Gebet als Resonanzereignis: Annäherungen im Horizont von Spiritual Care [1 ed.] 9783788732301, 9783788732295, 9783788732288


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Gebet als Resonanzereignis: Annäherungen im Horizont von Spiritual Care [1 ed.]
 9783788732301, 9783788732295, 9783788732288

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Theologische Anstöße

Herausgegeben von Michael Beintker, Johannes Eurich, Günter Thomas, Christiane Tietz und Michael Welker

Band 7 Simon Peng-Keller (Hg.) Gebet als Resonanzereignis

Simon Peng-Keller (Hg.)

Gebet als Resonanzereignis Annäherungen im Horizont von Spiritual Care

Vandenhoeck & Ruprecht

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-7887-3229-5

 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstr. 13, D-37073 Göttingen/ Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U.S.A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlaggestaltung: Stellbrink graphik design, Bielefeld Satz: Thomas Fries, Zürich

Inhalt

Vorwort................................................................................................... 7 Simon Peng-Keller Einleitung: Gebet als Resonanzereignis Konzeptionelle und ethische Annäherungen im Hinblick auf interprofessionelle Spiritual Care ....................................................... 9 I. Grundlegende Aspekte Hans Weder Resonanzen im Gebet ............................................................................29 Josef-Anton Willa Die (Gebets-)Stimme als Resonanzorgan Eine Annäherung auf der Grundlage der Stimmforschung Alfred Wolfsohns ..................................................................................55 Simon Peng-Keller Von der Stimmlichkeit des Betens .........................................................69 II. Thematische Fokussierungen im Horizont von Spiritual Care Hubert Kößler / Pascal Mösli Jodeln auf der Intensivstation Beten im Spital ......................................................................................93 Arndt Büssing Empirische Zugänge zum Beten im Horizont von Krankheit und Gesundheit...................................................................................111 Thomas Fries Gebet und Trosterfahrung in schwerer Krankheit ...............................129

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Inhalt

Klaus Baumann Gebet in schwerer Krankheit und Spiritual Care Zwischen Sinnsuche, Klage und Akzeptanz des Unverständlichen.......143 Ralph Kunz Beten in der Anfechtung Praktisch-theologische Annäherungen an Gebete, die nicht auf Resonanz stoßen .............................................................159 Cornelia Richter Trauer zwischen Gebetsnot und »Nötigung« ins Gebet Eine Skizze situativer Lebenshermeneutik ...........................................177 John Swinton »Das ist mein Leib« Gebet, Demenz und unsere verleiblichten Erinnerungen.....................193 Birgit Jeggle-Merz Rituelles Gebet in Todesnähe ..............................................................207 Christoph Gellner Gebetzeugnisse in zeitgenössischen Krankheitsund Sterbenarrativen Theologisch-literarische Erkundungen ................................................229 Martin Schleske In Klang gegossenes Gebet ..................................................................251 Verzeichnis der Autorinnen und Autoren ............................................253

Vorwort

In ihren 2015 veröffentlichten Aufzeichnungen »Schmelzungen« beschreibt die über 90-jährige Schriftstellerin Ilse Helbich ihre Vorbehalte gegenüber dem Gebet. Zugleich beobachtet sie, wie mitunter unversehens ein Gebet in ihr hochsteigt – verbunden mit dem »Altenwunsch [...], das dunkle unbekannte Gegenüber mit ›Gott‹ anzureden, ohne die Erwartung einer Antwort, aber doch mit der Zuversicht auf ein Gehört-, Gesehenwerden in einer anderen, unsereinem unvorstellbaren Sphäre. Sie könnte nicht sagen, woher diese neue Zuversicht, von drüben her wahrgenommen zu werden, ihr plötzlich zugewachsen ist.«1

Das Gebet als »Resonanzereignis« zu verstehen, bedeutet, es als etwas zu verstehen, was sich überraschend einstellt. Die Leitmetapher der »Resonanz« verweist auf die Unverfügbarkeit, die Responsivität und die Sinnlichkeit des Betens: Es beginnt nicht bei sich selbst, sondern kommt von woanders her. Und es betrifft nicht nur den menschlichen Geist, sondern den Menschen als verleiblichtes Selbst. Die Beiträge des vorliegenden Bandes erkunden die genannten Aspekte im Hinblick auf das Gebiet heutiger Spiritual Care. Im Kontext von Krankheit und Todesnähe ist das Gebet die vermutlich häufigste spirituelle Praxis. Auch in säkular geprägten klinischen Welten finden sich vielfältige Gebetsvollzüge. Sie stehen in einem eigentümlichen Verhältnis zu den therapeutischen und palliativen Behandlungen, die sie begleiten. Denn das Beten behandelt nicht, sondern antwortet auf den Widersinn von Krankheit, Behinderung, Tod und finaler Trennung. Auf leibsinnliche Art und Weise können sich in Gebetsvollzügen neue Sichtweisen auf das eigene Leben und Erfahrungen von Trost und Behütetsein erschließen. Dieser Studienband entstand im Rahmen des vom Schweizerischen Nationalfonds geförderten Forschungsprojekts Beten als verleiblichtes Verstehen. Hermeneutische Zugänge zum Ereignis des Gebets. Ich danke dem Schweizerischen Nationalfonds für die großzügige Unterstützung dieses Forschungsvorhabens und den Herausgebern der „Theologischen Anstöße“ für die Aufnahme des Bandes in ihre Buchreihe. Ein großer Dank gebührt ebenso Prof. Dr. Dr. Ingolf U. Dalferth für die vielfältige Ermutigung und Unterstützung sowie Dr. theol. Thomas Fries und Dr. theol. Josef-Anton Willa für ihre sorgfältige Durchsicht und Formatierung der Texte. Zürich, im Mai 2017 1

Simon Peng-Keller

Ilse Helbich, Schmelzungen, Graz/Wien 2015, 53f. Vgl. den Beitrag von Christoph Gellner in diesem Band.

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Einleitung: Gebet als Resonanzereignis Konzeptionelle und ethische Annäherungen im Hinblick auf interprofessionelle Spiritual Care Die Rede vom Gebet als Resonanzereignis ist doppeldeutig: Sie kann sowohl metaphorisch als auch akustisch verstanden werden. Diese sinnreiche Zweideutigkeit, die dem Gebetsphänomen selbst entspricht, soll mit Blick auf die Beiträge des vorliegenden Bandes in einem ersten Schritt einleitend erkundet werden. Nach einigen grundsätzlichen Überlegungen und der Rückbindung an jüngere Resonanzdiskurse (I.) nähere ich mich Resonanzerfahrungen im Kontext der Krankenhausseelsorge an (II.) sowie den damit verbundenen Diskussionen über geeignete (Resonanz-)Räume (III.) und die Möglichkeiten und Grenzen gemeinsamen Betens im Kontext interprofessioneller Spiritual Care (IV.). Am Ende steht ein Überblick über die Beiträge dieses Bandes (V.). I. Resonanz zwischen Akustik und Metaphorik Gebetsvollzüge im Horizont des Resonanzphänomens zu untersuchen, bedeutet, einen acoustic turn1 zu vollziehen und die Aufmerksamkeit auf die Stimmlichkeit des Betens und das darauf bezogenen Hören zu lenken. Beschränkt man sich auf eine akustische Beschreibung, scheint der Zusammenhang zunächst schlicht zu sein: Die Stimmbänder fungieren als Oszillator, das Ohr als Resonator. Näher betrachtet erweist sich das Phänomen jedoch bereits auf physiologischer Ebene als weit komplexer. Denn sowohl im Stimmorgan als auch im Gehör spielen mehrere Resonanzphänomene zusammen, und diese sind wiederum eingebettet in räumliche Resonanzen. Bereits der Gehörgang hat seine Eigenresonanz, die dazu beiträgt, dass wir in ein Klangeschehen einzutauchen vermögen. Dass der sprechende und hörende Leib kein bloßes Registrier- oder Reproduktionsgerät darstellt, sondern ein mitschwingender Resonanzkörper ist, zeigt sich gerade in der bedeutungsträchtigen Vielgestaltigkeit der Stimmformen, die Gebetsvollzüge so klangreich machen. Das metaphorische Potential der Resonanz, das sich schon in der Übertragung des in der Akustik beheimaten Begriffs in die Elektromagnetik und Mechanik zeigt, speist sich aus dem Reichtum solch lebensweltlicher Resonanzphänomene. Was sie zur Grundmetapher für Kommunikation aller Art auszeichnet, ist nicht zuletzt, dass deren Unwillkürlichkeit 1

Vgl. Petra Maria Meyer (Hrsg.), acoustic turn, München 2008.

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und Eigendynamik sich nur begrenzt steuern lassen. Ereignishaft und überraschend ist insbesondere die sympathetische Resonanz, die sich an Saiteninstrumenten beobachten lässt: im Mitschwingen einer nicht gezupften Saite mit einer gleichgestimmten anderen.2 Diese Urform aller Resonanzereignisse verdankt sich einem unsichtbaren Medium: der Luft. Da für das menschliche Auge nicht wahrnehmbar ist, wie eine klingende Saite eine andere in Schwingung zu setzen vermag, legt es sich nahe, »geistige« Wechselwirkungen zu vermuten. Die antike und mittelalterliche Vorstellung, dass das All in sphärischen Harmonien klingt, findet sich noch in elaborierten spätmodernen Weltentwürfen, die den Anspruch einer naturwissenschaftlichen Fundierung erheben. So beginnt Friedrich Cramer, der von 1962 bis 1991 Direktor am Max-Planck-Institut für Experimentelle Medizin in Göttingen war, sein programmatisch überschriebenes Werk Symphonie des Lebendigen. Versuch einer allgemeinen Resonanztheorie mit dem vielversprechenden Satz: »Der nun vorliegende Band über eine allgemeine Resonanztheorie ist der dritte Teil eines Werkes, das versucht, den Stand unseres wissenschaftlichen Denkens an der Wende zum 3. Jahrtausend zusammenfassend darzustellen.«3 Einen nicht weniger ambitiösen Anspruch erhebt auch Joachim-Ernst Berendt in seinem vieldiskutierten Buch Nada Brahma. Die Welt ist Klang.4 Das metaphorische Potenzial der Resonanz tritt dabei wie bei Cramer in den Dienst eines spekulativen Versuchs, ästhetische Erfahrung und naturwissenschaftliches Wissen in einer universellen Theorie zu harmonisieren. Während sowohl Cramer als auch Berendt die Unterscheidung zwischen deskriptiver Beschreibung und Resonanzmetaphorik einziehen und letztere ontologisieren, findet sich in Hartmut Rosas ebenfalls umfassend angelegten Studie Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung der Versuch, Resonanz begrifflich als einen spezifischen Modus von Weltbeziehungen zu bestimmen und in Abgrenzung zu Entfremdungsphänomenen soziologisch zu profilieren.5 Resonanz in diesem Sinne ist als »ein momenthafter Dreiklang aus konvergierenden Bewegungen von Leib, Geist und erfahrbarer Welt« zu fassen.6 Was Rosa in akustischer Metaphorik als Dabei muss »die Eigenfrequenz der anzuregenden Saite [...] nur annährend mit der Erregerfrequenz der gespielten Saite übereinstimmen« (Karsten Lichau / Viktoria Tkaczyk / Rebecca Wolf), Anregungen, in: Karsten Lichau / Viktoria Tkaczyk / Rebecca Wolf (Hrsg.), Resonanz. Potentiale einer akustischen Figur, München 2009, 11–32, hier: 19). Daran knüpft sich die Vermutung: »Die so ermöglichte Toleranz mag mit ein Grund dafür sein, dass sich der Begriff der Resonanz zum einen als Modell für das Hören, zum anderen aber auch als Metapher für unsichtbare Zusammenhänge oder Denkprozesse eignet« (ebd.). 3 Friedrich Cramer, Symphonie des Lebendigen. Versuch einer allgemeinen Resonanztheorie, Frankfurt a. M. / Leipzig, 1996, 7. 4 Joachim-Ernst Berendt, Nada Brahma. Die Welt ist Klang, Frankfurt a. M. 1983. 5 Vgl. Hartmut Rosa, Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung, Berlin 2016. 6 Ebd. 290. 2

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Dreiklang beschreibt – die Konvergenz von leibsinnlichen bzw. weltlichen Resonanzphänomenen und Resonanz in einem metaphorisch-geistigen Sinne –, wird am Beispiel des Chorsingens veranschaulicht: »Die von der Stimme gestifteten Resonanzbeziehungen erweisen sich [...] als doppelseitig zwischen Leib und ›Seele‹ einerseits und zwischen Subjekt und Welt andererseits aufgespannt, und beide Male treten [...] physische und symbolische Resonanzen miteinander in Wechselwirkung. [...] Wer sich daran [am Chorsingen, S.P.-K.] beteiligt, erfährt in den gelingenden Momenten eine ›Tiefenresonanz‹ zwischen seinem Körper und seiner mentalen Befindlichkeit zum Ersten, zwischen sich und den Mitsingenden zum Zweiten sowie die Ausbildung eines kollektiv geteilten physischen Resonanzraumes (in der Kirche oder im Konzertsaal etc.) zum Dritten.«7

Dass in Rosas Studie die (Sing-)Stimme eine gewisse Vorrangstellung einnimmt, ist nicht zufällig. Zum einen scheine nichts anderes »eine vergleichbare psychisch wirksame Qualität zur alltäglichen Vermittlung und ›Heilung‹ subjektiver Weltverhältnisse zu besitzen«8 – wobei ›Heilung‹ hier in einem sozialtherapeutischen Sinne als Gegenpart zu den von Rosa beschriebenen Entfremdungsphänomenen zu verstehen ist. Zum anderen sei kein anderes Medium in vergleichbarer Weise bedeutsam für die Herausbildung und Stabilisierung spätmoderner Identitäten. Sie vollziehe sich in einer Identifikation mit (Sing-) Stimmen, die tragende und nährende Welt- und Sozialbeziehungen vermitteln9 und »starke Wertungen« verkörpern.10 An dem, was Menschen leidenschaftlich gern hören (und singen), zeige sich, womit sie sich identifizieren und was sie inspiriert. Am Beispiel des Chorsingens lässt sich zudem die Rosas Werk strukturierende Unterscheidung zwischen horizontalen, diagonalen und vertikalen Resonanzachsen veranschaulichen. Die horizontale Achse, der alle Formen sozialer Gemeinschaft zugeordnet werden, kreuzt sich mit der diagonalen Achse der dingbezogenen Resonanzbeziehung und den vertikalen Resonanzachsen, in denen es um das Leben und die Welt als Ganzes geht. Zu letzteren zählt Rosa die Religion, ästhetische Natur- und Kunsterfahrungen und den »Mantel der Geschichte«, der die eigene Lebensgeschichte umhüllt.11 Erfahrungen der »Tiefenresonanz«, die sich etwa im Chorsingen ereignishaft einstellen können und mit dem Gefühl eines »fundamentale[n] Einklang[s] mit uns selbst und mit der Welt«12 verbunden sind, haben Verheißungscharakter. Sie bilden Ausgangs- und Zielpunkt für lebensgeschichtliche Suchbewegungen, wie sie Rosa einleitend an modellhaften Lebensgeschichten veranschaulicht. 7 8 9 10 11 12

Ebd. 111f. Ebd. 112. Ebd. 110. Ebd. 291. Ebd. 435ff. Ebd. 196.

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Rosas vieldimensionales Konzept bietet eine Matrix, die es erlaubt, Gebetsvollzüge differenziert in ihrer sinnhaften Sinnlichkeit zu beschreiben. Ansätze dazu finden sich bereits bei Rosa selbst. So deutet er das Falten der Hände als Unterbrechung des instrumentellen Weltverhältnisses13 und beschreibt die meditative Versenkung als Rücknahme aller fokussierten Weltbeziehungen, durch die sich eine Tiefenresonanz einstellen könne.14 Ebenso macht er darauf aufmerksam, dass in gottesdienstlichen Vollzügen sich die vertikale Tiefenresonanz mit horizontalen und diagonalen Resonanzbeziehungen verbinde: »Daraus entsteht so etwas wie ein sensorischer Resonanzverbund, in dem die drei Achsen sich gegenseitig zu aktivieren und zu verstärken vermögen.«15 Das kann mit Blick auf das Gebet weiter konkretisiert werden. Ich wähle dafür zunächst ein zeitgeschichtliches Zeugnis, an dem sich nicht allein die mitunter komplexe Resonanzgestalt des Betens herausarbeiten lässt, sondern die auch darauf hinweist, dass jeder konkrete Gebetsvollzug in Resonanz steht zu einer ihm vorausgehenden und ihn ermöglichenden Praxis. Was sich im folgenden Beispiel in einer weltgeschichtlichen Konstellation zeigt, findet sich in klinischen Kontexten in vielfältigen biografischen Varianten. Die Rede ist von einem Text, der sich in Manès Sperbers autobiografischen Schrift Die Wasserträger Gottes findet: »Das war im Frühjahr 1933 in Berlin – ich habe kaum je einen schönern Frühling gekannt. Wie viele meinesgleichen saß ich im Gefängnis. Es gab noch keine Konzentrationslager, jeder von uns dachte, daß man ihn zu irgendeiner Stunde, wahrscheinlich am frühen Morgen, aus der Einzelzelle hinausführen und ›auf der Flucht‹ erschießen würde. Da geschah es: der Tag ging zu Ende, im Gefängnishof hatten sich Leute von der SS zusammen mit vielen Wächtern unter der Hakenkreuzfahne zum Abendappell versammelt. Und nun drang deutlich und drohend das im Chor gesungene Horst Wessel-Lied in die Zelle. Natürlich hatte ich es schon oft gehört, aber in jenem Augenblick beeindruckte es mich wie ein Gebet, das heißt, ich achtete nicht auf die Worte, sondern nur auf die mißbrauchte alte Soldatenmelodie. Als es vollends Nacht wurde und das Zellenlicht erlosch, drängte sich mir – wie von außen kommend – ein Psalm über die Lippen: ›Nicht uns, nicht uns erweise die Ehre, sondern tu’s um Deiner Gnadenhaftigkeit und um Deiner Wahrheit willen. Warum sollen die Heiden höhnen: ›Wo ist denn ihr Gott?‹ Unser Gott aber ist im Himmel wie auf Erden, was er will, das vollbringt er ...‹ – Ich hörte mir erst mit ironischem Staunen zu, dann aber ließ ich mich gehen. In jener Nacht habe ich alle Psalmen, die ich auswendig kannte, leise vor mich hingesungen und dann das Nachtgebet aufgesagt, mit dem ich als Kind die Erzengel aufzählte, die, zu meinen Häupten und zu meinen Füßen, über mich und meinen Schlaf wachen würden. Im hypnagogischen Schlummer, aus dem ich schließlich in einen wahrhaft tiefen Schlaf sinken sollte, hörte ich Lieder, die einander unterbrachen und sich miteinander seltsam verquickten.«16 13 14 15 16

Ebd. 109. Ebd. 203. Ebd. 442. Manès Sperber, Die Wasserträger Gottes, in: ders., All das Vergangene, Wien 31983, 15–255, hier: 54f.

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Die Tiefenresonanz, die Sperber beschreibt, entsteht in agonaler Antwort auf den Chorgesang seiner Peiniger. Die Melodie des Horst Wessel-Lieds beeindruckt den Gefangenen »wie ein Gebet«. Die erhebende Melodie dringt von außen in seine Zelle ein, so wie auch die Gebetsworte aus Ps 115, die Sperber später in nächtlicher Dunkelheit einfallen, von außen zu kommen scheinen. Der durch den Gesang der Wächter geweckten Tiefenresonanz begegnet Sperber zunächst mit ironischem Staunen. Die anfängliche Distanz zu den Gebetsworten, die ihm aus seiner Kindheit in einem ostgalizischen Schtetl vertraut waren, dauert jedoch nur ein Augenblick. Dann macht der damals 27-Jährige sie sich zu eigen. Die unwillkürlich erinnerten Psalmverse ergänzt er durch jene Worte und Melodien, die seiner bewussten Erinnerung zugänglich werden. Im Aufsagen des Nachgebets ruft er schließlich die Schutzengel herbei, die ihn in einen von Stimmen und Liedern erfüllten Schlaf begleiten. Das aktive Psalmodieren und Beten wird auf diese Weise umrahmt von passivisch wahrgenommenen Gebetsresonanzen. II. Resonanz und Gebet im Kontext der Krankenhausseelsorge Auch wenn Sperbers Notsituation sich deutlich von den Krankheitswelten unterscheidet, die im vorliegenden Band im Vordergrund stehen, so kann vermutet werden, dass die von ihm beschriebenen Resonanzphänomene auch in letzteren auftreten. Erste Hinweise darauf finden sich in den folgenden drei Vignetten, die uns im Rahmen einer Befragung zu Lebensendphänomenen mitgeteilt wurden.17 Eine Seelsorgerin berichtete uns von der Begegnung mit einem Patienten, den sie von früher kannte: »Er lag auf der Intensivstation. Zwischendurch öffnete er die Augen und sagte dann: ›Amen‹. Als ich ihn fragte, ob ich ein Gebet sprechen dürfe, nickte er und war danach ganz ruhig. Er ist einige Tage später friedlich eingeschlafen.«

Das Auftauchen von Seelsorgerinnen und Seelsorgern in Krankenzimmern löst bei Patientinnen und Patienten erfahrungsgemäß sehr unterschiedliche Resonanzen hervor. Dass das Kommen eines ›Geistlichen‹ den nahen Tod ankündigt, hat sich dem kulturellen Gedächtnis so tief eingeschrieben, dass heute noch Patienten halb humorvoll, halb ernst sagen: »Ist es schon soweit mit mir?« Auch in der vorliegenden Vignette kann ein Resonanzereignis dieser Art vermutet werden. Dass das Amen dem Gebet vorausgeht, kann als sprachliche Besiegelung des zu Ende gelebten Lebens verstanden werden. Für das daran anschließende Gebet holt sich 17

Vgl. Simon Peng-Keller / Silvia Köster / Rahel Rodenkirch, Lebensend-Phänomene im Arbeitsfeld klinischer Seelsorge. Ergebnisse einer Fragebogenuntersuchung zu symbolischer Kommunikation und visionärem Erleben in Todesnähe, in: Spiritual Care 5 (2016), 113–120.

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die Seelsorgerin die Erlaubnis des Patienten ein. Der Bericht legt nahe, das Ruhigwerden des Patienten als Wirkung des gesprochenen Gebets zu betrachten. Es entspräche dann der hypnagogen Qualität des Nachtgebets Sperbers. Dass das Gebet in klinischen Situationen nicht nur immer als Quietiv, sondern auch als Stimulans wirkt, lässt sich an weiteren Beispielen zeigen. Es gehört zu den regelmäßig bezeugten klinikseelsorglichen Erfahrungen, dass das Beten an Kranken- und Sterbebetten auf eine belebende Resonanz stößt und mitunter selbst somnolente Patienten mitzubeten beginnen. In diese Richtung weisen die folgenden beiden Vignetten, die ebenfalls unserer Umfrage entnommen sind: »Frau M., hochbetagt, lag im Sterben. Seit über einem Tag reagierte sie nicht mehr, wenn sie angesprochen wurde. Für die Pflegenden war klar, die Frau wird in den nächsten Stunden sterben. Doch am andern Tag öffnete sie wieder die Augen, reagierte wieder und konnte sogar sprechen. Und als eine der Pflegenden, die sie besonders gut mochte, ans Bett kam, sagte sie: ›Sie waren es doch, die gestern Nachmittag meinen Lieblingsvers aufgesagt hatten.‹« »Ein Mann, mittleren Alters, lag seit Monaten nach einem schweren Unfall im Koma. Die Seelsorgerin besuchte ihn regelmäßig. Meist saß sie einfach eine Weile da. Wenn es Neuigkeiten aus dem Dorf zu berichten gab, erzählte sie ihm davon. Oder sie schilderte ihm jahreszeitliche Naturbeobachtungen. Ab und zu glaubte sie, minimale Reaktionen seiner Augenlider feststellen zu können. Sie war sich aber nicht sicher, wie sehr da Wunschdenken eine Rolle spielte. Dann kam der Winter und Weihnachten. Am Weihnachtstage erzählte sie von Weihnachten und von den Lichtern am Christbaum. Und auf einmal hatte der Mann Tränen in den Augen.«

Die Berichte weisen darauf hin, dass Worte manchmal Menschen auch in einem Zustand erreichen können, der medizinisch als Bewusstlosigkeit beschrieben wird. In beiden Fällen darf vermutet werden, dass die beschriebene Tiefenresonanz sowohl auf lebensgeschichtlich gefüllte Worte bzw. die durch sie geweckten Erinnerungen als auch auf das Medium einer vertrauten und vertrauenswürdigen Stimme zurückzuführen ist. Mit beidem ist in Gebetssituationen zu rechnen. Sie resonanztheoretisch zu beschreiben, bedeutet, von nicht steuerbaren Wechselbeziehungen auszugehen und sie zu erfassen suchen. Resonanz tritt in diesem Zusammenhang als ein wechselseitiges Geschehen auf, in das auch die Begleitpersonen involviert werden. So etwa in dem folgenden Beispiel aus einem palliativen Kontext: »Herr A., 72 Jahre, metastasiertes Bronchialkarzinom, alleinstehend. Herr A. erzählt seine Lebensgeschichte mit vielen Krisen und Kontaktabbrüchen. Auf meine Frage, wie er das alles durchgehalten habe, streckt er seinen linken Arm aus und zeigt mit dem Zeigefinger nach oben. Wenn es ganz schlimm sei, dann bete er alles, was er gelernt habe. Daheim, von der Mutter. Und dann kämpfe er weiter. Auch jetzt sei das gut, wenn es ans Sterben gehe. Er streckt mir beide

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Hände entgegen. Ich nehme sie in meine Hände. Und so beten wir zusammen. Sein erstes ist das Glaubensbekenntnis, dann folgt das Vaterunser und anschließend ein Mariengebet. Danach der Text eines Marienliedes und wir enden mit dem trinitarischen Gruß/Votum.«18

III. Resonanzräume Resonanz ist ein akustisches und als solches auch räumliches Phänomen. Bezogen auf das Gebet zeigt sich diese Räumlichkeit in doppelter Gestalt: Zum einen ist das Gebet, insofern es sich in stimmlicher und gestischer Weise vollzieht, selbst ein raumbildendes Phänomen; zum anderen gibt es architekturale Resonanzräume, die in besonderer Weise zum Gebet einladen. Wo sich das Gebet in klinischen Institutionen Raum verschafft und nach Resonanzräumen sucht, kommt es mitunter zu spannungsreichen Konstellationen. Auf der Neonatologie, einer Intensivstation oder in einem Mehrbettzimmer in hörbarer Weise zu beten, kann als ebenso befremdlich wie wohltuend empfunden werden.19 In einem sonst durch und durch säkular geprägten Hause einen atmosphärischen Raum zu betreten, in dem gebetet und meditiert wird, ist eine ähnliche Kontrasterfahrung. Während es sich in einem Fall um flüchtige Räume handelt, die sich während des Gebetsvollzugs aufbauen und sein Ende nur kurze Zeit überdauern, handelt es sich bei letzterem um stabile Orte der Einkehr und der Zuflucht, an denen sich mehr oder weniger deutlich zeigt, welchen Stellenwert und welche Färbung die spirituellen und religiösen Belange in der jeweiligen Institution haben. Bei aller Funktionalität vermitteln Gebets- und Meditationsräume Atmosphären und erzählen Geschichten – auch solche über gegenwärtig sich vollziehende Transformationsprozesse im Bereich des Spirituellen. In einem Beitrag über die Gebetsräume in den Universitätsspitälern in Lausanne und Zürich arbeitete Thomas Fries kürzlich heraus, wie diese Räume selbst im Wandel begriffen sind. Durch kleine Umstellungen wird beispielsweise versucht, ihren Resonanzbereich so zu erweitern, dass sie auf ein möglichst breites Spektrum von Patientinnen und Patienten einladend wirkt.20 Um Raumkonflikten vorzubeugen, können Richtlinien hilfreich sein. So hat die Deutsche Bauministerkonferenz eine Planungshilfe »Palliativstationen« herausgegeben, in der sich auch Rahmenvorgaben für einen Raum der Stille finden:

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Margret Ehni, Seelsorge in der (stationären) Palliativversorgung, Spiritual Care 6 (2017), 257–259. 19 Vgl. das titelgebende Beispiel des Beitrags von Hubert Kössler und Pascal Mösli. 20 Vgl. Thomas Fries, Raum, Leib und Ritualität. Beobachtungen zu einigen Aspekten verleiblichter Spiritualität in Schweizer Universitätsspitälern, in: Spiritual Care 6 (2017), 153–165.

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Simon Peng-Keller »Dieser Raum ist sowohl für Patienten und Besucher, als auch für das Personal gedacht und kann verschiedene Funktionen erfüllen: Andachtsraum, Therapieraum (Klangraum / Entspannungsraum / Lichtraum / Musiktherapie), Verabschiedung, Personalgespräche. Es gibt die Möglichkeit, sich in einer besonderen Raumatmosphäre zurückzuziehen oder auch ein ungestörtes vertrauliches Gespräch zu führen. Als Platz und Gelegenheit für Spiritualität ist der Raum stimmungsvoll zu gestalten und auszustatten (Licht, Wand- und Deckenbehänge, Sitzgelegenheiten etc.).«21

Die zitierten Rahmenvorgaben sind selbst von der Spannung geprägt, die sie zu regeln suchen. Verträgt sich doch die angezielte Multifunktionalität (»Andachtsraum, Therapieraum [Klangraum/Entspannungsraum/Lichtraum/Musiktherapie], Verabschiedung, Personalgespräche«) nicht umstandslos mit dem Anliegen, auf atmosphärische Weise »Platz und Gelegenheit für Spiritualität« zu schaffen. Spiritual Care umfasst in diesem Zusammenhang auch die Sorge dafür, dass Räume des Gebets entstehen und zugänglich gehalten werden. Zur Wahrung der Religionsfreiheit in klinischen Kontexten gehört es, Patientinnen und Patienten in ihrer Religionsausübung unter erschwerten Bedingungen zu unterstützen. Die von Gesundheitsfachleuten wahrgenommene Spiritual Care wird in diesem Zusammenhang in der Regel eine assistierende sein. Gibt es jedoch auch Situationen, in denen das gemeinsame Gebet eine legitime Form gesundheitsberuflicher Spiritual Care darstellt? IV. Gebet als Form gesundheitsberuflicher Spiritual Care? Der Einbezug des Gebets in eine interprofessionell verantwortete Spiritual Care wirft ethische Fragen auf. Sie ergeben sich zum einen aus der besonderen Vulnerabilität von Patientinnen und Patienten. Damit können sich Fragen verknüpfen, die nicht krankenhausspezifisch sind, aber in klinischen Kontexten eine besondere Prägnanz bekommen, etwa solche des interreligiösen Gebets. Der Fall Caroline Petrie Dass es sich beim Gebet um einen neuralgischen Punkt gesundheitsberuflicher Spiritual Care handelt, lässt sich an einem Fall illustrieren, der 2009 in der britischen Öffentlichkeit intensiv diskutiert wurde, weil er zur vorübergehenden Entlassung einer im ambulanten Bereich tätigen

21

Bauministerkonferenz, Konferenz der für Städtebau, Bau- und Wohnungswesen zuständigen Minister und Senatoren der Länder (ARGEBAU), Ausschuss für Staatlichen Hochbau, Fachkommission Bau- und Kostenplanung, Netzwerk Krankenhausbau, Palliativstationen: Baulich-funktionale Anforderungen, 2011 (www.dgpalliativmedizin.de/images/stories/Planungshilfe_Palliativstationen.pdf; Zugriff 18.02.2017)

Einleitung: Gebet als Resonanzereignis

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Pflegefachfrau führte.22 Caroline Petrie, eine damals 45-jährige Baptistin, hatte bereits zu einem früheren Zeitpunkt eine Verwarnung bekommen, weil sie einem Patienten ein selbst angefertigtes Gebetskärtchen zugesteckt hatte. Zudem bot sie ihren Patienten an, für sie zu beten, sei es in deren Gegenwart oder für sich alleine. Ein solches Gebetsangebot wurde zum Stein des Anstoßes. »Möchten Sie, dass ich für Sie bete?«, habe sie die ältere Patientin gefragt, die sich darüber bei ihren Vorgesetzten beschwerte. Was sie zu dieser Frage geführt habe, sei die Sorge um das Wohlbefinden der Patientin gewesen und der Wunsch, es möge ihr bald wieder besser gehen. Die Entlassung wurde mit Verweis auf die geltende Berufsordnung begründet, die zum einen zu »equality and diversity« verpflichtete und es zum anderen verbot, den professionellen Status zu etwas anderem zu nutzen als zur Förderung der Gesundheit. In der hitzigen Diskussion, die schließlich zur Rücknahme der Kündigung führte, wurde darauf hingewiesen, dass die zitierten professionsethischen Standards keine ausdrücklichen Hinweise auf die Streitfrage enthielten und Raum für unterschiedliche Auslegungen ließen. Wenn das Gebet als etwas betrachtet wird, das die Gesundheit und das Wohlbefinden von Patienten positiv beeinflussen – gehören sie dann nicht ebenfalls in das Aufgabenfeld von Pflege und Medizin? Beten als Aufgabe »allgemeiner« Spiritual Care? In einer 2011 veröffentlichten Studie wurden U.S.-amerikanische Patienten mit einer fortgeschrittenen Krebserkrankung und Gesundheitsfachpersonen aus den Bereichen Medizin und Pflege danach gefragt, in welchen Situationen sie ein gemeinsames Gebet als passend erachten würden.23 Die Mehrheit der befragten Patientinnen/Patienten (71 %), Ärztinnen/Ärzte (65 %) und Pflegefachpersonen (83 %) erachteten ein gemeinsames Gebet in gewissen Situationen als passend. Bemerkenswerterweise neigten die Ärztinnen und Ärzte dazu, den Gebetswunsch der Patientinnen und Patienten zu unterschätzen, während die Pflegefachpersonen ihn überschätzten. Im deutschen Sprachraum dürften die Vorbehalte gegen eine solche Gebetspraxis sowohl bei Patienten als auch bei Professionellen größer sein. Ein indirekter Hinweis darauf findet sich im 2017 publizierten Positionspapier der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychothera22

Andrew Alderson, Nurse suspended for offering to pray for elderly patient’s recovery, in: The Telegraph 31.08.2009, online: www.telegraph.co.uk/news/health/news/ 4409168/Nurse-suspended-for-offering-to-pray-for-patients-recovery.html (abgerufen am 12.01.2017); Charlotte French / Aru Narayanasamy, To pray or not to pray: a question of ethics, in: British Journal of Nursing 20:18 (2011), 1198–1204. 23 Vgl. Michael J. Balboni / Amenah Barbar / Jennifer Dillinger / Andrea C Phelps / Emily George / Susan D. Block / Lisa Kachnic / Jessica Hunt / John Peteet / Holly G. Prigerson / Tyler J. VanderWeele / Tracy A. Balboni, »It Depends«: Viewpoints of Patients, Physicians, and Nurses on Patient-Practitioner Prayer in the Setting of Advanced Cancer, in: Journal of Pain and Symptom Management 41:5 (2011), 836–847.

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pie, Psychosomatik und Nervenheilkunde.24 Darin wird hervorgehoben, dass Psychiater und Psychotherapeuten durch ihre Berufsethik verpflichtet sind, innerhalb des Methodenspektrums ihrer Profession tätig zu sein. In einer ersten Fassung des Dokuments wurde dies durch den Hinweis konkretisiert, dass Vertreter der betreffenden Berufsgruppen nicht die Initiative zu einem Gebet oder einem anderen Ritual ergreifen sollen. In der finalen Fassung wurde eine Formulierung gewählt, die zwar das Gebet nicht mehr erwähnt, zugleich jedoch absoluter klingt: »Dies schließt religiöse oder spirituelle Interventionen aus. Dies stellt eine sinnvolle und notwendige Selbstbeschränkung dar.«25 Die nicht näher spezifizierte Formulierung lässt es offen, ob ein Gebet(sangebot) als eine »religiöse oder spirituelle Intervention« zu betrachten ist. Während das Positionspapier der DGPPN zur Zurückhaltung mahnt, findet sich in der U.S.-amerikanischen Fachliteratur der Trend, es unter gewissen Bedingungen als legitim und sinnvoll zu erachten, wenn Ärzte und Pflegefachpersonen mit Patienten beten. Eine ausdrücklich bejahende Position findet sich in Harald Koenigs Standardwerk Spirituality in Patient Care.26 Die Argumentation ist hier vom Gedanken geleitet, dass Gesundheitspersonen religiöse Aktivitäten (inkl. Gebet) fördern sollen, insofern »diese dem Patienten bei der Bewältigung seiner Krankheit und der daraus erwachsenden Veränderungen helfen«.27 Doch gehört es tatsächlich zu den Aufgaben von Gesundheitsfachpersonen, Patienten zu Gebet und Meditation zu ermutigen, mit ihnen über ihre Gebetsnöte zu sprechen28 oder gar mit ihnen zu beten? Koenig vertritt eine durchaus differenzierte Position: Im Normalfall können Gesundheitsfachleute diese Aufgaben den zuständigen Seelsorgenden überlassen. Doch gebe es besondere Situationen, in denen es legitim und sinnvoll ist, dass auch Ärzte und Pflegende sich involvieren lassen: zum einen wenn Patienten selbst die Bitte um ein solches Gebet äußern; zum anderen gebe es Grenzfälle, in denen es sinnvoll sein kann, ein Gebet zu initiieren. Die Problematik eines solches Angebotes wird auch von Koenig unterstrichen: »Wegen dem Machtgefälle besteht das Risiko, 24

Vgl. Michael Utsch / Ulrike Anderssen-Reuster / Eckhard Frick / Werner Gross / Sebastian Murken / Meryam Schouler-Ocak / Gabriele Stotz-Ingenlath, Empfehlungen zum Umgang mit Religiosität und Spiritualität in Psychiatrie und Psychotherapie. Positionspapier der DGPPN, in: Spiritual Care 6 (2017), 141–146. 25 Ebd. 144. 26 Ich zitiere aus der dt. Übersetzung: Harold G. Koenig, Spiritualität in den Gesundheitsberufen. Ein praxisorientierter Leitfaden. Bearbeitet und mit einem Geleitwort von René Hefti, Stuttgart 2012. 27 Ebd. 67. 28 Vgl. Elizabeth Johnston Taylor, Prayer’s Clinical Issues and Implications, in: Holistic Nursing Practice 17:4 (2003), 179–188, hier: 183: »The most frequent questions a nurse may need to address are as follows: I cannot concentrate, so how can I pray? How do I pray when I am too sick? Am I doing it the right way? Why is God silent? Is God there?«

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dass die Initiative der Gesundheitsfachperson als Druck empfunden wird; es ist nicht einfach für einen Patienten, zu einem solchen Vorstoß Nein zu sagen, besonders im Krankenhaus, wo er sich nicht auslesen kann, wer ihn betreut.«29 Seitens der Professionellen drohe die Gefahr von Gegenübertragung und Machtmissbrauch. Koenig nennt drei Kriterien, die erfüllt sein müssen, damit ein solches Angebot dennoch legitim sein kann: Zum einen müsse die betreffende Fachperson »mit Sicherheit wissen, dass der Patient ein Angebot zum Gebet gerne annehmen wird«;30 zum andern sei es nötig, dass sie denselben religiösen Hintergrund habe; und schließlich sei eine solche Initiative nur dann gerechtfertigt, wenn ein dringliches spirituelles Bedürfnis vorliege. Ein solches Gebet soll für Krisen und Umstände vorbehalten bleiben, in »denen weder der Patient noch die Fachperson den Ausgang der Dinge in der Hand haben«.31 Darüber hinausgehend lässt sich noch ein weiteres Kriterium nennen, das Koenig vermutlich als selbstverständlich voraussetzt: Die betreffende Fachperson muss sich selbst sicher fühlen beim Gedanken, in der betreffenden Situation ein Gebet zu sprechen. Während die beiden letztgenannten Kriterien unstrittig sein dürften, bedarf die Frage des interreligiösen Betens, wie der Beitrag von Hubert Kössler und Pascal Mösli zu diesem Band zeigt, der weiteren Diskussion. Denn gibt es nicht Situationen, in denen auch ein interreligiöses Gebetsangebot im klinischen Kontext gerechtfertigt sein kann? Bruce D. Feldstein: Interreligiöses Gebet als ärztliches Handeln? In einem Fallbericht, der 2001 im renommierten Journal of the American Medical Association veröffentlicht wurde, beschreibt der jüdische Arzt Bruce D. Feldstein ein von ihm selbst initiiertes Gebet mit einer katholischen Patientin.32 Feldstein hatte sie eben erst kennengelernt: eine 86jährige Frau mit einem metastasierenden Lungenkrebs. Als diensthabender Arzt hatte Feldstein die Aufgabe, ihr den jüngsten Befund mitzuteilen: Die Metastasen hatten sich auf das Gehirn ausgebreitet. Frau Martinez, wie sie genannt wird, reagierte schockiert: »Das ist ein Todesurteil.« Nach einem vergeblichen Versuch, sie zu beruhigen, wagte sich Feldstein auf ein ihm bisher unbekanntes Feld vor: »Ich bemerkte, dass sie ein großes Kruzifix um den Hals trug, und erinnerte mich an eine Geschichte über einen Kardiologen, der zusammen mit seiner Patientin betete.33 Ich wusste, was ich zu tun hatte. Ich fühlte mich dabei sehr 29 30 31 32

Ebd. 68. Ebd. 69. Ebd. 70. Vgl. Bruce D. Feldstein, Toward Healing, in: Journal of the American Medical Association 286:11 (2001), 1291–1292. 33 Möglicherweise bezieht sich Feldstein auf eine Schilderung von Rachel Naomi Remen, Kitchen Table Wisdom. Stories That Heal, Riverhead Books: New York 1996, 252–254. Der von Remen beschriebene Arzt ist zwar kein Kardiologe, aber sein

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Simon Peng-Keller unwohl. Zwar hatte ich mit meinen Patienten gelegentlich schon über Spiritualität und Religion gesprochen, aber der Gedanke, zusammen mit einem Patienten zu beten, war eine andere Sache. Wie sollte ich vorgehen? ›Liegt ihnen etwas am Gebet?‹, fragte ich zögernd. Frau Martinez nickte: ›Ja.‹ Unbeholfen machte ich ihr das Angebot: ›Also, würden sie ein gemeinsames Gebet schätzen?‹ Sie schaute sofort zu mir auf. ›Ja, gerne.‹ Und nun? Wir kamen aus völlig unterschiedlichen Welten. Sie war katholisch und hatte einen mexikanischen Hintergrund. Ich bin jüdisch, stamme aus Detroit und war mit meinen 43 Jahren halb so alt wie sie. Eben erst hatten wir uns kennengelernt. Sie betete zu Jesus. Ich betete nicht zu Jesus. Was sollte ich sagen? Im Medizinstudium war ich nicht auf eine solche Situation vorbereitet worden. Ich legte ihre Hände in die meinigen. Wir schlossen unsere Augen. Ich wartete darauf, dass sie den Anfang machte, doch realisierte ich bald, dass sie auf mich wartete. Ich begann zu sprechen im Vertrauen darauf, dass mir die richtigen Worte kommen und sie Trost darin finden würde. ›O Gott, Du, der Du der große Heiler bist.‹ Ich hielt einen Augenblick inne und dachte darüber nach, was ich als nächstes sagen sollte. Frau Martinez wiederholte: ›O Gott, Du, der Du der große Heiler bist.‹ Sie folgte mir! Nun hatte ich die richtigen Worte zu finden, die sie wiederholen konnte. ›Der du uns durchs Leben führst‹, sprach ich. ›Der du uns durchs Leben führst‹, wiederholte sie. Ich fuhr fort und Frau Martinez wiederholte es. [...] ›Danke, dass Du unser Beten erhörst.‹ ›Danke, dass Du unser Beten erhörst‹, war ihr Echo. ›Amen.‹ ›Amen.‹ Erleichtert öffnete ich die Augen. Die ihrigen hingegen blieben geschlossen. Sie ließ meine Hand nicht los und begann das Vaterunser zu beten: ›Vater unser im Himmel, geheiligt werde Dein Name ...‹ Ich folgte, so gut ich konnte. Dann begann Frau Martinez auf Spanisch zum Heiligen Judas zu beten, dem Schutzheiligen für hoffnungslose Fälle, wie ich später erfuhr. Nachdem sie damit fertig war, öffneten wir beide die Augen. Frau Martinez wirkte sichtlich beruhigt. Sie schaute mir direkt und tief in die Augen. ›Ich danke Ihnen‹, sagte sie sanft. Dabei rollte ihr eine Träne über die Wangen. Auch ihr Sohn hatte feuchte Augen. ›Ich danke Ihnen‹, antwortete ich. Ich war ebenfalls den Tränen nahe und von einer tiefen Dankbarkeit erfüllt. [...] Mit Frau Martinez zu beten, fühlte sich völlig richtig an. Aber war es das wirklich? Für sie und ihren Sohn war es gewiss tröstlich. Und ebenso für mich, der ich mit dem Gefühl hinausging, mich als nützlich erwiesen zu haben, während ich mich sonst trost- und hoffnungslos gefühlt hätte. Doch ist das Gebet mit einem Patienten ethisch oder rechtlich zu rechtfertigen?«34

Betrachtet man die Gebetsworte, so gehören sie zum gemeinsamen Schatz jüdischen und christlichen Betens. Feldstein wählte eine offene Gottesanrede und Formulierungen, wie sie im jüdischen als auch im christlichen Beten üblich sind. Frau Martinez konnte diese Gebetsworte gut nachsprechen und ergänzte sie anschließend durch die ihr vertrauten Gebete: das Vaterunser, das Feldstein noch mitbeten konnte, und ein spanisches Gebet zum Heiligen Judas, das Feldstein durch seine schweigende Präsenz begleitete. Das letzte gesprochene Gebet markierte zugleich eine Grenze: Es war ein Gebet, das Feldstein als Jude nicht mehr mitbeten konnte, auch wenn Frau Martinez es auf Englisch gebetet hätte. Er mag Entscheid, einer Patientin mit einem lateinamerikanischen Hintergrund ein Gebet anzubieten, geschieht wie bei Feldstein aus einer Intuition heraus. 34 Ebd. 1291f. (meine Übersetzung).

