erregte die Sache wenig Aufsehen.«245

241 Siehe den Brief Grimms an Mommsen vom 13.12.1880, Nl. Mommsen, Kasten 39, Mappe Grimm. Die Hervorhebung befindet sich im Original. 242 Das entsprechende Zitat findet sich in: Cohen, Ein Bekenntniß in der Judenfrage, BAS, Bd. 1, S. 351. 243 Vgl. Belke, Moritz Lazarus und Heymann Steinthal, Bd. 21, S. 220, Fußnote 2. 244 Vgl. Cohen, Das Problem der jüdischen Sittenlehre. 245 Belke, Moritz Lazarus und Heymann Steinthal, Bd. 21, S. 230.

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Der Konflikt zwischen den beiden Wissenschaftlern besaß zugleich mehrere Ebenen: Cohen war als ihr Schüler und junger hoffnungsvoller Philosoph der Völkerpsychologie entwachsen und hatte schon länger seinen eigenen Weg zu gehen begonnen. Der von ihm wesentlich mitbegründete Marburger Neukantianismus sollte in den folgenden Jahren die Völkerpsychologie an Bedeutung für das intellektuelle Leben weit hinter sich lassen. Insofern waren Lazarus und Cohen auch wissenschaftliche Gegenspieler geworden.246 Ein weiteres Motiv für Cohens Kritik lag in der herausgehobenen Stellung, die Lazarus im deutschen Judentum seiner Zeit einnahm. Auch um die intellektuelle Vorherrschaft unter den deutschen Juden stritten sich die beiden, und hier unterlag Cohen, da sein »Bekenntniß« alles andere als ein mehrheitsfähiger Ausdruck jener Gemütslage war, die viele deutsche Juden im Frühjahr 1880 teilten. Unter den jüdischen Gelehrten, die sich gegen Treitschke gewandt hatten, hatte ihr Engagement ebenfalls Folgen für ihre jeweilige wissenschaftliche Biographie. Cohen selber hat sein »Bekenntniß« aus dem Jahre 1880 immer als den Anfangspunkt seiner »Rückkehr« zum Judentum angesehen, die für viele andere erst viel später, im und um den Ersten Weltkrieg, sichtbar wurde.247 In der Biographie von Lazarus bildete die Konfrontation mit Treitschke einen Wendepunkt: Seit den 1860er Jahren hatte er zusammen mit Steinthal versucht, die Völkerpsychologie als Wissenschaft zu begründen und im Wissenschaftssystem zu etablieren, was aber nur teilweise gelang. Nachdem er sich schon früh für die Interessen der deutschen Juden eingesetzt hatte, nahm er vor allem im Reichsgründungsjahrzehnt mehr und mehr Funktionen im Organisationsgeflecht des deutschen Judentums wahr. Diese Funktionen hatten sich jedoch kaum auf seine wissenschaftliche Arbeit unmittelbar ausgewirkt, was erst der Auftritt Treitschkes änderte. In »Was ist national?« stellte Lazarus seine völkerpsychologische Betrachtungsweise und deren theoretische Erkenntnisse in den Dienst seines politischen Engagements für die deutschen Juden. Damit war zugleich seine Vorgehensweise bis zu seinem Lebensende umschrieben. Eine grundlegende Folge aus der Treitschke-Kontroverse war in diesem Zusammenhang das erstarkte Interesse an der ethischen Dimension der jüdischen Religion und Tradition. Dass gebildete Protestanten, wie damals unzweifelhaft bewiesen worden war, für antisemitische Ansichten anfällig waren, warf die Frage auf, woher die Zweifel an Juden und Judentum in diesem Umfeld stammten. Augenscheinlich gab es eine massive Skepsis gegenüber deren sittlicher Eignung. Keineswegs war man auf jüdischer Seite bereit, die Möglichkeit zu akzeptieren, dass gebildete Protestanten Juden trotz oder gar aufgrund ihrer Teilhabe an der Bildungskultur ablehnen könnten. Im Gegen246 Vgl. Sieg. 247 Vgl. Rosenzweig, S. XXI.

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teil, man glaubte weiter an die Aufklärung per Bildungskultur: Wenn man Protestanten von der sittlichen, bürgerlichen, ja universellen Bedeutung des Judentums überzeugen könnte, sei man ein gutes Stück weiter auf dem Weg zur vollen Akzeptanz. Lazarus’ folgerte aus dieser Lage, dass die Grundlagen der jüdischen Sittenlehre erforscht und dargestellt werden müssen. Es sollte zudem jeden Juden »mit dem freudigen Stolz« erfüllen, »dass die Sittenlehre, auf welche sein eigenes Bekenntniß ihn verpflichtet, schlechterdings auf derjenigen Höhe steht, welche irgend ein Volk, irgend eine Religion, irgend eine Literatur erreicht hat«.248 Der »Fall Graetz« blieb ebenfalls in den folgenden Jahren virulent. Die Desavouierung seiner Position, die von Treitschke angestoßen, aber von vielen gebildeten Juden nachvollzogen worden war, wirkte sich weiter aus, so dass auch Graetz’ eigenes Schaffen in der Folgezeit unter diesem Verdikt stand. Einige Zeit nach dem Streit veröffentlichte Graetz dann anonym eine bemerkenswerte Schrift, in der er sich bemühte, seinen Standpunkt zu erklären und seine Sichtweise auf das Judentum darzulegen: »Briefwechsel einer englischen Dame über Judenthum und Semitismus« von 1883.249 In einem fingierten Briefwechsel, den eine englische Dame jüdischer Herkunft mit einem jüdischen Gelehrten führte, wollte Graetz die gebildeten Juden direkt ansprechen, also jene Gruppe, aus der ihn so viele während der Auseinandersetzung mit Treitschke angegriffen hatten. Das Ziel der Schrift war es zu begründen, warum man das Judentum durch Taufe nicht verlassen sollte. Graetz baute einen Gegensatz auf zwischen dem überkommenen Glauben der Väter und der ungeheuer beweglichen und attraktiven Gegenwartskultur, auf die Graetz mit einer gehörigen Portion Skepsis blickte. Man dürfe sich dieser nichtjüdischen Kultur nicht ohne Reservationen anpassen, man müsse vielmehr dem Judentum treu bleiben. Das Judentum verkörpere jene Sittlichkeit, die den Gebildeten durch ihre Akkulturation abhanden zu kommen drohe. An vielen Stellen wurde dabei deutlich, dass Graetz einerseits Kritik an der Integration der Juden in die bürgerliche Bildungskultur übte, gleichzeitig diese aber befür248 Lazarus, Einiges aus den Motiven, S. 2. Das Werk erschien schließlich mit einiger Verzögerung: Lazarus, Winter und Wünsche. Wie wichtig dieses Thema war, verdeutlichten nicht nur die Anstrengungen von Lazarus. Ab 1883 beriet eine Gruppe von 15 jüdischen Honoratioren aus Berlin und Wien über das Problem der jüdischen Sittenlehre und setzte eine Kommission ein, welche die ethischen Dimensionen des Judentums zusammenfassen sollte. Deren »Grundsätze der jüdischen Sittenlehre« wurde zwischen 1885 bis 1888 von 350 Rabbinern und Gelehrten sowie 270 jüdischen Juristen aus Deutschland und Österreich unterschrieben, womit sie als bindend galten. Neben einigen Grundsätzen, die mit der spezifischen Situation der deutschen Juden zu tun hatten (Wucherverbot, Vaterlandsliebe), fanden sich hier vor allem bürgerliche Normvorstellungen, die dann in die Tradition des Judentums zurückgelesen wurden. Vgl. das Material zur Entstehung der Grundsätze der jüdischen Sittenlehre, Nl. Lazarus, JNUL, Arc. Ms. Var. 298, Nr. 108 sowie das Manuskript »Moritz Lazarus und die »Grundsätze der jüdischen Sittenlehre« von Arnold Tänzer, ebd., Nr. 13. 249 Vgl. Graetz, Briefwechsel.

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wortete, ja sogar meinte, die Juden seien für sie besonders prädestiniert. Schließlich besaß auch bei ihm das Judentum eine sittliche Mission in der Bildungskultur. Die Auseinandersetzungen um die Person Graetz hatten auch langfristige organisatorische Konsequenzen. Als 1885 der Deutsch-Israelitische Gemeindebund beschloss, eine Historische Kommission einzuberufen, wurden die Meinungsunterschiede über seine Person schnell wieder offenkundig. Die Historische Kommission sollte einerseits historische Quellen zur jüdischen Geschichte sichern und edieren, andererseits diese Geschichte als Bestandteil der deutschen Geschichte aufarbeiten.250 Da ein wichtiger Bestandteil des Projektes die Zusammenarbeit von jüdischen und protestantischen Wissenschaftlern sein sollte, glaubten einige der federführenden Juden, Graetz auf keinen Fall beteiligen zu können. Es war vor allem der Kommissionsvorsitzende Harry Breßlau, der eine Beteiligung des Breslauer Historikers kategorisch ablehnte: »[…] das große Werk von Grätz erfreut sich in den Kreisen auch der unbefangensten christlichen Historiker leider nicht der Anerkennung, die ihm unter den Juden vielfach noch gezollt wird. In seiner Beurtheilung kommen Männer wie v. Treitschke und Theodor Mommsen völlig überein […]. Und ich für meine Person bin leider nicht im Stande gewesen, diesen Ansichten und Äußerungen Treitschkes und Mommsens mit gutem Gewissen widersprechen zu können, sondern habe mich darauf beschränken müssen, die Verantwortlichkeit der Judenheit für diese Geschichtsschreibung abzulehnen.«251

Breßlau setzte sich durch; Graetz wurde nicht beteiligt und reagierte entsprechend verbittert.252 Die »Historische Commission für die Geschichte der Juden in Deutschland«, wie sie ab 1886 offiziell hieß, litt während ihrer gesamten Existenz unter den Auswirkungen dieser Personalentscheidung. Sie war chronisch unterfinanziert, da die jüdischen Gemeinden, die dem Unterfangen u. a. wegen Graetz’ Ausschluss von Beginn an misstrauisch gegenüber gestanden hatten, nicht dazu bewegt werden konnten, ausreichende Mittel zur Verfügung zu stellen. Breßlau sah sich daher 1892, also nach nur sieben Jahren, gezwungen, die Arbeit der Kommission einzustellen. In der Phase nach dem Streit wurde ein sich langsam herausbildender Strategiewandel im Verhältnis der deutschen Juden zum Antisemitismus sichtbar. In den ersten Jahren hatte man noch beschwichtigend reagiert. Dabei herrschte die Überzeugung vor, dass es sich nur um eine vorübergehende Verschlechterung handele, die keine langfristigen Folgen haben würde. Nachdem Treitschkes Auftreten jedoch mit aller Eindringlichkeit auf die Bedeutung an250 Vgl. das Begründungsschreiben des DIGB, CAHJP M1/24, Bl. 3. 251 Siehe den Brief Breßlaus an den DIGB vom 30.11.1885, CAHJP M1/24, Bl. 28. 252 Siehe den Brief Graetz’ an Kristeller vom 10.10.1885, CAHJP M1/23, Bl. 118.

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tisemitischer Überzeugungen unter gebildeten Bürgern hingewiesen hatte, trat diese Sichtweise in Konkurrenz zu einer anderen. Am 1. Dezember 1880 präsentierte Moritz Lazarus einer von ihm eingeladenen Versammlung aus mehreren Hundert Berliner Juden erstmalig die Idee einer organisierten Abwehr der Angriffe. Seit einigen Monaten habe man, erklärte er, im Stillen und im kleinen Kreis Möglichkeiten erörtert, wie man auf die antisemitischen Ausbrüche reagieren solle. Nun habe sich die Lage weiter verschärft. Das könne nicht so weiter gehen; denn: »Für seinen Beitrag an Feindschaft weiß jeder unserer Gegner eine Adresse, wir haben keine.«253 Auch mit der alten Sichtweise setzte sich der Universitätslehrer auseinander. Es sei zwar richtig, dass die antisemitische Bewegung zahlenmäßig sehr klein sei; aber die »Zahl derer, welche uns offen und energisch vertheidigen« sei noch kleiner.254 Auch möge es zutreffen, dass die Bewegung keine wirkliche Gefahr für die rechtliche Stellung der Juden mit sich bringe. Doch würden die Schäden auf anderem Gebiete dafür umso sichtbarer: »[…] das Schlimmste für uns deutsche Juden, vollends für diejenigen welche mitarbeiten an der deutschen Cultur ist eines: unser Stolz ist gebrochen. Wie waren wir stolz auf diesen deutschen Nationalgeist!«255 Selbst wenn man glauben würde, dass die antisemitische Bewegung nicht von Dauer sei, so müsse man zur Kenntnis nehmen, dass sie jetzt schade und Menschen verletze. Insgesamt sah Lazarus die Zeit für koordinierte Aktionen mit Rückhalt der jüdischen Gemeinschaft gekommen. Die Versammlung folgte Lazarus’ Analyse und gründete das »Jüdische Comité vom 1. Dezember 1880«. Nach Lazarus’ Vorstellungen sollte es sich im Wesentlichen drei Aufgaben widmen: der Abwehr der Agitation, der Hebung des Judentums in den Augen von Nichtjuden wie von Juden und die sittliche Verbesserung der Juden. Das Komitee setzte sich aus allem zusammen, was im jüdischen Berlin Rang und Namen hatte: Neben dem Vorsitzenden Lazarus waren u. a. Berthold Auerbach, Julius Bleichröder, Harry Breßlau, Samuel Kristeller, Ludwig Löwe, Salomon Neumann, Heymann Steinthal und Wolf Straßmann beteiligt. In den folgenden Monaten entwickelte das Komitee in der Tat eine rege Tätigkeit. Die meisten Aktivitäten richteten sich auf Auswahl, Druck und Verbreitung geeigneter Schriften, die unentgeltlich vornehmlich an »Christen gebildeter Stände, wie Bürgermeister, Richter, Pastoren, Gymnasiallehrer« verteilt werden sollten.256 Bereits im Laufe des Jahres 1881 ließ das Engagement des Komitees jedoch langsam nach – sicher auch deshalb, weil man viele potentielle Ansprechpartner bereits mit Material versorgt hatte. Da die Arbeit des Komitees von Beginn an vor allem auf Aufklärung durch die 253 Lazarus, Unser Standpunkt, S. 119. 254 Ebd., S. 120. 255 Ebd., S. 121. 256 Siehe das Schreiben an die Vertrauensmänner des DIGB vom 17.2.1880, Stiftung »Neue Synagoge Berlin – Centrum Judaicum«, CJA, 1, 75 C Ko 1, 12505–12507, Bl. 272.

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Verbreitung von Schriften ausgerichtet war, kam man hier bald an eine Grenze; nach einem neuen Aktionsrahmen wurde nicht gesucht. Dennoch bleibt festzuhalten, dass das »Jüdische Comité« die erste Organisation der deutschen Juden bildete, in welcher der Abwehrkampf gegen den Antisemitismus eine organisatorische Struktur erhielt, die zwar nicht von Dauer war, an die sich aber Nachfolger anschlossen.257 Damit war zugleich zum ersten Mal der quietistische Weg in diesen Auseinandersetzungen verlassen worden und für eine aktive – damals hätte man geschrieben, ehrbare – Abwehrarbeit votiert worden. Mit dem Angriff Treitschkes war das Zusammenleben von gebildeten Juden und Protestanten unter postemanzipatorischen Bedingungen in Frage gestellt. Gebildete Juden zogen daraus den Schluss, dass verstärkte Bemühungen notwendig seien, um eine gelingende Interaktion in Zukunft sicherzustellen. Als unmittelbare Reaktion auf Treitschke veröffentlichte der Deutsch-Israelitische Gemeindebund einen Aufruf »An unsere Glaubensgenossen«, der als Flugblatt starken Absatz fand und in jüdischen Zeitungen abgedruckt wurde.258 »Wie hat sich der Jude der antisemitischen Bewegung gegenüber zu verhalten?« lautete die Frage des Aufrufes. Die entsprechenden Empfehlungen waren vielfältig: Man solle die Heilige Schrift als Sittenlehre aller gebildeten Völker beachten und ihre Grundsätze einhalten. Die jüdischen Einrichtungen, wie Synagogen und Schulen, gehörten unterstützt und besucht. Man solle die wissenschaftliche Erforschung des Judentums befördern. Gleichzeitig solle man sich aber auch als treue Deutsche erweisen, als »opferungswillige Söhne unserer Vaterstadt, unserer Heimath«.259 In Handel und Wandel sollten die Gebote der Ehrlichkeit und Gewissenhaftigkeit strengstens eingehalten werden. Juden, die das nicht täten, sollten gemieden und geächtet werden. Gerade die gebildeten Juden sollten nicht höhnisch oder spöttisch über Christen und das Christentum sprechen. Überhaupt enthielt der Aufruf viele Hinweise, wie der direkte Umgang mit Nichtjuden gestaltet werden sollte. Man solle Antisemiten meiden, aber den Kontakt mit anderen suchen, ohne sich allerdings aufzudrängen. Man solle nicht allzu empfindlich auf Anfeindungen reagieren und nur dort, wo es unbedingt notwendig sei, mit Ernst und Entschiedenheit widersprechen. »Hütten wir uns aber vor Zudringlichkeiten auch in geselliger Beziehung. Man soll uns aufsuchen.«260 Der Aufruf gab schließlich der Hoffnung Ausdruck, dass die Angriffe zumindest ein positiven Effekt haben könnten: die »Selbstveredelung« der Juden voranzutreiben.261 An 257 Zur Geschichte der jüdischen Abwehrorganisationen vgl. Borut und Schorsch, Jewish Reactions. 258 Vgl. das Exemplar des Aufrufes, CAHJP M1/8, Bd. 1 (1871–1886), Bl. 251 ff. 259 Ebd., Bl. 253. 260 Ebd., Bl. 252. 261 Ebd., Bl. 254.

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seinem Ende zitierte man charakteristischerweise Wilhelm von Humboldt und veranschaulichte damit, wo die Ressourcen für die Selbstveredelung auch jetzt noch lagen: in der Bildungskultur. Als Treitschke die Juden angriff und diese sich verteidigten, war nicht nur die Rolle der jüdischen Identität in der Bildungskultur problematisch geworden, sondern auch die Interaktion zwischen gebildeten Juden und Protestanten. Sich gemeinsam zu streiten, bedeutet nicht nur Konflikte miteinander auszutragen; es setzte auch voraus, ein gehöriges Maß an kultureller Übereinstimmung zu teilen. Fast zehn Jahre nach der Reichseinigung konnten sich Juden mit Protestanten streiten. Sie hatten die sozialen und kulturellen Fähigkeiten entwickelt, die für so ein kompliziertes soziales Verhalten wie Streiten benötigt werden. Ihre Identifikation mit der deutschen Gesellschaft und Kultur war zudem groß genug geworden, um ihre eigene Rolle darin verteidigen zu wollen. Ihre Abwehrarbeit signalisierte viel mehr: Ihre jüdische Identität kombinierte längst deutsche und jüdische Aspekte. Das galt gerade in der bürgerlichen Bildungskultur, sahen viele Juden doch in ihr das verbindende »Und«. In ihr konnten sie deutsch sein, weil sie gebildet waren, und sie konnten darin sogleich jüdisch bleiben. Dennoch bedeutet ein Streit, dass jenseits aller Übereinstimmung Konflikte sichtbar geworden waren. Treitschke bestritt den Juden gerade diese »Mischidentität«. Als Jude an der deutschen, bürgerlichen Bildungskultur teilhaben zu können, das sollte nicht sein, so die Kerninformation des Streites: ›Der berühmte Historiker Heinrich von Treitschke behauptete öffentlich und im Namen der gebildeten Bürger, dass die Juden ihr Unglück seien.‹ Die Interaktionssstruktur des Streites legte die Kommunikationsstruktur zwischen den Streitenden – Juden und Treitschke – offen. Der Historiker war im Vorteil, weil er angriff. Er konnte klar sagen, was er meinte. Da er provozierte, drang sein Standpunkt leicht zu den potentiell Interessierten durch. Das Skandalöse von »Unsere Aussichten« verschaffte ihm Leser. Diesen Vorteil musste der Historiker nutzen und er tat das auch im weiteren Verlauf der Auseinandersetzung. Er verfolgte die Debatte genau, las die Antwortschriften, notierte sich deren Argumente und archivierte sie schließlich.262 Wie, wann und wo er auf sie reagierte, wog er genau ab. Interaktion, auch streitende, kann ein Grundmaß an Anerkennung der Streitenden untereinander mit sich bringen – ein Zugeständnis, das Treitschke so weit wie irgend möglich vermeiden wollte. Die Juden, die ihm antworteten, machten es ihm nicht leicht. Vor allem das »würdig und sachlich gehaltene Sendschreiben« seines Kollegen Harry Breßlau nahm er auch deshalb »mit aufrichtigem Bedauern« zur Kenntnis, 262 In Treitschkes Nachlass findet sich nicht nur eine Sammlung von Schriften aus der Auseinandersetzung. Diese sind auch mit Notizen aus Treitschkes Feder versehen, etwa im Fall der Schriften von Cassel, Lazarus und Breßlau. Vgl. Nl. Treitschke, Kasten VIIB, Mappe »Zur Judenfrage«, Bl. 122.

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weil es so schwer abzuwehren war.263 An seiner Replik darauf feilte Treitschke länger herum: Ob von »tiefem«, »aufrichtigem« oder nur »Bedauern« die Rede sein sollte, wollte genau bedacht sein.264 Interessant für seinen Umgang mit Gegnern war zudem sein Verhalten gegenüber Hermann Cohen. Dieser hatte zweimal vergeblich versucht, mit Treitschke per Brief eine gemeinsame Verständigungsbasis zu finden. Dabei forderte Cohen Treitschke jedes Mal auf, ihn als Gleichgesinnten anzuerkennen und seine Replik in den »Preußischen Jahrbüchern« zu veröffentlichen. Nach dem ersten Brief hatte Treitschke Cohen – unter Bezugnahme auf eine Nichtigkeit aus Cohens Text – seinen Lesern als einen »jüdische[n] Collegen an einer kleinen Universität« vorgestellt und hinzugefügt: »ein wohlmeinender Mann«.265 Später lobte er Cohen etwas ausführlicher, dafür aber an abgelegener Stelle in einer Notiz der »Jahrbücher«. Letztlich hatte Treitschke dem Marburger Philosophen die Publikation verweigert und ihm auf diese Weise »die Hoffnung zur fernern Mitarbeit« auf gleichberechtigter Basis genommen.266 Selbst ein Grundmaß an Anerkennung unter Streitenden war mit Treitschke undenkbar. Nicht nur aus diesem Grund, sondern auch strukturell hatten es die Juden, die sich gegen seine infamen Anwürfe verteidigen mussten, wesentlich schwerer. Sie hatten auf Angriffe zu reagieren, d. h. sie mussten sich zunächst einmal an die Vorgaben des Gegners halten. Dabei läuft man stets Gefahr, diesem in einzelnen Punkten Recht zu geben. Argumentationsmuster wie »In dieser Hinsicht müsse man ja zugestehen, dass …« schleichen sich leicht in die Streitkommunikation von Angegriffenen. Wie bereits erwähnt, stellte der Fall Graetz in der Auseinandersetzung ein solches Beispiel dar: Seine Verteidigung erschien als zu risikoreich, und daher stimmte man Treitschke an diesem Punkt zu. Besonders frappant gestalteten sich ferner die Zugeständnisse, die Hermann Cohen bereit war zu machen, um eine Ebene der Verständigung mit seinem Kollegen zu finden.267 Aber auch Breßlau hatte in seinem Sendschreiben die Existenz einer »Judenfrage« anerkannt.268 Solches Entgegenkommen sind den jüdischen Gegnern Treitschkes und dem Abwehrkampf der deutschen Juden insgesamt nachträglich immer wieder angekreidet worden – nicht zuletzt in der Historiographie.269 Auch wenn es sicherlich gewichtige Unterschiede im Grad der Anbiederung an den Gegner gegeben hat, kann nicht 263 Treitschke, Noch einige Bemerkungen zur Judenfrage, BAS, Bd. 1, S. 279. 264 Siehe den Textentwurf in: Nl. Treitschke, Kasten VIIB, Mappe »Zur Judenfrage«, Bl. 124. 265 Treitschke, Noch einige Bemerkungen zur Judenfrage, BAS, Bd. 1, S. 280. 266 Holzhey, S. 202. 267 Besonders lauten Widerspruch handelte sich Cohen mit der verletzenden Feststellung ein: »[...] wir wünschen Alle, wir hätten schlechtweg das deutsche, das germanische Aussehen [...].« Cohen, Ein Bekenntniß in der Judenfrage, BAS, Bd. 1, S. 350. 268 Das wurde von orthodoxer Seite kritisch angemerkt. Vgl. Meyer, Zurückweisung, S. 5. 269 Mit Bezug auf den Streit geschah das besonders unfair bei: Geismann.

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außer Acht gelassen werden, dass solche Formen der Apologie eine fast automatische Folge eines Angriffes auf die eigene Identität sind. Das Abwehrproblem der Juden ging aber darüber hinaus: Mit wem wollten sie sich verständigen? Zu wem sprachen sie? Es dämmerte den Juden bald – und schließlich auch Cohen –, dass es sinnlos war, Treitschke überzeugen zu wollen. Treitschke hatte schon in anderen Konflikten ein erstaunliches Maß an Unbelehrbarkeit an den Tag gelegt und war sicherlich nicht bereit, diese Unart den Juden zuliebe abzulegen. Ein äußerst bedeutsames Ziel der Verteidigung lag gleichwohl darin, sich untereinander zu verständigen. Ein Großteil der Bemühungen richtete sich nach innen, auf den Zusammenhalt der Juden in Zeiten der Kränkung. Bei dieser Aufgabe trafen unterschiedliche Konzepte aufeinander, woraus neue Konflikte entstanden. Insgesamt kann man jedoch feststellen, dass die Juden bei dieser »inneren« Aufgabe die größten Erfolge erzielten. Allein die Tatsache, dass sich viele prominente Juden gegen Treitschke erhoben und zum Fürsprecher der Juden aufschwangen, durfte als Erfolg gefeiert werden.270 Indem diese Protagonisten der Integration Bekenntnisse zu einer modernen jüdischen Identität ablegten, schufen sie die ersten grundlegenden Antworten auf die mit der Emanzipation und Integration veränderten Bedingungen. Ihre Texte waren keine Dokumente der Apologie und Anpassung, sondern selbstbewusste Anwendungen der bürgerlichen Bildungskultur für die neuen Bedürfnisse der deutschen Juden. Dass ihre Bekenntnisse jeweils unterschiedlich ausfielen und von einer weitgehenden Verschmelzung mit den Nichtjuden bis zu einer tiefen Skepsis gegenüber der Akkulturation reichten, spiegelte intellektuelle Grundtendenzen unter den deutschen Juden wider. Die weiteren Auseinandersetzungen während des Kaiserreiches und danach zeigten, dass viele der Ausgangspunkte für diese Texte gegen Treitschke aktuell blieben. Dieser Erfolg konnte jedoch nicht wirklich ausgekostet werden, fehlte doch die Befriedigung, an der zweiten Front gesiegt zu haben. Es musste ein zentrales Ziel der jüdischen Verteidiger sein, möglichst viele Nichtjuden und besonders gebildete Protestanten von der Unrichtigkeit der Angriffe und – was nicht das gleiche ist – der Legitimität des eigenen jüdischen Standpunktes zu überzeugen. Mit dem Ziel, Treitschke unter den gebildeten Bürgern zu isolieren, stießen die Juden freilich an ihre Grenzen. Sie drangen damit einfach nicht durch. Rechtmäßigerweise hätte es ganz einfach sein sollen; da konnte man Lazarus schon zustimmen: »Im Grunde genommen, sollten wir schweigen; sollten wir schweigen dürfen und die Heilung erwarten. Die Frage der Humanität ist in diesem Falle, da wir das Object derselben sind, da wir die Humanität zu erwarten und zu fordern haben, nicht die unsrige, sondern die der ganzen deutschen Nation.«271 270 Vgl. Meyer, Great Debate, S. 166. 271 Lazarus, Was ist national?, BAS, Bd. 1, S. 40.

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Aber die Lage war nicht dementsprechend, im Gegenteil: Es blieb zu beklagen, dass die gebildeten Protestanten sich nicht im Namen der Humanität, ja, der Bildungskultur gegen Treitschke erhoben. Es ist immerhin denkbar, dass der Streit einen ganz anderen Verlauf genommen hätte und die Juden hätten schweigen können, wenn »Unsere Aussichten« von protestantischer Seite sofort und beherzt zurückgewiesen worden wäre. So aber antworteten sie und handelte sich damit zusätzliche Probleme ein, denn nun konnte Treitschke erneut zum Schlag ausholen. Man habe – so Treitschke im Rückblick auf die Reaktionen – das »ganze Füllhorn deutscher Entrüstungssuperlative« über ihn ausgeschüttet.272 Darin liege, lautete die entscheidende Wendung des Historikers, eine Bestätigung seiner Position: »Wenn gleichwohl meine einfachen Worte einen Sturm von erbitterten Erklärungen heraufbeschworen haben, so wird damit nur bewiesen, dass die deutsche Judenfrage, deren Dasein man abzuleugnen sucht, in der That vorhanden ist.«273 Das Dilemma der deutschen Juden wurde in solchen Passagen deutlich. Wenn sie auf antisemitische Invektiven wie die von Treitschke antworteten und ihre Identität als Deutsche und Juden verteidigten, konnte das von der anderen Weise schnöde abgewiesen werden, mit dem Hinweis: Die bloße Tatsache der Replik dokumentiere, wie jüdisch und damit wie undeutsch, wie ungebildet die Juden noch seien. Erst durch den Aufschrei der Juden behauptete Treitschke, die sonst »stille soziale Macht des fest unter sich zusammenhaltenden Judenthums« umfassend erkannt zu haben.274 Selbst ihre gebildetsten Vertreter erwiesen sich als Juden: Breßlaus Sendschreiben wertete er als »Beweis jener übertriebenen Empfindlichkeit« unter den Juden.275 Auch wenn einige von Treitschkes Gegnern in diesem Kampf zu den von ihm immer wieder gerühmten, redlichen »Ausnahmejuden« gehören sollten – er war kaum bereit, ihnen die Position als legitime Streitpartner einzuräumen. Sie sollten dem Leser möglichst als weniger vorgestellt werden: als Juden, die als solche keine qualifizierten Teilnehmer eines öffentlichen Streites sein konnten. Und als sie sich ihm doch als Opponenten aufdrängten, bestätigten sie damit nur die Existenz der »Judenfrage« – Treitschke hatte sich schon lange in die Zirkularität einer vorurteilsbehafteten Weltanschauung verabschiedet.276 Wesentlich weniger eindeutig war das sicherlich bei anderen gebildeten Protestanten. Es gab durchaus Antisemiten unter ihnen, die sich auch nicht scheuten, ihre Unterstützung für Treitschke öffentlich zu machen. Andere signalisierten lieber privat Zustimmung, hielten sich aber öffentlich zurück. Nur wenige griffen Treitschke derart direkt und unmissverständlich an wie der 272 273 274 275 276

Treitschke, Herr Graetz und sein Judenthum, BAS, Bd. 1, S. 115. Ebd. Treitschke, Noch einige Bemerkungen zur Judenfrage, BAS, Bd. 1, S. 285. Ebd., S. 280. Vgl. auch Reemtsma.

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Frankfurter Gymnasialprofessor Karl Fischer. Die liberal-freisinnigen Zeitungen vermieden es lange, Treitschke überhaupt zu kommentieren, ganz zu schweigen von einer öffentlichen Parteinahme zugunsten der Juden. Es fand sich unter den gebildeten Bürgern kein Protestant, der öffentlich zu bekennen bereit war, dass Treitschkes Angriff nicht nur infam und skandalös war, sondern auch illegitim, weil die Juden ein Anrecht auf ihre eigene Identität besaßen.277 Insofern konnten sich die Juden mit ihrem zweiten Ziel, gebildete Protestanten gegen Treitschke und für sich zu mobilisieren, nicht durchsetzen. Der Angriff, den Treitschke mit »Unsere Aussichten« im November 1879 lanciert hatte, endete mit einem Sieg nach Punkten für den Historiker.

277 Hierin liegt keinesfalls eine Ex-Post-Perspektive, die heutige, allerdings immer noch umstrittene Maßstäbe und Erkenntnisse multikultureller Gesellschaften auf das 19. Jahrhundert projiziert. Unter den Zeitgenossen erwarteten Juden von Protestanten nicht nur Hilfe gegen den Antisemitismus, sondern auch Schutz gegen die Angriffe auf ihre Identität. Dass gebildete Protestanten ihnen das verweigerten, lag in letzter Konsequenz an der speziellen historischen Konstellation, in der sich die Beziehungen von gebildeten Juden und Protestanten ausformten, mithin an der bürgerlichen Bildungskultur.

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5. Protestanten gegen Protestanten: Der zweite Streit über Antisemitismus in der bürgerlichen Bildungskultur

»Die fremden Worte und die fremden Menschen werden in Deutschland nicht ausgestoßen, sondern angepaßt, angepaßt mit Schimpf und Ernst, mit freundlichem Zureden und mit Knuffen [...].«1

Ein ganzes Jahr später, im Herbst 1880, gewann die »Judenfrage« unter den gebildeten Bürgern wieder an Brisanz. Ein neuer Streit brach aus, der sich auch diesmal auf Treitschke bezog. Zu seiner eigenen Überraschung stand Treitschke plötzlich ein ebenbürtiger Gegner gegenüber: sein Kollege und langjähriger Weggefährte, der ebenfalls weithin bekannte Berliner Althistoriker Theodor Mommsen. Innerhalb weniger Wochen spitzte sich der Streit enorm zu und führte zum völligen Bruch zwischen den beiden Historikern. Gleichzeitig war er weder zu Beginn noch während seines Verlaufes ausschließlich eine Auseinandersetzung zweier Personen. Im Gegensatz zu dem Streit, der vor Jahresfrist zwischen Treitschke und den Juden entbrannt war, lässt sich dieser Streit nicht vornehmlich als ein mediales Phänomen begreifen, bei dem Flugschriften und Zeitungsartikel ausgetauscht wurden. Dazu war er zu sehr eingebunden in ein ganzes Bündel von Konflikten, die an konkreten Orten in der Reichshauptstadt Berlin aufflammten. Daran beteiligten sich allerdings fast ausschließlich gebildete Protestanten; Juden standen dieser Kontroverse weitgehend fern. Diesmal berichteten die Tageszeitungen aller Couleur eifrig über den Konflikt – in einem Ausmaße, wie es ein Jahr zuvor undenkbar gewesen war. Ein Vergleich mit dem vorherigen Streit ergibt daher, dass es nur oberflächlich um den gleichen Gegenstand ging: Treitschkes Haltung zur »Judenfrage«. Selbst Protestanten, die mit Treitschkes Sicht nicht einverstanden gewesen waren, hatten sich vorher nicht – von wenigen Ausnahmefällen abgesehen – geäußert, sondern den öffentlichen Protest den Juden überlassen. Ein Jahr später äußerte sich auch unter ihnen offen Unmut über den Historiker, was dem gesamten Konfliktumfeld geschuldet war. Im Herbst 1 Mauthner, S. 220f.

