Fundamentalanthropologie: Eine Philosophie für das 21. Jahrhundert (Abhandlungen zur Philosophie) 9783476057655, 9783476057662

Die Frage nach dem Menschen ist heute – im Zeitalter der zunehmenden Verschmelzung von Mensch und Technik (Cyborgisierun

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Table of contents :
Inhaltsverzeichnis
1 Kurze Vororientierung
2 Einleitung
2.1 Philosophie als Anthropologie
2.2 Anthropos oder Homo sapiens?
2.3 Tier und Mensch: die anthropologische Differenz
2.4 Ich und Gehirn, Geist und Geistigkeit
2.5 Michael Landmanns „Fundamental-Anthropologie“
2.6 Methode
2.7 Idee des Buches
3 Die Idee einer Fundamentalanthropologie
3.1 Disziplinäre Einordnung: Philosophie, Philosophische Anthropologie und Fundamentalanthropologie
3.2 Methode
3.3 Der fundamentalanthropologische Begriff des Menschen
4 Selbst-Bewusstsein
4.1 Problemformulierung und Fragestellung
4.2 Die These
4.3 Begriffe von Selbstbewusstsein
4.4 Der Begriff der Anerkenntnis
4.5 Der meinige Leib und der nicht-meinige Körper und ihre Anerkenntnis zum Selbst
5 Identität des Ich
5.1 Ich, Selbst und Selbstbewusstsein
5.2 Das egologische Mysterium
5.3 Die dreifache Identität des Ich
5.4 Die Austauschbarkeit des Selbst und die Unvertretbarkeit des Ich
5.5 Das rätselhafte Ich
6 Was ist Geist?
6.1 Begriffsklärungen
6.2 Geist und Sinn
6.3 Der objektive Geist im subjektiven
6.4 Ergänzende Überlegungen
7 Zur Zukunft des Menschen
7.1 Wessen Zukunft?
7.2 Die Utopie des Mind uploading
7.3 Weitere Optionen
Literatur
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Fundamentalanthropologie: Eine Philosophie für das 21. Jahrhundert (Abhandlungen zur Philosophie)
 9783476057655, 9783476057662

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Thorsten Streubel

Fundamentalanthropologie Eine Philosophie für das 21. Jahrhundert

ABHANDLUNGEN ZUR PHILOSOPHIE

Abhandlungen zur Philosophie

In dieser Reihe erscheinen Monographien und Sammelbände zur Philosophie bzw. zu angrenzenden oder die Fachgrenze überschreitenden Themen. Klassische Gebiete sollen neu abgesteckt, aktuelle Felder bearbeitet und innovative Fragen formuliert und zur Diskussion gestellt werden. Wir freuen uns über Ihr Interesse und Ihren Vorschlag! Weitere Bände in der Reihe http://www.springer.com/series/15906

Thorsten Streubel

Fundamentalanthropologie Eine Philosophie für das 21. Jahrhundert

Thorsten Streubel Philosophie Freie Universität Berlin Berlin, Deutschland

Abhandlungen zur Philosophie ISBN 978-3-476-05765-5 ISBN 978-3-476-05766-2  (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-476-05766-2 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2021 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Planung/Lektorat: Frank Schindler J.B. Metzler ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer-Verlag GmbH, DE und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Heidelberger Platz 3, 14197 Berlin, Germany

„Der Mensch ist der einzigartige Begriff, von dem man ausgehen und auf den man alles zurückführen muss […]. Was liegt mir, wenn ich von meiner Existenz und dem Glück meiner Mitmenschen absehe, noch an der übrigen Natur?“ Denis Diderot, Enzyklopädie (Artikel ‚Enzyklopädie‘) „Begriffe sind freilich das Material der Philosophie, aber nur so, wie der Marmor das Material des Bildhauers ist: sie soll nicht aus ihnen, sondern in sie arbeiten, d.h., ihre Resultate in ihnen niederlegen, nicht von ihnen, als dem Gegebenen ausgehen.“ „Der gegebene Stoff jeder Philosophie ist […] kein anderer, als das empirische Bewusstseyn, welches in das Bewusstseyn des eigenen Selbst (Selbstbewusstseyn) und in das Bewusstsein anderer Dinge (äußere Anschauung) zerfällt. Denn dies allein ist das Unmittelbare, das wirklich Gegebene.“ Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung II (Vom Verhältnis der anschauenden zur abstrakten Erkenntnis)

Inhaltsverzeichnis

1 Kurze Vororientierung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 2 Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 2.1 Philosophie als Anthropologie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 2.2 Anthropos oder Homo sapiens?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 2.3 Tier und Mensch: die anthropologische Differenz. . . . . . . . . . . . . . 19 2.4 Ich und Gehirn, Geist und Geistigkeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 2.5 Michael Landmanns „Fundamental-Anthropologie“. . . . . . . . . . . . 37 2.6 Methode. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40 2.7 Idee des Buches. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42 3 Die Idee einer Fundamentalanthropologie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 3.1 Disziplinäre Einordnung: Philosophie, Philosophische Anthropologie und Fundamentalanthropologie. . . . . . . . . . . . . . . . 43 3.2 Methode. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49 3.3 Der fundamentalanthropologische Begriff des Menschen. . . . . . . . 55 4 Selbst-Bewusstsein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 4.1 Problemformulierung und Fragestellung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 4.2 Die These. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70 4.3 Begriffe von Selbstbewusstsein. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70 4.4 Der Begriff der Anerkenntnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74 4.5 Der meinige Leib und der nicht-meinige Körper und ihre Anerkenntnis zum Selbst. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80 5 Identität des Ich. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83 5.1 Ich, Selbst und Selbstbewusstsein. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83 5.2 Das egologische Mysterium. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86 5.3 Die dreifache Identität des Ich. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88 5.4 Die Austauschbarkeit des Selbst und die Unvertretbarkeit des Ich. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 5.5 Das rätselhafte Ich. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92

VII

VIII

Inhaltsverzeichnis

6 Was ist Geist? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 6.1 Begriffsklärungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 6.2 Geist und Sinn. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118 6.3 Der objektive Geist im subjektiven. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 6.4 Ergänzende Überlegungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 7 Zur Zukunft des Menschen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 7.1 Wessen Zukunft?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 7.2 Die Utopie des Mind uploading. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150 7.3 Weitere Optionen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159

Kapitel 1

Kurze Vororientierung

Mit den in diesem Band versammelten Analysen und Überlegungen verfolge ich drei Ziele: Erstens möchte ich eine systematische Darstellung der in der Kritik der philosophischen Vernunft1 konzipierten Fundamentalanthropologie auf dem neuesten Forschungsstand vorlegen (Kap. 3). Zweitens möchte ich – hierauf aufbauend – zentrale, aber bisher von mir nur unzureichend oder gar nicht behandelte Themen wie Selbstbewusstsein, Identität des Ich und das Wesen des menschlichen Geistes zum Gegenstand fundamentalanthropologischer Analysen machen und damit die Fundamentalanthropologie selbst um wichtige Analysen erweitern (Kap. 4, 5 und 6). In einem abschließenden Kapitel (Kap.7) möchte ich drittens, ausgehend von der hier präsentierten und fortentwickelten Fundamentalanthropologie, Schlussfolgerungen bezüglich der Zukunft des Menschen präsentieren. Hierbei geht es jedoch nicht um direkte Zukunftsprognosen oder Prophetie, sondern primär um den Nachweis, dass eine vermeintliche Realmöglichkeit oder Realisationsmöglichkeit gar nicht gegeben ist: Der posthumanistische Traum, dass sich der menschliche Geist vom Ich bzw. Gehirn ablösen ließe und „upgeloadet“ werden könnte, um dann ein unsterbliches digitales Dasein zu fristen, wird sich als Unmöglichkeit erweisen, da dieser Traum nur aufgrund eines falschen Bildes vom menschlichen Geist und von der Natur des Menschen überhaupt entstehen konnte.

1Thorsten Streubel: Kritik der philosophischen Vernunft. Die Frage nach dem Menschen und die Methode der Philosophie. Wiesbaden 2016.

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2021 T. Streubel, Fundamentalanthropologie, Abhandlungen zur Philosophie, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05766-2_1

1

2

1  Kurze Vororientierung

Die vorangestellte Einleitung (Kap. 2) soll es dem interessierten Leser2 ermöglichen, auch ohne umfangreichere Vorkenntnisse einen Zugang zu den hier versammelten Analysen zu erhalten. Zunächst werde ich das Verhältnis der hier vorgestellten Fundamentalanthropologie zur Philosophie im Allgemeinen und zur Philosophischen Anthropologie im Besonderen bestimmen und zudem dafür argumentieren, dass man die Philosophie überhaupt als Anthropologie verstehen sollte (Abschn. 2.1). Sodann werde ich versuchen, den fundamentalanthropologischen Begriff des Menschen („Anthropos“) vom natursystematischen Begriff des Menschen („Homo sapiens“) abzugrenzen und zugleich beide Begriffe in ein Verhältnis zueinander zu setzen (Abschn. 2.2). Hieran schließe ich eine Positionierung hinsichtlich der „anthropologischen Differenz“ (Abschn.  2.3), eine klärende Stellungnahme zum Verhältnis von Gehirn und Geist sowie eine begriffliche Differenzierung des Geistbegriffs selbst an (Abschn. 2.4). Es folgen schließlich: eine Verhältnisbestimmung der von mir konzipierten Fundamentalanthropologie zur „Fundamental-Anthropologie“ Michael Landmanns (Abschn. 2.5), eine konzise Zusammenfassung der Methode der Fundamentalanthropologie (Abschn. 2.6) sowie eine kurze Darlegung der Idee des vorliegenden Buchs (Abschn. 2.7).

2Da

ich mich an alle Geistwesen (= anthropoiale Lebensformen) richte, auch an solche, die gar kein Geschlecht aufweisen, verwende ich im Weiteren zumeist das generische Maskulinum. Für die Fundamentalanthropologie gehört es nicht zum Wesen anthropoialen Lebens über ein bestimmtes Geschlecht zu verfügen.

Kapitel 2

Einleitung

2.1 Philosophie als Anthropologie Das eigentliche Zentrum aller philosophischen Fragen und Bemühungen ist der Mensch. Er ist Subjekt, Objekt und Adressat der Philosophie. Er ist ihr Subjekt, insofern es Menschen sind, die philosophieren, und nicht etwa Schimpansen, Blumen oder auch ein allwissendes Wesen. Das Tier kann nicht philosophieren; Gott braucht nicht zu philosophieren. Ein Gott, der philosophierte, wäre kein Gott, weil das Wesen der Philosophie ist, eine endliche Möglichkeit eines endlichen Seienden zu sein.1

Damit soll freilich nicht behauptet werden, dass notwendig alle Menschen ständig und zu allen Zeiten philosophieren, gar im akademischen oder universitären Sinne des Wortes. – Dies ganz sicher nicht. Hierzu müssen vielmehr bestimmte historische, soziale, geistige und existenzielle Bedingungen, aber auch persönliche Neigungen vorliegen.2 Philosophie ist aber durchaus eine, wenngleich

1Martin

Heidegger: Einleitung in die Philosophie. Frankfurt a.M. 1996 (GA 27). 3. – Wenn Heidegger behauptet, dass ein Gott nicht philosophiert, dann setzt dies einen Gottesbegriff voraus, der zumindest den Begriff der Allwissenheit impliziert. Ob auch ein nicht allwissender Gott nicht philosophieren würde, muss hier offen bleiben. Wenn ich daher im Folgenden behaupte, dass nur Menschen philosophieren, dann mit dem mentalen Vorbehalt, dass ein unfertiger, „werdender Gott“ hiervon eventuell eine Ausnahme bilden könnte. Ein solcher Gott würde sich vielleicht fragen: Woher komme ich?, Wohin soll ich mich (und mit mir die Welt) entwickeln? Vielleicht ist es aber auch so, dass ein unendliches Wesen gar kein Selbstbewusstsein ausbilden und daher auch nicht über sich nachdenken, somit auch nicht philosophieren kann. – Wie dem auch sei, ob ein epistemisch endlicher Gott zu philosophieren vermag, kann vermutlich nur ein Gott beantworten. 2Auch wenn man wie Heidegger einen sehr weiten Begriff von Philosophie und Philosophieren zugrundelegt und schon den Mythos als Produkt des Philosophierens versteht, folgt daraus nicht, dass wir Menschen, „sofern wir als Menschen existieren“, „ständig und notwendig“ philosophieren: „Als Mensch da sein, heißt philosophieren.“ (Heidegger: Einleitung in die Philosophie. 3.)