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es auf seine Weise mitgebetet haben. Die Beteiligten bleiben in ihrer eigenen Gebetswelt und sind zugleich durch ein gemeinsames Anliegen und leibsinnliche Kopräsenz verbunden. Für das titelgebende Leitmotiv des vorliegenden Bandes, das Gebet im Horizont von Spiritual Care als Resonanzereignis zu verstehen, bietet Feldsteins Bericht vielfältige Anhaltspunkte. Arzt wie Patientin lassen sich auf ein Geschehen anrührender Resonanzen ein. Zugleich wirft der Bericht ethische Fragen auf, die auch Feldstein selbst weiter beschäftigten. In der beschriebenen Gebetssituation sind bestenfalls zwei der vier genannten Bedingungen für ein Gebetsangebot seitens einer Gesundheitsfachperson erfüllt: Zweifellos handelt es sich um eine Grenzsituation, in der »weder der Patient noch die Fachperson den Ausgang der Dinge in der Hand haben«. Ob Feldstein mit Sicherheit wissen konnte, dass Frau Martinez, die er eben erst kennengelernt hatte, sein Gebetsangebot annehmen würde, ist allerdings fraglich. Feldstein beschreibt sein Gebetsangebot als Wagnis. So sicher er sich in seiner Intuition auch war, so unbehaglich fühlte er sich gleichzeitig aufgrund seiner fehlenden Vorerfahrungen und der religiösen Differenz. Rührte sein Unbehagen auch daher, dass er Frau Martinez nicht über seine jüdische Religionszugehörigkeit aufgeklärt hatte und er dadurch umso mehr genötigt wurde, Gebetsworte zu finden, die sowohl zu seinen eigenen Überzeugungen wie zur katholischen Gebetspraxis seiner Patientin passten? Wäre es nicht angezeigt gewesen, Frau Martinez darüber zu informieren, dass sie es mit einem jüdischen Arzt zu tun hatte, der bereit war, sich auf ihre christliche Gebetspraxis einzulassen? Säkulares Gebet? Wenden wir uns zum Schluss noch einem anderen Grenzfall zu: Ist es unter gewissen Umständen denkbar, dass auch Professionelle ohne religiösen Glauben sich an einem Gebet beteiligen, wenn Patienten ihnen gegenüber einen solchen Wunsch äußern? In der folgenden Vignette wird eine solche Situation geschildert: »P.M., eine erfahrene Pflegefachfrau, erholte sich gerade von einer größeren Unterleibsoperation. Es gab Komplikationen und sie fühlte sich auch emotional erschöpft. Eine fähige junge Pflegefachfrau unterstützte sie durch eine kompetente postoperative Pflege. P.M. fragte die junge Fachfrau: ›Es würde mir wirklich nichts ausmachen, wenn Sie meine eigenen Überzeugungen nicht teilten, doch wären Sie so lieb, mit mir zusammen ein Gebet zu sprechen?‹ P.M. formulierte ihre Frage sehr sorgfältig, um die Pflegefachperson nicht in eine ungemütliche Situation zu bringen. Man kann sich vorstellen, wie enttäuscht sie war, als die Pflegefachperson sie mit der Antwort überraschte: ›Nein, ich mache das nicht.‹«35

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Taylor, Prayer’s Clinical Issues and Implications (s. Anm. 28), 179 (meine Übersetzung).

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An der Authentizität einer solchen Antwort ist ebenso wenig zu zweifeln wie an der Legitimität, einen solchen Gebetswunsch abzuweisen. Auf eine zurückhaltend gestellte Frage einer vulnerablen Person mit einem schroffen Nein zu antworten, ist dennoch problematisch. Wie ist es möglich, in solchen Situationen zu den eigenen Grenzen zu stehen, ohne jemanden zu verletzen? Die junge Pflegefachfrau hätte beispielsweise vorsichtig zurückfragen können, ob sie Frau M. eine dafür geeignete Person vermitteln dürfe. Oder sie hätte ihr vorschlagen können, ein durch die Patientin selbst gesprochenes Gebet durch stille Präsenz und gute Gedanken zu unterstützen. Nach der bereits zitierten Studie von Balboni und Kollegen gibt es zudem Gesundheitsfachpersonen, die ein Gebet als tröstlichen Zuspruch wahrnehmen, der nicht notwendigerweise einen religiösen Glauben voraussetzt. Einer der Befragten formulierte es so: »Gebet hat für mich nichts mit Religion zu tun. Es ist eine Gruppe von Worten, die einer Person Hoffnung, Sinn und Frieden vermitteln können.«36 Entsprechend dazu finden sich säkulare Formen des Gebets auch bei Patienten. So wird etwa das Gebet zu Schutzengeln auch von Patienten praktiziert, die sich als nicht-religiös und nicht-spirituell beschreiben.37 Sinnliches und diskretes Gebet Dass das von Feldstein initiierte Gebet zu einem Resonanzereignis wurde, das für alle Beteiligten berührend und tröstlich war, dürfte nicht zuletzt damit zu tun haben, dass die sorgfältig gewählten Gebetsworte mit intensivem Körperkontakt verbunden waren. Feldstein umschloss die Hände von Frau Martinez und sie beten beide mit geschlossenen Augen, was die körperliche Berührung intensiviert. Im Vollzug des Betens wird Solidarität und wohlwollende Präsenz auf leibsinnliche Weise spürbar. Fragen zu einer professionellen Sensibilität für Grenzen stellen sich allerdings auch in dieser Hinsicht. Was in Grenzsituationen passend sein kann, ist keinesfalls verallgemeinerbar. Dass Ärztinnen und Ärzte oder Pflegefachpersonen mit ihren Patientinnen und Patienten beten, dürfte unter hiesigen Verhältnissen ohnehin eher einen Ausnahmefall darstellen. Anders dürfte es sich mit dem Gebet für Patienten verhalten. Anekdotische Berichte lassen vermuten, dass es nicht wenige Gesundheitsfachpersonen gibt,38 die auf diskrete Weise für ihre Patienten beten. Das zeigt auch eine von Arndt Büssing und Kollegen durchgeführte Studie, die die spirituellen Praktiken von deutschen Ärztinnen und Ärzten untersuchte, die zur

36 37

Balboni et al., »It Depends« (s. Anm. 23), 842. Vgl. Arndt Büssing / Franz Reiser / Andreas Michalsen / Anne Zahn / Klaus Baumann, Do patients with chronic pain diseases believe in guardian angels even in a secular society? A cross-sectional study among German patients with chronic diseases, in: Journal of Religion and Health 54 (2015), 76–86. 38 Zur Gebetspraxis von Seelsorgenden vgl. den Beitrag von Arndt Büssing in diesem Band.

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Mehrheit eine komplementärmedizinische Spezialisierung besaßen.39 47 % der Befragten gaben an, für andere zu beten. Obwohl nicht nach den Gebetsadressaten gefragt wurde, kann man davon ausgehen, dass die betreffenden Ärztinnen und Ärzte auch für ihre Patienten beten. In einer von Susanne Schneider und Robert Kastenbaum bei Hospizmitarbeitern in Arizona durchgeführten Umfrage war die Zahl noch bedeutend höher: Die große Mehrheit der Befragten gab an, im Stillen häufig für ihre Patienten zu beten.40 Ob man ein solches Gebet als unauffällige Form gesundheitsberuflicher Spiritual Care betrachten soll oder eher als eine private Angelegenheit, hängt vom vorausgesetzten Verständnis der beruflichen Rolle und Aufgabe ab. Die von Schneider und Kastenbaum befragten Hospizmitarbeiter, die sich fast alle als religiös beschrieben, bezeichneten das stille Gebet als zentrales Element ihrer beruflichen Tätigkeit – auch wenn diese intensive Gebetspraxis nur in sehr seltenen Fällen zu einem Beten mit Patienten führte.41 V. Überblick über die Beiträge Das Gebet als Resonanzereignis zu verstehen, wirft viele Fragen auf, die in den Beiträgen des vorliegenden Bandes in unterschiedlicher Weise aufgenommen werden. Im ersten Teil loten drei grundlegende Beiträge das gebetstheologische Potenzial des Leitbegriffs aus, der diesen Band programmatisch überschreibt. In Aufnahme eines zentralen Gedankens hermeneutischer Theologie geht Hans Weder von der Beobachtung aus, dass das Beten den Menschen eine »Erfahrung mit seiner Erfahrung« machen lässt. Durch die im Gebet sich ereignende Resonanz können sich menschliche Lebenserfahrungen klären und auf neue Weise »zu sprechen« beginnen. In Auslegung von Röm 8,12–30 und Mt 6,9–13 zeigt Weder auf, dass christliches Beten einen doppelten Resonanzraum bildet: Zum einen sind es weltliche Erfahrungen der Dankbarkeit und der Not, die im Gebet Raum finden und sich in einem Resonanzgeschehen transformieren; zum anderen ist es der von Gottes Wort geschaffene Sprach- und Resonanzraum, der die Welt der Betenden und ihre Erfahrungen »in einen neuen Zusammenhang stellt und sie in Resonanz zum göttlichen Schöpfer versetzt«. 39

Vgl. Arndt Büssing / Almut Tabea Hirdes / Klaus Baumann / Niels Christian Hvidt / Peter Heusser, Aspects of Spirituality in Medical Doctors and Their Relation to Specific Views of Illness and Dealing with Their Patients’ Individual Situation, in: EvidenceBased Complementary and Alternative Medicine (2013), Artikel ID 734392. Von den 237 befragten Ärztinnen und Ärzten hatten 187 eine komplementärmedizinische Spezialisierung. 40 Vgl. Susanne Schneider / Robert Kastenbaum, Patterns and meanings of prayer in hospice caregivers. An exploratory study, in: Death Studies 17 (1993), 471–485. 41 Ebd. 479.

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Der Stimme als Medium des Betens widmet sich der Beitrag von Simon Peng-Keller. Der weitere Horizont des Beitrags bildet die Diskussion um die Vergeistigungs- und Entsinnlichungstendenzen in der abendländischen Tradition. Anknüpfend an jüngere Versuche, die philosophische Bedeutung der Stimme zu artikulieren, wird der Sinn der Stimmlichkeit des Betens in seinen vielgestaltigen medialen Möglichkeiten untersucht. Der näheren Erkundung eröffnet sich ein Spektrum, das von der mitunter sakramentalen Qualität der Gebetsstimme bis zu Wirkungen instrumenteller Art reicht. Dem heilenden Potenzial der (Gebets-)Stimme geht Josef-Anton Willa in seinem Beitrag über den Stimmforscher und Gesangstherapeuten Alfred Wolfsohn nach. In dessen experimenteller Erforschung der Stimme, die von Willa biografisch eingebettet wird, vollzieht sich ein performative turn, der auch für die Gebetspraxis und die theologische Reflexion über das Gebet inspirierend sein kann. Indem er den therapeutischen Aspekt stimmlicher Resonanzen betont, schlägt Willa auch eine Brücke zum zweiten Teil, der sich mit unterschiedlichen Formen des Betens im Horizont von Spiritual Care beschäftigt. Er wird eröffnet durch den Beitrag von Hubert Kössler und Pascal Mösli, der nicht nur einen differenzierten Einblick in die Gebetswelt der Klinikseelsorge vermittelt, sondern auch die damit verbundenen Herausforderungen und Problemfelder analysiert. Komplementär zu dieser Nahperspektive vermittelt Arndt Büssing eine Übersicht über die empirische Forschung zum Gebet im Kontext von Gesundheit und Krankheit. Die resümierten Studien dokumentieren die eindrückliche Persistenz des Betens in der säkular geprägten Welt des heutigen Gesundheitswesens. Büssing wendet nicht zuletzt gegen den Verdacht, die empirische Gebetsforschung trage zu einer Instrumentalisierung des Betens bei. Eine theologische Auseinandersetzung mit einer empirischen Annäherung an spirituelle Erfahrungen findet sich in Thomas Fries’ Reflexionen zu Gebet und Trosterfahrung im Kontext schwerer Krankheit. Auf der Basis einer spiritualitätsgeschichtlichen Rekonstruktion lotet der Beitrag das Verhältnis aus zwischen einer theologisch gefüllten Rede vom ›Trost im Misstrost‹ der Krankheitssituation und dem Begriff des ›spiritual wellbeing‹, der in der empirischen Spiritual Care-Forschung eine Schlüsselrolle spielt. Im Kontrast zum ›spirituellen Wohlbefinden‹ stehen die Phänomene, die in den drei folgenden Beiträgen im Zentrum stehen. Wie Thomas Fries nimmt auch Klaus Baumann das Beten in Situationen schwerer Erkrankung in den Blick. Doch untersucht er es in seinem Beitrag im Spannungsfeld zwischen Sinnsuche, Klage und Akzeptanz des Unverständlichen. Eine besondere Affinität zur letztgenannten Haltung sieht Baumann ebenso in den inzwischen auch in klinischen Kontexten weitverbreiteten Achtsamkeitsübungen wie in der Einübung in die »Samm-

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lung«, wie sie von Romano Guardini in der »Vorschule« des Betens beschrieben wurde. Bei Ralph Kunz wiederum wird der Blick auf die gemeinschaftliche Dimension des Betens geweitet. Untersucht wird das Klagegebet als gemeinschaftliche Trauerarbeit. Im Zentrum des Beitrags steht das Phänomen eines Betens, das (scheinbar) nicht auf Resonanz stößt und dadurch selbst zum Anlass der Klage wird, die jedoch ihrerseits eine Form des Betens darstellt und es zu intensivieren vermag. Ein damit verwandtes Gebetsphänomen umkreist auch Cornelia Richter, wenn sie Trauer als Gebetsnot thematisiert. Am Anfang ihres Beitrags entwirft Richter eine kleine Phänomenologie der Trauererfahrung, die ihr dann als Hintergrund dafür dient, sich dem leibsinnlichen Beten von Trauernden anzunähern, denen das Gebet selbst gleichermaßen zur Not fehlender Resonanz wie zur Nötigung werden kann, in aller Dissonanz in ein »bodenloses Vertrauen« zu finden. Die besondere Qualität verleiblichten Betens lotet auch John Swinton aus, wenn er an einem konkreten Beispiel über Gebet, Demenz und unsere verleiblichten Erinnerungen nachdenkt. In Anküpfung an Maurice Merleau-Ponty skizziert Swinton das Konzept eines ›liturgischen Selbst‹, das sich auch unter den Bedingungen fortschreitender Demenz zu bezeugen vermag – nicht zuletzt in Gestalt verleiblichter Gebetsvollzüge, die inmitten des Vergessens an die Verheißung göttlichen Gedenkens erinnern. Mit betendem Gedenken und verleiblichtem Beten in Grenzsituationen beschäftigt sich auch Birgit Jeggle-Merz. Rituelles Gebet in Todesnähe, so der Leitgedanke ihres Beitrags, lebt nicht von Geschäftigkeit in letzter Minute, sondern von einer Bedächtigkeit, die die Aufmerksamkeit auf das fokussiert, was diese Situation erfordert, und Raum schafft für sinnstiftende Präsenz – jenseits des Verstehens. Christoph Gellners theologisch-literarische Annäherungen an Gebetzeugnisse in zeitgenössischen Krankheits- und Sterbenarrativen und eine Meditation von Martin Schleske runden den Reigen der Beiträge ab. In den von Gellner untersuchten Texten, in denen sich vielfältige und teils gegensätzliche Erfahrungen verdichten, bildet das Nicht-mehr-BetenKönnen oder zumindest das Abhanden-Kommen früher gepflegter Formen des Betens ein mehrfach wiederkehrendes Motiv. Manchmal kommt es jedoch auch zu Wiederentdeckungen, wie bei Christoph Schlingensief und Ilse Helbich, deren Gebetserfahrung den vorliegenden Band eröffnet hat. Von der mitunter mühevollen Neuerschließung solcher Resonanzen, spricht auch Martin Schleske im Hinblick auf seine Aufgabe als Geigenbauer, klangliches Leben zur Welt zu bringen und entstellte Klangkörper wiederherzustellen. Die handwerkliche und musikalische Kunst, menschliche Lebensräume zum Klingen zu bringen, deutet Schleske als Gleichnis für die Resonanz, die sich im Gebet ereignen kann und die er als beglückende und fragile Gleichzeitigkeit mit Gott beschreibt.

I. Grundlegende Aspekte

Hans Weder

Resonanzen im Gebet

Wenn der betende Mensch Gott für das Leben dankt, das er als großes Geschenk wahrnimmt, versteht er auf unüberbietbar konkrete Weise sich selbst als Geschöpf und Gott ebenso konkret als Schöpfer.1 Wenn er in der Folge des Betens lernt, Gott als Schöpfer auch zu denken, ist dies eine Konsequenz aus jener Konkretheit. Der Gedanke an Gott den Schöpfer stammt aus und lebt von der Konkretheit des Gebets. Gott als Schöpfer denken ist zu unterscheiden von der Wahrnehmung dieses Gottes als Schöpfer. Wahrnehmung ist ein unmittelbarer Lebensvorgang, Denken ist demgegenüber ein mittelbarer Reflexionsvorgang, der die Wahrnehmung, von der er lebt, bedenkt. Eben diese Wahrnehmung des Schöpfers, wo immer sie sonst geschehen mag, geschieht konkret auch im Gebet, das für gewährtes Gutes dankt oder über erfahrenes Böses klagt. In dieser bestimmten Weise Gott als Schöpfer wahrnehmen, führt dazu, dass die Welt, die Menschen und der Betende in einer neuen Weise wahrgenommen werden, als Geschöpf nämlich, das nicht in sein WeltSein gebannt ist, sondern einen Transzendenzbezug hat.2 Es gehört zu den wichtigen Einsichten des Schöpfungsberichts der Genesis, den Schöpfer prinzipiell und absolut von seiner Schöpfung zu unterscheiden; der Begriff der Transzendenz ist hier sehr strikte zu verstehen.3 Der Bezug zur Transzendenz bleibt freilich nicht ohne Wirkung auf das Sein in der Welt. Will man grundlegende Aspekte dieser Wirkung näher in den Blick nehmen, ist es aussichtsreich, mit dem Begriff der Resonanz zu arbeiten. Unter Resonanz soll im Folgenden – in Analogie zum akustischen Sach-

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Nach Luther ist das Gebet als »eine Weise des praktischen Erkennens zu verstehen« (Doris Hiller, Art. Gebet, VII. Fundamentaltheologisch, in: RGG4 III, Tübingen 2000, Sp. 499). 2 Dazu Walter Bernet, Gebet. Mit einem Streitgespräch zwischen Ernst Lange und dem Autor, Stuttgart/Berlin 1970 (TTh 6), 152, der eine kritische Funktion des Betens identifiziert, die wesentlich dadurch zustande kommt, dass das Gebet »uns von der Tradition her unvermeidlich das Wort ›Gott‹ zuspielt, jenes Wort also, das unter allen Menschenwörtern in dringlichster Weise eine Frage stellt, die niemals in eine Antwort umgelogen werden kann«. 3 So Konrad Schmid, Schöpfung im Alten Testament, in: ders. (Hrsg.), Schöpfung, Tübingen 2012 (TTh [neue Folge] 4), 89: »Schöpfer und Schöpfung sind gemäß Gen 1 vollkommen getrennt voneinander. Gott hat keine weltliche Qualität und die Welt hat keine göttliche Qualität.«

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verhalt4 – die Wirkung verstanden werden, die von einer externen Kraftquelle ausgeht und bei einem Empfänger dazu führt, dass die von der Quelle ausgehende Kraft in gewisser Weise auf ihn übertragen wird. In starker Vereinfachung gesagt: Wenn eine Saite eines Instruments ins Schwingen gebracht wird, kann eine Saite eines anderen Instruments ebenfalls ins Schwingen kommen, sofern sie auf dieselbe Frequenz gestimmt ist. Energie wird von der ersten auf die zweite Saite übertragen, ohne dass sie einander berühren. Dieses Phänomen der Resonanz wird im Folgenden herangezogen, um die Wirkung des menschlichen Betens zu Gott näher in den Blick zu nehmen.5 Allgemein lässt sich sagen: Es liegt im Bereich menschlicher Erfahrung,6 dass das Gegeben-Sein von lebensnotwendigen Gütern als eine Art Geschenkt-Sein wahrgenommen wird. Der Mensch hat eine Ahnung vom Geschenk des Lebens. Wenn er nun in einer Kultur lebt, die ihm den Zugang zum Beten ermöglicht, ist es ihm gegeben, das Leben nicht einfach gedankenlos hinzunehmen, sondern dem Himmel für dieses Geschenk zu danken.7 Im Dankgebet nimmt der Mensch den Geber des 4 Vgl. die Definition von Resonanz bei Lawrence E. Kinsler, Art. Resonance (acoustic and mechanics), in: Encyclopedia of Science and Technology, Bd. 15 (2007), 444–445, hier: 444: »When a mechanical or acoustical system is acted upon by an external periodic driving force whose frequency equals a natural free oscillation frequency of the system, the amplitude of oscillation becomes large and the system is said to be in a state of resonance«. Zu vergleichen sind auch die Ausführungen von Simon Peng-Keller in der Einleitung zu diesem Sammelband. 5 Vgl. dazu Hans Weder, Reichhaltige Resonanz. Überlegungen zu einer Hermeneutik metaphorischer Theologie, in: Ingolf U. Dalferth / Pierre Bühler / Andreas Hunziker (Hrsg.), Hermeneutische Theologie – heute?, Tübingen 2013 (HUTh 60), 227– 257, hier: 234–237. 6 Zum Begriff der Erfahrung vgl. Jörg Lauster, Das Programm »Religion als Lebensdeutung« und das Erbe Rudolf Bultmanns, in: Dalferth u. a. (Hrsg.), Hermeneutische Theologie (s. Anm. 5), 101–116. Erfahrung hat als konstitutive Momente das »unmittelbare Beteiligtsein und Involviertsein des ganzen Individuums« und ist »sinnlich vermittelt«. Dabei spielen »sinnliche Empfindungen, Gefühle und Stimmungen eine entscheidende Rolle«. Jede Erfahrung hat »Begegnungs- und Widerfahrnischarakter« (103). Die »prinzipielle Unvertretbarkeit der Bewusstseinskonstellation des Individuums ist für den Prozess der Erfahrung konstitutiv«; ihre mentalen Repräsentationen »markieren einen Übergang von der Sinneserfahrung zur Sinnerfahrung« (104). »In der Repräsentation greift das Subjekt auf kulturell vorgegebene Ausdrucksformen zurück«; »Erfahrungen verbleiben nicht auf der Ebene individueller Innerlichkeit«, sie finden öffentliche Ausdrucksformen und bilden Institutionen, die man Kultur nennen kann. Demzufolge kann man »Kultur als geronnene Erfahrung begreifen« (105). 7 Dass Beten praktiziert wird, »beruht auf Glaubensvorstellungen über die Existenz und das Wesen Gottes und die Beziehung, welche die Gläubigen zu Gott zu haben behaupten« (Vincent Brümmer, Art. Gebet, V. Religionsphilosophisch, in: RGG4 III, Tübingen 2000, Sp. 497). Dass Beten eine Art Transzendenzbezug hat, steht außer Frage; ob es jedoch mit der Behauptung der Existenz Gottes verbunden ist, und nicht vielmehr mit der Hoffnung oder der Ahnung eines großen Gegenübers, ist mehr als nur fraglich; Brümmers Darstellung kommt einer Engführung der Gebetspraxis gleich.

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Lebens, den Schöpfer, konkret wahr. Zugleich nimmt er das Geschenk des Lebens konkret und ausdrücklich in Empfang. Und der Gedanke an den Schöpfer geleitet ihn zu jenem anderen Gedanken, dass, was der Schöpfer gibt, eine himmlische Gabe ist, eine Gabe die von Kreativität Zeugnis ablegt.8 Die Wahrnehmung dieses Gebers wirkt also zurück auf die Gabe: Sie erscheint neu in einer Klarheit, die sie in der Welt nicht hat.9 Aus dem, was in der Welt als Gegebenes in seinem Glanz und seinem Elend gesehen und erfahren wird, wird das gnädig Gegebene, das gänzlich unverdient Gegebene, das nicht produziert werden kann, weil es in zuvorkommender Weise gegeben ist, und das niemals verdient werden muss, weil es der kreativen Gnade entstammt. Es kann und muss nicht produziert, kann aber jederzeit verspielt werden. Das bloß Gegebene gerät in Resonanz zur himmlischen Gabe, so dass es eine ungeahnte Bedeutung erhält: Das bloß Gegebene wird zum Denkmal einer Gnade, der sich das Universum ebenso verdankt wie des Menschen Leben. Will man dieses Phänomen ganz allgemein beschreiben, legt sich die These nahe, dass das Beten den Menschen eine Erfahrung mit seiner Erfahrung machen lässt. Durch die Resonanz beginnt die Erfahrung auf neue Weise zu sprechen.10 Im bloß Gegebenen wird jetzt eine Stimme laut, die dem Menschen offenbart, was sein Leben und das Sein der ganzen Welt trägt. Das bloß Gegebene hat, kraft der Resonanz zur himmlischen Gabe, eine Wahrheit gewonnen, die es im Horizont der Welt nicht hat. Dieser jetzt allgemein skizzierte Sachverhalt im Zusammenhang mit dem Gebet soll im Folgenden anhand einiger neutestamentlicher Texte genauer bedacht werden mit dem Ziel, das Phänomen des Betens insbe8

Nach Robert Leuenberger, Die dichterische Dimension in der Gebetssprache. Für Gerhard Ebeling zum 70. Geburtstag, in: Friedhelm Grünewald (Hrsg.), Robert Leuenberger. Erwogenes und Gewagtes. Eine Sammlung seiner Aufsätze als Festgabe zum 70. Geburtstag, Zürich 1986, 213 hat das im Gebet erklingende Lob des Schöpfers substanzielle Folgen für die Geschöpfe: Bei P. Gerhardt wie bei G. Tersteegen etwa gleitet das Lob des Schöpfers über in die Freude an der Schöpfung und erscheint schon ganz erfüllt von lyrischem Naturgefühl.« 9 Weil Gott »so unterschieden von seiner Schöpfung [ist], dass er ihr ganz gegenübersteht«, wird in der Genesis der Gedanke der Schöpfung durch das Wort entwickelt. »Durch sein Wort wird der Himmel geschaffen, ebenso Luft, Wasser und Erde als Lebensräume und die Lebewesen, die dann diese Lebensräume bewohnen werden.« Demzufolge ist die Schöpfung »kein Konglomerat sinnloser Elemente, sondern sie ist […] als ›Text‹ lesbar – auch wenn natürlich ihre ursprüngliche Gestalt nicht mehr in ungebrochener Weise zugänglich ist« (Schmid, Schöpfung [s. Anm. 3], 90). 10 Vgl. dazu Weder, Reichhaltige Resonanz (s. Anm. 5), 230f, wo sich die Auseinandersetzung mit dem von Eberhard Jüngel und Gerhard Ebeling verwendeten Ausdruck »Erfahrung mit der Erfahrung« findet. Während Jüngel die Erfahrung mit der Erfahrung auf Sein oder Nicht-Sein konzentriert, kann mit Rekurs auf den Begriff der Resonanz gezeigt werden, dass die Erfahrung des Guten auch inhaltlich eine für den Gottesglauben grundlegende Bedeutung erhält, indem das hermeneutische Potential des Redens von Gott in den Bildern der Welt genutzt wird (dazu ebd. 237–248).

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sondere im Blick auf die dadurch initiierten Resonanzprozesse besser in den Blick zu bekommen. Am Anfang steht ein Text, der den durch das Gebet zum Vater eröffneten Sprach- und Resonanzraum in Augenschein nehmen lässt (Röm 8,12–17). Es folgen einige Überlegungen zum Unservater, in welchem einerseits das Bitten selbst zur Reinheit gebracht wird und andererseits die Resonanz zwischen der Welterfahrung, von der die Betenden herkommen, und der göttlichen Eigenschaft der Vergebung, um welche die Betenden bitten, in den Blick kommt (Mt 6,9–13). Den Abschluss bildet wiederum ein Text aus dem Römerbrief, in welchem ein außergewöhnlicher Umgang mit der durch das Kreatur-Sein des Menschen gegebenen Schwachheit ins Zentrum gerückt wird (Röm 8,18–30). I. Zugang zum Lebensverhältnis (Röm 8,12–17) Hier expliziert Paulus die Wirkung, die von einer bestimmten Weise, Gott im Gebet anzusprechen, ausgeht. Im V. 15 heißt es: »Ihr habt doch nicht einen Geist der Knechtschaft empfangen, um wiederum in Furcht zu leben (wörtlich: [der] wiederum in Furcht [führt]); nein, ihr habt einen Geist der Kindschaft (wörtlich: Sohnschaft) empfangen, in dem wir rufen: Abba, Vater!«.11 Erinnert wird hier daran, dass Gott in der Gemeinschaft der Glaubenden als Abba, Vater, angesprochen wird. Man wählt diese Anrede, wenn man seinen Vater über den Tisch hin anspricht:12 Vater, gib mir bitte das Brot. Abba ist die Anrede an den Vater, der einem nahe ist. Es ist nicht zufällig, dass dieser Ruf hier aramäisch wiedergegeben wird. Durch diese Wiedergabe erinnert Paulus daran, dass diese Möglichkeit, Gott im Gebet13 anzusprechen, sich Jesus verdankt. Diese Sprache hat Jesus gefunden, und er hat sie den Menschen überlassen. Diese Spra11 12

Übersetzung nach der neuen Zürcher Bibel. So Gerhard Kittel, Art. ἀββᾶ, in: ThWNT I, 4–6; diese Interpretation wird von Ernst Käsemann, An die Römer, Tübingen 21974 (HNT 8a), 217 ohne Begründung als »unglaubhaft« bezeichnet. Mit Eduard Lohse, Der Brief an die Römer, Göttingen 2003 (KEK IV), 241: »Die vertrauensvolle Anrede Gottes als Vater kennzeichnet urchristliches Gebet, das an die Überlieferung von Jesu Beten anknüpft (Mk 14,36 par).« Auch wenn die These vom »kleinkindlichen Kosewort […] forschungsgeschichtlich […] überholt« sein sollte (Matthias Konradt, Das Evangelium nach Matthäus, Göttingen 2015 [NTD 1], 105), legt diese Anrede Gottes von einem grundlegenden Vertrauen Zeugnis ab, das gegenüber einem Vater charakteristisch ist. 13 Ob hier eine Gebetsanrede oder ein gottesdienstlicher Ruf (vgl. das »in dem wir rufen«) vorliegt, ist schwer zu entscheiden; dies spielt aber für den vorliegenden Argumentationsgang keine Rolle (und ist sowieso nicht leicht zu unterscheiden, mit Ulrich Wilckens, Der Brief an die Römer. 2. Teilband. Röm 6–11, Zürich / Neukirchen-Vluyn 31993 [EKK VI/2], 137: »Zwischen beiden Erklärungen (sc. Gebet oder gottesdienstlicher Anruf) muss keine Alternative sein, da sich die Entstehung eines isolierten Abba-Rufs m. E. am einfachsten als Verselbständigung der Gebetsanrede des Vaterunsers erklären lässt.«

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che stiftete er dem menschlichen Wort ein. Seither gibt es ein Gebet, das es wagt, Gott als Vater in der Nähe zu beanspruchen. Seither gibt es einen Sprachraum, wo Gott vertrauensvoll als Vater angeredet werden kann. Dieser Sprachraum ist von einem neuen Geist bestimmt. Wer so betend in diesen Sprachraum eintritt, betritt den Raum eines Geistes, der nicht von dieser Welt ist, gerade weil er die Welt in ihrem Innersten betrifft. Der Geist ist fortan nicht mehr ein ungreifbares Fluidum, auf das der Mensch in einer diffusen Spiritualität eingeht. Es ist vielmehr ein ganz bestimmter Geist, der in diesem Wort wirklich wird, das dem menschlichen Gebrauch überlassen ist. Weder Paulus noch die römischen Christen haben diese Sprache geschaffen. Sie ist vor ihnen in der Welt, sie ist ihnen gegeben durch den Christus. Aber jetzt ist sie gegeben und wartet darauf, dass sie im Gebet gebraucht wird. Und wo sie gebraucht wird, entfaltet sich die Dynamik des Geistes, die Dynamik der göttlichen Kreativität, welche die Welt und ihre Erfahrungen in einen neuen Zusammenhang stellt und sie in Resonanz zum göttlichen Schöpfer versetzt. Wo auf diese Weise gebetet wird, wird die menschliche Orientierung in der Welt neu gestaltet. Paulus expliziert dies zunächst an dem Phänomen der Schuldigkeit (Röm 8,12): »Wir sind also, liebe Brüder und Schwestern, nicht mehr dem Fleisch verpflichtet und müssen nicht nach dem Fleisch leben.«14 Mit »Fleisch« bezeichnet Paulus oft das Ensemble der weltlichen Wirklichkeit und Möglichkeiten.15 Wer im Gebet Gott als Vater in Anspruch nimmt, hat den Raum des Geistes betreten. Er hat den Schritt vom Fleisch zum Geist getan, den Schritt von der geschaffenen Welt zum Geist des Schöpfers. Und in diesem Raum ist der Mensch aus einer Schuldigkeit entlassen: Er ist es dem Fleisch nicht mehr schuldig, nach dem Fleisch zu leben. Er ist es dem Bereich des Weltlichen nicht mehr schuldig, auf das Weltliche beschränkt zu leben.16 Gäbe es keinen göttlichen Geist, bliebe dem Menschen nichts anderes übrig, als sich auf das Weltliche zu beschränken. Das wäre er dann dem Weltlichen schuldig, andernfalls müsste er sich selbst der Illusion bezichtigen. Der Bereich der Welt stellt sich ihm zwar so dar, als ob er sich seiner bedienen könnte. Die Welt bietet sich dem Menschen als Mittel an, mit dessen Hilfe er zu seiner Wahrheit kommt. Die Welt legt sich als Mittel 14 15

Röm 8,12 nach der Übersetzung der neuen Zürcher Bibel. Wichtig am Bereich des Fleisches ist der reduktionistische Zugang zur Wirklichkeit: Das Fleisch hat sein Wesen darin, dass es »auf ihre eigenen Möglichkeiten und Kräfte vertraut, aber nicht nach Gott fragt« (Lohse, Brief an die Römer [s. Anm. 12], 238). 16 Dabei muss nicht schon eine Anthropologie unterstellt werden, wonach der Mensch »wie er (von Adam her) vorkommt« in »des selbstsüchtigen Daseins Schuld« steht (gegen Heinrich Schlier, Der Römerbrief, Freiburg/Basel/Wien 1977 [HThKNT VI], 250). Das Problem liegt nicht in der Schuld, sondern vielmehr darin, dass der Mensch in der Beschränkung auf die weltlichen Möglichkeiten und Kräfte glaubt, es diesen Möglichkeiten schuldig zu sein, beschränkt auf sie sein Leben zu gestalten.

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nahe, mit dessen Hilfe der Mensch sein Dasein wahr zu machen sucht. Dass die Welt leidet, wenn sie auf diese Weise gebraucht und verbraucht wird, ist eine logische Folge jener Beschränktheit. Denn das Wirkliche ist nicht geschaffen, um die Wahrheit der Existenz zu erbringen. So sehr der Mensch sich der Welt bedienen zu können meint, so gewiss bannt sie ihn in Wahrheit in ein Schuldverhältnis. Der Mensch glaubt es seinen weltlichen Möglichkeiten schuldig zu sein, sich auf sie zu beschränken und also das Beste aus sich zu machen. Wer auf dem Erdboden lebt und allein diesen Boden kennt, meint zu wissen, dass er für sein Leben selbst aufkommen muss (obwohl er ja genau den Erdboden nicht selbst geschaffen hat). Nun gibt es aber in derselben Welt das Gebet, das Gott als Vater in Anspruch nimmt. Das Gebet bahnt einen Weg zur Erfahrung einer Kreativität, die als göttlicher Geist17 wahrgenommen werden kann. Inmitten des weltlichen Gemenges von Kreativität und Destruktivität gibt es die Erfahrung der Kreativität, deren verhaltener Glanz es nahelegt, an den Geist Gottes zu denken. Und im Gefolge dieser Entdeckung gerät das Geschaffene in Resonanz zur schöpferischen Macht, dem es sich verdankt. Es gewinnt eine Bedeutung, welche es im Horizont der Beschränkung auf das Fleisch nie gewonnen hätte. Es wird zum Denkmal eines göttlichen Schaffens, das weiter trägt als das Weltliche. Wenn im Ruf des Gebets die Beschränkung auf das Weltliche endet, entsteht eine neue Sprache: Inmitten der menschlichen Wörter gibt es nun ein Wort, das Wort Gottes zu heißen verdient, ein kreatives Wort nämlich, das den Menschen Dasein einräumt, ein Wort, das ihm Daseinsräume auftut, die er sich nicht zu erkämpfen braucht. Es gibt ein Wort, das mich nicht festlegt auf das, was ich mir und so der Welt schuldig zu sein meine. In summa: Es gibt ein gnädiges Wort. Gnädig ist es darin, dass es mir großzügig Sein zuschreibt, Leben austeilt, darin auch, dass es mir die Liebe erklärt. Dass es dieses Wort gibt, lässt die menschlichen Wörter von ihrer Beschränktheit auf das Weltliche Abschied nehmen. Die menschlichen Wörter geraten in Resonanz zu dem, was als Wort Gottes zur Erfahrung kommt, eben dem gnädigen Wort. Zwar benennen sie noch immer das Weltliche, das Fragmentarische, das Verletzliche, aber sie reduzieren das Weltliche nicht mehr auf sein bloßes Welt-Sein. Die Wörter erhalten jetzt die Kraft, im Weltlichen ein Fragment zu entdecken, das zum großen Zusammenhang der Schöpfung gehört und insofern ein Fragment ist, in welchem das Ganze aufblitzt. Ein solches Wort bedeutet die Neuschöpfung der Sprache, die Neuerschaffung eines Redens, das sich nicht 17

Das πνεῦµα steht bei Paulus (wie im Urchristentum generell) für eine fremde Kraft, welche den Bann des Weltlichen aufzubrechen vermag. Besonders anschaulich wird die kreative Kraft des Geistes im Ausdruck des πνεῦµα ζῳοποιοῦν (1Kor 15,45); der Ausdruck kennzeichnet den Geist als »die Kraft der Auferweckung von den Toten« (mit Heinrich Schlier, Grundzüge einer paulinischen Theologie, Freiburg/Basel/ Wien 1978, 179f).