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1879 hatte die konfliktverursachende Streitinformation gelautet: ›Der berühmte Historiker Heinrich von Treitschke behauptete öffentlich und im Namen der gebildeten Bürger, dass die Juden ihr Unglück seien.‹ Für den Herbst 1880 muss man sie neu formulieren: ›Treitschke ist (direkt durch sein Einwirken und indirekt durch sein Vorbild) dafür verantwortlich, dass sich antisemitische Haltungen unter gebildeten Bürgern in der Stadt gefährlich ausbreiten.‹ Diese zweite Streitinformation macht offenkundig, warum sich viele gebildete Bürger, unter ihnen vor allem liberal gesinnte Protestanten, zu einem Eingreifen durchrangen. Treitschkes immer populärer werdender Antisemitismus drohte die Ausrichtung der Bildungskultur auf den Liberalismus zu schwächen und zugleich das Abbröckeln der liberalen Vorherrschaft insgesamt zu beschleunigen. Der zweite Streit mobilisierte damit andere Personen, weil die »Judenfrage« nunmehr die Zukunft des Liberalismus tangierte.

5.1 Eskalation I: Die »Judenfrage« im Alltag der gebildeten Bürger Berlins Spätestens im Februar 1880 war in Treitschkes Alltag wieder Ruhe eingekehrt. Die Streitschriften ebbten ab, er hatte seine Repliken veröffentlicht und nun trafen kaum noch Briefe für oder gegen seine Position ein. Auch für seine jüdischen Gegner kehrte wieder Normalität ein. Alle versuchten sich zu beruhigen. So schrieb Bamberger an Henriette Belmont, dass der Antisemitismus »bis jetzt« bloß eine »Frage der Oberfläche« geblieben sei: »und die letzten Ausbrüche haben eben nur an der dünnen Oberfläche etwas gerissen, das sich allmählich wieder flicken lassen wird«.2 Weitere Beruhigung fanden viele jüdische Zeitgenossen zudem in einer anderen Überlegung: Die Auseinandersetzungen hätten auch positive Folgen gehabt. Wichtige jüdische Gebildete hatten sich für ihr Judentum eingesetzt und es verteidigt. Dennoch blieben ein ungutes Gefühl und die Gewissheit, dass man selbst nach der Emanzipation und unter gebildeten Bürgern nicht vor Antisemitismus sicher war. Infolgedessen waren viele Juden nicht bereit, vollkommen zur Tagesordnung überzugehen. Als der Deutsch-Israelitische Gemeindebund im April 1880 zum dritten ordentlichen Gemeindetag nach Leipzig einlud, setzte man einen Bericht über die antisemitische Bewegung in Deutschland auf die Tagesordnung.3 Zwar griff auch die jüdische Presse wieder andere Themen auf, beobachtete jedoch weiter wachsam jede Regung von Antisemitismus. Viele hatten die 2 Siehe den Brief Bambergers an Belmont vom 10.1.1880, Nl. Bamberger, Mappe 3, Bl. 96. 3 Dieser wurde wieder abgedruckt in: Lehmann.

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Befürchtung, der Streit mit Treitschke könnte sich auf das alltägliche Zusammenleben gerade unter gebildeten Bürgern ausgewirkt haben. Als die »Allgemeine Zeitung des Judenthums« von zwei Vorfällen an Berliner Schulen erfuhr, berichtete sie sofort: Beim Besuch der Kaiserin in einem Charlottenburger Gymnasium war ein nichtjüdischer Schüler von seinem Lehrer nicht zu einem Festvortrag zugelassen worden, weil er zu jüdisch aussehe. An einer höheren Töchterschule hatte die Klassenlehrerin eine nichtjüdische Schülerin vor dem Umgang mit einer Bankierstochter gewarnt, da Freundschaften mit Juden nicht förderlich seien.4 Abgesehen davon, dass solche Vorkommnisse nun mit einer erhöhten Wachsamkeit registriert wurden, hatte sich die Lage aber beruhigt, was auch bis in den Sommer so bleiben sollte. Erst ab August 1880 mehrten sich die Anzeichen, die Ruhe könnte trügerisch sein. Dass einige Zeitungen bereits verkündet hatten, die Judenhetze sei tot, hielt der Berliner Korrespondent der »Allgemeinen Zeitung des Judenthums« für voreilig: In den Straßen von Berlin, begründete der Korrespondent seine Befürchtung, sehe man das Publikum, wie es die gemeinsten antisemitischen Witzblätter mit Wonne verschlinge. Schimpfwörter wie »Judenjunge«, »Schmausel« oder »Itzig« ständen hoch im Kurs. An den Wänden könne man entsprechende Plakate lesen.5 In der Tat nahmen in Berlin solche Tendenzen seit dem Spätsommer und dann verstärkt im Herbst wieder zu. Vom 2. bis zum 4. November fanden Ergänzungswahlen zur Berliner Stadtverordnetenversammlung statt. Den sonst so ruhigen Wahlkampf prägten plötzlich antisemitische Untertöne: Auf einer Versammlung der »Christlich-Sozialen Partei« waren am 29. Oktober die Tumulte so stark gewesen, dass die Polizei die Veranstaltung beenden musste. Außerdem musste sie in der Stadt große, rote Plakate mit der Aufforderung »Wählet keine Juden!« von den Litfasssäulen entfernen.6 Selbst am Wahltag wurden noch vor den Wahllokalen antisemitische Flugblätter verteilt, und vielerorts bildeten sich spontane Diskussionen über die Wahl.7 Die antisemitischen Aufrufe waren insbesondere gegen den bekannten jüdischen Vorsteher der Stadtverordnetenversammlung, Dr. Wolf Straßmann, gerichtet, der schon seit längerem Anfeindungen ausgesetzt gewesen war.8 Der linksliberale Straßmann verlor überraschend im Wahlkreis 33 gegen seinen Gegenkandidaten, den Direktor O. Bergschmidt. Dagegen gewann er den Wahlkreis 27 mit großer Mehrheit, wie auch alle anderen Wahlen 4 Vgl. »AZJ« vom 3.3.1880, S. 90. Bereits im Januar hatte die »Israelitische Wochenschrift« gemeldet, dass an einem Berliner Gymnasium eine Liste zirkuliere, welche die Unterzeichner verpflichte, jeden Umgang mit jüdischen Mitschülern zu meiden. »IWS« vom 28.1.1880. 5 »AZJ« vom 31.8.1880. 6 »NZ« vom 2.11.1880. 7 »BBC« vom 3.11.1880. 8 Stoecker hatte bei vielen Anlässen, auch im preußischen Abgeordnetenhaus, gegen Straßmann wegen dessen angeblich kirchenkritischen Äußerungen polemisiert.

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von dem jeweiligen Kandidaten der Fortschrittspartei gewonnen wurden. Während der »Berliner Börsen-Courier« diese Entwicklung mit dem Ausspruch »Das Unerwartete, das Unglaubliche ist geschehen« kommentierte, feierte die konservative und klerikale Presse die Niederlage Straßmanns als Triumph und verwandte dabei sattsam bekannte Klischees.9 Die »Judenfrage« begann also mehr denn je das städtische Leben Berlins zu bestimmen. Neben der diesmal in allen politischen Schattierungen aktiven Tagespresse waren dabei vor allem die Universität und die Schulen Zentren der Auseinandersetzungen.10 Im Folgenden soll daher das Aufkommen der »Judenfrage« an diesen Einrichtungen nachvollzogen werden. Die öffentlichen Debatten, die sich dann im Laufe der Novemberwochen immer stärker auf Treitschke und Mommsen konzentrieren sollten, wurden – so die These – durch die Konflikte an diesen Einrichtungen verursacht. Der erneute Streit um Treitschke war keine Fortsetzung oder gar ein Teil der längst vergangenen Kontroverse ein Jahr zuvor; er war ein neuer Streit, der darauf lediglich Rückbezug nahm, um neue Konflikte zu verhandeln. Die Berliner Universität war im Herbst 1880 ein entscheidender Brennpunkt der »Judenfrage« in der Stadt. Die sich zunehmend polarisierenden Studenten verliehen der Entwicklung im Alltagsleben eine neue Dynamik. Ein entscheidender Faktor war dabei die Antisemiten-Petition, die zunächst nicht unmittelbar auf Studenten zielte, die sich aber unter ihnen bald außerordentlicher Beliebtheit erfreute. Sie war von dem Gymnasiallehrer Dr. Bernhard Förster, dem Professor für Physik Friedrich Zöllner, dem Lehramtskandidaten Ernst Henrici und dem Oberleutnant Max Liebermann von Sonnenberg verfasst worden. Sie forderte vom Reichskanzler konkrete Maßnahmen gegen den vermeintlich steigenden Einfluss der Juden: 1) die Masseneinwanderung von Juden aus dem Osten zu erschweren, 2) Juden von obrigkeitlichen Stellungen, insbesondere im Justizdienst, teilweise oder gänzlich auszuschließen, 3) den christlichen Charakter der Volksschulen zu wahren und jüdischen Lehrern dort nur in Einzelfällen eine Anstellung einzuräumen sowie 4) die amtliche Konfessionsstatistik wiedereinzuführen.11 Die Antisemiten-Petition wurde seit Ende Juli Gegenstand von Medienberichten, sowohl in der jüdischen wie in der nichtjüdischen Presse. 9 So soll die Berliner »Ostendzeitung« Bergschmidts Wahl im Aufmacher eines Extrablattes als großen »Sieg der Germanen« gefeiert haben. »NZ« vom 3.11.1880. Für den »BBC« siehe die Ausgabe vom 3.11.1880. 10 Sicherlich finden sich auch Hinweise, dass andere öffentliche Orte in diese Auseinandersetzungen mit hinein gezogen wurden. So gab es beispielsweise stadtbekannte antisemitische Kneipen, die in zeitgenössischen Sammlungen antisemitischer Literatur aufgeführt waren. Vgl. Westphal. 11 Der Forderungskatalog, aber auch die sonstige Argumentation lehnte sich an den Artikel »Die deutschen Juden in der Gegenwart, und was nun?« an, der in den »Grenzboten« erschienen war. Vgl. Anonymus, Beiträge, S. 177 ff.

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Die Petition war nicht nur überraschend erfolgreich, sie war es vor allem unter der zukünftigen Bildungselite des Landes, den Studenten. Als sie Bismarck am 13. April 1881 überreicht wurde, enthielt sie 269.000 Unterschriften, wovon allein 30.000 in Berlin gesammelt worden waren.12 Auf separaten Listen hatte man ca. 4.000 Unterschriften von Studenten zusammengetragen, was ungefähr 19 Prozent der deutschen Studentenschaft umfasste. In Berlin hatten allein von insgesamt 3.600 Studenten 1.700 Studenten unterschrieben, also beinahe jeder zweite Student der Stadt. Da die schätzungsweise über fünfhundert jüdischen Studenten die Petition wohl kaum unterstützt haben dürften, war der Anteil unter den nichtjüdischen Studenten mit weit über fünfzig Prozent wahrlich beachtlich. Diese Wirkung erstaunte auch die Zeitgenossen, so dass etwa der junge Historiker Ludwig Quidde feststellen musste: »Die erfahrenen Politiker stehen überrascht vor der Wandlung, die sich in wenigen Jahrzehnten vollzogen hat und begreifen nicht recht, wie die heranwachsende Generation so ganz anders denkt, als sie es selbst gethan […].«13 Die Studenten hatten für die Unterstützung der Petition eine separate Kampagne lanciert. Paul Dulon, Sohn eines preußischen Regierungsrats, der eigentlich in Leipzig Jura studierte, aber den Sommer in Berlin verbrachte, gelang es, einige antisemitische Studenten, vor allem der juristischen Fakultät, für die Petition zu mobilisieren. Um weiteren Studenten die Zustimmung zu erleichtern, wollte er dem ursprünglichen Text noch zusätzliche Erklärungen beifügen. Am 24. Oktober suchte er Treitschke auf, um von ihm Unterstützung zu erhalten. Über das Gespräch unter vier Augen gaben die beiden Beteiligten später sehr unterschiedlich Auskunft; die Version Dulons erscheint jedoch plausibler. Treitschke, der dem Studenten gegenüber einen freundlichentgegenkommenden Ton anschlug, gab zu verstehen, dass er die Petition nicht unterschreiben könne, vor allem weil ihm seine Position als akademischer Lehrer das verbiete. Er setzte jedoch hinzu, dass er – nach seiner Privatmeinung gefragt – nicht schweigen würde und schloss die Unterredung mit den Worten: »Ich sehe nicht nur keinen Grund Ihnen abzurathen, sondern ich wünsche Ihnen vielmehr alles Glück dazu.«14 Nach der Unterredung entwarf Dulon mit Kommilitonen die studentischen Zusätze zur Petition. Zunächst wurde ihr eine Erklärung beigefügt, die darauf abzielte, dass die Studenten der nationalen Intention des Textes folgen und ihn unterschreiben sollten, auch wenn sie nicht jeden einzelnen Aspekt 12 Vgl. Jochmann, Gesellschaftskrise und Judenfeindschaft, S. 20. 13 Quidde, Die Antisemitenagitation und die deutsche Studentenschaft, BAS, Bd. 2, S. 840. 14 Treitschke sollte diese Darstellung Wochen später auf öffentlichen und inneruniversitären Druck hin bestreiten und behaupten, dass Dulon seine Version nicht mehr aufrechterhalte. Vgl. Treitschke, Erwiderung an Herrn Th. Mommsen, BAS, Bd. 2, S. 747f. Allerdings schilderte Dulon in einem Brief an Treitschke den wahrscheinlicheren Hergang. Vgl. den Brief Dulons an Treitschke vom 18.12.1880, BAS, Bd. 2, S. 764 ff.

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unterstützen würden. Zusätzlich hängte man der Petition noch ein Begleitschreiben an, das sich an die Kommilitonen direkt wandte. Es gelte nun alle Rücksichten auf jüdische Bekannte, alle Beschränkungen durch innerstudentische Spaltungen und Gesinnungen zu überwinden; es sei eine »Ehrensache«, »jetzt auf der sicher so oft im Freundeskreise kundgegebenen Gesinnung zu bestehen«.15 Hier nun ließ Dulon sein Gespräch mit Treitschke in das studentische Begleitschreiben einfließen: Gegen alle Kritik an der Aktion fühle man sich auch durch den Rat »einer unsrer Herrn Professoren in Berlin« immunisiert, »der in seiner Eigenschaft als akademischer Lehrer, Staatsmann und Volksvertreter sicher in dieser Frage Autorität besitzt wie kein Zweiter«.16 Gerade sein »so wohlthuend maßvoll gehaltenes Wort zur Judenfrage« habe ihm die Hochachtung und das Vertrauen der »deutschen Studentenschaft« eingebracht, so dass man sich des Wertes seines Rates wohl bewusst sei.17 Mit dieser Charakterisierung war jedem klar, um wen es sich handeln musste. Im Text wurde der Segen, den Treitschke Dulon mit auf den Weg gegeben hatte, wörtlich zitiert, aber hinzugefügt, dass man das »bei der rein privaten Natur« der Äußerung als eine vertrauliche Mitteilung anzusehen habe.18 Natürlich war diese naive Annahme, bei Tausenden von Exemplaren könnte eine solche Vertraulichkeit gewährleistet werden, hinfällig: Die Berufung auf Treitschke war in der Welt. Die Studenten begannen Ende Oktober, für die Petition organisiert Propaganda zu betreiben. Aus der Kerngruppe um Dulon, der bald nach Leipzig zurückkehrte und dort seine Aktivitäten fortsetzte, bildete sich das »Comitee zur Verbreitung der Petition unter der Studentenschaft«, in dem bald der Jurastudent Erich von Schramm – ein Offizier aus dem Krieg 1870/71 und daher älter als seine Kommilitonen – die Führungsrolle übernahm. Eigentlich war es geplant, die Unterschriftenlisten von Hand zu Hand gehen zu lassen, um so persönlich werben zu können. Allerdings ließ man die Möglichkeit offen, auch durch Aushänge in- und außerhalb der Universität auf sie aufmerksam zu machen. Vielfach – zumindest wenn man den Beschreibungen Quiddes Glauben schenken darf – bedurfte es keiner großen Überredungskunst: »Man sitzt beim Bier zusammen, da bringt einer die Petition. ›Vorlesen!‹ ›Zu lang, Ihr kennt sie ja auch im Allgemeinen; wir Studenten sollen nur unsere Uebereinstimmung mit den darin zum Ausdruck gebrachten Empfindungen darthun, ohne uns den speciellen Forderungen anzuschließen.‹ Wie unverfänglich klingt das, also ›her mit der Petition‹, ›das kann den verdammten Juden mal gar nichts schaden. Daß wir sie nicht

15 Siehe das Exemplar des Rundschreibens, das sich im Nachlass Mommsen befindet: Kasten 128. 16 Ebd. 17 Ebd. 18 Ebd.

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leiden können, sollen sie gleich schwarz auf weiß haben‹, und im Nu haben vielleicht 10 junge Leute ein Schriftstück unterzeichnet […].«19

Die Studenten waren sehr darauf bedacht, ihre Aktivitäten als legitim hinzustellen. Schon in ihrem Petitionszusatz hatten sie behauptet, in dem vollen Bewusstsein handeln zu wollen, »daß die Fortführung des Kampfes für die Erhaltung unserer Nationalität zu nicht geringem Theile dereinst in ihrer [der Studentenschaft, d. Vf.] Hand gelegt werden wird […].«20 Man habe sich – hieß es in späteren Erklärungen – an der Universität nicht nur fachmännisches Wissen anzueignen, sondern müsse ebenso eine »gründliche Kenntniss und die Fähigkeit der wissenschaftlichen Beurtheilung derjenigen sozialen Fragen« erwerben, »die unser Vaterland bewegen […]«.21 Die »Judenfrage« gehöre zu dieser Art von Fragen, bei deren Behandlung man allerdings den akademischen Frieden in keiner Weise stören wolle. Allerdings taten sie der damaligen Definition von akademischen Frieden entsprechend genau das: Sie störten ihn. Die Rechtfertigungsstrategien zielten in der Folgezeit besonders darauf, die bürgerliche Bildungskultur – als deren zukünftige Vertreter sich die Studenten fühlen durften – für sich in Anspruch zu nehmen und gegen deren liberale Deutung neu zu besetzen. Man erhebe sich, wie Dulon in einer Rede »Ueber die Begriffe ›deutsch, tolerant, human‹« ausführte, gegen das »Zerstörungswerk, das die Juden und Judengenossen unermüdet fortsetzen an allem was uns hoch und heilig, an unserer Religion, an unseren Idealen«.22 Ein Jurastudent namens Reichardt kam an anderer Stelle auf die »Judenfrage als Humanitätsfrage« zurück: Das Ziele »edler Menschlichkeit«, wie es die Griechen verkörperten, müsse man stets vor Augen haben – und so ergebe sich die wahre Bedeutung der »Judenfrage«: »Sie ist im wahren Sinn des Wortes ein Culturkampf […].«23 Es müsse die »Aufgabe echter Humanität« sein, den »hässlichen Züge[n] der grassesten [sic!] Selbstsucht und der hässlichsten Intoleranz« entgegenzuwirken, welche das jüdische Volk verkörpere.24 Die Studenten glaubten also keineswegs, sich an dem Gebote der Humanität zu versündigen, sie sahen ihre Aktivitäten als deren Einlösung. Solche antiliberalen Umdeutungen der Bildungskultur waren wichtige Rechtfertigungsstrategien, mit denen die Studenten Kardinalbegriffe der öffentlichen Diskussion neu zu besetzen versuchten. Die Universität blieb keineswegs der einzige Ort, an dem die »Judenfrage« im Herbst 1880 zu besonderen Konflikten führte. Neben den Studenten spiel19 20 21 22 23 24

Quidde, Die Antisemitenagitation und die deutsche Studentenschaft, BAS, Bd. 2, S. 842. Siehe das Exemplar des Rundschreibens. Falcke, S. 3. Dulon, S. 8. Reichardt, S. 26. Ebd.

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ten die Lehrer und Schüler an den Berliner Schulen eine wichtige Rolle – und damit eine weitere zentrale Vermittlungsinstanz der Bildungskultur im Bürgertum. Dass die »Judenfrage« auch unter ihnen erörtert wurde und zeitweise sogar die Gefahr bestand, der schulische Alltag von jüdischen und nichtjüdischen Schülern könnte gestört werden – das war bisher nicht der Fall gewesen. Vor allem ein Ereignis sollte dazu beitragen, dass es soweit kam. Am späten Nachmittag des 8. November – es war ein Montag – ereignete sich in der Berliner Pferdebahn ein schwerer Zwischenfall, der die sowieso schon vertrackte »Judenfrage« weiter eskalieren ließ.25 Die beiden Lehrer am Berliner Friedrichs-Gymnasium, Dr. Bernhard Förster und Dr. Hans Jungfer, hatten sich an diesem Nachmittag mit anderen Aktivisten getroffen, um die weitere Verteilung der Antisemiten-Petition zu organisieren. Vor allem Förster warb seit Wochen für die Petition, an deren Abfassung er federführend beteiligt gewesen war. Als er mit Jungfer an jenem Montag die Zusammenkunft verließ, setzten sie ihre Unterhaltung auf der Straße fort. Besonders über die Berichterstattung des »Berliner Börsen-Couriers« in der »Judenfrage« und über die Stoeckersche Bewegung erregten sich die beiden lauthals. Ihren vernehmlichen Tonfall milderten sie auch nicht, als sie in einen vollbesetzten Wagen der Berliner Pferdebahn einstiegen. So konnte keiner der anwesenden Fahrgäste ignorieren, wie Förster über die »jüdische Frechheit« schimpfte. Indessen hatte der jüdische Likörfabrikant Edmund Kantorowicz den Wagen bestiegen, der auch sogleich Zeuge der Unterhaltung wurde. Die beiden Lehrer waren sich bewusst, wie sie später einräumten, dass man ihr Gespräch nicht überhören konnte und jüdische Fahrgäste zugegen waren. Noch lauter und demonstrativer fügte Förster ein Lob Stoeckers hinzu: Er habe sich den Hofprediger angehört und den Eindruck gehabt, dieser sei ein wirklich deutsch gesinnter Mann. Jungfer erwiderte darauf: »Na, Straßmannsleben hat’s ja auch schon abbekommen!« Diese Anspielung auf die Ergänzungswahlen zur Stadtverordnetenversammlung unterstrich der Lehrer mit einem jüdelnden Akzent. Auf diese Provokation sprang Kantorowicz auf und hielt den beiden Lehrern erbost entgegen: »Sie sind ganz unverschämte Buben; es ist eine Schmach und eine Schande, daß sie, anscheinend gebildete Leute, sich zum Sprachrohr solcher Hetzereien machen!« In diesem Moment stoppte die Pferdebahn an ihrem Endhaltpunkt. Förster stieg sofort aus, um nach einem Polizisten zu rufen. Unverzüglich bildete sich eine Menschentraube um die Bahn, aus der jetzt auch Jungfer und Kantoro25 Der Ablauf des Vorfalls lässt sich anhand der Erklärungen der Beteiligten in der Presse sowie des Materials rekonstruieren, das die anschließende Disziplinaruntersuchung gegen Förster und Jungfer zu Tage förderte. Vgl. »NZ« vom 10.11.1880 sowie vom 11.11.1880. Vgl. außerdem die Akten des Kultusministeriums zum Friedrichs-Gymnasium, GStA Pk, I. HA Rep. 76 VI, Sekt. XIV. Z, 39 Bd. III (1869–1883), darin vor allem die Anklageschrift des Staatsanwaltes Daude, lauf. Nr. U II 191.

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wicz – noch immer streitend – ausstiegen. Da sie dabei verschiedene Ausgänge benutzten, glaubte Jungfer, Kantorowicz wolle sich vor einer weiteren Auseinandersetzung drücken. Das sei nicht seine Absicht, entgegnete der Fabrikant, ihm sei es ganz recht, dass die Polizei eingeschaltet werde, um die Personalien der Herren aufzunehmen, damit die Angelegenheit bekannt gemacht werden könne. Jungfer konterte verächtlich: »Ach was, Sie sind ja nur ein Jude!« In seiner Erregung verpasste Kantorowicz ihm daraufhin eine Ohrfeige. Dass diese unerwidert blieb, war lediglich dem Eingreifen des Publikums und des nun eingetroffenen Polizisten zu verdanken. Alle Beteiligten sowie einige Zeugen wurden zur Wache geführt, ohne dass sie währenddessen weitere Polemik unterließen. Auf der Wache angekommen schlug Förster wegen der Ohrfeige ein Duell zwischen Kantorowicz und Jungfer vor, dessen Modalitäten am nächsten Tag geklärt werden sollten. Am 9. November erhielt Kantorowicz stattdessen ein Schreiben Försters, in dem ihm die Satisfaktionsfähigkeit aberkannt wurde. Dort hieß es weiter, dass Herr Jungfer es vorziehe, sich nicht durch weiteren Umgang mit Kantorowicz zu »beschmutzen«.26 Dieser wiederum eilte sofort zum Direktor des Friedrichs-Gymnasiums, Dr. Kempf, um Beschwerde gegen die beiden Lehrer zu führen. Am Tag darauf druckte die »National-Zeitung« diese Beschwerde in ihrer Abendausgabe ab. Von diesem Moment an brach ein wahrer »Zeitungssturm« los, an dem sich die Tageszeitungen aller Couleur beteiligten: Die »Judenfrage« wurde zum ersten Mal Gegenstand von Leitartikeln und Aufmachern selbst in den liberalen Blättern.27 Am 12. November fand sich der erste Leitartikel in der »National-Zeitung«: »Der Fall Förster -Jungfer«.28 Die allgemeine Aufmerksamkeit bemächtige sich, so der Tenor, der Affäre »mit steigender Lebendigkeit«, allerdings sei in der öffentlichen Meinung die Unterstützung für den angegriffenen Kantorowicz nahezu einhellig.29 Die Stoßrichtung solcher Artikel aus liberaler Feder war ebenso klar wie folgenreich: Der Vorfall trage Züge einer vorsätzlichen Provokation durch die beiden Lehrer, die damit ihre öffentliche Funktion missachtet hätten. Die »National-Zeitung« sah ein Disziplinarproblem: […] unmöglich scheint es uns zu sein, daß Lehrer, welche von konfessionellen Leidenschaften so weit sich hinreißen lassen, wie dies geschehen ist, an einer konfessionell gemischten Schule mit Nutzen wirken können.«30 Auch diejenigen, die bisher den antisemitischen Tendenzen mit einer gewissen Gleichgültigkeit oder sogar stillen Schadenfreude gegenüber gestan26 Vgl. auch die Wiedergabe des Schreibens in: »NZ« vom 10.11.1880. 27 Von einem »Zeitungssturm« spricht der Präsident der Provinzialschulkollegiums Herwig in seinem Bericht an den preußischen Kultusminister von Puttkammer über den Vorfall: GStA Pk, I. HA Rep. 76 VI, Sekt. XIV. Z, 39 Bd. III (1869–1883), lauf. Nr. U II 3370. 28 »NZ« vom 12.11.1880. 29 Ebd. 30 Ebd.

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den hätten, müssten jetzt erkennen, wie schädlich diese Entwicklung für das bürgerliche Leben sei. Wenn die Universitäten und die Schulen davon betroffen seien, könne man nicht mehr länger schweigen. »Nachdem«, so das Blatt mit Blick auf Treitschke abschließend, »diese Tendenz ihr Unwesen in possenhaften Versammlungen und skurrilen Schriften getrieben hat, sucht sich, allerdings nicht ohne Mitschuld eines hervorragende Mannes, ihr Gift in die eigentlichen Kulturstätten zu tragen. Wir halten es gegenüber diesen letzten Vorgängen für eine öffentliche Pflicht, mit Nachdruck und Entschiedenheit gegen die Anfeindungen der Juden aufzutreten.«31

Die weitere Entwicklung sollte zeigen, dass die »National-Zeitung« mit diesen zwei Aspekten durchaus Recht behielt. Auf der einen Seite verursachte die »Pferdebahn-Affäre« eines jener disziplinarischen Probleme, von denen in den nächsten Wochen in den Bildungsinstanzen Schule und Universität immer mehr folgen sollten. Wie hatte man von staatlicher Seite auf die Agitation an diesen Orten zu reagieren? Auf der anderen Seite war es nun an den liberalen, gebildeten Protestanten, Flagge zu zeigen. Das Vordringen der Antisemiten in die Kernbereiche der Bildungskultur konnte nicht länger geduldet werden, ging es doch um die liberale Zukunft der bürgerlichen Bildungskultur.

5.2 Abschied vom öffentlichen Schweigen: Theodor Mommsen und die »Erklärung der 75 Notabeln« zur »Judenfrage« »Mann, wir leben im Krieg!«32

Im Herbst 1880 entwickelte sich ein neuer Streit um Treitschke, in dem der Althistoriker Theodor Mommsen allmählich den Gegenpart übernahm. Mommsen war an der Berliner Universität nicht nur Treitschkes Kollege, die beiden standen sich auch in ihrer Historiographie und ihrem politischen Denken lange Zeit nahe und achteten sich gegenseitig außerordentlich. Allerdings ergaben sich in den 1870er Jahren allmählich Differenzen zwischen ihnen: Treitschkes beständige Kritik an den Liberalen und sein immer offensichtlicherer Bismarck-Kurs konnte den Bismarck-Kritiker und entschiedenen Liberalen Mommsen, der sich von den Nationalliberalen abwenden sollte, sicherlich nicht erfreuen.33 In der »Judenfrage« vertrat der Althistoriker, wie 31 Ebd. 32 Siehe die Abschrift des Briefes von Mommsen an Tycho Mommsen vom 10.6.1880, Nl. Wickert, Kasten 29, Mappe Tycho Mommsen, S. 91. 33 Zu Mommsen vgl. Rebenich, Theodor Mommsen. Eine Biographie.

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bereits an mehreren Stellen ausgeführt, einen widersprüchlichen Standpunkt. In seiner »Römischen Geschichte« hatte er die Rolle des Judentums zumindest ambivalent beschrieben und auch auf die Gegenwart hin gedeutet. Einen Hinweis, wie groß die Gemeinsamkeiten in dieser Frage zwischen den beiden Historiker gewesen sind, liefert ein Brief Mommens, dessen ungeklärter Quellenstatus allerdings der Interpretation enge Grenzen setzt. Im Dezember 1877 – zu einem Zeitpunkt also, als die »Judenfrage« nur selten Gegenstand der politischen Auseinandersetzung war – soll Mommsen an einen unbekannten Adressaten folgende Zeilen gesandt haben: »[…] Insoweit die Juden einen besonderen Nationalismus innerhalb des deutschen behaupten wollen […] sind sie selbst schuld an den Consequenzen, die dann, wie immer, alle treffen und die am schwersten, die es am wenigsten verdienen. Wer innerhalb einer fremden Nation lebt, soll und muß sich ihr assimiliren; und das Widerstreben gegen diese Nothwendigkeit ist ebenso verkehrt wie das Zurückweichen derer, die sie gelten lassen wollen. Daß die Barbarei, womit dies jetzt geschieht, ebenso schändlich wie auch der deutschen Sache schädlich ist, ist […] sicher […]. Aber wer kann es ändern? Sittliche Epidemien sind noch incourabler als physische […].«34

Diese Argumentation ähnelt in vielen Punkten derjenigen, die später von Treitschke verwandt wurde: Die »Judenfrage« sei eine nationale, da die Juden einen Fremdkörper darstellten. Gleichzeitig verkörperte sie ein moralisches Problem (»sittliche Epidemie«), für dessen Lösung die Juden durch die vollständige Assimilation Sorge zu tragen hätten. Diese Art Integrationalismus teilte, wird im weiteren Verlauf des Kapitels argumentiert werden, Mommsen mit seinem Kollegen in der »Judenfrage« – über alle inhaltlichen Unterschiede und polemischen Abgrenzungen hinweg. Als Treitschke mit »Unsere Aussichten« endgültig zu neuen politischen Ufern aufbrach, musste Mommsen zu seinem politischen Gegner werden. Die »Judenfrage« ließ die handfesten Meinungsverschiedenheiten und schwelenden Konflikte zwischen den beiden explodieren. Mommsen erregte sich sofort über Treitschkes Angriff auf die Juden. In einem Brief an Grimm berichtete Treitschke von Mommens Verhalten bei einer Abendveranstaltung im Hause des Professors Wilhelm Wattenbach, die am 26. Januar 1880 – unmittelbar nach dem Erscheinen von »Noch einige Bemerkungen zur Judenfrage« – stattgefunden haben muss. Mommsen sei, leicht angetrunken, »geradezu toll« gewesen und habe wie Bamberger oder Cassel über die »Judensache« gespro-

34 Stargardt, S. 95. Die Briefkarte Mommsens wurde 1960 auf einer Auktion der Firma J. A. Stargardt an eine leider unbekannte Person verkauft. Trotz einiger Bemühungen konnte ihr Verbleib daher nicht erhellt werden. Im Auktionskatalog finden sich Auszüge aus dem Original, die hier vollständig wiedergegeben sind. Der Kontext der Äußerung kann nicht rekonstruiert werden. Da sie allerdings Einblick in das widersprüchliche Judenbild Mommsens vor der Auseinandersetzung mit Treitschke liefert, wird sie hier trotz dieser Einschränkungen benutzt.