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2021 T. Streubel, Fundamentalanthropologie, Abhandlungen zur Philosophie, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05766-2_2

3

4

2 Einleitung

nicht voraussetzungslose, menschliche Möglichkeit als Mensch über sich – als Menschen – nachzudenken. Und: Nur Menschen philosophieren. Dies hängt mit der im Zitat erwähnten Endlichkeit des Menschen, aber auch mit seiner Geistigkeit zusammen, die eine notwendige Bedingung dafür ist, überhaupt philosophieren zu können, das heißt, über sich selbst sowie über „Gott und die Welt“ in allgemeinen Begriffen nachzudenken, ja überhaupt allererst Ideen von Mensch, Gott (oder dem Absoluten, dem Urgrund etc.) und Welt auszubilden. Dies setzt voraus, dass ein Mensch ein gewisses geistiges Niveau erreicht hat, das allerdings nicht sonderlich gehoben sein muss. Schon kleine Kinder (und besonders diese) stellen philosophische Fragen. Die individuelle Geistigkeit des Menschen, zu der auch konstitutiv die Sprachlichkeit zu rechnen ist, ist ein in einem sozialen Rahmen jeweils individuell erworbenes Gut von mehr oder weniger intersubjektiv geteilten Gehalten – und nur die Anlage, Geistigkeit auszubilden, ist angeboren (vgl. hierzu unten: 4.).3 Daher können durchaus nicht alle Menschen philosophieren (‚Mensch‘ hier im rein biologischen Sinne genommen). Dies gilt im ontogenetischen wie phylogenetischen Sinne: Ein menschlicher Säugling etwa kann (noch) nicht philosophieren – ihm fehlen hierzu die geistigen Mittel. Dass die ersten Hominini gleich zu philosophieren begannen, noch bevor sie Sprache und sonstige Werkzeuge erfanden, ist recht unwahrscheinlich. Erst wenn die entsprechenden geistigen Werkzeuge (Sprache und Begriffe) zur Verfügung stehen bzw. erworben und angeeignet wurden, kann ein Mensch philosophieren. Und dies setzt eben ein gewisses Kulturniveau, vor allem eine ‚welt‘hafte Sprache einer Gemeinschaft von Menschen voraus, die jedes ‚Menschenkind‘ sich allererst aneignen muss, um als Mensch existieren und bestehen zu können. Nebenbei bemerkt ist es auch diese konstitutionelle Unfertigkeit (also die Angewiesenheit auf Kulturalisierung) gewesen, die den anthropologischen Schein erzeugte, dass der Mensch ein „Mängelwesen“ (Gehlen) sei, obwohl er in Wahrheit weniger der natürlichen Umwelt als vielmehr seiner Kulturwelt angepasst ist: Hand und Geist sind unspezialisiert, um vielen Spezialaufgaben gewachsen zu sein, der Verdauungsapparat ist an gegarte und zubereitete Nahrung angepasst,4 das fehlende

3In

diesem Punkt denke ich eher aristotelisch als kantisch: M.E. spricht nichts dafür, dass es angeborene oder eingeborene geistige Gehalte gibt. Nur die geistige Fähigkeit, begrifflich Allgemeines zu erfassen, ist Teil unserer ersten Natur. Diese Fähigkeit – nennen wir sie mit Aristoteles „Nous poietikos“ – ist ein aktives Vermögen, welches auf das Komplement der Anschauung und deren Gehalte bezogen ist, ohne die der menschliche Geist nichts erfassen könnte (vgl. Aristoteles: De anima III, 5). Im Unterschied zu Aristoteles (oder zu einer bestimmten Lesart der aristotelischen Eidos-Lehre) ist das Allgemeine nach meiner Auffassung jedoch kein konstituierender Teil des Individuellen. Das Individuelle ist durch und durch individuell. 4Vgl. Richard Wrangham: FEUER FANGEN. Wie uns das Kochen zum Menschen machte – eine neue Theorie der menschlichen Evolution. München 2009: Wir Menschen essen hiernach „gekochte Nahrung nicht deshalb, weil wir hierfür genau die richtigen Zähne und den richtigen Verdauungstrakt haben, sondern wir haben kleine Zähne und relativ kurze Därme, weil wir an gegarte Kost angepasst sind.“ (99)

2.1  Philosophie als Anthropologie

5

Haarkleid an Kleidung, der Sprachapparat an menschliche Sprache etc. Aufgrund der Komplementarität von erster und zweiter Natur ist der Mensch daher auch nicht schon von seiner ersten Natur her ein ‚homo philosophicus‘ oder ein ‚animal metaphysicum‘ – oder jedenfalls nur sehr vermittelt über die Kulturanpassung der ersten Natur. Und zwar weil er nicht ab ovo, also ab seiner Zeugung ein endliches Geist-, Vernunft- oder Kulturwesen im vollen Sinne des Wortes ist, sondern Geistigkeit und Kultur erst individuell ausbilden und erwerben muss. Der Mensch ist nicht per se ein Geistwesen im Vollsinne, sondern wird es allererst, indem er in eine Gemeinschaft von geistigen Wesen hineingeboren wird und deren Geist – den jeweiligen objektiven Geist – internalisiert. Sicherlich: Um ein Geistwesen werden zu können, muss man schon über Geist als aktives Vermögen (Nous) verfügen oder potenzielles Geistwesen sein. Aber bloße angeborene Vermögen, Anlagen, Potentiale, gar aktive, aber uninformierte geistige Kräfte und Triebe genügen nicht, um auch nur einen einzigen propositionalen Gehalt denken oder unmittelbar erfassen zu können; erst recht befähigen nackte, noch unentwickelte Potenziale nicht direkt zur Philosophie. Zur ersten Potentialität (Nous, Gedächtnis) muss die zweite Potentialität erworbener und aktualisierbarer geistiger Gehalte kommen, um philosophieren und überhaupt reflektieren zu können. Der Mensch ist daher erst ab einer bestimmten Entwicklungsstufe ein endliches Geistwesen in einem nichttrivialen, anspruchsvollen Sinne, welches infolgedessen (Geistigkeit als conditio sine qua non) die Möglichkeit besitzt, über sich philosophisch (oder auch auf andere Weise) zu reflektieren. Er ist näherhin ein endliches Geistwesen, insofern er nicht nur wie die allermeisten Lebensformen sterblich ist, sondern auch (zumindest abstrakt) darum weiß, dass er sterben muss. Er ist aber auch endlich aufgrund seines begrenzten, aber nichtsdestotrotz vorhandenen Welt- und Selbstwissens, seiner Vulnerabilität (Verletzlichkeit) und seiner begrenzten Mächtigkeit, d.i. seiner begrenzten Handlungs- und Gestaltungsmacht. – Seine multiple, sich nicht auf seinen Geist allein beschränkende Endlichkeit gründet letztlich darin, dass der Mensch ein endliches Leibwesen (und damit Leidwesen) ist und deshalb auch sein Geist und überhaupt seine Erkenntnis- und Handlungsvermögen notwendig endlich sind.5 Er ist ein endliches Geistwesen, weil er ein endliches Leibwesen ist. Zudem unterliegt er, aufgrund seiner natürlichen Nichtfestgelegtheit oder Nichtfestgestelltheit (Instinktreduktion als Part seiner ersten Natur) und seiner komplementären Geistigkeit, der Notwendigkeit,

5Ob allerdings Leibsein generell Endlichsein, Endlichkeit impliziert, muss hier offen bleiben. Wenn die Welt der Leib Gottes und die Welt zugleich unendlich wäre, dann wäre ‚Endlichkeit‘ begrifflich nicht im allgemeinen Begriff des Leibes impliziert.

6

2 Einleitung

sein Leben führen zu müssen und damit verbunden: sich im Leben zu orientieren.6 Der Mensch muss sein Leben führen und er bedarf dabei der Orientierung, weil er konstitutiv weltfremd ist (um einen glücklichen Terminus von Günther Anders zu verwenden7) und erst durch Kultur und Technik in dieser ihm fremden Welt ein Stück weit heimisch werden kann. Sich als Individuum selbständig und aktiv im Leben orientieren zu können oder gar zu müssen, ist jedoch geschichtlich betrachtet keineswegs der Normalfall. Der Mehrzahl der Menschen war es die längste Zeit gesellschaftlich vorgegeben, wie man zu leben hatte. Freie Berufswahl, Aufstieg durch Bildung, Aussteigertum, alternative Lebensformen, Selbstverwirklichung etc. sind allenfalls moderne Massenphänomene, jedenfalls keine anthropologische Universalien. Aber es ist eben auch wahr, dass es nicht des Menschen erste Natur ist, die primär seine jeweilige Lebensführung determiniert und ihn orientiert, sondern primär die jeweiligen „Institutionen“ (Gehlen) wie Sitten und Gebräuche, Religion, Verwandtschaftssystem, Rechtssystem, aber auch die Gesellschafts- und Wirtschaftstruktur und die soziale Ausgangslage, also die Familie, in die man hineingeboren wurde. Und auch sein existenzielles Orientierungsverlangen wurde und wird z. T. bis heute in der Regel nicht durch die Philosophie gestillt, sondern durch Mythen, Religionen, Ideologien, Esoterik und wissenschaftlich unterfütterte oder gar verbrämte Weltanschauungen – oder es wird betäubt durch die Produkte der Konsumgüter- und der Unterhaltungsindustrie. Die innere Leere, so scheint es, lässt sich doch ganz gut durch die äußere Fülle der vielfältigen Konsumartikel vergessen machen. Es soll zudem Menschen geben, die auf existenzielle Orientierung ganz verzichten können und einfach ihr Leben leben. Dass es die (abendländische) Philosophie als menschliche Vollzugsform trotzdem seit über zweieinhalbtausend Jahren gibt, zeigt jedoch

6Man

könnte auch sagen, weil der Mensch (jeder Mensch) als geistiges Wesen in einem dreifachen Sinne endlich ist, nämlich nicht allmächtig, nicht allweise und nicht allgütig, ist er das Wesen, das nicht nur philosophieren kann, sondern unter bestimmten Bedingungen auch dazu motiviert ist. Wäre er allmächtig, müsste er nicht sterben und könnte alle seine Bedürfnisse per Willensakt befriedigen, wäre er allweise, müsste er nicht nach Weisheit streben und alle Sinnfragen wären bereits beantwortet, und wäre er allgütig, dann gäbe es keinen Anlass, über das Gute und das gute Leben nachzudenken. Menschen philosophieren also, weil sie einerseits mehr und anderes als nur weltoffene Lebewesen und andererseits trotzdem endlich und nicht unendlich sind. Doch Weltoffenheit, Geistigkeit und Endlichkeit sind zusammen nur notwendige, nicht jedoch hinreichende Bedingungen dafür, dass Menschen philosophieren. 7Günther Anders: Die Weltfremdheit des Menschen (hrsg. v. Ch. Dries). München 2018. Allerdings ist kritisch anzumerken, dass der Begriff der „Weltfremdheit“ einen Gegenbegriff zur Instinktgebundenheit der Tiere darstellt. Bedeutet „Weltfremdheit“ dasselbe wie ‚Instinktreduktion‘, dann sind auch viele Tiere „weltfremd“ oder „weltoffen“. Aber nur solche animalischen Wesen, die ihre Weltfremdheit durch geistige Weltaneignung ‚kompensieren‘, konstituieren ‚Welt‘ und realisieren anthropoiales Leben (s. hierzu die Ausführungen in den folgenden Unterkapiteln).

2.1  Philosophie als Anthropologie

7

ein weitverbreitetes menschliches Bedürfnis an, das auch dann weiter besteht, wenn andere Sinnangebote ihre Überzeugungskraft einbüßen. Viele Menschen wollen nicht nur wissen, was der Sinn ihres Lebens oder des Lebens überhaupt sein könnte und ob es ein Leben nach dem Tod gibt, sondern sie wollen auch wissen, ob es Maßstäbe richtigen und falschen Handelns gibt, da wir Menschen zwar nicht unbedingt zur Willensfreiheit, aber doch zum Handeln verurteilt sind. Und natürlich stellt sich dann immer auch die Frage, ob wir auf die existenziellen Fragen belastbare Antworten bekommen können, was wiederum die Frage nach den menschlichen Erkenntnismöglichkeiten aufwirft. Kant hat daher vier philosophische Grundfragen formuliert, die einen Großteil der Fragen abdecken, die sich dem Menschen stellen, insofern er Mensch und ein endliches Geistwesen ist, welches sich fragen kann, was es mit ihm und der Welt auf sich hat: 1) Was kann ich wissen? 2) Was soll ich tun? 3) Was darf ich hoffen? 4) Was ist der Mensch?8 Es war zwar nicht die philosophierende Vernunft, die diese Fragen, insbesondere die nach der Herkunft und Stellung des Menschen im Kosmos, zuerst beantwortete, sondern die dichtende Vernunft (vor allem in Form von Ursprungsmythen und Weltbildern, Kosmogonien und Anthropogenien). Und es ist sogar fraglich, ob die Philosophie überhaupt letztgültige Antworten auf diese Fragen geben kann. Nichtsdestotrotz kann uns die Philosophie darüber aufklären, warum diese Fragen so schwer zu beantworten sind und warum nichtsdestotrotz Wahrheit ein hoher, vielleicht sogar der existenzielle Grundwert überhaupt ist.9 – Und warum man etwa religiösen Dogmen oder sonstigen Glaubenssätzen besser keinen Glauben schenken sollte, weil irgendetwas nur zu glauben (weil es Halt gibt oder Trost spendet) letztlich nicht zu unserem Besten ist. In diesem Sinne ist die Philosophie der Versuch, uns Menschen darüber aufzuklären, was uns wirklich wichtig sein sollte, weil es in unser aller Selbstinteresse liegt. Überhaupt besteht der entscheidende Unterschied zwischen der Philosophie und ihren ‚Konkurrenten‘ darin, dass es bei ihr darum geht, wirklich zu wissen und nicht nur wahrhaftig zu glauben. Der Wille zum Wissen und zur Wahrheit ist es daher, der sich als Philosophie manifestiert, weil alle anderen Formen der Orientierung letztlich das Bedürfnis nach Wissen und Wahrheit und damit nach verlässlicher Orientierung nicht zu stillen vermögen. Aber erst wenn sie als Formen des Nichtwissens desavouiert werden, können Religionen, Ideologien und sonstige Glaubenssysteme ihre orientierende Überzeugungskraft verlieren. Daher müssen epistemische Begriffe wie ‚Wissen‘, ‚Glaube‘, ‚Meinung‘, ‚Wahrheit‘, ‚Evidenz‘,

8Vgl.

Immanuel Kant: Logik. AA IX, 25. hierzu: Thorsten Streubel: Wahrheit als existenzieller Wert. Versuch über das Verhältnis von Wahrheit, Philosophie und Leben. In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 65 (3), 2017. 554– 570. 9Vgl.