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mehr als irdenes Gefäß für den göttlichen Geist verstehen konnte oder wollte. Ein solches Wort bedeutet die Wiederentdeckung des Lebens: nicht mehr in der Schuld meiner eigenen Möglichkeiten zu stehen, sondern angewiesen zu sein auf das, was Gottes Augen und alle, die mit solchen Augen sehen können, an mir wahrnehmen. Das Gebet zum Vater ist der Inbegriff eines solchen Wortes, das die Angewiesenheit des Menschen auf fremde Hilfe als lebensfreundliche Wirklichkeit entdeckt. Dies ist ein gnädiges Wort, sofern es auf die Wirkung des gnädig Gegebenen aufmerksam macht und baut. Das zum Leben Gegebene tritt in Resonanz und gewinnt dabei die Bedeutung des gnädig Gegebenen. Es wird zum Denkmal der Gnade, die – als mehrdeutiges Fragment – in der Welt vorkommt und die zugleich die vollkommene göttliche Gnade aufblitzen lässt. Als solches widersteht das gnädig Gegebene dem Tod, der das Leben zu bedrängen droht. Wer in Beschränktheit auf das Irdische lebt, dessen Leben läuft auf den Tod hinaus, auf einen Tod, der nicht als Ende hingenommen, sondern als Vernichtung gefürchtet wird.18 Demgegenüber gibt es, wie der Gebetsruf zum Vater konkret zeigt, die Möglichkeit, das Leben dem Geist anzuvertrauen und es durch den Geist beleben zu lassen. Diese fremde Kraft wirkt sich im Ich so aus, dass die aus der Person19 kommenden Handlungen zu Ende gebracht, getötet werden. Und dieses Ende der eigenen Unternehmungen bringt eine Lebendigkeit, die auf das Leben, nicht auf den Tod hinausläuft.20 Zwei Lebensweisen stehen sich gegenüber: die in der Beschränkung auf das Irdische gesuchte Lebendigkeit, die auf den Tod hinausläuft einerseits, die durch Geistkraft bewirkte 18

So die Aussage von Röm 8,13a (neue Zürcher Bibel): »Wenn ihr nämlich nach dem Fleisch lebt, müsst ihr sterben (wörtlich: wollt ihr sterben, steht ihr im Begriff zu sterben).« 19 Das griechische Wort σῶµα bedeutet bei Paulus oft »Leib« im Sinne von ganzer Person, beziehungsweise im Sinne von »ich selbst«. Erinnert sei an Rudolf Bultmanns Diktum, das diesen Sachverhalt genau auf den Punkt bringt: »Der Mensch hat nicht ein σῶµα, er ist σῶµα« (Theologie des Neuen Testaments, Tübingen 91984 [UTB 630], 195). Zum Begriff der Leiblichkeit siehe Hans Weder, Leiblichkeit. Neutestamentliche Anmerkungen zu einem aktuellen Stichwort, in: ders., Einblicke ins Evangelium. Exegetische Beiträge zur neutestamentlichen Hermeneutik. Gesammelte Aufsätze aus den Jahren 1980–1991, Göttingen 1992, 219–238. 20 So Röm 8,13b (neue Zürcher Bibel): »Wenn ihr aber durch den Geist [wörtlich: durch Geist(kraft), ohne bestimmten Artikel] tötet, was der Leib aus sich heraus tut [wörtlich: die Taten des Leibes, die Taten, die ihren Ursprung in der eigenen Person haben], werdet ihr leben [das Futurum ist wichtig in diesem Zusammenhang: Diese Tötung der eigenen Unternehmungen verspricht eine neue Lebendigkeit, die in der Zukunft erscheint und sich bis ins Jetzt erstreckt].« Dabei geht es nicht nur negativ um »Machenschaften«, sondern um die sowohl eindrücklichen als auch elenden Taten, sofern sie ihren Ursprung in dem sich ohne Grenzen (no limits!) expandierenden Ich haben und dieser Expansion dienen (anders Wilckens, Brief an die Römer [s. Anm. 13], 134, der eine negative Bedeutung des Wortes πράξεις bei Paulus ausmachen will).

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Tötung der aus der eigenen Person hervorgebrachten Taten, welche neue Lebendigkeit verspricht, andererseits. Es gibt wohl eine christliche »Kultur« der Abtötung persönlicher Taten, die mit göttlichem Geist ganz und gar nichts zu tun hat. Gemeint ist das gezielte Niederhalten des Menschen, der auf seine Fertigkeiten stolz sein könnte. Schon in der Kindererziehung glaubte man lange Zeit den Stolz brechen zu müssen, glaubte man auf jedes Lob verzichten zu müssen aus Furcht vor der daraus erwachsenden Hybris des Menschen. Diese Tötung persönlicher Taten ist ihrerseits eine menschliche Unternehmung, die auf den Tod hinausläuft. Sie ist ihrerseits ein Vorgang, der von der Beschränktheit auf das Weltliche lebt. Ganz anders sieht Paulus den Modus des Tötens im Horizont göttlichen Geistes: Töten muss man die Taten nicht mit der Demut, in der man sich selbst erniedrigt, oder mit dem Misstrauen, das man gegenüber seinen eigenen Fertigkeiten ständig hat, statt sich an ihnen zu freuen. Töten muss man die persönlichen Taten mit jenem Geist, der einen viel höher schätzt, als man es je mit seinen Taten erreichen könnte. Töten muss man sie mit dem Geist, der seinerseits lebendig macht, indem er Lebensbeziehungen schafft und anknüpft, so dass die eigenen Taten den Menschen nicht mehr lebendig machen müssen. Getötet werden des Menschen Taten, die Lebendigkeit erbringen müssen, durch den Geist, der den Menschen mit einer viel intensiveren Lebendigkeit begabt, als dieser sich je selbst erwirken könnte. Wenn kein Geist da ist, ist der Mensch beschränkt auf sich selbst. Dann ist er es seiner Beschränktheit schuldig, in allen seinen Unternehmungen sich selbst zu suchen, selbst in den Taten, die eigentlich den Andern zugutekommen sollten. Eben auf diese Weise ist der Mensch im Begriff zu sterben, ebenso hat sein Leben eine stetige Richtung zum Tod. Wenn der Geist da ist, gibt er, was der Mensch zum Leben braucht. An diesem Geist der Fülle sollen des Menschen Unternehmungen sterben, nicht an dem Defizit, das diese wirklich oder vermeintlich haben. Und als gestorbene können die Unternehmungen das sein, was sie eigentlich zu sein hätten: Taten, die das eigene oder der andern Leben bereichern. Man müsste eigentlich erwarten (und manche Kommentare ergänzen das einfach),21 dass der Schuldigkeit gegenüber dem Fleisch, von der in V. 12 die Rede war, im Folgenden eine Schuldigkeit gegenüber dem Geist entspräche. Von einer solchen Schuldigkeit steht hier freilich nichts. Hier liegt ein Anakoluth von großer Bedeutung vor, wie er nicht selten bei Paulus auftritt. Das »wir sind Schuldner, nicht dem Fleisch gegenüber« würde ein »sondern dem Geist gegenüber« erwarten lassen. Genau diese Fortsetzung fehlt im ganzen Abschnitt. Dies hat seinen guten Grund. Denn selbst wenn ich dem Geist etwas schuldig wäre, wäre dies eine Schuldigkeit von kategorial anderer Art: Dem Geist bin ich es schul21

So etwa Wilckens, Brief an die Römer (s. Anm. 13), 135, der von der »Verpflichtung« der Menschen spricht, »diese Kraft des Pneuma aktuell in Anspruch zu nehmen, um die Wirklichkeit der Sünde vernichtet […] sein zu lassen […]«.

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dig, ihn an mir wirken zu lassen, dem Fleisch bin ich es schuldig, selbst zu wirken. Dem Fleisch bin ich Arbeit schuldig, dem Geist dagegen bin ich für die Belebung dankbar. Wer von einer belebenden Kraft weiß, wird keine Verpflichtung nötig haben, sich beleben zu lassen. Auch die Vorstellung von Schuldigkeit gerät in Resonanz und erhält eine neue Dimension: Die Schuldigkeit besteht nicht mehr darin, etwas zu geben, sondern vielmehr darin, sich etwas geben zu lassen. Und dadurch wird die Schuldigkeit als Phänomen grundlegend verändert. Wer erkennt, was er dem Geist schuldig ist, gewinnt ganz neue Lebensverhältnisse. Darauf macht Paulus im nächsten Vers aufmerksam (V. 14): »Denn die vom Geist Gottes getrieben werden, das sind Söhne und Töchter Gottes.«22 Des Menschen Verhältnis zum Geist gewinnt seine Lauterkeit und Vollendung darin, dass er sich vom Geist führen lässt.23 Ein erster Schritt zu dieser Führung ist das Gebet zum göttlichen Vater. Wohin führt dieser Geist? Er führt weg von den irdischen Schuldverhältnissen, er führt in ein Sohnesverhältnis. Ein Sohn Gottes ist nach neutestamentlicher Auffassung einer, der sich ganz von Gott bestimmen lässt. Und zwar so von Gott bestimmen lässt, dass er ihn Vater sein lässt. Eben diesen Vater lässt er sein, wenn er ihn im Gebet so anspricht. Vater sein heißt, Lebensmittel beschaffen und austeilen.24 Eben dieses Sein wird in der Bitte um tägliches Brot respektiert. Ein Kind lässt sich in der Weise von seinen Eltern bestimmen, dass es von dem lebt, was sie ihm geben: Brot und Zuwendung. Es ist ihnen nichts schuldig, außer sie wirken zu lassen. Man könnte sagen, ein Kindesverhältnis sei ein Lebensverhältnis, ein Lebensverhältnis in dem Sinne, dass dieser Relation Lebendigkeit von selbst entsteht und im gegenseitigen Austausch gewonnen wird. Man könnte weiter sagen, Lebendigkeit als solche sei ein Reichtum an Verhältnissen.25 Von Gott leben heißt, auf seine Gaben angewiesen leben. Angewiesen sein muss unterschieden werden von Abhängigkeit. Anders gesagt: Die Abhängigkeit, die in die Resonanz zum Geber tritt, erhält eine neue Dimension, eine Dimension allerdings, die auch im Bereich des Weltlichen 22 23

Übersetzung nach der neuen Zürcher Bibel. Obwohl eine enthusiastische Ausprägung der Führung durch den Geist denkbar wäre, muss sie hier nicht angenommen werden. Nicht um Enthusiasmus geht es Paulus hier, sondern er will »die Lebensführung derer bezeichnen, die vom Geist geleitet werden« (so Lohse, Brief an die Römer [s. Anm. 12], 239). 24 Sehr anschaulich wird diese Ausprägung von Sohn und Vater in der Parabel vom verlorenen Sohn, Lk 15,11–32, dazu Hans Weder, Die Gleichnisse Jesu als Metaphern. Traditions- und redaktionsgeschichtliche Analysen und Interpretationen, Göttingen 1978, 41990 (FRLANT 120), 252–262. 25 Dies gilt, sofern man demgegenüber den Tod als Verhältnislosigkeit versteht; mit Eberhard Jüngel, Tod, Stuttgart/Berlin 1971 (TTh 8), 145: Das »biblische Verständnis des Todes ist zweidimensional. Es enthält einerseits eine Feststellung über das Wesen des Todes: der Tod ist das Ereignis der die Lebensverhältnisse total abbrechenden Verhältnislosigkeit.«

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entdeckt werden kann, wenn man Augen hat, sie zu sehen. Diese neue Dimension ist die Angewiesenheit; Angewiesen-Sein ist die freie Form des Existierens im Zusammenhang des Lebens. Demgegenüber ist es der UnGeist der Beschränktheit auf die Welt, der mir weismachen will, angewiesen sein heiße abhängig sein. Dieser Geist wirft mich auf meine geistlosen Taten zurück, er wirft mich auf die Einsamkeit des Todes zurück. Gewiss ist es nicht sinnvoll, in Abhängigkeitsverhältnissen zu leben. Aber Abstand zu nehmen von allem, was vor mir in der Welt war, Distanz zu halten zu allen guten Worten, die es gibt, zu allen guten Menschen, die mir ihre Erfahrung zur Verfügung stellen, zu allen guten Gaben, welche die Welt bereithält – Abstand zu nehmen von all dem, wovon ich gemäß den Einflüsterungen des beschränkten Geistes abhängig sei, ist noch nicht die wahre Form der Unabhängigkeit. An die Stelle der selbst verschuldeten Abhängigkeit ist erst die selbst verschuldete Unabhängigkeit getreten. Die wahre Gestalt des in die Freiheit entlassenen Lebens ist erst dann erreicht, wenn der Mensch die Freiheit findet, angewiesen zu sein auf den großen Zusammenhang der Schöpfung. Es ist fast verräterisch, dass man unter Mündigkeit des Menschen unwillkürlich seine Fähigkeit versteht, seinen Mund unabhängig zum Reden zu gebrauchen und seinen Kopf unabhängig zu einem kritischen Denken, das die Dinge auflöst, statt ihre wahre Gestalt zur Erkenntnis zu bringen. Es ist fast verräterisch, dass der mündige Mensch seine Mündigkeit nicht darin sieht, dass er isst, nicht darin, dass er im Herzen wahrnimmt, worauf er Gott sei Dank angewiesen ist. Gewiss ist es nicht gut, in Abhängigkeit zu leben, in Abhängigkeit von Autoritäten und fremden Mächten. Aber es ist ebenso wenig aussichtsreich, das – in selbstverschuldeter Unabhängigkeit – von sich wegzuweisen, was man sich nicht selbst geben kann, weil es schon gegeben ist. Gerade die Relation zu Gott wurde immer wieder als Abhängigkeit definiert und verstanden. Dieses Missverständnis führte dazu, dass der Mensch in einer Gottesbeziehung stecken blieb, in welcher es nur die Alternative zwischen Unterwerfung und Emanzipation zu geben schien. Den Geist Gottes nahm er wahr als einen Geist der Knechtschaft. Das Verhältnis zu Gott nahm er wahr als ein Arbeitsverhältnis, ein Verhältnis also, das entweder durch das eigene Tun zu bewerkstelligen oder aber durch den Streik zu beenden ist. Das Gebet aber, das Gott als Vater anredet, konstituiert in keiner Weise ein Arbeitsverhältnis; es lebt vielmehr im Raum eines ganz anderen Geistes. Das skizzierte Problem des Arbeitsverhältnisses wird im folgenden Vers bearbeitet (V. 15): »Ihr habt doch nicht einen Geist der Knechtschaft empfangen, um wiederum in Furcht zu leben (wörtlich: [der] wiederum in Furcht [führt]); nein, ihr habt einen Geist der Kindschaft empfangen, in dem wir rufen: Abba, Vater.«26 Der Geist der Knechtschaft27 ist genau 26

Übersetzung der neuen Zürcher Bibel.

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der Geist, der kein Sohnesverhältnis28 aufkommen lässt, es ist genau der Geist, der den Gottesbezug als Arbeitsverhältnis begreift. Das ist ein zeitraubender, ein Lebenszeit raubender Geist, denn er beauftragt den Menschen mit einer Arbeit, mit der er im Leben nie fertig werden kann, weil sie gar nicht auf den wahren Gott zielt, sondern auf das Phantom eines Arbeitsgebers, den er sich als Gott einbildet. Der Geist der Knechtschaft schafft ein Verhältnis, in welchem ein besonderer Modus der Abrechnung gilt: Es wird – mit einem für Paulus wichtigen Gegensatzpaar gesprochen – nicht »nach Maßgabe der Gnade (κατὰ χάριν)«, sondern nach Maßgabe des Geschuldeten (κατὰ ὀφείληµα) abgerechnet.29 Im Arbeitsverhältnis kann ein Mensch einen Lohn erwarten; er erwirkt sich das, was ihm als Lohn geschuldet ist. Zugleich aber verwirkt er sich das, was ihm nur als gnädig Gewährtes gegeben sein kann, den Lohn, den die Gnade als unverdienten und zuvorkommenden Lohn auszahlt. Wer sich auf den Lohn des Arbeitsverhältnisses konzentriert, verspielt damit das, was ein Lebensverhältnis bringen kann. Paulus hat die Weiterungen solchen Geistes genau erkannt: Dieser Geist führt wiederum in die Furcht; er führt wiederum in jene Furcht, die es schon einmal gab, als es keinen Geist der Sohnschaft gab. Wo das Gottesverhältnis als Arbeitsverhältnis verstanden wird, ist die Furcht stets zur Stelle. Es ist die Furcht vor dem Ungenügen, die Furcht vor roten Zahlen. Vielleicht ist in der Neuzeit das Verhältnis zu Gott verblasst, viele Menschen scheinen kein Verhältnis zu Gott zu haben, auch nicht einmal ein Arbeitsverhältnis. Die Furcht des Ungenügens aber ist geblieben, die Furcht, ich könnte dem nicht genügen, was ich mir persönlich schuldig bin, die Furcht, ich könnte den Ansprüchen nicht genügen, die meine innerweltlich beschränkte Lebendigkeit an mich stellt. Die Schuld ist ge27

Der Gegensatz zum πνεῦµα υἱοθεσίας ist alles andere als »rhetorisch bedingt« (so Wilckens, Brief an die Römer [s. Anm. 13], 136), sondern beschreibt den springenden Punkt in der Lebenssituation, welche im Kontrast zum Raum des Geistes im Raum des Fleisches bestimmend ist. Historisch gesehen mag der Geist der Knechtschaft insofern mit Furcht verbunden gewesen sein, als – wenn der Ausdruck die »Situation sub lege meint« (so Wilckens, ebd.) – er verbunden sein kann mit der »Furcht des Sünders vor dem unaufhebbaren Zorngericht Gottes« (ebd. 136f). Wenn man den Ausdruck mehr vom Bild des Sklaven her versteht, kann die Furcht anders – im Sinne einer Willkürherrschaft – verstanden werden: »Ein Sklave steht ständig unter der Furcht, wie sein Herr über ihn befinden wird« (so Lohse, Brief an die Römer [s. Anm. 12], 240). Der entscheidende Aspekt an der Sklaverei ist jedoch meines Erachtens das Arbeitsverhältnis (δουλεύειν heißt in der Grundbedeutung »produktiv arbeiten für«, vgl. Walter Bauer, Wörterbuch zu den Schriften des Neuen Testaments, Berlin 51963, s. v. δουλεύω, 2. b.), das sich sowohl im Gegenüber von Diener und Herr als auch von Mensch und Gesetz einstellt. 28 Zu der oft gewählten Wiedergabe als »Kindesverhältnis« vgl. unten. 29 So in Röm 4,4: Wer sich auf das Produzieren von Werken einlässt, erhält zwar einen Lohn, nämlich den Lohn, der ihm geschuldet ist: »Ein Arbeiter erhält verdienten Lohn nicht als Geschenk, sondern als ihm geschuldete Auszahlung« (so Lohse, Brief an die Römer [s. Anm. 12], 149).

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blieben, aber das Forum, vor dem sie bekannt werden könnte, ist verschwunden. An seine Stelle ist seltsamerweise die Öffentlichkeit getreten, die zur Vergebung weder willens noch fähig ist. Eben diese Gefangenschaft im Geist der Beschränktheit kann aufgebrochen werden, wo man zu einem Gebet zum göttlichen Vater findet. Paulus stellt klar, dass die Betenden einen solchen Geist des Arbeitsverhältnisses nicht bekommen haben. Statt den Geist der Knechtschaft haben sie – im Vollzug des Betens zum Vater – den Geist der »Kindschaft«30 (wörtlicher: Sohnschaft) bekommen. Die Übersetzung mit »Sohnschaft« könnte zum Missverständnis Anlass geben, es handle sich hierbei um einen statischen Geist, um einen Geist, der sozusagen den Zustand der Sohnschaft zementiert. Das griechische υἱοθεσία aber heißt eigentlich so etwas wie Adoption, jemand an Sohnes statt hinstellen, die Beförderung zum Sohn.31 Also ist der Geist Gottes ein Geist, dessen dynamisches Wesen es ist, aus Knechten Söhne Gottes zu machen. Die Dynamik der Beförderung vom Knecht zum Sohn ist von großer Wichtigkeit: Denn faktisch ist es ja so, dass der auf das Weltliche beschränkte Mensch immer wieder in die Knechtschaft zurückfällt, dass er immer wieder Arbeitsverhältnisse postuliert, wo Lebensverhältnisse sein sollten. Der Geist der Adoption ist es, dessen Dynamik die Menschen da und dort aus ihrem Arbeitsverhältnis zu Gott rettet und sie in das Lebensverhältnis begleitet, in welchem sie dem göttlichen Gegenüber gerecht werden. In der Welt menschlicher Erfahrung gibt es in der Tat Lebensverhältnisse, Verhältnisse also, die mit dem Leben selbst gegeben sind. Das Verhältnis des Kindes zu seinen Eltern ist ein solches Lebensverhältnis, aber auch das Mit-Sein der Menschen untereinander. Alle diese Lebensverhältnisse geraten in Resonanz, wenn das Gebet einen Zugang zu dem Raum findet, in welchem der Geist der Adoption bestimmend ist. Sie werden dadurch neu erschlossen als Verhältnisse, die verspielt werden, wenn sie durch Arbeit gestaltet werden. All diese Lebensverhältnisse gewinnen in der Resonanz die Qualität, eine Steigerung der Lebendigkeit zu bewirken, wenn sie denn in der Bitte, im Angewiesen-Sein, im Empfangen-Sein gelassen werden. 30

Kindschaft wurde in der Übersetzung gewählt, um den Ausdruck inklusiver zu machen. Er soll nicht nur die Söhne, sondern auch die Töchter einschließen. Die Übersetzung ist dem Bemühen um eine gendergerechte Sprache geschuldet. Allerdings geht bei dieser Sprachregelung verloren, dass es sich um eine Beziehung von Mündigen oder Erwachsenen geht, eben von Söhnen und Töchtern, nicht von Kindern. 31 Lohse, Brief an die Römer (s Anm. 12), 241 weist darauf hin, dass das Wort die Bedeutung »Adoption« annehmen kann und dann eine »Rechtsform« meint, die es im damaligen Judentum nicht gab, die aber in der hellenistisch-römischen Umwelt bekannt war, »aus der Paulus … den Begriff der υἱοθεσία entnommen hat (vgl. Gal 4,5)«. Die Dynamik des Machens zum Sohn wird auch bei Wilckens, Brief an die Römer (vgl. Anm. 13), 136 betont.

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Ein Kindesverhältnis ist ein Verhältnis, für das der Mensch nichts getan hat. Er hat es sich nicht gegeben, er kann es sich nur nehmen, indem er es fundamental leugnet oder gar die Eltern umbringt. Im Unterschied zu den Eltern, welche ihre Tötung durch nichts ungeschehen machen oder überwinden können, hat der kreative Gott die Macht, die Tötung auszuhalten. Deshalb trägt der Auferstandene die Wunden des Gekreuzigten; deshalb verkörpert der Auferstandene den Schöpfer, dessen Kreativität darin besteht, als Getöteter bei den Menschen zu bleiben. Und deshalb ist der Geist der Adoption in der Welt, ein Geist, der wesentlich die Menschen zu Söhnen und Töchtern befördert. Im Namen dieses Geistes ist die menschliche Sprache in Resonanz zum Göttlichen getreten; sie hat kreative Kraft bekommen, und so ist eine Sprache der Liebe entstanden, die den verwaisten Menschen aufsucht. Die Sprache der Liebe gibt ihm zu verstehen, er sei ein verlorener Sohn,32 und sie knüpft damit an sein Verwaist-Sein an, ohne seine Kindschaft preiszugeben. Sie erinnert den Waisen daran, dass er noch immer ein Sohn ist. In diesem Geist rufen die paulinischen Gemeinden – wohl in ihren Gottesdiensten – Abba, Vater. Ein Kind vollzieht seine Kindschaft dadurch, dass es den Vater anruft, es nimmt ihn als Vater in Anspruch. Vater, kannst du mir dieses oder jenes geben, kannst du mir dieses oder jenes helfen? Dieser Ruf ist der Vollzug der Kindschaft und in ihm ist die Knechtschaft schon überwunden. Dieser Ruf ist das Haus des Seins, weil das Kind in diesem Ruf geborgen sein kann und sich um seine Lebendigkeit nicht mehr zu sorgen braucht. Die Wirklichkeit des Geistes hat den Charakter einer Zeugin für das fundamentale Lebensverhältnis des Menschen (V. 16): »Eben dieser Geist bezeugt unserem Geist, dass wir Kinder Gottes sind.«33 Dieser Satz enthält, wenn er wörtlich genommen wird, ein interessantes philologisches (und theologisches) Problem: Es hängt mit dem griechischen Verb συµµαρτυρεῖν zusammen, das wörtlich heißt: »mit-bezeugen«. Der Satz könnte also heißen: Eben dieser Geist bezeugt zusammen mit unserem Geist, dass wir Kinder Gottes sind. Dann müsste man unter »unserem Geist« die gleiche oder jedenfalls eine ähnliche Stimme Gottes verstehen, wie sie der Geist selbst ist. Diese Annahme ist nicht die einzig mögliche. 32

So die Gleichnisse vom Verlorenen in Lk 15, insbesondere das Gleichnis vom Verlorenen Sohn; dazu Weder, Gleichnisse (s. Anm. 24), 168–177 (verlorenes Schaf). 249–252 (verlorene Drachme) und 252–262 (verlorener Sohn). Besonders deutlich ist der skizzierte Sachverhalt im Gleichnis vom verlorenen Schaf, wo – in der lukanischen (der Logienquelle entstammenden) Version die Kontinuität des Subjekts »Hirt« durchgehend gewahrt wird. Damit wird zum Ausdruck gebracht, dass das Schaf – als verlorenes – eben vom Hirten verloren worden ist und insofern zu ihm gehört. 33 So die Übersetzung der neuen Zürcher Bibel, welche die im griechischen bestehende Mehrdeutigkeit des Verses eindeutig macht. Zur Mehrdeutigkeit vergleiche Käsemann, An die Römer (s. Anm. 12), 218 (er neigt aber deutlich zum Verständnis Empfangsorgan); Wilckens, Brief an die Römer (s. Anm. 13), 138 entscheidet sich eindeutig für das »Empfangsorgan des göttlichen Zeugnisses«.

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Da Komposita im hellenistischen Griechisch das Simplex vertreten können, kann der Satz auch so verstanden werden, wie die neue Zürcher Bibel ihn übersetzt: Der göttliche Geist bezeugt es unserem Geist. Mit dem Ausdruck »unser Geist« ist dann – anthropologisch – das gemeint, was im Menschen als Geist vorhanden ist. Dann wäre »unser Geist« gleichsam das Empfangsorgan, der Geist des Menschen also, der vom Geist Gottes berührt werden kann. Auch wenn in diesem Fall von einem kategorialen Unterschied zwischen Gottes und des Menschen Geist ausgegangen wird, sorgt die hier anzunehmende Resonanz des menschlichen Geistes zum göttlich dafür, dass es dazu kommt, dass der göttliche Geist die in der Welt umstrittene Wahrheit bezeugt, wonach die Menschen als Kinder Gottes anzusehen sind. In der Resonanz zum Geist Gottes wird der menschliche Geist seinerseits und schon rein durch seine Existenz als solche zum Zeugen für diese besondere Beziehung zu Gott: Das Humanum erscheint eben dort, wo das Heilige entdeckt wurde und wo demzufolge eine mit dem Leben selbst gegebene Beziehung zum Göttlichen geahnt werden konnte. Der Geist, in welchem die Gemeinde Gott als Abba anspricht, ist insofern der Geist Jesu, als Jesus nach Paulus als Urheber dieser Anrede Gottes gilt. Sache des Geistes Jesu also ist es, unserem Geist zu bezeugen, dass wir Kinder Gottes sind. Bezeugt muss werden, was wahr ist und dennoch umstritten. Genau dieses Wahre und dennoch Umstrittene ist die Gotteskindschaft der Menschen. Sie sind Kinder ihrer Zeit, Kinder ihrer selbst, Kinder ihrer eigenen Unternehmungen, Kinder der Vernichtung, Kinder des Nichts, Kinder der Gleichgültigkeit, Kinder der Verzweiflung. Inmitten dieser Bestimmungen macht der Geist aufmerksam auf die umstrittene Sache, dass die Menschen in Wahrheit von Gott leben und insofern seine Kinder sind. Es ist heute üblich geworden, diese Würde dem Menschen abzusprechen. Er habe sich nun zu lange schon mit einer besonderen Würde bedacht, und er habe daraus abgeleitet, ihm müsse die ganze Welt zu Füßen liegen. Jetzt gelte es aus ökologischen Gründen, dem Menschen diese Würde zu nehmen und ihn einzuordnen in die Tier- und Pflanzenwelt. Dieses Argument streitet gegen die Gottessohnschaft des Menschen, und es tönt auf den ersten Blick wie eine endlich fällige Selbstbescheidung. In Wahrheit ist es ein Argument jener Beschränktheit auf das Weltliche, ein Argument, das den Menschen auf seine weltliche Erscheinung beschränken will, darauf eben, dass er ein Säugetier sei. Und es kann sich leicht als ein Argument entpuppen, in welchem der Mensch sich davonzustehlen versucht aus der besonderen Verantwortung, die er für das Geschaffene hat. Aus dieser Sonderstellung des Menschen, die gerade nicht in seiner Verantwortung vor sich selbst, sondern in der Verantwortung des Kindes vor dem Vater besteht, ist nicht abzuleiten, dass er sich alles unterwerfe, sondern dass er alles behüte und bewahre. Auf dieses kann er nicht mehr angesprochen werden, wenn er eingeordnet

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wird in die Tier- und Pflanzenwelt. Wenn man den Leuten lange genug einredet, sie seien Säugetiere, dann muss man sich nicht wundern, wenn sie sich wie reißende Wölfe zu benehmen beginnen. Und das wäre gerade auch eine ökologische Katastrophe. Der kreative Geist Gottes aber bezeugt das umstrittene Wahre, dass wir Gottes Kinder sind. Und solange dieses Zeugnis in der Welt ist, hat der Mensch die Freiheit, ein Kind Gottes zu sein. Im Gebet zum Vater wird, wie oben skizziert worden ist, eine Reihe von Resonanzprozessen ausgelöst. Die Welt und ihre Erfahrungen erhalten neue Dimensionen, wenn sie in Resonanz zum göttlichen Schöpfer treten. Das zum Leben Gegebene gewinnt die Dimension des gnädig Gegebenen. Die menschlichen Wörter erhalten – in der Resonanz zum göttlichen Wort – die Kraft, im Unscheinbaren der Welt ein Fragment zu entdecken, in welchem der große Zusammenhang der Schöpfung aufblitzt. Die Verpflichtung (oder die Schuldigkeit) wird grundlegend verändert, indem sie nicht mehr darin besteht, etwas zu geben, sondern vielmehr darin, sich etwas geben zu lassen. Die Abhängigkeit erhält – in der Resonanz zum Geber – die Dimension des Angewiesen-Seins, also der freien Form des Existierens im Zusammenhang des Lebens. Schließlich wird an den Lebensverhältnissen die Qualität entdeckt, eine Steigerung der Lebendigkeit zu bewirken, wenn sie nicht unter der Hand in Arbeitsverhältnisse verwandelt werden. II. Die Reinheit des Wünschens Die Anrede Gottes als Vater,34 in welcher die Kindschaft konkret vollzogen wird, konstituiert auch das Gebet, das Jesus35 seinen Jüngern und damit der weltweiten christlichen Kirche gegeben hat. Im Unservater (Mt 6,9-13 par Lk Q)36 sorgt die Vater-Anrede gleich zu Beginn dafür, dass das göttliche Gegenüber all die guten Erfahrungen aufnimmt, die mit weltlichen Vätern und Müttern gemacht werden können. So entsteht wiederum ein Resonanzprozess: Die Erfahrungen, die in der Welt mit 34

Da die Annahme, das Unservater sei ursprünglich in aramäischer Sprache gebetet worden, sehr plausibel ist, ist auch hinter dem griechischen πάτερ (Lk 11,2 wohl der Q-Text) das aramäische Abba zu vermuten (mit Ulrich Luz, Das Evangelium nach Matthäus. 1. Teilband. Mt 1–7, Zürich / Neukirchen-Vluyn 31992 [EKK I/1], 336). Dies ist ein weiterer Beleg dafür, dass Jesus diese vertraute Anrede Gottes der Sprache des Urchristentums eingestiftet hat. 35 »Das Unservater stammt von Jesus«, stellt Luz, Matthäus (s. Anm. 34), 336 – mit Verweis auf die »meisten« Forscher – lapidar fest. 36 Neuerdings scheint man die Logienquelle nicht mehr so selbstverständlich als traditionsgeschichtliche Voraussetzung des Lk und Mt anzunehmen. Stattdessen werden »beide Versionen auf ein und dieselbe griechische Übersetzung« zurückgeführt (so Konradt, Matthäus [s. Anm. 12], 104).

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Vätern und Müttern zu machen sind, werden im göttlichen Vater37 konzentriert. Sie treten auf diese Weise in Resonanz zum himmlischen Vater und erhalten dadurch eine Klarheit, die sie in der Welt nicht hatten. Dadurch findet eine Arbeit am irdischen Vaterproblem statt:38 Wer Gott als Vater anruft, gebraucht eine Metapher, die ein kritisches Licht auf die Väter dieser Welt wirft, welche oft – in der »vaterlosen Gesellschaft« – gar nicht in Erscheinung treten oder aber sich ganz und gar nicht väterlich aufführen. In der Resonanz zum himmlischen Vater gewinnen jene weltlichen Erfahrungen an Eindeutigkeit und Kraft; die Wirkung dieser Kraft liegt insbesondere in der Steigerung des menschlichen Vertrauens in den himmlischen Vater und dann auch in der Identifikation dessen, was an irdischen Vätern Vertrauen verdient. In den ersten drei Bitten wird auf unterschiedliche Weise darum gebetet, dass das Sein Gottes die alles bestimmende Wirklichkeit sein möge. Im Horizont der Vater-Anrede wird – prinzipiell gesprochen – das Bitten seinerseits einer Klärung unterzogen: Maßgebend ist in diesem Kontext jene Weise des Bittens, die in der Bitte von Kindern an ihren (als nahe wahrgenommenen) Vater Gestalt gewinnt. Eine zentrale Eigenschaft dieses Bittens ist die Unverhohlenheit, mit welcher Kinder ihre Bitten an den Vater richten. Wer so unverhohlen zu bitten wagt, tut dies im Vertrauen auf den väterlichen Geber guter Gaben und im Wissen darum, dass zu unterscheiden ist zwischen dem, was man sich selbst geben kann, und dem, was vom Geber des Guten zu erbitten und in Empfang zu nehmen ist. Solches Bitten ist dem menschlichen Wünschen sehr nahe. Genau dieses wird, im Kontext der Resonanz mit dem Beten zu einem göttlichen Vater, zu elementarer Reinheit geführt, wie im Folgenden zu zeigen sein wird. Die erste Bitte bezieht sich auf die Heiligung des Namens. Sie nimmt zwei Akzentuierungen vor: Einerseits geht es darum, dass der Name Gottes geheiligt werde. Dies steht im Kontrast etwa zum achtlosen Umgang mit dem Namen Gottes, der bei jeder möglichen und unmöglichen Gelegenheit im Munde geführt wird.39 Es steht erst recht in Kontrast zu dem Umgang, den Spötter und Verächter Gottes pflegen, indem sie den Namen Gottes mit Füßen treten. Andererseits geht es darum, dass sein Name geheiligt wird. Dies steht im Kontrast dazu, dass der Mensch sich selbst einen Namen macht, statt dass er Gottes Namen heiligt. Es steht 37

Die »unaufgebbare Unterscheidung« zwischen den Vätern der Welt und dem himmlischen Vater wird bei Matthäus durch den Zusatz »in den Himmeln« sichergestellt; mit Ulrich Luz, Das Evangelium nach Matthäus, Zürich 1993 (ZBK NT I), 87. 38 Weitergehende Überlegungen dazu bei Hans Weder, Die »Rede der Reden«. Eine Auslegung der Bergpredigt heute, Zürich 1985, 52003, 178f. 39 Dass diese Heiligung in Verbindung mit Mt 5,16 so verstanden wird, dass durch »die guten Werke der Jünger […] Menschen zum Lobpreis Gottes geführt werden (sollen)«, ist eine gesetzliche Verengung dieser Aussage, die durch keine Textsignale gerechtfertigt ist; gegen Konradt, Matthäus (s. Anm. 12), 105.

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auch im Kontrast dazu, dass der Mensch die großen Namen der Welt entweder anhimmelt oder aber vor ihnen zittert und bebt. In beiden Fällen nimmt man auf den ersten Blick an, die Erfüllung der Bitte liege in des Menschen eigenen Händen.40 Denn es geht um die Heiligung des Namens Gottes durch die Menschen. Dass dies als Bitte an Gott gestaltet wird, schafft Raum für die Einsicht, wonach der Mensch nicht mehr Beweger aller Dinge zu sein braucht. Vielmehr wird von der Gottheit erbittet, dass sie den Menschen in Bewegung bringt, in Bewegung dorthin, wo er das Sein Gottes bestimmende Wirklichkeit sein lässt. Die vom Beten ausgehende Dynamik bringt den Menschen dazu, auf einen fremden Beweger zum Guten zu vertrauen. Die zweite Bitte bezieht sich auf das Kommen des Reiches Gottes. Dabei werden die gleichen Akzentuierungen wie in der ersten Bitte vorgenommen: Einerseits geht es darum, dass das Reich Gottes kommen möge. Das Reich Gottes ist das Reich des vollendeten Guten, die schlechthin wahre Zeit, eine Zeit, in der allein die Wahrheit und die Güte maßgebend ist. Mancher mag die wahre Zeit als schlechthinnige Zukunft verstanden haben, als eine Zeit, die erst nach dem Zusammenbruch der Weltzeit kommen kann.41 Wer so um das Kommen des Reiches bittet, bittet darum, dass dieser Welt ein Ende gemacht werde. Im Zusammenhang der Verkündigung Jesu und seines Zeitverständnisses42 muss aber der Akzent auf dem Nahekommen des Reiches liegen, auf der – wenn auch nur fragmentarischen – Einflussnahme der wahren Zeit auf die wirkliche. Wenn das Kommen des Reiches im Gebet auf diese Art gedacht wird, geraten Elemente des Wirklichen in Resonanz zum kommenden Reich. Die Fragmente des Guten, die im Erfahrungsbereich der Welt vorkommen, erhalten eine neue Klarheit und einen unverwüstlichen Glanz. Sie mögen nur ein Tropfen auf einen heißen Stein sein, aber sie sind dennoch Tropfen vom Meer des endgültigen Guten, um dessen Näherung im Unservater gebetet wird. Andererseits geht es in dieser Bitte auch darum, dass das Reich Gottes kommt. Mit dieser Konzentration auf Gottes Reich hängt es unmittelbar zusammen, dass keine weiteren menschlichen Wünsche damit verbunden sind. Ganz anders dagegen das Achtzehnbittengebet, eines der wichtigsten Gebete des zeitgenössischen Judentums.43 Dort wird mit der Bitte um das 40

In der Tat kann man fragen, »ob das Passivum wirklich ein Passivum Divinum ist oder ob nicht auch die Menschen Subjekt der Heiligung des Namens sein könnten« (so Luz, Matthäus [s. Anm. 34], 342). 41 So hat etwa die apokalyptische Eschatologie zur Zeit Jesu im Kommen des Reiches ein streng futurisches Geschehen gesehen (mit Luz, Matthäus [s. Anm. 34], 342). 42 Dazu Hans Weder, Gegenwart und Gottesherrschaft. Überlegungen zum Zeitverständnis bei Jesus und im frühen Christentum, Neukirchen-Vluyn 1993 (BThSt 20), 54–64. 43 Dazu Weder, Rede der Reden (s. Anm. 38), 181f. Auch wenn hier Vorsicht geboten ist (mit Luz, Matthäus, [s. Anm. 34], 341f), ist es dennoch unzulässig, die Einfachheit dieser Bitte bloß auf die Kürze zu reduzieren. Im Zusammenhang der Ver-

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Kommen des Reiches der menschliche Wunsch nach der Vernichtung der Abtrünnigen und des römischen Reiches verbunden. Solche Wünsche gelten nicht dem Reich Gottes, sie stammen aus dem Reich menschlicher Wünsche, die ebenso begreiflich wie menschlich sind, aber nicht zu verwechseln mit der Bitte, die mit dem Reich Gottes keine menschlichen Wünsche mehr verbindet. Im Beten um das Reich gerät menschliches Bitten in Resonanz; sofern im Gebet zu Gott deutlich ist, dass die Verwirklichung seines Reiches allein ihm selbst überlassen bleiben muss, gewinnt das durch Offenheit gekennzeichnete Bitten an Kraft und wird als lebensfreundlich erkannt. Die dritte Bitte bezieht sich darauf, dass der Wille Gottes geschieht.44 Sie bringt, ganz ähnlich wie die ersten zwei Bitten, eine Befreiung des Betenden von der narzisstischen Fixierung auf die Allmacht des eigenen Willens und ein Aufmerksam-Werden auf einen fremden Willen, welcher der menschlichen Verfügungsmacht entzogen ist.45 An einer anderen Stelle des Unservater tritt das Phänomen der Resonanz noch einmal in unser Blickfeld, nämlich in der Bitte um Vergebung der Schuld.46 Analog zur unmittelbar vorangehenden Bitte um das tägliche Brot, kann die Bitte um Vergebung der Schuld als Bitte um ein elementares Lebensmittel verstanden werden, nicht ein materielles Lebensmittel freilich, sondern ein immaterielles. Wenn menschliches Leben durch den Reichtum der Beziehungen lebendig gemacht wird, und wenn Schuld als Zerstörung oder Bedrohung von Beziehungen verstanden wird, ist es evident, dass die Vergebung von Schuld ein Mittel ist, das die Lebendigkeit steigert, ein Lebensmittel also. Im Kontext der Verkündigung Jesu erhält die Schuld eine Tiefendimension. Sie entsteht nicht erst dort, wo ich jemandem schuldig bleibe, was ihm rechtmäßig zusteht. Sie entsteht vielmehr schon dort, wo jemand zu tun unterlässt, was ihm die radikal verstandene Liebe, die unbegrenzte Zuwendung, gebietet. Wo um die Vergebung der Schuld gebetet wird, gerät diese ihre Tiefendimension in den Blick. In erheblichem Gegensatz zu dieser tiefgehenden Einsicht steht der gegenwärtige Umgang mit dem Schuldphänomen, welcher sich statt auf die Schuld selbst auf die Schuldgefühle des Menschen fokussiert. Hier wird der Aspekt der Beziehung verflüchtigt, die kündigung Jesu ist vielmehr entscheidend, dass mit dem Reich Gottes keine Präzisierungen verbunden werden. Es ist kein Zufall, dass die Basileia in den Gleichnissen durch nichts präzisiert wird als durch das zu ihr in einer kreativen Spannung befindliche Bild beziehungsweise die Gleichniserzählung. 44 Dazu Weder, Rede der Reden (s. Anm. 38), 184f. 45 In Mt 26,42 bittet Jesus mit diesen Worten »nicht nur darum, dass Gott tue, was er will, sondern zugleich auch um die Kraft, sich selber aktiv diesem Willen Gottes zuzuordnen« (Luz, Matthäus [s. Anm. 34], 344). 46 Sie steht im Kontext der drei Wir-Bitten, welche »drei zentrale Problemkreise» ansprechen: »die materielle Versorgung mit dem Lebensnotwendigen, das Angewiesensein auf Vergebung, die Verführbarkeit zur Sünde« (Konradt, Matthäus [s. Anm. 12], 106). Die Analogie der zweiten zur ersten Bitte eröffnet die obige Interpretation.