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chen.35 »Ich richte«, schrieb Treitschke weiter, »gegen ihn nichts aus; denn an mir ist er, wie er selbst sagt, ganz irre geworden.«36 Mommens eigene spannungsreiche Haltung zur »Judenfrage« im Hinterkopf sprach er die Hoffnung aus, Grimm solle ihm näher bringen, »wie schmählich es für einen Mann von seiner Bedeutung ist, alle die Ideen, die er selbst in der Römischen Geschichte ausgesprochen, zu verleugnen und der ›Opportunität‹ zu Liebe mit dem Auswurfe der deutschen Journalistik zusammenzugehen«.37 Grimm versprach in der Tat, »das Meinige bei Mommsen versuchen« zu wollen; aber ohne große Hoffnung, weil ihm ein Meinungswandel bei dem Althistoriker noch nie gelungen sei.38 Einige Zeit später berichtete Grimm von einem Gespräch mit Mommsen, das »mit furchtbaren Augencanonaden und Losbrüchen« Mommens begonnen habe, in dessen Verlauf Grimm aber immerhin seinen und Treitschkes Standpunkt erläutern konnte. Mommsen bemängelte an Treitschkes Vorgehen vor allem, dass er die Juden nicht in seiner »Deutschen Geschichte«, sondern in einem Zeitschriftenartikel für ein breiteres Publikum angegriffen hatte. Auch in den folgenden Monaten äußerte Mommsen seinen Unmut weiter, öffentlich allerdings nur verklausuliert. Das geschah etwa im März 1880 anlässlich einer Rede zu Ehren des Kaisers in der Akademie der Wissenschaften, in der Mommsen seine Zuhörer fragte: »Ist das Reich Kaiser Wilhelms wirklich noch das Land Friedrichs des Großen, das Land der Aufklärung und der Toleranz, das Land, in dem nach Charakter und Geist, und nicht nach Konfession und Nationalität gefragt wird?«39 Der konfessionelle Hader reiße eine Kluft, besonders auch im »wissenschaftlichen Adel der Nation« – womit die Anspielung auf Treitschke von den Zeitgenossen verstanden werden konnte.40 Dass Mommsen später wesentlich deutlicher werden sollte, bildete das Resultat einer schrittweisen Eskalation, in der Mommsen aber noch länger den Weg der anonymen Anklage beschritt, wie im Folgenden gezeigt werden wird. Der Auslöser dieser Eskalation muss in den politischen Veränderungen seit dem Sommer 1880 gesehen werden.41 Das Aufkommen der Antisemiten-Peti35 Vgl. den Brief Treitschkes an Grimm vom 28.1.1880, in: Demandt, S. 167. 36 Ebd. 37 Ebd. 38 Siehe den Brief Grimms an Treitschke vom 28.12.1879, Nl. Treitschke, Kasten 6, Mappe Grimm. 39 Mommsen, Rede vom 18. März 1880, BAS, Bd. 2, S. 446. 40 Ebd. 41 Ein weiterer, keineswegs unwichtiger Faktor war Mommsens persönliche Situation im Jahr 1880. Der damals Aufsehen erregende Brand in seinem Haus, der im Juli außerordentliche Schäden an Mommsens materieller und wissenschaftlicher Existenz verursachte und ihm fast das Leben gekostet hätte, hatte seine Gelassenheit sicher nicht befördert. Selbstverständlich soll hier nicht behauptet werden, dass Mommsen sich mit seinem Auftreten in der »Judenfrage« für Hilfsspenden von Juden bedankt habe, wie es ihm der antisemitische Student Erich von Schramm auf einer Studentenversammlung vorwarf. Vgl. den Bericht über die Vernehmung des

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tion ließ die »Judenfrage« zu einem drängenden politischen Problem werden: Der Mobilisierungsgrad, den die Antisemiten in Berlin erreicht hatten, war nicht länger zu ignorieren. Das Klima in der Stadt verschlechterte sich sichtbar, wofür nicht nur die »Pferdebahn-Affäre« ein unverkennbares Signal lieferte. Neben Mommsen glaubten nun auch andere gebildete Protestanten aktiv werden zu müssen. Am 7. November – also einen Tag vor der »Pferdebahn-Affäre« – traf sich im Hause des Berliner Bürgermeisters Max von Forckenbeck ein illustrer Kreis stadtbekannter Liberaler: neben dem Gastgeber der Stadtschulrat Prof. Dr. Heinrich Bertram, der Geheimrat und Älteste der Kaufmannschaft Gottlieb Adalbert Delbrück, der Rechtsanwalt Theodor Lesse, der Reichstagsabgeordnete Heinrich Rickert und eben Mommsen. Bereits einige Tage zuvor hatte Forckenbeck einen ersten Entwurf für eine öffentliche Erklärung »in der immer brennender werdenden Judenfrage« verschickt.42 Über den Text sollte auf dem Treffen diskutiert werden. Es ist unklar, von wem letztlich welche Formulierung stammte; sicherlich war Mommsen an der Endfassung beteiligt.43 Bei dem Treffen wollte Forckenbeck obendrein erreichen, dass man sich auf eine Liste von potentiellen Unterzeichnern der »Erklärung« einigte: »Nicht zu viele aber gewichtige Unterschriften!«44 Offensichtlich gelang auch das schnell; denn bereits zwei Tage später, am 9. November lagen Kopien der »Erklärung« in ausreichender Zahl vor, um sie den ausgewählten Personen zur Unterschrift vorzulegen.45 Kurz darauf verfügte man über die gewünschten Unterschriften und sandte die »Erklärung« an mehrere liberale Tageszeitungen, wo sie am Sonntagmorgen des 14. Novembers 1880 den Aufmacher bildete. Polizeileutnants Otto Gaul vom 13.1.1881, Untersuchung gegen Erich von Schramm, HUArchiv, Rektorat und Senat; Nr. 810, Bl. 4–7. Darauf spielte man in Berlin möglicherweise an, wenn man Mommsen »Mommsohn« nannte. Vgl. die Notizen Wickerts über ein Interview mit dem Mommsen-Schüler Ettore Pais, Nl. Wickert, Kasten 11, Mappe 185. Dennoch ist die Einschätzung seiner persönlichen Lage interessant, die unter seinen Schülern 1880 die Runde machte. Der spätere Althistoriker Christian Hülsen meinte dazu: »Im übrigen ist diese Rastlosigkeit M’s, ebenso wie der Eifer, mit dem er sich in öffentliche Angelegenheiten stürzt, etwas beinahe möchte ich sagen krampfhaftes – die Vorgänge der letzten Monate haben ihn innerlich furchtbar erschüttert, wenn ihm auch aeusserlich sehr wenig anzumerken ist.« Siehe den Brief Hülsens an Otto Hirschfeld vom 26.11.1880, Nl. Hirschfeld, Kasten Kasten 11, Mappe Hülsen. 42 Siehe den Brief von Forckenbecks an Mommsen vom 3.11.1880, Kasten 30, Mappe Forckenbeck. 43 Mommsen hat später bestritten, den Text verfasst zu haben: Mommsen, Brief an den Redakteur, BAS, Bd. 2, 614. Tal berichtet, dass die exakte Formulierung der »Erklärung« strittig war. Allerdings scheint sich die gemäßigtere Variante durchgesetzt zu haben; eine andere Version wollte die Juden deutlicher zur Assimilation auffordern. Vgl. Tal, S. 49f. 44 Siehe den Brief von Forckenbecks an Mommsen vom 3.11.1880, Kasten 30, Mappe Forckenbeck. 45 Siehe den Brief Hans Reimers an Mommsen vom 9.11.1880, Kasten 101, Mappe Reimer.

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Der Text hob mit den Problemen der inneren Reichseinigung an: Die in heißen Kämpfen errungene Einheit basiere auf dem Zusammengehörigkeitsgefühl der Deutschen, welche die »Stammes- und Glaubensgegensätze« überwunden hätten.46 Die weiterhin existierenden Unterschiede in Beschuldigungen umzumünzen, träfe vor allem diejenigen, »welche ehrlich und ernstlich bemüht sind, in treuem Zusammengehen mit der Nation die Sonderart abzuwerfen«.47 Identität aller ohne Differenz: Gegen dieses Postulat würde jene Bewegung verstoßen, die sich mit mittelalterlichem Fanatismus gegen »unsere jüdischen Mitbürger« richte.48 Diese Bewegung drohe die Beziehungen zwischen Juden und Christen zu vergiften. Noch aber sei es Zeit, gegen diese Tendenzen aktiv zu werden, und die »Erklärung« endete mit einem flammenden Aufruf dazu: »Vertheidiget in öffentlicher Erklärung und ruhiger Belehrung den Boden unseres gemeinsamen Lebens: Achtung jedes Bekenntnisses, gleiches Recht, gleiche Sonne im Wettkampf, gleiche Anerkennung tüchtigen Strebens für Christen und Juden.«49 Fünfundsiebzig Personen setzten ihren Namen unter diese »Erklärung«: Sie alle gehörten zu den Honoratioren Berlins, viele waren stadtbekannt. Eine große Anzahl Politiker befand sich unter den Unterzeichnern, ebenso viele Rechtsanwälte. Hinzu kamen städtische Beamte, einige von ihnen im Schulwesen tätig, und, interessanterweise, fast die Hälfte aller Ältesten der Berliner Kaufmannschaft.50 Der überwiegende Teil der Unterstützer hatte mindestens studiert, wenn nicht gar promoviert (31 von ihnen). Die größte Einzelgruppe bildeten die Professoren, die meisten von ihnen an der Berliner Universität beschäftigt. Unter ihnen waren solche liberalen Berühmtheiten wie Johann Gustav Droysen, Rudolf Gneist, Rudolf Virchow oder Mommsen. Mit ihrer Unterschrift dokumentierten die gebildeten Protestanten, dass die Bedrohung der antisemitischen Bewegung gerade in ihrem Umfeld gewachsen war und dagegen vorgegangen werden musste. Juden fanden sich unter den Unterzeichnern nicht; eventuell in Frage kommende Personen wurden nicht gefragt, weil sie jüdischer Abstammung waren.51 Dieser Ausschluss dürfte damit begründet worden sein, dass man den Gegner der »Erklärung« nicht das einfachste Gegenargument ermöglichen wollte, die »Erklärung« sei eigentlich von Juden lanciert und damit ein weiterer Beweis für deren Machtstellung. 46 Manifest der Berliner Notabeln, BAS, Bd. 2, S. 551. 47 Ebd. 48 Ebd., S. 552. 49 Ebd., S. 552f. 50 Es ist wahrscheinlich, dass zumindest diese Unterschriften eine direkte Folge der »Pferdebahn-Affäre« waren. Die Kaufmannschaft konnte damit ihre Solidarität mit dem Fabrikanten Kantorowicz bekunden. 51 Vgl. den Brief von Wilhelm Scherer an Mommsen vom 12.11.1880. Eine Fotokopie des Briefes befindet sich im Nl. Wickert, Kasten 23.

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Gleichwohl bedeutete das erneut, mit den Juden keine gemeinsame Front zu bilden. Angesichts der Lage in der Bildungskultur war es keine Überraschung, in dem Text eine Anspielung auf jene Person zu finden, die für den Einfluss antisemitischer Bestrebungen unter gebildeten Bürgern am ehesten verantwortlich gemacht werden konnte: Treitschke. Die entsprechende Passage lautete: »An dem Vermächtnis Lessings rütteln Männer, die auf der Kanzel und dem Katheder verkündigen sollten, daß unsere Cultur die Isolierung desjenigen Stammes überwunden hat, welcher einst der Welt die Verehrung des einigen Gottes gab.«52 Es war allerdings noch ein längerer Weg, bis sich aus der »Erklärung« ein Konflikt zwischen Treitschke und Mommsen herauskristallisierte. Hatte »Unsere Aussichten« Züge einer gezielten Provokation besessen, gab es in der »Erklärung« nur eine Anspielung, eigentlich nur ein Wort. Zwar muss den Verfassern vollkommen klar gewesen sein, dass sich die Hinweiswörter »Kanzel« und »Katheder« auf Stoecker respektive Treitschke bezogen. Schon aufgrund der zeitlichen Distanz zu Treitschkes früherem Engagement drängte sich anderen der Zusammenhang allerdings nicht auf. Infolgedessen tadelte Karl Fischer, dass die »Erklärung« ein dreiviertel Jahr zu spät komme, und auch Grimm fand, die Sache sei nicht gerade »flagrant« gewesen.53 Selbst einigen Unterzeichnern der »Erklärung« scheint die Verbindung zu Treitschke nicht bewusst gewesen zu sein. Ähnlich ging es Treitschke selbst: »Ich las die schöne Stilübung zuerst ganz arglos; bei diesem üppigen ›Zoologischen-Garten-Stil‹ kann man sich ja gar nichts Bestimmtes denken. Da erfuhr ich von kundiger Seite, der Satz über die ›Männer der Kanzel und des Katheders‹ sei gegen mich gerichtet.«54 Treitschke erkundigte sich sofort bei drei Unterzeichnern: Droysen, Gneist und Max Weber, dem Vater des berühmten Soziologen. Sowohl Gneist als auch Weber behaupteten, bei ihrer Unterschrift nicht an Treitschke gedacht zu haben.55 Nur Droysen bestätigte Treitschkes Befürchtung sofort und deutlich.56 Je nach Antwort, das hatte Treitschke schon angekündigt, woll-

52 Manifest der Berliner Notabeln, BAS, Bd. 2, S. 552. 53 Siehe den Brief Grimms an Mommsen vom 13.12.1880, Nl. Mommsen, Kasten 39, Mappe Grimm sowie den Brief Fischers an Lazarus vom 2.2.1881, Nl. Lazarus, HU-Bibliothek, Nr. 487. 54 Siehe die Abschrift eines Briefes von Treitschke an Grimm vom 15.11.1880, Nl. Treitschke, Kasten 15, Bl. 14. Die Hervorhebungen befinden sich im Original. Mommsen hielt Treitschkes Überraschung für reine Inszenierung, hätten doch einige seiner Freunde aus Rücksicht ihm gegenüber nicht unterschrieben. Vgl. den Brief Mommsens an Grimm vom 12.12.1880, BAS, Bd. 2, S. 717. 55 Siehe den Brief Gneists an Treitschke vom 16.11.1880, Nl. Treitschke, Kasten 6, Mappe Gneist sowie den Brief Webers an Treitschke vom gleichen Datum, daselbst, Kasten 9, Mappe Weber. 56 Vgl. den Brief Droysens an Treitschke vom 16.11.1880, BAS, Bd. 2, S. 578.

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te er sein weiteres Verhalten ausrichten: »Eine solche Schmähung nehme ich nicht ruhig hin; das bin ich schon meinen Studenten schuldig.«57 Dementsprechend interpretierte Treitschke in seiner ersten Replik vom 17. November die »Erklärung« als »öffentliche Anklage gegen meine Wirksamkeit auf dem Katheder«.58 Ehrenwerte Männer, seine Kollegen, hätten durch unbedachte Äußerungen Anlass für grundlose Verdächtigungen gegeben. Er habe ein Jahr zuvor als Publizist über das deutsche Judentum geschrieben; das habe nichts mit seiner Lehrtätigkeit zu tun gehabt. Er erachte es daher als seine Pflicht, »um meiner Zuhörer und meiner akademischen Ehre willen, alle die Verleumdungen meiner Lehrtätigkeit […] hiermit öffentlich zurückzuweisen.«59 An Treitschkes Wortwahl fällt Folgendes auf: Während die Juden im Streit mit Treitschke ein Jahr zuvor Ehre als sprachliches Signal für ihre persönlichen Verletzungen eingesetzt hatten, war auch in diesem neuen Konflikt wieder von Ehre die Rede. In dem sich allmählich entspannenden Streit zwischen Treitschke und Mommsen äußerte sich allerdings eine andere Form: »Ehre« war weniger an die Person, als vielmehr an die Institution, in der diese tätig war, gebunden, obwohl es auch in dieser Phase Beispiele für persönliche Ehrverletzung gab, etwa in der »Pferdebahn-Affäre«, als es um die Ehre des Lehrers Jungfer und des Kaufmanns Kantorowicz ging. Treitschke verbat sich die Verletzung seiner »akademischen Ehre«, auch weil er das seinen Zuhörern, den Studenten an der Institution Universität, schuldig zu sein glaubte. Diese Form der Ehre hing eng mit der Vorstellung eines akademischen Friedens zusammen. Die Alma Mater sollte – zumindest dem Anspruch nach – ein politikfreier Ort sein. Obwohl aus heutiger Perspektive besonders die geisteswissenschaftlichen Professoren des 19. Jahrhunderts alles andere als unpolitisch erscheinen, bedeutete die offene Politisierung des Universitätslebens einen schwerwiegenden Verstoß gegen den akademischen Frieden – eine Normvorstellung, der ungewöhnlich hohe Bedeutung beigemessen wurde. In klassischer Ausprägung lagen hier Strukturen der bürgerlichen Bildungskultur offen: Gerade die Universitäten waren dem ursprünglich un-, weil überpolitischen Bildungsideal verpflichtet; je enger sich aber Gebildetsein mit Bürgersein verband, desto stärker politisiert war das Bildungsideal. Dass etwa ein Eintreten für die Sozialdemokratie eine offene Politisierung gewesen wäre, war aus bürgerlicher Perspektive ungleich verständlicher als aus »bloß« gebildeter. Wie jedoch stand es mit dem Eintreten für das Judentum oder für den Antisemitismus? War das eine unerlaubte Politisierung einer Bildungsinstitution? Solche Fragen standen stets im Hintergrund der Auseinandersetzungen 57 Siehe die Abschrift eines Briefes von Treitschke an Grimm vom 15.11.1880, Nl. Treitschke, Kasten 15, Bl. 14. 58 Treitschke, Zuschrift an die »Post«, BAS, Bd. 2, S. 598. 59 Ebd., S. 599.

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im Herbst 1880, die stärker als ein Jahr zuvor auf die konkrete Lebenswelt der gebildeten Bürger Berlins bezogen waren. Als Mommsen Treitschkes Erwiderung auf die »Erklärung« las, musste er sich zu einer Klarstellung herausgefordert gefühlt haben. Am nächsten Tag, den 20. November, erschien ein Brief von ihm in der »National-Zeitung«: Er habe die »Erklärung« zwar nicht verfasst, aber in dem »vollen Bewußtsein« unterschrieben, »daß dieser Tadel sich in erster Linie auf Herrn v. Treitschke bezieht«.60 Selbstverständlich hätten weder die Verfasser noch die Unterzeichner Erkundigungen eingeholt, wie Treitschke in seinen Lehrveranstaltungen zu politischen Tagesthemen Stellung beziehe. Allerdings bedauere man, »daß er auf dem Katheder das Evangelium der Toleranz nicht predigt; denn wir nehmen an, daß er als Lehrer nicht gegen diejenigen Sätze sprechen wird, die er als Publicist vertritt«.61 Das Problem, ob Treitschke den akademischen Frieden gestört hatte, war damit allerdings nicht erledigt, wie die nächsten Tage zeigen sollten.

5.3 Der offene Konflikt: Die »Judenfrage« unter gebildeten Bürgern nach der »Erklärung« »Es wäre gut, wenn sich der »Judenjunge« in jedem Falle gleich mannhaft wehrte, solange ihm nicht die Toleranz, welche der Gebildete von dem Gebildeten zu fordern ein Recht hat, gewährt wird.«62

Mitte November 1880 trat der Konflikt über die »Judenfrage« in eine neue Phase: Es war unverkennbar, dass er sich nicht mehr auf die pöbelhaften Versammlungen einiger beklagenswerter Hetzredner beschränken ließ. Wo sich gebildete Bürger auf den Straßen der Stadt auch bewegen mochten, die »Judenfrage« war schon da. Prägnant verdichtete sich dieser Eindruck in dem zeitgenössischen Tendenzroman »Der neue Ahasver. Roman aus Jung-Berlin« von Fritz Mauthner. Die Hauptfigur des Romans, der junge Arzt Heinrich Wolff, ist jüdischer Herkunft und steht als Typus für einen weitgehend säkularisierten gebildeten Bürger, dessen Judentum erst in der Auseinandersetzung mit dem zeitgenössischen Antisemitismus wieder an Bedeutung gewinnt. Vie-

60 Mommsen, Brief an den Redakteur, BAS, S. 615. 61 Ebd. 62 »BBC« vom 10.11.1880.

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le Passagen des Romans imitierten zeitgenössische Figuren oder Ereignisse z. T. detailgetreu; eine Szene erinnerte an die »Pferdebahn-Affäre«. Der Arzt Wolff befindet sich auf der Rückreise nach Deutschland, nachdem er sich ein Jahr in Afrika zu medizinischen Forschungszwecken aufgehalten hatte, als er im Zug zum ersten Mal mit der neuen antisemitischen Stimmung in Deutschland konfrontiert wird. Besonders schockiert reagiert er, als er erkennen muss, dass antijüdische Klischees offensichtlich von bürgerlichen, gebildeten Personen verbreitet werden: »Heinrich wußte nicht, wie ihm geschah. Jetzt hatte er deutlich zum zweiten Mal das Wort ›Jude‹ vernommen. Auch paßte das ganze Gespräch nicht auf die Sozialisten, noch weniger auf die Jesuiten. Um was handelte es sich denn? Er war doch in Deutschland, auf der Eisenbahn zwischen Berlin und Dresden, unter geistig gesunden Menschen? Er war doch nicht etwa selbst wahnsinnig geworden?«63

Einer der Mitreisenden klärt Wolff über die Veränderungen in Deutschland auf: Es sei Mode geworden, auf die Juden zu schimpfen. Diese so genannte Tagesfrage werde an allen Ecken diskutiert. Und wirklich: In Berlin angekommen wandert der Romanheld durch die Straßen und bemerkt die Veränderungen. In den Lokalen wird die Judenfrage in wissenschaftlichem Duktus erörtert und in den Cafés liegen neue Zeitungen zur Auslage, die mit marktschreierischer Aufmachung alle das gleiche Thema behandeln. Als er an einer Buchhandlung vorbeikommt, fällt sein Blick in die Auslage mit den Neuerscheinungen: »Es war, als ob die Juden ein neu entdeckter Volksstamm und die deutschen Schriftsteller ihre Entdecker wären. Band an Band, Broschure an Broschure reihte sich dort unter geschmacklosen Titeln, welche bald einen Angriff, bald eine Lobrede auf das Judenthum versprachen.«64 Wohin der Blick auch fiel, überall prangerte das Wort »Jude«. Auch wenn es im realen Berlin nicht ganz so dramatisch gewesen sein wird, der Stimmungswandel in jenen Novembertagen war frappierend. Die »Pferdebahn-Affäre« war in aller Munde. Die »Erklärung« der 75 Notabeln wurde als Aufforderung verstanden, jetzt offensiver gegen die antisemitischen Tendenzen vorzugehen. Auch wenn sie nur mittelbar im Zusammenhang mit dem Affront gegen den Fabrikanten Kantorowicz entstanden war, wurde sie doch als Kommentar zu diesem Ereignis und als Mahnung gegen ähnliche gelesen. Direktor Kempf, der das Friedrichs-Gymnasium leitete, an dem Förster und Jungfer ihren Dienst verrichteten, gab der »National-Zeitung« bekannt, seine Unterschrift ebenfalls unter die »Erklärung« setzen zu wollen.65 Andere fanden die »Erklärung« unpassend, weil sie genau in jenem Moment auftauche, »so ein Jude einen Christen öffentlich geschlagen hat, ein Faktum, 63 Mauthner, S. 148. 64 Ebd., S. 158f. 65 Vgl. «NZ» vom 16.11.1880.

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welches Niemanden auffordern durfte, die Judenschaft öffentlich als verfolgt zu erklären«.66 Auch in dem für eine Unterschrift in Frage kommenden Personenkreis gab es Kritik an der »Erklärung«. Der Physiker Hermann von Helmholtz hielt sie für so schlecht und sinnlos politisiert, dass er sie nicht unterschreiben wollte.67 Der Physiologe Emil Du Bois-Reymond setzte zunächst seine Unterschrift des »guten Zwecks halber« unter das Schriftstück, das er aber auch nicht besonders bewunderte, zog sie dann aber wieder zurück.68 Andere wurden deutlicher: Der Historiker Erdmannsdörffer fand nichts widerwärtiger als die »Sucht«, die antisemitische Bewegung »mit der weißen Salbe humanitärer und liberaler Phrasen« zu behandeln, ohne die Probleme wirklich zu konfrontieren.69 Aber es gab auch geradezu euphorische Zustimmung, wie das Beispiel Karl Hillebrands zeigte: »Eben lese ich die Erklärung gegen die Antisemiten in der »Nationalzeitung«. Endlich! Wie haben wir darauf gewartet! Schämte man sich doch einem Ausländer in’s Auge zu blicken. Bei den Wallachen ist’s doch nur der Pöbel; aber bei uns sind’s Leute von Bildung oder die sich als solche geben.«70

Die schärfste Kritik an der »Erklärung« rührte, wenig überraschend, von den Verfassern der Petition her. In einer »Erwiderung«, die zuerst in der »Norddeutschen Allgemeinen Zeitung« erschien, behaupteten sie, es sei keine glückliche Stunde gewesen, als die »Erklärung« verfasst wurde. Man müsse mit Erstaunen feststellen, dass sich selbst »Männer von hohem wissenschaftlichen Ruf« zur Unterzeichnung eines Schriftstückes haben bewegen lassen, das den Gegnern »grundlose Beleidigungen« entgegenschleudere, wo doch eine »objektive Beurtheilung« vonnöten gewesen wäre.71 Spätestens mit dem Erscheinen der »Erklärung« ließ sich also nicht mehr ignorieren, dass die »Judenfrage« nun unter gebildeten Protestanten kontrovers diskutiert wurde. Wie hatte es dazu kommen können? Sicherlich haben einige, gerade unter den Liberalen, auch den früheren Diskussionen mit großem Unbehagen oder gar deutlicher 66 Siehe den Brief von Grimm an Treitschke vom 17.11.1880, Nl. Treitschke, Kasten 6, Mappe Grimm. In seinem Tagebuch führte Grimm dies am 19. November weiter aus: »Das, wie es scheint, wirklich nur zufällige Zusammentreffen der activen Heldenthaten des Herrn Kantorowitz mit der Judenadresse der Kathedersemiten hat die Folge gehabt, daß die Berliner Judenschaft von einem ungemeinen Selbstgefühle erfüllt worden ist, das sich bis in das Auftreten der Judenkinder auf der Strasse bemerklich macht, besonders aber in den unglaublich frechen Artikeln der Zeitungen wiederspiegelt.« Siehe den Eintrag vom 19.11.1880, Tagebuch von Hermann Grimm, Nl. Hermann Grimm, Bestandsnr. 340, Ms 139, Bl. 17f. 67 Vgl. den Brief Du Bois-Reymonds an Mommsen vom 14.11.1880, Nl. Mommsen, Kasten 25, Mappe Bois-Reymond. 68 Ebd. 69 Siehe den Brief Erdmannsdörffers an Treitschke vom 19.1.1881, Nl. Treitschke, Kasten 5, Mappe Erdmannsdörffer. 70 »NZ« vom 21.11.1880. 71 Zitiert nach: »NZ« vom 21.11.1880.

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Ablehnung gegenüber gestanden. Insbesondere über Agitatoren wie Stoecker oder Marr äußerte man sich in solchen Kreisen deutlich missbilligend. Je länger die antisemitische Agitation dauerte, je erfolgreicher sie wurde, je größer und breiter ihr gesellschaftlicher Zulauf und vor allem je mehr sie den Generalangriff auf den Liberalismus zu bündeln schien, desto ernster musste sie genommen werden. Nach der politischen Wende vom Frühjahr 1878 sah man die gesellschaftliche Vorherrschaft der Liberalen in vielen Bereichen abbröckeln. Als im Herbst 1880 die Antisemiten-Petition die Erfolge der Bewegung dokumentierte und verdiente, liberale Politiker wie der Stadtverordnete Straßmann durch eine antisemitische Kampagne Wahlen verloren, wurde es immer klarer: Es ging jetzt längst nicht mehr »nur« um die Juden; die »Judenfrage« stellte vielmehr den Liberalismus insgesamt in Frage. Aus dieser Perspektive überrascht es auch kaum, dass liberale Parlamentarier im Preußischen Abgeordnetenhaus dieses Thema einer parlamentarischen Erörterung zuführten. Am 13. November verfasste der Abgeordnete der Fortschrittspartei im preußischen Abgeordnetenhaus, Albert Hänel, eine Anfrage an die preußische Staatsregierung. Seit geraumer Zeit, hieß es darin, sei eine Agitation gegen die jüdischen Staatsbürger Preußens im Gange, welche schon zu Zwischenfällen und einer weitreichenden Beunruhigung geführt habe. Diese »Interpellation« erwähnte die Antisemiten-Petition, listete deren Forderungen auf und mündete schließlich in die Frage: »In Veranlassung dessen, erlaubt sich der Unterzeichnete an die königliche Staatsregierung die Anfrage zu richten: welche Stellung nimmt dieselbe Anforderungen gegenüber ein, die auf Beseitigung der vollen verfassungsmäßigen Gleichberechtigung der jüdischen Staatsbürger zielen?«72 Die damit notwendig werdende Debatte wurde auf den 20. November festgesetzt und sollte – da sie auf ein reges Interesse stieß – zwei Tage später fortgeführt werden. Am 20. November fand sich ein großes Publikum ein, die Zeitungen meldeten einen Andrang, wie ihn das Abgeordnetenhaus noch nicht erlebt habe.73 Allseits wurde befürchtet, dass ein neuer Ausbruch leidenschaftlicher Reaktionen bevorstand.74 Zumindest am ersten Tag der Debatte kam es dazu nur teilweise. Die Zuschauertribünen waren überfüllt; selbst vor dem Abgeordnetenhaus hatten sich Neugierige eingefunden. Als erster Redner begründete Hänel die Interpellation, indem er weiter auf den Charakter der Petition einging, die in ihren Forderungen den legislativen Boden betrete und daher in den Kompetenzbereich von Regierung und Parlament falle. Die Situation habe sich inzwischen derart zugespitzt, dass selbst die überparteiliche Zurückhaltung der Regierung wie eine stille Parteinahme für die Ziele der antisemitischen Bewegung aufge72 Anonymus, Die Judenfrage vor dem Preussischen Landtage, S. 1. 73 Vgl. »NZ« vom 20.11.1880. 74 Ebd.

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fasst werden könne. Daher müsse man sie zu einer Stellungnahme auffordern, auch gerade im Namen der Opfer, die diese Agitation in höchste Unsicherheit versetze. Allerdings dürfe man, glaubte auch Hänel dem Gebote größter Objektivität folgen zu müssen, nicht verschweigen, dass es unter den Juden gewisse Missstände gäbe: »Meine Herren, das ist unbestreitbar, daß in jüdischen Kreisen noch vielfach eine gewisse Sucht nach schnellem Reichthum, ein gewisses nervöses Andrängen nach äußeren Ehrenstellen sich geltend macht, daß sie sich zusammendrängen in den großen Städten, daß sie einen Zusammenhang, ein gegenseitiges Abschließen in gewissen Kreisen aufrecht erhalten, welches sie uns fremder stellt.«75

Doch dafür seien die Juden nicht selbst verantwortlich; hier wirke noch die lange Zeit ihrer Unterdrückung nach. Man könne doch nicht ernsthaft glauben, dass die Folgen einer tausendjährigen Abweisung innerhalb weniger Jahre restlos beseitigt werden könnten. Hänel verwandte damit gleich zu Beginn der parlamentarischen Debatte den Hauptargumentationsstrang, den die Liberalen schon seit langer Zeit benutzten: Jüdische Differenz wurde als ein Problem gekennzeichnet, das sich mit der vollständigen Rechtsgleichstellung allmählich auflösen würde. Zehn Jahre, nachdem diese Wirklichkeit geworden war, mussten sich die Liberalen in solchen Debatten nun fragen lassen, warum die Juden immer noch Juden seien. Das erhöhte den Druck auf die Liberalen, Widerstände gegen Integration und Akkulturation bei den Juden zu unterstellen, die sich nicht beseitigen ließen: echte kulturelle Andersartigkeit. Nur wenige blieben wie Hänel bei der Linie, die vermeintlichen Probleme als Folge der Unterdrückung und nicht als wesenhafte Eigenschaften der Juden zu begreifen. Und auch der Abgeordnete der Fortschrittspartei musste sich fragen lassen, wann die Auswirkungen der Unterdrückungspolitik nachlassen würden. Dass die Juden ein Recht auf Differenz bei gleichzeitiger Akkulturation besaßen, ja, das jüdische Identität und Integration kein Gegensatz waren, wollte kein Liberaler zugestehen. Nach Hänels Rede, die durch viele Zwischenrufe gestört worden war, beantwortete der Vizepräsident des preußischen Staatsministeriums, Otto Graf von Stolberg-Wernigerode, die Anfrage. Er erklärte im Namen der Regierung lediglich, dass man nicht die Absicht habe, die bestehende Gesetzeslage zu ändern. Er verlor allerdings kein kritisches Wort weder über die antisemitische Bewegung noch über die Geschehnisse in diesem Zusammenhang. Der liberale Abgeordnete Rudolf Virchow hatte mit seiner Einschätzung der Regierungserklärung ganz Recht: »Sie war ja korrekt, aber kühl bis ans Herz hinan!«76 Der berühmte Mediziner war es auch, der die eigentliche Absicht der 75 Anonymus, Die Judenfrage vor dem Preussischen Landtage, S. 4. 76 Ebd., S. 24. Interessanterweise provozierte gerade die Rede Virchows heftige Reaktionen. Nicht nur antisemitische Studenten fanden in ihm ein neues Feindbild. Vgl. z. B. Simplicius

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Anfrage offen legte: Man habe dem Publikum dokumentieren wollen, »daß die Bestrebungen, welche jetzt laut werden, weder in der Regierung, noch in diesem Hause irgend einen Wiederhall finden«.77 Das misslang gründlich, auch, wie sich zeigen sollte, weil im Parlament genau diese antisemitischen Stimmen laut werden konnten. Der erste Tag verlief noch relativ ruhig, wenn man einmal von den vielen Zwischenrufen absieht. Der zweite Sitzungstag sollte jedoch die Hoffnungen der Liberalen auf dem linken Flügel gänzlich zunichte machen. Besonders schmerzlich muss es für die Linksliberalen gewesen sein, dass sich die Nationalliberale Partei aus der gesamten Debatte weitgehend heraushielt. Von ihr kam nur eine einzige Stellungnahme: die des Abgeordneten Max Hobrecht. Für eine wirksame Bekämpfung der antisemitischen Agitation fiel der rechte Flügel des deutschen Liberalismus offensichtlich aus, da er jede Nähe zur Fortschrittspartei vermeiden wollte. Darüber hinaus erlosch am zweiten Tag die Hoffnung, im Abgeordnetenhaus keine derjenigen Stimmen zu hören, gegen die die ganze Anfrage gerichtet war. Der Hofprediger Stoecker nutzte seinen Abgeordnetenstatus und meldete sich zu Wort, um die ihm gebotene Plattform für eine hochpolemische Verteidigung seiner Bewegung zu nutzen. Unter anderem tadelte er die »Erklärung« der Notabeln, an der er vor allem die Unterschrift vieler Gelehrte bedauerte, von denen einige – wie Mommsen – gar ihre wissenschaftliche Arbeit verleugnen würden.78 Stoecker hatte es – das war die Erkenntnis des zweiten Sitzungstages – mit seinen Tiraden aus den Versammlungsräumen Berlins bis in das Haus der Abgeordneten geschafft. Daher muss die Anfrage Hänels insgesamt als deutlicher Misserfolg für die Linksliberalen gewertet werden. Zwar hatte die Regierung zugesagt, die bestehenden Gesetze nicht ändern zu wollen. Aber war die Situation schon derart verschlechtert, dass man diese Zusage als Erfolg feiern musste? Letztlich brachte die Interpellation entgegen den Absichten der Linksliberalen eher eine Stärkung der antisemitischen Seite, verlieh ihr doch das Schweigen der Regierung, wo sie hätte verurteilen sollen, zusätzliche Legitimität. Einige der Reden in der parlamentarischen Auseinandersetzung dokumentierten – mit positivem oder negativem Impetus – durchaus, dass sich die Juden z. T. mit großem Erfolg integriert hatten. Es gehörte ja zu den großen Schwierigkeiten solcher Debatten, dass in ihnen einerseits Integration und Akkulturation befürwortet und eine Radikalisierung derselben gefordert wur-

Simplicissimus, Anhang. Im Jerusalemer Zentralarchiv befinden sich Briefe an Virchow, die sich größtenteils auf seine Rede im Abgeordnetenhaus bezogen. Vgl. die Briefe an Virchow, CAHJP, Nr. 6542. 77 Anonymus, Die Judenfrage vor dem Preussischen Landtage, S. 24. 78 Dabei spielte er direkt auf die Dekompositionsthese in Mommsens »Römischer Geschichte« an.