8

2 Einleitung

‚Begründung‘, ‚Rechtfertigung‘ etc. im Zentrum der philosophischen Aufklärung des Menschen und der Selbstaufklärung der Philosophie stehen. Wenn Relativitätstheorie und Quantenphysik in den Schulen gelehrt wird, dann sollte dort erst Recht über den Unterschied zwischen ‚etwas wissen‘ und ‚etwas nur glauben‘ sowie über legitime und nichtlegitime Wissensansprüche diskutiert werden! Man kann jedenfalls sagen, dass die Philosophie den menschlichen Versuch darstellt, den Menschen wissenschaftlich über sich selbst aufzuklären – was er überhaupt wissen kann (und was das überhaupt ist: ‚Wissen‘), was er tun soll, was er hoffen darf etc. – und ihn so zu orientieren, auch auf die Gefahr hin, ihn radikal zu verunsichern. Die Philosophie gleicht in diesem Punkt der progressiven Kindererziehung: Beide wollen (oder sollen) aus unmündigen, unselbständigen Wesen, selbständig handelnde und selbständig denkende mündige Bürger und Menschen machen, die auch geistig auf eigenen Beinen zu stehen vermögen. Der Mensch ist daher nicht nur Subjekt, sondern auch Objekt und Adressat der Philosophie. Es sind immer Menschen, die über das Menschsein und den Menschen als orientierungsbedürftiges Wesen philosophieren (Mensch als Objekt der Philosophie). Und es geht dabei nicht um reine Theorie, sondern letztlich um eine aufgeklärte Praxis (Mensch als Adressat der Philosophie). Adressat der Philosophie ist freilich der einzelne Mensch (oder einzelne Menschen, die eine soziale Gemeinschaft bilden, vielleicht sogar die Menschheit), da es den Menschen im Allgemeinen nicht gibt, sondern – wenn überhaupt – nur einen allgemeinen Begriff des Menschen.10 Da sie aber trotzdem auf Allgemeinheit und Allgemeingültigkeit aus ist, ist ihr Objekt der Mensch als Gattungswesen – oder wie ich lieber sagen möchte: der Mensch als Lebensform sui generis. Was sie über den Menschen im Allgemeinen aussagt (über ihr Objekt), gilt auch für jedes menschliche Individuum, insofern es Mensch ist (ihren Adressaten). Doch wie steht es mit der foucaultschen Prognose, dass der Mensch als epistemischer Gegenstand von Philosophie und Wissenschaften verschwinden wird, „wie am Meeresufer ein Gesicht im Sand“?11 Ob diese Vorhersage eintreffen

10Auch

wenn es nur individuelle Menschen gibt, lautet die philosophische Kardinalfrage: ‚Was ist der Mensch?‘ und nicht: ‚Was ist das, ein Mensch?‘. Denn eine solche Frage verlangt entweder danach, Exemplare der Spezies ‚Mensch‘ vorzuzeigen und zu antworten: Schau, dies ist ein Mensch! – Wobei dann zumindest der Zeigende schon über einen rudimentären Begriff des Menschen verfügen muss. Solche Vorbegriffe sind jedoch philosophisch gerade in Frage zu stellen. Oder sie fragt danach, was das Menschsein überhaupt ausmacht. Dann fragt sie nach dem Begriff des Menschen, nach seinem ‚Wesen‘. Aber dann lautet die Frage schlicht wie oben: ‚Was ist der Mensch?‘. Man könnte auch fragen, wer ist der Mensch? – Doch diese Frage ist widersinnig, auch wenn mit ihr deutlich gemacht werden soll, dass der Mensch kein Ding ist. Ich kann bei Einzelpersonen danach fragen, wer dieser bestimmte Mensch sei, etwa: ‚Wer ist die Dame, die gerade spricht?‘ Aber ‚der‘ Mensch ist keine Person, sondern eine Art oder Gattung, also eine begriffliche Größe. Zu fragen, wer der Begriff Mensch ist, ergibt keinen konsistenten Sinn, sondern nur Widersinn. Wir fragen also nicht nach einem Wer, sondern nach einem Was – nach einem begrifflich Allgemeinen.

11Michel

Foucault: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften. Frankfurt a.M. 1971. 462.

2.1  Philosophie als Anthropologie

9

wird, kann niemand wissen. Aber solange es Menschen gibt, wird der Mensch ein legitimer Gegenstand des philosophischen Nachdenkens bleiben, unabhängig davon, ob die Philosophie ihn de facto zum Gegenstand macht oder nicht, oder ob es sie weiterhin institutionell geben wird oder nicht. Solange es Menschen gibt, wird es ein Bedürfnis nach Selbstaufklärung geben, unabhängig davon, ob dieses Bedürfnis philosophisch gestillt wird. Und solange es Menschen gibt, gibt es keine in der Sache liegenden Gründe, die philosophische Beschäftigung mit dem Menschen zu suspendieren. Man könnte nun die bisherigen Überlegungen dahingehend zusammenfassen, dass man sagt: Dem Menschen stellen sich aufgrund der Conditio humana bestimmte Fragen (Sinnfragen, praktische Fragen, ganz allgemein: Orientierungsfragen); und zu philosophieren ist (nach oder neben Mythos, Religion, später: Esoterik und Ideologien) eine Möglichkeit, sich diesen Fragen zu stellen und letztbefriedigende Antworten zu suchen (wenngleich selten zu finden). Da es somit dem Menschen beim Philosophieren letztlich um sich selbst geht, ist er Subjekt, Objekt und Adressat der Philosophie. Alle philosophischen Fragen drehen sich letztlich um dieses Rätselwesen, welches wir selbst sind, nicht nur weil es tatsächlich besonders rätselhaft ist (was man für andere ‚Gegenstände‘ ebenfalls mit Fug und Recht sagen könnte), sondern weil der Philosoph oder der Philosophierende selbst ein Mensch ist und ein existenzielles Interesse an sich selbst hat. Daher ist der Mensch das unmittelbare oder mittelbare Objekt der Philosophie. Mittelbares Objekt ist er in den meisten Teildisziplinen der Philosophie wie der Logik, Erkenntnistheorie, Metaphysik, Sozialphilosophie etc. Denn auch wenn sich diese Disziplinen nicht als Zweige der philosophischen Anthropologie darstellen, so haben sie doch immer einen anthropologischen Bezug: die Logik etwa, insofern sie menschliches Denken normieren möchte und doch zugleich begründen muss, warum ihre Geltung trotzdem nicht von der neurologischen oder psychischen Verfasstheit des Homo sapiens abhängt, obwohl doch auch Logiker in der Regel Menschen sind; die Erkenntnistheorie, die von den Möglichkeiten, dem Umfang und den Grenzen menschlicher Erkenntnis handelt und wiederum von Menschen gepflegt wird; aber auch die Ontologie, die zwar nach dem Seienden im Allgemeinen fragt, aber doch nicht davon abstrahieren kann, dass es wiederum Menschen sind, die glauben, etwas Allgemeines über das Seiende aussagen zu können und zugleich selbst Seiende sind, die nach dem „Sinn von Sein“ fragen und daher ontologisch verfasst sind: nämlich als Seiende, die nicht nur sind, sondern sich auch für das Sein (das Sein des Seienden im Allgemeinen, das Sein des Menschen, des Lebendigen, des Dings etc. im Besonderen) theoretisch interessieren können; die Sozialphilosophie, die nicht davon abstrahieren kann, dass der Mensch nicht nur Produkt, sondern auch Voraussetzung von sozialen Gruppierungen, Gemeinschaften oder Gesellschaften ist, und klären muss, warum menschliches Zusammenleben möglicherweise anders funktioniert als das der Bienen, Ameisen und sogar das der Schimpansen und Gorillas. Unmittelbar scheint sich nur die Teildisziplin der philosophischen Anthropologie mit dem Menschen zu beschäftigen, ebenso wie die von mir konzipierte Fundamentalanthropologie (s. Kap. 3). Aber da das eigent-

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2 Einleitung

liche Zentrum der Philosophie der Mensch ist, kann die Philosophie als Anthropologie in einem umfassenden Sinne verstanden werden. Denn auch die Zweige der Philosophie (ihre Teildisziplinen) sind immer auf den Menschen zurückbezogen (oder handelt etwa die Sprachphilosophie, um ein weiteres Beispiel anzuführen, nicht in erster Linie von menschlicher Sprache?). Dass die Philosophie aber trotzdem nicht mit der Teildisziplin ‚philosophische Anthropologie‘ oder mit dem Paradigma bzw. dem „Denkansatz“ ‚Philosophische Anthropologie‘ (wie sie von Scheler, Plessner und Gehlen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts begründet wurde) identifiziert wird,12 hängt auch damit zusammen, dass die Philosophie noch nicht wirklich zu ihrem eigentlichen Selbstbewusstsein und Selbstbegriff gekommen ist; aber eben auch damit, dass die P/philosophische Anthropologie nicht in dem umfassenden Sinne als Philosophie überhaupt und zugleich als strenge Wissenschaft (Husserl) begründet wurde. Die Frage nach dem Menschen ist zwar auch bisher keine abseitige philosophische Nebenfrage und der Mensch damit kein philosophisches Sonderthema und schrulliges Steckenpferd von Liebhabern einer bestimmten Tiergattung (von Menschenliebhabern und nicht von Schmetterlingsliebhabern), sondern das umgreifende Thema der Philosophie als Orientierungswissenschaft, die statt Erzählungen (Mythos), Dogmen (Religion) oder Weltanschauungen (Ideologie), Wissen zu geben beansprucht; – oder zumindest legitime Wissensansprüche erhebt, das heißt, den Gewissheitsgrad ihrer Behauptungen offenlegt, ja diesen selbst noch einmal in einer Theorie des Wissens problematisiert. Trotzdem wird die Philosophie meistens nicht explizit als Anthropologie verstanden, obwohl sie es de facto ist. Daher dürfte es nach dem bisher Gesagten nicht mehr vermessen klingen, wenn man auch begrifflich die Philosophie als umfassende und grundlegende Anthropologie bestimmt. Damit die Philosophie aber auch als strenge Wissenschaft auftreten kann, muss sie sich radikal erneuern. Denn nur so kann sie auch als Orientierungswissenschaft fungieren und damit mehr sein als nur eine historische Abfolge von nicht hinreichend begründeten Weltanschauungen (zu denen auch der gegenwärtige Naturalismus zu zählen ist). Eine solche strengwissenschaftliche Philosophie als umfassende Anthropologie, wie ich sie als allein sinnvoll erachte und daher zur Realisierung empfehlen möchte, ist ihrer Idee nach kein monolithischer oder monothematischer Block, auch wenn sie einen durchgehenden (freilich nicht deduktiven) Begründungszusammenhang und thematischen Fundierungszusammenhang darstellt, der durch drei Stufen gekennzeichnet ist:

12Vgl.

zu dieser Unterscheidung: Joachim Fischer: Philosophische Anthropologie. Eine Denkrichtung des 20. Jahrhunderts. Freiburg, München 2008. 9. Wenn von der entsprechenden Teildisziplin die Rede ist, wird dies durch Kleinschreibung (philosophische Anthropologie), wenn vom Denkansatz die Rede ist, wird dies durch Großschreibung (Philosophische Anthropologie) angezeigt.

2.2  Anthropos oder Homo sapiens?

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1. Die Selbstbegründung der Philosophie als strenger Wissenschaft (Erkenntnistheorie der philosophischen Erkenntnis; Methodologie, Aletheiologie). 2. Die Begründung und Ausarbeitung der Fundamentalanthropologie (die eine allgemeine Antwort auf die Frage nach dem Menschen als Anthropos (s. unten Abschn. 2.2 und Kap. 3.) gibt und damit zugleich die theoretischanthropologische Basis für alle Teildisziplinen der Philosophie bereitstellt, einschließlich der interdisziplinär verfahrenden P/philosophischen Anthropologie im engeren Sinne). 3. Die Teildisziplinen der Philosophie, die gleichsam die Brücken zu den Einzelwissenschaften darstellen. Das systematische Zentrum der philosophischen Teildisziplinen sollte die P/philosophische Anthropologie sein, die systematische Grundlage aller Teildisziplinen (einschließlich der P/philosophischen Anthropologie) aber die Fundamentalanthropologie und die Selbstbegründung der philosophischen Erkenntnis.

2.2 Anthropos oder Homo sapiens? Die Philosophie stellt eine reale menschliche Möglichkeit dar, die historisch vielfach und in vielgestaltigen Ansätzen tentativ ergriffen und auch – wie unbefriedigend auch immer – ins Werk gesetzt wurde. Doch wie lässt sich begründen, dass tatsächlich ausschließlich Menschen philosophieren? Bisher habe ich diese Behauptung mit dem Verweis auf die Endlichkeit und Geistigkeit des Menschen zu fundieren versucht – und daran ist festzuhalten. Könnte es jedoch nicht auch geistiges Leben auf anderen Planeten geben, das fähig und willens war (bzw. ist oder sein wird), sich philosophisch zu orientieren? Dass dies vorstellbar ist, genügt schon, um die Gleichung ‚Mensch = Homo sapiens = animal metaphysicum‘ in Frage zu stellen. Wie im Weiteren noch deutlich wird, verstehe ich tatsächlich unter ‚Mensch‘ (in einem noch zu explizierenden fundamentalanthropologischen Sinn) nicht nur die irdische Spezies Homo sapiens, sondern die allgemeine Idee einer bestimmten Lebensform, die zu anderen Zeiten und/oder an anderen Orten im Universum morphologisch, sprachlich-kulturell etc. ganz unterschiedlich realisiert sein kann. Dass es nicht nur den Homo sapiens als Menschenform gab, darüber belehrt uns die Paläoanthropologie.13 Ob es extraterrestrische Menschenformen gibt, wissen wir (noch) nicht. Was man aber sicher sagen kann,

13Allerdings

ist diesbezüglich gleich einschränkend zu sagen, dass nicht notwendig auch schon frühe Vertreter von Homo unter den fundamentalanthropologischen Begriff ‚Anthropos‘ fallen. Dies hängt davon ab, ob sie bereits fähig waren, Geistigkeit auszubilden bzw. anthropoiales Leben zu realisieren.