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Schuld wird nicht mehr durch Vergebung überwunden, sondern vielmehr durch eine Therapie, welche die Gefühlswelt des Einzelnen bearbeitet. Die Bitte um Vergebung macht den Anschein, als ob Gott zur Vergebung bewegt werden müsste. Dies ist indessen unzutreffend, da Vergebung das Wesen der göttlichen Kreativität ausmacht. Gottes Wesen ist Vergebung, Überwindung von Schuld, wie etwa das Gleichnis vom Schalksknecht (Mt 18,23–33) deutlich macht; die unermessliche Vergebung Gottes ist – in der wohl ursprünglichen Fassung des Gleichnisses – auch durch die vermessene Verweigerung der Vergebung durch den Knecht nicht aus der Welt zu schaffen.47 Diese Bitte hat nicht Gott zu bewegen, sondern sie bewegt den Betenden zu einem ernsthaften Umgang mit Schuld und also zu einer Vergebung, die er sich nicht selbst geben kann. An diesem Punkt kommt das Resonanzphänomen in den Blick: Der Nachsatz dieser Bitte lautet philologisch korrekt anders, als er im liturgischen Gebrauch des Herrengebets üblich ist: Üblich ist »wie auch wir vergeben unseren Schuldigern«, während der griechische Text anders formuliert: »… wie auch wir vergeben haben unseren Schuldigern« (Mt 6,12b). Der Aorist muss beim Wort genommen werden:48 Er verweist auf die Vergebung als Ereignis; von geschehener Vergebung kommt der Mensch her, wenn er Gott auf Vergebung anspricht.49 Daraus folgt nicht, dass menschliche Vergebung eine Bedingung dafür ist, dass Gott dem Menschen vergibt. Vielmehr ist der Zusammenhang mit der Bitte darin zu sehen, dass der Mensch, der Gott um Vergebung bittet, immer schon von Vergebung herkommt, die er – vielleicht nur bruchstückhaft, aber dennoch – gewährt (oder auch erfahren) hat. Gewiss weiß der Betende darum, dass die von ihm gewährte Vergebung von sich aus nicht die Klarheit und Eindeutigkeit der göttlichen Vergebung hat; sie ist ein Fragment, aber dennoch ein Fragment, das ihn dazu ermächtigt, Gott auf die Vergebung anzusprechen. Vergebung kommt in der Welt der Menschen vor. Wenn sie wahrgenommen wird als eine Spur, die der Schöpfer in seine Welt gelegt hat, ermächtigt sie dazu, eben diesen Schöpfer um Vergebung der Schuld zu bitten. Im Gebet um Vergebung, das sich an Gott richtet, geraten die Fragmente menschlicher Vergebung in Resonanz. In diesem Licht erhal47

Dazu Weder, Gleichnisse (s. Anm. 24), 210–218; diese Interpretation wird auf fruchtbare Weise weitergeführt durch Wolfgang Harnisch, Die Gleichniserzählungen Jesu. Eine hermeneutische Einführung, Göttingen 42001 (UTB 1343), 256–275, wo die entscheidende Kraft der zuvorkommenden und unwiderruflichen Vergebung durch Gott noch stärker herausgearbeitet wird. 48 Anders Luz, Matthäus (s. Anm. 34), 348, der ihn ohne Umschweife im Sinne einer »Bedingung« auslegt, so dass die Vergebung Gottes an die Bedingung der menschlichen Vergebung geknüpft wäre. 49 Luz, Matthäus (s. Anm. 34), 348 weist allerdings zu Recht darauf hin, dass es seines Erachtens »keinen Fall (gibt), wo menschliches Handeln in dieser Weise in einen zentralen Gebetstext hineingenommen wird«.

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ten sie den Glanz, elementare Lebensmittel zu sein, sie werden bereichert mit der Eindeutigkeit göttlicher Vergebung, an der sie als deren Widerschein Anteil bekommen. Die Fragmente, wie unscheinbar sie immer sein mögen, werden zu Zeugen für die vollendete Wahrheit göttlicher Vergebung, sie beziehen Energie von jener Wahrheit und verstärken das Zutrauen des Betenden zum Wesen Gottes, das Vergebung ist und deshalb auf Vergebung angesprochen werden kann. Und gleichzeitig wird die Aktivität menschlicher Vergebung intensiviert, was wiederum – gleichsam in einer aktiven Schleife – das Zutrauen zu Gottes Vergebung stärkt. III. Gestärkte Schwachheit (Röm 8,18–30) Im Zusammenhang einer weit in kosmologische Zusammenhänge ausgreifenden Überlegung zum Zustand der Gegenwart kommt Paulus auf den Zusammenhang von Gebet und Schwachheit zu sprechen. Die Gegenwart ist gekennzeichnet durch das Seufzen, welche die ganze Schöpfung durchzieht (V. 22). Auch wenn die Leiden der Gegenwart im Vergleich zur kommenden Herrlichkeit ohne Gewicht sind (V. 18), auch wenn die Schöpfung sehnsüchtig darauf wartet, dass die Söhne Gottes offenbar werden (V. 19), auch wenn die Schöpfung der Nichtigkeit unterworfen ist – immerhin auf Hoffnung hin – (V. 20), wird eben diese Schöpfung befreit werden von der Knechtschaft der Vernichtung (V. 21), vom produktiven Arbeiten für die Nichtigkeit, welches die Gattung homo sapiens fleißig betreibt; sie wird befreit in eine Freiheit hinein, welche durch die Würde der Kinder Gottes entsteht.50 Die Kinder Gottes haben eine Würde, die sie der Sinnfrage enthebt und damit Abstand gewinnen lässt vom ständigen Verbrauch der Welt im Namen der Sinnstiftung. Diese Würde, die sie unendlich weit vom Nichts wegträgt, ist ein Geschenk des Geistes, der belebenden Kraft, die in der Welt auch vorkommt. Der Geist erinnert sie an ihre Herkunft: Sie sind verloren in den Weiten des Zufälligen, gänzlich unerhebliche Staubkörner im Weltall. So sehr sie diese Erfahrung machen, so intensiv erinnert sie der Geist daran, dass sie von Gott verloren worden sind in diesen Weiten und dass sie aus genau diesem Grunde von Gott gesucht werden (vgl. Lk 15,3–7).51 Sie werden dem Nichtigen entrissen und in die Freiheit entlassen. Das ist 50

Grammatikalisch ist es möglich, den Genetiv τῆς δόξης als auctoris zu verstehen, auch wenn er normalerweise possessiv verstanden wird. Im ersten Fall handelt es sich um eine Freiheit, welche durch die Würde der Kinder Gottes konstituiert ist. Im zweiten Fall handelt es sich um eine Würde, welche die Freiheit besitzt, eine »Herrlichkeit Gottes, […] an der er (sc. Gott) den Christen als Miterben Christi […] teilgeben wird« (so Wilckens, Brief an die Römer [s. Anm. 13], 155). Ähnlich interpretiert Schlier, Römerbrief (s. Anm. 16), 263 (»Freiheit der eschatologischen δόξα«). 51 Dazu Weder, Gleichnisse (s. Anm. 24), 168–177.

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freilich nicht die Beliebigkeit des Könnens oder die Freiheit, die alles zu erlauben scheint,52 es ist vielmehr die Freiheit zu lieben und zu ehren, was einem bisher als bloßes Zeug erschien. Die Gegenwart freilich ist gekennzeichnet durch das Seufzen der Kreatur und durch den Schmerz der Wehen (V. 22). Die Wehen stehen hier für den Schmerz, der die Schöpfung durchwaltet, für die Bedrängnis, in die sie durch die Sünde des Menschen kommt, durch seine Unfreiheit, die er mit der Freiheit verwechselt.53 Die Wehen stehen aber auch für einen Schmerz, der sozusagen aussichtsreich ist. Es ist der Schmerz, der Besseres erwarten lässt, oder eben der Schmerz, der eine Begleiterscheinung der Sehnsucht der Welt ist, die ja auf Hoffnung hin unterworfen ist. Wer kann es hören, dieses Seufzen? Sicher nicht der, der im Lärm der Maschinen wohnt, mit denen er Baumaterial möglichst effektiv verarbeitet. Das Seufzen der Schöpfung wird von Menschen gehört, die hören können, besser: die mit dem Ohr Gottes hören können. Das Seufzen der Schöpfung wird nur einer Wissenschaft erschlossen, die sich Nachdenklichkeit leistet, nicht aber einer Wissenschaft, die auf die Beherrschung der Welt und auf die Beherrschung ihres Stoffes fixiert ist. Die Menschen, ob sie das Seufzen der Welt hören können oder nicht, sind ihrerseits einbezogen in jenes Seufzen (V. 23). Sie haben – so Paulus – die Erstlingsgabe54 des Geistes. Eine Erstlingsgabe ist eine Gabe, die als sie selbst noch viel mehr an Gaben verspricht. Sie ist vergleichbar einer ersten Anzahlung, welche – wenn sie eintrifft – klarmacht, dass eines Tages die ganze Summe bezahlt werden wird. Eine solche, vielversprechende Gabe ist der Geist. Die schöpferische Kraft, die der Geist zur Erfahrung bringt, lässt darauf schließen, dass eines Tages das Schöpferische in seiner ganzen Fülle ausbezahlt werden wird. Eben diese vielversprechende Gabe des Geistes ist der Grund dafür, dass auch die Glaubenden in das Seufzen der Kreatur einbezogen sind. Der Geist lässt sie gerade nicht Abschied nehmen von der Welt. Er lässt sie vielmehr eintreten in die Solidarität des Seufzens zusammen mit der ganzen Schöpfung. Es ist wohl ein Zeichen des wahren Geistes, dass er keinen Ausstieg zulässt, sondern mich anhält zum geduldigen Bleiben bei der Kreatur (das meint Paulus mit der ὑποµονή, der Geduld, mit welcher man erwartet, was man erhofft, vgl. V. 25 unten). Im Unterschied zur Schöpfung sind 52

Sie ist »weit entfernt, autonome Freiheit irgendwelcher Art zu sein« (mit Schlier, Römerbrief [s. Anm. 16], 262. 53 Ähnlich Wilckens, Brief an die Römer (s. Anm. 13), 156: »Wer die Welt als ›Natur‹ sieht, die nicht zusammen mit den Menschen Gott als dem Schöpfer, sondern dem Menschen als sein großer Gegner bzw. als Material für seine ihr überlegene technische Fähigkeit gegenübersteht, kann in diesen Aussagen des Paulus nichts anderes als naive Anthropomorphismen erkennen. Verantwortung gegenüber der ›Natur‹ […] entspringt dagegen dem Wissen des Glaubens, dass Gott in seiner Schöpfung als ihr Schöpfer selbst gegenwärtig ist […]«. 54 »Es geht um das Angeld eines Kaufpreises« (Käsemann, An die Römer [s. Anm. 12], 226 zur Bedeutung von ἀπαρχή).

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die Menschen jedoch aktiv daran beteiligt, die Schöpfung der Nichtigkeit zu unterwerfen, aus der Schöpfung nichtiges Zeug zu machen. Eben diese Erfahrung gibt zum solidarischen Seufzen in uns selbst Anlass. Es ist freilich ein Seufzen, das sich der Gegenwart des Geistes verdankt, nicht der Abwesenheit; deshalb – so könnte man sagen – ist es ein geistreiches, kein geistloses Seufzen.55 Das Seufzen hat die Signatur des Wartens, das in den folgenden zwei Sätzen bedacht wird (V. 24f). Gerettet sind die Menschen »in der Weise der Hoffnung«. Der Dativ bei Hoffnung gibt an, auf welche Weise sie gerettet sind (adverbialer Dativ). Daraus folgt, dass die Hoffnung die gegenwärtige Gestalt der (bei Paulus konsequent und durchwegs zukünftig gedachten) Rettung ist. Die Hoffnung ist die konkrete Weise, in welcher die Rettung nicht mehr nur zukünftig ist. Die Wirkungen des Geistes geben Anlass zur Hoffnung, und diese Hoffnung zieht gleichsam die zukünftige Rettung in die Gegenwart herein. Hoffnung beruht – wie Paulus jetzt ausführt – gerade nicht auf dem Sichtbaren. Hoffnung ist das menschliche Ausschreiten ins Unsichtbare, man könnte auch sagen, Hoffnung ist das Vertrauen auf das Unverfügbare. Unsichtbar ist die Fülle des Lebens, welche die jetzigen Wirkungen des Geistes ahnen lassen. Und sie führt, wie Paulus weiter sagt, zur Erwartung der Erhofften in Geduld. Man könnte sagen, das Seufzen und Hoffen sei ein Zeichen menschlicher Schwachheit. Vielleicht ist es dadurch bedingt, dass Paulus nun auf den Zusammenhang von Geist und Schwachheit zu sprechen kommt (V. 26): »Genauso aber hilft der Geist unserer Schwachheit auf (möglich wäre auch eine andere Übersetzung: lässt sich der Geist in unsere Schwachheit ein),56 denn wir wissen nicht, wie wir beten sollen, aber der Geist selbst tritt für uns ein mit unaussprechlichem Seufzen.« Die Schwachheit besteht darin, dass wir überhaupt nicht wissen, wie Gott anzusprechen ist. In eben diese Schwachheit lässt sich der Geist ein. Besonders zu beachten ist hier, dass der Geist gerade nicht unsere Schwachheit aufhebt (was man erwarten würde), sondern dass er unserer Schwachheit bei der höchsten Adresse zur Sprache verhilft. Er tritt für uns ein mit demselben Seufzen, das die ganze Kreatur durchzieht. Der 55

Dazu Hans Weder, Geistreiches Seufzen. Zum Verhältnis von Mensch und Schöpfung in Röm 8, in: ders., Einblicke (s. Anm. 19), 247–262. 56 Das Verb συναντιλαµβάνεσθαι hat eine ganze Reihe von Bedeutungen: »mithelfen», »jemandem beistehen«, »jemandem zu Hilfe kommen«, »einen Teil der Arbeit abnehmen« (so Schlier, Römerbrief [s. Anm. 16, 268, Anm. 24). Wenn man den Ausdruck so wiedergibt, dass der Geist unserer Schwachheit zu Hilfe kommt (Schlier, ebd.; auch Wilckens, Brief an die Römer [s. Anm. 13], 161), bleibt unklar, ob diese Hilfe in der Beseitigung der Schwachheit besteht oder aber darin, dass dieser Schwachheit aufgeholfen wird. Für das letztere spricht der Schluss des Verses, wonach der Geist mit demselben unaussprechlichen Seufzen für die Menschen vor Gott eintritt, also ihre eigene Schwachheit teilt und vor Gott bringt.

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Geist ist der Helfer unserer Schwachheit, er ist die Kraft ihrer Kultivierung, nicht die Kraft, welche die Schwachheit beseitigt. Diese Schwachheit, die Unfähigkeit zum Gebet,57 die Unfähigkeit, Gott anredende Worte zu finden, ist wohl eine Erfahrung, die viele machen, besonders in Situationen, in denen eigentlich Beten an der Zeit wäre. Doch jene andere Erfahrung, dass es eine fremde Kraft gibt, die einem das Beten unversehens ermöglicht, ist wohl auch zu machen in unserem Leben. Kennzeichnend an jenem Geist ist, dass er nicht etwa zum gediegenen Gebet vor Gott mit ausgesuchter Wortwahl führt, sondern zu jenem Seufzen, das Kennzeichen der Gegenwart ist, die sehnsüchtig auf die Vollendung wartet.58 Daran ist zu erkennen, dass der Geist die Schwachheit des Menschen nicht beseitigt, sondern dass er die Gestalt der Schwachheit in einer Weise vor Gott bringt, dass ihre Stärken erkennbar werden. Man könnte auch sagen: Der Geist entdeckt im Gebet den Aussichtsreichtum der Schwachheit. In diesem Vorgang können wir wiederum das Phänomen der Resonanz beobachten. Die fremde Kraft des Geistes hilft der Erfahrung menschlicher Schwachheit so, dass sie eben diese Schwachheit im Gebet in die Beziehung zu Gott bringt. Und in dieser Beziehung gewinnt die Schwachheit eine überraschende Dimension: Statt dass man ihre möglichst schnelle Beseitigung zu wünschen hat, wird sie neu erkannt als ein Sein vor Gott, das aussichtsreich ist. Die in der Welt und gerade in der Unfähigkeit zu beten erfahrene Schwachheit gerät in Resonanz zu ihrer Doppelgängerin, welche durch die Geistkraft geklärt und in ihrem Aussichtsreichtum eindeutig geworden ist. Die in der Welt erfahrene Schwachheit erhält damit eine neue Dimension. In diesem Vorgang bezieht sie Energie von ihrer Doppelgängerin und zeigt sich dem Menschen neu als etwas, das er nicht beseitigen oder überwinden muss, sondern das seinem Sein vor Gott eine vielversprechende Dimension gibt. Dieser Gedanke ist vor allem in einer Welt, welche die Stärke liebt und mit Lebendigkeit identifiziert, ungewöhnlich und überraschend. Er begegnet auch sonst im Neuen Testament. Besonders deutlich tritt er in der matthäischen Version der ersten Seligpreisung vor Augen: »Selig die Armen im Geist – ihnen gehört das Himmelreich.«59 Während es bei Lukas 57

Nach Käsemann, An die Römer (s. Anm. 12), 229 lautet der »wichtigste Satz», »für das Urchristentum völlig unerhört, wir wüssten nicht, was zu beten sich gebührt». 58 Robert Leuenberger, Dichterische Dimension (s. Anm. 8), 222 macht im Zusammenhang dieses paulinischen Verses auf das »dem Gebet innewohnende Gefälle auf einen Zustand geistlicher Spracharmut« aufmerksam, »wo das Gebet also zurückfällt auf ein unzusammenhängendes Stammeln«. Insofern gilt: »Alles christliche Beten, so wird man Paulus verstehen dürfen, steht immer noch in der Gemeinschaft mit dem Seufzen jener, die für ihr Leiden und Hoffen keine Sprache haben, oder doch die vollmächtige Gebetssprache anderer nicht mitzusprechen vermögen.« 59 Übersetzung mit der neuen Zürcher Bibel.

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(und wohl auch bei Jesus selbst)60 um die Seligpreisung der materiell Armen geht, gestaltet Matthäus die Armut neu als Armut im Geist. Die jesuanische Seligpreisung hat ihre Pointe darin, dass in der Situation der Armut entdeckt wird, wie ihr Bezug auf das Gottesreich ist.61 Einen Bezug zum Gottesreich hat die Armut nicht deshalb, weil sie beseitigt wird, sondern weil sie als Armut zum Gottesreich passt.62 Gottes Reichtum wird nicht als Status des Besitzens gedacht, sondern als Dynamik des Austeilens. Ebenso wird die menschliche Armut nicht als Status des NichtHabens gedacht, sondern als Dynamik des Nehmens. Insofern ist der Arme, der ganz auf das Empfangen angewiesen ist, in direkter Beziehung zu dem Gott, dessen Wesen das Geben, das Austeilen ist. Die matthäische Gestaltung dieser Seligpreisung ist dadurch gekennzeichnet, dass sie das Element des Geistes (im Dativ) einführt.63 Der Dativ könnte instrumental verstanden werden;64 der Ausdruck würde dann entweder die Armut kraft des eigenen menschlichen Geistes, freiwillige Armut (wenn man den Geist als Geist des Menschen auffasst) oder aber Armut kraft des göttlichen Geistes, Armut durch den Willen Gottes (wenn man Geist als Gottes Geist auffasst) bedeuten. Damit würde die Seligpreisung einer der Spielarten der Armenfrömmigkeit gelten. Man kann den Dativ indes auch als Dativ der Beziehung verstehen: Der Ausdruck bedeutet in diesem Fall eine Mittellosigkeit an Geist (möglich ist sowohl der Geist Gottes als auch der Menschen eigener Geist). Daraus ergeben sich zwei mögliche Bedeutungen: Arm im Blick auf den Geist bedeutet entweder »mit der eigenen Weisheit am Ende sein« oder »mittellos im Blick auf den göttlichen Geist«. Beide Bedeutungen passen sehr gut zum Duktus der Seligpreisungen: Seligkeit wird nicht willkürlich dem Menschen in einer bestimmten Situation (hier der Mittellosigkeit) zugesprochen. Die Seligpreisung entdeckt vielmehr einen Aussichtsreichtum, eine Seligkeit, die in der Situation als solcher liegt. Die Seligkeit besteht darin, dass die Mittellosigkeit genau zum Reich Gottes passt. Die Dynamik des göttlichen Reichtums besteht im Austeilen, nicht im An60 61 62

So Luz, Matthäus (s. Anm. 34), 200f. Dazu Weder, Rede der Reden (s. Anm. 38), 50. Ganz anders bei den meisten modernen Kommentatoren; zum Beispiel bei Luz, Matthäus, (s. Anm. 34), 204: »Für Jesus ist der unbedingte, kategorische Heilszuspruch an Menschen, die in einem heillosen Zustand sind, das entscheidende.« Demzufolge will er die Seligpreisungen nicht vom weisheitlichen Tat-Ergehen-Zusammenhang her interpretieren, sondern deutet sie apokalyptisch: »Hintergrund dieser drei Seligpreisungen ist vielmehr die apokalyptische Hoffnung auf eine totale Umkehr der Verhältnisse.« 63 Dazu Weder, Rede der Reden (s. Anm. 38), 51. 64 Zu den grammatikalischen Möglichkeiten vgl. Luz, Matthäus (s. Anm. 34), 205f. Luz begründet stringent, dass die Version »arm im Blick auf den menschlichen Geist« am plausibelsten ist. Es bedeutet dann so etwas wie Mutlosigkeit, Verzweiflung, Mittellosigkeit vor Gott. Dies kann man mit der Wendung »mit der eigenen Weisheit am Ende sein« wiedergeben, um den Ausdruck möglichst weiträumig zu belassen.

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sich-Reißen. Die Dynamik der menschlichen Armut besteht darin, dass sie den Menschen auf Empfangen, auf Annehmen, einstellt. Deshalb erhält Anteil am Reich Gottes, wer entweder mit der eigenen Weisheit am Ende ist oder wer ein Defizit an Gottesbeziehung hat. Beides mag in unseren Augen als Schwachheit erscheinen, aber es ist genau die Schwachheit, welche der Geist Gottes nicht beseitigt, sondern welcher er die neue Dimension des angemessenen Seins des Menschen vor Gott gibt. Eben diese neue Dimension wird entdeckt, wenn die menschliche Schwachheit in Resonanz gerät zu jener Schwachheit, die der Geist als sinnvolle Existenzweise vor Gott zum Zuge bringt. Zum Schluss Das Gebet ist eine zentrale und konkrete Weise, wie der Mensch die Beziehung zur Transzendenz gestaltet. Dieser Transzendenzbezug hat nicht nur Folgen für das Selbstverständnis des Menschen. Er wirkt sich auch wesentlich darauf aus, wie der Mensch die Immanenz anzusehen vermag. Der Mensch gewinnt einen neuen Blick auf seine Erfahrungen in und mit der Welt. Dieser Zusammenhang kann mit dem Phänomen der Resonanz genauer in den Blick genommen werden. Wird die Resonanz zur Interpretation herbeigezogen, kommen mannigfaltige Dimensionen ihrer Wirkung auf die Welterfahrung zum Vorschein. Im Gebet werden Wörter als Anrede an Gott gebraucht, welche Phänomene bezeichnen, die auch in der Welterfahrung vorkommen. Die Anrede Gottes als Vater zum Beispiel zieht – kraft der Resonanz zwischen weltlichen Vätern und dem himmlischen Vater – eine intensive Arbeit am Vaterproblem nach sich. Im Gebet werden Wörter gebraucht, die grundlegende Erfahrungen in der Welt in Erinnerung rufen und zugleich als Bitten an Gott gerichtet werden. Die Vergebung etwa, von welcher der Mensch immer schon herkommt, weil sie in seinem Leben vorkommt, wird in der Bitte um göttliche Vergebung mit einem Transzendenzbezug ausgestattet. Dabei erscheint sie in ihrer bedingungslosen Reinheit, welche wiederum die oft bedingte Vergebung in der Welt zu kritisieren erlaubt und welche zugleich jene Fragmente unbedingten Vergebens, die in der Welt ebenfalls vorkommen, zum Leuchten bringt und stärkt. Allein schon die Tatsache, dass der Mensch zu Gott betet, lenkt den Blick auf das Phänomen des Bittens: An Gott gewendetes und so im Transzendenzbezug vollzogenes Bitten erreicht eine eigentümliche Klarheit; die Bitte wird angesichts der absoluten Unverfügbarkeit des Gegenübers zur reinen Bitte, welche ihre Erfüllung und deren konkrete Gestalt ganz aus der Hand gibt. Deshalb ist es folgerichtig, dass etwa die Bitte um das Kommen des Reiches Gottes mit keinen menschlichen Wünschen mehr versehen wird, da es allein Gottes Reich sein soll, dessen Kommen erbeten wird. Die bloße Faktizität des Betens zu Gott lässt eine fundamentale Schwachheit der menschli-

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Hans Weder

chen Existenz ins Rampenlicht treten, die angesichts des kreativen Gottes vollzogen wird. In der Resonanz zu dieser vor Gott vollzogenen Schwachheit erhält die aus der Erfahrung bekannte Schwachheit eine neue Dimension: Sie wird als aussichtsreiche erkenntlich. Mit der eigenen Weisheit am Ende zu sein, ist eine Situation des Menschen, in welcher der Mensch in der Nähe zur Weisheit Gottes ist. Eben diese Schwachheit ist aussichtsreich; sie verdient es deshalb, kultiviert statt beseitigt zu werden. Im Gebet sind also – allgemein gesagt – mannigfaltige weltliche Erfahrungen im Spiel. Sie werden im Transzendenzbezug einer Klarheit zugeführt, die sie in der Welt nicht haben. Mit diesen durch Klarheit ausgezeichneten Erfahrungen treten die Erfahrungen in Resonanz, die im Gemenge der Welt zu machen sind. Dabei erhalten sie neue Dimensionen. Das Gebet ist insofern ein ausgezeichneter Ort, an welchem es dem Menschen gegeben ist, eine neue Erfahrung mit seinen Erfahrungen zu machen.

Josef-Anton Willa

Die (Gebets-)Stimme als Resonanzorgan Eine Annäherung auf der Grundlage der Stimmforschung Alfred Wolfsohns1 I. Mit Stimme beten? – Einstieg Das Gebet ist in unserer Gesellschaft nicht verschwunden. Umfragen zeigen dies. Allerdings ist es im öffentlichen Raum kaum präsent. Wer alleine betet, geht in seine »Kammer«, sucht eine Kirche oder einen anderen ruhigen Ort auf. Das Gebet des Einzelnen ist häufig lautlos, es soll nicht auffallen und niemanden stören.2 Womöglich liegt dem lautlosen Gebet auch die Vorstellung zugrunde, es sei nicht nötig, im Zwiegespräch mit Gott die Stimme zu erheben, da Gott auch das innere Gebet hört. Anders verhält es sich beim Beten in Gemeinschaft. Zur gegenseitigen Verständigung braucht es die Stimme. In Gottesdiensten und Gebetskreisen werden Gebete gesprochen oder gesungen, von einzelnen Vorbeterinnen und Vorbetern, von allen gemeinsam oder wechselseitig. Die christliche Spiritualitäts- und Liturgiegeschichte zeigt eine große Vielfalt an stimmlichen Ausdrucksweisen des Betens, die über die in der heutigen Gebetspraxis vorherrschende Alternative von Sprechen oder Singen hinausweist. Die Palette reicht vom Murmeln von Bibelversen und Gebetsformeln (Vaterunser, Rosenkranz) über das erhöhte Sprechen (Kantillieren von offiziellen Gebeten) und das Singen (von Gemeindeliedern oder Chorwerken) bis hin zum Jubilieren ohne Worte (Halleluja).3 Eine theologische Reflexion über die Gebetsstimme findet sich allerdings selten.4 Es gibt in der Spiritualitätstheologie Vorbehalte gegenüber dem stimmhaften Beten. Der Kirchenvater Augustinus, der auf der einen Seite das wortlose Singen zu schätzen weiß, befürchtet andererseits, dass die Aufmerksamkeit auf die Gesangsstimme vom eigentlichen Gebet, von der Ausrichtung auf Gott ablenkt: »Wenn mir […] zustößt, dass mich 1

Ein besonderer Dank geht an das Archiv des Jüdischen Museums Berlin, wo ich im Februar 2016 die Gelegenheit hatte, Einblick in die Schriften von Alfred Wolfsohn zu nehmen. 2 Bei Muslimen verhält es sich allerdings etwas anders: Sie beten auch allein häufiger mit Stimme und verhelfen in den säkularen Gesellschaften dem Gebet zu einer neuen Öffentlichkeit. 3 Vgl. Josef-Anton Willa, »Seele des Wortes«. Die Stimme im Gottesdienst, in: Albert Gerhards / Matthias Schneider (Hrsg.), Der Gottesdienst und seine Musik. Bd. 1, Laaber 2014 (Enzyklopädie der Kirchenmusik 4), 63–75. 4 Vgl. Beitrag in diesem Band von Simon Peng-Keller, Von der Stimmlichkeit des Betens.

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mehr der Gesang als die gesungene Sache bewegt, dann bekenne ich mich einer Sünde schuldig und würde den Sänger lieber nicht hören.«5 Es öffnet sich hier eine Kluft zwischen der »Sache«, dem Gebet, und dem »Medium«, der Stimme. Im Laufe der Jahrhunderte haben Kirchenvertreter immer wieder um der Objektivität der »Sache« willen die Eigendynamik der Stimme so weit wie möglich zurückzubinden versucht. Im Gottesdienst wird der Stimme eine sekundäre Rolle zugewiesen: Sie soll sich ganz in den Dienst des Gebetswortes stellen, seiner Verständlichkeit, Ausdeutung oder Ausschmückung. Dass die Gebetsstimme einen Eigenwert haben könnte, wird kaum in Betracht gezogen. In den vergangenen Jahrzehnten ist in den Geistes- und Kulturwissenschaften im Zuge des performative turn ein neues Interesse am Phänomen der Stimme, an ihrem Eigenwert jenseits ihrer Funktion als Trägerin von Sprache zu beobachten.6 Die Gebetspraxis und die theologische Reflexion über das Gebet können sich davon inspirieren lassen. Schon in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts hat der Gesangslehrer Alfred Wolfsohn einen neuen Zugang zur Stimme eröffnet. Er gilt als ein Pionier der neueren Stimmforschung. Unter dem Stichwort »Resonanz« soll an dieser Stelle sein Leben und Werk vorgestellt werden. Seine Idee der »allgemein(en) menschlichen Stimme« lädt dazu ein, die Rolle der Stimme im Gebet als Beziehungsgeschehen in den Blick zu nehmen. II. Mit der Stimme experimentieren – Leben und Werk von Alfred Wolfsohn (1896–1962) Alfred Wolfsohn7 wurde am 23. September 1896 als Sohn assimilierter Juden in Berlin geboren. Als er zehn Jahre alt war, starb sein Vater, Tischlermeister von Beruf, an Tuberkulose. Nach dem Abitur begann Wolfsohn Rechtswissenschaften zu studieren, wurde aber mit Ausbruch des 1. Weltkriegs in die Armee eingezogen und als Sanitätssoldat an die Front geschickt. Von dort kehrte er 1918 mit einem Kriegstrauma heim: Die verzweifelten Schreie der verletzten Kameraden ließen ihn nicht mehr los. Nur langsam fand er ins Leben zurück. Dabei half ihm eine Italienreise und die Beschäftigung mit Kunst und Musik. Beim Singen fühlte er sich befreit und lebendig. Er beschloss, das Studium nicht weiterzuführen und 5

Augustinus, Bekenntnisse 10, 33,50, zit. nach Ansgar Franz, Die Alte Kirche, in: Christian Möller (Hrsg.), Kirchenlied und Gesangbuch. Quellen zu ihrer Geschichte. Ein hymnologisches Arbeitsbuch, Tübingen/Basel 2000, 1–28, hier: 21. 6 Vgl. dazu etwa den Sammelband: Doris Kolesch / Sybille Krämer (Hrsg.), Stimme. Annäherung an ein Phänomen, Frankfurt a. M. 2006. 7 Vgl. Sheila Braggins, The Mystery Behind the Voice: A Biography of Alfred Wolfsohn, Leicester 2011; Paul Newham, The Prophet of Song: The Life and Work of Alfred Wolfsohn, London 1997.

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sich fortan ganz dem Gesang und den Ausdrucksmöglichkeiten der Stimme zu widmen. Die damaligen Unterrichtsmethoden entsprachen allerdings nicht seinen Erwartungen. So begann er eigenständig mit der Stimme zu experimentieren und scheute sich nicht, extreme, unkontrollierte Stimmlaute zu äußern. Er entdeckte, dass sich jenseits von Sprache und Musik der Tonumfang und die Ausdrucksmöglichkeiten der Stimme auf eine bisher kaum wahrgenommene Weise erweitern ließen. Parallel dazu befasste er sich mit der aufkommenden Psychoanalyse, mit den Schriften von Sigmund Freud und Carl Gustav Jung. Anfang der 1930er Jahre begann Wolfsohn Gesangsunterricht zu erteilen; zu seinem Schülerkreis zählten Berufs- und Laiensängerinnen und -sänger, die hauptsächlich aus therapeutischen Gründen singen wollten. In diese Zeit fällt die Begegnung mit der jungen Charlotte Salomon (1917–1943), deren Laufbahn als Malerin er maßgeblich förderte. 1939 floh Wolfsohn aus Nazideutschland nach London, wo er seine Tätigkeit als Gesangslehrer und Stimmforscher weiterführte und ausbaute. In den 1950er Jahren wurde man in der Öffentlichkeit erstmals auf ihn aufmerksam. Aufsehen erregten Medienberichte, wonach seine Gesangsschülerinnen und -schüler einen Stimmumfang von bis zu neun Oktaven vorweisen konnten. Doch der Durchbruch und die breite Anerkennung seiner Stimmforschung blieben zu seinen Lebzeiten aus. Wolfsohn starb 1962 in London. Seine Schriften blieben unveröffentlicht, doch seine Stimmarbeit ist heute noch im Gespräch. Nach seinem Tod wurde sie in zwei Richtungen weitergeführt: Einer seiner Schüler, der Schauspieler Roy Hart (1926– 1975), legte den Schwerpunkt auf die künstlerische Stimmperformance; er gründete eine Theatertruppe und verlagerte sein Wirken nach Südfrankreich, in die Cevennen, wo sich heute ein Kurs- und Ausbildungszentrum befindet, das den Namen Roy Hart trägt.8 In den 1990er Jahren nahm der Engländer Paul Newham (geboren 1962) in London die therapeutische Richtung der Stimmarbeit von Wolfsohn wieder auf. Er begründete in den USA die Voice Movement Therapy, deren Protagonisten heute in einer internationalen Vereinigung zusammengeschlossen sind.9 Alfred Wolfsohns Stimmarbeit und seine Schriften sind geprägt von existentiellen persönlichen Erfahrungen. Die Beschäftigung mit der Stimme war für Wolfsohn nicht bloß Theorie, sondern eine Frage des Überlebens. Person und Werk sind untrennbar miteinander verbunden. Das ist das Faszinierende an seiner Forschung, es macht sie aber auch angreifbar. Über das Einzelschicksal seiner Person hinaus kommt dem Werk allgemeine Relevanz zu, insofern es eine – zumindest zur damaligen Zeit – neue, alle Konventionen und Kategorien sprengende Annäherung an das Phänomen der Stimme darstellte. Als Gesangspädagoge suchte er weder 8 9

Centre artistique international Roy Hart (CAIRH): www.cairh.org. International Association for Voice Movement Therapy (IAVMT): www.iavmt.org.

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den Schönklang noch die spektakuläre stimmtechnische Leistung; es ging ihm nicht allein um den künstlerischen Ausdruck oder um die therapeutische Anwendung. Wolfsohn betrachtete die Entfaltung der Stimme als Beitrag zur Selbsterkenntnis und Persönlichkeitsentfaltung. Im Folgenden wird das Leben und Werk von Alfred Wolfsohn mit Hilfe der Kategorie der Resonanz beschrieben, bezugnehmend auf den Resonanzbegriff des Soziologen Hartmut Rosa.10 Wolfsohns Leben war von Resonanzerfahrungen geprägt, seiner Idee der »allgemein(en) menschlichen Stimme« liegt ein Verständnis der Stimme als Resonanzorgan zugrunde. III. Berühren und berührt werden – Resonanzbeziehungen Resonanz ist zunächst ein physikalisch-akustisches Phänomen; das lateinische resonare bedeutet widerhallen. Resonanz meint das »Mitschwingen eines schwingungsfähigen physikalischen Systems, d. h. eines Resonators, bei Erregung durch eine äußere periodische Kraft«11 oder – in der Definition von Hartmut Rosa – »eine spezifische Beziehung zwischen zwei schwingungsfähigen Körpern, bei der die Schwingung des einen Körpers die ›Eigentätigkeit‹ (beziehungsweise die Eigenschwingung) des anderen anregt«.12 Der eine Körper versetzt also den anderen in Bewegung, allerdings wird diese nicht mechanisch erzwungen, vielmehr schwingt der reagierende Körper im eigenen Rhythmus und nach dem Grad seiner Resonanzfähigkeit. Er spricht also sozusagen mit eigener »Stimme«. Dabei können die Körper sich in ihren Schwingungen gegenseitig verstärken und aufschaukeln oder sie gleichen sich an, so dass sie mit der Zeit im gleichen Rhythmus aufeinander einschwingen. Resonanz wird auch im übertragenen Sinn verwendet. Als psychosozialer Begriff beschreibt er ein Verhältnis des Menschen zu allem, was ihm begegnet,13 seien es Lebewesen, Gegenstände, Ereignisse oder das eigene Selbst. Resonanz meint eine bestimmte Qualität von Beziehung, bei der der Mensch mitschwingt oder eine Schwingung auslöst, bei der er antwortet oder eine Antwort bewirkt. Wer in Resonanz ist, berührt und wird berührt, ergreift und wird ergriffen, auf der physischen und psychischen, der geistigen und seelischen Ebene. Resonanz hat immer zwei Seiten, eine passiv-empfangende und eine aktiv-handelnde. »Etwas bewegt mich oder erreicht mich und ich habe 10 11 12 13

Hartmut Rosa, Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung, Berlin 2016. Stichwort »Resonanz«, in: Lexikon der Physik, www.spectrum.de. Rosa, Resonanz (s. Anm. 10), 282. »Welt« ist nach Rosa, Resonanz (s. Anm. 10), 65, »alles, was begegnet« oder »was begegnen kann«.