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den. Andererseits entstanden die meisten Probleme, auf die man besonderes Augenmerk legte oder deren Existenz man glaubte zugeben zu müssen, gerade aus dieser Integration. An vielen Stellen wurde dieser Zwiespalt gerade für die bürgerliche Bildungskultur erörtert. Das Thema Öffentlichkeit und Bildungskultur wurde mit dem Schlagwort der »jüdischen Presse« von vielen Rednern berührt. Auch die Diskussion, in welcher Form Juden Anteil an Kunst und Wissenschaft hätten, wurde fortgesetzt. In welche Absurditäten die Vorwürfe gegen einen jüdischen Bildungsübereifer führten, stellte Virchow in seiner Rede klar: »Aber wenn man ihnen ihre Bildung vorwirft und daraus einen Gegenstand macht, den man geradezu in darvinistischem [sic!] Sinne als Kampf ums Dasein bezeichnet, dann hört jede mögliche friedliche Entwickelung auf, da ist kein Frieden mehr zu halten, wenn Sie so weit gehen, daß Sie dem Vater einen Vorwurf daraus machen, daß er seine Kinder in eine höhere Schule schickt.«79

An dem Allheilmittel der »Bildung«, von dem liberale Bürger in ihrem gesellschaftspolitischen Denken so überzeugt waren, wollte auch Virchow festhalten. Im Gegenteil seien die Liberalen immer überzeugt davon gewesen, »Bildung und Erziehung« trügen dazu bei, »die Gegensätze abzumildern«.80 Man müsse zwar feststellen, dass nicht alle Juden vortreffliche Personen seien. Aber sie müssten in der Bildungskultur nur heimischer werden, dann würde die »Judenfrage« von alleine verschwinden. Das war das Credo derjenigen Liberalen, die sich gegen die Antisemiten aussprachen. Zu bestreiten, dass die Juden grundsätzlich ein Problem darstellten, gehörte nicht dazu. So musste Berthold Auerbach, nachdem er die »hochgradig erhitzte Atmosphäre der Gemüter« im Preußischen Abgeordnetenhaus miterlebt hatte, trotz der vielen Jahren seiner Vermittlungsarbeit zwischen Juden und Nichtjuden resigniert feststellen: »Vergebens gelebt und gearbeitet!«81 »Und wenn ich mir auch wieder sage, es ist vielleicht nicht ganz so arg, so bleibt doch die entsetzliche Tatsache, daß solche Roheit, solche Verlogenheit und solcher Haß noch möglich ist.«82

79 80 81 82

Anonymus, Die Judenfrage vor dem Preussischen Landtage, S. 30. Ebd. Siehe den Brief Auerbachs an Jakob Auerbach vom 23.11.1880, BAS, Bd. 2, S. 643. Ebd.

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5.4 Eskalation II: Die »Judenfrage« in den Bildungsinstitutionen Berlins »Wenn Zeiten kommen, wo Männer reden wie die Kinder, dann ist es kein Wunder, wenn Kinder reden wie die Männer.«83

Zeitgleich zur Debatte im Preußischen Abgeordnetenhaus brodelte es in diesen Novembertagen an den Bildungsinstitutionen der Stadt weiter. Die Studenten hatten die Aktivitäten intensiviert, mit denen sie für die AntisemitenPetition warben. Durch Dulon, der inzwischen nach Leipzig zurückgekehrt war, entwickelten sich auch dort eine Bewegung, die rasch Zulauf bekam. Mittels studentischer Kontakte, vor allem über das Verbindungswesen, gelangte die Agitation für die Petition an die meisten protestantischen Universitäten, mit z. T. beträchtlichen Erfolgen. Im Umfeld dieser Bemühungen entwickelten sich die ersten antisemitischen Organisationsstrukturen, wobei Berlin eine Vorreiterrolle einnahm. Treitschke wurde von den antisemitischen Studenten zu einer Art Leitfigur auserkoren. Am gleichen Tag, als Treitschke in der »Post« auch im Namen der Studenten den Hinweis auf seine Person in der »Erklärung« als Verleumdung zurückgewiesen hatte, kam es in seiner Vorlesung zu einer Demonstration. Der Hörsaal war überfüllt. Unter den 600 Zuhörern befanden sich längst nicht nur Studenten, auch Offiziere und ältere Herrschaften waren anwesend. Als Treitschke das Podium betrat, brandete lauter Beifall auf, in dem nur einige wenige Protestrufe zu hören waren. Treitschke war durch die Huldigungsbekundungen offenkundig überrascht, bedankte sich aber mit einigen Worten. Er sei auf dem Katheder stets durch das Gefühl geleitet gewesen, mit der deutschen Jugend in Einklang zu sein. Dennoch habe er in seinen Veranstaltungen nichts anderes getrieben als die »heilige Wissenschaft«.84 Zugleich lehne er es ab, Themen zu meiden, nur weil sie heute Leidenschaften erregen würden. Allerdings müsse er seine Studenten davor warnen, mit politischen Demonstrationen an die Öffentlichkeit zu treten. Längst nicht alle Studenten solidarisierten sich mit Treitschke, wie schon einige Tage später, am 24. November, offenkundig wurde. Im VI. Auditorium hielt Prof. Dr. Adolf Lasson sein Kolleg über die »Grundprobleme der Philosophie«. Lasson (1832–1917), ein gebürtiger Jude, der 1853 zum Protestantismus konvertiert war, hatte sich 1877 in Berlin habilitiert und lehrte seitdem als Privatdozent für Philosophie. Politisch gehörte Lasson der Konservativen Par83 Treitschke, Antwort auf eine studentische Huldigung, BAS, Bd. 2, S. 612. 84 Ebd., S. 610.

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tei an und arbeitete für die innere Mission. Im November 1880 war seine Vorlesung außerordentlich gut besucht. Als Lasson an diesem Tag den Raum betrat, mischten sich Beifall und Zischen miteinander. Auch sein folgender Vortrag wurde immer wieder unterbrochen; allerdings gab er durch zahlreiche Anspielungen dazu genügend Anlass. Die Studenten sollten sich an den alten Griechen ein Beispiel nehmen, welche die ersten gewesen seien, die in ethischen Fragen eine strenge, vernünftige Methode verwandt und sich nicht von Leidenschaft oder Urteilslosigkeit verleiten lassen hätten. ›Warum hat man denn‹, fragte Lasson seine Studenten weiter, ›philosophiert? Hätte man denn nichts Besseres thun können? – Juden hetzen, Antisemitenpetitionen unterschreiben.‹ Nach diesem letzten Ausspruch tobte der Saal, wobei die Beifallsbekundungen deutlich überwogen, aber auch erneut Zischen zu hören war.85 Der Tumult war so groß, dass sich der Philosophiedozent von seinem Platz erhob und bekannte: ›Meine Herren! Wir treiben miteinander die wichtigsten Dinge, und da müssen Sie es mir nicht übel nehmen, wenn ich gelegentlich meine innersten Gefühle kund gebe, vor einem so auserwählten Kreise hoch gebildeter Zuhörer.‹ Und er fügte mit Blick auf die antisemitische Bewegung hinzu: ›Diese Bestrebungen sind eine Schmach für Deutschland.‹ Teilweise müssen seine Worte im Lärm der unterschiedlichen Parteien untergegangen sein. Als er sich wieder verständlich machen konnte, forderte er diejenigen, die seine Worte mit einem Zischen beantwortet hatten, zum Gehen auf: Darauf standen nur zwei Studenten auf – einer von ihnen, der Lehramtskandidat Max Pomtoro, berichtete am nächsten Tag Treitschke von diesem Vorfall – und verließen unter »Raus mit ihnen!«-Rufen den Saal. Die verschiedenen Lager deuteten das Ereignis unterschiedlich. Der Student Pomtoro sprach von einer eklatanten Verletzung, die Lasson der »Ehre der Berliner Universität, des Hochsitzes deutscher Wissenschaften« zugefügt worden habe, und lag damit auf einer Argumentationslinie mit antisemitisch eingestellten Studenten.86 Empörung über eine Ehrverletzung fand sich auch in den Beurteilungen der Gegenseite, nur sei diese nicht von Lasson, sondern von der gesamten antisemitischen Bewegung ausgegangen, die sich nun auch an der Universität ausbreite. Die »Verrohung unter der Maske der Bildung«, meinte der »Berliner Börsen-Courier«, sei soweit vorangeschritten, man könne von einem »Terrorismus der Studentenbänke« gegen die Lehrfreiheit sprechen.87 Dabei wurden allerdings schon die Geschehnisse in der folgenden 85 Obwohl sich die verschiedenen Augenzeugenberichte in den einzelnen Formulierungen unterscheiden, gibt es zwischen ihnen in der Sache kaum Differenzen. Die längste und ausführlichste Darstellung findet sich in einem Schreiben Pomtoros an Treitschke vom 25.11.1880, Nl. Treitschke, Kasten 8, Mappe Pomtoro. Für weitere Berichte vgl. »Der Reichsbote« vom 7.11.1880 und »IWS« vom 2.12.1880. 86 Siehe das Schreiben Pomtoros an Treitschke vom 25.11.1880, Nl. Treitschke, Kasten 8, Mappe Pomtoro. 87 »BBC« vom 25.11.1880.

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Woche mit in Betracht gezogen, als der Philosoph erneut an das Katheder treten wollte.88 Wie sich bereits in dem Schreiben Pomtoros angekündigt hatte, waren die antisemitischen Studenten in der abgelaufenen Woche nicht untätig gewesen und hatten sich zu einer organisierten Störung entschlossen. Diesmal war das Auditorium brechend voll; die Besucher standen bis auf dem Flur hinaus. Beim Eintreten des Dozenten brach das Toben los, ihm schallten Gehässigkeiten wie »Sie sind ja selbst ein Judenjunge!« entgegen. Obwohl Lasson – ein Augenzeuge will ihn erbleicht und kaum eines Wortes mächtig gesehen haben – versuchte, sich Gehör zu verschaffen und bestimmte Zeitungsberichte über seine Aktivitäten klarzustellen, drang er mit seinen Worten kaum durch. Das Chaos war schließlich so groß, dass der Dekan der Philosophischen Fakultät erscheinen musste und die Veranstaltung abgebrochen wurde. Die verbliebenen Studenten riefen sich gegenseitig noch einige Zeit lang Losungen wie ›Vivat Treitschke !‹ oder ›Vivat Lasson !‹ entgegen. Dieser »Hexensabbath«, wie die »National-Zeitung« die Ereignisse nannte, wirkte nach: Auf der einen Seite gab es Solidaritätsadressen von Studenten für den Philosophen.89 Andererseits versammelten sich am darauf folgenden Tag antisemitische Studenten zu einem Protest gegen den Philosophielehrer in einem Restaurant Unter den Linden.90 Dort wurde beschlossen, erst dann mit den Protesten in Lassons Vorlesung aufzuhören, wenn auch seine Unterstützer mit ihren Beifallsbekundungen die Veranstaltungen nicht mehr stören würden. Außerdem beschloss man, die nunmehr entstandene Bewegung besser zu organisieren.91 Angesichts dieser Entwicklungen war es sicher eine kluge Idee, in der folgenden Woche Lassons Vorlesung ausfallen zu lassen, was denn auch der entsprechende Bericht der inzwischen eingeschalteten politischen Polizei erleichtert vermerkte.92 Doch solche Maßnahmen halfen nicht gegen das grundsätzliche Problem, wie man – und hier insbesondere die Universitätsleitung – mit der aufgeputschten Situation umgehen sollte. Die Frage der inneruniversitären Disziplin verschärfte sich sogar noch in den folgenden Wochen und Monaten, schließlich hatten die antisemitischen Studenten beschlossen, sich zu organisieren. So gründeten sie im November das Berliner »Comitee zur Verbreitung der Petition unter der Studentenschaft«, woraus einen Monat später der erste »Verein Deutscher Studenten« werden sollte; bei-

88 Auch hier gibt es mehrere Berichte: »NZ« vom 2.12.1880, »Der Reichsbote« vom 3.12.1880 sowie »IWS« vom 9.12.1880. 89 »NZ« vom 4.12.1880. 90 »Berliner Ostend-Zeitung« vom 7.12.1880. 91 Ebd. 92 Siehe den Bericht vom 8.12.1880, Brand. LHA Rep. 30 Berlin C, Tit. 95, Sekt. 5, 15219 (Zur Juden-Frage, 1880–1881), Bl. 20. Für das Zitat aus der »NZ« siehe die Ausgabe vom 2.12.1880.

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des stieß sofort auf den Widerstand der Universitätsadministration.93 Das war jedoch erst der Anfang: Mit der Organisation der Unterschriftenaktion entstanden überall in deutschen Universitätsstädten solche Vereine, die in den folgenden Jahren zum festen Bestandteil des studentischen Lebens werden sollten.94 Gleichzeitig waren die Gegner dieser Bewegung nicht untätig: Im Januar 1881 wurde ebenfalls in Berlin das »Comitee zur Bekämpfung der antisemitischen Agitation unter den Studirenden« ins Leben gerufen.95 Dieses musste nach einer Order der Universitätsleitung seine Aktivitäten einstellen. Dennoch gelang auch hier eine Umwandlung in eine beständige Organisationsstruktur; im Sommer 1881 bildete sich die »Freie Wissenschaftliche Vereinigung«.96 Die vielfältigen Bemühungen der Universitätsadministration unter Leitung von Rektor Hofmann, diese Politisierung der Studentenschaft zu verhindern, fruchteten letztlich nicht. Wirkungsvoller waren sie hingegen, wenn sie gegenüber den Professoren demonstrierten, wo die Grenzen der Politisierung vom Katheder herunter lagen. Das sollte sich zeigen, als man gegen Treitschkes Unterstützung der studentischen Aktivitäten vorging. Wie bereits erörtert, hatte Treitschke in einem persönlichen Gespräch mit dem Jurastudenten Dulon signalisiert, dass er dessen Bemühungen um die Antisemiten-Petition unter den Studenten zwar nicht durch seine eigene Unterschrift unterstütze, aber ausdrücklich billige. Als im Laufe des Novembers das Zirkular mit der Anspielung auf Treitschke an der Universität kursierte, konnte das der Universitätsleitung nicht verborgen bleiben. Ausgerechnet Mommsen erhielt als einer der ersten davon Kenntnis und legte Rektor Hofmann ein Exemplar vor. Beide waren sofort der Meinung, dass man Treitschke wegen der Angelegenheit zur Rede stellen müsse.97 Weil Treitschke nicht sofort auf die entsprechende Anfrage reagierte, hielt es der Althistoriker für seine Pflicht, die Angelegenheit publik zu machen. Am Ende seiner Schrift »Auch ein Wort über unser Judentum«, auf die noch ausführlicher einzugehen sein wird, zitierte er die Passage aus dem studentischen Umlauf und fügte hinzu: Er könne sich zwar nicht vorstellen, dass Treitschke die Petition unterschrieben habe, und glaube auch nicht, dass er als Berater der antisemitischen Studenten fungiert haben könne. Aber er sei gemeint, und daher müsse man eine Richtigstellung von ihm verlangen.98 93 Für die Gründung des Berliner »Vereins deutscher Studenten« vgl. das Schreiben des Vereins an den Rektor vom 14.12.1880, inkl. Statutenentwurf, HU-Archiv, Rektorat und Senat, Akten-Nr. 638, Bl. 10f. Darin findet sich auch die ablehnende Stellungnahme des Universitätsrichters. 94 Vgl. Kampe, Studenten und »Judenfrage«. 95 Vgl. das Verhandlungsprotokoll mit den Vertretern des Komitees vom 31.1.1881, HUArchiv, Rektorat und Senat, Akten-Nr. 638, Bl. 19. 96 Vgl. Pickus. 97 Vgl. den Brief Beselers an Treitschke vom 25.11.1880, BAS, Bd. 2, S. 645f. 98 Vgl. Mommsen, Auch ein Wort über unser Judenthum, BAS, Bd. 2, S. 708.

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Als Mommens Schrift in den Handel kam, hatte sich Treitschke schon erklärt. Er behauptete dabei, zum ersten Mal am 21. November von dem betreffenden Schriftstück gehört zu haben. Er habe sogleich nach Leipzig an den mutmaßlichen Verfasser des Zirkulars geschrieben und von diesem die Zurücknahme desselben sowie eine öffentliche Erklärung gefordert, die auch in der »Leipziger Zeitung« erfolgte.99 Treitschkes Darstellung des Gespräches mit Dulon im Oktober war wenig glaubwürdig. Er erinnerte sich, dass er sich darin mit der Petition nicht einverstanden erklärt habe, die er auch nicht unterschreiben wollte. Als akademischer Lehrer könne er sich an Kundgebungen der Studenten nicht beteiligen und lehne auch deren Versuche ab, auf die gesetzgebende Gewalt Einfluss auszuüben. Gleichzeitig wollte er Dulon ermahnt haben, den akademischen Frieden nicht zu stören.100 Dieser habe seine Version später reumütig bestätigt, wie Treitschke weiter behauptete. Obwohl der Jurastudent einen ganz anderen, wesentlich glaubwürdigeren Gesprächsverlauf in Erinnerung hatte, stimmte er in der Tat Treitschkes Bericht zu, wobei der Respekt vor dem berühmten Professor, dem er nicht schaden wollte, ausschlaggebend gewesen sein dürfte. Als jedoch sein Name in den Zeitungen genannt wurde, er dabei in ungünstigem Licht erschien und ihm seine Leipziger Kommilitonen die Satisfaktionsfähigkeit verweigerten, musste er seine Ehre retten und schrieb in einem Brief an Treitschke, wie aus seiner Sicht das Gespräch verlaufen sei. Es sei doch kaum glaubwürdig, dass er ein immerhin 10-minütiges Gespräch so gänzlich missverstanden habe, von dem er noch dazu seinen Mitstreitern sofort berichtet habe, während Treitschke seine Version erst Wochen später fixiert habe. Er beharrte darauf, dass insbesondere die von ihm zitierten, wohlwollenden Worte Treitschkes so gefallen seien. Auch habe die Unterredung in einer freundlichen Atmosphäre stattgefunden, in der sich Treitschke der Sache sehr aufgeschlossen gezeigt habe.101 Wie so oft irritierte diese andere Version Treitschke nicht.102 Gegenüber Mommsen fand er es verdrießlich, dass dieser die Angelegenheit in die Öffentlichkeit gebracht hatte, schließlich schade das dem Ruf der Universitäten. »Die Leute draußen müssen ja glauben, daß wir Collegen in beständigem Hader lebten, während das collegialische Verhältnis doch im Ganzen erfreulich ist.«103 Mommsen wiederum gab sich offensichtlich damit zufrieden, dass sein Kollege mit seiner Distanzierung von dem Studentenzirkular den akademischen Frieden wiederhergestellt hatte. Auch die Universitätsleitung ließ mit 99 Vgl. den Brief Treitschkes an Mommsen vom 17.12.1880, Nl. Mommsen, Kasten 122, Mappe Treitschke. 100 Vgl. Treitschke, Erwiderung an Herrn Th. Mommsen, BAS, Bd. 2, S. 747f. 101 Vgl. den Brief Dulons an Treitschke vom 18.12.1880, BAS, Bd. 2, 764–769. 102 Vgl. die Abschrift eines Briefes von Treitschke an Hirzel vom 23.12.1880, Nl. Treitschke, Kasten 16, Bl. 39. 103 Siehe den Brief Treitschkes an Mommsen vom 15.12.1880, Nl. Mommsen, Kasten 122, Mappe Treitschke.

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dieser Version die Sache auf sich beruhen. Doch war Mommsen überzeugt, dass durch die Verzögerung, die sich bei Treitschkes Reaktion ergeben hatte, wertvolle Zeit im Kampf gegen den studentischen Antisemitismus verloren gegangen war. So war Treitschkes Position lange genug ungeklärt gewesen, um den Studenten als Legitimation zu dienen. Als seine Stellungnahme dann kam, war es schon zu spät: »[…] wenn er jetzt certificirt, ja dann salvirt er vielleicht sich, der an der Universität angerichtete Schaden ist geschehen.«104 Angesichts der chaotischen Zustände und lang anhaltenden Zerwürfnisse, die sich unter den Studenten Berlins ergeben hatten, kann man dieser Sicht kaum ihre Plausibilität absprechen. Die universitären Auseinandersetzungen hatten zwar keine un-, doch mittelbare Auswirkungen auf das Schulwesen, weil dort die Polarisierung von der Universität durch die das studentische Leben imitierenden Schüler, aber auch durch ihre Lehrer teilweise übernommen wurde. Zunächst allerdings sollten die Stadtpolitiker die Entwicklung vorantreiben. Die »Pferdebahn-Affäre« war gerade ruchbar geworden, als bereits am 11. November in der Berliner Stadtverordnetenversammlung eine Anfrage von den Verordneten Wilhelm Hermes, Paul Langerhans und anderen dazu eingereicht wurde: »Hat der Magistrat Kenntniß genommen von der Aufführung zweier Lehrer einer städtischen höheren Lehranstalt an einem öffentlichen Ort in Beziehung auf Mitbürger jüdischer Konfession?«105 In seiner Begründung der Anfrage wies der Stadtverordnete Hermes auf den Zusammenhang hin, der in der Stadt ausführlich diskutiert wurde: Wie konnte es möglich sein, dass »zwei Lehrer von so großer Bildung« »auf einer so niedrigen sittlichen Höhe« stünden?106 Für den Stadtverordneten lag es auf der Hand, dass Förster und Jungfer gerade am Friedrichs-Gymnasium, wo sie mit ihrem Konfessionshass die Beziehungen zu den zahlreichen jüdischen Schülern vergiften würden, untragbar geworden waren. Dem schlossen sich auch die anderen Abgeordneten an, so dass die Schulverwaltung aufgefordert wurde, die entsprechenden disziplinarischen Maßnahmen gegen die beiden Lehrer einzuleiten. In der Schulaufsichtsbehörde, dem »Königlichen Provinzial-Schul-Kollegium«, sah man den Fall keineswegs mit Wohlwollen. Auf höchste ministerielle Aufforderung hin begann man sofort nach Bekanntwerden des Geschehens mit einer Untersuchung. Kultusminister Robert von Puttkamer räumte den Ermittlungen Priorität ein. Bereits am 15. November legte der Präsident des Schulkollegiums seinem Minister einen Bericht vor und begründete den Beschluss, ein Disziplinarverfahren einzuleiten. Allerdings wollte man – und hier stimmte der Kultusminister offenkundig zu – die Lehrer nicht schon bei 104 Siehe den Brief Mommsens an Grimm vom 12.12.1880, BAS, Bd. 2, S. 717. 105 Magistrat zu Berlin, S. 458. 106 Ebd.

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der Eröffnung des Verfahrens vom Dienst suspendieren.107 Bereits in diesem Bericht wurde deutlich, dass die preußische Administration zum Einschreiten gegen Antisemitismus willig war, wenn dieser die Funktion öffentlicher Einrichtungen und Ämter gefährdete und wenn genügend öffentlicher Druck vorhanden war. Offene Feindschaft gegenüber Juden war mit öffentlichen Ämtern genauso wenig vereinbar wie – das sollte sich später herausstellen – die Verteidigung der Juden. Obwohl die Angelegenheit damit einer längeren amtlichen Untersuchung überantwortet worden war, sorgte sie weiterhin für Aufsehen. Antisemitisch eingestellte Presseorgane bemühten sich, die öffentliche Meinung auf die Seite der Lehrer zu ziehen und Kantorowicz zu denunzieren. In solchen Kreisen wurden die beiden Lehrer inzwischen zu Helden und der jüdische Fabrikant zu einer wahren Schurkengestalt stilisiert.108 Eine weitere Meldung verdeutlichte die Welle der Erregung, die diese Entwicklungen verursachten: Schüler der Obersekunda des Friedrichs-Gymnasiums verschafften dem sicher erstaunten Leser einen Einblick in die erste Unterrichtsstunde, die Jungfer nach dem Vorfall in der Klasse gegeben hatte. Dort habe er erklärt, dass er sich keiner Zurücksetzung seiner jüdischen Schüler bewusst sei, wogegen – wie die Obersekundaner behaupteten – ihre jüdischen Mitschüler keinen Protest erhoben hätten. Ein christlicher Schüler sei daraufhin aufgestanden und habe dem erfreuten Lehrer verkündet, »daß seine Schüler […] den beiden Herren Doktoren, deren Unterricht sie aus langjähriger Erfahrung schätzen und deren Charakter sie achten gelernt hätten, ihre ehrerbietige Verehrung unverändert bewahren würden«.109 Jungfer habe sich dafür bedankt und dem Redner sowie dem jüdischen Klassenprimus die Hand gereicht. Eine solche Erklärung Minderjähriger zu einem hochbrisanten Thema setzte weitere Schübe der Entrüstung frei, die nicht weniger wurden, als die jüdischen Schüler dieser Obersekunda ebenfalls in der Zeitung verkündeten, vorher weder über die Lobrede ihrer Mitschüler auf Jungfer in Kenntnis gesetzt worden zu sein noch sie gebilligt zu haben.110 Spätestens an diesem Punkt war ein Schreckensszenario wahr geworden: Die Politisierung hatte das Klassenzimmer erreicht. Unter den jüdischen und nichtjüdischen Schüler herrschten un-

107 Vgl. den Bericht des Präsidenten der Schulkollegiums Herwig an den Kultusminister vom 15.11.1880, GStA Pk, I. HA Rep. 76 VI, Sekt. XIV. Z, 39 Bd. III (1869–1883), lauf. Nr. U II 3370. 108 Vgl. etwa das Schreiben von Hans Runing »Zur Charakteristik des Juden Kantorowicz und seiner Freunde« an Adolf Stoecker vom 11.11.1880, GStA Pk, I. HA Rep. 92, Nl. Stoecker, Briefbuch 1880, Bl. 60f. Ähnliche Charakteristiken finden sich in den verschiedensten Flugschriften, die den Fall zu dokumentieren beanspruchten. Vgl. Simplicius Simplicissimus und Anonymus, Der Fall Kantorowicz. 109 »NZ« vom 17.11.1880. 110 »NZ« vom 18.11.1880.

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übersehbare Meinungsverschiedenheiten, wenn nicht gar offene Feindseligkeiten. Der Direktor des Friedrichs-Gymnasiums eilte sofort nach Veröffentlichung der Schüler-Erklärung in die Klasse, um den Schülern einen ernsten Verweis zu erteilen. Worüber sich Kempf besonders erregte, war die Tatsache, dass die nichtjüdischen Schüler ihre jüdischen Mitschüler bewusst ausgeschlossen und die Verlautbarung trotzdem im Namen aller verkündet hatten. Das Provinzial-Schulkollegium und das preußische Kultusministerium, allen voran der Minister Puttkamer, beobachteten den Vorfall mit großer Sorge und hielten den Direktor zu seinen Ermittlungen an. Es wurde immer sichtbarer, dass die Debatten um die »Judenfrage« auch an den Schulen zu einem Disziplinarproblem wurden. Hinzu kam, dass sich auch die Lehrerschaft zunehmend polarisierte. In einer Zusammenschau über die Entwicklungen der letzten Wochen musste das Provinzial-Schulkollegium dem Minister gegenüber erschrocken konstatieren, »wie sehr diese Frage die hiesige Lehrerwelt in den Kreis ihrer Bewegung, und zwar über das Maß des Zulässigen hinaus, gezogen hat«.111 Die »Pferdebahn-Affäre« stehe leider nicht alleine. Den unbedachtesten Ausbruch antisemitischer Parteinahme verdanke man dem Lehrerkandidat Dr. Ernst Henrici von der Victoria-Schule, der in zwei öffentlichen Versammlungen jede Grenze gebotener Mäßigung verletzt habe.112 Bei einer Anhörung durch das Schulkollegium hatte Henrici keine seiner Äußerungen zurücknehmen wollen, so dass es der Behörde gerechtfertigt erschien, die gerade nachgesuchte Bestätigung seiner Berufung zum ordentlichen Lehrer an der Schule abzulehnen. Henrici fand sich damit auf der Straße wieder, ohne dass ein formelles Disziplinarverfahren gegen ihn nötig geworden war. Doch auch das blieb kein Einzelphänomen. An den Schulen brach eine offene Diskussion unter den Lehrern aus: In seiner Schrift »Die Judenfrage und der Gymnasiallehrer: Ein Betrag zur Richtigstellung der öffentlichen Meinung« stellte ein Kollege von Förster und Jungfer am Friedrichs-Gymnasium, Ernst Siecke, die entscheidende Frage: »Welche Stellung muß einem Lehrer erlaubt sein, in der brennendsten Tagesfrage, betreffend die Stellung des semitischen Elementes im germanischen Staatsleben, zu nehmen […]?«113 Um die Antwort vorwegzunehmen, empörte sich Siecke sogleich über die Art und Weise, wie man mit seinen beiden Kollegen umgegangen sei. Insbesondere die Zeitungen hätten versucht, diese Herren in der Öffentlichkeit zu ruinieren. Zur Sache schrieb er: Sicherlich müsse man sich im Unterricht jeder politischen Stellungnahme enthalten; man könne allerdings einem gebildeten 111 Siehe den Bericht des Schulkollegiums an den Kultusminister vom 12.1.1881, GStA Pk, I. HA Rep. 76 VI, Sekt. XIV. Z, 39 Bd. III (1869–1883), lauf. Nr. U II 191. 112 Vgl. zu Henricis Engagement etwa Henrici. 113 Siecke, S. 4.

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Menschen nicht verbieten, sich zu aktuellen Tagesfragen eine Meinung zu bilden. Gerade in seinem Anspruch als wissenschaftlich Gebildeter würde man ihn sonst beschränken.114 Offensichtlich teilten viele Lehrer an den höheren Schulen Berlins die Sichtweise Sieckes. So jedenfalls muss man die Erklärung von 159 Lehrern interpretieren, die am 2. Dezember 1880 verfasst wurde und in der Partei für Förster und Jungfer ergriffen wurde.115 Das Schulkollegium ermittelte auch gegen diese Erklärung, weil es hier ebenfalls die »Grenze zulässiger Meinungsäußerung« für überschritten hielt.116 In dem erwähnten Überblick über den Einfluss der »Judenfrage« auf die Lehrerschaft führte das Schulkollegium einen weiteren, viel gravierenderen Fall an, der noch dadurch verschärft wurde, dass sich nunmehr inneruniversitäre Konflikte um die »Judenfrage« auf das Schulwesen auswirkten. Der bereits erwähnte Philosoph Adolf Lasson war seit 1859 Lehrer an der Luisenstädtischen Realschule – eine Tätigkeit, die er seit 1877 parallel zu seinem akademischen Lehrauftrag weiter erfüllte. An der Realschule waren die im Herbst aufkommenden Debatten über die »Judenfrage« keineswegs spurlos vorübergegangen. Insbesondere im Lehrerkollegium hatten sich zwei Gruppen herausgebildet: einem Teil aus vornehmlich älteren, liberal eingestellten Lehrern stand eine zweite Gruppe gegenüber aus zumeist jüngeren, kriegserfahrenen Kollegen, welche antiliberal, konservativ und stärker religiös seien.117 Letztere sprachen sich deutlich gegen die Juden aus, und so war mit Aufkommen der Bewegung die Einheit im Kollegium gefährdet. Als durch die Zeitungsberichte ruchbar geworden war, dass Lasson an der Universität zur »Judenfrage« Stellung bezog, konnte das auch an der Luisenstädtischen Realschule nicht unbemerkt bleiben. In der 10-Uhr-Pause des 26. Novembers ergab sich zwischen Lasson und dem Lehrer Dr. Emil Henrici – einem Bruder des wenige Wochen später stadtbekannten Antisemiten Ernst Henrici – ein Gespräch auf dem Schulhof.118 Henrici sprach seinen Kollegen auf den Bericht im »Berliner 114 Der Frankfurt Gymnasiallehrer Karl Fischer, der als einer der wenigen Protestanten bereits früh gegen Treitschke Widerspruch eingelegt hatte, unterzog die Schrift einer beißenden Kritik: Fischer, Antisemiten und Gymnasiallehrer. 115 Vgl. »Die Post« vom 27. Januar 1881. 116 Siehe den Bericht des Schulkollegiums an den Kultusminister vom 12.1.1881, GStA Pk, I. HA Rep. 76 VI, Sekt. XIV. Z, 39 Bd. III (1869–1883), lauf. Nr. U II 191. 117 Ebd., Bl. 16. 118 Da sich an dieses Gespräch, das ohne Dritte stattfand, ein Disziplinarverfahren anschloss, sind die – jeweils zu zwei verschiedenen Zeitpunkten gemachten – Zeugenaussagen der beiden Beteiligten widersprüchlich und von gegenseitigen Vorwürfen geprägt. Im Übrigen sind alle vier Aussagen mindestens einige Tage später mit sehr unterschiedlicher Detailtreue zu Protokoll gegeben worden. Es ist daher unmöglich, den exakten Verlauf des Gespräches zu rekonstruieren. Zwar wurde in dem Disziplinarverfahren in wesentlichen Punkten der Version Henricis zugestimmt; in ihren beiden Varianten kann sie aber nicht die Erregung Lassons erklären, zu der es ohne Zweifel gekommen sein muss. Es soll im Folgenden versucht werden, einen plausiblen Hergang – so weit überhaupt möglich – wiederzugeben. Die ersten beiden Zeugenaussagen

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Börsen-Courier« vom 25. November an, in dem von Lassons Stellungnahmen zur »Judenfrage« in seiner Vorlesung berichtet wurde. Als dieser den Inhalt des Berichtes bestätigt hatte, entgegnete Henrici sinngemäß: ›Hätte ein Christ sich erlaubt, Juden so zu behandeln, wie Sie es da mit Christen gemacht haben, was hätte das für ein Geschrei in solchen Blättern gegeben.‹ Daraufhin soll Lasson geantwortet haben, dass er lediglich seinen Standpunkt wiedergegeben habe, den Henrici als scharf qualifizierte und der im Übrigen nicht der seine sei. In Henricis Version soll der Philosophiedozent erregt eingeworfen haben, da könne man keinen anderen Standpunkt haben. In Lassons Wiedergabe des Gespräches erscheint dieser plötzliche Ausbruch plausibler; denn danach hatte Lasson gesagt: ›Menschen wie Kantorowicz seien beleidigt worden, weil sie Juden seien. Dies dürfe nicht sein und wer hier einen anderen Standpunkt habe, der existiere für mich nicht.‹ Freilich war das Gespräch mit dieser scharfen Konfrontation noch nicht beendet. Henrici behauptete noch gehört zu haben, wie sein Kollege ihm ungefähr folgendermaßen drohte: ›Wer einen anderen Standpunkt hat als ich, ist ein Lump, und wenn Sie uns unsere Rechte nehmen, so schießen wir Ihnen eine Kugel in den Kopf.‹ Auch an dieser Stelle mutet der Bericht Lassons glaubwürdiger an, da er differenzierter ist und er sich mit ihm durchaus nicht entlastete: ›Man habe den Juden das Waffenrecht zugestanden. Wenn man sie nun tagtäglich in ihren intimsten Empfindungen, in ihrem Stammesbewusstsein kränke und verletze, was glaube man, wie sie ihre persönliche Ehre verteidigen würden‹. »Uns bleibt ja«, so der Bericht wörtlich, »nichts übrig als zur Waffe zu greifen und dann kann eine jüdische Kugel ebenso gut treffen, wie eine germanische.«119 Auch aus dieser Geschichte ließ sich trefflich ein skandalöser Bericht formulieren, wie denn auch z. B. die »Deutsche Landes-Zeitung« behauptete, dass Lasson »in aller Freundschaft« Henrici und überhaupt allen Deutschen »eine Kugel vor den Kopf schießen« wolle.120 Das Gespräch der beiden Lehrer wurde durch das Läuten der Pausenglocke beendet; es hatte jedoch ein Nachspiel. In der folgenden Stunde muss Lasson wegen seiner scharfen Worte gegenüber dem Kollegen, mit dem ihn eigentlich ein kollegiales Verhältnis verband, ein schlechtes Gewissen bekommen haben. In der kurzen 11-Uhr-Pause wandte er sich daher erneut an Henrici – mit einem aussafinden sich in dem Bericht des Direktors Foß nebst Anlagen für das Provinzial-Schulkollegium vom 11.12.1880, Brand. LHA Rep. 34, Abt. 1 c, Sekt. 21, Lit. a No. 1, 1712, Bd. 5 (1876–1883), lauf. Nr. 10765, Anhang A und C; die zweiten Aussagen in den Vernehmungsprotokollen des Schulkollegiums vom 20.12.1880, Brand. LHA Rep. 34, Abt. 1 c, Sekt. 21, Lit. a No. 1, 1712, Bd. 5 (1876–1883), lauf. Nr. 11054. 119 Siehe den Bericht des Direktors Foß nebst den Anlagen für das Provinzial-Schulkollegium vom 11.12.1880, Brand. LHA Rep. 34, Abt. 1 c, Sekt. 21, Lit. a No. 1, 1712, Bd. 5 (1876– 1883), lauf. Nr. 10765, hier: Anlage C, Bl. 12f. 120 »Deutsche Landes-Zeitung« vom 8. Dezember 1880.