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2 Einleitung

ist, dass Homo sapiens, trotz all seiner geschichtlichen und kulturellen Diversität, nicht das erschöpft, was in der Idee des Menschen angelegt ist. Man könnte sagen: Andere Planeten bringen möglicherweise andere Menschen(formen) hervor. Biologisch betrachtet würden diese dann nicht der Gattung Homo angehören (zumindest wenn es keine Abstammungsverbindung gibt). Das heißt auch: Wenn auf anderen Planeten überhaupt ‚indigene‘ extraterrestrische Menschenformen entstanden sind, dann sind diese biologisch und kulturell von unserer Spezies (die ja ebenfalls alles andere als gleichförmig ist) vermutlich deutlich verschieden, aber die Abweichungen müssen sich nichtsdestotrotz im Rahmen einer gemeinsamen allgemeinsten Gattungsgrenze halten, damit noch sinnvollerweise von extraterrestrischen Menschen(formen) gesprochen werden kann. Dass hiermit, also mit dem Gedanken aliener Menschenformen, zugleich ein allgemeinster Begriff des Menschen anvisiert wird, dürfte klar sein. Ich nenne diese allgemeinste ontologische (nicht biologische) Gattungsidee Anthropos, um die Mehrdeutigkeit des Wortes ‚Mensch‘ zu vermeiden und aufzulösen, wenngleich es trotzdem weiterhin sinnvoll sein kann, gelegentlich den Terminus ‚Mensch‘ zu gebrauchen, etwa wenn gerade alle wesentlichen damit verbundenen Konnotationen zum Ausdruck gebracht werden sollen. ‚Anthropos‘ ist also die Idee einer möglichen und auf der Erde faktisch realisierten Lebensform (Homo), deren Realisation jedoch nicht notwendig nur auf diesen Planeten restringiert ist. ‚Homo‘ ist eine irdische Gattung (bzw. biologische Gattungsbezeichnung), ‚Anthropos‘ dagegen ist eine nicht an den Planeten Erde gebundene Lebensform oder besser: die Idee einer Lebensform, die nicht notwendig nur auf Terra ins Sein getreten sein muss bzw. vielleicht in ferner Zukunft auch auf anderen Planeten entstehen wird. ‚Anthropos‘ ist, um es nochmals zu betonen, kein biologischer, sondern ein philosophisch-ontologischer Begriff, das ist ein Begriff, der die notwendigen einzelwissenschaftlichen Abstraktionen und Reduktionen vermeidet und die Sache in ihrem vollen Sein zu begreifen versucht – was in Bezug auf den Menschen bedeutet, dass er mehr ist – viel mehr – als nur ein in Teilorgane gegliederter Organismus. Zudem ist der Begriff des ‚Anthropos‘ ein supermundaner Begriff. Was damit gemeint ist, kann man in einer ersten Annäherung analogisch erklären: So wie der Begriff des Lebens extensional nicht auf das Leben auf dieser Erde beschränkt ist (der Begriff möglichen außerirdischen Lebens ist durchaus gebräuchlich und verständlich), so auch nicht der Begriff ‚Anthropos‘ auf irdische Menschen – im Unterschied zu den Begriffen ‚Homo‘ und ‚Homo sapiens‘. Selbst wenn Homo sapiens einst die Erde verlassen und auf fremden Planeten siedeln sollte, bleibt er herkunftsmäßig und damit auch begrifflich auf die Erde rückbezogen. Es spricht aber nichts dagegen, dass es in fremden Sonnensystemen (in unserer Milchstraße oder in anderen Galaxien) nicht Wesen geben könnte, die grundsätzlich so sind wie wir Menschen. – Nicht in dem Sinne zwar, dass sie genauso aussehen oder über dieselbe Sinnesausstattung verfügen müssten wie wir, aber doch in dem Sinne, dass sie die gleiche anthropoiale Verfassung besitzen. Wer anthropoial verfasst ist, ist ein Mensch (Anthropos) im Sinne der Fundamentalanthropologie. Das heißt: Solche menschlichen Wesen würden zwar nicht der Gattung Homo, sondern einer anderen biologischen

2.2  Anthropos oder Homo sapiens?

13

Gattung angehören, aber sie wären nichtsdestotrotz Realisierungen der ontologischen Gattung ‚Anthropos‘. Max Scheler hat diesen Gedanken so ausgedrückt: Der Mensch als Naturwesen – er könnte in diesem Gesamtbilde der Evolution auf jeder Stufe, die das eine Leben erreicht hat auf irgendeinem Sterne, dasjenige Wesen sein, in dem unbeschadet seiner besonderen morphologischen Abstammungslinie […] das Alleben je das Maximum aller seiner jeweiligen Erfahrungen verwertet. […] Ein solches organisches Gebilde kann [aber] an sich in verschiedenen Erdperioden sehr weitgehend verschieden ausgesehen haben (Dacqué), erst recht auf verschiedenen Sternen. Hat doch schon Leibniz in seiner Polemik mit einem Schüler John Lockes, der ihn gefragt hatte, ob er – gemäß seiner Definition des Menschen als „animal rationale“ – einen Papagei, der mit seinem Schnabel die Figur des Pythagoräischen Lehrsatzes in den Sand [malen] würde, einen Menschen nennen würde, kühn mit „Ja“ geantwortet. […] Ja, im Verhältnis zur Wesensidee des Menschen – Mikrokosmos, geistiges Leben – stellen alle in weiteren und engeren Grenzen ja stets wandelbaren empirischen Formen des Menschen auf der Erde, ja die irdische Menschenform selbst im Verhältnis zu möglichen Menschenformen auf andren Sternkörpern, nur wechselnde Versuche einer nie ganz gelingenden, immer sehr partikularen einmaligen Mensch-Werdung in der Richtung nach Ausfüllung dieser Wesensidee dar.14

Im Unterschied zu Scheler enthalte ich mich bis auf Weiteres jeglicher theologischer und teleologischer Spekulation hinsichtlich des Zwecks anthropoialer Lebensformen. Aus fundamentalanthropologischer Sicht ist aber die Ausweitung des Begriffs ‚Mensch‘ auf mögliches anthropoiales Leben überhaupt aus sachlichen wie methodischen Gründen sinnvoll und notwendig. Wenn ich also sage, dass nur Menschen philosophieren, dann behaupte ich nicht, dass nur Angehörige der Spezies Homo sapiens philosophieren (können), sondern: Nur solche Wesen können philosophieren, die anthropoial verfasst sind. Was heißt das? In einer ersten Annäherung können wir sagen: Nur solche Wesen sind anthropoial verfasst, die a) durch mindestens sechs Grundmomente oder Anthropoialien des Menschseins konstituiert sind, nämlich: (i) Erleben/Bewusstsein (Präsenz von Selbst und Umwelt) (ii) Ich (Subjekt des Subjekts) (iii) Leib (Urzeug und Selbstgefühl) (iv) Körper (Repräsentation des Leibes in der Welt) (v) Umwelt (Welt, insofern sie originär erscheint) (vi) Geistigkeit

14Max Scheler: Schriften aus dem Nachlass. Philosophische Anthropologie (GW XII). 92 f. Vgl. hierzu auch die Passage in Zur Idee des Menschen: „Soll nun das ‚Vernunftwesen‘ nicht eine bloß beiläufige Bestimmung des Menschen als einer zuvor schon vage gedachten Einheit sein, sondern eine umkehrbare und konstitutive Definition, so enthält sie nicht nur eine Schwierigkeit: Der Mensch wird von den übrigen endlichen Vernunftwesen – wie z. B. Engeln – schwer unterscheidbar, und man muss auch, wie John Locke den Leibniz frug, fragen, ob denn ein Papagei, der anfinge, die Figur des pythagoreischen Lehrsatzes mit dem Schnabel in den Sand zu zeichnen, ein ‚Mensch‘ heißen dürfte.“ (GW III, 176.)

14

2 Einleitung

sowie b) bestimmte Formen von Selbstbewusstsein ausgebildet haben (s. hierzu die Kap. 3 und 4). Denn nur ein solches Wesen, welches zudem ein geistiges Selbstverhältnis entwickelt hat (wozu Geistigkeit erforderlich ist), kann sich selbst als Individuum wie als Gattungswesen thematisieren. Und ein echtes Selbstverhältnis können wiederum – so meine These – nicht reine Geistwesen (die ich eidetisch für unmögliche Lebensformen halte), sondern nur auch leiblich verfasste Wesen entwickeln. Daher kann ausschließlich der Mensch (Anthropos) philosophieren. Geistlose Lebewesen können nicht philosophieren, reine Geistwesen ebenfalls nicht, da sie keine möglichen Seiende sind. Künstliche Intelligenz kann auch nicht philosophieren und wird es auch niemals können, solange sie nicht anthropoial verfasst ist.15 Und wäre sie es, dann wäre sie keine künstliche Intelligenz mehr, sondern anthropoiales, wenngleich artifiziell hergestelltes Leben. Nur Menschen können also philosophieren, auch wenn sie einst auf rein technischem bzw. biologisch-synthetischem Wege hergestellt werden sollten.16 Es gilt jedenfalls den Begriff ‚Mensch‘ in einen allgemeinsten Begriff einerseits, nämlich Anthropos, und in diesem subordinierte empirisch-mundane Unterbegriffe (z. B. Homo, Homo sapiens, Homo neanderthalensis17 etc.) andererseits zu sondern. Jeder lebende irdische Mensch, der anthropoial verfasst ist, ist Angehöriger der biologischen Gattung ‚Homo‘ und der Art ‚Homo sapiens‘ wie der ontologischen Obergattung ‚Anthropos‘ gleichermaßen. ‚Anthropos‘ ist, wie im nächsten Kap. 3 näher erläutert wird, die Idee einer Lebensform, die auf eine Welt überhaupt bezogen und in diesem Sinne transmundan oder präziser: supermundan ist, wenngleich Realisierungen dieser Idee, also wirkliche und quasiwirkliche Menschen und Menschenformen, immer auch und notwendig mundan sind. ‚Supermundanität der Idee‘ meint also: Die Idee des Menschen (Anthropos) ist begrifflich an keine bestimmte Welt gebunden, wenngleich an die Idee einer Welt überhaupt. Nur eine Idee bzw. ein Begriff kann supermundan sein, jedoch keines der unter einen supermundanen Begriff fallenden Wirklichkeiten. So kann auch kein realer Mensch supermundan, sondern ausschließlich mundan sein. ‚Mundanität des Menschen‘ bedeutet dabei jedoch nicht einfach nur die banale Tatsache, in einer bestimmten Welt als menschliches Lebewesen vorzukommen, sondern vor allem auch zugleich korrelativ Subjekt von sich selbst als Objekt in

15Vielleicht

wird Künstliche Intelligenz das Philosophieren irgendwann simulieren können. Aber Philosophieren setzt Leiblichkeit, Erleben, Perspektivität, Selbstbewusstsein und Selbstinteresse, Vermeinen von Vermeintem (semantische Intentionalität) etc. voraus. Und hierzu bedarf es der anthropoialen Verfassung. 16Auch ein Gott kann nur philosophieren, wenn er einen Leib hätte und sei dieser Leib die ganze endliche oder unendliche Welt. Ein solcher Gott wäre somit ein Makroanthropos. Es kann hier offen bleiben, ob die Idee eines solchen Gottes eine Realmöglichkeit definiert. 17Ob der Neandertaler überhaupt eine eigene Spezies ist, wird allerdings kontrovers diskutiert.

2.2  Anthropos oder Homo sapiens?

15

einer bestimmten Welt zu sein, und damit ebenso eine transzendentale Seite zu besitzen.18 Die supermundane Idee des Menschen ist daher – scheinbar paradox – die Idee eines transzendental-mundanen Wesens, das zugleich transzendentales Subjekt und mundanes Subjekt-Objekt ist. (Die Selbstanerkennung des SubjektObjekts als Ich-Selbst ist zugleich eine notwendige Bedingung der philosophischen Reflexion.) Wie ich im nächsten Kap. 3 noch näher ausführen werde, ist der Mensch als Subjekt zudem zum Teil phänomenal, zum Teil transphänomenal, weshalb ich den Menschen auch als mundane-transzendentaletransphänomenale Trinität bezeichne. ‚Anthropos‘ ist daher kein Synonym für „Transzendentale Subjektivität“, da das Transzendentale nur einen Aspekt des Menschen ausmacht, nämlich denjenigen phänomenalen Teilbereich, der die mundane Selbst- und Welterfahrung ermöglicht. (Hierzu gehören vornehmlich die Erlebnisdimension, der Leib, aber auch eine sachverhaltsdarstellende Sprache.) ‚Transzendentale Subjektivität überhaupt‘ bezeichnet somit überhaupt keine konkrete Gattung oder Lebensform, sondern nur die phänomenalen Möglichkeitsbedingungen von Erfahrung bestimmter Lebensformen, weshalb der Überbegriff, unter den man menschliche und nichtmenschliche Lebensformen subsumieren kann, nicht ‚transzendentales Subjekt‘, sondern Lebewesen (Animal) lautet. Da es sich hier aber um philosophisch-ontologische und nicht um biologische Begriffseinteilungen handelt, ist natürlich auch der Begriff des Lebewesens ein supermundaner im oben erläuterten Sinne und faktisch und begriffsumfänglich nicht auf den Planeten Erde und dieses Universum beschränkt. Ich werde zudem den Begriff des Tieres aufgeben, da mir aus philosophischer Sicht die wirklich wesentliche Grenzlinie nicht zwischen tierischem und nicht-tierischem Leben zu verlaufen scheint, sondern zwischen Lebewesen, die grundsätzlich fähig sind, Bewusstsein als Erleben von Selbst und Umwelt zu aktualisieren, und solchen, die konstitutionell dazu nicht fähig sind. Ich unterscheide daher zwischen Animanten (= bewusste Lebewesen) und Animaten (bewusstlose Lebewesen). Die beschriebenen Begriffsverhältnisse lassen sich für die menschliche Lebensform folgendermaßen darstellen:19

18Vgl.

zu Husserls Paradoxie der menschlichen Subjektivität den § 53 der Krisis-Schrift (Hua VI). 19Man beachte allerdings, dass die vollständige Subsumtion der Gattung ‚Homo‘ unter die supermundane Gattung ‚Anthropos‘ nur dann legitim ist, wenn alle Homo-Arten Lebensformen darstellen, die auf die Realisierung anthropoialen Lebens angelegt waren. Und dies ist keineswegs sicher.