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umgekehrt das Gefühl, ich erreiche die andere Seite.«14 »Wie eine Stimmgabel, die angeschlagen wird, eine zweite in deren eigener Frequenz in Schwingung versetzt, so berühren sich in Resonanzbeziehungen Subjekt und Welt – und lassen den jeweils anderen mit dessen eigener Stimme sprechen.«15 Die resonante Beziehung im Sinne Rosas unterscheidet sich von einem instrumentellen, funktionalen, verdinglichten Verhältnis zur Welt. Dieses ist dann gegeben, wenn ich das, was ich in der Welt vorfinde, als Objekt betrachte und zu einem bestimmten Zweck gebrauche. Das Gegenüber antwortet nicht; es sagt mir nichts und hat keine eigene Bedeutung über den Gebrauch dessen hinaus, den ich von ihm mache. Hartmut Rosa bezeichnet die Stimme als das »erste und grundlegende Organ, mittels dessen wir die Welt zum Antworten bringen und über das wir in eine Antwortbeziehung zu ihr treten«.16 Mit der Stimme stellen wir Resonanzbeziehungen her. Während Sprache eher auf Inhalte in einer Beziehung verweist (auf das »Was«), zeigt Stimme die Qualität der Beziehung an (das »Wie«). Jenseits von Inhalten kann Stimme Zuspruch, Hinwendung und Aufmerksamkeit signalisieren, kann sie berühren und in Schwingung versetzen. In den Worten von Wolfsohn: »… ›die Stimme ist warm‹ – womit nichts anderes gemeint ist, als dass sie Leben in sich birgt und sich auf den Hörer überträgt.«17 »Der Stimme haftet etwas Taktiles an«,18 schreibt der Medienwissenschaftler Dieter Mersch: Wir hören den Ton nicht nur, wir spüren ihn. Wir verstehen nicht nur, was gesagt oder gesungen wird, wir treten in Kontakt mit der Person, die sich stimmlich äußert. Ein Neugeborenes, das aus der unmittelbaren organischen Verbindung im Mutterleib losgerissen wurde und die Welt draußen als fremd, kalt und repulsiv erfährt, entdeckt die Möglichkeit, mit der Stimme Verbindung aufzunehmen und Wirkung zu erzielen. Sein Schreien bewirkt Antwort. Das Kind erlebt, dass es mit seiner Stimme Erfolg hat. Es erhält durch sie, was es braucht:

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Hartmut Rosa, »Der Panzer auf der Brust der Studenten«. Interview vom 23. Mai 2016 auf: Zeit campus online: www.zeit.de/campus/2016-05/hartmut-rosa-soziologestudium-entschleunigung-resonanz-bologna-reform, zuletzt besucht am 27.01.2017. 15 Lebendige Seelsorge 67 (2016), Heft 2, Vorwort. 16 Rosa, Resonanz (s. Anm. 10), 109. Die Stimme vermittelt »einen über ihre Zeichenhaftigkeit und ›Bedeutsamkeit‹ hinausgehenden, irreduziblen ästhetischen Überschuss […], der einen spezifischen Erfahrungsbereich eröffnet, welcher (anderen) Sprachen oder symbolischen Zeichensystemen nicht zugänglich ist« (ebd. 161). 17 Alfred Wolfsohn, Die Brücke (ca. 1946). Typoskript in der Sammlung Alfred Wolfsohn, Stiftung Jüdisches Museum Berlin (2003/18/180), 268. Umgekehrt kann eine Stimme gleichgültig lassen, kalt sein, dann hat sie keine Resonanz. 18 Dieter Mersch, Präsenz und Ethizität der Stimme, in: Kolesch/Krämer, Stimme (s. Anm. 6), 211–236, hier: 212.

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Aufmerksamkeit, Zuwendung, Nahrung. Die Stimme, die zum Ohr der Mutter führt, ist eine Art »vokale Nabelschnur«.19 Bei der menschlichen Stimme beeinflussen sich die physikalisch-akustische und die psychosoziale Resonanz, das körperliche und das seelische Berührtwerden wechselseitig.20 Im Leben und Werk von Alfred Wolfsohn zeigen sich diese Wechselwirkungen beispielhaft, wie nachfolgend zu zeigen ist. IV. Stimmen wahrnehmen – in Resonanz geraten Zwei Erlebnisse von Alfred Wolfsohn als Soldat im Ersten Weltkrieg bilden den Wendepunkt in seinem Leben und den Schlüssel zu seinem Verständnis der Stimme. Es sind nicht harmonische, sondern erschütternde Resonanzerfahrungen. Mehrfach kommt er in seinen Schriften darauf zu sprechen: »Die beiden Erlebnisse, die dem [der Entwicklung und Verwirklichung der Idee über die Stimme] zu Grunde liegen, spielten sich innerhalb eines nicht sehr langen Zwischenraumes ab, als ich, 20 Jahre alt, als Soldat an der französischen Front diente. Das erste Mal hatte ich einen Verwundeten zurückgetragen, einen ganz jungen Kohlenarbeiter aus Schlesien, der einen Bauchschuss erhalten hatte. Wie er hintereinander ›Mama, Mama‹ oder ›Heilige Jungfrau‹ schrie, kam nicht mehr aus einer menschlichen Kehle. Wir konnten es nicht mehr ertragen und mussten die Bahre niedersetzen. Wie ich auf den Gedanken kam, seinen Kopf in meine Hand zu nehmen und zu streicheln, so dass er einschlief, weiß ich nicht mehr, auf jeden Fall das Schreien hörte auf.«21

Diese Szene hat etwas Archetypisches an sich; hier wird gewissermaßen ein frühkindliches Verhaltensmuster, die »vokale Nabelschnur« reaktiviert, die den Säugling mit der Mutter verbindet. Die Stimme des verwundeten Soldaten lässt keinen seiner Kameraden kalt; sie ist völlig enthemmt und so eindringlich, dass niemand ihr gleichgültig begegnen kann. Sie provoziert Resonanz, ruft nach einer Entscheidung, zwingt zur Antwort. Vielleicht nehmen die Kameraden die Stimme auch deshalb als unerträglich wahr, weil sie sich ohnmächtig fühlen, zu keiner angemessenen Antwort fähig. Wolfsohn findet schließlich eine Antwort, indem er auf die Berührung durch die Stimme mit einer taktilen Berührung reagiert, die den Kameraden tatsächlich zu beruhigen vermag. Wie bei jedem 19 20

Nach Thomas Macho, vgl. Rosa, Resonanz (s. Anm. 10), 110. »Die von der Stimme gestifteten Resonanzbeziehungen erweisen sich […] als doppelseitig zwischen Leib und ›Seele‹ einerseits und zwischen Subjekt und Welt andererseits aufgespannt, und beide Male treten […] physische und symbolische Resonanzen miteinander in Wechselwirkung« (Rosa, Resonanz [s. Anm. 10], 111). 21 Alfred Wolfsohn, Das Problem der Grenze: ein Beitrag zur Geistesgeschichte unserer Zeit (ca. 1960). Typoskript in der Sammlung Alfred Wolfsohn, Stiftung Jüdisches Museum Berlin (2003/18/184), 14.

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Resonanzverhältnis und im Unterschied zu einer instrumentellen, manipulierenden Beziehung ist die Art der Antwort nicht erzwungen; sie erfolgt nicht mechanisch, sondern auf je eigene Weise. Im zweiten Kriegserlebnis bleibt Wolfsohn die Antwort schuldig: »Es war während des Bewegungskrieges 1917. Wir lagen, wir wussten nicht, wo es war, vergraben an der Front unter stetem Trommelfeuer. Endlich kam die Ablösung. Infolge der Regenstürme waren die Gräben zu Morast geworden und nach einer Weile blieb ich darin stecken. Ich schrie meine Kameraden um Hilfe an, doch keiner hörte und ich blieb allein. Stunde nach Stunde kroch ich, Zentimeter für Zentimeter, zurück. Nach einer gewissen Weile hörte ich, nicht weit von mir entfernt, eine Stimme unaufhörlich wimmern: ›Hilfe, Hilfe, Hilfe.‹ Ein schrecklicher Kampf entspann sich in mir. Sollte ich versuchen, zu dem Hilferufenden zu kriechen oder nicht? Ich unterließ es. Nach einer Agonie von mehr als 20 Stunden fand ich endlich einen Reserveunterstand. Was dann geschah, weiß ich nicht mehr, nur, dass ich später erfuhr, dass ich durch eine Granate verschüttet worden war, und dass ich am nächsten Morgen in dem Keller eines Hauses in St. Quentin unter einem Haufen von Leichen erwachte.«22

Wolfsohn hört den Appell, aber er entscheidet sich, ihm nicht Folge zu leisten, und verweigert die Hilfe. Gewiss gibt es gute Gründe für diese Entscheidung, doch die ausgebliebene Antwort löst in ihm Schuldgefühle aus und beschäftigt ihn lange. Ein der Stimme gewidmetes Leben wird seine Antwort werden. Die Erfahrungen des Ersten Weltkriegs machen aus Wolfsohn einen resonanzfähigen Menschen, der »die Stimme des anderen im eigenen Leib mittönen«23 lässt. Seit er am eigenen Leib erfahren hat, welche Kräfte eine enthemmte Stimme jenseits von Idealen und Konventionen zum Ausdruck bringen und mobilisieren kann, ist er hellhörig geworden für das Resonanzorgan Stimme. V. Die Stimme erheben – Resonanz erzeugen Nach der Rückkehr von der Front ist für Wolfsohn nichts mehr wie vorher. Er hat im Krieg alles verloren: seine Ideale, seine Unschuld, den Glauben an Gott, seine Lebensenergie – und seine Stimme. Es ist kein physisches, sondern ein seelisches Verstummen. Die Gesangslehrer, die er aufsucht, attestieren ihm, er habe eine gute Stimme, ein »schönes Material«,24 doch er selbst hat das Gefühl, nichts mehr zu sagen zu haben, dieser Welt nicht mehr zugehörig zu sein. Nicht nur ist Wolfsohn sensibler geworden 22

Alfred Wolfsohn, Biographie einer Idee (ca. 1956). Typoskript in der Sammlung Alfred Wolfsohn, Stiftung Jüdisches Museum Berlin (2003/18/183), 11. 23 Bernhard Waldenfels, zit. nach Rosa, Resonanz (s. Anm. 10), 111. 24 Alfred Wolfsohn, Orpheus oder Der Weg zu einer Maske (ca. 1936–1938). Typoskript in der Sammlung Alfred Wolfsohn, Stiftung Jüdisches Museum Berlin (2003/18/176), 7.

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für Stimmen anderer, er nimmt auch seine eigene Stimme anders wahr. Wie er sein Leben neu ordnen und mit seinen Schuldgefühlen umgehen muss, so ist er auch gezwungen, das Vertrauen in die eigene Stimme zurückzugewinnen. Beim Singen erfährt er sich in Einklang mit sich und der Welt. Die Möglichkeiten der Stimme möchte er weiter entfalten, weil er darin einen Weg der Heilung zu erkennen glaubt. Er nimmt Gesangsunterricht, doch die Stimmbildungsmethoden befriedigen ihn nicht; er empfindet sie als oberflächlich und zu technisch, als Handhabung der Körperorgane wie Teile einer Maschine. Wolfsohn ist überzeugt, dass im stimmlichen Ausdruck etwas verborgen liegt, das durch Beherrschung des Stimmapparates allein nicht zu entfalten ist. Er will mehr als den schönen Klang. »Was ist das Geheimnis einer Stradivari?« fragt er sich.25 Das Geheimnis ist im Instrument verborgen, und bei der Stimme ist der Mensch das Instrument. Bei der Suche nach der eigenen Stimme geht es also um nichts weniger als um die Suche nach sich selbst und nach den je eigenen Möglichkeiten, mit der Welt mitzuschwingen und Resonanz auszulösen. Eines Tages lädt ein befreundeter Bildhauer26 Wolfsohn ein, eine Lebendmaske von ihm zu machen. Vor der Erfindung der Fotografie war der Gipsabdruck des Gesichtes von Lebenden oder Verstorbenen eine beliebte Möglichkeit, ein Porträt anzufertigen. Wolfsohn macht sich im Vorfeld Gedanken dazu: Wenn wir uns porträtieren lassen, möchten wir uns ins beste Licht rücken. Wir möchten ein bedeutungsvolles Bild von uns selbst abgeben. Wie aber können wir dies erreichen, ohne in eine Pose zu fallen? Wolfsohn erinnert sich an Totenmasken, deren Lebendigkeit ihn beeindruckt haben, und er führt diese Lebendigkeit darauf zurück, dass die Sterbenden im Angesicht des Todes ihre letzten Kräfte bündeln und sich auf das Wesentliche konzentrieren. Um einen solchen wachen Gesichtsausdruck zu erreichen, entschließt er sich, während der Anfertigung der Maske zu singen. Dabei macht er eine tiefgreifende Erfahrung. Rückblickend hält er fest: »Es gibt nicht viele Augenblicke in Deinem Leben, in denen Du so intensiv gelebt hast [...] Und doch habe ich nichts weiter getan als gesungen. Dann aber muss es Wirklichkeit sein, was Dir immer wieder als Vorstellung vorgeschwebt hat: dass nämlich Singen nichts neben dem Leben Laufendes ist, sondern Ausdruck des Lebens selbst, dass Singen nichts neben der Seele Herlaufendes ist, sondern Ausdruck der Seele selbst darstellt.«27

Die Episode mit der Maske ist nicht nur ein Beispiel dafür, wie die Stimme in der Person selbst Resonanz erzeugen kann. Die Maske steht auch für die Außenbeziehung, dafür, wie sich die Person anderen gegenüber darstellt, wie andere sie wahrnehmen. 25 26 27

Ebd. 7. Walter Midener (1912–1998). Wolfsohn, Orpheus (s. Anm. 24), 96.

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Es geht um Fragen wie: Welche Außenwirkung hat die Stimme? Welche Resonanz löst sie in der Welt aus? Wie nehmen andere sie wahr? Das berührt die komplexe Frage nach Authentizität. Diese bildet a priori keinen Gegensatz zu Darstellung und Inszenierung. Jeder Mensch trägt in seinem Leben verschiedene (Stimm-)Masken, je nach der sozialen Rolle, die er spielt. In der Familie, am Arbeitsplatz, in der Öffentlichkeit spricht er mit je unterschiedlicher Stimme. Es gibt nicht die eine authentische Stimme, denn die Stimme ist keine feste Größe; es gibt sie jeweils nur im Moment des Erklingens; sie ist dynamisch und verändert sich dauernd; sie steht immer unter vielfältigen Einflüssen von außen. Hinsichtlich der Außenwirkung der Stimme unterscheidet Wolfsohn zwei Arten von Masken. Es gibt die starre, typisierte Maske, die das Gesicht der Person, die sie trägt, verhüllt. Man trägt sie wie eine Uniform. Wolfsohn bezeichnet sie als Larve in der negativen Bedeutung eines leeren, stereotypen, nichtssagenden Gesichtsausdrucks.28 Eine solche Larve setzt beispielsweise der Tenor auf, der sich im Gesangsvortrag allein darauf konzentriert, das hohe C zu treffen, der also seine Stimme ganz nach den Erwartungen des Publikums ausrichtet.29 Er versteht die Stimme wie ein Instrument, das es zu beherrschen gilt und das er dazu bringt, eine bestimmte Wirkung, in diesem Fall die erwartete Höchstleistung, zu erzielen. Ein Sänger mit Larve hat kein resonantes, sondern ein verdinglichtes Verhältnis zu seiner eigenen Stimme. Wie Wolfsohn an sich selbst und an seinen Schülern beobachten konnte, führt diese Handhabung oder Manipulation der Stimme mit der Zeit zu Stimmstörungen, denn die Stimme lässt sich auf Dauer nicht vollständig unter Kontrolle bringen. Eine Stimmlarve tragen auch jene, die im Zuge des Erwachsenwerdens verinnerlicht haben, den Umfang und das Klangspektrum der Stimme einzuschränken, sie an Gewohnheiten, Muster und Ideale eines gesellschaftlich und kulturell erwarteten und akzeptierten Stimmgebrauchs anzupassen. Der Larve stellt Wolfsohn die Maske in der Art der Lebend- oder Totenmasken gegenüber, die eine bedeutungsvolle, je eigene Momentaufnahme der Person zum Ausdruck bringt. Auch die Stimme kann ein solches Porträt sein. Im Singen unter der Maske war Wolfsohn nicht mit der Darstellung der eigenen Stimme beschäftigt; er sorgte sich nicht darum, wie die Stimme ankommt. Er blieb mit der Wahrnehmung bei sich selbst und war sich doch bewusst, dass die Stimme sich auf die Gestalt der Maske, also nach außen auswirkt. Wolfsohn fasst diese Tatsache in die Formel: »Man muss in sich gehen, um außer sich sein zu können.«30 Er bemerkt, dass Selbstbezug und Außenbezug auf subtile Weise miteinander verknüpft sind, dass der Wunsch nach Selbsterkenntnis mit Selbsthingabe gekoppelt sein muss. Im Zwiegespräch mit seiner Maske sagt er: 28 29 30

Vgl. Wolfsohn, Orpheus (s. Anm. 24) 101. Vgl. ebd. 30. Ebd. 117.

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Josef-Anton Willa »Aber vielleicht ist es Dein letztes Geheimnis, dass selbst Du nicht alles aussagst, sondern mich auf einen neuen Weg führst. Was Du darstellst, ist vielleicht nur ein Teil des ganzen Weges, den man zurückzulegen hat, der Teil, über dem die Worte stehen: Erkenne Dich selbst! Der andere Teil wird beherrscht von dem Imperativ: Liebe Deinen Nächsten wie Dich selbst.«31

VI. Mit der Stimme arbeiten – der Unterricht Alfred Wolfsohn begegnet 1933 in Berlin im Hause des jüdischen Arztes Albert Salomon dessen Ehefrau, der Sängerin Paula Salomon-Lindberg. Sie ist seit Ende der Zwanzigerjahre eine erfolgreiche Sängerin am Zenit ihrer Karriere. Allerdings hat sie den unbestimmten Eindruck, mit ihrer Stimme an eine Grenze zu stoßen. Ähnlich geht es anderen Sängerinnen und Sängern, die zum Teil wegen Stimmproblemen Wolfsohn aufsuchen. Wie Wolfsohn selbst merken sie, dass die Stimme und die Stimmprobleme mit ihrer Person verbunden sind und dass ihnen keine Gesangstechnik weiterhilft. Es kommen aber auch Nichtsänger zu Wolfsohn in den Unterricht, Leute etwa, die im fortgeschrittenen Alter den Wunsch verspüren zu singen. Gemeinsam ist allen, dass sie nicht oder nicht allein die leistungsfähige, erfolgreiche Stimme anstreben. Sie fragen nicht danach, wie sie ihre Sprech- oder Singstimme effektiv einsetzen können. Vielmehr sind sie – wie Wolfsohn selbst und vor dem Hintergrund der Kriegs- oder Nachkriegszeit – auf der Suche nach Erfahrung von Lebendigkeit, von Sinnhaftigkeit, auf der Suche nach Kontakt zu sich selbst und zu einer Welt, in der sie sich nur schwer zurechtfinden. Wohl nicht zuletzt als meist unbewusste Gegenreaktion auf die politische Instrumentalisierung und Manipulation von Stimmen im Nationalsozialismus und Faschismus suchen sie nach einer neuen, anderen Wahrnehmung, nach Stimmen, die nicht nur schön, brillant, großartig klingen, sondern in denen auch das Schwache, das Brüchige, das Verletzliche und Verletzte aufscheint, Stimmen, die auch mal versagen, aber die gerade dadurch berühren. Für Wolfsohn ist die Stimme nicht beherrschbar, es bleibt immer ein unverfügbarer Anteil. Er sieht in ihr eher eine Partnerin, die der Person etwas von sich selbst hör- und spürbar macht. In der Stimme klingt mehr an, als derjenige beabsichtigt, der sich äußert; sie führt ein gewisses Eigenleben. Eine Stimmbildung, die dies nicht berücksichtigt, führt darum seines Erachtens zu Stimmstörungen. Entsprechend dient der Unterricht nicht dazu, sich die Stimme gefügig zu machen, nicht die Stimmtechnik steht im Vordergrund, sondern das Geben und Nehmen zwischen Lehrer und Schüler, das gegenseitige aufmerksame Hinhören. Der Unterricht basiert nicht auf einer bestimmten Methode – Stimmbildungsmethoden waren Wolfsohn grundsätzlich ver31

Ebd. 103.

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hasst –, sondern in erster Linie auf der charismatischen Persönlichkeit Wolfsohns und seiner Sensibilität für Stimmen. Wolfsohn sieht seine Rolle als Lehrer darin, das Selbstbewusstsein der Schülerinnen und Schüler und das Vertrauen in ihre – nicht nur stimmlichen – Möglichkeiten zu stärken: »Ich muss mit den Menschen, die ich etwas lehren will, kämpfen. Ihr Haupteinwand, den sie mir entgegenhalten, lautet: ›Aber Sie müssen mich nehmen, wie ich nun einmal bin‹ […] Was ich ihnen sagen muss, ist, dass sie mich nicht irre darin machen können, sie für reicher zu halten als sie selbst es annehmen.«32

Mit der Stimmarbeit versucht Wolfsohn, die Grenzen dessen zu überschreiten, was damals auf dem Gebiet der Gesangspädagogik als normal galt, etwa die Einteilung in Gesangsregister oder die geglättete reine Kunststimme. Er will aber auch die Grenzen dessen erweitern, was an Stimmklängen und Stimmpraktiken in der Gesellschaft erlaubt und erwünscht ist. Eine psychologische Grenze, die es zu überwinden gilt, ist jene nach dem, was unmöglich erscheint, weil man es nicht kennt und sich nicht zutraut. Wolfsohn ermutigt seine Schüler darin, »der eigenen Stimme, so wie sie sich gerade zeigt, ohne vorauseilende Bewertung zuzuhören«33 und das Potential ihrer Stimme auszuschöpfen, indem sie den im Alltag beschränkten Klangbereich der Stimme ausweiten. Eine Schülerin berichtet über den Unterricht: »Es war zunächst ein Quieken und ein Quetschen, ein Schreien und ein Piepsen. Und aus dem bildete sich eine andere Art von Schönheit, die des gewagten Ausdrucks.«34 Wolfsohns unkonventioneller Umgang mit der Stimme hat die Persönlichkeitsentfaltung, die Selbsterkenntnis im Blick. Ihr Ziel besteht darin, die Stimme zu entlarven; der Sänger, die Sängerin soll über die Stimme sich selbst auf die Spur kommen. Letztlich geht es um Beziehungsarbeit, um das Aufgeben von Idealvorstellungen, eigenen Gewohnheiten und Mustern, damit die Stimme ausdrucksfähiger, flexibler und authentischer wird. Allerdings ist Wolfsohn der Überzeugung, dass dieses Ziel durch eigenes »persönliches Streben und Wollen« allein nicht erreicht wird. Die Entwicklung der Persönlichkeit bleibt als »langsamer Wachstumsprozess« dem willentlichen Zugriff entzogen und letztlich in den Worten Wolfsohns, Gnade, ein »Geschenk des Himmels«.35 Die Stimmarbeit, das wiederholte, achtsame Üben, kann dazu nur den Boden bereiten. 32 33

Zit. nach Ralph Peters, Kleines Stimmbuch für alle. Ein Notizbuch, Köln 2014, 5. Ralph Peters, Wege zur Stimme. Reisen ins menschliche Stimmfeld, Köln 2008, 184. 34 Marita Güntert, Alfred Wolfsohn und sein Werk (1986). Typoskript in der Sammlung Alfred Wolfsohn, Stiftung Jüdisches Museum Berlin (2003/18/193), 5. 35 Wolfsohn, Grenze (s. Anm. 21), 8.

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VII. Mensch werden – die Idee der »allgemein(en) menschlichen Stimme« Das Leben hat Alfred Wolfsohn gelehrt, von Stimmidealen, von der Bewertung und Kategorisierung der Stimmen abzusehen und stattdessen in der Stimme den einzelnen Menschen zu hören, seine Einmaligkeit, Vielschichtigkeit und Widersprüchlichkeit, seine Grenzen und Möglichkeiten, seine Geschichte wie sein augenblickliches In-der-Welt sein und schließlich seine Lebensaufgabe, die darin besteht, Ebenbild Gottes zu werden – oder wie es Wolfsohn formuliert – »Ebenstimme Gottes«.36 Was Wolfsohn interessiert, ist die »allgemein(e) menschliche Stimme«. Er bezeichnet damit nicht das Ideal einer entwickelten, möglichst viele Klangfarben umfassenden Stimme, sondern die Wahrnehmung der Stimme als ein menschliches Gut, als »wichtigsten Ausdruck des Menschlichen«.37 Die Stimme ist allgemein menschlich, insofern sie den Menschen aussagt, auf seine leiblich-personale Präsenz verweist. Der Bezeichnung »allgemein(e) menschliche Stimme« liegt eine spezifische Auffassung dessen zugrunde, was Stimme ist oder sein kann, die Vorstellung, dass die Stimme – in den Worten des Philosophen und Stimmlehrers Ralph Peters – nicht nur ein »ästhetisch interessantes Phänomen« darstellt, sondern »in existentieller Weise auf den Menschen verweist«.38 Es geht um die (zwischen-)menschliche Dimension der Stimme, um deren Beziehungs- und Resonanzqualität. Wolfsohn ist davon überzeugt, dass die Stimme den Menschen jenseits ihrer Zugehörigkeit zu einem Volk, einer Sprache und Kultur, einer Weltanschauung oder sexuellen Orientierung eigen ist und darum als Grundlage dienen kann, Beziehung über diese Kategorisierungen hinaus zu stiften. Als Kind wurde er gefragt, was er einmal werden wolle, und seine spontane Antwort war: ein Mensch. Später wird er darin sein Lebensprogramm erkennen. Mensch zu werden bedeutet für ihn, die Licht- und Schattenseiten im Menschen miteinander zu versöhnen, die Persönlichkeitsspaltung zu überwinden, ein ganzer Mensch zu werden. Die Stimme verstand er als Ausdruck des ganzen Menschen und ihre Kultivierung als Beitrag dazu.39 VIII. Mit Stimme beten – Ausklang Durch dramatische existentielle Erfahrungen ist Alfred Wolfsohn auf eine Dimension der Stimme gestoßen, die im alltäglichen Gebrauch ebenso 36 37 38 39

Wolfsohn, Orpheus (s. Anm. 24), 96. Wolfsohn, Grenze (s. Anm. 21), 14. Peters, Wege (s. Anm. 33), 63. Vgl. Wolfsohn, Biographie (s. Anm. 22), 4–7.

Die (Gebets-)Stimme als Resonanzorgan

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wenig Beachtung findet wie in der Theorie und Praxis des Gebets: auf die Stimme als Resonanzorgan, das nicht bloß instrumentelle, funktionale, sondern »warme«, lebensstiftende Beziehungen dar- und herstellt. Das ist für den Gebetsprozess relevant, denn dieser lebt von resonanten Beziehungen. Wer betet, reagiert lobend, dankend, bittend oder klagend auf eine Resonanzerfahrung. Er erwartet nicht zwingend eine unmittelbare Antwort, hofft aber in jedem Fall auf Resonanz. Er möchte in seiner Sehnsucht, in seinem Menschsein mit allen Höhen und Tiefen wahr- und ernstgenommen, gehört, erkannt werden. Ebenso hofft er, dass sein Gebet etwas bewirkt, dass es Frucht bringt und zum Segen gereicht, wobei er weiß, dass er dies nicht aus sich selbst heraus – auch nicht durch intensive Gebetspraxis – auslösen kann. Das Gebet soll etwas, oder besser: jemanden erreichen. Wenn Stimme nicht nur physikalisch-akustisch mit Resonanz gekoppelt ist, sondern im Leiblichen auch das Geistig-Seelische beeinflusst wird, wie die Erfahrungen von Wolfsohn zeigen, dann ist die Gebetsstimme nicht ohne Auswirkung auf den Gebetsprozess als Ganzen und auf die im Beten zum Ausdruck gebrachten und gestifteten Beziehungen. Wer stimmhaft betet – ob allein oder in Gemeinschaft –, macht die Erfahrung des Hörens und Gehörtwerdens, er oder sie erlebt Austausch am eigenen Leib: nach innen (mit sich selbst und innerhalb der betenden Gemeinschaft) ebenso wie nach außen (mit dem ihn umgebenden Raum, mit Unbeteiligten, mit der Außenwelt). Im stimmhaften Gebet ist die betende Person anwesend. Die Stimme gibt dem Gebet Körper und Präsenz; sie inkarniert das Gebetswort. Wer stimmhaft betet, erfährt sich existent, macht eine existentielle Erfahrung im eigentlichen Sinn des Wortes. Resonanz im Gebet lässt sich nicht erzwingen, sie bleibt Geschenk des Augenblicks. Wolfsohn selbst hat die Entfaltung und Befreiung der Stimme als einen Moment der Gnade verstanden. Die Stimmarbeit kann dazu nur vorbereiten. Resonanz im Gebet wird dadurch begünstigt, dass die Beterinnen und Beter lernen, mit eigener Stimme zu beten. Das Produzieren von auffallenden, originellen oder gar exzentrischen Stimmlauten ist dabei nicht das Ziel. Vielmehr geht es zunächst darum, die vorherrschenden, meist unbewusst angelegten Stimmideale, -konventionen und -muster in Kirchen und Gebetsgemeinschaften zu erkennen und zu hinterfragen. Wie lässt sich die einst vorhandene Vielfalt der Gebetsstimmen wiedergewinnen? Kommen die Beterinnen und Beter beispielsweise dem (biblischen) Aufruf zum Jubeln, Klagen oder Seufzen auch tatsächlich mit ihren Stimmen nach? Was können Improvisation, Imitation oder Heterophonie40 zum Gebet als Beziehungsgeschehen bei40

Mit Heterophonie werden Formen gemeinsamen vokalen oder instrumentalen Musizierens bezeichnet, die in einem bestimmten festgelegten Rahmen den einzelnen Instrumenten bzw. Stimmen mehr oder weniger große Gestaltungsfreiräume (z. B. durch Improvisation oder Verzierungen) lassen. Formen heterophonen Gebetes wer-

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tragen? Und schließlich: Wie weit können die Beterinnen und Beter zulassen, dass ein gewagter Stimmausdruck möglicherweise heftige, unkontrollierbare Resonanzen auslöst? Des Weiteren ist zu fragen: Wissen jene, die in der Gemeinschaft vorbeten, um die Möglichkeit der (Selbst-)Täuschung oder gar Manipulation durch die Stimme? Achten sie auf eine richtig verstandene Authentizität im Stimmausdruck?41 Vermeiden sie einen stereotypen Stimmvortrag? Finden sie in ihrer Gebetsstimme die Balance zwischen Subjektivität und Objektivität, zwischen übertriebener Emphase und unbeteiligtem Persolvieren? Solche Fragen sind nicht nur gebets-»technischer« Natur, sondern haben gebetstheologische Relevanz. Denn Gottesbeziehung ereignet sich durch menschliche Beziehungen und in weltlichen Resonanzen. Der Philosoph Hans Jonas hat die paradoxe Aussage geprägt: Der Mensch hört Gottes Wort in dem Moment, da er darauf antwortet.42 Christologisch ausgedrückt: Seit in Jesus Christus Gott eine menschliche Stimme angenommen hat, ist die menschliche Stimme in ihrer Lebendigkeit, Abgründigkeit, Einmaligkeit und Unverfügbarkeit zu einem Ort der Gottesbegegnung geworden. Der betende Mensch hört Gottes Stimme in den Stimmen der Menschen, die zu Gott beten. Indem er sich hörend von den Gebetstimmen formen lässt, verwirklicht er seine Bestimmung, »Ebenstimme Gottes« zu sein.

den etwa im osteuropäischen Judentum praktiziert; vgl. Judit Frigyesi, The Sound of the Synagogue: Magic and Transcendence, in: Paragrana 16 (2007), 151–163. Das gemeinsame Beten des Vaterunsers in verschiedenen Sprachen ist zumindest ansatzweise eine Form von Heterophonie. 41 Vgl. hierzu: Helmut Geissner, Identität und Imitation, in: Martin Peier (Hrsg.), Beim Wort genommen. Kommunikation in Gottesdienst und Medien, Zürich 2007, 225–237. 42 Vgl. Tomás Halík, Nicht ohne Hoffnung. Glaube im postoptimistischen Zeitalter, Freiburg i. Br. 2014, 146, 153.

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Von der Stimmlichkeit des Betens1

Im Horizont des übergreifenden Themas des vorliegenden Bandes erkundet dieser Beitrag die Sinnlichkeit des Betens am Beispiel der Stimme. In einem ersten Schritt rekapituliere ich mit Blick auf die christliche Gebetspraxis die Diskussion um die von Karl Jaspers und anderen konstatierten Vergeistigungs- und Verinnerlichungstendenzen, die in der abendländischen Tradition spätestens seit dem 5. Jahrhundert v. Chr. bemerkbar sind. Um die Bedeutung, die den Sinnen für das Gebet zukommt, deutlicher herausarbeiten zu können, wird in einem zweiten Schritt vorgeschlagen, das Gebet auch als Wahrnehmungsvollzug zu begreifen. Um dies in Fokussierung auf die Stimmlichkeit des Betens weiter vertiefen zu können, wende ich mich in einem Zwischenschritt philosophischen Versuchen zu, sich dem Phänomen der Stimme anzunähern. Der gebetstheologische Ertrag dieser Erkundungen wird im letzten Abschnitt eingeholt. Der Sinn der Stimmlichkeit des Betens, so soll gezeigt werden, liegt in seinen vielgestaltigen medialen Möglichkeiten. Der näheren Erkundung eröffnet sich ein Spektrum, das von der mitunter sakramentalen Qualität der Gebetsstimme bis zu Wirkungen instrumenteller Art reicht. I. Abendländische Entsinnlichungstendenzen Die ambivalente Haltung gegenüber der Sinnlichkeit, welche die abendländische Geistes- und Spiritualitätsgeschichte über weite Strecken kennzeichnete, entspringt einem kulturgeschichtlichen Umbruch, der mit Karl Jaspers als achsenzeitliche Wende beschrieben werden kann. Ein wesentliches Kennzeichen dieses tiefgreifenden kulturellen Transformationsprozesses, der vor rund 2500 Jahren die bis heute bestimmenden Formen von Religion und Philosophie in den Grundzügen hervorbrachte, ist nach Jaspers ein Prozess der »Vergeistigung«.2 Zu dieser als Befreiung erlebten 1

Der vorliegende Beitrag wurde in einer englischsprachigen Fassung erstmals publiziert unter dem Titel »Accende lumen sensibus«. On the Vocality and Sensuality of Prayer, in: Rebecca A. Giselbrecht / Ralph Kunz (Hrsg.), Sacrality and Materiality. Locating Intersections, Göttingen/Bristol 2016, 101–120. Für die vorliegende Publikation wurde der Beitrag überarbeitet und aktualisiert. 2 Vgl. Karl Jaspers, Vom Ursprung und Ziel der Geschichte, München 1983 (Erstausgabe: Frankfurt a. M. / Hamburg 1955), 21. Zur jüngeren Diskussion vgl. Robert

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Selbst- und Weltdistanzierung gehörte die Abkehr von Leib und Sinnen – die Wende nach innen. Zu ihr gehört auch das metaphysische Vorurteil, dass der Geist stimmlos und umso reiner sei, als er sich nicht selbst zeigt.3 Demgegenüber steht heute die Einsicht, dass es nicht zuletzt die Herausbildung eines neuen Schriftgebrauchs war, was die achsenzeitliche Transformation bewirkte oder zumindest ermöglichte.4 Die starke Differenz zwischen Materie und Geist, die abendländisches Denken bis heute prägt, konnte nur mittels des sinnlich-materiellen Mediums der Schrift gemacht werden, das in seiner unparteilichen »Stummheit« eine radikale Distanz zu sich selbst, zu gegenwärtigen Institutionen und der Autorität des Überlieferten erlaubte. Wenn man Jaspers’ »Vergeistigung« im Sinne von »Verinnerlichung« versteht, lässt sie sich in unterschiedlicher Weise sowohl für Israel wie für Griechenland belegen. Hier wie dort zeigt sich dies in einer neuen Bedeutung von Texten für die kulturell-religiöse Identität und in einem neuen Umgang mit ihnen. Tritt in Israel zunehmend das »portable Heiligtum« der Heiligen Schrift an die Stelle des Tempels5 und die murmelnde Psalmenmeditation an die Stelle des Opferkults,6 so wird in Griechenland die leiblich und sinnlich vollzogene Kontemplation (theoria), wie sie für Mysterienkulte noch in axialer Zeit charakteristisch bleibt, durch eine philosophische »Schau« überboten, die sich radikal von der Sinnenwelt abkehrt, um sich der intelligiblen Welt zuzuwenden.7 In der griechischen »Erfindung des stillen Lesens«, in der die Stimme interN. Bellah / Hans Joas (Hrsg.), The Axial Age and Its Consequences, Cambridge MA / London 2012. 3 Vgl. Jean-Louis Chrétien, Das verwundete Wort. Phänomenologie des Gebets, in: Ingolf U. Dalferth / S. Peng-Keller (Hrsg.), Beten als verleiblichtes Verstehen. Neue Zugänge zu einer Hermeneutik des Gebets, Freiburg i. Br. 2016, 50–82, hier: 55. 4 Vgl. Jan Assmann, Cultural Memory and the Myth of the Axial Age, in: Bellah/Joas (Hrsg.), Axial Age (s. Anm. 2), 365–407. 5 Nach Jan Assmann (ders., Cultural Memory and the Myth of the Axial Age, in: Bellah/Joas, Axial Age [s. Anm. 2], 365–407, hier: 394) fungieren kanonisierte religiöse Schriften als »a new transethnical homeland«; »[...] they are treated like verbal temples enshrining divine presence« (ebd. 392). 6 So dürfte z. B. Ps 34,9 (»Kostet und seht, wie gütig der Herr ist«) zunächst auf das liturgische Mahl bezogen sein, vgl. Peter Altmann, Making the Meal Sacred in the Old Testament. Complexities and Possibilities for Christian Appropriation, in: Giselbrecht/ Kunz (Hrsg.), Sacrality (s. Anm. 1), 123–135; ders., Festive meals in ancient Israel. Deuteronomy’s identity politics in their ancient Near Eastern context, Berlin 2011. Im Gesamtkontext des Psalters bekommt diese Aussage eine metaphorische Qualität. Mit Blick auf Ps 27 spricht Erich Zenger von einer »Metaphorisierung der Tempeltheologie«: »Im und mit dem Rezitieren des Psalms ruft der Beter die Gotteswirklichkeit herbei, die ›eigentlich‹ im und vom Tempel erwartet wird« (ders., Der Psalter als Heiligtum, in: Beate Ego / Armin Lange / Peter Pilhofer, in Zus.arbeit mit Kathrin Ehlers [Hrsg.], Gemeinde ohne Tempel. Zur Substituierung und Transformation des Jerusalemer Tempels und seines Kults im Alten Testament, antiken Judentum und frühen Christentum, Tübingen 1999, 115–130, hier: 121). 7 Vgl. Andrea Wilson Nightingale, Spectacles of Truth in Classical Greek Philosophy. Theoria in its Cultural Context, Cambridge 2004.

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nalisiert und vergeistigt wird,8 bereitet sich im 5. Jahrhundert v. Chr. jene Wende nach innen vor, die wenig später von Platon auf philosophischer Ebene mit aller Entschiedenheit vollzogen wird.9 Dass die sich in der christlichen Tradition fortsetzende Tendenz zur Verinnerlichung auch mit der ethischen Ambivalenz der Sinnlichkeit zu tun haben, zeigt sich an der Gebetslehre Jesu. Die Einkehr, zu der sie anleitet (»Wenn du betest, geh in deine Kammer und schließ die Tür zu«10 etc.), wird nicht allein theologisch (Gott wohnt im Verborgenen und sieht das Verborgene), sondern auch ethisch begründet. Öffentliches Beten kann zu einer vorgespielten und selbstbezogenen Gebetspraxis verleiten. In ihrer Kritik zerstreuender Extraversion trifft sich die Verkündigung Jesu mit dem Ethos der philosophischen Schulen der Antike. Die axiale Wende nach Innen wäre jedoch unzureichend erfasst, würde man sie alleine als »Vergeistigung« beschreiben. Denn zum einen bedeutet Verinnerlichung nicht unbedingt auch eine Entsinnlichung. Nicht nur der sinnenfreudige Opferkult, sondern auch das murmelnde Beten und Meditieren ist ein leib-sinnlicher Vollzug. Zum andern ist die Ausblendung der sinnlichen Wahrnehmung näher betrachtet selbst ein sinnlicher Vollzug. Sie folgt einem paradoxen Gesetz, das Matthias Jung mit Blick auf die achsenzeitliche Wende prägnant formuliert: »Symbol-users can escape embodiment only by reasserting it.«11 Dennoch: Verdichtet sich die achsenzeitliche Wende nach Innen nicht in der Einsicht, dass es verinnerlichte Formen des Betens gibt, bei denen eine mentale Vergegenwärtigung von Gottes Wirklichkeit an die Stelle ausgesprochener Gebetsworte tritt? Oder historisch konkreter gefragt: Ist frühchristliche Schriftmeditation im Vergleich zur frühjüdischen Meditations- und Gebetspraxis nicht als »vergeistigter« zu beschreiben? Die historischen Quellen zur faktischen Praxis frühchristlichen Betens sind spärlich und erlauben keine eindeutigen Antworten. Orientiert man sich am paulinischen Briefkorpus, dem wohl verlässlichsten Zeugnis für frühchristliche Spiritualität, so ist auch das Beten »im Geist« nicht etwas »rein 8

Vgl. Jesper Svenbro, Archaisches und klassisches Griechenland: Die Erfindung des stillen Lesens, in: Roger Chartier / Guglielmo Cavallo (Hrsg.), Die Welt des Lesens. Von der Schriftrolle zum Bildschirm, Frankfurt a. M. / New York 1999, 59–96; ders., Stilles Lesen und die Internalisierung der Stimme im alten Griechenland, in: Friedrich Kittler / Thomas Macho / Sigrid Weigel (Hrsg.), Zwischen Rauschen und Offenbarung. Zur Kultur- und Mediengeschichte der Stimme, Berlin 2002, 55–71. 9 Vgl. Svenbro, Griechenland (s. Anm. 8), 67: »Die ›Stimme des Gewissens‹, oder genauer des daimonion, welches mit Sokrates (Platon, Apologie, 31d usw.) assoziiert wird, ist ohne Zweifel emblematisch für diese Verinnerlichung – die sich genau in dem Jahrhundert vollzieht, das uns den ersten unbestreitbaren Beweis für stilles Lesen liefert, nämlich die Verinnerlichung der Stimme des Lesers, der von nun an in der Lage ist, ›in seinem Kopf zu lesen‹.« 10 Mt 6,6. 11 Matthias Jung, Embodiment, Transcendence, and Contigency. Anthropological Features of the Axial Age, in: Bellah/Joas, Axial Age (s. Anm. 2), 77–101, hier: 99.