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gekräftigen Versöhnungsangebot. Er bitte seinen Kollegen, nichts von dem Gesagten auf sich zu beziehen. Er hoffe, dass zwischen ihnen persönlich alles beim Alten bleibe; Henrici wiederum pflichtete dieser Hoffnung bei. »Und nun geben Sie mir nur so viel zu«, wünschte Lasson, »daß der Anteil der Juden an der deutschen Literatur und Wissenschaft in den letzten Jahrzehnten doch nicht ganz so gering ist.«121 Auf dieses Friedensangebot konnten sich die beiden Lehrer offenbar einigen. Diese Geschichte auf dem Schulhof der Luisenstädtischen Realschule ist in mehrfacher Hinsicht bemerkenswert. Ganz generell veranschaulicht sie, wie in dieser Phase die zuerst vornehmlich medialen Debatten über die »Judenfrage« in den Alltag der gebildeten Bürger Berlins eindrangen und die konkrete Interaktion zwischen Juden und Protestanten für eine gewisse Zeit schwierig gestalteten. In einem weitläufigeren Sinne lässt sich auch der Schulhofkonflikt mit Treitschkes Wirken an der Universität in Verbindung bringen; schließlich war das der Kontext, aus dem sich Lassons Erregung über die »Judenfrage« speiste. Solcherart alltägliche Vorgänge vertieften nachhaltig das Gefühl der Kränkung, das unter den Juden seit dem Ausbruch der Feindseligkeiten wuchs. Selbst Konvertiten wie Lasson, der allem Anschein nach seine evangelische Konfession aus Überzeugung lebte, veranlasste diese Gefühlslage, sich aufseiten ihrer ehemaligen Glaubensgenossen zu engagieren. Diese konsequente Anwendung der zeitgenössisch üblichen Ehrvorstellungen irritierte die Protestanten ungemein. Sie nahmen dieses entweder als übersteigerte Empfindlichkeit wahr, wie man etwa an der Irritation des Direktors der Luisenstädtischen Realschule ablesen konnte, der nicht begreifen wollte, wie sich Lasson durch die antisemitische Agitation »als Semit persönlich mit beleidigt« fühlen konnte.122 Oder Protestanten glaubten, mit einer ungerechtfertigten Bedrohung konfrontiert zu sein, weswegen Henrici das Gespräch mit Lasson nur so verstehen konnte, dass dieser auf Leute wie ihn zu schießen bereit war. Dass Juden sich schlicht und einfach durch die Wortwahl, die Verleumdungen, die Übertreibungen und nicht zuletzt die offenen Gehässigkeiten, die ihnen von gebildeten Protestanten entgegengebracht wurden, verletzt fühlen könnten, war für viele Protestanten offenkundig schwer vorstellbar. Die »jüdische Kugel«, von der Lasson gesprochen haben wollte, stand jedoch für etwas anderes als eine jüdische Bedrohung. Gebildete Juden benutzten die geläufigen Formen, mit denen in ihrem Umfeld, der bürgerlichen Bildungskultur, auf vergleichbare Ehrverletzungen üblicherweise reagiert wurde. Jeder protestantische Ehrenmann hätte auf die Herablassung, wie sie Kantorowicz 121 Siehe den Bericht des Direktors Foß nebst den Anlagen für das Provinzial-Schulkollegium vom 11.12.1880, Brand. LHA Rep. 34, Abt. 1 c, Sekt. 21, Lit. a No. 1, 1712, Bd. 5 (1876– 1883), lauf. Nr. 10765, hier: Anlage C, Bl. 13. 122 Siehe den Jahresbericht der Luisenstädtischen Realschule für die Jahre 1879, 1880, 1881, Brand. LHA Rep. 34, Abt. 1 c, 1716, Bd. 1, Bl. 20.

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in der Pferdebahn erleben musste, entsprechend reagiert und mit einer Ohrfeige einen Ehrenhandel ausgelöst. Wem das nicht einleuchtete, der konnte nur einen Gedanken dabei verfolgen: Eine jüdische Identität zu verteidigen, sei keine Ehrensache. Dass nunmehr mit »jüdischen Kugeln« gedroht wurde, sollte signalisieren, dass die Juden das so nicht sahen und ihre Identität nach den Maßstäben ihrer Umwelt selbstbewusst zu verteidigen bereit waren. Noch in einem letzten Punkt verwies der Konflikt zwischen Lasson und Henrici auf den kulturellen Kontext: in dem Versöhnungsangebot, das Lasson offerierte. Wenn Henrici bereit war zuzugeben, dass die Juden zu Wissenschaft und Kunst ihren Beitrag leisten würden, dann war noch nicht jede Gemeinsamkeit zerstört. Ihren Beitrag anzuerkennen, damit verlangte Lasson nichts anderes, als ihre Teilhabe an der Bildungskultur gelten zu lassen. Im Kern dieser Auseinandersetzungen zwischen Juden und Protestanten ging es um die Bildungskultur. Wenn man sich auf diese gemeinsam einigen konnte, ließ sich auch wieder Frieden schließen. Mit einem solchen symbolischen Frieden gaben sich die Schulaufsicht und der preußische Kultusminister nicht zufrieden. Gegen Lasson wurde ein formales Disziplinarverfahren eröffnet, das zu seinem Leidwesen noch zusätzliches, viel gravierenderes Material über seine Aktivitäten an der Realschule ans Tageslicht beförderte. Er hatte in den tumultreichen Novembertagen im Unterricht aller seiner Klassen die »Judenfrage« erörtert und festgestellt, für wie inakzeptabel er die Haltung der Antisemiten halte. Zudem hatte der Philosophiedozent offenkundig Schüler dazu animiert, seine damals – wie beschrieben – chaotische Vorlesung an der Universität zu besuchen, was einige auch taten. Mit dieser Sachlage konfrontiert erwog das Provinzial-Schulkollegium seine Suspendierung vom Schuldienst. Erst als der Kultusminister eingriff, wurde dieser Plan fallen gelassen, und Lasson erhielt einen Verweis.123 Der Minister hatten offenbar erkannt, dass er kaum Lasson suspendieren lassen konnte, während Förster und Jungfer, deren Fall zum gleichen Zeitpunkt ebenfalls mit einem Verweis und einer zusätzlichen Geldstrafe für Förster endete, relativ milde bestraft wurden.124 Auch das Verhalten der (universitären oder schulischen) Aufsichtsbehörden ist für den Gesamtzusammenhang aufschlussreich. Der große personelle und materielle Aufwand, der getrieben wurde, um die Vorfälle im Umfeld der »Ju123 Vgl. das Schreiben des Kultusministers Puttkamer an das Provinzial-Schulkollegium vom 9.2.1881, Brand. LHA Rep. 34, Abt. 1 c, Sekt. 21, Lit. a No. 1, 1712, Bd. 5 (1876–1883), lauf. Nr. 1234 sowie den Bescheid an Lasson vom 23.2.1881, daselbst. 124 Vgl. das Schreiben des Staatsanwalts Daude an den Minister Puttkamer vom 28.1.1881, GStA Pk, I. HA Rep. 76 VI, Sekt. XIV. Z, 39 Bd. III (1869–1883), lauf. Nr. U II 238. Da er weiterhin für Ärger sorgte, wurde Förster einige Zeit später doch aus dem Dienst entfernt. Vgl. den Verwaltungsbericht des Friedrichs-Gymnasiums zu Berlin für die Zeit vom 1. April 1880 bis 31. März 1883, Brand. LHA Rep. 34, Abt. 1 c, Sekt. 5, Lit. a No. 6, 1525, Bd. 1 (1876–1883).

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denfrage« zu rekonstruieren, überrascht durchaus. Für ein Disziplinarverfahren, das zu einer Amtsenthebung führen könnte, mussten die Vorwürfe sicherlich im Detail geklärt werden. Gleichzeitig dürfte fraglich sein, ob die Behörden mit ihrem Vorgehen das selbst gesteckte Ziel erreichten, die Unruhe an den unter ihrem Schutz stehenden Bildungsinstitutionen wiederherzustellen; schließlich schreckten sie nicht davor zurück, Schüler in einem Verfahren gegen ihre Lehrer von einem Ministerialbeamten verhören zu lassen. Um die Politisierung ihrer Anstalten zu verhindern und wieder Ruhe an ihnen einkehren zu lassen, brandmarkten die Behörden zudem nicht nur die antisemitische Agitation, sie gingen gleichfalls gegen die Selbstverteidigungsformen der Juden vor. Beides schien ihnen auf einer vergleichbaren Ebene angesiedelt zu sein; beides waren unzulässige Meinungsäußerungen. Man kann mit guten Gründen die Entscheidung Lassons kritisieren, seinen Unterricht zu politisieren und gegen die antisemitische Bewegung zu polemisieren. Gleichfalls wird man darauf hinweisen müssen, dass es etwas fundamental anderes ist, gegen eine Bevölkerungsgruppe zu hetzen, als sich über eine erfolgte Hetze zu erregen und die Rechte dieser Gruppe zu verteidigen. Insgesamt mussten die Ereignisse im Herbst 1880 nicht nur den Aufsichtsbehörden, sondern – durch die permanente Berichterstattung der verschiedensten Presseerzeugnisses – auch der breiten Öffentlichkeit vor Augen geführt haben, wie fragil das Verhältnis zwischen Juden und Protestanten in Berlin war, namentlich unter gebildeten Bürgern und in den Bildungsinstitutionen. Das waren die Dimensionen, durch die Treitschkes Artikel vom November 1879 jetzt, ein volles Jahr später, eine Relevanz erhielt, die selbst seine eigenen Erwartungen gehörig übertraf.

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5.5 Das Ende der Gemeinsamkeiten? Politischer und kultureller Integrationalismus bei Treitschke und Mommsen »Nur mit Mommsen würde ich nach meiner Natur weniger glimpflich verfahren sein. Wenn ich [unleserliches Wort, d. Vf.] den Mommsen der Röm. Gesch., den M. der »Erklärung« u. den Mommsen der Broschüre vergleiche, so finde ich, daß er mit verschiedenen Kartenspielen parirt hat. Wenn sich ein scharfer u. geschickter Gegner drüber hermachte, könnte er was erleben; sein Name wird ihn decken.«125

Als Mommsen klargestellt hatte, dass er mit der »Notabeln-Erklärung« auch seinen Kollegen direkt kritisieren wollte, antwortete ihm Treitschke direkt. Der Konflikt zwischen den beiden, der seit Mommens Äußerungen bei Wattenbachs Anfang des Jahres schwelte und auch durch die Vermittlung Grimms nicht beigelegt worden war, sollte jetzt offen ausbrechen. In seiner »Erwiderung« verbat Treitschke sich noch deutlicher als vorher die Tendenz, die in der »Erklärung« gelegen hatte.126 Diese Erwiderung enthielt aber auch eine gezielte, geschickte Provokation, einen verbalen Fehdehandschuh, den Mommsen aufnehmen musste. In vielen antisemitischen Schriften dieser Wochen hatte sich immer wieder die – ob gespielte oder echte, sei dahingestellt – Überraschung dokumentiert, dass Mommsen sich auf die Seite der Juden geschlagen hatte. Man glaubte ihn aufgrund seiner »Römischen Geschichte« und der dortigen Dekompositionsthese eigentlich für die eigenen Auffassungen vereinnahmen zu können.127 Mit einem Verweis auf diese andere Judensicht versuchte auch Treitschke, Mommens Position zu unterminieren. Im Kern habe er, vertraute Treitschke seinem Leser an, in seinen Betrachtungen zur »Judenfrage« die Forderung aufgestellt, dass die Juden Deutsche werden sollten. Daher teile er auch nicht die pessimistische Ansicht seines Kollegen Mommsen, »daß überall in der Welt ›das Judenthum ein wirksames Ferment des Kosmopolitismus und der nationalen Decomposition‹ bilde […], sondern ich lebe in der Hoffnung, es werde der vollzogenen Emanzipation im Laufe der Jahre auch die innere Verschmelzung und Versöhnung folgen«.128 Für den unbefangenen Zeitungsleser musste es so aussehen, als gäbe es eigentlich keinen Meinungsunterschied zwischen den beiden Gelehrten, ja, als 125 487. 126 127 128

Siehe den Brief Fischers an Lazarus vom 2.2.1881, Nl. Lazarus, HU-Bibliothek, Nr. Vgl. Treitschke, Eine Erwiderung, BAS, Bd. 2, S. 616f. Für entsprechende Vereinnahmungen vgl. Simplicius Simplicissimus. Treitschke, Eine Erwiderung, BAS, Bd. 2, S. 617.

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sei Mommens Haltung zu den Juden noch um einiges negativer als die seines Kollegen. Damit waren die erheblichen politischen Differenzen, die sich in ihrer Judensicht bündelten, auf falsche und inakzeptable Weise eingeebnet. Mommsen fühlte sich missverstanden, wenn Antisemiten auf seine »Römische Geschichte« hinwiesen, wie das der Hofprediger Stoecker in seiner Rede vor dem Abgeordnetenhaus getan hatte.129 Solche Behauptungen wollte Mommsen nicht auf sich sitzen lassen; er war zu einer Klarstellung seiner Position gezwungen. Das zog es nach sich, das bis dato noch als Freundschaft titulierte Verhältnis mit seinem Kollegen Treitschke arg belasten zu müssen. Mommens Antwort nahm einige Zeit in Anspruch, da er sie in aller Gründlichkeit geben wollte. Sie erschien am 12. Dezember 1880 als Schrift unter dem Titel »Auch ein Wort über unser Judenthum« und ging bereits nach wenigen Tagen in die dritte Auflage. Sie hob ähnlich wie die »Erklärung« der 75 Notabeln mit der Lage der Nation an: Mommsen erinnerte an die Erfahrung seiner Generation, die seit dem Vormärz von der nationalen Einheit Deutschlands geträumt habe und 1871 ihre Ziele zumindest der äußeren Form nach realisiert zu haben glaubte. Es zeige sich aber derzeit, dass diese Einheit innerlich noch lange nicht vollzogen sei; in der Gegenwart würden viele Konflikte das Erreichte wieder gefährden: Jetzt tobe der »Krieg aller gegen alle.«130 »Neben dem längst ausgebrochenen confessionellen Krieg, dem sogenannten Culturkampf, und dem neuerdings entfachten Bürgerkrieg des Geldbeutels, tritt nun als drittes ins Leben die Mißgeburt des nationalen Gefühls, der Feldzug der Antisemiten.«131 Mommsens Text gilt zu Recht als ein zentrales Dokument im Kampf gegen Antisemitismus. An vielen Stellen des Essays dokumentierte der Althistoriker seine Empörung über dieses Phänomen. Für ihn drohte nichts anderes als der »Bürgerkrieg einer Majorität gegen eine Minorität.«132 Mommsen warf namentlich Treitschke vor, diese Bewegung geschürt zu haben, als er sich zum Propheten dieses Wahns aufgeschwungen habe. »Was heißt das«, schleuderte ihm Mommsen entgegen, »wenn er von unsern israelitischen Mitbürgern fordert, sie sollen Deutsche werden? Sie sind es ja, so gut wie er und ich […].«133 Trotz dieser klaren Frontstellung ist Mommens Streitschrift eine äußert ambivalente Kreation, hatte er doch stets darauf Wert gelegt, sowohl den Judenhassern als auch ihren Freunden entgegenzutreten.134 Dabei ist es aufschlussreich, im Einzelnen zu analysieren, wie er den Integrations- und Akkulturationsprozess der Juden erörterte. Der Althistoriker wollte gar nicht in 129 130 131 132 133 134

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Vgl. Anonymus, Die Judenfrage vor dem Preussischen Landtage, S. 78. Mommsen, Auch ein Wort über unser Judenthum, BAS, Bd. 2, S. 697. Ebd. Ebd., S. 708. Ebd., S. 700. Vgl. die Fußnote in: ebd., S. 702.

Abrede stellen, dass die »Sondereigenschaften der unter uns lebenden Personen jüdischer Abstammung« deutlicher empfunden werden, als das bei anderen deutschen Stämmen der Fall sei.135 Doch – und das war im Vergleich zu Treitschkes Vorgehen entscheidend – lehnte er es ab, daraus die politisch relevante Behauptung einer umfassenden nationalen Fremdartigkeit zu konstruieren. Er versuchte vielmehr, die Juden – trotz aller Differenz – als ein weiteres Mitglied in die deutsche Stammesgemeinschaft einzugliedern: Der Hass, der heute den Juden gelte, könne die Berliner und übermorgen die Pommern treffen. Im gleichen Atemzug empfahl er Zurückhaltung und Schonung, wenn die doch vorhandenen Unterschiede thematisiert werden sollten. »Gute Sitte« und »höhere Pflicht« würde es gebieten, »die Besonderheiten der einzelnen Nationen und Stämme mit Maß und Schonung zu discutiren.«136 Bis dato hätte das »starke Pflichtgefühl des bessern Theils der Nation« die »Empfindung der Verschiedenheit« niedergehalten, die gegenüber den Juden im Volk vorherrsche. Mit diesem Schutz der Juden durch die Gebildeten sei es in dem Moment vorbei gewesen, als Treitschke die Volksemotionen gebilligt habe: »Der Kappzaum der Scham war dieser ›tiefen und starken Bewegung‹ abgenommen; und jetzt schlagen die Wogen und spritzt der Schaum.«137 Seitdem bleibe nur die Hoffnung, dass die Schonung aus bürgerlichem Pflichtgefühl allmählich wieder überhand nehme. In politischer Hinsicht war es zudem bedeutsam, dass Mommsen den Juden eine Funktion im Prozess der inneren Reichsgründung zuwies. Er versuchte, den Vorwürfen von Treitschke und Stoecker, in seinen wissenschaftlichen Arbeiten ganz anders argumentiert zu haben, direkt entgegenzutreten, indem er seine damalige These jetzt explizit aus dem Kontext der römischen Geschichte löste. Mommsen begriff das Problem der nationalen Einheit als ein Zusammenführen der unterschiedlichen deutschen Stämme: »Ein gewisses Abschleifen der Stämme an einander, die Herstellung einer deutschen Nationalität […] ist durch die Verhältnisse unbedingt geboten […].«138 Dabei würden die Juden helfen, indem sie im gegenwärtigen Deutschland ein »Element der Decomposition der Stämme« bildeten.139 Darum sei dem »germanischen Metall für seine Ausgestaltung einige Procent Israel« beigefügt.140 Mommsens Text erschöpfte sich nicht darin, »bloß« für die Duldung der Juden zu plädieren. Er verlieh ihrer Existenz im neuen Reich einen Sinn, obwohl er den gesamten Prozess der Dekomposition nicht nur erfreulich, aber notwendig fand. Auf der politischen Ebene hätten die Argumentationen der beiden Historiker 135 136 137 138 139 140

Ebd., S. 701. Ebd., S. 703. Ebd., S. 704. Ebd., S. 703. Ebd., S. 702. Ebd., S. 703.

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somit kaum unterschiedlicher sein können: Während Treitschke mit »Unsere Aussichten« erheblichen politischen Druck auf die Juden auszuüben bereit war, damit diese ihre jüdische Identität aufgaben, lehnte Mommsen das ab. Der Althistoriker warf Treitschke sogar vor, mit seiner Polemik die in der Tat dringend erforderliche nationale Vereinigung zu gefährden, indem er die Rolle der Juden in diesem Prozess nicht anerkannte. Mommsen musste gegen den Antisemitismus sein, da er in solchen Bestrebungen, die nur neue Zwietracht säten, die eigentliche Gefahr für die Nation sah. Gleichwohl endete Mommsens Argumentation damit keineswegs. Insbesondere die Lektüre der letzten zwei Seiten von »Auch ein Wort über unser Judenthum« veränderten die Gesamtperspektive auf Mommens Haltung in der »Judenfrage«. Am Schluss seines Essays hielt er es für geboten, wohl aus Gründen der Fairness, der Ausgeglichenheit und der Objektivität, die »Stellung der Juden selbst zu dieser leidigen Bewegung« zu thematisieren.141 Selbstverständlich sei man verpflichtet, die Juden in ihrer Rechtsgleichheit zu schützen, und das hänge auch nicht von deren Wohlverhalten ab. Allerdings müsse man nun einmal konstatieren, dass es ein »Gefühl der Fremdheit und Ungleichheit« den Juden gegenüber gäbe.142 Der Begriff der »Fremdheit« tauchte hier auf, obwohl er sich einige Seiten zuvor noch gegen ihn gewehrt hatte. Dieser Umschwung resultierte aus der Tatsache, dass der Althistoriker nun das Feld politischer Erwägungen verlassen hatte, um über die kulturelle, fast moralische Dimension der konkreten Interaktionen zwischen Juden und Nichtjuden sprechen zu können. Hier konstatierte er: Schuld an der emotionalen Abwehrhaltung, die unter Nichtjuden existiere, seien auch die Juden, soweit sie auf ihrer Eigenheit beharren würden. Sie würden sich von der »Christenheit« – die Mommsen unabhängig von einem religiösen Bekenntnis als den »Charakter der heutigen internationalen Civilisation« verstanden wissen wollte – fernhalten, was risikoreich sei: »Außerhalb dieser Schranken zu bleiben und innerhalb der Nation zu stehen ist möglich, aber schwer und gefahrvoll.«143 Mommsen schlug somit eine Art kultureller Konversion vor, in der das Christentum mehr als ein Zeichen angenommen werden sollten, nicht weiter dem Judentum anzuhängen und Teil der deutschen Kultur ohne irgendwelche Reservationen sein zu wollen, denn als ein positives Bekenntnis zu einer Religion. Darin bestünde der Preis für die kulturelle und moralische Mitgliedschaft in der nationalen Gemeinschaft. Auch die Juden müssten wie die Hannoveraner, die Hessen und die Schleswig-Holsteiner ihre »Sonderart nach bestem Vermögen« von sich tun, um alle noch existierenden Schranken zu den Nichtjuden einreißen zu können.144 Wahre Integration war auch bei Momm141 142 143 144

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Ebd., S. 708. Ebd. Ebd., S. 708f. Ebd., S. 709.

sen zehn Jahre nach der Emanzipation nur als Aufgabe der jüdischen Identität denkbar. Dass der Religionskritiker Mommsen dabei ein Plädoyer für eine Konversion zum Christentum aussprach, darf als besonders pikant gelten. Auch wenn Mommsen mit dem Hilfskonstrukt der internationalen Zivilisation den religiösen Aspekt zu mindern suchte, seine Empfehlung blieb der für die bürgerliche Bildungskultur charakteristischen Verbrämung des Religiösen verhaftet. Wenn die Religion nicht mehr religiös, sondern kulturell verstanden werden sollte, so hatte die Kultur Religion zu sein. Außerhalb ihrer zu stehen, war gefährlich, weil in dieser letzten Differenz – trotz aller Mitarbeit – die Juden als Juden den im Grunde religiösen Absolutheitsanspruch der Kultur in Frage stellten. Das wurde auch in Mommsens Toleranzvorstellung deutlich. Als er auf die im Umgang mit Juden zu übende Rücksicht einging, sprach er ausdrücklich nicht von derjenige, die sich gegen die Synagoge, gegen die jüdische Religion richte; sie verstehe sich von selbst. Wichtiger sei die »Toleranz gegen die jüdische von ihren Trägern nicht verschuldete, ihnen als Schicksal auf die Welt mitgegebenen Eigenartigkeit«.145 Jüdische Identität als unverschuldeter Makel – wie so oft in der deutschen Debatte entpuppte sich der Toleranzbegriff auch in Mommens Schrift als eine heikle Angelegenheit. Toleranz setzte dabei die Gewissheit einer besseren Lebensform voraus, so dass diese Haltung einem resignierten Konstatieren der Differenz glich, wobei stets der missionarische Eifer mitschwang, den Anderen doch noch von der eigenen, letztlich überlegenen Lebensweise zu überzeugen. Auch in der bürgerlichen Bildungskultur war Toleranz oftmals das Gegenteil von Respekt. Was also teilten Treitschke und Mommsen und was unterschied sie? Bei Treitschke finden wir eine aggressive, politische Form des unter gebildeten Protestanten weit verbreiteten Integrationalismus. Er empfand die »Judenfrage« als eminent bedeutsames politisches Problem, lobte daher die antisemitische Bewegung und kritisierte auch hier die Position des Liberalismus, von dem er sich schon seit einiger Zeit verabschiedet hatte. Die Juden sollten aus seiner Sicht ihre jüdische Identität restlos aufgeben; jede Form kultureller Andersartigkeit stellte eine beträchtliche Gefahr für die Nation dar. Um den Juden ihre Separatidentität auszutreiben, versuchte er seit »Unsere Aussichten« erheblichen politischen Druck aufzubauen, wobei er schon bald selbst die Drohung, die Emanzipationsgesetzgebung zurückzunehmen, für notwendig erachtete. Mommsen lehnte diese politische Form des Integrationalismus ab. Als aufrechtem Liberalen waren ihm solche Nötigungsversuche zuwider, zumal er sie für letztlich kontraproduktiv hielt. Juden hatten allerdings auch in seiner Vorstellung ihre Identität aufzugeben, nur eben freiwillig. Das war der Sinn seines kulturellen Integrationalismus, der auf die moralische Einsichtsfä145 Ebd., S. 705.

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higkeit der Juden setzte. In einer Hinsicht unterschieden sich die beiden Historiker also nicht: Sie behandelten die »Judenfrage« integrationalistisch. Beide waren überzeugt, dass sich die Juden kulturell zu integrieren und dabei ihre Eigenheit und Identität aufzugeben hatten. Zugleich basierte die Forderung auf der impliziten Voraussetzung, dass sich Juden von der allgemeinen Kultur – der Christenheit bei Mommsen, der nationalen und christlichen Kultur bei Treitschke – fernhielten, wenn sie Juden blieben. Judentum stand für gebildete Protestanten im Gegensatz zu ihrer Kultur, oder gar außerhalb aller Kultur. Mommens Unbehagen gegenüber der jüdischen Differenz entstammte einem durchaus vergleichbaren normativen Verständnis von bürgerlicher Bildungskultur, das auch bei seinem Kollegen vorhanden war. Darin, aber, fairer Weise, auch nur darin, existierte eine gewisse Nähe zwischen den beiden Historikern. In letzter Konsequenz lag der tiefe Dissens der beiden in der unterschiedlichen Sicht auf den Liberalismus in der bürgerlichen Bildungskultur. Für die Zeitgenossen, selbst für Personen des unmittelbaren Umfeldes, waren die Meinungsunterschiede zwischen den beiden kaum noch wahrnehmbar. Hermann Grimm, der zwischen ihnen zu vermitteln versuchte, beschlich, als er Mommens Schrift las, das »seltsame Gefühl«, dass Mommsen nichts anderes als Treitschke vor Jahresfrist gesagt habe.146 Auch etwas fern stehenden Beobachtern ging es ähnlich, wie das Beispiel Karl Fischers zeigt.147 Aus einer historischen Perspektive verschwimmen die Gegensätze ebenfalls, wenn man liest, wie wenig es Mommsen offensichtlich um eine Verteidigung der Juden ging: »Wenn Treitschke sich diesen oder jenen der marqanten jüdischen Litteraten herausgesucht und ihn zermalmt hätte, nicht bloß in seiner Individualität, sondern auch in seinen durch seine Herkunft bedingten Eigenschaften, so wäre ich sehr zufrieden gewesen.«148 Man kann sich dabei auch einfach an die Äußerungen der Protagonisten halten, schließlich deutete Mommsen selbst eine größere Nähe an: »Die Meinungsdifferenz, die weit über diese materiell allerdings von uns wohl nicht sehr verschiedenen aufgefaßte sg. Judenfrage zwischen uns besteht, hat wohl immer bestanden […].«149 Es ging im Kern zwischen den Kontrahenten gar nicht um die Juden. Als Treitschke auf dem Höhepunkt des Streites an Mommsen schrieb, meinte 146 Siehe den Brief Grimms an Mommsen vom 11.12.1880, Nl. Mommsen, Kasten 39, Mappe Grimm. 147 Siehe den Brief Fischers an Lazarus vom 2.2.1881, Nl. Lazarus, HU-Bibliothek, Nr. 487. 148 Siehe den Brief Mommsens an Grimm vom 12.12.1880, BAS, Bd. 2, S. 716f. 149 Siehe den Brief Mommsen an Treitschke vom 16.12.80, BAS, Bd. 2, S. 758. Gegenüber Grimm hatte Mommsen das Hauptproblem in der Form gesehen: »Aber Sie werden mir auch darin Recht geben, daß in Dingen dieser Art alles darauf ankommt, nicht was man sagt, sondern wie man es sagt; und darin liegt das Beaengstigende in Treitschkes Verfahren.« Siehe den Brief Mommsens an Grimm vom 12.12.1880, BAS, Bd. 2, S. 716.

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auch er: »[…] wenn es sich nur um die Judenfrage handelte, so würde ich nicht sehr besorgt sein, da unsere Ansichten sachlich nicht weit aus einander gehen und wir uns eigentlich nur über die Opportunität streiten«.150 Um was es sich aber eigentlich drehte, darüber hatte Treitschke keine Zweifel und fügte im nächsten Satz hinzu, dass ihm die »Wege, welche der Liberalismus in den letzten Jahren eingeschlagen hat«, »immer unbegreiflicher« geworden waren.151 Die Lösungskonzepte, welche die beiden Historiker für die »Judenfrage« vorschlugen, unterschieden sich grundlegend voneinander: Während Mommsen letztlich in liberaler Tradition auf die Einsichtsfähigkeit der Juden setzte, war Treitschke bereit, politischen Druck in der Öffentlichkeit – oder wenn nötig gar durch Gesetzesänderungen – auf sie auszuüben. Insofern standen sich hier politische Grundkonzepte gegenüber, die im Herbst 1880 kaum noch vereinbar waren.152 Dies galt umso mehr, als sich zu diesem Zeitpunkt eindeutig herausgestellt hatte, dass der Antisemitismus nicht nur die politische Macht des Liberalismus bedrohte, sondern gerade die liberale Ausrichtung der bürgerlichen Bildungskultur in Frage stellte. Erst jetzt war klar geworden, dass Treitschkes Angriff auf die Juden keine einmalige Entgleisung gewesen war, sondern auf eine breitere Basis unter den gebildeten Protestanten, insbesondere der jungen Generation gegründet war, die sich noch dazu – das wurde immer unverkennbarer – beständig weiter verfestigte. Diese Entwicklung stellte nichts anderes dar als ein Kennzeichen jener schleichenden Distanzierung zwischen Liberalismus und Bürgertum. Treitschke war nur zu bereit, diese Entwicklung zu unterstützen; Mommsen hingegen, der mit aller Entschiedenheit bereit war, diese Koppelung in der Bildungskultur beizubehalten, musste sich dagegen stemmen. Die Verteidigung des Liberalismus zog seine Gegnerschaft zu den Antisemiten zwangsläufig nach sich, aber war er darum jener Freund der Juden, für den ihn die andere Seite immer hielt? Die Antwort muss nach der Lektüre von »Auch ein Wort über unser Judenthum« negativ ausfallen. Vielmehr ist grundsätzlich festzuhalten, dass eine Gegnerschaft gegen den Antisemitismus von der Bereitschaft, Juden als Juden zu verteidigen, deutlich zu unterscheiden ist. So sympathisch und einleuchtend manche der schneidenden Vorwürfe Mommens an die Adresse Treitschkes auch heute noch klingen mögen und so politisch wichtig sein Widerspruch auch eingeschätzt werden mag, es bleibt dennoch zu konstatieren: Mommsen und Treitschke stritten sich letztlich über die bürgerliche Bildungskultur auf dem Rücken der gebildeten Juden.

150 Siehe den Brief Treitschkes an Mommsen vom 15.12.1880, BAS, Bd. 2, S. 752f. 151 Ebd., S. 753. 152 Vgl. zu diesem Aspekt Tal, S. 79.

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5.6. Gegner der Antisemiten – Freunde der Juden? Öffentliche und private Reaktionen auf Mommsen und Treitschke »[...] ich hätte am liebsten geschwiegen, denn nützen konnte das Reden davon nicht, wohl aber schaden.«153

Der Streit des Herbstes 1880 erhielt seine Bitterkeit aus seiner Relevanz. Es ging um sehr viel: um die Zukunft des Liberalismus in einer seiner entscheidenden Trägergruppen, den gebildeten Bürgern. Diese Bedeutung des Streites spiegelt sich auch in den Reaktionen, die er hervorrief. Treitschke erhielt auch weiterhin Unterstützung von vielen Seiten, allen voran von Grimm, der zwar zwischen den beiden Gelehrten zu vermitteln versuchte, aber stets klar aufseiten Treitschkes stand. Die »Erklärung« der Notabeln kritisierte er scharf, er fand sie gegenüber Treitschke unkollegial und ungerecht.154 Doch im Herbst 1880 widersprachen in Treitschkes Umfeld nicht nur vereinzelte Stimmen solchen Meinungen. Gerade die »Erklärung« hatte hier den Dissens überdeutlich werden lassen, spaltete sie doch ebenso die Fakultät. Mommsen hatte unterschrieben, wie auch Johann Gustav Droysen, Rudolf Gneist und Rudolf Virchow. Die folgenden Auseinandersetzungen mit Mommsen führten nicht dazu, dass sich diese Frontstellungen auflösten; allem Anschein nach verschärften sie sich sogar. Selbst zwischen langjährigen Freunden wie dem jüdischen Mathematiker Leopold Kronecker und Hermann Grimm kam es zum offenen Streit. Ende November brach sich Kroneckers Wut über Treitschke in einem Gespräch mit seinem Freund Bahn. Er sei blass vor Aufregung gewesen und hätte Treitschke ermorden können, vertraute Grimm seinem Tagebuch an.155 Der Konflikt war nicht leicht behoben. Kronecker könne, so schrieb er, nach dem Gespräch den »unbefangenen Ton« nicht wieder finden. Die Erinnerungen an die Auseinandersetzung würden ihm den freundlichen, wohlthuenden Eindruck trüben, den er von einem Beisammensein mit Grimm noch 14 Tage zuvor gehabt habe.156 Unmittelbar gegenüber Treitschke erläuterte der Berliner Orientalist Albrecht Weber in einem langen Weihnachtsbrief seine abweichende Meinung. Er 153 Siehe den Brief Mommsens an Benno Bertram Kerry vom 13.8.1882, in: Zucker, S. 240. 154 Vgl. den Brief Grimms an Treitschke vom 17.11.1880, Nl. Treitschke, Kasten 6, Mappe Grimm. 155 Vgl. den Eintrag vom 19.11.1880, Tagebuch von Hermann Grimm, Nl. Hermann Grimm, Bestandsnr. 340, Ms 139, Bl. 20f. 156 Siehe den Brief Kroneckers an Grimm vom 27.11.1880, Nl. Grimm, Bestandsnr. 340, Brief-Nr. 3549.