2 Einleitung

16

Anthropos

außerirdische Menschengaungen (unbekannt)

Homo (terrestrisch)

Homo sapiens

Homo heidelbergensis etc.

?

?

(ausgestorben)

Für das Verhältnis des ‚Anthropos‘ zu anderen Lebensformen ergibt sich folgende Einteilung:

Animal (Lebewesen)

Animat

Animant

(Lebewesen ohne Erlebensdimension)

(bewusstes Lebewesen)

Anthropos

Geistlose, aber lernfähige und intelligente Lebewesen (z.B. Menschenaffen)

Reine Insnktwesen als Grenzfall

alle bewusstlosen Lebensformen (z.B. Bakterien, Pilze)

Was ich etwa unter Leib (im Unterschied zum Körper), Selbstbewusstsein, Geist/ Geistigkeit oder Ich verstehe, werde ich in den weiteren Kapiteln dieses Buches darstellen. Die Analyse der genannten sechs Grundmomente des Menschseins (Anthropoialien) und ihres Zusammenspiels, welches dasjenige ausmacht, was konkretes menschliches Existieren oder anthropoiales Leben bedeutet, ist Aufgabe der Fundamentalanthropologie, während es Aufgabe der P/philosophischen Anthropologie im engeren Sinne ist, die Befunde der Fundamentalanthropologie auf Homo sapiens zu beziehen und diesen mit nichtmenschlichen Lebensformen

2.2  Anthropos oder Homo sapiens?

17

abzugleichen (traditionell: der Tier-Mensch-Vergleich). Hierbei kann es durchaus auch zu Einschränkungen der allgemeinen fundamentalanthropologischen Befunde kommen, beispielsweise dass zum Menschsein nicht nur überhaupt ein Leibkörper gehört, sondern vielleicht einer, der über funktionale Äquivalente der menschlichen Hand verfügen muss oder über einen Sehsinn (bzw. allgemeiner: einen Fernsinn), der gestische Kommunikation ermöglicht etc.20 Auch wenn ich bezüglich des Verhältnisses von Fundamentalanthropologie und interdisziplinärer P/philosophischer Anthropologie ein Fundierungsverhältnis behaupte,21 so bedeutet dies doch nicht, dass die P/philosophische Anthropologie nicht zu Einsichten kommen kann, deren Gültigkeit sich nicht auf Homo sapiens beschränkt, sondern die allgemeine Idee des Menschen (Anthropos) betrifft. Es gäbe dann eben einen autonomen Part der Fundamentalanthropologie und einen durch die P/philosophische Anthropologie vermittelten Part. Zudem besitzt die Fundamentalanthropologie in der P/philosophischen Anthropologie und den sonstigen auf den Menschen bezogenen Einzelwissenschaften (Paläoanthropologie, Ethnologie, Primatologie, Kulturwissenschaften, Neurologie etc.) kritische Instanzen, die die eidetisch gewonnenen Ergebnisse der ersteren empirisch überprüfen oder zumindest in Frage stellen können. Echte eidetische Wahrheiten können zwar prinzipiell nicht durch Faktizitäten falsifiziert werden, da es solch falsifizierende Fakten aus eidetischen Gründen nicht geben kann (Wesensverhalte bilden den unüberschreitbaren Rahmen für reale Sachverhalte).22 Ob jedoch ein eidetischer Satz wirklich wahr ist, ist selten apodiktisch gewiss. Daher ist stets mit Irrtümern zu rechnen. Und es ist gut, eine zweite Erkenntnisinstanz als Korrektiv zur Verfügung zu haben, auch wenn diese ebenfalls keine apodiktischen Gewissheiten zu liefern vermag. Sobald indessen zwischen empirischen und eidetischen Wahrheitsansprüchen ein Widerspruch auftaucht, ist dies ein gutes Indiz dafür, dass mindestens eine der beiden Thesen falsch sein muss.

20Hatte

Herder das Gehör zur notwendigen Bedingung der Möglichkeit von Vernunft und Sprache promoviert, so könnte man im Anschluss an Tomasello das Gesicht (den Sehsinn) als Bedingung der Möglichkeit spezifisch menschlicher Kommunikation ansehen (s. hierzu auch das folgende Unterkapitel). 21Im Rahmen einer strengwissenschaftlichen Philosophie ist die Philosophische Anthropologie als Paradigma mit der entsprechenden Teildisziplin identisch. 22Ein Beispiel: Wenn gilt, dass zur Idee des Körpers die Idee der Ausdehnung gehört, dann kann es faktisch keine unausgedehnten Körper geben. Solche sind unmöglich. Daher kann es keine faktischen Beispiele geben, die dem eidetischen Sachverhalt nicht gemäß sind. Da wir aber epistemisch mit eidetischen Sachverhaltsvermeinungen operieren, können diese durchaus auch falsch sein (unwahr), weshalb falsche eidetische Erkenntnisse wiederum empirisch in Frage gestellt werden können.

18

2 Einleitung

Die Fundamentalanthropologie ist der Versuch, einerseits zwei scheinbar unvereinbare Paradigmen in einer höheren Synthese zu vereinigen, nämlich die philosophische Anthropologie des terrestrisch-mundanen Menschen und die Transzendentalphilosophie des transzendentalen Subjekts (einschließlich der heideggerschen Analytik des Daseins), und doch andererseits zugleich der P/philosophischen Anthropologie einen systematischen Ort innerhalb der Philosophie (als Anthropologie im weiteren Sinne) zuzuweisen und damit jener ein gewisses Eigenrecht zuzugestehen. Nichtsdestotrotz verweist die Fundamentalanthropologie darauf, dass die bisherigen Ansätze der Philosophischen Anthropologie von einer grundsätzlich falschen Voraussetzung ausgehen bzw. einen falschen Ansatz machen (und deshalb die Philosophische Anthropologie als systematischer Teil der Philosophie neu ausgerichtet werden muss): Sie gehen analytisch vom Menschen (sowie von ‚Pflanze‘ und ‚Tier‘) als Lebewesen in der Welt aus und übersehen dabei, dass alle Phänomene überhaupt nur in der je eigenen Anschauung (etwa des Anthropologen) originär gegeben sind. Dass jeder Organismus korrelativ auf eine artspezifische Umwelt bezogen ist, ist zwar richtig und gilt in modifizierter Form auch für den Menschen. Aber das Grundphänomen oder der Grundtatbestand, von dem jede philosophische Anthropologie auszugehen hat, ist die unbezweifelbare Tatsache, dass andere Menschen, Lebewesen, überhaupt meine Umwelt und auch man selbst (der Philosophierende) in der je eigenen Anschauung erscheinen und damit als Phänomene Tatsachen des Bewusstseins und zugleich leibliche Korrelate sind: Ich sehe, taste, spüre, erlebe etc. mich! – Oder Dich! Es sind eben wiederum nur Menschen im Sinne der Fundamentalanthropologie, die sich als Anthropologen betätigen. Ignoriere ich als Mensch, Philosoph und Anthropologe diesen Tatbestand der doppelten Korrelation (Bewusstsein – Selbst/Umwelt; Leib – Körper/Umwelt), mache ich aus meiner mundanen Seite (sowie meiner Umwelt) ein Ding an sich, das ich entweder widersinnig als unerkennbar abstempeln muss (ein Fehler, der gerade Kant nicht unterlaufen ist, da er klar zwischen „Phaenomena“ und „Noumena“ unterscheidet) oder welches ich als etwas verstehen muss, das in seinem Da- und Sosein in mein Bewusstsein hinein- und wieder hinausspringen kann. Die erste Position ist ein widersinniger Kantianismus (da Phänomene prinzipiell erkennbar sind, können sie nicht zugleich unerkennbare Dinge an sich sein), die zweite ein kurioser Realismus (der das Wesen der Korrelation einfach ignoriert). Tatsächlich vertritt die Fundamentalanthropologie insofern eine Art Kantianismus oder Neokantianismus, als sie die Unauflöslichkeit der konkreten Korrelationsglieder behauptet; und sie vertritt doch zugleich einen gemäßigten Korrelationismus dergestalt, dass sie nicht behauptet, dass alles, was es gibt, eine Tatsache des Bewusstseins und Korrelat leiblicher Kinästhesen sei (sondern eben nur die Korrelationsglieder). Und dies gilt insbesondere für den Menschen, der mehr ist als ein reines Bewusstsein von phänomenalem Selbst und phänomenaler Umwelt, nämlich ein auch transphänomenales Lebewesen. Vor jeder erkenntnistheoretischen Theoriebildung und Positionierung gilt es jedoch zunächst das Phänomen als solches zur Kenntnis und damit als Analysandum und Explanandum ernst zu nehmen! – ‚Organismen‘ oder ganz

2.3  Tier und Mensch: die anthropologische Differenz

19

alltäglich: Menschen, Hunde und Katzen, Bäume und Sträucher sind mir in meiner Anschauung gegeben. Ich bin ihr Subjekt und bin doch selbst zugleich Subjekt-Objekt in der Welt (Umwelt). Dieses Phänomen ist der terminus a quo der anthropologischen Analyse und nicht irgendein theoretischer Standpunkt wie etwa ein spekulativer Idealismus, Konstruktivismus, Realismus, Materialismus oder Skeptizismus. Wenn die Fundamentalanthropologie also die Frage ‚Was ist der Mensch‘? zu beantworten versucht, dann geht es ihr zwar praktisch durchaus um das Sein des irdischen Menschen, aber theoretisch doch nur indirekt: Zielgegenstand der Fundamentalanthropologie ist nämlich nicht die Spezies ‚Homo sapiens‘, sondern die supermundane Gattung ‚Anthropos‘. Aber alles, was die Fundamentalanthropologie diesbezüglich aussagt, gilt dem Anspruch nach auch für alle wirklichen und möglichen anthropoiale Lebensformen. Dies heißt aber nicht, dass jeder Mensch als Angehöriger der Spezies Homo sapiens notwendig anthropoiales Leben realisiert. Dies ist gerade nicht der Fall. Hier gibt es drei Fälle zu unterscheiden: (i) ein Mensch ist noch kein Anthropos (z. B. animatische Embryos), (i) ein Mensch ist es nicht mehr (z. B. komatöse Menschen) oder (iii) einem Menschen ist es von Natur aus überhaupt konstitutionell verwehrt, Anthropos zu werden (Menschen, die von Geburt an unfähig sind, Bewusstsein und/oder Geistigkeit auszubilden). Es gibt daher einen wesentlichen Unterschied zwischen menschlichem Leben (im eher biologischen Sinne) und anthropoialem Leben, das über bloßes Leben weit hinausgeht und aktiv gelebt, das heißt, geführt werden muss. Nur geistige Animanten können ihr Leben führen und erfüllen damit die Kriterien anthropoialen Lebens. Nicht jeder faktische Mensch ist daher notwendig auch ein ‚Anthropos‘. Als „Lebensform“ betrachtet,23 fällt aber die Spezies Homo sapiens eindeutig unter die Gattung ‚Anthropos‘. Denn jeder Mensch (Homo sapiens) ist zumindest darauf hin angelegt, anthropoiales Leben zu realisieren. Wenn dies nicht gelingt, dann liegt dies nicht an seinem Menschsein, sondern daran, dass irgendetwas (eine Krankheit, ein Unfall) verhindert, dass dieser Mensch sich seiner Natur entsprechend entwickeln oder sein Leben leben kann.

2.3 Tier und Mensch: die anthropologische Differenz Die primäre Aufgabe der Fundamentalanthropologie ist es, einen allgemeinsten (supermundanen) Wesensbegriff des Menschen (Eidos ‚Anthropos‘) in Form der Anthropoialien- und der Trinitätslehre zu erarbeiten und diesen dem natursystematischen Begriff des ‚Homo sapiens‘ als ontologischen Gattungsbegriff

23Vgl.

zum Begriff der Lebensform: Michael Thompson: Leben und Handeln. Grundstrukturen der Praxis und des praktischen Denkens. Berlin 2011.