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Geistiges«, sondern ein von Gottes Geist inspiriertes, vokal sich vollziehendes und insofern leibsinnliches Geschehen (1Kor 14,15f.). Ob die frühen Christen in ihrem betenden Umgang mit der Heiligen Schrift die gelesenen Worte nur in ihrem Herzen bewegt haben (Lk 2,19.51) und nicht auch, wie im frühen Judentum üblich, vor sich her und in sich hinein gemurmelt haben, ist zumindest unklar. Historisch gesichert ist: Spätestens im 4. Jahrhundert entwickeln sich innerhalb des frühen Mönchtums, also ausgerechnet im Kontext einer asketischen Bewegung, Formen meditativen Betens, die dem leiblich-sinnlichen Vollzug große Bedeutung zumessen.12 Zugleich bildet sich im Rahmen dieser frühmonastischen Bewegung ein kontemplatives Gebetsideal aus, das in einer transverbalen Vergegenwärtigung der Gegenwart Gottes »im Intellekt« die höchste Form christlichen Betens sieht.13 Allerdings bleibt der kontemplative Überstieg über sinnengebundene Vermittlungsformen nicht nur an diese zurückgebunden, sondern auch von diesen durchwirkt. Denn die »inneren Sinne«, die im Anschluss an Origenes zum festen spiritualitätstheologischen Interpretament werden, liegen nicht jenseits der körperlichen Welt. Mit den Affekten, die sich in ihnen artikulieren, bleibt die Leiblichkeit auch dort noch im Spiel, wo sie im Schwinden der Sinne aus dem Bewusstsein der Betenden verschwindet.14 Orientiert man sich an der faktischen Gebetspraxis, soweit sie durch die vorhandenen Texte erschließbar ist, erscheint christliches Beten durch alle Jahrhunderte hindurch als ein eminent sinnlicher Vollzug. Dass bis ins 20. Jahrhundert gebetstheologisch kaum über den Sinn der Sinne nachgedacht wurde, ist zwar merkwürdig, lässt sich jedoch theologiegeschichtlich einfach erklären. In weitaus höherem Maße als die faktische Gebetspraxis war die christliche Theologie durch die achsenzeitliche Tendenz geprägt, der Leiblichkeit alle negativ bewerteten Qualitäten menschlichen Daseins zuzuschreiben – Endlichkeit, Fehlbarkeit und Verführbarkeit –, dem Geiste hingegen alles Erstrebenswerte: Freiheit, Objektivität und Klarheit. Die eigentümliche theologische Blindheit für die positive Bedeutung der Sinne und des Leibes dürfte jedoch auch mit dem Sachproblem zu tun haben, dass das Nächstliegende nicht selten das Verborgenste ist und das Selbstverständliche sich dem erkennenden Zugriff am hartnäckigsten entzieht. So konnte es dazu kommen, dass auch die bedeutendsten Theologen als Theologen übersahen, was sie als Beter täglich vollzogen und erlebten: die intrikate Verschränkung von sinnlichem Erleben und geistigem Erkennen. 12 13

Vgl. das Cassian-Zitat am Ende des Beitrags. Vgl. Gabriel Bunge, Das Geistgebet bei Evagrios, Das Geistgebet: Studien zum Traktat De Oratione des Evagrios Pontikos, Köln 1987. 14 Vgl. Niklaus Largier, Die Applikation der Sinne. Mittelalterliche Ästhetik als Phänomenologie rhetorischer Effekte, in: Manuel Braun / Christopher J. Young (Hrsg.), Das fremde Schöne. Dimensionen des Ästhetischen in der Literatur des Mittelalters, Berlin / New York 2007, 43–60.

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II. Passivisch-rezeptive Dimensionen des Gebets Neben der axialen Tendenz zur Entsinnlichung leidet die christliche Gebetslehre unter einer ebenso einseitigen wie selten befragten handlungslogischen Engführung.15 Im Verbund mit einem mentalistischen Verständnis des Geistes (als einem übermateriellen Medium in einer privaten Innerlichkeit, die vom sozialen, praktischen und sprachlichen Außen gleichsam ontologisch getrennt ist16) trug sie das Ihre dazu bei, dass die Bedeutung der Sinnlichkeit des Betens nur marginal ins theologische Bewusstsein dringen konnte. Gewiss: Es ist nicht zu bezweifeln, dass das Gebet Handlungen umfasst. Doch fragt sich, ob die Terminologie des Handelns dazu taugt, den faktischen Vollzug christlichen Betens theologisch hinreichend zu beschreiben. Sowohl in pneumatologischer als auch in phänomenologischer Perspektive zeigen sich passivisch-rezeptive Aspekte, die in der bisherigen Gebetstheologie meist wenig gewichtet wurden.17 Um der Sinnlichkeit des Betens Geltung zu verschaffen, ist es unumgänglich, sie genauer zu bestimmen. In pneumatologischer Hinsicht lässt sich das Gebet als ein von Gottes Geist erweckter und durchwirkter Vollzug beschreiben.18 In paulinischer Sprache: Christliches Beten entspringt Gottes Selbstvergegenwärtigung, dem Seufzen von Gottes Geist in der Tiefe des menschlichen Geistes, dem pneumatischen Abba-Ruf im Herzen des Menschen (Röm 8,15.26f.). Als ereignishafte Öffnung für die Wirklichkeit Gottes entspringt das Gebet nicht menschlicher Initiative, sondern geht auf göttliche Inspiration zurück und bleibt auf sie angewiesen. Der im Innersten des Menschen wirksame göttliche Geist weckt alle Aktionen und Passionen, die dem Ereignis des Gebets seine besondere Gestalt gegeben. Christliches Beten ist so gesehen leidenschaftliches Nach- und Mitbeten, responsive Einstimmung in ein Gebet des Geistes, das bereits vor allem persönlichen Tun Wirklichkeit ist. Das mag in kunstvoll ausgestalteten Formen wie dem Pfingsthymnus geschehen oder in pathischer Kommunikation, die fast ohne Worte auskommt. »Ach, ja!«, so lautet nach Karl Barth die Urform des Betens, die alles enthalte und zu der alles Beten wieder zurück15

Ansatzpunkte zu dem hier umrissenen Gebetsverständnis finden sich bereits in: Simon Peng-Keller, Einführung in die Theologie der Spiritualität, Darmstadt 2010, 94ff. 16 Vgl. Fergus Kerr, Theology after Wittgenstein. Oxford 1986, 171–173. Ich danke Andreas Hunziker für diesen Hinweis. Zur Problematik einer mentalistisch verstandenen Innerlichkeit vgl. John Swinton in diesem Band. 17 Vgl. Simon Peng-Keller, Gebet als sinnliches Sinnereignis. Annäherungen an die Leiblichkeit des Verstehens im Gebet, in: Dalferth / Peng-Keller (Hrsg.), Beten (s. Anm. 3), Freiburg i. Br. 2016, 25–49, hier: besonders: 26–36. 18 Man könnte dies als die basale Passivität des Gebets bezeichnen. Zur Unterscheidung zwischen basaler und korrelativer Passivität vgl. Philipp Stoellger, Passivität aus Passion. Zur Problemgeschichte einer ›categoria non grata‹, Tübingen 2010, 326.

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kehren müsse.19 Ein solches Stoßgebet ist, wie alle pathische Kommunikation, eminent leiblich, affektiv und sinnlich. In ein wortloses oder wortarmes Aufseufzen zu Gott hin kann alles eingehen, was Menschen auf dem Herzen liegt, was ihnen durch Mark und Bein geht. So leise es auch gesprochen werden mag: Es ist bedeutsam, dass es sich verleiblicht und zum sinnlich erlebbaren Ausdruck wird. Beten ist ein Ausdrucksereignis, das uns sinnlich-affektiv involviert. Die Erhebung des Herzens zu Gott geschieht nicht aus eigener Kraft und Initiative. Wir sind darin nicht allein als Handelnde beteiligt, sondern ebenso als zur Antwort Befreite und unter Gebetsnot Leidende, als leibsinnlich erlebende und in einer Gebetsgemeinschaft und -tradition stehende Menschen. Versucht man, die Ereignishaftigkeit des Gebets20 aus christologischer und ekklesiologischer Perspektive näher zu bestimmen, tritt seine Responsivität noch deutlicher hervor. Christliches Beten antwortet auf das Gebet Christi und, in anderer Weise, auf das Gebet der Kirche. Oder aus anderer Perspektive beschrieben: Es ist das Gebet des erhöhten Christus in seinen Gliedern. Was im christlichen Hauptgebet ausdrücklich wird, dass es auf die Gebetseinladung Jesu antwortet, gilt für christliches Beten überhaupt. Den Pfingsthymnus anzustimmen bedeutet, in ein Gebet einzustimmen, das dem jeweiligen Beten vorausgeht und es auch dort noch trägt, wo es an den Grenzen des Aussagbaren verstummt. Diese christologisch und ekklesiologisch zu beschreibende Responsivität christlichen Betens wird von einer vielschichtigen Registratur der Sinne getragen. Gebet ist die sinnlich-leibliche Antwort auf etwas, was einem auf sinnliche Weise begegnet und nach und nach vertraut wird: ein Wort, das die Betenden in Kontexten erreicht, in die sie kinästhetisch und synästhetisch involviert sind. Das muss weder ein mehrstimmiger Choral noch ein lateinisches Pontifikalamt mit Weihrauch, Kerzen, harten Kirchenbänken und süßem Messwein sein. Auch die zittrige Stimme der Großmutter kann zum sinnlichen Medium betender Kommunikation und Kommunion werden: ihre schwache Hand, mit der sie ihren Enkeln segnend ein Kreuz auf die Stirn zeichnet in einem Haus, das nach dem Holz alter Möbel riecht. Was sich als frühste Gebetserfahrung einprägt, kann das Beten auch dort noch begleiten, wo sie der bewussten Erinnerung entzogen ist. Achtet man auf die passivischen Dimensionen des Betens, so tritt seine Sinnlichkeit neu und vielfältig ins Licht. Das soll durch eine Fokussierung auf das Phänomen der Stimme weiter vertieft werden.21

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Nach Kurt Marti, Gott im Diesseits. Versuche zu verstehen, Stuttgart 2005, 15. Vgl. Bernhard Casper, Das Ereignis des Betens. Grundlinien einer Hermeneutik des religiösen Geschehens, Freiburg i. Br. / München 1998. 21 Zu weiteren Aspekten vgl. Peng-Keller, Gebet als sinnliches Sinnereignis (s. Anm. 13).

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III. Phänomenologische Annäherungen an Stimme und Gehör22 Um den Weg nachzuzeichnen, auf dem die Stimme zum ernsthaften Gegenstand philosophischen Nachdenkens geworden ist, müsste man auf die Sprachphilosophien Herders, Hamanns und Humboldts zurückgehen. Bereits Hamann forderte, man müsse die Sprache »mit allen Muttermälern der Sinnlichkeit«23 wahrnehmen, wie sie sich besonders in den Stimmlauten zeigen. Für den vorliegenden Zusammenhang genügt es, auf einige Aspekte der jüngeren philosophischen Diskussion hinzuweisen. In Auseinandersetzung mit dem lingustic turn, der sich in der Philosophie des 20. Jahrhunderts vollzog, vermerkt Sybille Krämer, dass dieser nicht zuletzt auf der Prämisse beruhe, die Stimme sei gemeinsam mit der Schrift dem Feld des Diskursiven zuzuordnen und vom Ikonischen abzugrenzen.24 Das Sagen, das sich in Sprache und Schrift ereignet, hebe sich deutlich vom Zeigen ab. Die Sprachphilosophie des vergangenen Jahrhunderts stehe im Bannkreis einer »Zwei-Welten-Ontologie«, die sich der »ersten« griechischen Aufklärung ebenso viel verdanke wie der »zweiten« neuzeitlichen.25 So gegensätzliche Sprachtheorien wie die generative Grammatik Chomskys und die Sprechakttheorie von Searle oder Habermas treffen sich, zumindest nach Krämers Einschätzung, sowohl in der Idealisierung der Sprache und der Betonung ihrer Regelhaftigkeit als auch darin, dass ihnen ein Sinn für den Eigensinn des konkreten Sprachgebrauchs, für die verkörperte Stimme fehlt. Ihr Nachdenken über das Phänomen der Stimme versteht Krämer als Versuch, solche Zuordnungen zu problematisieren und dadurch den sinnlichen Eigensinn der Stimme neu zu gewinnen. Leiten lässt sie sich vom Gedanken, dass das Spannungsverhältnis von Sagen und Zeigen in 22

Vgl. zum Folgenden auch Daniel Schicking, Hören und Klang. Empirisch phänomenologische Untersuchungen, Würzburg 2003. 23 Johann Georg Hamann, Schriften zur Sprache, hrsg. v. Josef Simon, Frankfurt a. M. 1967, 204. 24 Sybille Krämer, Die Heterogenität der Stimme oder: Was folgt aus Friedrich Nietzsches Idee, dass die Lautsprache hervorgeht aus der Verschmelzung von Bild und Musik?, in: Alfred Messerli / Hans-Georg Pott / Waltraud Wiethölter, Stimme und Schrift. Zur Geschichte und Systematik sekundärer Oralität, München 2008, 57–74; dies., Die ›Rehabilitierung der Stimme‹. Über die Oralität hinaus, in: Doris Kolesch / Sybille Krämer (Hrsg.), Stimme. Annäherung an ein Phänomen, Frankfurt a. M. 2006, 269–295; dies., Sprache – Stimme – Schrift. Sieben Gedanken über Performativität als Medialität, in: Uwe Wirth (Hrsg.), Performanz, Frankfurt a. M. 2002, 323–346. 25 Krämer, Sprache – Stimme – Schrift (s. Anm. 24), 323f. Krämer bezeichnet dies als den »›protestantischen Gestus‹ in den Kulturwissenschaften«. Dies sei allerdings »kein Plädoyer für den Katholizismus, sondern eine Anspielung auf die semiologische Uminterpretation der Hostie, die den Reformatoren nicht mehr als wirkliche Verkörperung, vielmehr – nur noch – als semiotische Repräsentation Christi galt« (ebd. 325). Krämer scheint hier die zwinglianische, nicht aber die lutherische Abendmahlslehre im Blick zu haben.

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der sich stimmlich verkörpernden Sprache selbst angelegt ist.26 In der sinnlich-körperlichen Gestalt der Stimme wird das Nichtdiskursive im ureigenen Feld des Diskursiven wirksam. Die physiognomischen Funktionen der Stimme sind nach Krämer nicht allein phylogenetisch primär, sondern auch unverzichtbar für jede entfaltete Form von Kommunikation. Sie verweisen auf deren präsymbolische und präpropositionale Schicht. Im Vollzug des Sprechens zeigt sich durch unsere Stimme etwas, das sich entweder mit dem Gesagten deckt und es unterstützt oder das in Dissonanz zu ihm steht und es untergräbt: »Es wirkt in unserem Sprechen eine vorsymbolische, eine präverbale und nichtpropositionale Dimension, in der es weniger um das geht, was wir sagen, vielmehr um das, wie wir etwas sagen.«27

Dieses Wie erzeugt den affektiven Boden unserer Verständigung. Es ermöglicht pathische Kommunikation, die zutiefst mit unserer Körperlichkeit verwoben ist. Nach Krämer ist die körperlich hervorgebrachte und gehörte Stimme die »Spur des Körpers in der Sprache«.28 Von einer körperlichen Spur lasse sich selbst dort noch sprechen, wo die Stimme verstummt und ins Schweigen übergeht. »In jenem Entzug der Stimme […], der in ihrem Ausbleiben, im Schweigen zur Erscheinung kommt, tritt [...] etwas zutage, das quer steht zur Aisthesis der Lautlichkeit: Was sich im Schweigen ereignet, ist als eine materialiter markierte Oberfläche, als ein den Sinnen sich darbietendes Geschehen gerade nicht rekonstruierbar.«29

In der Stimme zeigt sich, was uns bewegt. Doch geht ihre Kraft weit darüber hinaus. Sie wirkt auch auf uns als Sprechende zurück. Im Vollzug des Sagens entäußern wir uns. Unsere Stimme ist uns zu eigen und offenbart uns, doch ist sie nach Krämer auch von »heterogener« Qualität. Die Äußerlichkeit des Tons hat zwar auf der einen Seite eine besondere Nähe zur Innerlichkeit. Der Klang der Stimme spielt auf der reichen Registratur pathischer Kommunikation und lebt vom Resonanzraum der Affekte. Doch ist die Materialität und Exteriorität der Stimme ebenso der Ansatzpunkt für Reflexivität. Uns mittels Aufnahme- und Wiedergabegeräten sprechen zu hören (und zu sehen), hat etwas Befremdliches. Obwohl sie als Medium des Selbstkontakts fungiert, wirkt die Stimme auch selbstdistanzierend. Sie verleiht Gedanken Objektivität und Autorität – auch für die Sprechenden selbst. Gebietende und verheißende Stimmen, in denen 26

Krämer, Stimme (s. Anm. 24), 63. »Verkörperung« kennzeichnet nach Krämer in diesem Zusammenhang »die Nahtstelle der Entstehung von Sinn aus nicht-sinnhaften Phänomenen« (dies., Sprache – Stimme – Schrift [s. Anm. 25], 345). 27 Krämer, Die ›Rehabilitierung der Stimme‹ (s. Anm. 24), 274. 28 Ebd. 275. 29 Ebd. 289.

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sich soziale Bindungskraft und moralische Regeln ebenso verkörpern wie das, was sie untergräbt, entwickeln ein überpersönliches Eigenleben von gelegentlich hoher psychischer Wirksamkeit. Dass wir es mit dem Phänomen der Stimme nicht allein als Sprechende, sondern ebenso als Hörende zu tun haben, zeigt sich hier besonders deutlich. Bevor wir zu sprechen beginnen, wird zu uns gesprochen: leise und ermutigend, doch auch laut und gebietend, kritisch und einfordernd. Unser Sprechen hat immer Antwortcharakter. Wir gehen von Stimmen aus, die uns vorausgehen und die in unser Sprechen eingehen. An diesem Punkt überkreuzt sich Krämers Annäherung an das Phänomen der Stimme mit jener von Bernhard Waldenfels. Responsives Hören und der Logos der antwortenden Stimme erwachsen aus dem Pathos des Angesprochen-Werdens und sie bleiben von ihm durchwirkt: »Nur in der Antwort können wir sagen, was wir hören. Doch dieses Sagen kommt selbst aus dem Hören, so wie das Hören selbst zu einem antwortenden Hören wird.«30

Waldenfels geht unter anderem von der Beobachtung aus, dass die Stimme als Stimme leicht überhört wird. Dabei gehe es »nicht nur darum, dass die Laute hinter dem verlautbarten Sinn verschwinden. Das Hörphänomen wird verkannt, wenn man dahinter nichts mehr vermutet als die Verlautbarung von etwas, das im Stillen bereits da ist und nur auf seinen Auftritt wartet.«31

Sprechen und Hören haben demnach Ereignischarakter. In ihrem Zusammenspiel formt sich Neues. In Sprech- und Hörereignissen, dem Erklingen und Verklingen adressierter Stimmen, kann sich Unerhörtes und Ungedachtes zeigen. Stimmen lassen Unhörbares anklingen, das dem Schweigen verwandt ist, dem Hinter- und Untergrund aller Sprachlichkeit.32 Die Ereignishaftigkeit stimmlicher Verlautbarung manifestiert sich nicht zuletzt in ihrer Flüchtigkeit. Stimmen und Töne entziehen sich dem Hörenden im Verklingen und schaffen auf diese Weise eigentümliche Zeit-Räume. Entsprechend gehört zum Hören auch das Nachlauschen. Die ekstatische Tendenz, die dem Hörvorgang zu eigen ist, zeigt sich hier besonders deutlich: »Hörend sind wir nie völlig hier, hörend sind wir nie ganz und gar bei uns selbst.«33 Ähnliches, so ließe sich ergänzen, gilt vom Sprechen: Es ist zwar an die Stimmorgane des Sprechenden 30

Bernhard Waldenfels, Klänge und Töne aus der Ferne, in: ders., Sinne und Künste im Wechselspiel. Modi ästhetischer Erfahrung, Berlin 2010, 159–179 hier: 165f. 31 Bernhard Waldenfels, Medialer Widerhall der Stimme, in: ders., Phänomenologie der Aufmerksamkeit, Frankfurt a. M. 2004, 186–204, hier: 187. 32 Bernhard Waldenfels, Lautwerden der Stimme, in: ders., Sinne und Künste im Wechselspiel. Modi ästhetischer Erfahrung, Berlin 2010, 180–207, hier: 206. 33 Waldenfels, Klänge und Töne (s. Anm. 30), 168.

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gebunden und insofern lokalisiert. Doch als gehörte Stimme gehört sie dem/der Hörenden ebenso wie dem/der Sprechenden. »Die Stimme hat in dieser Hinsicht keinen Ort, ja sie erweist sich selbst als eine Art Unort, insofern sie offenbar nicht präziser als mit der Metapher eines instabilen ›Dazwischen‹ zu erfassen ist.«34

Indem Waldenfels’ Phänomenologie der Stimme ihre leibkörperlichen Aspekte ebenso herausarbeitet wie ihre Logizität und ihre soziale und ethische Bedeutung, lässt sie sich auch als Beitrag zu einer philosophischen Anthropologie lesen. In die Gemeinschaft der Hörenden und Sprechenden lernen wir, indem wir angesprochen und dadurch provoziert werden, die eigene Stimme ins Konzert der Stimmen einzubringen. Im Angesprochen-Werden und Sich-sprechen-Hören überlagern sich die Stimmen. In der eigenen Stimme werden fremde laut und in fremden klingt die eigene mit.35 Dass der sprechende und hörende Leib kein bloßes Registrier- oder Reproduktionsgerät darstellt, sondern ein mitschwingender Resonanzkörper, zeigt sich gerade in der bedeutungsträchtigen Vielgestaltigkeit der Stimmformen, die menschliche Kommunikation so farbenreich machen.36 Waldenfels differenziert zwischen drei Stimmtypen, in denen paralinguistische Mittel wie Tonfall und Timbre in je besonderer Weise wirksam werden: Sprechstimme, Gesangstimme und Rufstimme. An dieser Stelle liegt der Überschritt zum Gebet nahe. In den Schriften Jean-Louis Chrétiens, die im Grenzgebiet einer phänomenologischen Religionsphilosophie angesiedelt sind, wird er vollzogen. Den phänomenologischen Gedanken aufnehmend, dass sich in der Sprache die Dinge sammeln und zur ausdrücklichen Erscheinung gebracht werden, entwickelt Chrétien die Leitidee einer »Arche des Wortes«: »Als eine neue Arche Noah, die alle Dinge in sich versammelt, um ihnen eine Form der Allgemeinheit zu verleihen, ist die Sprache dazu bestimmt, das Lob der Schöpfung zu singen und damit zur Schöpfung Ja zu sagen.«37

Die auch bei Krämer zu findende Beobachtung, dass Sprechende in der Rolle von Zeugen stehen, wendet Chrétien ins Theologische. Auf die philosophische Kritik, die diese Wendung hervorgerufen hat, kann an dieser

34

Waltraud Wiethölter, Stimme und Schrift. Szenen einer Beziehungsgeschichte, in: Waltraud Wiethölter / Hans-G. Pott / Alfred Messerli (Hrsg.), Stimme und Schrift, zur Geschichte und systematik sekundärer Oralität, München 2008, 9–53, hier: 20 (im Anschluss an Doris Kolesch). 35 Ebd. 196. 36 Ebd. 170. 37 Nach Hans-Dieter Gondek / László Tengelyi, Neue Phänomenologie in Frankreich, Berlin 2011, 579.

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Stelle nicht eingegangen werden.38 Stattdessen wende ich mich mit Chrétien dem Phänomen zu, von dem wir ausgegangen sind. IV. Geistdurchwirkte Stimmlichkeit des Betens Sucht man innerhalb der Theologie nach Anknüpfungspunkten, um den sinnlichen Sinn des Betens zu erschließen, wird man besonders in der Liturgiewissenschaft fündig.39 So hat der französische Jesuit Joseph Gelineau, dem die kirchenmusikalischen Reform des Zweiten Vatikanischen Konzils wichtige Impulse verdankt, im Hinblick auf liturgisches Singen manche Einsichten der Neuen Phänomenologie vorweggenommen. Der Gedanke, der die folgenden Erkundungen leitet, findet sich ebenfalls schon bei Gelineau: dass der Stimme im Rahmen eines Gebetsvollzugs gerade durch ihre sinnlich-physiognomischen Qualitäten eine sakramentale Bedeutung zuwächst.40 Nicht nur der Sinn der Worte und der sie begleitenden Symbolhandlung, sondern auch die klangliche Materialität der Gebetsstimme kann zum Medium göttlicher Gegenwart werden. Denn in der Stimme der Betenden verschränkt sich das Was des Sagens mit dem Wie, der Sinn mit der Sinnlichkeit, das eigene Sprechen mit demjenigen der anderen, mit der Stimme von Vor-, Mit- und Nachbetern. 1. Sakramentale Stimmlichkeit In der Inverbation und Inkarnation des göttlichen Logos vermittelt sich die göttliche Gegenwart in sinnlicher Gestalt. Unter den Bedingungen von Zeit und Raum, die die menschliche Sinnlichkeit regieren, ist dieses Präsentwerden vom Schatten des Entschwindens und des Schwindens der Sinne begleitet. Das einladende Wort, das Gott in diese Welt spricht, verklingt in dem Maße, wie es immer wieder neu erklingt. In Verkündigung und Gebet kommt dieses Wort zur Sprache und nimmt eine sinnlich wahrnehmbare Gestalt an. Es schafft (sich) Raum,41 wird hörbar und nachsprechbar, erzeugt Resonanz oder verklingt ins Leere. In seiner liturgischen Klanggestalt gleicht das verbum externum mitunter einem Fluss, in den seine Adressaten eintauchen können, ohne darin zu versinken. 38 Vgl. Dominique Janicaud, Le tournant théologique de la phénoménologie française, Combas 1991. 39 In der systematischen Gebetstheologie hingegen ist eine ähnliche logozentrische Verengung zu konstatieren, wie sie Krämer mit Blick auf die Sprachphilosophie des 20. Jahrhunderts konstatiert. Zwar fungieren »Sprachgeschehen« und »Wortereignis« als Schlüsselbegriffe der Hermeneutischen Theologie. Doch treten dabei die sinnlichen Qualitäten der Gebetsstimme kaum in den Blick. 40 Vgl. Joseph Gelineau, Die Musik im christlichen Gottesdienst. Prinzipien, Gesetze, praktische Anwendungen. Übers. v. L. Tönz, Regensburg 1965, 13. 41 Weiterführend dazu: Matthias D. Wüthrich, Raum Gottes. Ein systematisch-theologischer Versuch, Raum zu denken, Göttingen 2015.

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Kirchen sind akustische Räume, die Gottes Wort und der von ihm hervorgerufenen gebetsförmigen Antwort Nachhall verschaffen. Die Baumeister von romanischen und gotischen Kathedralen verschafften durch besondere Raumgestaltung den tieferen und dunkleren Tönen eine lange Nachhallzeit, was zu einer Weitung und Lockerung des Raum- und Zeitgefühls führt: »Die natürliche Tonlandschaft wird ausgetauscht gegen eine kirchliche Tonlandschaft, die als akustischer Umraum die alltagsweltliche Orientierung aufhebt und spezifisch umgestaltet.«42

Die Betonung der tiefen Frequenzen und die Dämpfung der hohen, die zur Lokalisierung der Schallquellen nötig sind, wecken das Empfinden, vom Klang eingehüllt zu werden und aus der gewohnten Welt herauszutreten. Eine dichte Beschreibung einer ähnlichen Wort- und Klangerfahrung findet sich bei Navid Kermani, der in seiner Dissertation die Ästhetik des Korans erkundet.43 Die Koranrezitation habe, so schreibt Kermani, »quasi sakramentlichen Charakter«.44 Es handelt sich um eine Sakramentalität, die den Gegensatz zwischen sakral und profan unterläuft. Die eindringlich rufende Rezitativstimme des Muezzins durchdringt in muslimischen Ländern die sinnlichen Welten des Alltags: »Moscheelautsprecher, Fernsehen, Radio und private Kassettenrekorder erzeugen in vielen Regionen einen Klangteppich, der das Leben der Gläubigen mit der Stimme Gottes unterlegt. Besonders wer im Ramadan spätnachmittags durch Städte wie Kairo oder Damaskus streift, den scheinen die Verse des Koran gleichsam einzuhüllen.«45

Wer den Koran rezitiert, ist »angehalten, sich emotional in die Offenbarungssituation hineinzuversetzen«.46 Die in dieser Weise Betenden sollen »sich ihrer eigenen Position in einer Kette von Vortragsakten, die auf Gottes Ansprache an Gabriel zurückgehen, bewußt […] sein.« In symbolischer Angleichung an das Offenbarungsereignis hat der Vortragende die Aufgabe, den Klang zu erzeugen, »den Gabriel den Propheten gelehrt und den dieser an seine Gefährten weitergegeben hat.«47 Die nächstliegende christliche Parallele hierzu dürfte im Rosenkranzgebet zu finden sein.48 Auch es verleiht den Worten des Engels Gabriel 42

Horst Wenzel, Hören und Sehen, Schrift und Bild. Kultur und Gedächtnis im Mittelalter, München 1995, 106. 43 Navid Kermani, Gott ist schön. Das ästhetische Erleben des Koran, München 2007. 44 Ebd. 222. 45 Ebd. 46 Ebd. 225. 47 Ebd. 48 Oder in noch ausdrücklicher und dialogisch inszenierter Form das Angelus-Gebet.

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eine Stimme und erzeugt durch monotone Wiederholung einen Klangraum, der die Betenden ebenso meditativ wie sinnlich in das Wortereignis christlicher Offenbarung hineinnimmt. Besonders wenn es im Wechsel gebetet wird, kommt es zu einer sinnlich wahrzunehmenden Verflechtung von Anrede und Bitte, wobei erstere doppelsinnig ist: Auf einer ersten Sinnebene wird Maria als Fürbitterin angesprochen, auf einer zweiten die Betenden selbst, die mit der vom Engel angesprochenen Maria in typologischer Auslegung identifizierbar sind. Das responsive Hören und Beten setzt einen Prozess affektiv-kognitiver Verinnerlichung in Gang und wirkt gemeinschaftsbildend. In solchem Hören und Beten formt sich ein Innenraum, der von einem klanglich geformten Gemeinschaftsraum umfangen ist. Was Mireille Schnyder mit Blick auf das Mittelalter für die gemeinschaftliche lectio divina festhält, gilt analog für heutiges Rosenkranzbeten: »Über den vorgelesenen Text konstituiert sich ein Raum, in dem sich die darin anwesenden Körper zu einer Hörer-Gemeinschaft zusammenschließen. So hat Vorlesen auch immer den Charakter einer Inszenierung, in religiösem Kontext auch des Rituellen. Durch die Lautfolge des gesprochenen Wortes sowie die Kontinuität der Erzählung und Logik des Gehörs ist der Raum der Lektüre durch eine lineare Zeitstruktur geprägt.«49

Die rituelle Inszenierung, bei welcher der Wechsel der Stimmen eine zentrale Rolle spielt, dient der sinnlichen Vergegenwärtigung heiliger Präsenz, doch ebenso der Selbstpräsenz der Betenden selbst. Denn das heilige Wortereignis verlangt nach einem wachen Geist, nach sinnlicher Selbstpräsenz. Nur nebenbei erwähnt sei, dass solches Gebet einen synästhetischen Vollzug darstellt und die Konzentration auf Stimme und Gehör einer methodisch kaum vermeidbaren Abstraktion geschuldet ist. Zur synästhetischen Einheit des bisher nur auditiv beschriebenen Gebetsvollzugs gehört die visuell wahrgenommene Lichtatmosphäre eines Gebetsraums, die taktil empfundene Qualität des Rosenkranzes, die leiblich erspürte Nähe im Duftraum einer Kirche oder eines anderen Gebetsorts. Wird der Rosenkranz im Wechsel mit einem Vorbeter oder einer Vorbeterin gesprochen, mag für das Präsentwerden des Heiligen bzw. vor dem Heiligen auch dessen/deren individuelle Stimmqualität eine Rolle spielen: Stimmlage, Timbre, Sprechgeschwindigkeit, Modulation, Artikulation usw. Gebetsstimmen können einladend oder abstoßend wirken. In ihnen kann sich Hast und Härte manifestieren und ebenso ansteckende Intensität und Ruhe.

49

Mireille Schnyder, Kunst der Vergegenwärtigung und gefährliche Präsenz. Zum Verhältnis von religiösen und weltlichen Lesekonzepten, in: Peter Strohschneider (Hrsg.), Literarische und religiöse Kommunikation in Mittelalter und Früher Neuzeit, Berlin / New York 2009, 427–452, hier: 433f.

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2. Stimmliche Zeugenschaft und affektive Resonanzen Das beschriebene Wechselgebet könnte man auch als ein wechselseitiges Zeugnis bezeichnen. Obschon das Beten von der Verkündigung zu unterscheiden ist, hat es dort, wo es sich öffentlich vollzieht, Zeugnischarakter. Vorbeter(innen) bezeugen die Ansprechbarkeit Gottes und bekennen sich selbst als auf Gott verwiesene und dies betend anerkennende Menschen. Gleichgültig ob es sich um spontane oder geprägte Gebete handelt: Paralinguale Momente spielen für die »Stimmigkeit« eines solchen Gebetszeugnisses eine nicht zu unterschätzende Rolle. Was nach Sybille Krämer mit Blick auf die kommunikative Bedeutung der paralingualen Vokalität schreibt, lässt sich leicht auf die Gebetssituation übertragen: »Mit dem der Stimme eigenen Mischungsverhältnis von ›Brustton‹ und ‚Kopfton‹ autorisiert sich Macht und signalisiert sich Ohnmacht, stellen sich Imponiergehabe und Aggressivität zur Schau, enthüllen sich Unsicherheit und Defensivität.«50

In der Stimme zeigt sich etwas, was sich der Kontrolle der Sprechenden entzieht.51 Ihr eignet eine Nackt- und Rauheit, die nur behelfsmäßig mit dem Stoff der Stimmbildung und dem Gewand einer offiziellen Rolle überkleidet werden kann. Ein persönliches Erlebnis kann das veranschaulichen. Es war im Herbst 1997 während einer Woche in Taizé. Nach dem Verklingen der Gesänge und dem Knistern der Lautsprecheranlage ertönte leise die zittrige Stimme von Frère Roger und hauchte ebenso zerbrechlich wie zärtlich und bestimmt ein Gebet ins Mikrophon. Es begann immer mit demselben Vokativ: »Jésus le Christ!« Obwohl diese Gebetsworte voller Emotionalität und Poesie waren, hatten sie nichts Affektiertes an sich. Sie bedeuteten das Liebensbekenntnis eines Menschen, der von einer großen Leidenschaft durchglüht war und nun, am Ende eines langen Weges stehend, diesen Vokativ als Summe seiner Lebenserfahrung hauchte. Das ist keine objektive Beschreibung. Es sind Wahrnehmungen eines in bestimmter Weise geprägten und situativ gestimmten Ohrs, das von manchen Stimmen berührt wird und sich von anderen irritiert oder gar abgestoßen fühlt. Es ließe sich einwenden, eine solche Beschreibung des Betens sei von einem Authentizitätspathos geprägt, welches das Gebet in unangemessener Weise subjektiviere. Sollte die Subjektivität des Vorbeters nicht hinter die objektive Gestalt der Liturgie zurücktreten und seine persönliche Stimme transparent werden für die Stimme der ecclesia orans? Doch auch die Betonung des transsubjektiv-ekklesialen Charakters der liturgischen Gebetsstimme, wie sie beispielsweise für das Pontifikat Bene50 51

Krämer, Die ›Rehabilitierung der Stimme‹ (s. Anm. 24), 274. Das mag für geschulte Stimmen in geringerem Maße zutreffen, doch auch sie beziehen ihre Lebendigkeit und Einzigartigkeit von Qualitäten, die mit der Persönlichkeit der professionellen Sprecher(innen) zu tun haben.

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dikts XVI. charakteristisch war, hat ihren je besonderen Klang, der gegensätzliche affektive Resonanzen hervorrufen kann. Selbst die Vermeidung aller subjektiv-situativen Affektivität ist eine Weise, Affektivität zu formen. Die Aufgabe der Vorbeter/in ist die einer doppelte Zeugenschaft: Vorbetende stehen für andere ein und sprechen nicht im eigenen Namen und aus selbsterteiltem Auftrag. Doch zugleich sind es unvertretbar Personen, die in diesem Moment coram Deo et ecclesia diese Rolle wahrzunehmen haben.52 Dieses spannungsreiche Ineinander verlangt eine bewusste Suche nach der angepassten Stimmlage, dem stimmigen Tempo, der Balance von Nachdruck und Selbstzurücknahme. Die Resonanz, auf die der unausweichlich persönliche Klang einer Gebetsstimme stößt, entzieht sich der Verfügung der Vor- und Mitbeter(innen). Je vertrauter sich die Betenden sind, desto mehr dürfte dies auch von anderen Faktoren abhängen. Die Stimme steht dann für den Sprecher, der ihr Glaubwürdigkeit verleiht oder sie untergräbt. Wenn Gebet ein kommunikatives Ereignis ist und Kommunikation zu wesentlichen Teilen von pathischen Dimensionen lebt, so betreffen die eben beschriebenen Aspekte keine ästhetischen Nebensächlichkeiten, sondern tangieren den Kern des Gebetsgeschehens. In der Stimme verkörpert sich die Präsenz des Anderen. In ihr bezeugt sich seine Gegenwart als eine, die sich mir zusagt und mich in Anspruch nimmt. (Gebets-)Stimmen wohnt ein vorethischer Anspruch inne, auf den wir nicht nicht antworten können. Und mitunter verkörpern sie eine Gabe, die uns erreicht hat, bevor wir uns dessen bewusst werden. Auf sie zu antworten, kann Unterschiedliches bedeuten: ganz Ohr zu werden und im Gehörten zu verweilen oder aber selbst ins Wort zu finden und sich auf ein Artikulationsgeschehen einzulassen, das mich aus mir hinausführt. Beides soll in den folgenden Abschnitten weiter bedacht werden. 3. Stimmen als Medium von Sammlung und Selbsttranszendenz Das Sprechen, Rezitieren oder Singen eines Gebets und das Hören auf die eigene oder fremde Gebetsstimme wirkt gleichermaßen sammelnd wie dezentrierend.53 Dies entspricht dem paradoxen Wesen des Gebets. JeanLouis Chrétien beschreibt es als »Äußerung, die versammelt, und [...] 52

Zu den Spannungen, die der Rolle des Zeugen innewohnen, vgl. Sybille Krämer, Zum Paradoxon von Zeugenschaft im Spannungsfeld von Personalität und Depersonalisierung. Ein Kommentar über Authentizität in fünf Thesen, in: Michael Rössner / Heidemarie Uhl (Hrsg.), Die Er/Findung von Authentizität. Zur Wiederkehr der Sehnsucht nach dem Ursprünglichen, Bielefeld 2013, 15–26. 53 Dies ist auch der Leitgedanke der materialreichen Dissertation von Paolo Tomatis, Accende lumen sensibus. La liturgia e i sensi del corpo, Rom 2010. In der Terminologie von Tomatis gehorcht das Register sinnlicher Gebetsformen der Dialektik von Einbezug (implicatione) und Überschuss (eccedenza).