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hielt die Juden für Pioniere der wirtschaftlichen Entwicklung; für die nationale Zukunft seien sie als Ferment, als Sauerteig wichtig, wie er mit deutlicher Anspielung auf die Thesen Mommens meinte. Wenn Treitschke nun die Juden angreife, stütze er indirekt die Nichtjuden in ihrer Selbstgefälligkeit und ihrem Pharisäertum. Im Übrigen zeigte sich Weber überzeugt, dass die meisten Aspekte, die Treitschke an den Juden kritisierte, einfach Krankheiten der Zeit seien. Natürlich sah sich auch Weber gezwungen, die »unleugbar oft sehr unangenehmen Eigenschaften der Juden« anzuerkennen.157 Diese seien aber Folgen der Unterdrückung, die noch nicht überall beseitigt worden seien. Gerade die gebildeten Juden würden bald von solchen Eigenschaften frei sein; schon jetzt kenne doch jeder einen Juden, der eine Ausnahme bilde. Solche Parteinahmen gegen Treitschke machten deutlich: Die Konfliktlinien waren auf allen Ebenen nicht mehr zwischen Juden und Protestanten aufgeteilt, sondern sie verliefen quer durch das gebildete Bürgertum Berlins. Die »Judenfrage« mobilisierte sie alle und wirkte auf zahlreiche, schon länger vorhandene Spannungen katalysatorisch, so dass sich viele Beziehungen in dem gesamten Spektrum neu gruppierten. So unzweifelhaft sich die Optionen in Bezug auf die Antisemiten – Treitschke dafür, Mommsen dagegen – darstellten, so ambivalent waren diese gegenüber den Juden. Dass sich endlich Protestanten gegen Treitschke und den Antisemitismus engagierten, konnten die deutschen Juden nur begrüßen. Insbesondere die »Erklärung« der Notabeln wurde als großer Erfolg und Wendepunkt in der Auseinandersetzung mit dem zeitgenössischen Antisemitismus angesehen. »Endlich«, so leitete die »Allgemeine Zeitung des Judenthums« den Wiederabdruck der »Erklärung« ein, »scheint es doch lichter zu werden!«158 In den nachfolgenden Auseinandersetzungen dämmerte es auch dem letzten jüdischen Kollegen Treitschkes, dass der Historiker zu einem unverbesserlichen Antisemit geworden war. Der Jurist Levin Goldschmidt, den eine persönliche Freundschaft mit Treitschke verband, hatte lange geschwiegen, von der »beherrschende[n] Empfindung einer alten Freundschaft« veranlasst.159 Treitschke könne allerdings wirklich nicht erwarten, dass er ihm in diesen Fragen zustimme. Goldschmidt schloss mit der Feststellung, wie schwer ihn das Auftreten Treitschkes getroffen habe und »[…] wie tief ich mich in der angegriffenen Genossenschaft verletzt gefühlt habe, auch als ›Ausnahme‹.«160Andere 157 Siehe den Brief Webers an Treitschke vom 24.12.1880, Nl. Treitschke, Kasten 9, Mappe Weber. 158 »AZJ« vom 23.11.1880, BAS, Bd. 2, S. 642. 159 Siehe den Brief Goldschmidts an Treitschke vom 4.5.1881, BAS, Bd. 2, S. 850. 160 Ebd., S. 853. Treitschke bedauerte in seiner Antwort zwar die Verletzung, konnte jedoch nicht umhin zu bemerken, dass er in seiner Haltung durch die letzte Zeit nur bestärkt worden sei. Damit dürfte auch diese Freundschaft beendet gewesen sein. Vgl. den Brief Treitschkes an Goldschmidt vom 4.6.1881, Nl. Treitschke, Kasten 15, Bl. 20.

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Juden besiegelten das Kapitel Treitschke auf drastischere Weise: Der Altphilologe Jacob Bernays nannte ihn einfach eine »taube Nuss«.161 Erst allmählich dämmerte es den ersten Juden, dass die Gegnerschaft zu Treitschke und überhaupt zum Antisemitismus nicht zwangsläufig mit einer Verteidigung von Juden und jüdischer Identität gleichbedeutend sein musste. Dass einige Juden diesen Unterschied durchaus konstatierten, lässt sich vor allem an ihren Reaktionen auf Mommens Schrift »Auch ein Wort über unser Judenthum« ablesen. Gerade auch unter gebildeten Juden rief diese Schrift deutliche Kritik hervor. Fast alle Juden und Jüdinnen, die sich deswegen an Mommsen wandten, fühlten sich ihm gegenüber zunächst zu Dank verpflichtet. Zugleich waren sich die Briefeschreiber doch überraschend einig, dass der Althistoriker ihnen mit der Idee der kulturellen Konversion einen inakzeptablen Rat gegeben hatte. Während einige Juden, wie etwa ein Hermann Cohnheim aus Leipzig, nur ihrer Verwirrung über diesen Vorschlag Ausdruck verliehen, traf er andere offensichtlich tief.162 Eine anonyme Jüdin schilderte dem Althistoriker die Wirkung, welche die Schrift auf sie gemacht hatte: »Es war mir beim Lesen Ihrer Schrift wie dem Ertrinkenden zu Muthe, dem, vom Ufer her, die rettende Hand entgegengestreckt wird: schon hebt er sich daran empor, schon ist er im Begriff den Fuß auf festen Boden zu setzen – da plötzlich stößt ihn dieselbe Retterhand zurück in die Fluthen und giebt ihn aufs [sic!] den Wogen preis […].«163

Vor allem wiesen die Korrespondenten immer wieder darauf hin, dass der Übertritt zum Christentum einfach keine kulturelle Konversion bedeute, sondern noch als ein Glaubensbekenntnis angesehen werde. Konvertiten, die es mit der christlichen Religion nicht ernst meinten, werde man als Betrüger ansehen, wenn schon der gläubige Christ und Theologe Paulus Cassel öffentlichen Schmähungen ausgesetzt sei.164 Am prägnantesten brachte der junge Historiker Martin Philippson diese Kritik an Mommsen auf den Punkt. Die jüdische Weigerung, das Christentum als Zeichen der internationalen Zivilisation anzuerkennen, scheine Mommsen »als eine Art verwerflichen Partikularismus« zu begreifen.165 Eigentlich sei es doch ganz einfach: »Wäre die Christenheit wirklich nichts, als der Inbegriff der heutigen, internationalen Civilisation, nun so sind Hunderttausende von Juden von ganzem Herzen Christen. 161 Siehe die Abschrift in: Jakob Bernays – Hans Bach Collection, LBI-NY, AR 7168, A 12/ 5. 162 Vgl. den Brief Cohnheims an Mommsen vom 16.12.1880, Nl. Mommsen, Kasten 16, Mappe Cohnheim. 163 Siehe den Brief von A. L. an Mommsen vom 18.12.1880, Nl. Mommsen, Kasten 75. 164 Für diesen Hinweis vgl. Cäcilie Lions undatierten Brief an Mommsen, Nl. Mommsen, Kasten 78, Mappe Lion. 165 Siehe den Brief Philippsons an Mommsen vom 14.12.1880, Nl. Mommsen, Kasten 95, Mappe Philippson.

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Ich u. unendlich viele meiner Stammesgenossen fühlen sich Eins mit allen Errungenschaften moderner Bildung, humanitären Strebens, politischer Freiheit, sozialer Verbesserung.«166

Faktisch müsse man im Christentum ein System aus Dogmen erkennen, gegen die es gute Gegenargumente gäbe. Wolle man konvertieren, so müsse man sich dazu bekennen. Ein Übertritt, der den spezifischen Gehalt des Christentums ignoriere, sei eine Lüge. Philippson legte mit seinen Einwänden das eigentliche Problem an Mommsens Schrift offen: In seinem Verbesserungsvorschlag hatte der Althistoriker das normalerweise verbrämte religiöse Fundament gegen die gebildeten Juden in Stellung gebracht: Werdet Protestanten, dann erst seid ihr vollständig Teil der bürgerlichen Bildungskultur. Juden wie Martin Philippson hatten hingegen geglaubt, dort schon längst angekommen zu sein. Auch an vielen anderen Stellen finden sich Hinweise, wie wenig erfreut man über Mommens Schrift war. In der jüdischen Presse liest man vorwiegend kritische Beurteilungen. In der »Allgemeinen Zeitung des Judenthums« traf Ludwig Philippson den zentralen Aspekt der Vorwürfe, indem er Mommsen und Treitschke miteinander verglich: »Treitschke sagt: Die Juden können Juden bleiben, müssen aber Deutsche werden. Mommsen sagt: Die Juden sind Deutsche, aber um des Deutschthums willen müssen sie Christen werden. Es frägt sich, wer in diesen Schlußsätzen der freisinnigere ist? [...] Was ist aber das für eine Gemeinsamkeit, die nur dadurch bestehen können soll, daß der Einzelne Alles, was ihm eigenthümlich ist, aufopfere und zu einer bloßen Schablone werde!«167

Philippson hatte damit den Intergationalismus offen gelegt, mit dem die beiden Historiker die Juden zur Selbstaufopferung aufforderten. Die kritische Auseinandersetzung reichte aber über die Presse hinaus. Heinrich Graetz intervenierte bei Jakob Bernays, der, wie bereits erörtert, freundschaftliche Kontakte zu Mommsen unterhielt: »Es ist Ihre Pflicht, Ihrem Freunde klar zu machen, daß man eine vieltausendjährige Religion nicht so cavalièrement abtut.«168 Bernays erhob keinen Einspruch gegenüber Mommsen, war er doch über dessen Schritt selber so enttäuscht, dass er ihm gegenüber gänzlich verstummte. Die Kritik an Mommens Position blieb nicht gänzlich ohne Wirkung. Als einige Zeit später der jüdische Konvertit Benno Bertram Kerry Mommsen an seine Aufforderung zur Konversion erinnerte und von ihm die Unterstützung für eine entsprechende Broschüre gewinnen wollte, lehnte dieser ab, vornehmlich aus taktischen Gründen. Mommsen glaubte, dass sol-

166 Ebd. 167 (Philippson), Mommsen: Auch ein Wort über unser Judenthum, BAS, Bd. 2, S. 793. 168 Graetz, Tagebuch und Briefe, S. 368.

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che Propaganda nur missverstanden werde und leicht das Gegenteil bewirke.169 Die gebildeten Juden erkannten also durchaus die strukturellen Ähnlichkeiten zwischen Mommens und Treitschkes Position in der »Judenfrage«. Gleichwohl registrierten sie auch die gewichtigen Unterschiede zwischen den Professoren; sie vergaßen selten Mommsen für sein Engagement gegen Treitschke und andere antisemitische Agitatoren zu loben. Und in der Tat gab es bedeutende Divergenzen: Mommens Haltung zu den Juden besaß eine Ambivalenz, die Treitschke in seiner Radikalität längst hinter sich gelassen hatte. Wo Mommsen die antisemitische Bewegung rundweg ablehnte, bewegte sich Treitschke darauf zu; wo Mommsen bestimmte Fragen aus der politischen Diskussion heraushalten wollte, war für Treitschke alles Politik; wo Mommsen um Nachsicht und Zurückhaltung gegenüber jüdischer Differenz warb, wollte Treitschke möglichst viel politischen Druck auf die Juden ausüben – und diese Unterschiede wurden auch von den gebildeten Juden gesehen und waren ihnen wichtig. Dennoch hatten sie alles Recht, jenes integrationalistische Fundament zu beklagen, das Mommsen mit Treitschke trotz aller Unterschiede teilte. Der gesamte zweite Streit um Treitschke wurde induziert und vorangetrieben durch andere Konflikte, die in verschiedenen Bereichen – Berliner Öffentlichkeit, Schulwesen und Universität – ausgebrochen waren. Er ist daher ohne diese anderen Konfliktherde nicht nachvollziehbar. Das festgestellt zu haben, soll aber nicht heißen, dass der Kontroverse im Herbst 1880 keine eigenständige Bedeutung zukam. Gerade weil er mit den zentralen Institutionen der bürgerlichen Bildungskultur so eng verknüpft war, erhielt der Streit paradigmatischen Charakter und die beiden Protagonisten wurden zu Identifikations- und Integrationsfiguren der unterschiedlichen Lager und Gruppierungen. Ihr Streit symbolisierte daher mehr als alles andere den politischen Riss, der sich zehn Jahre nach der Reichseinigung unter den gebildeten Bürgern Berlins allmählich aufgetan hatte. Seine innenpolitische Schwächung seit 1878 ließ den Liberalismus in einer seiner wichtigsten sozialen Trägergruppen – den gebildeten Bürgern – und in seiner Kernkultur – der bürgerlichen Bildungskultur – an Einfluss verlieren. Nun war es für alle sichtbar: Die selbsternannte »Leitkultur« war nicht mehr einheitlich liberal. Der universitäre Rahmen war es schließlich auch, der die zweite Auseinandersetzung entschied. Während Treitschke aus dem ersten Konflikt noch als Punktsieger hervorgegangen war, verlor er im zweiten an Boden. Er hatte sich angreifbar gemacht, als er die antisemitischen Studenten offen unterstützte. Der Vorwurf, die Stellung als Universitätslehrer offen zur politischen Agitation in einer auch unter 169 Siehe den Brief Kerrys an Mommsen vom 6.8.1883, Nl. Mommsen, Kasten 71, Mappe Kerry.

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den Studenten so strittigen Frage benutzt zu haben, wog schwer, und Treitschke war an diesem Punkt gezwungen, seinem Kontrahenten nachzugeben. Die Verletzung des akademischen Friedens, nicht seine Aussagen in der »Judenfrage« selbst, ließ Treitschke schließlich wie einen Verlierer im zweiten Streit aussehen.

5.7 Treitschke gegen Mommsen: Auswirkungen des zweiten Streits in der bürgerlichen Bildungskultur »Dies ist der Anblick, den die sogenannte »Metropole der Intelligenz« bietet, sie, die, was Erleuchtung des Geistes, wissenschaftliche Bildung, Aufklärung und Geistesfreiheit betrifft, auf Wien, Paris und London mit großem Selbstbewußtsein hinabblickt, die Stadt Friedrich’s des Großen und Lessing’s, Hegel’s, Schelling’s und der beiden Humboldte, die Stadt der größten deutschen Universität und der Akademie der Wissenschaften, die Stadt der beiden höchsten parlamentarischen Körperschaften Deutschlands, die Stadt zahlloser Bildungsvereine und Bildungsanstalten, die Stadt, deren Bevölkerung seit Beginn an nur Mitglieder der Fortschrittspartei in Reichstag, Landtag und Stadtverordneten-Versammlung schickt – die Stadt, die Brutstätte der mittelalterlichen Vorurtheile, der schmählichsten Intoleranz, der confessionellen Verfolgungssucht […].«170

Auch der zweite Teil des doppelten Streites um Treitschke hatte eine Reihe von Auswirkungen, die diesmal allerdings vornehmlich die gebildeten Protestanten Berlins betrafen. Die wohl unmittelbarste Konsequenz des zweiten Streites im Herbst 1880 war die aufgeputschte Stimmung unter den gebildeten Bürgern der Stadt, die sich u. a. in der Silvesternacht 1880/81 entlud. In den Tagen vor der Jahreswende herrschte unter Berliner Juden Unruhe, da sich Gerüchte über Ausschreitungen verbreiteten. Besorgte Bürger schrieben an den Polizeipräsidenten: »In der Sylvesternacht sollen die Juden dran glauben […].«171 Am frühen Morgen der besagten Nacht kam es in der Tat zu Zwischenfällen im Café Bauer, das Unter den Linden lag und häufig von Juden 170 »AZJ« vom 16.11.1880, BAS, Bd. 2, S. 594. 171 Siehe den anonymen Brief an den Polizeipräsidenten von Madai vom 29.12.1880, Brand. LHA Rep. 30 Berlin C, Tit. 95, Sekt. 5, 15219 (Zur Juden-Frage, 1880–1881), Bl. 53.

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besucht wurde. Unter den Gästen entwickelte sich ein Streit, wobei sich ein Kaufmann als »Judenbengel« und »Judenlümmel« beschimpfen lassen musste. Zwölf dort anwesende Studenten skandierten daraufhin »Juden raus!« und wurden hinausgeworfen.172 Einige Zeit später versammelte sich vor dem Lokal eine beachtliche Menschenmenge – die Polizei sprach von 4–500 Personen.173 Sie riefen Parolen; es wurden antisemitische Reden gehalten. Aus der Menge ertönte auch die Forderung, dass die jüdischen Gäste das Lokal verlassen sollten. Schließlich zertrümmerte man eine Scheibe des Lokals. Erst verstärkte Polizeikräfte konnten die Menge auseinander treiben.174 Zeitungsberichte vermerkten eine besonders große Beteiligung von Studenten unter den gewalttätigen Demonstranten, von denen wahrscheinlich auch die Hochrufe auf Treitschke stammten, die sich in den Lärm mischten.175 Neben solchen handfesten Konsequenzen wurden insbesondere persönliche Beziehungen belastet oder ihnen gar jegliche Grundlage entzogen. Am prägnantesten galt das für Mommsen und Treitschke. Spätestens im Herbst 1880 war die Auseinandersetzung zwischen den beiden so scharf geworden, dass sie sich nicht von der persönlichen Ebene trennen ließ, obwohl beide Beteiligten dazu einige Versuche unternahmen. Bereits in »Auch ein Wort über unser Judenthum« hatte Mommsen diese ganz persönliche Dimension der »Judenfrage« geahnt: »Sie scheidet viele sonst gut und lange Verbündete, und Scheiden thut weh.«176 Noch vor der Schrift hatte sich Treitschke erschrocken gezeigt, wie weit es inzwischen gekommen war: »Mir hat das Herz weh gethan bei Mommsen’s Angriffen. Ich liebe und verehre ihn so aufrichtig mit allen seinen Wunderlichkeiten; er hat mich nach seiner Art so oft umarmt und geküßt; niemals hätte ich ein solches Auftreten für möglich gehalten.«177 Auch Mommsen hoffte noch einige Zeit vergeblich, dass sie trotz allem die freundschaftliche Beziehung, die er zu dem Besten rechne, was er besitze, aufrechterhalten könnten.178 Auf die ›aufrichtige Verehrung‹, mit der Treitschke, noch nachdem er Mommens Schrift gelesen hatte, seinen Brief beendete, folgte Mommens »Immer noch der Ihrige«.179 Doch die Versicherungen gegenseitiger Wertschätzung wurden immer seltener, je länger die beiden versuchten, ihre öffentlichen Erklärungen durch private Klarstellungen zu erläutern. 172 Vgl. den Bericht des Dienst habenden Polizeileutnant vom 5.1.1881, Brand. LHA Rep. 30 Berlin C, Tit. 95, Sekt. 5, 15219 (Zur Juden-Frage, 1880–1881), Bl. 112–113. 173 Vgl. den Bericht des Dienst habenden Polizeileutnant vom 1.1.1881, ebd., Bl. 106. 174 Ebd. 175 Vgl. »BT« vom 3.1.1881. 176 Mommsen, Auch ein Wort über unser Judenthum, BAS, Bd. 2, S. 696. 177 Siehe die Abschrift eines Briefes von Treitschke an Hirzel vom 24.11.1880, Nl. Treitschke, Kasten 16, Bl. 38. 178 Vgl. den Brief Mommsens an Treitschke vom 10.12.80, BAS, Bd. 2, S. 710. 179 Siehe den Brief Treitschke an Mommsen vom 15.12.1880, BAS, Bd. 2, S. 753 sowie den Brief Mommsens an Treitschke vom 16.12.80, BAS, Bd. 2, S. 759.

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Schon bemängelte Mommsen, in Treitschkes »Gefechtsführung« nicht den gleichen »Accent« wie in dessen Briefen finden zu können.180 Treitschke monierte unmittelbar danach die fehlende Offenheit seines Kontrahenten und verstand nicht, wieso er überhaupt auf der anderen Seite gegen ihn kämpfe.181 Am 22. Dezember sah schließlich Mommsen gerade noch genug Verständigungswillen zwischen den beiden, um sich auf ein baldiges Ende der Auseinandersetzung zu einigen.182 Für Treitschke stand zu diesem Zeitpunkt fest: »Mommsen ist unverkennbar in einem Zustand vorübergehender geistiger Störung […].«183 Sicherlich wird dieser über seinen Kollegen kaum anders gedacht haben. Die beiden Historiker hatten allmählich alle Achtung und alle Freundschaft für einander verloren – eine Entwicklung, die sie zeitlebens nicht wieder rückgängig machen konnten. Beide achteten bis zu Treitschkes Tod 1896 peinlich darauf, abgesehen von den unbedingt notwendigen Zusammenkünften innerhalb der Universität nicht aufeinander zu treffen. Noch 1894 sagte Treitschke seine Teilnahme an einer Feier zu Ehren von Heinrich von Sybel ab, weil diese im Hause Mommens geplant war und er dort unmöglich Gast sein konnte.184 Als Treitschke ein Jahr später in die Akademie der Wissenschaften aufgenommen werden sollte, trat Mommsen als deren Sekretär zurück und aus der Akademie aus. Mit seinem ›Ich gehe, wenn er kommt‹ aus dem Begründungsschreiben brachte Mommsen das Verhalten der beiden nach 1880 prägnant auf den Punkt.185 Dabei ging es längst nicht »nur« um persönliche Enttäuschungen, es war ein tiefer weltanschaulicher Graben zwischen den beiden Historikern aufgerissen worden, der sich nicht wieder schließen ließ. Es gab auch wissenschaftsbiographische Konsequenzen der zweiten Auseinandersetzung. Bei Treitschke deutete sich früh an, dass er von diesem Thema nicht wieder loskommen würde. Im Gegenteil, seine Sichtweise auf die »Judenfrage« verhärtete sich im Laufe der Jahre immer weiter, wobei sein extremer Nationalismus – jetzt gar mit imperialistischen Anwandlungen aufgeladen – weiterhin Pate stand. Den Juden hielt er nun »offenbaren Terrorismus« 180 Siehe den Brief Mommsens an Treitschke vom 16.12.80, BAS, Bd. 2, S. 758. 181 Vgl. den Brief Treitschke an Mommsen vom 17.12.1880, Nl. Mommsen, Kasten 122, Mappe Treitschke. 182 Siehe den Brief Mommsens an Treitschke vom 22.12.80, BAS, Bd. 2, S. 787. 183 Siehe die Abschrift eines Briefes von Treitschke an Hirzel vom 23.12.1880, Nl. Treitschke, Kasten 16, Bl. 39. 184 Vgl. die Abschrift eines Briefes von Treitschke an Sybel vom 23.4.1894, Nl. Treitschke, Kasten 17, Bl. 12. 185 In seinem Austrittsschreiben rekurrierte Mommsen direkt auf Treitschkes Engagement gegen die Juden. »Er ist der Vater des modernen Antisemitismus. Gewiß ist dieser selbst so alt wie die Semiten; aber bisher haben die führenden Männer unserer Nation dessen praktische Durchführung in ihrer Widersinnigkeit und Schändlichkeit erkannt und danach gehandelt. Treitschke hat ihn salonfähig gemacht […].« Siehe die Fotokopie des Briefes von Mommsen an Sybel vom 7.5.1895, Nl. Wickert, Kasten 32, Mappe 589.

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vor.186 Schon im Dezember 1880 sah Treitschke die Emanzipationsgesetzgebung in Gefahr: »Schreitet das Judenthum weiter auf der neuerdings betretenen Bahn, dann werden wir diesen jüdischen Staat im Staate noch erleben, und dann müßte sich unter den Christen unfehlbar der Ruf erheben: hinweg mit der Emancipation!«187 In den folgenden Jahren verfestigte sich diese Überzeugung nur weiter, was sich besonders gut an den weiteren Bänden seiner »Deutschen Geschichte« verfolgen lässt. Im ersten Band von 1879 hatte Treitschke nur einige wenige Bemerkungen zu jüdischen Namen fallen lassen. Interessanterweise war er hier auch in seiner Lessing-Darstellung ohne eine polemische Spitze gegen dessen Judenbild ausgekommen. Erst nachdem er in die Auseinandersetzungen mit den Juden im Herbst 1879 und mit Mommsen ein Jahr später verwickelt worden war, radikalisierten sich seine Überzeugungen weiter. In den folgenden Bänden nahmen die Juden immer mehr Raum in der Argumentation ein, bis sie zu einem der wichtigsten Gegenpole im idealisierten Gang der vaterländischen Geschichte wurden. Es kam zu einer fortschreitenden Zuspitzung, an deren Endpunkt er die Emanzipation der Juden für gescheitert hielt. Die außerordentlich breitenwirksame »Deutsche Geschichte« Treitschkes, die in keinem Bücherschrank eines gebildeten Bürgers fehlen durfte, trieb daher an vielen zentralen Argumentationsstellen ein virulenter Hass auf die Juden an. Mommsen konnte von dem Thema ebenfalls nicht völlig lassen. Als er 1885 den fünften Band seiner »Römischen Geschichte« veröffentlichte, der sich mit der Geschichte der römischen Provinzen befasste, warf das Kapitel »Judaea und die Juden« für jeden, der die früheren Auseinandersetzungen verfolgt hatte, die Frage auf: Wie thematisiert er diesmal die antike jüdische Geschichte, nachdem die wenigen Bemerkungen in dem früheren Band soviel Wirbel verursacht hatten? Um es vorweg zu sagen, er tat es auch diesmal in jener Ambivalenz, die ihm bei diesem Thema eigentümlich war. Das Kapitel behandelte den Konflikt zwischen Rom, also dem Sinnbild politischer Herrschaft, und Jerusalem, der Verkörperung einer nichtweltlichen Macht. Mommsen beschrieb, wie diese Konfrontation in der Katastrophe des jüdischen Krieges endete, wobei im Hintergrund unübersehbare Parallelen zur Situation im 19. Jahrhundert mitschwangen. Vor allem an der Weigerung der Juden, sich zu assimilieren und ihre jüdische Eigenart aufzugeben, rieb sich der Althistoriker auch im Fall dieser antiken Geschichte. Er zeichnete das Bild von immer radikaler werdenden messianischen Gruppen, die – bar aller politischen Einsichtsfähigkeit – im Namen einer jüdischen Theokratie den Hass auf Rom schürten. Die Kritik von Philippson setzte an diesem Punkt an:

186 Treitschke, Zur inneren Lage am Jahresschlusse, BAS, Bd. 2, S. 714. 187 Ebd., S. 715.

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»Für Mommsen sind die Römer und Griechen die alleinigen Träger der Kultur, und was nun in diese, doch bereits in Zersetzung geratene und zum völligen Niedergang schnell absteigende Kultur sich nicht hineinbegeben, nicht in sie aufgehen oder doch innerhalb derselben die Eigenart bewahren will, das erscheint ihm verwerflich und verkehrt.«188

Mommsen blieb sich also auch in »Judaea und die Juden« treu: Juden als Juden waren für Staat und Gesellschaft ein Problem; es wäre besser, sie wären keine mehr. Darüber hinaus hatte der zweite Streit auch unter den gebildeten Protestanten organisatorische Konsequenzen. Besonders aussagekräftig war hierbei die Lage an der Berliner Universität.189 Zwar wäre es übertrieben, die Entstehung und die lange Lebensdauer des Antisemitismus in den dortigen Studentenorganisationen nur auf den zweiten Streit um Treitschke zurückzuführen. Allerdings muss in Treitschkes Antisemitismus und seinen Folgen doch mehr als eine zufällige Begleiterscheinung einer Entwicklung gesehen werden, zu der es ohnehin gekommen wäre. Der Historiker erfüllte für den studentischen Antisemitismus eine Katalysatorfunktion, war er doch in die entscheidenden Entwicklungen entweder direkt involviert oder doch zumindest als Stichwortgeber im Hintergrund wirksam. Das geschah keineswegs nur außerhalb seiner Lehrtätigkeit: So berichtete der junge Max Weber, dass die Zuhörer von Treitschkes Kollegien regelmäßig in »frenetischen Jubel« ausbrachen, wenn er »irgendeine antisemitische Andeutung« gemacht hatte.190 Mit seinem Unterricht formte er maßgebliche Anführer der rechten, nationalistischen und antisemitischen Bewegungen kommender Jahre: Unter seinen Studenten befanden sich etwa der spätere Kolonialaktivist Carl Peters und der Führer des Alldeutschen Verbandes, Heinrich Claß. Als im Dezember 1880 der erste »Verein deutscher Studenten« in Berlin ins Leben gerufen wurde, setzte das eine Gründungswelle solcher Vereine an vielen protestantischen Universitäten in Gang. Im Frühjahr 1881 folgten HalleWittenberg, Leipzig, Breslau und Göttingen, im Sommer Kiel und Greifswald. Obwohl diese Bemühungen teilweise auf entschiedenen Widerstand der Universitätsadministration trafen, konnte letztlich nirgendwo verhindert werden, dass die »Vereine deutscher Studenten« von nun an zum Universitätsalltag gehörten. Gleichzeitig formierte sich in Berlin Widerstand dagegen: Auch die »Freie Wissenschaftliche Vereinigung« wurde zum festen Bestandteil der Studentenorganisationen. So war spätestens 1881 die Studentenschaft, insbesondere in Berlin, erheblich politisiert worden; entsprechende Konflikte waren vorprogrammiert. Bis 1882 tobte beispielsweise auf der Berliner Alma Mater 188 »AZJ« vom 14.4.1885, S. 250. 189 Vgl. ausführlich Kampe, Jews and Antisemites at Universities. 190 Weber, S. 174.

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die Auseinandersetzung um die »Akademische Lesehalle«, die 1881 in einem geplanten Handstreich von antisemitischen Studenten übernommen worden war.191 In viele dieser Auseinandersetzungen war jedoch nicht nur Treitschke involviert. Während er immer mehr zur Integrationsfigur für die nationalistischen und antisemitischen Studentengruppen wurde, nahm Mommsen, der beispielsweise im Kuratorium der Lesehalle saß und dort den Einfluss der antisemitischen Studenten zurückzudrängen versuchte, die Gegenposition ein. Als er am 18. Januar 1881 auf dem Allgemeinen Studentenkommers anlässlich des 10. Jahrestages der Reichsgründung sprach, wurde er von antisemitischen Studenten gestört und musste seine Rede abbrechen.192 Angesichts solchen Entwicklungen wird deutlich, wie stark die Kontroverse zwischen Treitschke und Mommsen an die inneruniversitären Entwicklungen gebunden war. Sie stritten sich nicht nur, weil es letztlich um die Definitionsmacht an dieser so wichtigen gesellschaftlichen Institution ging; ihr Streit wirkte auch auf diese Institution zurück, so dass sich mit ihrer Hilfe die verschiedenen Parteiungen unter den Studenten erst herauskristallisieren konnten. In den letzten beiden Kapiteln wurde der doppelte Streit um Treitschke geschildert, bei dem sich – in einer ersten Phase im Herbst 1879 – der Berliner Historiker und gebildete Juden sowie – in einer zweiten Phase im Herbst des folgenden Jahres – vor allem gebildete Protestanten gegenüberstanden. Die beiden Phasen lassen sich klar voneinander unterscheiden: Der erste Streit brach aus, nachdem Treitschke die Juden in seinem Artikel »Unsere Aussichten« scharf angegriffen hatte. Die Attacke muss im Kontext der politischen Wende Bismarcks gelesen werden, mit der sich Treitschkes zunehmend liberalismuskritische Position weiter verhärtete. Gleichzeitig entlud sich hier seine seit langem problematische Sicht auf die Juden, die sich in den Monaten zuvor radikalisiert hatte, wozu ihn sein persönliches Umfeld ermunterte und ihm seine historiographischen Studien Anschauungsmaterial lieferten. In »Unsere Aussichten« griff der Berliner Historiker oberflächlich betrachtet vor allem auf Motive nationaler Fremdheit zurück; eine genauere Analyse seiner Texte ergab jedoch, dass diese durch Motive kultureller Fremdheit dynamisiert wurden, so dass Treitschkes Angriff auf die Position der Juden in der bürgerlichen Bildungskultur verwies. Darauf reagierten vornehmlich gebildete Juden, die neben den Argumenten gegen Treitschke auch eigene Entwürfe einer zeitgemäßen jüdischen Identität lieferten. Sie waren gezwungen, ihre Position in der bürgerlichen Bildungskultur und damit das kulturelle Projekt der jüdischen Integration zu verteidigen. Allerdings wurden an dieser Stelle auch erhebliche 191 Vgl. den Bericht vom 3.3.1881, Akten zur Akademischen Lesehalle, HU-Archiv, Rektorat und Senat; Akten-Nr. 553, Bl. 97f. 192 Vgl. Doeberl und Scheel, S. 542.

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Unterschiede in den Konzepten deutlich, die z. T. durch die unterschiedlichen wissenschaftlichen Biographien der Juden hervorgerufen wurden. Da Treitschkes Angriff von seiner Ästhetik des Gehässigen geprägt war, waren viele der Antwortschriften von dem Gefühl einer tiefen, persönlichen Kränkung durchzogen. Der erste Streit lässt sich als ein Medienphänomen kennzeichnen, da sich in ihm vor allem medial vermittelte Positionen gegenüberstanden. Bemerkenswerterweise waren aber nicht alle Bereiche der zeitgenössischen Medienlandschaft beteiligt, vor allem die liberale Presse hüllte sich zu lange in Schweigen. In all diesen Aspekten unterschied sich der erste Streit fundamental von dem zweiten, der ein volles Jahr später, im Herbst 1880, die Gemüter der gebildeten Bürger Berlins erregte. Vielfältige Konflikte, welche die »Judenfrage« in der Stadt auslöste und die zahlreiche Bereiche der dortigen Bildungskultur tief erschütterten, bildeten nun den Kontext der Auseinandersetzung. Die motivierende Streitinformation im Herbst 1880 lag eigentlich in der Wirkung, mit welcher der Historiker Antisemitismus in der Bildungskultur zu verbreiten half und somit die Vorherrschaft des Liberalismus auch über die parteipolitische Schwächung hinaus bedrohte. In diesem Streit spielten gebildete Protestanten die größere Rolle, während Juden sich kaum beteiligten. Von besonderer Bedeutung wurde die Gegnerschaft Mommens. Der sich entwickelnde Zweikampf der beiden Universitätsprofessoren führte automatisch dazu, dass die Universität mit in die Kontroverse einbezogen wurde. Auch die Geschehnisse an den Berliner Schulen spielten hierbei eine Rolle, die es im ersten Streit nicht gegeben hatte. Dem universitären Rahmen war es auch geschuldet, dass die persönliche Auseinandersetzung der beiden Historiker berufliche Aspekte erhielt: Sie verteidigten sich jeweils, indem sie Vorstellungen einer akademischen Ehre bemühten. Das mediale Echo auf den zweiten Streit war ungleich höher, da es sich über die gesamte Presselandschaft erstreckte. Von einem Medienphänomen zu sprechen, wäre allerdings verfehlt, weil diesmal konkrete Spannungen an konkreten Orten und Institutionen entscheidend waren. Etwas zugespitzt lässt sich konstatieren: Der erste Treitschke-Streit tobte über die Rolle der jüdischen Identität in der Bildungskultur, der zweite Treitschke-Streit über die Bedeutung des Antisemitismus in der bürgerlichen Bildungskultur. Mithin macht es keinen Sinn, diese weiterhin als »Berliner Antisemitismusstreit« zu einer einzigen Auseinandersetzung zusammenfassen zu wollen. Neben allen Unterschieden muss man zugleich eine elementare Gemeinsamkeit zwischen den beiden Kontroversen unterstreichen, die jedoch weniger als Argument für einen einzelnen Streit verstanden werden sollte, denn als Beleg für eine bestimmte Interaktionsstruktur zwischen gebildeten Juden und Protestanten in der bürgerlichen Bildungskultur, die als solche jeden Streit beeinflussen musste. Dieser Aspekt wurde besonders deutlich in 323

einer zeitgenössischen Karikatur, die der »Kladderadatsch« Ende November 1880 unter der Überschrift »Ungemüthlich« veröffentlichte.193 Sie zeigt mehrere Männer, z. T. wild gestikulierend, in Streitgespräche verwickelt. Die Figur in der Mitte des Bildes, die eine lange Erklärung mit Unterschriften in Händen hält, soll offensichtlich Mommsen darstellen. Über den Köpfen der Männer ist angegeben, wer sich hier streitet: Antisemit, Antiantisemit, Antianti…. Am linken Bildrand steht schließlich eine weitere männliche Figur: Der »Semit« wendet dem Geschehen den Rücken zu und macht eine ratlose Handbewegung, so als wolle er sagen, dass dies nicht sein Streit ist. Wenn man sich diese Figur genauer anschaut, erkennt man hinter der bürgerlichen Fassade die Gesichtszüge des Juden, so dass die Identifikation als »Semit« fast überflüssig erscheint. Hinter dem bürgerlichen Antlitz blieb der nur halbangepasste Jude wahrnehmbar. Der schmale, aber doch merkliche Abstand zwischen dem Juden und den streitenden Protestanten manifestiert eine Distanz, die der zweite Streit um Treitschke offen legte. Sicherlich bezog sich die Karikatur damit auf die Situation im Herbst 1880. Hier stand der Jude alleine, und die gebildeten Protestanten stritten sich über ihre Erklärungen für oder wider den Antisemitismus. Doch hatte es eine ähnliche Kluft auch ein Jahr zuvor gegeben, nur dass sich damals die gebildeten Juden mit Treitschke gestritten hatten, während gebildete Protestanten abseits gestanden hatten. Diese zwei Bilder nebeneinander gelegt, ergibt das zentrale Dilemma des doppelten Streits um Treitschke. Eine gemeinsame Front gegen Treitschke, Querverbindungen über die ethnisch-religiösen Unterschiede hinweg, eine gemeinsame Streitinteraktion von gebildeten Juden und Protestanten hat es zehn Jahre nach der Judenemanzipation nicht gegeben. Die öffentliche Auseinandersetzung offenbarte, wie sehr ihr Verhältnis in der Bildungskultur von einer fundamentalen Interaktionsdistanz geprägt war.