20

2 Einleitung

überzuordnen (s. hierzu Kap. 3.). Aufgrund ihrer methodischen Beschränkung ist es dagegen nicht Aufgabe der autonomen Fundamentalanthropologie die „anthropologische Differenz“ (Tier-Mensch-Differenz) gleichsam im Alleingang zu bestimmen, zumal diese Differenz sich ja bisher primär auf ‚Homo sapiens‘ und nicht auf ‚Anthropos‘ bezieht.24 Andererseits ist es aber auch nicht so, dass die Fundamentalanthropologie zur Bestimmung dieser Differenz überhaupt nichts beitragen könnte. Insofern zudem die philosophische Anthropologie und mit ihr ‚die‘ Biophilosophie ihr Fundament in der Fundamentalanthropologie haben (sollten), muss es auch zu einer grundbegrifflichen Neueinteilung der Lebensphänomene kommen. Vor allem gilt es, den Begriff des Tieres als eidetisch-ontologischen Begriff zu destruieren bzw. zu suspendieren, insofern dieser gerade nicht die wesentlichen Differenzen im Bereich des Lebendigen wiedergibt und all die animalischen Lebewesen zu unterschiedlich sind, um diese sinnvoll unter ein philosophisches Superkonzept wie ‚Tier‘ pauschal zu subsumieren.25 Ich möchte zudem betonen, dass ich aus diesem Grund auch keine schlichte „Mensch = Tier + X“-Anthropologie vertrete. Ohne den Oberbegriff ‚Tier‘ kann auch nicht mehr sinnvoll danach gefragt werden, ob ‚der‘ Mensch ein Tier sei oder sich qualitativ von allen Tieren unterscheidet. Nichtsdestotrotz sind auch Menschen Lebewesen – und zwar sogar in einem dreifachen Sinne: (i) Sie leben im biologischen Sinne und sind daher Animalia (– dies haben sie mit allen Lebensformen gemeinsam, wie auch immer man genau ‚Leben‘ im biologischen Sinne definieren und differenzieren möchte). (ii) Sie erleben ihr Leben (das haben sie mit allen Animanten gemeinsam, weshalb sie zwar nicht Tiere, aber eben Animanten sind). (iii) Und sie führen ihr Leben mittels ihres Geistes (was man wohl selbst von Schimpansen nicht behaupten kann). Auch wenn es, wie gesagt, aus methodischen Gründen überhaupt nicht Aufgabe einer Fundamentalanthropologie sein kann, irdische Menschen mit irdischen Primaten oder sonstigen intelligenten Lebensformen zu vergleichen, so kann sie doch den Begriff des ‚Anthropos‘ nur dadurch schärfer fassen, dass sie sich darüber belehren lässt, dass es durchaus intelligente und bewusste Lebensformen gibt (Animanten) und diese daher auch eidetisch möglich sind. Nur so kann sie dann auch den wichtigen Begriff des Geistes (Geistigkeit ist ja ein Anthropoial) präzisieren, der etwas Spezifischeres meint, als das ganze Sammelsurium, welches mit dem englischen Wort ‚mind‘ zusammengefasst wird. Die rein eidetisch verfahrende Fundamentalanthropologie kann nur feststellen, dass es eine Reihe von

24Vgl.

zur anthropologischen Differenz: Markus Wild: Anthropologische Differenz. In: R. Borgards (Hg): Tiere. Kulturwissenschaftliches Handbuch. Stuttgart 2016. 47–59. 25Von einer ganzheitlichen ontologischen Betrachtungsweise her sind z.  B. Korallen und Schimpansen völlig verschiedene Lebensformen. Vgl. hierzu schon Jacques Derrida: Das Tier, das ich also bin. Wien 2010.

2.3  Tier und Mensch: die anthropologische Differenz

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anthropoialen Phänomenen gibt, die sich nicht (oder nicht vollständig) unter die Begriffe der anderen Anthropoialien (Ich, Leib, Körper, Erleben, Umwelt) subsumieren lassen, wie die Phänomene des Prädizierens, Imaginierens, apperzipierenden Perzipierens etc., weshalb sie diese mit dem Begriff ‚Geist‘ bzw. ‚Geistigkeit‘ fasst. Nun weist sie die einzelwissenschaftlich informierte P/ philosophische Anthropologie aber darauf hin, dass viele empirische Befunde darauf hindeuten, dass auch einige ‚Tiere‘ bewusst etwas wahrnehmen und vorstellen und erinnern können. Als empirisch solchermaßen informierte Disziplin kann die Fundamentalanthropologie nun versuchen, den Begriff des Geistes präziser zu fassen und ihn gleichwohl autonom als spezifisch anthropoialen Begriff zu profilieren. Dies kann sie wiederum auf eidetischem Wege durch Analyse der in Frage kommenden Phänomene und damit als Fundamentalanthropologie. Und genau das ist es, was ich im Kap. 6 (Was ist Geist?) versuchen werde: einen anthropoialen Begriff des Geistes zu erarbeiten, ohne nicht-anthropoialen Animanten Subjektivität (Ich, Leiblichkeit, Bewusstsein) und kognitive Leistungen absprechen zu müssen. Dieses Kapitel stellt daher einen Teil der nicht gänzlich autonomen Fundamentalanthropologie dar. Nichtsdestotrotz halte ich an der sogenannten „anthropologischen Differenz“ fest, die nun den Unterschied zwischen anthropoialen und nicht-anthropoialen Animanten bezeichnen soll, und fasse anthropoiales Menschsein in der Formel zusammen:

Anthropos = Animant + X Diese Formel ist jedoch insofern inadäquat, als diese nicht berücksichtigt, dass aus dem X (= Geist) im Kontakt und in der Auseinandersetzung mit der naturalen und sozialen Umwelt sämtliche geistigen Gehalte hervorgehen, und die Ausbildung von geistigen Horizonten zu einer ontischen Transformation des Menschen zu einem animantischen Geistwesen im vollen Sinne führt. Daher wäre diese Formel präziser:   Anthropos = (Animant + Geist) ↔ Geistigkeit Das heißt: Anthropos ist ein bewusstes Lebewesen (ein Animant), welches kraft seines geistigen Ich (Geist) geistige Horizonte und Vermögen (Geistigkeit) hervorbringt und nun mittels dieser sein Leben führt und sich in der Welt orientiert. Die Produkte des Geistes prägen das ganze Menschsein und transformieren die erste Natur des Menschen in die neue dynamische Einheit von erster und zweiter Natur (Rückprägung des Menschen durch seine Konstitutionsprodukte). Erst hierdurch wird anthropoiales Leben möglich, also Leben, das im Lichte geistiger Gehalte geführt wird. Da der Begriff des Tieres bereits suspendiert wurde, lautet die Frage also nicht mehr, ob der Mensch ein Tier sei oder nicht, sondern ob sich der Mensch als anthropoiale Lebensform qualitativ oder nur quantitativ von allen anderen Animanten unterscheidet. Hierbei steht dann aber nicht mehr in Frage, dass der Mensch überhaupt ein Animant ist, sondern nur noch, ob er lediglich ein

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besonders intelligenter Animant ist (Geist = Intelligenz) oder ob er vielmehr – philosophisch betrachtet – durchaus eine (animantische) Lebensform sui generis ist (Geist ≠ Intelligenz). Ich vertrete genau diese These: Philosophisch betrachtet ist der Mensch (Homo sapiens, insofern er anthropoiales Leben realisiert) kein Tier und auch kein Menschenaffe, sondern eben: Mensch (Anthropos) – also ein animantisches Geistwesen und damit eine Lebensform sui generis. Das heißt nicht, dass Menschen nicht auch intelligent wären, aber die triebhafte Intelligenz der intelligenten Animanten wird beim Menschen durch den Geist überformt (wenn der metaphorische Ausdruck der Überformung hier erlaubt ist) und neu ausgerichtet – so wie die Ausbildung von Geistigkeit überhaupt das Selbst- und Weltverhältnis grundlegend und essenziell verändert. Zugleich bin ich jedoch äußerst skeptisch, dass es für das Menschsein hinreichend ist, einen Körper überhaupt bzw. spezifischer: einen beliebigen lebendigen, wahrnehmungsfähigen Körper überhaupt zu besitzen. Die Fundamentalanthropologie kann zunächst nur feststellen, dass zum Menschsein ein Körper (als Repräsentation des Leibes in der Umwelt) notwendig dazugehört, nicht aber, ob dieser Körper (bzw. dasjenige, was er phänomenal darstellt) auf bestimmte Weise organisiert sein muss, damit anthropoiales Leben im Sinne der Fundamentalanthropologie überhaupt möglich ist. Tatsächlich scheint nicht jeder Leib-Körper gleichermaßen für geistiges, anthropoiales Leben geeignet zu sein. So ist es etwa höchst fraglich, dass anthropoiales Leben in einem schlangenartigen Körper möglich wäre, der nur über Geruchs- und Tastsinn verfügte, ohne die Möglichkeit zu eröffnen, zu sehen, Zeigegesten auszuführen, zu hören und zu vokalisieren, Werkzeuge herzustellen etc. (– all das scheint für geteilte Intentionalität, gemeinsame soziale Praktiken, objektiven Geist und Technik notwendig zu sein).26 Herder etwa konnte sich nicht vorstellen, dass eine gehörlose Menschheit sich hätte Sprache erfinden können, da für ihn das Gehör (als Sinn der Vernunft) der einzige Sinn ist, der distinkte Merkmale der tönenden Natur dem Subjekt übermittelt, welches diese bei sich als erste Merkworte „anerkennt“ und so Sprache und Vernunft ‚konstituiert‘.27 – Ohne Gehör gibt es nach Herder keine menschliche Sprache und ohne Sprache keine Vernunft. Ohne Gehör, so könnte man Herder fundamentalanthropologisch übersetzen, wäre somit anthropoiales Leben als geistiges unmöglich. Oder noch kürzer: Ohne Gehör kein Anthropos.

26Damit

soll körperlich eingeschränkten Menschen nicht das Menschsein abgesprochen werden, da diese durchaus fähig sind, Geistigkeit auszubilden. Es handelt sich vielmehr um eine konstitutive und phylogenetische These: Könnte eine Population von Schlangenwesen Geistigkeit ausbilden und zu einer Gemeinschaft von geistigen Schlangenmenschen werden? – Ich würde dies bezweifeln, da ohne Sehsinn und Zeigeorgane wie die Hand die Entstehung von geteilter Intentionalität, gemeinsamen sozialen Praktiken, Sprache sowie geteilten geistigen Gehalten schwer vorstellbar ist. 27„Der Mensch ist also als ein horchendes, merkendes Geschöpf zur Sprache natürlich gebildet, und selbst ein Blinder und Stummer, sieht man, müsste Sprache erfinden, wenn er nur nicht fühllos und taub ist.“ (Johann Gottfried Herder: Abhandlung über den Ursprung der Sprache. Stuttgart 1997. 45.)

2.3  Tier und Mensch: die anthropologische Differenz

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Tomasello wiederum gründet die menschliche Sprache in der gestischen Kommunikation, für die das Sehen (und die Fähigkeit zu geteilter Intentionalität) konstitutiv ist.28 Man könnte daher sagen: ohne Sehsinn gibt es keine gestische Kommunikation und ohne diese keine Lautsprache; und ohne Kommunikationsformen überhaupt gibt es keine „kollektive Intentionalität“ und alles,29 was damit zusammenhängt (wie etwa all die verschiedenen Institutionen, die wir kennen).30 Fundamentalanthropologisch übersetzt hieße das wiederum: Anthropoiales Leben ist nur aufgrund des Sehsinns (als conditio sine qua non) denkbar. Oder kurz: Ohne Sehsinn kein Anthropos. Wie auch immer man zu diesen Fundierungsthesen (und den fundamentalanthropologischen Übersetzungen) stehen mag, so sollte doch ein möglicher Zusammenhang zwischen leiblich-körperlicher Sinnesausstattung und Morphologie auf der einen Seite und der Ausbildung von Geistigkeit auf der anderen Seite nicht einfach von der Hand gewiesen werden, sondern Ansporn zu weiterem Nachdenken sein. Andererseits gilt es dabei aber auch immer die These Plessners im Kopf zu behalten: Mensch sein ist an keine bestimmte Gestalt gebunden und könnte daher auch (einer geistreichen Mutmaßung des Paläontologen Dacqué zu gedenken) unter mancherlei Gestalt stattfinden, die mit der uns bekannten nicht übereinstimmt. Gebunden ist der Charakter des Menschen nur an die zentralisierte Organisationsform, welche die Basis für seine Exzentrizität abgibt.31

Tatsächlich ist es m. E. undenkbar, dass anthropoiales Leben in ‚pflanzlicher‘ Form stattfindet, also ohne Ich und ohne die Gliederung des wahrnehmenden Leibes in zum Teil ‚spontan‘ bewegliche Organe. Wo hier jedoch die genauen Grenzen der somatischen Variabilität liegen, innerhalb deren anthropoiales Leben möglich ist, kann die Fundamentalanthropologie kaum oder nur äußerst schwer alleine durch eidetische Variation im Lehnstuhl eruieren. Hierzu bedarf es zuvörderst empirischer Untersuchungen und darauf gestützter Überlegungen,

28Vgl.

Thorsten Streubel: Der Ursprung der Sprache. Überlegungen zu Herders und Tomasellos Sprachursprungstheorien. In: Allgemeine Zeitschrift für Philosophie 40.1 (2015). 100–133. 29Vgl. Michael Tomasello: Eine Naturgeschichte des menschlichen Denkens. Berlin 2014. Kap. 4. 30Vgl. hierzu auch Matthias Wunsch: Was macht menschliches Denken einzigartig? Zum Forschungsprogramm Michael Tomasellos. In: Interdisziplinäre Anthropologie (3) 2015. 259– 288. 31Helmuth Plessner: Die Stufen des Organischen und der Mensch. Einleitung in die philosophische Anthropologie. Gesammelte Schriften IV. Frankfurt a.M. 22016. 365 f.