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Darbringung, die zusammenführt«.54 Auch wenn sich dabei Sammlung und Selbsttranszendenz verschränken, betrachte ich sie im Folgenden gesondert, um dadurch die Rolle zu profilieren, die der Stimme darin zukommt. Sammelnd sind nicht allein die Gebetsworte, die unsere Aufmerksamkeit auf Gottes Wirklichkeit hin lenken;55 sammelnd wirkt auch die Gebetsstimme, insofern sie unserem Geist eine sinnliche Verankerung gibt. Die Achtsamkeit für sinnliche Qualitäten im Allgemeinen und für Klänge im Besonderen lenkt die Aufmerksamkeit auf ein gegenwärtiges Resonanzgeschehen. Sie führt aus absorbierenden Gedanken- und Phantasiewelten ins Hier und Jetzt. Sind wir in dieser Weise »ganz Ohr«, tritt für Momente das, was eben noch unsere Aufmerksamkeit beanspruchte, in den Hintergrund oder verschwindet ganz. Wohlklänge, die die Aufmerksamkeit wecken und mit ihren Ober- und Untertönen den Hörsinn verfeinern, gehören zum Grundinventar der großen Gebetstraditionen. Die dazu benutzen Glocken und Instrumente aller Art unterstützen die Gebetsstimme bei ihrer Aufgabe, den menschlichen Geist aus seiner Zerstreutheit zurückzurufen und auf Gottes Gegenwart hin zu sammeln. Dabei ist es, so seltsam es erscheint, gerade die Flüchtigkeit der Klänge und Stimmen, die zu dieser Sammlung beiträgt. Die untere Hörschwelle, das Pianissimo, berührt eine heilige Stille.56 Dass das Erklingende sogleich wieder verklingt, fordert unsere Präsenz heraus. Und es konfrontiert uns mit der Mühe, ganz gegenwärtig zu werden und zu bleiben. Was spontan als das Schwierigere erscheint, nämlich ein Gebet zu sprechen und gleichzeitig an etwas ganz anderes zu denken, bereitet gewöhnlich wenig Mühe. Die sinnlich erklingenden und deutlich zu vernehmenden Gebetsworte gleichen einem Geländer, an das sich der evasive Geist festhalten kann. Die Gebetsstimme sammelt uns, indem sie eine Exteriorität markiert, die von der Abdrift zerstreuender Gedanken nicht beeinträchtigt wird. Sie öffnet einen sinnlich erfahrbaren Klangraum, der das unruhige Meer von Gefühlen und Gestimmtheiten umspannt und heilsame Distanz zu absorbierenden Affekten ermöglicht. Sammelnd wirken gesprochene, rezitierte und gesungene Gebete nicht zuletzt dadurch, dass in ihnen weit mehr anzuklingen und sich zu artikulieren vermag, als wir intendieren und uns oft bewusst ist. Wie bei einem Saiteninstrument schwingen auch die nicht angeschlagenen Saiten mit; 54

Jean-Louis Chrétien, Das verwundete Wort Phänomenologie des Gebets, in: Ingolf U. Dalferth / S. Peng-Keller (Hrsg.), Beten als verleiblichtes Verstehen. Neue Zugänge zu einer Hermeneutik des Gebets, Freiburg i. Br. 2016, 50–82, hier: 74. 55 Vgl. schon Bonaventura, Breviloquium, übers. v. Marianne Schlosser, Einsiedeln / Freiburg i. Br. 229 (V.10): »[…] durch die gesprochenen Worte wird unsere innere Neigung geweckt, und gerichtet auf den Sinn der Worte sammeln sich unsere zerstreuten Gedanken.« 56 Vgl. Martin Schleske, Der Klang. Vom unerhörten Sinn des Lebens, München 2010, 103.

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jeder Ton hat seine kaum hörbaren Unter- und Obertöne. Beschreibt man das Gebet, wie in diesem Band vorgeschlagen, als ein Resonanzereignis, so umfasst es verschiedene, nicht voneinander trennbare kognitive und affektive Register. Im Erklingen unserer Stimme sind wir leibseelisch involviert. Das damit gegebene hohe integrative Potenzial der Stimme entspricht dem, was bei Krämer als ihr »Schwellencharakter« bezeichnet wird: »Sie ist sinnlich und sinnhaft, somatisch und semantisch, indexikalisch und symbolisch, natürlich und künstlich, affektiv und kognitiv, diskursiv und ikonisch, individuell und sozial, materiell und immateriell, physisch und psychisch […].«57

Schwellencharakter hat die Stimme auch im ›anagogischen‹ Sinne. Die Stimme ist Medium betender Selbsttrans-as-zendenz.58 Erklingenden Gebetsworten sein Ohr zu schenken und verklungenen nachzulauschen, ist ein Weg glücklichen Selbstvergessens. Die Intentionalität, die alles Sprechen kennzeichnet, nimmt in diesem Zusammenhang eine besondere, gegenläufige Gestalt an,59 die dem Wohin und Woher des Gebets entspricht. Obgleich der Gebetsvollzug sie affiziert, sprechen Betende nicht mit oder zu sich selbst, auch wenn dies aus der Perspektive des Beobachters so beschreibbar ist. Vielmehr situieren sie sich so in sinnlich wahrnehmbarer Weise in Gottes Gegenwart und öffnen sich für diese – was mitunter auch dadurch geschieht, dass sie sich mit ihrer Not oder ihrem Glück im Gebet zur Sprache bringen. Es liegt in der Dynamik des Betens, dass es nicht beim Ausgesprochenen stehen bleibt. Durch die Beschränkung auf wenige Worte, in denen sich das Viele verdichten kann, geht die Selbstaussage fortwährend ins Hören über.60 Beten vollzieht sich de profundis: in Stimmen, die sich am Spalier der Worte über alles Aussprechbare hinausbewegen – so wie in der Gregorianik der melismatische Gesang über alles Worthafte hinausführt. Wenn nach Waldenfels im Nachklingen der Klang zu sich selbst erwacht und im Nachlauschen der Hörende aus sich heraustritt, dann gilt dies für das Gebet in besonderer Weise: »Hörend sind wir nie völlig hier, hörend sind wir nie ganz und gar bei uns selbst.«61 Nach Johannes Cassian, der 57 58

Krämer, Die ›Rehabilitierung der Stimme‹ (s. Anm. 24), 290. Vgl. Jean-Greisch, Das Spiel der Transzendenz: »Trans-Aszendenz«,»TransDeszendenz«, »Trans-Passibilität«,»Trans-Possibilität«, in: Ingolf U. Dalferth / Pierre Bühler / Andreas Hunziker (Hrsg.), Hermeneutik der Transzendenz, Tübingen 2015, 61–82. 59 Casper, Das Ereignis des Betens, 62 (s. Anm. 20) spricht im Anschluss an Emmanuel Lévinas von einem »bouleversement de l’intentionalité« bzw. Paradox von einer »nichtintentionalen Intentionalität«. 60 Vgl. Anno Schoenen, Oratio brevis, Das kurze Gebet als Wesenszug des stillen Gebetes in der Tradition und heute, in: Itinera Domini. Gesammelte Aufsätze aus Liturgie und Mönchtum, Münster 1988, 175–188. 61 Waldenfels, Klänge und Töne (s. Anm. 30), 168.

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zu einem intensiv geübten Stoßgebet anleitet, findet das Gebet zur Vollkommenheit, wo der Beter vergisst, dass er betet, und vergisst, dass er betet.62 4. »Dir ist Schweigen Lob« (Ps 65,2): Was nicht in Worte zu fassen ist Zur Stimmlichkeit des Betens gehört nicht zuletzt das Schweigen. Die besondere Affinität des Gebets zum Schweigen ergibt sich einerseits aus der Unaussprechlichkeit des göttlichen Namens, andererseits aus der im Gebet sich artikulierenden Überwältigung durch Glück und Not. Dass die meisten modernen Übersetzungen Ps 65,2 nicht im Anschluss an den masoretischen Text übersetzen (»Dir ist Schweigen Lob«), sondern gestützt auf die Septuaginta als »Dir gebührt Lob« wiedergeben, mag ein schlichtes Übersetzungsproblem darstellen.63 Doch entspricht die anhaltende Dominanz der zweiten Übersetzungsvariante der abendländischen Entsinnlichung der Gebetsstimme, die auch eine Entsinnlichung des Schweigens bedeutete. Damit wird auch der Blick für die Gesamtkomposition des Psalms und seine »Theologie der Stille« verstellt. Der mit dem zitierten Vers anhebende Aufgesang entspricht dem Ende des Psalms, der mit dem Hinweis auf den stillen Jubel der kornerfüllten Täler ausklingt (V. 14). Die Schwere menschlicher Verstrickung (V. 4) wird der »stillenden« Kraft Gottes anvertraut, die nicht allein das Tosen der Meere, sondern ebenso den Lärm der Völker zum Schweigen bringt (V. 8). Dem glücklichen Schweigen, das der Psalm zur Sprache bringt, eignet eine in sich differenzierte Lob-Qualität: ein dankbares Aufatmen vor Gott, ein unaussprechlicher Jubel, möglicherweise auch »eine vertrauensvolle Erwartungshaltung im Sinne des Refrains von Ps 62«.64 Dem schweigenden Gebet in Gestalt eines staunenden Verstummens, eines kurzen Innehaltens, des stillen Sich-Öffnens oder Verweilens wohnt eine besondere Sinnlichkeit inne, die auf innige Weise mit derjenigen der Stimme verbunden ist. Auch an diesem Punkt kann eine heutige Theologie des Gebets von phänomenologischen Erkundungen der Stimme lernen. Schweigen und Stille sind nach Krämer deshalb als Modi der Stimmlichkeit zu beschreiben, weil in ihnen etwas erscheint, was quer zur Aisthesis der Lautlichkeit steht und diese doch zugleich ermöglicht: »Was sich im Schweigen ereignet, ist als eine materialiter markierte Oberfläche, 62

Johannes Cassian, Conférences VIII–XVII, übers. v. E. Pichery, Paris 1958, 66 (Coll. 9,31): »non est [...] perfecta oratio, in qua se monachus vel hoc ipsum quod orat intellegit.« 63 Vgl. dazu den Kommentar Erich Zengers, der sich in seiner Übersetzung dem masoretischen Text anschließt, in: Frank-Lothar Hossfeld / Erich Zenger, Psalmen 51– 100, Freiburg i. Br. 2000 (HThKAT), 213f. Die Vulgata kennt beide Varianten: »Te decet hymnus« (iuxta LXX) und »Tibi silens [bzw. silentium] laus« (iuxta hebr.). 64 Ebd. 214.

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als ein den Sinnen sich darbietendes Geschehen gerade nicht rekonstruierbar.«65 Was Krämer als markierte Oberfläche beschreibt, dürfte sich auf die zeitliche Dimension des Schweigens beziehen. Es wird von der Rede umrahmt und hat im gesprochenen Wort seinen Anfang und sein Ende. Dass der Raum des Schweigens verbal eröffnet wird, wird im folgenden Gedicht Eugen Gromringers sicht- und ggf. auch hörbar: schweigen schweigen schweigen schweigen schweigen schweigen schweigen schweigen schweigen schweigen

schweigen schweigen schweigen schweigen66

Um die Sinnlichkeit des Schweigens fassen zu können, ist es angezeigt, zwischen vokalem und verbalem Schweigen zu unterscheiden. Im vokalen Schweigen verstummt die Stimme, im verbalen Schweigen kommen die Worte und worthaften Gedanken zur Ruhe.67 Das stille Gebet ist nonvokal, aber nicht immer nonverbal, da Gebete lautlos im Geist gesprochen werden können. Orientiert man sich am zeitlichen Vollzug, findet man zu weiteren Unterscheidungen: Das präverbale Schweigen geht den Gebetsworten voraus, während im transverbalen Schweigen das Gebet ausklingt. Letzteres lässt sich wiederum zweifach umschreiben: als Verweilen in Resonanz auf ein gesprochenes Gebet, doch ebenso als Leerstelle des Sagens, in dem sich Unaussprechliches zeigen kann. Dass das Schweigen das verbale Beten auch zu begleiten und zu durchwirken vermag, ergibt sich schon daraus, dass einerseits jedes Sprechen der Pausen bedarf und andererseits Beten grundsätzlich angewiesen ist auf ein achtsames Hören auf die Gebetsstimme, die hörbar erklingen kann, aber nicht muss. Dem Schweigen eignet schließlich auch eine eigene Topographie.68 Mit Blick auf den Gebetsvollzug kann gesagt werden, dass es sich in Gebetshaltungen und dem damit verbundenen Erleben nicht allein verleiblicht und lokalisiert, sondern sich auch einen Resonanzraum schafft.69 Nicht allein die Stimme, sondern auch das Schweigen hat eine raumbil65 66

Krämer, Die ›Rehabilitierung der Stimme‹, 289. Eugen Gomringer, Konkrete Poesie. Stuttgart 1972, 58; zit. nach: Claudia E. Kunz, Schweigen und Geist. Biblische und patristische Studien zu einer Spiritualität des Schweigens, Freiburg i. Br. 1996, 32. 67 Claudia Kunz, von der diese Unterscheidung stammt, stellt fest, »daß der Lateiner das Schweigen eher als nonverbales, aber vokales Phänomen vernimmt, der Grieche es aber als nonvokales, gleichwohl verbales Phänomen versteht. Im ersten Fall ist es sinnlich vernehmbar, im zweiten Fall geistig verstehbar« (ebd. 36). 68 Vgl. Mireille Schnyder, Topographie des Schweigens. Untersuchungen zum deutschen höfischen Roman um 1200, Göttingen 2003; Hartmut von Saß, Topographien des Schweigens. Eine einleitende Orientierung, in: ders. (Hrsg.), Stille Tropen. Zur Rhetorik und Grammatik des Schweigens, München 2013, 9–29. 69 Kunz, Schweigen und Geist (s. Anm. 66), 31; Wüthrich, Raum Gottes (s. Anm. 41).

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Simon Peng-Keller

dende Dimension. Es eröffnet Klangräume und macht Hintergründiges und Fernes hörbar. Wo im Gebet versunkene Menschen in Stille verharren, kann dies mit dem Erleben verbunden sein, dass sich der Raum weitet. Wie eine einsame Vogelstimme die Stille eines bestimmten Ortes zu verdichten vermag, wird die Gebetstille besonders durch leise, stimmnahe Geräusche hör- und spürbar: ein Räuspern, ein Murmeln, ein Aufatmen usw. Die Grenze zu Geräuschen, die als etwas zu beschreiben sind, das die Stille unterbricht, dürfte allerdings ebenso fließend wie subjektiv sein. So beschreibt beispielsweise Johannes Cassian das stille gemeinschaftliche Beten der Wüstenväter kontrastiv zu dem, was er in gallischen Klöstern erlebt: »Wenn sie [die ägyptischen Mönche] zu der genannten Gebetsfeier, welche sie ›synaxis‹ nennen, sich versammeln, so beobachten alle ein so tiefes Schweigen, daß, während doch die Brüder in einer so zahlreichen Schar zusammenkommen, man glauben sollte, es sei außer dem, welcher in der Mitte stehend den Psalm absingt, kein Mensch sonst zugegen. Und dies gilt besonders von der Oration, welche den Psalm schließt; hierbei wird kein Speichel ausgeworfen, kein Räuspern gehört, kein Husten, kein schläfriges Aufsperren des Mundes läßt sich vernehmen, als ob einer zerstreut oder schlecht aufgelegt wäre oder gähnte, kein Seufzer wird ausgestoßen, welcher die Umstehenden etwa stören könnte, keine Stimme außer der des vorbetenden Priesters wird laut, es sei denn, daß eine solche durch ein Überströmen des Geistes dem Munde entflieht und gleichsam unwillkürlich dem Herzen entsteigt, dann nämlich, wenn es von übermäßiger und nicht überwältigender Andachtsglut entzündet ist, so daß aus den verborgenen Tiefen der Brust gleichsam gewaltsam hervorbricht, was die entflammte Seele nicht mehr in sich zu verschließen im Stande ist.«70

Nicht nur verbales, sondern auch schweigendes Beten vollzieht sich ereignishaft und sinnlich. Und wie Resonanzen nicht nur hörbar, sondern auch spürbar sind, ist auch das Schweigen kein nur akustisches, sondern ein synästhetisches Phänomen. »Im Medium der Stille verschränken sich die Sinne.«71 Das Schweigen der Stimme verbindet sich im Kontext von Gebetsvollzügen mit dem stillen Sitzen, Stehen, Knien oder Liegen, mit einer verweilenden Schau, mit dem Bewegen der Lippen oder dem Ertasten der Knöpfe einer Gebetsschnur. Die Sinnlichkeit wird auf diese Weise zum Medium des Betens und entspricht seiner Intention, in Berührung mit Gottes Wirklichkeit zu kommen, sich ihr zu öffnen, auf sie zu hören.

70

Johannes Cassian, Von den Einrichtungen der Klöster (De institutis coenobiorum et de octo principalium vitiorum remediis), übers. von Antonius Abt (Bibliothek der Kirchenväter, 1 Serie, Band 59), Kempten 1879, 35f. (Buch 2,10). 71 Christiaan L. Hart Nibbrig, Rhetorik des Schweigens. Versuch über den Schatten literarischer Rede, Frankfurt a. Main, 252; zit. nach Kunz, Schweigen und Geist (s. Anm. 66), 27.

Von der Stimmlichkeit des Betens

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IV. Schluss Die Unterscheidung zwischen einem vokalen und einem verbalen Schweigen führt zurück an den Ausgangspunkt der vorliegenden Überlegungen: zur achsenzeitlichen Wende nach Innen. Sie führte zur Einsicht, dass es interiorisierte Formen des Betens gibt, bei denen eine mentale Vergegenwärtigung von Gottes Wirklichkeit an die Stelle ausgesprochener Gebetsworte tritt. Was sich im Vollzug solchen Betens »im Geist« zeigt oder erahnbar wird, lässt sich schwer in Worte fassen. Die sich in solchem transverbalen und nonvokalem Beten ereignende cognitio Dei et hominis ist dennoch keine »rein geistige« Angelegenheit. Denn dieses Sinnereignis ist nicht in einem von Leib und den Sinnen abgekoppeltem Intellekt zu lokalisieren, sondern ist in vielfältiger Weise verwoben mit sinnlich-leiblichem Wahrnehmungsvollzügen. Im Medium der Sinne und der Stimme erschließt sich Gottes Gegenwart als Grund und Movens allen Betens.

II. Thematische Fokussierungen im Horizont von Spiritual Care

Hubert Kößler / Pascal Mösli

Jodeln auf der Intensivstation Beten im Spital

I. Einleitung In den Kapellen des Inselspitals, des Universitätsspitals von Bern, liegen sogenannte Anliegen- oder Fürbittbücher auf, in denen Besucher einen schriftlichen Eintrag hinterlassen können. Diese Bücher werden rege genutzt; offenbar ist es für viele Patienten und Patientinnen,1 Angehörige und manchmal auch Mitarbeitende wichtig, darin etwas niederzuschreiben. Die Einträge sind so unterschiedlich wie die Lebenssituationen derer, die sie geschrieben haben. Manche Texte strahlen Hoffnung und Zuversicht aus, andere Dankbarkeit und Erleichterung; wieder andere zeugen von Verzweiflung, Angst und Ohnmacht. Manche der Autoren unterschreiben mit ihrem Vornamen, andere bleiben anonym. Manche Texte sind wie klassische Gebete formuliert: Sie wenden sich an »Gott«, »lieber Gott«, »Herr«, »Jesus«, »Vater im Himmel«; sie enthalten Bitte, Lob, Dank oder Klage. Bei anderen ist es nicht so einfach, eine literarische Gattung auszumachen: Sind die Worte »Warum? Warum nur?« ein Gebet? Ist die Zeichnung eines Blitzes, der in ein Haus einschlägt, ein Gebet? Oder der Eintrag »Es geht mir Scheiße, aber wenigstens ist es nicht mehr so schlimm wie letzte Woche«? Würde die Autorin selbst diesen Text als »Gebet« bezeichnen? Doch ist die Selbstdeutung ausreichendes Kriterium? Schon hier wird deutlich, dass wir nicht so eindeutig sagen können, worin ein Gebet besteht. Welche Bestandteile gehören zu einem Gebet? Im klinischen Kontext begegnen wir einem ähnlichen Spektrum von Gebeten wie in den Fürbittbüchern: Menschen, die feste Gebete kennen, Menschen, die beten, ohne dabei einen Gott anzureden, Menschen, die im Schmerz nur noch stöhnen, aber damit nicht bei sich bleiben wollen. Wir halten es in der Seelsorge für wichtig, aufmerksam und offen zu sein für all die verschiedenen Formen des Gebets, die manchmal tradiert und manchmal ganz persönlich geprägt sind.

1

Anstelle der etwas umständlichen Doppelnennungen wechseln wir im Folgenden zwischen der weiblichen und männlichen Form ab.

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II. Zum Vorgehen An den Anfang stellen wir eine Beschreibung von »Gebet«, die unsere praktische Arbeit im Blick hat. Dazu formulieren wir Thesen zum Verhältnis des Betens zur Freiheit und zur Hoffnung. Dann berichten wir möglichst konkret und erfahrungsnah von Situationen, die wir als Spitalseelsorger erlebt haben. Ziel ist nicht, eine umfassende Systematik des Themas zu entwickeln. Wohl aber wollen wir jene Themenfelder benennen, die uns besonders im klinischen Kontext relevant erscheinen, nämlich: − − − − − − − −

Klassisches Fürbittgebet Gebete ohne Worte Das Gebet des/r Seelsorgers/in an der Tür Stille als Gebet Interreligiöses Gebet Gebet im Spannungsfeld von Manipulation und Belehrung Säkulares Segenshandeln Haltungen und Gebärden

Ausgehend von diesen Erfahrungen schließen wir jeweils eine Interpretation an, die auch für analoge Situationen Geltung haben kann. III. Spuren zum Gebet 1. Beten und Freiheit Wir verstehen unter einem Gebet die verdichtete Selbstaussage eines Einzelnen oder einer Gruppe im Gegenüber der Transzendenz.2 Sprachlich kann das Gebet völlig frei formuliert sein; oft ist es jedoch geprägt durch konfessionell-religiöse Vorgaben. Es besteht semantisch aus einem sprachlichen Text oder aber aus vor-, über-, nebensprachlichen Formen. Viele Gebete sind mit bestimmten Körperhaltungen verbunden. Vielfach sind sie eingebettet in ein Ritual, das der oder die Einzelne oder eine Gemeinschaft begeht und das als ihr »Sitz im Leben« bestimmt werden kann. Beten setzt Freiheit voraus und entwickelt Freiheit weiter. Der Betende lässt Kontrolle und Selbstverfügung los, öffnet sich für das, was ihm widerfährt, und gibt sich dem Geheimnis hin.

2

Zur Frage, ob es ein Gebet ohne Gott geben kann und ob auch Menschen, die nicht an Gott glauben, beten können, vgl.: Hubertus Halbfas, Der Sprung in den Brunnen. Eine Gebetsschule, Düsseldorf 1990, 68–78

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2. Beten und Hoffnung Die Hoffnung ist bei vielen Besuchen im Spital ein wichtiges Thema. Kaum jemand ist im Spital, weil er oder sie sich das gewünscht hat. Es stellt sich ganz natürlich die Hoffnung ein, man möge das Spital möglichst rasch (und gesund) wieder verlassen können. Es ist darum auch ganz naheliegend, in das Gebet die Artikulation einer Hoffnung für die Wiedererlangung der Gesundheit und eine baldige Rückkehr einfließen zu lassen. Damit entspricht man auch der Funktionslogik und den primären Zielsetzungen des Spitals: die Gesundheit der Patientinnen und Patienten wiederherzustellen. Doch worauf soll man die Hoffnung richten, wenn die Zukunft nach menschlichem Ermessen unsicher erscheint? Wenn man sich gemäß medizinischem Befund auf einen langen Spitalaufenthalt einstellen muss oder auf einen unklaren therapeutischen Prozess? Oder noch viel tiefgreifender: wenn die Diagnose kaum Hoffnung zulässt, jemals wieder (vollständig) zu genesen? Es gibt in der französischen Sprache zwei Ausdrücke für Hoffnung: »espoir« und »espérance«.3 Mit »espoir« ist die Erwartung verbunden, dass sich ein ganz bestimmtes Ziel realisieren lässt. Diese Form der Hoffnung setzt einen in Bewegung, damit man seine Ziele erreicht. Sie ist in der Krankheit das wohl wichtigste Elixier für den Durchhaltewillen und den täglichen Kampf, gesund zu werden. Andererseits kann diese Hoffnung gerade im Spital auch lähmen und so viel Aufmerksamkeit auf sich ziehen, dass daneben kaum noch etwas anderes wahrgenommen werden kann. Diese Form der Hoffnung kann einen Tunnelblick und eine emotionale Verengung erzeugen: Die Entwicklung der Blutwerte oder der Blick der Ärztin legen fest, ob sich ein Gefühl inneren Friedens einstellt oder eben nicht. Wenn das innere Wohlbefinden vom Erreichen eines konkreten Zieles abhängig gemacht wird, wird man in gewisser Weise zum »Gefangenen« seiner Hoffnung. »Espérance« hingegen meint die Erwartung, dass die unbekannte Zukunft in jedem Fall etwas Gutes bringen wird, weil das Leben selbst gut ist. Man weiß nicht, was es sein wird, und es liegt jenseits der eigenen Kontrolle. Diese Form der Hoffnung gründet stärker im Vertrauen in das Leben selbst und in seine unbekannte Dynamik als im Festhalten an ein bestimmtes Ziel. Diese Hoffnung blickt weniger nach vorne, sondern stärker auf den gegenwärtigen Moment. Es ist eine Hoffnung, in diesem Moment und im nächsten lebendig zu sein und die Fülle der Lebendigkeit in diesem und im nächsten Atemzug zu entdecken. Es ist eine Hoff3

Den Hinweis auf die Unterscheidung der beiden französischen Begriffe für Hoffnung verdanken wir dem Soziologen Stefan Vanistandael (aus einem nicht veröffentlichten Manuskript).

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nung, die sich nicht in die Zukunft ausspannt, sondern – vielleicht nur für Momente – in der Gegenwart entspannt. Eine Definition von Gebet, welche sich dem Verständnis von Hoffnung als »espérance« anschließt, stammt von Simone Weil: »Die von jeder Beimischung ganz und gar gereinigte Aufmerksamkeit ist Gebet.«4 Aufmerksamkeit ist im Verständnis von Simone Weil eine Ausgespanntheit des Geistes, die Offenheit und Vorbehaltlosigkeit, etwas so zu erfassen, wie es sich zeigt. Dabei »sollte der Geist leer sein, wartend, nichts suchend, aber bereit, den Gegenstand, der in ihn eingehen wird, in seiner nackten Wahrheit aufzunehmen.«5 Was aber ist dieser »Gegenstand«? Es ist Gott, der sich durch das Leben dem Menschen zeigt: »Im Gebet richtet die Seele alle Aufmerksamkeit, deren sie fähig ist, auf Gott, und die Beschaffenheit des Gebetes hängt zu einem großen Teil von der Beschaffenheit der Aufmerksamkeit ab.«6

Ein Patient, den ich (PM) im Spital monatelang besuchte und der von therapeutischen Interventionen immer wieder enttäuscht wurde, weil sie nicht den erhofften Nutzen brachten, sagte mir einmal: »Manchmal will das Leben selbst sagen, wie es gelebt werden will.« Das Gebet lässt sich so verstehen als ein Akt gesammelter Aufmerksamkeit auf das, was gerade geschieht im Hoffen darauf, dass sich gerade darin Gott als der zeigt, der da ist. IV. Klassisches Fürbittgebet Der Mann ist so groß wie ein Schrank. Er sitzt im Patientenbett, der muskulöse Oberkörper aufrecht wie eine Eins. Er berichtet, dass er aus seinem Heimatland geflohen ist, weil er dort keine Perspektive mehr gesehen hat. Seine Frau und die Kinder sind zurückgeblieben. Er wollte sie nachholen, sobald er Arbeit gefunden hat. Und nun dies: Er hatte einen Unfall, musste im Krankenhaus notfallmäßig operiert werden. Wer die Kosten dafür übernimmt, ist ungewiss – genauso ungewiss wie die Zukunft seiner Familie. Als er seinen Bericht abgeschlossen hat, blickt er mich (HK) direkt an: »Father, let us pray«. Ich bin überrascht und etwas überfordert: Ich habe ihm doch schon erklärt, dass ich kein Priester bin und er mich doch nicht »Father« nennen solle. Aber das ist ihm offensichtlich egal. Seit er weiß, dass ich von der Spitalseelsorge bin, nennt er mich so. Er hält seine gefal4 5

Simone Weil, Schwerkraft und Gnade, München 1989, 159. Simone Weil, Betrachtungen über den rechten Gebrauch des Schulunterrichts und des Studiums im Hinblick auf die Gottesliebe, in: Simone Weil, Das Unglück und die Gottesliebe, München 2. Auflage 1961, 103f. 6 Simone Weil, Zeugnis für das Gute, Traktate – Briefe – Aufzeichnungen, Olten / Freiburg i. Br. 1976, 50.

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teten Hände vor mich und bedeutet mir, dass ich meine Hände um sie schließen solle. Dann schließt er die Augen: »Begin, please«. Also lege ich meine Hände um seine. Ich versuche, das, was der Mann mir erzählt hat, in meine Worte zu fassen: die Verzweiflung, die Hoffnung auf eine Zukunft, der Unfall, die Scham, die Enttäuschung. Ich spreche Gott direkt an und bitte ihn, zu sehen, was geschehen ist: Gott soll es ansehen und wahrnehmen. Ich bitte Gott, bei diesem Patienten und seiner Familie zu sein. Am Anfang schweigt der Mann, hört einfach zu. Doch schon bald beteiligt er sich am Gebet: Er bestätigt: »Yes«. Er bestärkt: »Please«. Er unterstreicht: »Amen!« Dann spricht auch er; er übernimmt die Rolle des Betenden. Den Auftrag, den er mir erteilt hat, übernimmt er zunehmend selbst. Habe ich ihn dazu ermutigt? Mir kommt es eher so vor, als werde er im Vollzug dazu ermächtigt. Er wird selbst zum »Father«, zu dem, der für das Gebet kompetent ist. Das Gebet ist zunächst dialogisch: Ich wende mich an Gott. Indem mein Gegenüber einstimmt, wird es mehrstimmig. Auch meine Rolle ändert sich. Während der Patient allmählich die aktivere Rolle übernimmt, übernehme ich das Bestätigen, Bestärken, Unterstreichen. Der Patient bittet für seine Frau und für seine Kinder; später für die Menschen, die ebenfalls auf der Flucht sind. Für die Kranken. Ich antworte: »Yes. Please. Amen!« Wir beten in Englisch. In meiner Muttersprache würde ich anders beten: theologischer, differenzierter, ausgewogener, korrekter. Ich würde z. B. mehr darauf achten, dass meine Sprache gendergerecht ist. In der Fremdsprache ist mein Gebet einfacher und schlichter. Ich kann in Englisch nicht so gut differenzieren und abwägen. Vielleicht lege ich jetzt – intuitiv oder aus der Not geboren – mehr Wert auf andere Dimensionen des Gebets? Jedenfalls wird mir bewusst, dass der Inhalt nur eine dieser Dimensionen ist, und wahrscheinlich nicht die zentrale. Was daneben und darüber hinaus zählt, ist meine Stimme, meine Haltung, mein Blick, meine Gefühle. Das Gebet ist nicht ein Austausch über irgendwelche Informationen. Die verbale Gebetssprache ist ein Medium. Sie muss authentisch, aber nicht geschliffen und korrekt sein. Dann kann sie das Eigentliche transportieren. Und worin besteht dieses Eigentliche? Es besteht, so meinen wir, nicht so sehr in einzelnen, konkreten Wünschen, sondern in der Bitte um Gott selbst. Dass er sieht und nahe ist. V. Gebete ohne Worte Die inhaltliche Seite des Gebets ist oft nicht die primäre. Es ist nicht entscheidend, dass ich einen perfekt formulierten Text vortrage, wenn ich ein Gebet spreche. Den Patienten und Angehörigen ist etwas anderes wichtig, und auch mir (HK) selbst ist im Lauf der Jahre, in denen ich nun als Spitalseelsorger arbeite, etwas anderes wichtig geworden. Als ich

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in den ersten Berufsjahren auf die Station ging, hatte ich immer eine Sammlung mit Gebetstexten bei mir. Dieser kleine Ordner war eine hilfreiche Grundlage, um in den unterschiedlichen Situationen etwas sagen zu können. Er verlieh mir Sicherheit. Aber kann das allgemeine Formular der konkreten Situation angemessen gerecht werden? Was ist dieses andere, das mir wichtig wurde? Ich versuche, es anhand einer konkreten Erfahrung zu erläutern: Ich werde auf die Intensivstation gerufen. Eine ältere Patientin liegt im Sterben. Ihr Ehemann ist vor Jahren gestorben. Ihre zwei Söhne und vier Töchter sind anwesend, ebenso manche von deren Lebenspartnern und Enkeln. Insgesamt drängen sich mehr als 15 Personen um das Bett der Sterbenden. Die Pflegende hat mir schon am Telefon gesagt, dass die Angehörigen ein Abschiedsgebet wünschen. Ich stelle den Angehörigen vor, wie wir einen solchen Abschied gemeinsam gestalten könnten: Ich würde mit einer Einleitung beginnen. Dann folgt ein Moment, in dem die Angehörigen reihum ein Wort an die Sterbende richten können. Wer möchte, kann dies mit einer Segensgebärde, z. B. einem Kreuzzeichen auf die Stirn der Patientin, verbinden. Ein gemeinsames Vater Unser und ein Segen zum Abschluss. Ob die Anwesenden sich ein solches »Abschiedsgebet« vorstellen könnten? Sie nicken. Mir fällt auf, dass einer der Söhne seine Schwester fragend oder auffordernd anschaut: »Willst du nicht …?« Ich spreche an, was ich beobachtet habe: »Haben Sie noch eine andere Idee?« Die Tochter winkt ab, aber der Bruder erklärt, dass seine Schwester jodelt, und dass sie dies immer wieder zuhause gemacht habe, weil es der Mutter so gut gefallen hat. Ob das nicht auch hier möglich wäre? Ich erkläre, dass mir das sehr passend erscheine. Wenn die Tochter merke, dass es für sie richtig sei, dürfe sie hier gerne jodeln; wir lassen aber im Moment offen, ob es dazu kommen wird. Als die Kinder und Enkel der Großmutter teils laut, teils leise flüsternd jeweils etwas zum Abschied sagen – sie bedanken sich, dass sie immer zu ihr kommen konnten, dass die Großmutter immer ein offenes Ohr hatte; sie beklagen, dass ihre Herzlichkeit jetzt fehlen wird und ähnliches –, kommt die besagte Tochter an die Reihe. Und als wäre es das Selbstverständlichste auf der Welt, beginnt sie mit dem Jodeln. Zunächst leise und zurückhaltend, dann immer lauter. So etwas habe ich auf der Intensivstation noch nie erlebt. Die Monitore, das Piepsen, die High-Tech Umgebung verschwinden zwar nicht, aber sie verändern sich durch den archaischen Gesang. Es ist einer jener typischen schweizerischen Jodel ohne Worte, voll Trauer und Schönheit, voll Liebe und Blues. Ich sehe, dass Pflegende und Ärzte von ihren Instrumenten aufschauen und andächtig lauschen. Die Geschwister blicken – ich meine: stolz und dankbar – zu der jodelnden Schwester. Ich denke: Falls die Patientin etwas in unserem Sinn »wahrnehmen« kann, dann dies. Und wer weiß: Vielleicht nehmen auch andere Patienten und Angehörige etwas davon wahr? Die Situation

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ist so anders und öffentlicher als bei anderen Abschiedssituationen, in der eine Familie leise und zurückhaltend um das Bett steht und flüstert, um die Nachbarn möglichst nicht zu stören. War das Jodeln ein Gebet? Ich meine, dass man das, was ich hier erlebt habe, durchaus »Gebet« nennen darf. Es ist ein Gebet ohne eigentlichen Text, aber mit viel Inhalt und Emotion. Keines, das man in den Ordner mit den vorhersagbaren Situationen aufnehmen könnte. Keines, das man irgendwie inszenieren, anleiten, nachmachen könnte. Es geschieht; es ereignet sich ungeplant. Und gerade so verschafft es sich Raum und Wirkung und wird in seiner kargen Wortlosigkeit umso aussagekräftiger. Das anschließende Vater Unser, das die Familie nach einer Zeit der Stille gemeinsam betet, ist nicht inhaltlicher Höhepunkt, sondern eher ein Ausklingen, wie ein Fluss, auf dem die Einstimmenden sich mittreiben lassen, um sich vom Entscheidenden, das vorher geschehen ist, langsam und gemeinsam zu verabschieden und zu lösen. VI. Das Gebet des Seelsorgers an der Türe Es ist ein besonderer Moment, wenn ich (PM) als Seelsorger vor einer Zimmertüre stehe. Besonders dann, wenn ich die Person, der ich gleich begegnen werde, noch nicht kenne. Auf wen werde ich stoßen? Um welche Fragen oder Anliegen wird es gehen? Wird eine offene Begegnung überhaupt stattfinden können? Aber auch wenn ich die Person bereits kenne, weiß ich nicht, wie sie mir heute begegnen wird. Ich weiß nicht, wie es der Person geht, was sie heute von mir will (oder nicht will), und ich weiß nicht, was in unserer Begegnung geschehen wird. Der Eintritt in ein Zimmer ist wie der Beginn eines kleinen Abenteuers. Die Türschwelle ist so etwas wie eine Grenzlinie in ein mir noch unbekanntes Land. Diese Grenzerfahrung kann ich nutzen, um einen Moment innezuhalten. Ich kann zu mir kommen, die Gedanken wahrnehmen, die mir durch den Kopf gehen, die Stimmung spüren, die mich erfüllt. Ich kann mich fragen: Bin ich offen für eine neue Erfahrung oder bin ich besetzt von Gedanken an ein anderes Gespräch, an eine Erinnerung, eine Sorge? Die amerikanische Ärztin Christina Puchalski, die sich seit Jahren für eine interprofessionelle Spiritual Care engagiert, nennt die Zeit der Einstimmung, der innerlichen Vorbereitung des Seelsorgers, der Seelsorgerin vor dem Kontakt mit einem anderen Menschen »preparing the healer«: When you enter the room of your patient Put your hand on that doorknob Take a deep breath And remember why you became a healer. What gave you meaning? Why did you jump through all those hoops? Through all that training?

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Take a moment. Remind yourself that you are there to serve that person. It’s as if you take off your shoes To respect and honor what you will find inside.7 Take off your shoes – das erinnert an die biblische Szene, als Moses vor dem Dornbusch steht (Ex 3,2–8). Eine geheimnisvolle Macht begegnet Moses. Sie gibt sich ihm als der zu erkennen, »der sein wird, als der, der da sein wird«. »Die Schuhe ausziehen« bedeutet, sich zu öffnen und den Ernst zu spüren, dass in der Begegnung ein Kommen, ein Geheimnis wartet. Dass sich die bevorstehende Begegnung nicht kontrollieren lässt (auch nicht therapeutisch oder seelsorglich), sondern dass sie beide gleichermaßen verändern wird – den Patienten wie auch die Seelsorgerin. Der Moment an der Türschwelle ist der Moment, sich zu öffnen, sich einzustimmen auf dieses heilige Geschehen der Begegnung mit dem Unbekannten, Neuen, das in der Begegnung mit jedem Menschen geschieht. Betend folge ich dem Atem. Ich atme ein und spüre bewusst, was jetzt da ist – all meine Gedanken, Gefühle, Stimmungen. Ich atme aus und lasse alles gehen und verbinde mich mit dem Windhauch, der durch mich hindurchströmt, mit dem »ich werde sein, der ich sein werde«. Das Gebet an der Türschwelle kann helfen, sich mit dem Geist des Anfangs, des Anfangens zu verbinden. Man weiß nicht, was sein wird, wenn man durch diese Türe geht, und zugleich mag man betend darauf vertrauen, dass es der Anfang ist von einem in der Tiefe beide heilenden Geschehen. VII. Stille »Als mein Gebet immer andächtiger und innerlicher wurde, da hatte ich immer weniger zu sagen. Zuletzt wurde ich ganz still. Ich wurde, was womöglich noch ein größerer Gegensatz zum Reden ist, ich wurde ein Hörer. Ich meinte erst, Beten sei Reden. Ich lernte aber, dass Beten nicht bloß Schweigen ist, sondern hören. So ist es: Beten heißt nicht, sich selbst reden hören. Beten heißt: Still werden und still sein und warten, bis der Betende Gott hört.« Søren Kierkegaard 8

Das größte Glück, die intensivsten Momente im Gebet sind in meiner (PM) Erfahrung oft die Momente der Stille. Es sind Momente, die durch Worte vorbereitet wurden und selbst wortlos sind. Es sind die Momente, in denen die Betenden nichts mehr tun, als da zu sein. Da zu sein und zu »hören«, wie Kierkegaard sagt. 7

Christina Puchalski, The Healing Encounter, in: Gary Malkin / Michael Stillwater, Care for the Journey, Volume II, Music and Messages for Sustaining the Heart of Healthcare (Learning Edition), San Francisco 2010. 8 Zitiert nach Gerhard Ruhbach, Theologie und Spiritualität. Beiträge zur Gestaltwerdung des christlichen Glaubens, Göttingen 1987, 182.