193 »Ungemüthlich«, in: Kladderadatsch. Humoristisch-satirisches Wochenblatt vom 28.11.1880, 1. Beilage. Die Karikatur ist auf dem Umschlag des Buches abgebildet.

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6. Gebildete Doppelgänger unter sich. Die antisemitische Disposition und die jüdische Mission im gebildeten Bürgertum

»Man muß sich damit begnügen, die hervorstechendsten unter jenen unheimlich wirkenden Motiven herauszuheben [...]. Es sind dies das Doppelgängertum in all seinen Abstufungen und Ausbildungen, also das Auftreten von Personen, die wegen ihrer gleichen Erscheinung für identisch gehalten werden müssen, [...] die Identifizierung mit einer anderen Person, so daß man an seinem Ich irre wird oder das fremde Ich an die Stelle des eigenen versetzt, also Ich-Verdoppelung, Ich-Teilung, Ich-Vertauschung – und endlich die beständige Wiederkehr des Gleichen, die Wiederholung der nämlichen Gesichtszüge, Charaktere, Schicksale [...].«1

Einige Monate nach dem zweiten Streit um Treitschke, genauer am 7. Mai 1881, notierte Hermann Grimm einige Gedanken über eine »Graeca-Sitzung mit Damen«, die am Abend zuvor stattgefunden hatte.2 »Der Mensch«, so begann er seinen Eintrag, »beobachtet unbewusst sobald einmal eine Richtung eröffnet ist in der Beobachtungen angestellt werden können.«3 Sein beobachtender Blick fiel auf das Jüdische, und er fiel auf eine Frau: »Frau Kronecker war die einzige Jüdin unter den Frauen. Es fiel mir in höchstem Grade auf, wie verschieden ihre Art zu sprechen und zu denken von der der andren war. Alles was sie sagte hatte etwas von juristischer Präcision, von Zeugenaussage. In bewußtem Accente – gar mit der Absicht gesagt, recht deutlich zu sein, kein Unverständnis zu erregen. Ihre Sprache hatte etwas litterarisches. Etwas Correctes. Etwas Docierendes. Etwas Abgerundetes. Sie hält darauf, etwas das sie zu erzählen begonnen hat, auch auszuerzählen. Sie bringt nie einen abgerissenen halben Gedanken vor. Sie kommt auf für die Richtigkeit ihrer Angaben. All dies so unmerklich, daß man in

1 Freud, S. 257. 2 Siehe den Tagebucheintrag vom 7.5.1881, Nl. Hermann Grimm, Hessisches Staatsarchiv Marburg, Bestandsnr. 340, Ms 139, Bl. 28. 3 Ebd.

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früheren unbefangenen Zeiten kaum darauf geachtet hätte. Und nun, so dergleichen Beobachtungsobject geworden, tritt es scharf hervor.«4

Mit diesen Worten beschrieb Grimm Fanny Kronecker, die Ehefrau des an der Preußischen Akademie der Wissenschaften tätigen Mathematikers Leopold Kronecker. Mit ihm war Grimm bis vor kurzem befreundet gewesen; beide hatten sich allerdings während der Kontroversen um Treitschke heftig gestritten. Grimms Beobachtungen sind von einer tiefen Ambivalenz geprägt; Frau Kronecker faszinierte und bedrohte ihn zugleich. In ihrer Perfektion war sie ihm unheimlich geworden. Gebildete Juden und Jüdinnen wie sie hatten sich zwar vollkommen an ihr kulturelles Umfeld angepasst; gebildete Protestanten wie Grimm konnten sie aber gerade in ihrem Akkulturationswillen als Parvenüs identifizieren. Wenn man sich die Situation aus heutiger Perspektive vorstellt, wird man wahrscheinlich konstatieren: Frau Kronecker dürfte eine freundliche, umsichtige und gebildete Frau gewesen sein, die sich zu artikulieren und zu benehmen wusste, vermutlich eine angenehme Zeitgenossin. Sie von oben bis unten anzuschauen, hieß nicht nur, einen sehr männlichen Blick auf sie zu werfen. Es bedeutete auch, bei dieser »Graeca-Sitzung«, an der die Teilnahme einer Jüdin offenkundig kein außergewöhnliches Ereignis mehr darstellte, erneut Verschiedenheit, in der Gleichheit eine Differenz zu behaupten. Gebildete Juden waren in gewisser Hinsicht zu gleich geworden. Frau Kronecker erschien Herrn Grimm in ihrem Gebildetsein als eine typische Jüdin; alles, was sie mit den anderen Anwesenden gemeinsam hatte, erschien plötzlich merkwürdig, monströs, irgendwie unheimlich. Fanny Kronecker war durch ihren Akkulturationserfolg zu einer Art gebildeter Doppelgängerin geworden, welche die bürgerliche Bildungskultur reproduzierte und zugleich zu verändern schien. Grimm hatte, wie er selbst bemerkte, das Beobachten neu erlernt: Das Jüdische in Juden zu erkennen, die eigentlich keine mehr waren, war keine leichte Aufgabe – und beileibe keine banale. In gewisser Hinsicht musste ihr Jüdischsein dem Beobachten vorausgesetzt werden. Es war den Bedingungen der Möglichkeit, gebildete Bürger überhaupt als solche zu erkennen, eingeschrieben worden. Für diese Studie über gebildete Juden und Protestanten im 19. Jahrhundert verkörpert die Fähigkeit Grimms, in der Gleichheit eine Differenz zu erkennen, einen Endpunkt jener Prozesse, in denen gebildete Juden und Protestanten ihr gemeinsames Zusammenleben neu aushandelten. An deren Beginn stand eine unvollständige Säkularisierung, welche das Verhältnis überhaupt erst ermöglichte. Weil Juden wie Protestanten im Bildungsideal ihre eigenen Traditionen weiterleben konnten, erfasste die durch dieses Ideal entstehende gesellschaftliche Mobilisierung beide Kollektive und transformierte sie. Aus 4 Ebd., Bl. 28f.

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dem Bildungsideal entstand im frühen 19. Jahrhundert die bürgerliche Bildungskultur – und Juden nahmen in steigendem Ausmaß an ihr teil. Die Bedeutung dieser Kultur lässt sich schließlich nicht zuletzt daran erkennen, wie eindeutig der jüdische Integrations- und Akkulturationsprozess an ihr orientiert war. Für immer mehr Juden lag das eigentliche Ziel ihrer Bemühungen darin, gebildet zu sein. Das resultierte zum einen aus den Chancen, welche das Bildungsideal in einer Gesellschaft, die sich gerade aus den ständischen Schranken löste, für alle außerständischen Aufstiegswilligen bot. Zum anderen versprach eine Teilhabe an der bürgerlichen Bildungskultur Juden die Erfüllung jener Anforderungen, welche die nichtjüdische Gesellschaft und insbesondere der Staat im Austausch für staatsbürgerliche Rechte erhoben. Die außerordentlichen Bemühungen von Juden um die bürgerliche Bildungskultur kann gleichwohl nur erklären, wer darin auch eine Fortschreibung jüdischer Identitäten mit anderen Mitteln sieht. Wenn man vom zweiten Beweggrund absieht, sah die Ausgangslage für Juden wenig anders als für Protestanten aus. Auch sie sahen in der Bildungskultur eine Mischung aus Mobilisierung und Traditionsbewahrung. Mit dem gemeinsamen Streben nach dem Status eines Gebildeten entwickelte sich zwischen Juden und Protestanten zugleich ein besonders kompliziertes Verhältnis aus Nähe und Ferne, das in den folgenden Jahrzehnten eine ganz eigene Dynamik entwickeln sollte. Je weiter das Jahrhundert voranschritt, desto deutlicher wurde, dass die religiöse Verbrämung in der bürgerlichen Bildungskultur auch zur Abgrenzung benutzt werden konnte. Gebildete ließen sich als ungebildet hinstellen, schlicht weil sie Juden waren, mithin weil implizit oder explizit nur Protestanten als gebildet (im Sinne der Bildungskultur) gelten konnte. Juden verkörperten im späten 19. Jahrhundert paradigmatisch die angeblich überall drohende Halbbildung. Herr Grimm spielte darauf an, als er in Frau Kronecker einen typischen jüdischen Parvenü sah, und aktualisierte somit eines von vier Wahrnehmungsmustern des Jüdischen, die unter gebildeten Protestanten zirkulierten. Anhand unterschiedlichster Diskussionen über das jüdische Wesen, vor allem in der Literatur oder den Geistes- und Kulturwissenschaften, ließ sich zeigen, dass dabei der jüdische Parvenü neben dem Materialisten, dem Talmudisten und dem Nomaden stand. Alle vier verwiesen als Negativbilder – kulturell unproduktive Halbbildung, selbstsüchtiger Materialismus, unmoralischer Kritizismus und Werte zersetzende Heimatlosigkeit – sogleich auf die in der bürgerlichen Bildungskultur gehuldigten Kardinaltugenden: Schaffenskraft, Idealismus, Sittlichkeit und Nationalismus. Ein weiteres Mal gelang es gebildeten Bürger – diesmal im Umweg über die Juden –, ihren spezifisch bürgerlichen Charakter hinter der vermeintlichen Allgemeingültigkeit der Bildungskultur zu verbergen. Hinter solchen Mustern der Uneigentlichkeit – nicht wirklich bei sich zu sein, stets nach einem Anderen zu streben – schimmerten 327

Vorstellungen einer eigentlichen, der eigenen, Kultur durch. Allerdings waren diese Gegenüberstellungen wesentlich weniger stabil, als es gebildeten Protestanten lieb sein konnte. Mit eindeutigen Judenfiguren in der Literatur, mit Verweisen auf Geschichte, Religion und Kultur der Juden seit früher Vorzeit versuchten sie zwar, solche Muster zu stabilisieren. Das gelang ihnen aber nur partiell; stets konnte in eben diesen Figuren oder Verweisen das Gegenteil zum Vorschein kommen. Gleichwohl brachte solches Oszillieren den eigentlichen Charakter der Wahrnehmungsmuster hervor: Die Zuschreibungen konnten damit omnipräsent und unwiderlegbar werden. Alles ließ sich mit ihnen behaupten; alles schien mit ihnen vereinbar. Darüber hinaus trieben sie sich selbst voran: Weil Negativ- jederzeit in Positivbilder umschlagen konnten, mussten sie immer weiter bearbeitet werden. Gerade die tiefe Ambivalenz in den Wahrnehmungsmustern des Jüdischen bezeugte deren Wahrheitsgehalt und führte zu deren beständiger Weiterbearbeitung und Verbreitung. Juden verhielten sich zu diesen Zuschreibungen, indem sie z. T. grundlegende Kritik an ihnen übten. Kein gebildeter Protestant konnte behaupten, über die Implikationen seiner Konstruktionen nicht aufgeklärt zu werden. Sowohl die Judenfiguren in der Literatur, als auch die Forschungen in der Philologie, der Anthropologie, der protestantischen Theologie und der Geschichtswissenschaft, in denen Aussagen zu Juden und jüdischer Geschichte getroffen wurden, waren unter den Zeitgenossen bereits umstritten. Protestantische Autoren stellten ihre Behauptungen trotz (oder gerade wegen) ihres provozierenden Charakters auf. Juden besaßen zudem ein eigenes Interesse an solchen Konstruktionen; auch sie wollten Fragen nach dem jüdischen Wesen in Geschichte und Gegenwart geklärt wissen. In der bürgerlichen Bildungskultur entwickelten sie daher ein Gegenmodell zu den Wahrnehmungsmustern, die ihnen alle einen Status der Uneigentlichkeit zuwiesen. Der Menschheitsjude stellte demgegenüber eine genuin jüdische und ebenfalls unvollständig säkularisierte Interpretation der bürgerlichen Bildungskultur dar. Bürgerliche Sittlichkeit, bürgerlicher Idealismus, bürgerliches Bildungsstreben – alles das erschien in solchen Konstruktionen als eine uralte jüdische Erfindung und zugleich als ein jüdischer Auftrag, eine neue Auserwähltheit. In der bürgerlichen Bildungskultur Jude zu bleiben, bedeutete nichts anderes, als eben diese Kultur zu befördern, da Juden sie schon immer besessen hätten. Gebildete Protestanten wiederum mussten gerade auf diese Missionsgedanken ungehalten reagieren, schrieb er ihnen doch die Position zu, selbst kulturelle Nachahmer zu sein: die eigentlichen Doppelgänger eines ursprünglich jüdischen Kulturideals. Wie sich auch an Grimms Tagebucheintrag zeigen ließe, verschränkten sich die wechselseitigen Wahrnehmungen von gebildeten Juden und Protestanten ineinander. Frau Kronecker hatte sich mit offenkundig erheblichem Aufwand ihrer protestantisch-gebildeten Umwelt angepasst. Die Reaktion, die sie damit 328

hervorrief, bestand darin, dass Grimm in ihr weiterhin eine Jüdin sah; er würde vermutlich, wenn wir ihn hätten fragen können, für eine weitere, nur eben weniger jüdische Angleichung an die protestantische »Leitkultur« plädieren. Wie hätte wiederum Frau Kronecker anders darauf reagieren können, als sich weiter darum zu bemühen, exakt so zu sein wie alle anderen gebildeten Bürger? Das alles ist freilich Spekulation; es verweist jedoch auf jenes Aufschaukeln von protestantischen Bildungsanforderungen und jüdischen Bildungsbemühungen. Gebildete Protestanten problematisierten die zunehmende Anwesenheit von Juden in ihrer Lebenswelt. Gebildete Juden wiederum hoben – gerade anlässlich der Vorwürfe, denen sie ausgesetzt waren – ihre Teilhabe an der bürgerlichen Bildungskultur hervor und wollten diese sogar intensivieren, was wiederum aufseiten der Protestanten das Problembewusstsein steigerte. Dieser Wahrnehmungsspirale konnte auch Frau Kronecker nicht entkommen; egal, was sie tat, sie blieb Jüdin. Als ihre gegenseitigen Wahrnehmungen immer weniger miteinander vereinbar waren, begannen gebildete Juden und Protestanten einen Prozess des kommunikativen Aushandelns über eben diese wechselseitigen Perzeptionen. Das geschah allerdings in einem sich wandelnden gesellschaftlichen Umfeld. Mit der Reichsgründung war unter gebildeten Bürgern zunehmend Verunsicherung über den Zustand ihrer bürgerlichen Bildungskultur zu spüren. Die entsprechenden Krisenwahrnehmungen hatten ihren Ursprung in realen Veränderungsprozessen, etwa der Öffentlichkeitsstrukturen oder des Bildungssystems, sie waren jedoch zugleich durch die übersteigerte Erwartungshaltung gebildeter Bürger bedingt. Das reale Reich entsprach nur selten der Kulturnation, die gebildete Bürger aufbauen wollten. Ihr Rezept gegen den Verlust an Einfluss stellte eine Propagierung und Intensivierung der bürgerlichen Bildungskultur dar. In eine Krise geraten, glaubten gebildete Bürger die hegemoniale Stellung ihrer Bildungskultur noch stärker einfordern zu müssen. Ein solches Unterfangen erschien umso dringlicher, weil sich die kulturellen Veränderungsprozesse mit dem Strukturwandel der Öffentlichkeit zu verbinden begannen. Die bürgerliche Teilöffentlichkeit spezialisierte sich nach 1871 stärker auf ihr eigenes Publikum, verlor dabei aber in der gesamten Gesellschaft an Einfluss. Aus diesem Grund zeichneten gebildete Bürger in einer ersten Welle von Medienkritik ein chaotisches Bild der öffentlichen Meinung, die sich nicht mehr an ihren bürgerlichen Leitmaximen zu orientieren schien. Die Veränderungsprozesse in der Öffentlichkeit, aber auch die Krisenwahrnehmungen insgesamt ließen sich leicht auf die gewandelte Position der Juden in Gesellschaft und Kultur beziehen. Wie an der bürgerlichen Bildungskultur, nahmen sie an der bürgerlichen Teilöffentlichkeit selbstbewusst Anteil und prägten diese an z.T. führender Stelle mit. Bei allen diesen Aspekten spielte eine zentrale Rolle, dass Juden in den Augen vieler gebildeter Protestanten Juden geblieben waren: Nur Juden als Juden ließen sich für die Strukturverän329

derungen brandmarken. In diesem Zusammenhang war entscheidend, dass die Stellung der Juden mit der formellen Emanzipation entscheidend verbessert wurde. Die rechtliche Gleichberechtigung der Juden untergrub eine besonders im Liberalismus zentrale Rechtfertigungsstrategie für jüdische Differenz: Die Behauptung, dass Juden Juden blieben, weil man sie unterdrückt habe, implizierte die Vorstellung, dass emanzipierte Juden keine mehr sein müssten. Das leuchtete gebildeten Protestanten angesichts des realen Zusammenlebens mit Juden immer weniger ein. Wenn Juden Juden blieben, musste das ihrem unveränderlichen Wesen geschuldet sein. Die Wahrnehmungsmuster, mit denen in der Literatur ein jüdischer Typus dem bürgerlichen Helden gegenübergestellt wurde oder in den Geistes- und Kulturwissenschaften langzurückliegende Ausprägungen eines immer gleichen jüdischen Charakters beschrieben worden waren, konnten hier ansetzen. Als nach der Reichsgründung aus den Wahrnehmungs- Kommunikationsmuster wurden, entstand die »Judenfrage«. Der jüdische Parvenü, der Talmudist, der Materialist und der jüdische Nomade waren nunmehr auf die Gegenwart bezogen und zugleich erheblich politisiert. Hier ging es nicht mehr um Detailfragen antiker Geschichte, sondern um den Kern liberalen Politikverständnisses, wie es unter gebildeten Bürgern auch noch nach 1871 vorherrschend war. Gegenüber den Wahrnehmungsmustern kam es zugleich zu einer Kommunikativierung des Jüdischen. Eine Ausweitung des Diskutantenkreises, wie es vor allem in der Flugschriftenkommunikation sichtbar wurde, fand ebenso wie eine direkte Thematisierung der jüdischen Rolle in der gegenwärtigen Gesellschaft statt. Verbunden war das mit einer Normativierung der bürgerlichen Bildungskultur. Im Kampf um ihre Rolle in der neuen Nation benutzten gebildete Protestanten u. a. die »Judenfrage«, um ihren kulturellen Vorstellungen Nachdruck zu verleihen. Ihr Bildungsideal erhielt dabei den Charakter eines gesellschaftlichen Allheilmittels, weil es zum sittlichen Maßstab aller gesellschaftlichen Verhältnisse werden sollte. Diese Verwandlung der Wahrnehmungs- in Kommunikationsmuster lag den öffentlichen Debatten über die »Judenfrage« zugrunde, wie in dieser Arbeit vor allem anhand der umfangreichen Flugschriftenkommunikation demonstriert wurde. Die Flugschriften verdeutlichten jedoch noch einen weiteren zentralen Aspekt für das Verhältnis von gebildeten Juden und Protestanten: Die Öffentlichkeit schrieb den Kommunikationsteilnehmern unterschiedlich legitimierte Positionen zu. Indem sich Juden gegen die direkten Angriffe auf ihre Identität verteidigen mussten, waren sie gezwungen, ihre Identität als Juden zu offenbaren. In solchen erzwungenen Bekenntnissen sahen wiederum gebildete Protestanten das, was sie sowieso schon vermuteten: dass Juden sich nur als Juden äußern wollten, dass sie ungeachtet aller Integration und Akkulturation Juden geblieben waren. Zwischen den beiden Seiten ergab sich in der »Judenfrage« ein kommunikatives Gefälle, wobei die Juden ihr angeblich partikulares Interesse 330

und eben nicht das Gemeinwohl aller vertraten. »Jüdisches Sprechen« entwertete sich in der Kommunikationsgemeinschaft gebildeter Bürger von selbst. Als das kommunikative Aushandeln unter gebildeten Bürgern nicht mehr funktionierte, oder, anders formuliert, als die Debatten über die »Judenfrage« derart ausuferten, dass sie nicht mehr kontrollierbar waren, bedurfte es nur eines kleinen Auslösers, um einen handfesten Streit zu verursachen. Diesen lieferte Treitschke, als er die antisemitische Bewegung lobte und für seinen Feldzug gegen den Liberalismus instrumentalisierte. Die Argumentationsstruktur des Berliner Historikers knüpfte dabei an jenes Vorbild an, das Richard Wagner ein Jahrzehnt zuvor für antisemitische Attacken gegen die Rolle der Juden in der bürgerlichen Bildungskultur geliefert hatte. In beiden Fällen galt es gegen konkrete Sagbarkeitsregeln zu verstoßen; die bürgerliche Redehemmung beider Autoren war keinesfalls inszeniert. Um sie zu überwinden, bedurfte es Rechtfertigungsstrategien, die sich bei beiden Autoren ebenfalls ähnelten: Ausnahmejude, Umkehrung des Täter-Opfer-Verhältnisses, Bezugnahme auf eine natürliche Abneigung im Volk. Im Ziel ihrer Argumentation unterschieden sich Wagner und Treitschke auch nicht: Sie hofften auf eine kulturelle Erlösung des eigenen Volkes durch ein Ende der »Judenfrage«; bei Wagner richtete sich das auf eine kulturelle Wiedergeburt, bei Treitschke auf eine nationale. Wie man die »Judenfrage« selbst jedoch lösen sollte, darüber herrschte bei beiden Verfassern eine kategoriale Ratlosigkeit: Sie beide empfahlen den Juden, ihre jüdische Identität aufzugeben, ohne aber daran zu glauben, dass dies überhaupt möglich sei. Zentraler Motor ihrer Texte ist in der kulturellen Bedrohung durch die Juden zu sehen. Wagners Zersetzungsphantasien gehören hier ebenso her wie Treitschkes Schreckensvision einer deutsch-jüdischen Mischkultur. In letzter Konsequenz waren diese Schriften angetrieben von der Unheimlichkeit, die gebildete Doppelgänger bei jenen auslöste, die glaubten, die kulturellen Originale zu sein. Mit Blick auf den Antisemitismus unter gebildeten Bürgern drängt sich noch eine weitere Schlussfolgerung auf: Gebildete Bürger benutzten seltener den Rassenbegriff, als es die Forschungslage zum modernen Antisemitismus suggeriert. Konzepte eines Volksgeistes waren in ihren Diskussionen wesentlich einflussreicher, so dass die entsprechenden Vorstellungen an vielen Stellen dieser Arbeit erörtert wurden. Dahinter verbarg sich gleichzeitig ein leicht anderes Verständnis von den fundamentalen Unterschieden zwischen Juden und Nichtjuden. Hier ging es meistens um geistige Konflikte; die körperlichen Merkmale der Juden spielten kaum eine Rolle. Zweifelsohne standen sich in diesem geistigen Konflikt ebenfalls zwei in sich gefestigte Entitäten gegenüber, allerdings handelte es sich dabei um moralische Unterschiede. Zwischen diesen bürgerlichen Formen des Antisemitismus und den zur Jahrhundertwende immer einflussreicheren rassistischen Konzepten lassen sich 331

allerdings zwei Verbindungen ziehen. Erstens bereiteten die bürgerlichen Ausprägungen des Antisemitismus die rassistischen vor. Wer einmal akzeptiert, dass Juden und Nichtjuden in ihrer Kultur und in ihrer Sittlichkeit grundlegend voneinander differieren, der wird es auch einsichtiger finden, dass sich diese geistigen Gegensätze in körperlichen Elementen niederschlagen. Zugleich blieb im rassistischen Antisemitismus ein moralisch argumentierender Rest erhalten. Auch ein Rassist muss den Juden besondere Fähigkeiten zugestehen, über die keine andere Rasse verfügt. Juden infiltrieren die anderen Rassen, indem sie sich ihnen scheinbar anpassen, nur um sie von innen zu destabilisieren. Diese Figur, die bis zum Nationalsozialismus und darüber hinaus ein Grundelement des rassistischen Antisemitismus bildete, ist ein Erbe des moralisch argumentierenden Antisemitismus des 19. Jahrhunderts. Der folgende doppelte Streit, den Treitschke mit seinem Angriff auslöste, berührte schnell das Interaktionsgeflecht zwischen gebildeten Juden und Protestanten, vornehmlich in Berlin, wo die Kontroversen ihr Gravitationszentrum besaßen. Freundschaften zerbrachen, Kollegien entzweiten sich und regelmäßiges oder zufälliges Beisammensein von gebildeten Juden und Protestanten wurde gestört. Selbst bei einer Abendveranstaltung wie jene »Graeca-Sitzung mit Damen« war die Unschuld vorüber, wenn auch augenscheinlich vornehmlich in Grimms Kopf. Neben dem offensichtlichen Bedürfnis der unterschiedlichen Fraktionen, strittige Themen zu diskutieren, Attacken zu lancieren und Verteidigungspositionen zu sichern, manifestierten sich in diesen Streitinteraktionen auch andere Aspekte. Auf protestantischer Seite artikulierte sich das seit der Reichseinigung steigende Unbehagen an der bürgerlichen Bildungskultur und verdichtete sich in einen Angriff auf die gebildeten Juden. Die Attackierten antworteten nicht nur mit Widerlegungen, sondern diskutierten im selben Atemzug grundlegende Fragen ihrer eigenen Identität als Juden und Deutsche. Das geschah weniger aus einem apologetischen Interesse, den Protestanten ja alles Recht zu machen, als vielmehr aus einem selbstbewussten Versuch, die eigene Position in der deutschen Gesellschaft im Allgemeinen und in der bürgerlichen Bildungskultur im Besonderen zu behaupten. Dabei wurde ein ganzes Spektrum von Antworten sichtbar, die von einer skeptischen Haltung gegenüber der Akkulturation und Integration bis zu deren Bejahung, von einer besonderen Hervorhebung der eigenen Bedeutung als Juden bis zum Zweifel daran reichten. Auch hier gilt es jedoch neben den vielfältigen einzelnen Argumentationen die Interaktionsmuster, die sich in dem doppelten Streit um Treitschkes Antisemitismus offenbarten, nicht aus den Augen zu verlieren. Wer sich streiten kann, teilt viele Gemeinsamkeiten und, umgekehrt, wer getrennt streiten muss, reproduziert Unterschiede. Gebildete Juden und gebildete Protestanten stritten sich nur begrenzt miteinander; vielmehr gerieten in zwei unterschied332

lichen Streitphasen gebildete Juden und Treitschke sowie Treitschke und andere Protestanten, insbesondere Theodor Mommsen, aneinander. In der ersten Auseinandersetzung thematisierten die Kontrahenten vornehmlich die Berechtigung einer jüdischen Identität in der bürgerlichen Bildungskultur; in der zweiten die Bedeutung des zeitgenössischen Antisemitismus in der bürgerlichen Bildungskultur. Über Letzteres zerstritten sich die beiden Historiker, wobei Mommsen die offene Unterstützung der antisemitischen Bewegung durch seinen Kollegen klar und deutlich verurteilte, ansonsten aber einiges mit Treitschke gemein hatte. Wie mit der jüdischen Identität umzugehen war, der Streitpunkt in der ersten Auseinandersetzung, darüber befand sich Mommsen im Zwiespalt. Auch wenn er es ablehnte, wie sein Kollege diese Frage offen auf die politische Agenda zu setzen, sah er doch ein moralisches Problem, wenn Juden Juden bleiben wollten. Hier erkennt man die Konturen jenes in der bürgerlichen Bildungskultur weit verbreiteten Integrationalismus, mit dem eben diese Kultur Juden – ungeachtet ihrer realen Integrations- und Akkulturationserfolge – stets als Maßstab für eine weitere Veränderung vorgehalten werden konnte. Aufgrund dieser Nähe zu Treitschke konnte Mommsen die Positionen, die im ersten Streit von gebildeten Juden zu ihrer Verteidigung vorgebracht worden waren, nicht teilen und erwähnte sie mit keinem Wort. Wie sich an der Karikatur des »Kladderadatsch« zeigen lässt, legte der doppelte Streit um Treitschkes Antisemitismus eine fundamentale Interaktionsdistanz zwischen gebildeten Juden und Protestanten offen. Auch wenn wir nicht wissen, wie bei der oben erwähnten »Graeca-Sitzung« kommuniziert wurde und wie die Teilnehmer und Teilnehmerinnen an diesem Abend interagierten, so kann man in Grimms Tagebuch doch Hinweise auf die hier vertretenen Thesen zum Verhältnis zwischen gebildeten Juden und Protestanten finden. Grimm war durchaus bereit, in der Kommunikation und Interaktion zwischen »deutschen« und jüdischen Frauen weitere Unterschiede zu sehen, wie zumindest der Nachsatz beweist, den er seinem oben zitierten Tagebucheintrag hinzufügte: »Das unbefangene herzliche Gelächter einer deutschen Frau, die sich mit einer gewissen schalkhaften Gutmüthigkeit den Männern unterordnet, fehlt den Jüdinnen durchaus.«5 Grimms Misogynie – Frauen sollten lieber unbefangen lachen anstatt gebildet zu kommunizieren, und sich lieber unterordnen anstatt gleichberechtigt agieren zu wollen – verwies zugleich auf das kommunikative Gefälle und die Interaktionsdistanz zwischen gebildeten Juden und Protestanten.6 Mit Hermann Grimms Be5 Ebd., Bl. 29. 6 An dieser Stelle wird spätestens offensichtlich, dass Grimms Blick auch der eines Mannes war, den das Selbstbewusstsein seines weiblichen Gegenübers nicht nur faszinierte, sondern zugleich bedrohte. Als solches lässt sich diese Episode natürlich ebenso der Geschichte bürgerlicher Geschlechterkonstruktionen zuordnen, ja, man wird dieser Quelle nur gerecht, wenn man die misogynen und antisemitischen Konstruktionen auf einen identischen Ursprung bezieht: die Verunsicherung Grimms.