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2 Einleitung

die sich mit den somatischen und intersubjektiven Grundlagen des menschlichen Geistes befassen.32 Bezüglich solcher Fragen (etwa nach der Morphologie und Sinnesausstattung) bleibt die Fundamentalanthropologie in der rezipierenden Rolle und kann höchstens die jeweiligen eidetischen Schlussfolgerungen der Philosophischen Anthropologie kritisch überprüfen. Die Fundamentalanthropologie kann im Grunde nur zeigen, dass zum Menschsein wesenhaft die LeibKörper-Umwelt-Differenz gehört, und dass der Leib als Wahrnehmungsorgan fungieren muss (also Leib von Umwelt sein muss). Doch welche Leibesteile und welche Sinne sind notwendig, damit geistiges Leben möglich wird? Hier sind fundamentalanthropologische Kurzschlüsse vorprogrammiert, etwa folgender: Denken geschieht mittels imaginierter akustischer Zeichen. Folglich ist Denken konstitutiv und ursprungslogisch auf das Gehör angewiesen. Doch wer sagt, dass nicht auch eine visuelle Sprache möglich ist? Und ist nicht die Gebärdensprache der beste Beweis hierfür? Wie denken Taubstumme, die über Gebärdensprache kommunizieren? Kurz: Die Fundamentalanthropologie gerät hier an ihre Grenzen, um die sie unbedingt wissen sollte. Auch ist die Fundamentalanthropologie nicht für evolutionäre Fragen zuständig. Schon dass meine (und aller meiner Artgenossen) Leiblichkeit und Körperlichkeit, überhaupt die ganze erste Natur des Homo sapiens, das Ergebnis eines evolutiven Anpassungsprozesses an die menschlichen (technischen und kulturellen) Produkte sein könnte, kann sie nicht durch schlichte Phänomenanalyse herausbekommen und begründen. Doch angenommen, es wäre richtig, dass das, was die bzw. unsere Natur aus uns macht, bereits eine Kulturanpassung darstellt: Lässt sich daraus stringent ableiten, dass die Gestalt (Morphé) aller möglichen Menschenformen notwendig das Ergebnis einer biologischen Kulturanpassung sein muss, weil in einem nicht-anthropoialen, animantischen Körper unmöglich ein anthropoialer Geist ‚wohnen‘ kann? - Dies ist jedenfalls eine Frage, die sich einer rein eidetisch-autonom verfahrenden Fundamentalanthropologie so nicht von selbst stellen kann. Sie stellt sich ihr erst von einer Anthropologie des Homo sapiens her. Die These von der Kulturadaption bedeutet auch, dass Homo sapiens kein Mängelwesen ist, sondern mehr oder weniger gut an seine kulturellen Erzeugnisse angepasst ist (oder zumindest die längste Zeit seiner Geschichte war, wenn man Günther Andersʼ These folgt, wonach der Mensch aufgrund seiner immer weiter fortschreitenden Technologien zunehmend ‚alt‘ aussieht – Stichwort: „Antiquiertheit des

32Mit

‚Grundlagen‘ meine ich an dieser Stelle nicht neurologische Grundlagen, sondern diejenigen kinästhetischen und morphologischen Bedingungen, die es dem Menschen ermöglichen, intersubjektiv nicht nur geteilte soziale Praktiken und Interaktionen zu realisieren, sondern auch geteilte sprachlich-geistige Gehalte zu konstituieren, also Zeigeorgane, Hör- und Sehsinn, ein umfassendes kinästhetisches System etc. Der Verweis Plessners auf die „zentralisierte Organisationsform“ ist daher ganz sicher nicht hinreichend.

2.3  Tier und Mensch: die anthropologische Differenz

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Menschen“33). Der Mensch (Homo) heißt das, ist zwar nicht per se und von Beginn an (also phylogenetisch betrachtet) von Natur ein Kulturwesen (Gehlen), aber er hat sich vermutlich im Laufe seiner Evolution dahin entwickelt, dass er von seiner ersten Natur her zunehmend auf Kultur und Technik hin ausgerichtet ist (vgl. Alsbergs Prinzip der Körperausschaltung).34 Erst von dieser auf Homo sapiens bezüglichen These her kann man dann auch darüber nachdenken, ob möglicherweise nicht nur Homo sapiens kein Mängelwesen ist, sondern anthropoiales Leben generell nicht als Mängelleben denkbar ist. – Dies gilt nämlich dann, wenn Geist und Kultur grundsätzlich keine Kompensationen für eine natürliche Mangelausstattung sind, sondern Möglichkeiten darstellen, die in der allgemeinen Idee animantischen Lebens enthalten und in uns Menschen verwirklicht wurden.35 Diese grundsätzliche Frage ist dabei unabhängig von konkreteren Fragen der Phylogenese unserer Gattung (Homo): wie nämlich genau die Hominisation vonstattenging, ob etwa der aufrechte Gang, die menschliche Hand etc. Bedingungen der Möglichkeit der Entstehung des menschlichen Geistes waren oder dieser umgekehrt jene allererst bedingend ermöglichte. Insbesondere wäre hier zu fragen, was noch mit Hilfe des Intelligenzkonzeptes (s. Kap. 6) und anderer animalischer kognitiver Vermögen (– vielleicht die ersten einfachen Geröllgeräte des Oldowan?) und was nur mit genuinen Werkzeugen des Geistes (Gesten, Sprache, Begriff) verständlich gemacht werden kann (z. B. Schrift).36 Es ist jedenfalls vorweg wichtig, zu berücksichtigen, welchen Begriff vom Menschen man in Bezug auf die Frage nach der anthropologischen Differenz einsetzen möchte. Zunächst scheint es aus den bereits angedeuteten methodischen Gründen sinnvoll, der vergleichenden Analyse den rezenten Homo sapiens zugrundezulegen (und nicht sofort ‚Anthropos überhaupt‘), da diese Frage nicht von der autonomen Fundamentalanthropologie seriös allein behandelt werden kann. Andererseits hängt alles am Geistbegriff, so dass die Frage nach der Sonderstellung des Menschen (Anthropos) auch nicht von der P/philosophischen Anthropologie alleine beantwortet werden kann. Nur wenn sich ein

33Vgl. Günther Anders: Die Antiquiertheit des Menschen 1. Über die Seele im Zeitalter der zweiten industriellen Revolution. München 71994. 34„Das Entwicklungsprinzip des Tiers ist das Prinzip der ‚Körperanpassung‘; das Entwicklungsprinzip des Menschen ist das der ‚Körperausschaltung mittels künstlicher Werkzeuge‘.“ (Paul Alsberg: Der Ausbruch aus dem Gefängnis – zu den Entstehungsbedingungen des Menschen. Gießen 1975. 49.) 35Genauer müsste man sagen: Geistigkeit kann sich nur in Auseinandersetzung mit der Welt entfalten, wozu auch notwendig die Erfindung und Herstellung geistiger und materieller Werkzeuge gehört. Wer besser und bessere Werkzeuge herstellen und mit diesen umgehen kann, hatte einen evolutionären Vorteil. Die erste Natur des Menschen entwickelte sich immer mehr zu einem Urwerkzeug als lebendigen Mittelpunkt der Werkzeugwelt und schließlich der technologischen Zivilisation. Trotzdem der Mensch nicht nur seine Erzeugnisse beherrscht, sondern auch von ihnen beherrscht wird, haben sie sich bislang nicht verselbständigt. Bisher haben nur in dystopischen Science-FictionFilmen und -Romanen die Maschinen die Herrschaft übernommen. 36Vgl. hierzu Hermann Parzinger: Die Kinder des Prometheus. Eine Geschichte der Menschheit vor der Erfindung der Schrift. München 2014.

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2 Einleitung

Geistbegriff gewinnen lässt, der vom Intelligenzbegriff deutlich unterschieden ist, kann die anthropologische Differenz begründet ausformuliert werden. Es ist also nicht so, dass hier die Fundamentalanthropologie nur für die eidetische Generalisierung zuständig wäre. Wenn es der Fundamentalanthropologie gelingt, einen distinkten und sachadäquaten Geistbegriff zu erarbeiten, dann entscheidet sie auch, ob es überhaupt einen qualitativen Unterschied zwischen anthropoialen und nicht-anthropoialen Lebensformen gibt. Dieser Geistbegriff hätte dann auch eine normative Funktion: Sollte sich nämlich empirisch zeigen, dass etwa auch Schimpansen oder Gorillas Geistwesen sind (was ich allerdings stark bezweifle), dann würden auch sie unter den Begriff ‚Anthropos‘ fallen (wenngleich nicht unter den Begriff ‚Homo‘). Es geht also methodisch nicht darum, bestimmte irdisch-animantische Lebensformen vorweg als nicht-anthropoiales Leben zu (dis-)qualifizieren, um dann anschließend allererst nach einem Alleinstellungsmerkmal des Homo sapiens zu suchen. Sondern umgekehrt: Es bedarf zunächst eines adäquaten Begriffs des Menschen (Anthropos) und vor allem des Geistes; und erst mit diesem Begriff ‚in der Hand‘ kann dann danach gefragt werden, welche empirisch vorfindbaren Spezies diesem Begriff entsprechen und welche nicht. Nichtsdestotrotz kann die Fundamentalanthropologie sich nicht auf autonome Weise mit der anthropologischen Differenz befassen. Sie bekommt gewissermaßen ihren Auftrag, nämlich den Begriff des Geistes zu profilieren, von der P/philosophischen Anthropologie. Auch in Bezug auf die Frage nach der ersten Natur kann die Fundamentalanthropologie nicht autonom agieren, sondern bekommt die Fragen hinsichtlich einer möglichen eidetischen Verallgemeinerung ebenfalls von der P/philosophischen Anthropologie vorgelegt. Im Unterschied zur Geistfrage geht es indes bei der Frage hinsichtlich der ersten Natur nicht primär um die anthropologische Differenz, sondern um die Frage, welche Voraussetzungen wir von Natur und Geburt an mitbekommen müssen, damit wir Geistigkeit ausbilden können. Es geht bei dieser Fundierungsfrage um die bereits genannten Probleme: a) die Frage nach den Grenzen der Variabilität möglicher anthropoialer Leib-Körperlichkeit; b) die Frage nach der möglicherweisen notwendige Kulturanpassung anthropoialer Körper.37 Bleiben wir zunächst bei Homo sapiens und klammern die sich hieraus ergebenden fundamentalanthropologisch-eidetischen Probleme hinsichtlich der Leib-Körperlichkeit aus. Die Feststellung, dass Geistigkeit ein Teilmoment des Menschseins ausmacht und damit ein Anthropoial ist, sowie die empirischen Befunde, dass die meisten nichtmenschlichen Animanten keine reinen Instinktwesen, sondern in unterschiedlichem Ausmaß intelligente und lernfähige Lebewesen sind, lassen alleine noch keine endgültige, sondern nur eine vorläufige Positionierung in Bezug auf die anthropologische Differenz zu. Denn hierzu

37Evolutionär

betrachtet setzte der kulturelle Adaptionsprozess bereits eine bestimmte erste Natur voraus, z. B. eine gewisse Sinnesausstattung und Organe, mittels derer man z. B. greifen, werfen und zeigen kann.

2.3  Tier und Mensch: die anthropologische Differenz

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bedarf es, wie gesagt, eines adäquaten und distinkten Geistbegriffs. Um trotzdem vorweg eine möglichst systematische Antwort zu geben und die Leser und Leserinnen zu orientieren, möchte ich auf die von Matthias Wunsch vorgeschlagenen vier Modelle des Menschseins rekurrieren,38 mittels denen die anthropologische Differenz, also der spezifische Unterschied zwischen Mensch (Homo sapiens) und ‚Tier‘, theoretisiert werden kann: 1. Das Additionsmodell: Tier + X → Mensch (z. B. Scheler): Der Mensch ist gleichsam ein Tier mit einem zusätzlichen Vermögen, welches ihn allererst zum Menschen (Nicht-Tier) macht. 2. Das Binnenmodell: Mensch – Y → Tier (z. B. Heidegger): Der Mensch ist: Mensch (Dasein). Und erst von einer ontologischen Bestimmung des Menschen aus kann auch das Tier in seinem Sein verstanden werden, nämlich im Vergleich zum Menschen als privative Lebensform („Weltarmut“ des Tiers). Hier ist gewissermaßen das Tier ein Mängelwesen oder jedenfalls ein verhinderter Mensch. 3. Das Privationsmodell: Tier – Z → Mensch (z. B. Gehlen): Der Mensch ist im Vergleich zum Tier ein Mängelwesen, das diese Mängel durch eigene Leistungen (Handeln) kulturell kompensieren muss, um überleben zu können. 4. Das Transformationsmodell: transf(Tier) → Mensch (z. B. Herder, Plessner, Boyle): Weder ist der Mensch ein Mängelwesen noch das Tier ein verhinderter Mensch; auch ist der Mensch nicht aufgrund eines Sondervermögens vom Tier unterschieden. Sondern das spezifisch Menschliche ergibt sich aus einer völligen Neuausrichtung seiner animalischen Natur bzw. aufgrund „einer ganz verschiedenartigen Richtung und Auswickelung aller Kräfte.“39 Wie aus dem Bisherigen deutlich geworden ist, kann die anthropologische Differenz nun nicht mehr als Mensch-Tier-Differenz formuliert werden, sondern muss als Frage modifiziert gestellt werden: ob nämlich der Mensch ein Animant sui generis sei oder einfach nur ein besonders intelligenter Animant. (Wenn letzteres der Fall wäre, würde die Fundamentalanthropologie notwendig zur ‚Fundamentalanimantologie‘.) Diesbezüglich vertrete ich einerseits eine Variante von Modell 1. Statt ‚Tier‘ verwende ich den Terminus und Begriff ‚Animant‘ und sehe die spezifische Differenz in der Geistigkeit: Homo sapiens = Animant + Geist.40 Ich behaupte jedoch nicht, dass der menschliche

38Vgl.