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Dabei macht es einen Unterschied, ob wir alleine oder zusammen still sind. Die gemeinsame Stille ist herausfordernd, weil sie sehr intim sein kann, auch etwas Unkontrollierbares in sich trägt. In der Stille gibt es niemanden, der mit Worten führt und damit auch die Situation gewissermaßen mit seinen Worten »kontrolliert«, sondern wir öffnen uns dem, was jetzt zwischen uns ist und wird. Genauer müsste man sagen: Wir haben die Gelegenheit, uns zu öffnen. Die Stille ist ein »Geschehen« in völliger Freiheit. Es gibt keinen Zwang und keinen Automatismus. Wir können uns der Stille bewusst verweigern (und einfach warten, bis sie vorbei ist), oder es ist uns vielleicht gar nicht möglich, innerlich still zu werden, obwohl wir es möchten (weil die inneren Dialoge weiterlaufen). Je länger ich als Seelsorger im Spital gearbeitet habe, desto wichtiger, desto kostbarer wurden mir die Zeiten der Stille im Gebet. Es sind Zeiten, auf die ich gespannt bin, auf die ich mich freue, weil ich sie nicht mit meinen Worten eingrenze, sondern ganz offen sein kann für das, was kommt. Weil ich mich – gerade indem ich ganz bei mir bin – ganz auf den Anderen einstimmen kann Manchmal geht es ganz leicht, im Gebet zur Stille einzuladen. Wenn beim Beten eine intensive Stimmung entsteht, lade ich ein, still zu sein, zum Beispiel: »Wir sind vor dir da, ohne Worte, still, hörend auf dich«, oder: »Die Worte genügen nicht, um zu sagen, wie es jetzt ist, wir bringen unser Sein vor dich, alles, was wir sagen können, und das Ungesagte.« Die Worte sind wie eine Brücke, die in den Raum der Stille führen. Sie sind wie ein Rahmen, damit wir uns sicher fühlen können, damit wir zulassen können, dass für einen Moment nichts geschieht. Manchmal baue ich im Gespräch Brücken zur Stille. So eine biblische Brücke ist beispielsweise der Psalm 131: »Ich ließ meine Seele ruhig werden und still ... Hoffe auf den Herrn von nun an bis in Ewigkeit! Ich ließ meine Seele ruhig werden und still. Wie ein kleines Kind bei der Mutter ist meine Seele still in mir.« Ich schlage vor: »Wie wäre es, zusammen einfach still zu sein, in der Gegenwart Gottes, der um uns ist wie eine fürsorgliche Mutter und uns uns selber SEIN lässt (wie ein entwöhntes Kind)?« Dabei ist Stille nicht dasselbe wie nichts sagen, wie schweigen. Manchmal schweigen wir (äußerlich) zwar, aber in uns reden und diskutieren wir heftig weiter, stellen uns eingebildeten Partnern oder kämpfen mit uns selbst. Es erfordert eine gewisse Einfachheit und Mut, still zu sein bzw. immer wieder in die Stille zu »gehen«. Es bedeutet, zu erkennen, dass man nicht viel ausrichten kann, wenn man sich Sorgen macht. Es heißt, Gott zu überlassen, was jetzt geschieht. Es heißt, die Worte und Gedanken, die auftauchen, nur wahrzunehmen, anzutippen und wieder gehen zu lassen. Manchmal sind es nur kleine Momente der Stille, die vom inneren Geplapper unterbrochen werden.

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Hubert Kößler / Pascal Mösli Die Wellen des Denkens verlangen so viel von der Stille. Dabei gibt sie kein Widerwort, sie antwortet und streitet nicht. Sie ist die heimliche Urheberin jedes Gedankens, jedes Gefühls, jedes Augenblicks. Stille. Sie spricht nur ein einziges Wort. Und dieses Wort ist nichts als Dasein. Kein Name, den du ihr gibst, berührt sie, fängt sie ein. Kein Verstand kann sie erfassen.9

Beim Begleiten von Menschen, die nicht mehr sprechen können, weil sie z. B. auf der Intensivstation liegen und in einem anderen Bewusstseinszustand sind, oder die im Sterben liegen, ist die Stille so etwas wie ein »Raum«, in den ich »eintreten« kann, um eine Verbindung zum anderen Menschen zu suchen. Ist es mir möglich, keine Erwartungen zu haben, nicht in die Langeweile abzudriften, nicht einfach stumpf dazusitzen, sondern lebendig, wach, mit offenen inneren Sensoren wirklich da zu sein? Ich beginne mit wenigen Worten, um mich selber einzustimmen und um dem Anderen mitzuteilen, dass ich bete. Ich habe den Eindruck, dass es darüber hinaus wichtig ist, dem Anderen, der nicht sprechen kann, aber mich wohl hört, immer wieder ein akustisches Zeichen meiner Präsenz zu geben. In der Stille entstehen manchmal Bilder oder körperliche Wahrnehmungen, die sich anders anfühlen als die mir bekannten, aus meinem diskursiven Denken entstehenden Worte. Ich teile dem Anderen diese Worte, diese Bilder mit. Ich gehe hin und her zwischen wenigen Worten und der Stille. VIII. Interreligiöses Beten Professionelle (in der Schweiz christlich geprägte) Spitalseelsorge ist offen für Menschen aller Religionen oder Weltanschauungen, wenn diese einen Kontakt bzw. eine Begleitung wünschen. Dies entspricht dem Selbstverständnis der professionellen Spitalseelsorge, wie dies beispielsweise im Kanton Bern in der Verordnung des kantonalen Spitalgesetzes und in den Standards der Spitalseelsorge10 festgehalten wird. 9 10

Adyashanti, Tanzende Leere, München 2007, 83. Zum Profil und zur Einbettung der Spitalseelsorge im Kanton Bern vgl. www.spitalseelsorgebern.ch (abgerufen am 22.06.2017). Dort sind auch die Dokumente zu den kantonalen, gesetzlichen Grundlagen abrufbar.

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Damit ist die Vermittlung zu Vertretern der Tradition und Gemeinschaft der Betroffenen, aber auch die existentielle Unterstützung, beispielsweise bei Krisen, im Blick. Ist es darüber hinaus auch denkbar oder sogar wünschbar, die religiöse Praxis des Gebets zu teilen? Bei einer seelsorglichen Begleitung einer muslimischen Patientin tauchte diese Frage auf. Die Frau war wegen einer rezidivierenden Krebserkrankung auf einer onkologischen Abteilung hospitalisiert. Ihre Aussichten, wieder gesund zu werden, waren aus medizinischer Sicht gering. Sie wusste über ihre Situation Bescheid, war aber nicht bereit, die Hoffnung auf Gesundung aufzugeben. Zugleich sagte sie im Gespräch immer wieder mit Tränen in den Augen, sie wolle sich in jedem Fall dem Willen Allahs unterwerfen. Im Gespräch nahm ich (PM) wahr, dass sie sich gegenüber ihrem Ehemann und ihren weiteren Angehörigen nur von ihrer kämpferischen Seite zeigen wollte und konnte. So kannte man sie, so wollte sie von ihren Angehörigen gesehen werden. Zugleich wurde deutlich, wieviel Anstrengung es sie kostete, nach außen an einer Hoffnung festzuhalten, gegenüber der sie selbst innerlich ambivalent war. Mitten im Gespräch sagte sie unvermittelt: »Wir haben doch denselben Gott, beten Sie mit mir!« Was soll der Seelsorger tun: ein Gespräch über die Gottesfrage initiieren, religiöse Unterschiede im Gottesbild von Christen und Muslimen zur Sprache bringen oder das Gebet verweigern? Es liegt auf der Hand, welche Gefahren in dieser Situation lauern: Die Seelsorgerin kann den Anderen mit dem Gebet vereinnahmen; sie kann das Gebet zu einer Propaganda ihrer eigenen Überzeugungen nutzen; sie kann Unterschiede negieren, die dem Anderen (oder ihr selbst) vielleicht wichtig sind. Sie kann Bilder oder Worte verwenden, die beim Anderen etwas ganz anderes auslösen, als sie beabsichtigt hatte. Doch sind diese Gefahren nicht in jedem gemeinsamen, spontanen Gebet vorhanden? Hat nicht, in gewisser Weise, jedes gemeinsame Gebet interreligiöse oder interkonfessionelle Aspekte? Es gibt die verschiedensten religiösen und konfessionellen Hintergründe, welche Menschen mit ins Spital bringen. Auch innerhalb der christlichen Tradition können die konfessionellen Unterschiede manchmal sehr groß sein. Die Frage nach dem Wesen Gottes und des Gebets werden Landeskirchlich-Reformierte anders beantworten als Pfingstler, Russisch-Orthodoxe oder traditionelle Katholiken. Und manchmal gibt es mehr Nähe über die Religionsgrenzen hinweg als innerhalb der eigenen Religion oder Konfession. Und sogar dort, wo eine konfessionelle Nähe besteht, hat jede Person wiederum ihre eigene, persönliche Religiosität, die geprägt ist durch ihre Geschichte, ihre Erfahrungen, ihr Denken. Können wir zusammen beten, auch wenn die dogmatischen Fragen nicht geklärt sind? Auslöser oder zumindest Kontext eines interreligiösen Gebetes ist im Spital oft eine Krise. Eine Krise ist keine missionarische Situation, nicht die Bühne für eine religiöse Debatte, auch nicht ohne weiteres Anlass für

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den interreligiösen Dialog. Sich in einer Krise im Gebet einem Anderen zu öffnen, bedeutet, sich einer anderen Person in seiner Verletzlichkeit auszusetzen, sich ihr in der Hoffnung anzuvertrauen, dass sie die eigene Verletzlichkeit gerade nicht dazu benutzt, sich und ihre Überzeugungen in Szene zu setzen, sondern dass sie einem Raum gibt, die eigene Befindlichkeit zum Ausdruck bringen zu können. Und dass jemand da ist, der diese wahrnimmt und sie in einen größeren Horizont stellt. Die Muslima hatte ihre Bitte klar und deutlich zum Ausdruck gebracht, ihre Not und ihr Anliegen ebenfalls. Da waren einerseits gegensätzliche Stimmen in ihr – die eine, die auf Genesung hoffte, und die andere, die verstand, dass sie vielleicht nie mehr gesund werden würde. Und da war andererseits das Anliegen, dass sie sich dem Willen Allahs unterwerfen wollte. Und aus beidem heraus formulierte sie ihre Bitte: »Beten Sie mit mir!« Gibt es einen Grund, nicht zu beten? Zu Gott, dass er sich der Frau annimmt, die so hin- und hergerissen ist und auch gerade darunter leidet. Die es ihren Angehörigen recht machen möchte und sich manchmal gerade darin einsam fühlt. Zu Gott, dass er sie tröstet und darin stärkt, sich seinem Willen anzuvertrauen, weil er Gutes mit ihr im Sinn hat, Frieden und Versöhnung. Im gemeinsamen Gebet wird die Not zur Sprache gebracht, und es kommen zwei persönliche Religionen miteinander in Berührung. Es geht darum, diese Begegnung mit großer Achtung vor dem Anderen zu gestalten. Wie rede ich von Gott, in welchen Bildern bitte ich um seinen Beistand, um seine Präsenz in dieser Situation, von welchen Hoffnungen spreche ich? Ein interreligiöses Gebet könnte folgende einfache Struktur haben: Die Not wird im Gebet vor Gott zur Sprache gebracht, und es wird um Gottes Unterstützung und Begleitung gebeten. Wichtig erscheinen uns folgende Aspekte: − Das Gebet soll einfach sein. − Das Gebet soll die Nöte beinhalten, die im Gespräch genannt wurden, möglichst nahe an den Worten, in denen sie erzählt wurden. − Das Gebet soll eine Ansprache (Bitte, Dank usf.) an Gott sein, keine Rede über ihn. − Eine Alternative zum spontanen Gebet besteht darin, einen Text als Gebet zu lesen. Der Text kann vorgängig besprochen werden, um abzuklären, ob er passt. Mögliche Texte sind beispielsweise der Psalm 23 und der Psalm 90 sowie die erste und zweite Sure im Koran. Wir haben es bei unseren interreligiösen Gesprächen manchmal mit Patienten zu tun gehabt, die auf die Frage hin kein gemeinsames Gebet wünschten oder die bereits die Einladung dazu nicht ganz verstanden,

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vielleicht nicht nachvollziehen konnten. Wir haben Patientinnen kennengelernt, bei denen die Einladung selbst zu tiefen, inspirierenden Gesprächen geführt haben. Am Schluss war es fast zweitrangig, ob wir überhaupt zusammen beteten. Und wir haben Patienten begleitet, für die das gemeinsame Gebet eine sehr willkommene Gelegenheit war, um einen Moment der Entlastung, Inspiration oder Ermutigung zu erfahren. IX. Gebet im Spannungsfeld von Manipulation und Belehrung Der Patient ist schon vor Jahren an Krebs erkrankt. Vor ein paar Stunden hat der Onkologe die niederschmetternden Ergebnisse der neuesten Untersuchungen mitgeteilt: Man hat Metastasen auf der Lunge und in der Leber festgestellt. Bei seinen regelmäßigen Aufenthalten im Spital wünscht der Patient jedes Mal den Besuch der Seelsorge. Die zerfledderte Bibel auf seinem Nachttisch zeugt von der regelmäßigen Lektüre. Der Patient gehört einem evangelikalen Hauskreis an und betont, dass die Glaubensbrüder und -schwestern jetzt für ihn beten. Und auch mich (HK) bittet er am Ende meines Besuchs um ein Gebet: Etwas anderes könne ja nun nicht mehr helfen. Ob er weiß, dass er mich damit in Verlegenheit bringt? Was ist es, das mich hier unruhig werden lässt? Auf der einen Seite nehme ich wahr, dass dieser Patient Verbündete sucht. In der Umgebung des Universitätsspitals ist ihm noch anderes wichtig als Forschungsergebnisse und evidenzbasierte, naturwissenschaftliche Medizin. Da kann ich gut mitgehen. Aber was meint er, wenn er sagt, dass das Gebet »helfen« soll? Meint er, dass Gott durch unser Gebet »verändert« wird und dann eine Änderung der Situation verursacht? Hier wünschte ich ihm, dass er die Gottespräsenz auch dann erfährt, wenn das Leid gerade nicht von ihm genommen wird. Ich nehme eine zweifache »Versuchung« wahr: Ich könnte einerseits »naiv« mitgehen und seinen Auftrag erfüllen, indem ich innig und wortgewaltig an Gott appelliere, den Patienten wieder gesund zu machen. Ähnliche Erwartungen kenne ich bei Eltern, die um ihr Kind bangen, das schwerste Schäden bei einem Unfall erlitten hat und gerade operiert wird. Sie rufen die Seelsorge, damit diese eine weitere, hoffentlich entscheidende Intervention – das Bittgebet – einsetzt, um einen guten Ausgang zu bewirken. Wenn ich dieser »fundamentalistischen« Versuchung erliege und die Patienten und Angehörigen in ihrer Erwartung bestärke, trage ich dazu bei, dass sie einseitig in der Erwartungshaltung »Gott wird mich bzw. das Kind wieder gesund machen« verharren. Dadurch verhindern wir, dass sie auf die andere Seite der Ambivalenz gehen und beginnen, sich z. B. auch mit dem möglichen Sterben und Abschied auseinanderzusetzen. Umso größer würde, falls der Patient nicht wieder gesund wird, am Ende die Enttäuschung.

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Die Versuchung bestünde aber andererseits darin, dass ich den Wunsch der Patientinnen oder Angehörigen zurückweise und sie belehre. Diese Belehrung könnte theologisch rational oder aber auch – subtiler – in Form eines Gebets verpackt stattfinden. Die Belehrung bestünde inhaltlich darin, dass ich betone, dass wir Menschen Gott nicht beeinflussen können, dass unser Gebet nicht einfach ein Mittel sei, mit dem wir unsere Ziele anstreben dürften, weil wir dann uns selbst – und nicht den Willen Gottes – ins Zentrum setzen würden. Wäre eine solche Belehrung theologisch überhaupt richtig? Und noch mehr: Würde ich nicht damit in Kauf nehmen, das Vertrauen und die Nähe zu den Patienten und Angehörigen zu »opfern« zugunsten meiner Rechtgläubigkeit? In der systemischen Beratung besteht eine wichtige und hilfreiche Intervention darin, dass die Beraterin nicht vorschnell Lösungen präsentiert, sondern zunächst einmal das, was sie beobachtet, zum Thema macht und dem »Klienten« zur Verfügung stellt. Indem so unausgesprochene Erwartungen, geheime Aufträge, Koalitionen, Befürchtungen, Hoffnungen und Ähnliches benannt werden, geraten sie aus der tabuisierten Dunkelzone ins ansprechbare Helle und können dann Grundlage für neue Ideen, Lösungen, kreative Schöpfungen darstellen. Analog versuche ich nun ein Gebet zu formulieren, das weder der »fundamentalistischen« noch der »katechetischen« Versuchung erliegt und so hoffentlich Raum schafft für Neues. Dabei versuche ich, die Gebetsdefinition vom Anfang umzusetzen und mich auch innerlichspirituell in die Haltung von Freiheit zu begeben: Das, was ist, darf sein; ich muss nichts verschweigen; ich darf alles ansprechen. Ich darf frei sein und muss nicht alles verstehen. Dann könnte das Gebet beispielsweise etwa so lauten: »Gott, ich bin bei Herrn NN. Er hat vorhin erfahren, dass die Ärzte Metastasen festgestellt haben. Diese Nachricht ist niederschmetternd; sie erschüttert mich. Nach menschlichem Ermessen scheint es keine Hoffnung mehr zu geben. Und doch wenden wir uns an dich. Gerade in dieser Situation, in der wir völlig ratlos sind. Wir erinnern uns, dass du Hiob und Jesus nicht allein gelassen hast, als sie von allen verlassen waren. Wir wissen nicht, wie es ausgehen wird. Wir wollen uns in das Vertrauen hinein begeben, dass du immer bei uns bist. Sei uns nahe. Sei bei Herrn NN, in allem, was kommt.« X. Säkulares Segenshandeln In einem modernen Krankenhaus ist die pluralistische Gesellschaft in konzentrierter Weise präsent. Entsprechend ist die Seelsorge eine Dienstleisterin neben vielen anderen. Längst kann sie keine Deutungshoheit mehr beanspruchen, auch nicht über spirituelle Fragen. Das mag man beklagen. Man kann es aber auch als Entlastung vor zu viel Deutungser-

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wartung wahrnehmen. Vielleicht wird jetzt neu möglich, dass die Seelsorge gerade im Prozess der Suche nach neuen, kreativen Angeboten einen wichtigen Beitrag leistet? Wenn ein Gebäude oder ein Raum in einem Spital eingeweiht wird, kann dies eine Möglichkeit bieten, sich als Seelsorge hilfreich ins Spiel zu bringen. Ein guter Kontakt mit den Mitarbeitenden ist wahrscheinlich die beste Voraussetzung dafür, dass es überhaupt zu einer entsprechenden Anfrage kommt. So wurden wir als Seelsorgende am Inselspital etwa beigezogen, als neue Untersuchungsräume in der Radiologie oder ein Operationssaal in der Kinderklinik eingeweiht wurden. Auch bei der Grundsteinlegung des künftigen Organ- und Tumorzentrums wurde die Seelsorge um einen Beitrag gebeten: Neben Vertretern der Geschäftsleitung, des Architekturbüros und der künftigen Nutzer sollte auch ein Seelsorger, eine Seelsorgerin eine kurze Ansprache halten. Worauf galt es, bei diesem Anlass zu achten? Der Beitrag der Seelsorge muss einerseits authentisch sein. Er soll prophetisch und kritisch zum Ausdruck bringen, welche Aufgaben ein Krankenhaus heute zu leisten hat. Andererseits muss er die verschiedenen sprachlichen und weltanschaulichen Hintergründe der Anwesenden berücksichtigen. Man kann also nicht in einem konfessionellen Ritualhandbuch die entsprechenden Gebete aussuchen und etwa eine christliche, trinitarische Segensformel über die anwesende, religiös heterogene Gruppe aussprechen. Ich (HK) ging zunächst vom Fundament des Gebäudes aus und nahm dann Bezug zur urkundlich verbrieften historischen Grundlage des Krankenhauses: das Testament der Stifterin des Inselspitals aus dem 14. Jahrhundert.11 Die Stifterin, Anna Seiler, hat das Spital gestiftet, um den »Dürftigen« (den Patienten) eine angemessene Pflege und Hilfe zukommen zu lassen. Gleichzeitig hat sie erlassen, dass der Ertrag aus ihren Ländereien für die Entschädigung der Pflegenden einzusetzen sei. Dafür legt sie fest, wie viel Getreide, Gemüse und Obst aus ihrem Grundstück den Pflegenden zugutekommen soll. In meiner kurzen Ansprache griff ich diese Patienten- und Mitarbeitendenorientierung auf: Ich legte als Symbol für die Patientenorientierung einen Kopfkissenbezug sowie als Symbol für die Mitarbeitendenorientierung ein Säckchen Getreidekörner in den Grundstein. Die begleitenden Worte wählte ich bewusst säkular; hier vermied ich die Sprache eines konkreten Bekenntnisses. Stattdessen sagte ich: »Möge das Krankenhaus seiner ursprünglichen Ausrichtung auch heute gerecht werden und so die Treue zu seinem Fundament weiter pflegen. Möge das Spital ein Ort bleiben, in dem Patienten optimal gepflegt und betreut werden. Und möge das Spital ein Arbeitgeber sein, der sich vorbildlich für die Belange seiner Mitarbeitenden einsetzt.«

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www.insel.ch/fileadmin/inselspital/users/InselStellen/Spitalorganisation/Inselspital stiftung/Testament_Anna_Seiler_01.pdf (abgerufen am 03.01.2017).

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Wir finden es wichtig, dass die Seelsorge eine derartige Anfrage der Spitalleitung annimmt und sich bei einem solchen öffentlichen Akt beteiligt. Gleichzeitig erscheint es uns zentral, dass sie dabei Worte und Gesten wählt, die nicht nur für Mitglieder einer bestimmten Glaubensrichtung zugänglich sind, sondern die grundsätzlich für alle Anwesenden nachvollziehbar sind, unabhängig von religiösem und konfessionellem Hintergrund. In dieser Sprache bringt sie eines ihrer Kernanliegen zur Geltung: Es gibt, neben der Fokussierung auf das Machen und Funktionieren, die in einem Spital wesentlich ist, auch die Dimension des Unverfügbaren, das unserem Zugriff entzogen ist. So tritt die Seelsorge hier auf, wie wir sie auch sonst verstehen: Sie ist Teil des Systems »Spital«, aber gleichzeitig hat sie eine eigene, besondere Identität. XI. Haltungen und Gebärden Woran erkennt man, dass ein Mensch betet? In den religiösen Traditionen gibt es verschiedene klassische Gebetshaltungen und Gebärden: In romanischen Kapitellen entdecken wir die mittelalterliche Orantenhaltung, in der der Betende aufrecht steht und die Hände nach oben richtet. Albrecht Dürers berühmtes Gemälde zeigt zwei gefaltete Hände, die zum Gebet aneinandergelegt sind. Derwische drehen sich im Tanz; fromme Muslime knien nieder und verneigen sich auf dem Teppich. Eine Großmutter bezeichnet den Enkel mit dem Kreuzzeichen auf der Stirn, ähnlich wie der Priester einem Kranken die Krankensalbung spendet. Unter den besonderen Bedingungen des Spitals stehen uns diese Haltungen und Gebärden nicht immer zur Verfügung. Viele Patienten und Patientinnen sind durch eine Krankheit in ihren körperlichen Ausdrucksmöglichkeiten eingeschränkt; sie müssen liegen oder sind auf einen Rollstuhl angewiesen, wenn sie das Patientenzimmer verlassen wollen. Sie müssen Infusionsständer mitnehmen, wenn sie sich bewegen. Gliedmaßen sind eingegipst oder gewisse Bewegungen sind im Moment untersagt, weil sie den Heilungsprozess beeinträchtigen. Andere Bewegungen lösen Schmerzen aus oder können wegen einer Lähmung oder Behinderung nie mehr ausgeführt werden. Die gewohnte Haltung, die jemand üblicherweise beim Beten einnimmt, ist ihm als Patienten vielleicht nicht möglich. Welche Gebetshaltung kann er stattdessen einnehmen? Wir haben Patienten erlebt, die im Liegen beten, im Stehen oder im Sitzen. Die Hände können gefaltet sein, dann legt die Betende die Handinnenflächen aneinander, oder die Finger werden ineinander verschränkt. Manche legen die Hände, die Innenfläche offen nach oben gerichtet, auf die Bettdecke. Die Augen sind geöffnet oder geschlossen; Gebete werden laut oder leise flüsternd oder stumm gebetet. Eine Patientin, die stark darunter litt, dass sie durch den Spitalaufenthalt von ihrer Familie getrennt war, umfasste sich selbst mit beiden

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Armen, so dass die rechte Hand beim linken Schulterblatt, die linke Hand beim rechten Schulterblatt zu liegen kam. Diese Haltung behielt sie auch dann bei, als sie ein Gebet für ihre Familie sprach. Es hatte etwas Fürsorgliches, Geborgenes, wie wenn die Patientin für sich und ihr Gebet einen Schutzraum herstellen wollte, in dem sie das Gespräch mit Gott ungestört von der Spitalumgebung führen konnte. Manche Patienten suchen im Gebet die Nähe zu anderen Menschen (z. B. zur Seelsorgeperson oder zu einem Familienmitglied, das gerade zu Besuch ist), etwa indem sie dessen Hand halten. Andere schaffen im Gegensatz dazu für das Gebet einen Raum der Zurückgezogenheit, in den niemand eindringen darf. Von außen kann man nicht unbedingt erkennen, dass ein Mensch betet. Es gilt hier dasselbe, das wir anfangs über die Unmöglichkeit einer eindeutigen Definition der literarischen Gattung »Gebet« gesagt haben: Manchmal ist es eindeutig, jemanden als Betenden zu identifizieren. Aber darüber hinaus gibt es unzählige Gebetshaltungen und -gebärden. XII. Schlussbetrachtung Der Spitalkontext konfrontiert uns in besonderer Weise mit der Frage nach der Bedeutung des Gebets: Bewirkt ein Gebet eine Änderung des Leids? In welcher Weise? Dürfen wir »Hoffnung« mit dem Gebet verbinden – und wenn ja: Was für eine »Hoffnung«? Diese Fragen stellen sich in besonderer Schärfe, wenn Menschen durch eine Krankheit mit Grenzen, Schmerz und Tod konfrontiert sind. Im Spital – und besonders in einem Universitätsspital – begegnen sich Menschen aus den unterschiedlichsten weltanschaulichen und kulturellen Hintergründen. Im Spital befinden wir uns nicht in einer konfessionellen oder religiösen Binnenwelt, in der nur eine bestimmte religiöse Sprache gilt. In diesem Umfeld haben wir – als christliche Theologen mit je einem landeskirchlichen Hintergrund – den Wert mancher Gebetsform aus unserer eigenen Tradition wieder neu entdeckt. Vielleicht wäre es uns nicht bewusst geworden, wie verbindend ein gemeinsames Unser Vater oder wie tröstlich der Eintrag in einem Fürbittbuch sein kann, wenn wir nicht im Kontext des Spitals arbeiten würden. Gleichzeitig haben wir aber auch erkannt, dass eine gemeinsame Konfession noch längst nicht bedeutet, dass zwei Menschen auch die Sprache des Gebetes miteinander teilen. Die Unterschiede sind subtil; die Grenzen verlaufen nicht analog zu Kirchen- oder Religionszugehörigkeit. Gemeinsames Beten mit einem anderen Menschen ist anspruchsvoll (auch für Menschen mit gleichem Hintergrund), aber es ist möglich (auch für Menschen mit unterschiedlichem Hintergrund). Gebete können wortreich sein oder aber ganz auf Worte verzichten. Ein Gebet kann uns als Seelsorgende stärken und uns helfen, uns zu sammeln, bevor wir einem Menschen begegnen. Gebete können missbraucht werden zu Belehrung,

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Missionierung oder Manipulation. Ein Gebet kann einen Raum zwischen Menschen eröffnen, in dem unerwartete und große Nähe möglich wird. Die Formen, die ein Gebet annehmen kann, sind vielfältig. Wir sind beeindruckt von der Kreativität, mit der Menschen authentische Gebete entwickeln. Eines der Privilegien, in einem Krankenhaus zu arbeiten, besteht vielleicht darin, dass wir eine Vielzahl solcher kreativen Prozesse miterleben dürfen. Es gibt stumme, leise oder laute Gebete; Gebete werden geflüstert, gesprochen, geschrien. Das eine Gebet ist Ausdruck und Bestärkung eines Bekenntnisses. Ein anderes vermeidet gerade jedes Bekenntnis und spricht so säkular, dass wir gar nicht mehr sicher sind, ob wir hier wirklich noch von einem »Gebet« sprechen können. Wo beginnt, wo endet ein Gebet? Wahrscheinlich gibt es so viele Arten zu beten, wie es Menschen gibt.

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Empirische Zugänge zum Beten im Horizont von Krankheit und Gesundheit

Eine These wäre, dass das Beten, wenn es Ausdruck einer Zuwendung zum Heiligen (Gott) ist, insbesondere in säkularen Gesellschaften von geringerer Praxisrelevanz ist, da die Bedeutung der theistischen Religionstraditionen rückläufig ist. Warum und wofür sollte man beten? Ist das Gebet denn hilfreich zur psycho-emotionalen Entlastung in Krisenzeiten? Sind Betende wenigstens gesünder oder lebenszufriedener als andere, wenn Gott schon nicht antwortet? Um diesen Fragen nachzugehen, werden im Folgenden empirische Befunde zur Wirksamkeit des Fürbittgebets dargestellt und Zusammenhänge verschiedener Typen des Gebets mit Aspekten der Lebensqualität angesprochen; darüber hinaus werden empirische Daten zur Praxis des Gebets und spezifisch zum Beten um Gesundheit in verschiedenen Personengruppen erörtert sowie zum generellen Bedürfnis zu beten. I. Biblische Heilungsgeschichten und heutige »Zahlen-Geschichten« »Alles, um was ihr in meinem Namen bittet, werde ich tun« (Joh 14,13), lautet eine Zusage, die hohe Erwartungen im Kontext von Gesundheit und Krankheit weckt. Gehen wir von der biblischen Geschichte der Heilung des Blinden aus (Lk 38,35–43): »Und er rief und sprach: Jesu, du Sohn Davids, erbarme dich mein! […] Und er sprach: Was willst du, dass ich dir tun soll? Er sprach: Herr, dass ich sehen möge. Und Jesus sprach zu ihm: Sei sehend! dein Glaube hat dir geholfen.« – Der Blinde wollte unbedingt gesund werden und Jesus vermittelt dies. Begleitet wird diese Heilung von der Erklärung Jesu, dass genau dieser »Glaube« geholfen hat. Wie würde die skeptische Wissenschaft an dieses Gleichnis herangehen? Ist dies nur eine äußerst individuelle Zuwendungsgeschichte aus einer weit entfernten Vergangenheit, zu der wir keinen Bezug mehr haben, ein besonderer Einzelfall? Vielleicht könnten wir uns eine Gruppe von Personen mit gleicher Beeinträchtigung vorstellen: Bei wie vielen Personen würde bei gleichem Setting und ebenfalls großer Erwartung ein objektivierbarer und nachhaltiger Heilungseffekt auftreten? Das würde dem experimentellen Setting einer klinischen Studie entsprechen, bei dem ein Therapieeffekt überprüft werden soll. Hierbei müsste es dann zwei Vergleichsgruppen geben, sodass die Bittenden dann

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entweder einem wirkmächtigen oder einem wirkungslosen Heiler per Zufall begegnen (Randomisation); und sie wären hinsichtlich seiner Wirkmächtigkeit idealerweise auch unwissend, denn sie könnten es nicht an äußeren Indikatoren ablesen (Verblindung); und auch der Heilende sollte nicht wissen, wem er sich helfend zuwendet (Doppel-Verblindung). Hierbei würden wir eine sehr komplexe »Zahlen-Geschichte« generieren. Das Besondere im Augenblick tritt in solchen »Zahlen-Geschichten« jedoch nicht hervor. In der Tat: An 364 Tagen im Jahr ist kein Engel zu Maria gekommen und hat sie angesprochen. Es wird jedoch immer nur das Besondere erinnert und aus dem Alltag herausgehoben, als ob die Begegnung mit dem Engels normal und alltäglich sei. Wenn es im Folgenden also um solche empirischen Zugänge gehen soll, muss klar sein, dass die »quantitative« Forschung zu anderen Schlussfolgerungen kommt als eine qualitative, die auf die individuellen Erlebnisberichte eingeht. Das Besondere, die individuelle Gebetsgeschichte, geht in empirischen Studien zumeist unter. II. Instrumentalisierung des Gebets In einer randomisierten, doppelblinden Studie von Byrd aus den späten 80er Jahren zeigte sich scheinbar, dass bei Patienten mit koronarer Herzerkrankung ein signifikanter Vorteil in Bezug auf postoperative Komplikationen besteht, wenn Externe für sie beten.1 Diese Veröffentlichung löste anschließend bei den skeptischen Wissenschaftlern großen Widerspruch aus. Entsprechende Studien zum Fürbittgebet wurden vielfach wiederholt. In einigen dieser Folgestudien wurden die Ergebnisse bestätigt, in anderen nicht.2 Je besser die methodologische Qualität der Studien war, desto geringer war der Wirkeffekt; je besser hinsichtlich der Erwartungshaltung der Patienten kontrolliert wurde, desto mehr verschwand der positive Effekt. Eine dieser randomisiert-kontrollierten Fürbittstudien war die von Benson und Kollegen.3 Auch hierbei ging es um postoperative Komplika1

Randolph C. Byrd, Positive therapeutic effects of intercessory prayer in a coronary care unit population, in: South Med J. 81 (1988), 826–829. 2 Übersicht bei: Mark Townsend / Virginia Kladder / Hana Ayele / Thomas Mulligan, Systematic review of clinical trials examining the effects of religion on health, in: South Med J. 95 (2002), 1429–1434; Kevin S. Masters / Glen I. Spielmans / Jason T. Goodson, Are there demonstrable effects of distant intercessory prayer? A meta-analytic review, in: Ann Behav Med. 32 (2006), 21–26; Kevin S. Masters / Glen I. Spielmans, Prayer and health: review, meta-analysis, and research agenda, in: J Behav Med. 30 (2007), 329–338; David R. Hodge, A Systematic Review of the Empirical Literature On Intercessory Prayer, in: Research on Social Work Practice 17 (2007), 174–187. 3 Herbert Benson / Jeffery A. Dusek / Jan B. Sherwood / Peter Lam / Charles F. Bethea / William Carpenter / Sydney Levitsky / Peter C. Hill / Donald W. Clem Jr / Manoj K. Jain / David Drumel / Stephen L. Kopecky / Paul S. Mueller / Dean Marek / Sue Rollins /

Empirische Zugänge zum Beten

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tionen nach einer Bypass-Operation. Das Fürbittgebet erfolgte 14 Tage lang; gebetet haben zwei katholische und eine protestantische Gemeinschaft, ohne in direktem Kontakt mit den Betroffenen zu sein (sie kannten nur den Namen des Betroffenen). Hier wurden drei Gruppen untersucht: Einem Drittel der Patienten wurde gesagt, dass möglicherweise für sie gebetet wird – und es wurde auch für sie gebetet. Einem weiteren Drittel der Patienten sagte man, dass möglicherweise für sie gebetet wird – aber es wurde nicht für sie gebetet. Und für das letzte Drittel der Patienten wurde tatsächlich gebetet – und diese wussten es auch. Es zeigte sich schließlich ein geringfügig höheres relatives Risiko bei denen, die wussten, dass für sie gebetet wird. Obwohl sicherlich niemand vermuten würde, dass das Fürbittgebet durch Fremde tatsächlich schaden würde, war das Ergebnis doch ernüchternd. Was heißt es also, wenn jemand weiß, dass für ihn gebetet wird? Ist seine Situation etwa so aussichtslos, dass nur noch gebetet werden kann? Vielleicht aber verlässt sich der Betroffene auf die Betenden und kann sich daher entspannt zurücklehnen? – Das eigene Beten wurde in den Studien übrigens nicht erfasst. Eine direkte personale Begegnung zwischen Betenden und Patient fand auch nicht statt. Siebzehn solcher Fürbittstudien wurden von Hodge in einer systematischen Übersichtsarbeit zusammengefasst, um die Effektstärke des Fürbittgebets berechnen zu können.4 Hier wurde ein sehr schwacher, aber signifikanter Effekt zu Gunsten des Fürbittgebets berichtet. Kritisch muss jedoch gesehen werden, dass auch Studien mit sehr kleiner Fallzahl (< 30 Teilnehmer) sowie methodisch schwache Studien in die Berechnung einbezogen wurden, was somit eine Ergebnisverzerrung hin zu positiven Effekten zur Folge haben kann. Ein wesentlich kritischerer Cochrane-Review von Roberts und Kollegen mit 10 eingeschlossenen randomisiert-kontrollierte Studien kam zu dem Schluss, dass die Mehrzahl der Studien keinen positiven Effekt des Fürbittgebets belegt.5 Was nun? Ist das Fürbittgebet nutzlos, eventuell sogar ungünstig, wenn wir an das Ergebnis der Studie von Benson und Kollegen denken? Würden wir diesem Ergebnis blind vertrauen, müssten wir nun Patienten, für die eine Bypass-Operation ansteht, ausdrücklich warnen, dass bloß niemand für sie betet. Fragen wir also nach dem theoretischen Hintergrund der Fürbittstudien. Wie soll das Fürbittgebet wirken, wenn keine direkte Begegnung zwischen Betenden und Patienten stattfand? Wir bräuchten entweder Patricia L. Hibberd, Study of the Therapeutic Effects of Intercessory Prayer (STEP) in cardiac bypass patients: a multicenter randomized trial of uncertainty and certainty of receiving intercessory prayer, in: Am Heart J. 151 (2006), 934–942. 4 David R. Hodge, Empirical Literature (s. Anm. 2). 5 Leanne Roberts / Irshad Ahmed / Steve Hall / Andrew Davison, Intercessory prayer for the alleviation of ill health, in: Cochrane Database Syst Rev. 15 (2009), CD000368.

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übertragbare »subtile Energien«, die von A nach B wirken, oder einen wunscherfüllenden »Automatismus«, der mit Gesundheitsgewährung für B als Reaktion auf die Anfrage durch A reagiert. Gott würde hierbei also als Testvariable implizit mit einbezogen sein. Dann wären diese Studien eigentlich als Gottesbeweis konzipiert worden. Das eigene Beten in dieser Situation (z. B. als Bitte um Hilfe) und Vertrauen in Gottes Zuwendung auch in Krankheit (ebenso wie das Wissen um das Gebet von Angehörigen) wurde in den Studien aber nicht berücksichtigt. Und genau dieses führt doch zur psychologischen Entlastung. Auch hier geht die besondere Lebensgeschichte des Individuums verloren und verschwindet in der Gruppe, bei der sich insgesamt keine kurzfristig messbare positive Wirkung gezeigt hat. III. Verschiedene Typen des Gebets Wenn das Gebet eine Hinwendung zu Gott ist, dann lassen sich nach Untersuchungen von Poloma und Pendleton faktorenanalytisch vier Gebetstypen unterscheiden:6 – – – –

Gespräch mit Gott: Dank, Bitte um Beistand Bittendes Gebet: Erfüllung spiritueller oder materieller Bedürfnisse Rituelles Gebet: Rezitation formeller Gebete Meditatives Gebet: Anbetung, Reflexion

Ladd und Spilka wiesen für diese Gebetstypen auf Zusammenhänge mit geringerem negativem Stress (Distress) und größerem Wohlbefinden bei Gesunden hin.7 Von Krebspatienten wird das Gebet als Coping-Strategie genutzt, um mit der Belastung der Erkrankung umgehen zu können.8 – Beten ist also scheinbar »nützlich«. Untersucht man jedoch den Zusammenhang zwischen den Gebetstypen und dem Befinden, dann zeigen sich für die vier genannten GebetsTypen nur schwache erklärende Zusammenhänge mit der Lebenszufriedenheit, existenziellem Wohlbefinden, Fröhlichkeit/Glücksgefühle oder negativem Affekt.9 Interessant ist der positive Zusammenhang zwischen dem dankenden oder bittenden Gespräch mit Gott auf der einen und 6

Margaret M. Poloma / Brian F. Pendleton, Types of Prayer and Quality of Life: A Research Note, in: Review of Religious Research 31 (1989), 46–52. 7 Kevin L. Ladd / Bernard Spilka, Prayer: A review of the empirical literature, in: Kenneth I. Pargament (Hrsg.), APA Handbook of Psychology, Religion, and Spirituality. Bd. 1. Context, Theory, and Research, Washington 2013, 1–18. 8 Ellen G. Levine / Caryn Aviv / Grace J. Yoo / Cheryl Ewing / Alfred Au, The benefits of prayer on mood and well-being of breast cancer survivors, in: Support Care Cancer 17 (2009), 295-306. 9 Vgl. Poloma/Pendleton, Types of Prayer (s. Anm. 6).

Empirische Zugänge zum Beten

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Fröhlichkeit/Glücksgefühlen auf der anderen Seite, während für diese ein negativer Zusammenhang mit der Gebetsfrequenz bestand. Man könnte vermuten, dass ich Gott danke, wenn es mir gut geht (was den positiven Zusammenhang erklären würde), aber dass ich das bittende Gebet intensiviere, wenn es mir nicht gut geht (was den negativen Zusammenhang erklären würde). Bedeutsam ist zudem, dass das meditative Gebet ein guter Prädiktor der religiösen Zufriedenheit ist: Es gelingt mir, in die Anbetung zu kommen, wenn ich mit meinem Gott im Einklang bin. Alle weiteren Gebetstypen hatten keine große Bedeutung für das Befinden. In einer Untersuchung von Pérez und Kollegen zu den Typen des Gebets, die hier anders kategorisiert wurden als von Poloma und Pendleton, und dem Zusammenhang mit depressiven Symptomen bei 179 US amerikanischen Krebspatienten (73 % Frauen, Altersmittel 54 Jahre; 41 % katholisch, 31 % protestantisch, 10 % andere christlich, 10 % andere, 8 % ohne) zeigten sich nur marginale inverse Zusammenhänge zwischen anbetendem (r=-.15), konfessorischem (r=-.06), rezeptiven (r=-.17) oder bittendem Gebet (r=-.11) auf der einen und Depressivität auf der anderen Seite; und zumindest ein schwacher Zusammenhang für das dankende Gebet (r=-29; p