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obachtung von Fanny Kroneckers lässt sich somit jene Disposition zum Antisemitismus beschreiben, die man für die gebildeten Protestanten wird konstatieren müssen, wenn man aus der Wahrnehmungsspirale, dem kommunikativen Gefälle und der Interaktionsdistanz zwischen Juden und Protestanten die naheliegenden Schlussfolgerungen zieht. Allerdings waren wir an jener Graeca-Sitzung nicht anwesend; das konkrete Verhalten von Herrn Grimm und Frau Kronecker zueinander lässt sich nicht rekonstruieren. Wir wissen nur, was er darüber dachte, was nicht wenig, aber eben nicht alles ist. Ganz grundsätzlich wird man die beschriebene Disposition zugleich nicht verabsolutieren dürfen. Es sollte eine Disposition für bestimmte Wahrnehmungen voneinander, bestimmten Kommunikationen untereinander und bestimmte Interaktionen miteinander beschrieben werden, kurzum: Hier wurden die Bedingungen für die Möglichkeit eines Verhältnisses von gebildeten Juden und Protestanten umschrieben. In einzelnen historischen Situationen mag hiervon abgewichen worden sein. Dass sich eine Spirale sich gegenseitig aufschaukelnder Wahrnehmungen, ein Gefälle in den jeweiligen Kommunikationspositionen und eine Distanz bei der Interaktion von gebildeten Juden und Protestanten beschreiben lässt, erklärt nicht jeden Einzelfall. Es machte bestimmte Konstellation wahrscheinlicher als andere. Damit ist nicht behauptet, dass die Integration und Akkulturation als Ganzes in Frage gestellt waren; sie bildeten vielmehr die Voraussetzung für die Disposition. Je ähnlicher sich Juden und Protestanten wurden, desto wichtiger war die Notwendigkeit zur Abgrenzung. Mit dieser Disposition im gebildeten Bürgertum wird ebenfalls nicht die These vertreten, dass das Verhältnis von gebildeten Juden und Protestanten von nun an determiniert und nicht mehr zu verändern war. Nur war sie jetzt in der Welt und, einmal vorhanden, schwieriger wieder zu beseitigen. Schließlich sollten diese Schlussfolgerungen nicht als Vorwurf an die Adresse der gebildeten Protestanten missverstanden werden, Juden nicht genügend Respekt, Offenheit und Rücksicht entgegengebracht zu haben. Ob sie Juden ausreichend oder nicht gegen antisemitische Vorwürfe verteidigt haben, war hier gleichfalls nicht die Frage. Das Ziel dieser Studie war es vielmehr auf die strukturellen Schwierigkeiten hinzuweisen, die ein solches Verhalten für die gebildeten Protestanten so schwer machte – unabhängig davon, dass es ihnen im persönlichen Umgang mit einzelnen Juden vielleicht gelang. Juden und Protestanten waren sich in der bürgerlichen Bildungskultur sehr nahe gekommen. Als dieses Umfeld unsicher wurde, war diese Nähe das Problem. Es ging letztlich um die unheimlichen Doppelgänger in der bürgerlichen Bildungskultur. Gebildete Juden reagierten auf diese Kennzeichnung als gebildete Doppelgänger: Sie intensivierten ihre Bemühungen um eine Annäherung. Darin lag keine kriecherische Selbstverleugnung oder weltfremder Idealismus. Dieser Wunsch entstammte im Wesentlichen einer wirkungsvollen Neuinterpretati334

on der jüdischen Geschichte und Kultur mit Hilfe der bürgerlichen Bildungskultur, worin zugleich eine jener Traditionserfindungen zu sehen ist, die für die Moderne so kennzeichnend wurden.7 Aus dem religiösen Auserwähltheitspostulat formten sie die Vorstellung einer kulturellen Mission der Juden für eine menschlichere Kultur. Jene universalistische Wendung Moritz Lazarus’, dass die Juden gerade als Besonderheit in der deutschen Nation mehr Allgemeinheit erzeugen könnten, verkörperte die zentrale Interpretation der bürgerlichen Bildungskultur durch die deutschen Juden. Hier wurden damit Ressourcen für eine zeitgemäße jüdische Identität geschaffen, deren Bedeutung für das deutsche Judentum bis weit ins 20. Jahrhundert kaum unterschätzt werden kann. Als Eugen Täubler 1938, angesichts der zunehmend unerträglich gewordenen Situation für Juden in Deutschland, das Tragische an der modernen jüdischen Existenz hervorhob, konnte er nicht umhin, diesen Topos ein letztes Mal zu bemühen: Er sprach vom Judentum als einem legitimen und notwendigen »Bestandteil europäischen Seelen- und Geisteslebens« und von der Hoffnung auf eine neue Offenbarung, auf die Erlösung Europas durch die Juden.8

7 Vgl. Hobsbawm und Ranger. 8 Täubler, S. 50.

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Abkürzungen

AZJ BAS

Allgemeine Zeitung des Judenthums Der »Berliner Antisemitismusstreit« 1879–1881. Eine Kontroverse um die Zugehörigkeit der deutschen Juden zur Nation. Eine kommentierte Quellenedition im Auftrage des Zentrums für Antisemitismusforschung, hg. v. Karsten Krieger, München 2003. BBC Berliner Börsen-Courier Brand. LHA Brandburgisches Landeshauptarchiv BT Berliner Tageblatt CAHJP Central Archive for the History of the Jews People DIGB Deutsch-Israelitischer Gemeindebund DR Deutsche Rundschau GG Geschichte und Gesellschaft GstA PK Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz HZ Historische Zeitschrift IWZ Israelitische Wochen-Zeitung JMH Journal of Modern History JNUL Jewish National and University Library Jerusalem JP Jüdische Presse LBI-NY Leo Baeck Institut, New York LBIYB Year Book of the Leo Baeck Institute Nl. Nachlass NZ National-Zeitung PJ Preußische Jahrbücher SBBPK Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz Vossische Königlich privilegirte Berlinische Zeitung von Staats- und gelehrter Sachen

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Quellen- und Literaturverzeichnis

1. Quellen 1.1 Unveröffentlichte Quellen Archiv der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin Nachlass Theodor Mommsen Nachlass Wilhelm Dilthey Nachlass Wilhelm Scherer Nachlass Hermann von Helmholtz Nachlass Rudolf Virchow Brandenburgisches Landeshauptarchiv Bestände des Provinzialschulkollegiums Bestände des Polizeipräsidiums Berlin Bundesarchiv (Berlin Lichterfelde) Nachlass Ludwig Bamberger Nachlass Eduard Lasker Stiftung Neue Synagoge – Centrum Judaicum Bestände zum »Jüdischen Komitee vom 1. Dezember 1880« Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz Nachlässe: Nachlass Georg Beseler Nachlass Moritz Busch Nachlass Alfred Dove Nachlass Johann Gustav Droysen Nachlass Max von Forckenbeck Nachlass Rudolf Gneist Nachlass Emil Herrmann Nachlass Adolf Stoecker Nachlass Wilhelm Wehrenpfennig Universitätsakten: Akten zur Anstellung von außerordentl. u. ordentl. Professoren Berichte über Disziplin an der Uni Ministerium der geistlichen, Unterrichts- u. Medicinal-Angelegenheiten: Akten zum Friedrichs-Gymnasium (1869–1883)

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Archiv der Humboldt-Universität Nachlässe: Nachlass Emil Du Bois-Reymond Nachlass Wilhelm Scherer Nachlass Rudolf Virchow Rektorat und Senat: Akademische Lesehalle Verfahren gegen Erich von Schramm »Verein Deutscher Studenten« »Freie wissenschaftliche Vereinigung« »Verein deutscher Studenten und das Comité zur Bekämpfung der antisemitischen Agitation unter den Studierenden« Akademischer Verein für jüdische Geschichte u. Literatur Untersuchung von Rektor Hoffmann »Akademischer Liberaler Verein« Bibliothek der Humboldt-Universität Nachlass Moritz Lazarus Central Archive for the History of the Jewish People, Jerusalem Nachlässe: Nachlass Moritz Güdemann Nachlass Adolf Jellinek Nachlass David Kaufmann Nachlass Seligmann Meyer Nachlass Salomon Neumann Nachlass Arnold Tänzer Akten zum DIGB: Protokollbuch + Schriftverkehr Korrespondenzen mit Gemeinden Protokollbuch der Ausschusssitzungen Zirkulare Manuskripte u. a. zur Geschichte des DIGB Korrespondenzen (u. a. mit Ministerien) Strafanträge gegen Antisemiten 1877–81 Verein gegen Wucher zur Antisemitismuspetition Strafanträge gegen Antisemiten Akten zur Historischen Kommission Korrespondenz der Historischen Kommission mit Gemeinden Varia: Briefe an R. Virchow, bes. betr. Antisemitismus (1880–1896) Jüdische National- und Universitätsbibliothek, Jerusalem Nachlass Moritz Lazarus Nachlass Adolf Neubauer

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Nachlass Moritz Oppenheim Nachlass Heymann Steinthal Nachlass Leopold Zunz Landesarchiv Berlin Stadtverordnetenversammlung: Sitzungsprotokolle der Stadtverordnetenversammlung: Bd. 87 (Mai-Dez. 1879) Vorlagen für die Stadtverordnetenversammlung 1880 Vorlagen für die Stadtverordnetenversammlung 1881 Die Organisation des städt. höheren Schulwesens, Bd. 4 (1870–81) Berichte über das städt. Schulwesen, Bd. 1 (1867–1896) Friedrichsgymnasium, Bd. 3 (1878–1919) Die Lehrer des Friedrichsgymnasiums, Bd. 2 (1873–1915) Luisenstädtisches Gymnasium (1863–1901) Lehrer am Luisenstädtischen Gymnasium (1864–1915) Das Luisenstädtische Realgymnasium, Bd. 3 (1868–1912) Die Lehrer am Luisenstädtischen Realgymnasium, Bd. 1 (1836–1892) Viktoria-Schule (Bd. 1 (1864–1880) und Bd. 2 (1881–1913)) Die Lehrer und Lehrerinnen an der Viktoria-Schule (1867–1917) Magistrat – Städtische Schuldeputation: Jüdische Schulen (Bd. 5: 1863–1877) Statistisches Material: Zusammenstellung sämtlicher Schulen Berlins (Bd. 3: 1872– 1879 und Bd. 5: 1884–1886) Archiv des Leo-Baeck Instituts, New York Memoiren: Memoirs of Dr. Ludwig Edinger (1855–1918) Berthold Freudenthal, Unsere Eltern, 1917 Moritz Güdemann, Aus meinem Leben Richard Koch, Memoirs of Richard Koch Joseph B. Levy, Mein Leben in Deutschland vor und nach dem 30. Januar 1933 Dr. Adolf Magnus-Levy, Meine Erinnerungen 1865/1947 Hermann Makower (1830–1897), Jugenderinnerungen Caesar Seligmann, Mein Leben. Erinnerungen eines Grossvaters Sammlungen: Berthold Auerbach Collection Jakob Bernays – Hans Bach Collection Heinrich Graetz Collection Moritz Güdemann Collection Eduard Lasker Collection Moritz Lazarus Collection Ludwig Philippson Family Collection Leopold and Adelheid Zunz Collection Hessisches Staatsarchiv Marburg Nachlass Hermann Grimm

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Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz – Handschriftenabteilung Nachlass Ludwig Bamberger Nachlass Otto Hirschfeld Nachlass Theodor Mommsen Nachlass Heinrich von Treitschke

1.2 Veröffentlichte Quellen 1.2.1 Periodika Allgemeine Zeitung des Judenthums. Ein unparteiisches Organ für alles jüdische Interesse Berliner Börsen-Courier Berliner Tageblatt Die Grenzboten Israelitische Wochenschrift für die religiösen und socialen Interessen des Judenthums Die jüdische Presse. Konservative Wochenschrift. Centralorgan des Misrachi Jüdisches Literaturblatt Kladderadatsch. Humoristisch-satirisches Wochenblatt Königlich privilegirte Berlinische Zeitung von Staats- und gelehrter Sachen National-Zeitung Populär-wissenschaftliche Monatsblätter zur Belehrung über das Judentum für Gebildete aller Confessionen. Organ des Mendelssohn-Vereins

1.2.2 Flugschriften (Allgemeine Vereinigung zur Bekämpfung des Judenthums), Die Ziele des Antisemitismus. Ein Resumé in Gestalt des stenographischen Berichtes über den 2. Antijüdischen Kongreß in Chemnitz, Leipzig 1883. Almogen, D., Worte der Abwehr. Antwort auf die »Briefe eines Ariers an einen Semiten«, Leipzig 1887. Amitti, K., Zur Kritik der Antisemiten und Semiten. Ein Beitrag zur Bekämpfung der von Prof. Mommsen erwähnten »Antipathischen Gefühle« gegen die letzteren, Leizpig 1881. Ammann, J., Die Irreführung des Antisemitismus. Vortrag, Berlin 1883. Anders, N. J., Held und das Judentum als eine von der germanischen Rasse abweichende Nation. Eingehende Beleuchtung auf die Wahnsinnstheorien des ChefRedakteurs der Staatsbürgerzeitung. Praktische Widerlegung aller Angriffe des sogenannten Reform-Theoretikers gegen das Judentum als konfessionelles und nationales Glied der deutschen Nation, Berlin (1871). Anonymus, Das Judenthum und seine Aufgabe im neuen deutschen Reich. Sendschreiben an die deutschen Juden von einem Glaubensgenossen, Leipzig 1871.

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–, Erster und zweiter offener Brief an den August Rohling als Antwort auf sein Pamphlet »Der Talmudjude«, von einem Münster Juden im Namen vieler, Münster 1871. –, Die Münchner Schwindelbanken: ihre Ursachen und ihre Folgen, München 1873. –, Die Juden und Jüdinnen in München (auch anderwärts), München 1876. –, Die Fremdlinge in unsrem Heim! Ein Mahnwort an das Deutsche Volk von einem Berliner Bürger, Berlin 1877. –, Semita in Aengsten. Authentisches Sendschreiben eines polnischen Rabbiners an den Verfasser der »Sittenlehre des Talmud und des zerstörenden Einflusses des Judenthums im deutschen Reiche«, Berlin 1877. –, Die kolossale Ausbeutung des deutschen Nationalvermögens durch die Börse, das Ausland, die Deutsche Reichsbank usw. nebst Vorschlägen zur Besserung und Heilung des Übelstandes, Hannover 1878. –, Bismarck’s Verhältniss zum Glauben insbesondere zum Judenthum, in vier Kapiteln: Glaube, Aberglaube, Toleranz, Vorurtheile, Magdeburg, Leipzig 1879. –, Christliche Stimmen über das Judenthum, Magdeburg 1879. –, Der jüdische Referendarius in der Schlesischen Volkszeitung, Magdeburg 1879. –, Der Mauscheljude. Von e. deutschen Advocaten. Ein Volksbüchlein für deutsche Christen aller Bekenntnisse, Paderborn 18792. –, Ein Wort an Prof. Du Bois-Reymond, Magdeburg 1879. –, Ferdinand Lassalle und seine Stellung zum Judenthum, Magdeburg 1879. –, Herr Prof. Zöllner und das Judenthum, Magdeburg 1879. –, Neu-Palästina oder das verjudete Deutschland. Ein milder Beitrag zur Kenntniss der Judenherrschaft im sogenannten ›Deutschen‹ Reiche. Von einem Konservativen, Berlin 18792. –, Offener Brief eines jüdischen Predigers an A. Stöcker, Magdeburg 18793. –, Offenes Sendschreiben an Herrn Prof. Bluntschli, Magdeburg 1879. –, Schleiden als Judengenosse, Magdeburg 1879. –, Vom Judenthum im geschäftlichen Leben. Ein Beitrag zur Wucherfrage, Magdeburg 1879. –, Vom Judenthum im öffentlichen und geschäftlichen Leben und in der Presse, Magdeburg 1879. –, Der Mauschelchrist, Paderborn 1880. –, Ein Wort zur Judenfrage von einem ehemaligen Juden, Berlin 1880. –, Einige Erklärungen über die Judenfrage aus früheren Sitzungen des Preußischen Herrenhauses, Berlin 1880. –, Schuldig oder Nichtschuldig? Die Judenfrage vom objektiven Standpunkte betrachtet, von einem Deutschen, Berlin 1880. –, Zur Judenfrage, Berlin 1880. –, Der Fall Kantorowicz und die Judenfrage vor dem Preussischen Abgeordnetenhause am 20. und 22. November 1880. Abdruck der an die Interpellation Hänel geknüpften Reden nach dem amtlichen Bericht nebst einem Sprechregister und der Petition an den Reichskanzler, Berlin 18813. –, Der Juden Antheil am Verbrechen. Auf Grund der amtlichen Statistik über die Thätigkeit der Schwurgerichte, in vergleichender Darstellung mit den christlichen Confessionen, Berlin 18815.

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Register

1. Personenregister Andree, Richard 256 Arnim, Achim von 34 Auerbach, Bertold 79ff., 102, 105, 107, 262, 291 Bamberger, Ludwig 135, 137, 156, 216, 222, 226–229, 235, 240f., 250, 270, 279 Bartsch, Karl Friedrich 137 Baumgarten, Hermann 137 Baumgarten, Michael 186 Beethoven, Ludwig van 116 Belmont, Henriette 222, 270 Bergschmidt, O. 271f. Bernays, Jacob 14, 64–67, 314f. Bertram, Heinrich 281 Beta, Ottomar 170 Bismarck, Otto Graf von 107, 204f., 212, 251, 273, 278, 322 Bleichröder, Gerson von 256 Bleichröder, Julius 262 Böckh, Richard 179 Boehlich, Walter 200 Börne, Ludwig 129, 218 Bopp, Franz 83 Bourdieu, Pierre 53 Brake, Georg 247 Brentano, Lujo 135 Breßlau, Harry 13–18, 126f., 164, 223–226, 236, 240f., 247, 261f., 264f., 267 Brüll, Adolf 126 Büchmann, Georg 119 Busch, Moritz 251 Caro, Jecheskel 190 Cassel, Paulus 156, 186, 246, 250, 264, 279, 314 Claß, Heinrich 321 Cohen, Hermann 88, 141, 156, 193, 222, 229ff., 235f., 238, 240ff., 247, 258f., 265f. Cohnheim, Hermann 314 Cuny, Ludwig von 13–18

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Darwin, Charles 116f. Davidsohn, Georg 139, 252 Delbrück, Gottlieb Adalbert 281 Delitzsch, Franz Julius 114f., 194 Derenburg, Joseph 250 Dessau, Hermann 66 Dingelstedt, Franz 77 Disraeli, Benjamin 233 Dohm, Christian Wilhelm von 44 Droysen, Johann Gustav 282f., 312 Du Bois-Reymond, Emil 287 Dühring, Eugen 132, 137, 169, 175ff. Dulon, Paul 273ff., 292, 295f. Eisenlohr, Adam 255 Emden, Jacob 49 Endner, Wilhelm 247 Ephraim, Benjamin Veitel 50 Erdmannsdörffer, Bernhard 256, 287 Ewald, Heinrich 89f. Fichte, Johann Gottlieb 209 Fischer, Karl 246f., 283, 300, 310 Förster, Bernhard 152, 175f., 194, 272, 276f., 286, 297, 299f., 303 Fontane, Theodor 107, 198f. Forckenbeck, Max von 281 Fränkel, David 43 Frantz, Constantin 171 Freud, Sigmund 38 Freytag, Gustav 74, 76 Friedrich II. 280, 317 Friedrich III. 253f. Friedrich Wilhelm IV. 59 Fritsch, Theodor 151, 163 Frohme, Karl F. 131f. Gans, Eduard 56 Geiger, Abraham 91ff., 105 Glagau, Otto 171, 222 Gneist, Rudolf 282f., 312

Goethe, Johann Wolfgang von 47, 116, 119, 209 Goldhagen, Daniel J. 34, 40 Goldmann, Th. 255 Goldschmidt, Levin 313 Graetz, Heinrich 95f., 209f., 218, 232–237, 241ff., 252, 258, 260f., 265, 315 Grau, Rudolf Friedrich 82, 143, 247 Grimm, Hermann 122, 125, 134, 136f., 208, 215, 257, 279f., 283, 287, 305, 310, 312, 325–329, 333f. Grousilliers, Hector de 256 Gruber, Bernhard 158, 185f., 188 Gumpertz, Salomon 50 Habermas, Jürgen 148 Hänel, Albert 288ff. Hartmann, Eduard von 130 Haselberg, Gustava von 257 Hauff, Wilhelm 71ff. Hausrath, Adolf 174, 255 Haym, Rudof 121 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 317 Heine, Heinrich 56, 77ff., 129, 131f., 218 Helmholtz, Hermann von 287 Heman, Karl Friedrich 171, 183f. Henrici, Emil 272, 300–303 Henrici, Ernst 272, 299f. Hentze, Otto 163 Herbart, Johann Friedrich 86 Herder, Johann Gottfried 46, 82 Hermes, Wilhelm 297 Herrmann, Emil 108, 207, 214, 255 Herz, Marcus 50 Heyse, Paul 130 Hillebrand, Karl 20, 139, 240, 287 Hobrecht, Max 290 Hofmann, August Wilhelm 295 Holtzendorff, Franz von 125f. Holtzmann, Heinrich Julius 91 Homberger, Heinrich 132–136, 145 Horawitz, Adalbert 255 Hübsch, E. 169, 175f. Hülsen, Christian 281 Humboldt, Wilhelm von 23f., 44, 47, 52, 317 Jacobs, Joseph 155 Jacoby, Johann 63 Jellinek, Adolf 232 Joël, Manuel 156, 163f., 236, 252 Jolenberg, L. 156 Jones, Sir William 83 Joseph II. 49 Jungfer, Hans 152, 194, 276f., 284, 286, 297ff., 300, 303

Kant, Immanuel 230 Kantorowicz, Edmund 152, 194, 276f., 282, 284, 286f., 298, 301f. Kaplan, Marion 28 Kaufmann, David 157, 160, 189, 193 Kempf 277, 286, 299 Kerry, Benno Bertram 315 Klopstock, Friedrich Gottlieb 46 Kompert, Leopold 80 Kristeller, Samuel 262 Kronecker, Fanny 326-329, 332, 335 Kronecker, Leopold 312, 332 Lagarde, Paul de 119f. Landau, Isidor 252 Langbehn, Julius 120 Langerhans, Paul 297 Lasker, Eduard 137, 204, 207 Lassen, Christian 84 Lasson, Adolf 292ff., 300–304 Lazarus, Moritz 86ff., 140, 156, 158, 164, 174, 194, 223, 232, 236–242, 247, 252, 258ff., 262, 264, 266, 335 Lefson, E. 189 Lesse, Theodor 281 Lessing, Gotthold Ephraim 177, 283, 317, 320 Lewin, Adolf 139 Liebermann von Sonnenberg, Max 272 Liebknecht, Wilhelm 120 Lindau, Paul 111, 130ff., 135, 145, 198, 250 Löwe, Ludwig 262 Mah, Harold 148 Marr, Wilhelm 152, 163, 167, 169, 207, 214, 221f., 252, 255, 288 Maurenbrecher, Wilhelm 207 Mauthner, Fritz 285 Mendelssohn, Moses 47, 50, 57 Menzel, Wolfgang 78f. Mertens, Klaus 256 Meyer, Seligmann 190, 222, 236 Meyerbeer, Giacomo 97 Mittelstädt, Otto 213 Mommsen, Maria 65 Mommsen, Theodor 64–67, 93ff., 152, 160, 163, 181, 203, 232, 255, 257, 261, 269, 272, 278–285, 290, 295ff., 305–324 Moses, Adolf 231 Mosse, George L. 31, 51 Mosse, Rudolf 129 Mozart, Wolfgang Amadeus 116 Müller, Friedrich Max 82 Munk, Salomon 250

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Nachod, Jacob 222 Napoleon, Bonaparte 209 Nathanson, Richard 147, 192f. Neubauer, Adolf 250 Neumann, Salomon 262 Nietzsche, Friedrich 116–120, 131 Nobiling, Karl Eduard 107, 213 Nordmann, Johannes 246f. Olender, Maurice 82 Oppenheim, Alphons 173, 206 Oppenheim, Heinrich B. 130, 164, 193, 250 Oppenheimer, Joseph 71 Oppelt, Salomon 250 Overbeck, Franz 118 Peters, Carl 321 Pfizer, Gustav 78 Philippson, Ludwig 55, 63, 80, 114, 235, 314, 320 Phillippson, Martin 315 Plath, Karl Heinrich Christian 177f. Poliakov, Leon 82 Pomtoro, Max 293f. Puttkamer, Robert von 297, 299 Quidde, Ludwig 187f., 273f. Raabe, Wilhelm 75ff. Ranke, Leopold 225 Reichenbach, A. 180 Reichenbach, Andreas 185 Reimer, Georg 133f., 153, 159, 163, 211 Reimer, Hans 163 Reimer, Karl 65 Renan, Ernst 82, 87, 90f. Rickert, Heinrich 281 Riesser, Gabriel 63 Rodenberg, Julius 111, 129f., 132, 135, 145, 250 Römer, Ruth 82 Rohling, August 167, 194 Rohr, Mathilde von 199 Rosenberg, Hans 165 Salomon, Ferdinand 252 Samuel, Aharon B. 49 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph 317 Scherer, Wilhelm 130, 137, 249f. Schiller, Friedrich von 47, 116 Schleiden, Matthias Jakob 93 Schleiermacher, Friedrich 91, 209 Schmeitzner, Ernst 163 Schmidt, Julian 78 Schochat, Asriel 48

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Schramm, Erich von 274, 280 Schubart, Christian F. D. 148 Scott, Walter 71 Sessa, Karl B. A. 69 Shakespeare, William 177, 247 Siecke, Ernst 299f. Singer, Isidor 126 Skrzeczek, Richard 163 Sorkin, David 31, 43, 48, 57 Spangenberg, Max 153 Spindler, Carl 71 Stein, Leopold 190 Steinschneider, Moritz 85 Steinthal, Herrmann 86, 87f., 220f., 258f., 262 Stobbe, Otto 93 Stoecker, Adolf 137f., 152, 155–158, 160, 163, 166f., 170, 173, 186, 192, 205, 207, 214, 221f., 235, 246, 249, 252, 255, 257, 271, 276, 283, 288, 290, 306 Stöpel, Franz 182, 188 Stolberg-Wernigerode, Otto Graf von 289 Storm, Theodor 130 Straßmann, Wolf 138, 262, 271f., 276, 288 Strauß, David Friedrich 89, 115–118 Sybel, Heinrich von 130, 319 Tacitus 247 Täubler, Eugen 18, 335 Tal, Uriel 27f., 281 Toury, Jacob 60, 62 Treitschke, Heinrich von 13, 15f., 67, 78, 93, 95, 109, 118, 121, 126, 133–137, 152– 155, 159f., 163, 167, 173f., 181, 190, 193, 197, 199f., 203–226, 228f., 231–261, 263– 274, 278ff., 283ff., 292–297, 302, 304– 307, 310–325, 331, 333 Ullstein, Leopold 129, 145 van Rahden, Till 28, 60 Virchow, Rudolf 282, 289, 291, 312 Volkov, Shulamit 33f., 128 Wagner, Richard 46, 97–101, 104, 109, 175, 213, 215, 219, 228, 245, 331 Wahrmund, Adolf 170, 177f. Wattenbach, Wilhelm 279, 305 Weber, Albrecht 312f. Weber, Max 283 Weber, Max 20, 283, 321 Wehrenpfennig, Wilhelm 132f., 243 Weisbrod, Bernd 110 Wessely, Naphtali Herz 49, 51 Wetzlar, Isaak 49 Wichert, Ernst 223, 240

Wickert, Lothar 67 Wilhelm I. 213, 253, 280 Wilmanns, Karl 171, 179 Winkelmann, Johann Joachim 47 Wolf, Joseph 43, 45, 51

Wolff, Bernhard 252 Wundt, Wilhelm 130 Zöllner, Friedrich 272 Zunz, Leopold 56

2. Sachregister Ästhetik des Gehässigen 218, 222 Alldeutscher Verband 322 »Allgemeine Zeitung des Judenthums« 55, 80, 107, 114, 121, 140ff., 163, 171, 223, 229, 235, 248f., 254, 271, 315 Antisemiten-Petition 252, 272ff., 276f., 287f., 292f., 295f. Antisemitismus 34f., 60, 71, 73f., 98, 100, 136, 169, 171f., 174ff., 178, 180, 182–185, 195, 204f., 214f., 218, 228, 248, 267, 270, 272, 320f. – als Disziplinarproblem 277f., 294f., 297ff., 303f., 317, 321 – im bürgerlichen Realismus 73, 76, 170, 172 – in den Geistes- und Kulturwissenschaften 15, 81, 96, 103, 169, 194 – in der Anthropologie 84f. – in der bürgerlichen Bildungskultur 278, 281f., 287, 311 – in der Geschichtswissenschaft 93, 95 – in der Literatur 15, 71, 103, 169, 194 – in der Philologie 83 – in der protestantischen Theologie 89, 90, 185 – in der Romantik 71 – Motiv der Bedrohung 34, 77f., 100f., 219, 252, 302f. – Motiv des Betrügers 34, 73f., 79, 101 – und Ambivalenz 35, 73, 75, 77, 79, 175f., 178, 184, 219, 228 – und Gewalt 60 – und Oszillieren 74, 176, 180, 182f. – und Rassismus 34 – und Sagbarkeitsregeln 98, 214f., 217 – und seine liberalen Gegner 184, 188f., 306, 311, 316, 322 – und seine studentischen Gegner 293ff., 321 – unter Studenten 187, 271–275, 292, 294f., 297, 316, 318, 321f. Antisemitismusforschung 29, 32ff., 40, 165, 212

Ausnahmejude 74, 98, 173f., 215, 225, 267, 313 Berechtigungswesen 23, 52f., 58, 101, 119, 123 Berlin 121, 128, 138, 153, 165, 197–199, 222, 281, 285f., 302, 304, 316 – und die »Judenfrage« 285, 297, 302f. – und jüdisches Leben 197ff. – Schulwesen 62, 271f., 277, 297–300, 302, 316 – Universität 153, 272, 292f., 295f., 301, 316, 321 »Berliner Antisemitismusstreit« (siehe doppelter Streit um Treitschke) 200-204 »Berliner Bewegung« 166, 186, 205, 214, 221, 271, 277, 290 »Berliner Börsen-Courier« 140, 251f., 272, 276 »Berliner Tageblatt« 250 Beziehungsgeschichte von Juden und Nichtjuden 18, 28, 33, 36 Bildungsbegriff 21f., 44, 46 Bildungsideal 22, 26, 31, 124 – Institutionalisierung 21, 23, 52, 58 – jüdische Interpretation 43ff., 47, 49–52, 102 – protestantische Interpretation 47 Bildungsreform 59, 122 bürgerliche Bildungskultur 14, 19ff., 24, 27, 52–54, 63, 101, 124, 172ff., 182, 184, 188, 229, 237f., 245, 275 284 – als religiöses Erbe 19, 24f., 31, 51, 82, 102, 116f., 178, 186, 231, 243f., 309, 315 – Bedeutung für jüdische Akkulturation 54, 61, 63, 102, 142, 197, 225f., 228, 231, 239, 242, 251, 259f., 264, 266, 291, 303 – Kluft zu Katholiken 20, 25 – und alltägliches Zusammenleben 63, 215, 271 – und die Sprache des Allgemeinen 22, 24, 113, 139, 148, 160 – und ihre Positivbilder 176, 178, 180, 182

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– und Krisenwahrnehmung 115-127, 139f., 142, 144, 176, 186, 188, 190, 199, 203, 213, 219, 237, 245, 254, 313 – und Liberalismus 26, 300, 311f., 316 – und nationaler Führungsanspruch 26, 108f., 120, 122, 124, 173, 181, 184, 219, 237 – und Sagbarkeitsregeln 98, 307 – und Toleranz 309 bürgerliche Medienkritik 125, 154, 160f. bürgerliche Teilöffentlichkeit 110f., 124, 126, 148, 159 – Position der Juden 128, 132, 136f., 145 bürgerlicher Bildungsroman 74, 80 bürgerlicher Universalismus 47, 108 Bürgertumsforschung 20, 21, 28f., 162 – und jüdische Geschichtsschreibung 28 Christlich-Deutsche Tischgesellschaft 34 Comitee zur Verbreitung der Petition unter der Studentenschaft 274, 294 Deutsche Fortschrittspartei 272, 288ff. »Deutsche Rundschau« 129f., 135, 250 Deutsch-Israelitischer Gemeindebund 140f., 153, 155, 164, 222, 261, 270 – und seine Historische Kommission 261f. »Die Gegenwart« 130, 135, 198, 250 »Die Grenzboten« 108, 251f., 275 Disposition zum Antisemitismus 334 doppelter Streit um Treitschke (siehe »Berliner Antisemitismusstreit«) 16, 197-204, 322ff. – Auswirkungen 258-268, 317-322 – erster Treitschke-Streit 13, 16, 197-268, 322ff. – Phänomenologie eines öffentlichen Streites 201ff., 236, 264f. – Streitinformation 201ff., 216f., 243, 264, 270, 323 – zweiter Treitschke-Streit 203, 269-324 Ehre 112, 133ff., 222f., 232, 274, 277, 284, 293, 296, 302 Emanzipation der Juden 45, 58f., 108, 320 »Erklärung der 75 Notabeln« 278-287, 290, 305, 312f. Flugschriften 148f., 152–155, 245 – als problematisches Medium 149, 153f. – Definition 150f. Flugschriftenkommunikation 147-195 – von Antisemiten 173-184 – von Juden 189ff. – von protestantischen Gegnern der Antisemiten 184-189

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Freie Wissenschaftliche Vereinigung 153, 295, 321 Fundamentalpolitisierung 122 Gebildete Doppelgänger 35, 38f., 77, 79, 100, 104, 143, 237, 325-335 »Geflügelte Worte« 119 Geschichtswissenschaft 93, 95, 208, 319f. Geschlechterkonstruktionen 24, 113, 326, 333 Gesellschaft der Freunde in Berlin 140 Gründerkrise 121, 165 Halbbildung 114, 118, 120f., 139, 142, 213 Haskala 43, 48–51, 55 Heine-Bild 77ff. Integrationalismus unter Protestanten 188, 219, 310, 316, Interaktionsdistanz zwischen gebildeten Juden und Protestanten 254, 267, 324, 333 »Israelit« 114 »Israelitische Wochenschrift« 114, 141, 163, 206f., 249, 272 »Judenfrage« 16, 68, 110, 114, 127, 147ff., 152f., 155, 161, 165, 167, 169, 171f., 182, 187, 192, 195, 205, 207, 213, 240, 243, 251, 275, 277, 280 »Jud Süß« 72ff. jüdische Gelehrsamkeit 48, 57 jüdische Geschichtswissenschaft 18f., 28f., 31, 69, 96, 211, 232f., 235, 261 jüdische Identität 69f., 224, 226, 229, 231, 234, 236, 239, 240ff., 260, 264, 266 jüdische Krisenwahrnehmung 126 jüdische Literatur 77, 79ff., 285 jüdische Partikularität 143, 148, 161, 189, 193, 314 jüdische Presse 114, 137ff., 192, 209, 223, 231, 236, 249, 252, 280, 291 jüdische Subkultur 57, 64, 104 jüdische Teilöffentlichkeit 113, 128, 139, 153, 236, 139 jüdische Verteidigung gegen Antisemitismus 140, 220ff., 224, 226, 229, 232, 235ff., 240ff., 248f., 259f., 261ff., 265f., 270, 277, 314 jüdische Wissenschaftler 16, 82, 85f., 91, 95f. jüdischer Universalismus 17, 45, 80, 83, 92f., 96, 104f., 141ff., 189ff., 239f., 260, 335 Jüdisches Comité vom 1. Dezember 1880 262f. jüdisches Vereinswesen 57, 64 Jüdisch-Theologisches Seminar in Breslau 141 Junges Deutschland 78

»Kladderadatsch« 251ff., 324, 333 Klassikerjahr 1867 119 Kommunikationsmuster des Jüdischen 16, 170, 172, 174–178, 180, 182, 218 kommunikatives Gefälle zwischen gebildeten Juden und Protestanten 191, 193ff., 331 Konservative Partei 292 Konversion zum Christentum 161, 230, 308, 314f. Kulturkampf 110, 113, 122, 213 »Leitkultur« 41, 122, 181 Liberalismus 26, 69, 122, 124ff., 185, 193, 199, 204f., 249, 253ff., 270, 278, 288f., 291 – und das Pressewesen 251 – und jüdische Differenz 109, 289 Liberalismuskritik 121, 171, 212f., 225f., 248, 276, 279 Nationalismus unter gebildeten Bürger 20, 26f., 144, 181, 205, 207ff., 212, 218f., 227, 230, 233, 237f., 240, 247, 279, 282, 306f., 309, 320 Nationalliberale Partei 13, 278, 204f., 207, 226, 251, 278, 290 »National-Zeitung« 249, 253, 277, 285, 287, 294 Neukantianismus 259 orthodoxes Judentum 105, 160, 163, 230f., 266 Parlamentsdebatte über die Judenfrage 288291 »Pferdebahn-Affäre« 152, 194, 276ff., 281f., 284, 286, 297ff., 303 politische Wende von 1878/79 204f., 207f., 212, 226, 251 Pressewesen 111, 114, 125–129, 139, 249f., 252

»Preußische Jahrbücher« 13, 111, 118, 130, 132–136, 138, 145, 154, 159, 163, 211f., 216f., 229, 242f., 248, 250, 253, 265, 272 private Kommunikation 37, 137f., 255ff. Rassismus 82, 169, 171, 219, 233f., 247 Reformjudentum 92 Reichsgründung von 1870/71 107, 111, 144, 181, 205 Reichspressegesetz von 1874 125 Revolution von 1848 102, 104 Salonkultur 50, 57 Sonderwegsdebatte 39 soziale Frage 110, 122 Strukturwandel der Öffentlichkeit 110 »Sulamith« 43ff.,51 »Unsere Aussichten« 204, 210ff., 233, 235, 279, 283 Verein Deutscher Studenten 295, 322 Völkerpsychologie 86ff., 237, 258f. Volksgeist 86ff., 94f., 99f., 169, 177, 219, 227f., 237f. »Vossische Zeitung« 250 Wahrnehmungsmuster des Jüdischen 15, 69, 75, 78, 81, 84, 93, 95f., 103, 105, 169, 174 Wahrnehmungsspirale zwischen gebildeten Juden und Protestanten 145f., 329, 332 Wissenschaft des Judentums 55 wissenschaftliche Ursprungsphantasien 82, 84, 89f., 92, 94, 97 »Zeitschrift für Völkerpsychologie und Sprachwissenschaft« 86

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