Matthias Wunsch: Vier Modelle des Menschseins. In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 66.4 (2018). 471–487. – Die formale Einteilung übernehme ich von Wunsch, die kurzen Erläuterungen sind von mir. 39Johann Gottfried Herder: Abhandlung über den Ursprung der Sprache. Stuttgart 1997. 26 f. 40Hier kann man problemlos ‚Homo sapiens‘ durch ‚Anthropos‘ ersetzen.

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Geist eine „übervitale“ Größe ist, wenngleich sicherlich auch keine organische im schlichten biologischen Sinne. Zugleich vertrete ich aber auch partiell das Transformationsmodell (Transformation der ersten Natur durch Konstitution geistiger Gehalte) und zusätzlich ein Adaptionsmodell (erste Natur als evolutionäres Anpassungsprodukt): Die erste Natur des Menschen, die zunächst intrauterin und dann extrauterin auf halbwegs natürlichem Wege heranwächst, ist m. E. bereits das Ergebnis einer Adaption an die Werkzeug- und Kulturwelt des Menschen. Schon von seiner ersten Natur her ist der Mensch (Homo sapiens) ein Mensch (bzw. menschliches Leben) und kein Menschenaffe – ontologisch betrachtet jedenfalls. Menschenaffen sind an ihre natürliche Umwelt (Habitate) angepasst, der Mensch an seine Künstlichkeit. Die Instinktreduktion und Weltoffenheit allein machen den Menschen noch nicht zu einem geistigen und sprachlichen Lebewesen (wie Herder glaubte) und damit auch nicht zu einem potenziellen animal metaphysicum, denn viele nichtanthropoiale Animanten sind instinktreduzierte Wesen und in diesem Sinne „weltoffen“ – und doch zugleich „weltarm“ (ohne echte geistige Horizonte). Nur der Mensch hat ‚Welt‘ im Sinne eines sich stets neu und anders aktualisierenden sinnhaften Verweisungszusammenhangs.41 Und ‚Welthabe‘ setzt Geist als subjektives Konstitutionsprinzip voraus.42 Weltoffene Animanten wie Schimpansen und Gorillas kompensieren ihre relative Nichtfestgestelltheit (soweit wir bisher wissen) allein mittels assoziativem Gedächtnis, Lernfähigkeit, Kulturtechniken und echten Intelligenzleistungen. Aber nur der Mensch bildet sich durch Sprache und Begriffe eine ‚Welt‘ (Heidegger) bzw. verschiedene „Weltansichten“ (Humboldt), die intern wiederum (im Sinne Cassirers) plural in verschiedene symbolische Welten untergliedert sein können (vgl. zu diesem Problemkreis das Kap. 6). Man könnte daher sagen: Der Mensch ist ein geistiges Wesen, ‚weil‘ er ein „weltbildendes“ Wesen ist und sich mittels Sprache und Bedeutung in einem basalen Sinne zu orientieren vermag – zunächst ganz praktisch durch zunehmende Selbst- und Naturbeherrschung, dann aber auch durch die Kreation expliziter Weltbilder.

41Dieser Satz kann einerseits als Tatsachenbehauptung in Bezug auf irdische Animanten verstanden werden – dann stellt er eine empirische Hypothese dar. Oder er ist als Wesensaussage hinsichtlich der Lebensform ‚Anthropos‘ zu lesen. Dann macht er keine direkte Aussage über irgendwelche irdischen animantischen Lebensformen. Ich möchte mit diesem Satz beide Lesarten zugleich zum Ausdruck bringen. 42Weltoffene Tiere sind deshalb zugleich weltarm, weil ihnen das Vermögen der Begriffsbildung (hinter dem sich der ‚eidetische Blick‘ verbirgt) fehlt und sie daher keine ‚Welt‘ haben. Sie müssen sich ganz auf das verlassen, was auch dem Menschen zur Verfügung steht: assoziatives Gedächtnis (welches Lernen ermöglicht) und Intelligenz (vgl. hierzu Kap. 6 ). Im Unterschied zu nicht-menschlichen Animanten haben Menschen kraft ihres Geistes ‚Welt‘. Ein allwissendes Wesen hat in diesem menschlichen Sinne auch keine ‚Welt‘ in Gestalt eines sich stets neu aktualisierenden Verweisungszusammenhangs, da dieser gerade ein Signum der Endlichkeit ist. – Es sei denn, man denkt sich die göttliche Allwissenheit ohne die stetige Allpräsenz der göttlichen Wissensgehalte. Dann würde auch das göttliche geistige Leben durch ‚Welt‘ strukturiert und ermöglicht.

2.3  Tier und Mensch: die anthropologische Differenz

29

Nur aufgrund dieser basalen Orientiertheit, also dieses sprachlichen „In-derWelt-seins“, stellen sich ihm allererst neben alltagspraktischen auch existenzielle Fragen, z. B. nach dem Sinn des Ganzen, nach der Stellung des Menschen in der Welt oder nach einem Leben nach dem Tod. Auch wenn die analytische Unterscheidung zwischen alltagspraktischen Fragen und existenziellen Fragen vielleicht etwas künstlich anmuten mag, so lässt sich doch trotzdem sagen, dass sich nur einem endlichen Geistwesen wie dem Menschen überhaupt Fragen stellen und er sich nicht einfach nur vor Probleme gestellt sieht, die es zu lösen gilt (z. B. wie an die Banane in der geschlossenen Kiste heranzukommen ist). Einem Schimpansen (vorausgesetzt er ist kein Geistwesen) stellen sich keine Fragen. Fragen stellen sich nur einem geistigen Wesen, denn nur ein geistiges Wesen kann sich Fragen stellen. Und existenzielle Fragen stellen sich dem Menschen, weil er als geistig erhelltes Lebewesen, ein existenzielles Interesse an sich selbst ausbilden kann und Orientierung für sein Leben sucht. In Bezug auf die anthropologische Differenz könnte man daher präziser sagen: Der Mensch (Homo sapiens) ist ein weltoffener (nämlich intelligenter und lernfähiger) und durch Geist und ‚Welthabe‘ ausgezeichneter Animant. Insofern verbinde ich synthetisch das Additionsmodell mit dem Transformationsmodell und dem Adaptionsmodell: Es lässt sich zwar durchaus ein Kontinuum (evolutionär und statisch-komparativ) zwischen Homo sapiens und seinen Vorgängern und Vorformen einerseits sowie seinen nächsten Verwandten andererseits behaupten, nicht nur morphologisch und genetisch, sondern auch kognitiv (Instinktreduktion, Intelligenz, Lernfähigkeit, Weltoffenheit). Nichtsdestotrotz sind diese morphologischen, genetischen und kognitiven Gemeinsamkeiten zusammen nur notwendige und keine hinreichenden Bedingungen, um ein Wesen zu werden, das ‚Welt‘ hat und damit ein geistiges Lebewesen ist (und insofern eine Transformation in einem qualitativ neuen Sinne darstellt). Zur Intelligenz und Instinktreduktion muss eine positive Fähigkeit hinzukommen, die ich ‚ichlichen Geist‘ oder kurz: ‚Geist‘ im Unterschied zu seinen Konstitutionsprodukten (‚Geistigkeit‘) nennen möchte. Der Geist ist das Vermögen der Erfassung und Bildung von Ideen und Begriffen (Nous). Durch ihn erst ist ein Animant ein Mensch (Anthropos). Da schon Aristoteles den Nous nicht aus den anderen psychischen Vermögen hat hervorgehen lassen, so vertrat er ebenfalls schon das additive-transformative Doppelmodell. (Das Gleiche lässt sich auch in Bezug auf Schelers Anthropologie sagen.) Die autonome Fundamentalanthropologie entwickelt für sich nur ein Binnenmodell des Menschen (Anthropos), insofern sie nicht aus dem Tier-MenschVergleich erwächst, sondern das je meinige individuelle Sosein eidetisch verallgemeinert und dadurch die supermundane Idee des ‚Anthropos‘ gewinnt. Allerdings ist zu betonen, dass sich schon aus dem Binnenmodell das Transformationsmodell ableiten lässt. Denn insofern alle geistigen Gehalten einerseits konstituiert werden müssen, andererseits aber überhaupt erst ‚Welthabe‘ ermöglichen, kann fundamentalanthropologisch die Transformation der ersten Natur durch den Geist behauptet werden. Dass aber das Anthropoial der ‚Geistigkeit‘

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begrifflich die ‚differentia specifica‘ darstellt und damit die anthropologische Differenz markiert, kann die methodisch autonome Fundamentalanthropologie nur als Hypothese formulieren. Sie kann lediglich die Idee nicht-geistiger Animanten abstrakt- oder negativ-eidetisch ‚konstruieren‘ (Anthropos minus Geist = nichtanthropoialer Animant), ohne deren konkrete erste Natur positiv bestimmen zu können, also angeben zu können, was an die Stelle des Geistes bei den nichtgeistigen Animanten zu setzen ist. Diese Frage kann nur durch empirische Forschung beantwortet werden. Erst mittels einer fundamentalanthropologisch fundierten P/philosophischen Anthropologie lässt sich dieses Binnenmodell dann in ein synthetisches Modell zunächst hinsichtlich des Homo sapiens, aber dann auch in Bezug auf Anthropos allgemein, erweitern (Binnenmodell + Additionsmodell + Transformationsmodell), um dann wiederum fragen zu können, ob es zur Idee menschlicher Lebensformen überhaupt gehört, über eine kulturell angepasste erste Natur zu verfügen, die zugleich die Grundlage für die Ausbildung von Geistigkeit ist (Adaptionsmodell). Sicherlich ist dies nicht so zu verstehen, dass ein nicht-anthropoialer Organismus zunächst Werkzeuge, Kultur, Sprache hervorbrachte, an die er sich dann in einem langen und großen zweiten Schritt anpasste, sondern dass es sich hier um eine Wechselbeziehung zwischen Produktion und Anpassung handeln muss. Nichtsdestotrotz ist es fraglich, dass es ohne diese Adaptionsprozesse zur Ausbildung von Geist und ‚Geistigkeit‘ kommen konnte. Das heißt nicht, dass es a priori auszuschließen ist, dass nicht eines Tages durch Gentechnik Schimpansen in geistige Lebewesen verwandelt werden könnten. Aber ob dies auch durch natürliche Auslese geschehen könnte, ist doch höchst fraglich. Immerhin: Vielleicht ist es prinzipiell möglich, dass ein ‚äffischer‘ Körper ‚Geist‘ beherbergen kann. Ob dies etwa auch ein Spinnen- oder ein Fledermauskörper könnte, ist dagegen eine ganz andere Frage. Wie dem auch sei: Beim Versuch, diese Fragen zu beantworten, ist äußerste Vorsicht angebracht. Der Übergang von einer Tatsachenfeststellung zu einem eidetischen Sachverhalt ist ein schwieriges Unterfangen – gerade wenn es um so komplexe Dinge geht wie Adaption. Es muss hier jedenfalls offen bleiben, ob es korrekt ist, das Adaptionsmodell hinsichtlich der ersten Natur von Homo sapiens eidetisch auf alle ideal- und realmöglichen Menschenformen zu übertragen. Ich schlage also folgende methodische Reihenfolge vor: 1. Binnenmodell (autonome Fundamentalanthropologie): Anthropoialien- und Trinitätslehre. Ontogenetisches Transformationsmodell aufgrund Geistigkeit. Desiderata: Bestimmung der Variationsgrenzen der Leib-Körperlichkeit und Ausarbeitung eines spezifischen anthropoialen Leibbegriffs. Kein methodisch autonomer Mensch-Tier-Vergleich möglich, sondern nur eine negative Eidetik nicht-anthropoialer Lebensformen. Kein Adaptions- und kein Additionsmodell.

2.3  Tier und Mensch: die anthropologische Differenz

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2. Additionsmodell (empirisch informierte Fundamentalanthropologie): Spezifikation des Geistkonzepts (motiviert durch tierpsychologische und ethologische Befunde). Eidetische Bestimmung der anthropologischen Differenz: Anthropologische Differenz als Differenz zwischen geistigen und nichtgeistigen Animanten. (Die empirisch-faktischen Grenzverläufe können nur empirisch-faktisch bestimmt werden.) 3. Phylogenetisches Adaptionsmodell (P/philosophische Anthropologie und einzelwissenschaftliche Anthropologien, insbesondere Paläoanthropologie): Anpassung der ersten Natur des Menschen (Homo) an Kultur und Technik. 4. Ergebnis: Synthetisches Modell in Bezug auf Homo sapiens und (unter Einklammerung des Adaptionsmodells) auch in Bezug auf Anthropos: Mensch = auf Kultur hin ausgerichtete erste Natur (Leib, Körper, Umwelt, Erleben) + Geist + Geistigkeit. 5. Allgemeine eidetische Bestimmung der Variabilitätsgrenzen und der spezifischen Konstitution der ersten Natur des Menschen. Erst aufgrund dieser methodischen Ordnung kann sich also nicht nur ein klarer (= autonomer fundamentalanthropologischer), sondern auch ein deutlicher Begriff des Menschen (Homo sapiens und Anthropos) in seiner Differenz zu anderen Lebensformen ergeben (Bestimmung der anthropologischen Differenz). Was sich jedoch m. E. nicht sinnvoll vertreten lässt, ist das Privationsmodell des Menschen, sowohl in Bezug auf Homo sapiens als auch allgemein in Bezug auf Anthropos. Der Mensch (Homo sapiens) ist deshalb kein Mängelwesen, weil er von seiner ersten Natur her auf Kultur angelegt ist, schon allein weil er aus wesensbegrifflichen Gründen ein Geistwesen ist. Auch wenn bisher der Unterschied zwischen Geist (als konstitutivem Vermögen der ersten Natur des Menschen = Nous) und Geistigkeit (als Konstitutionsgebilde und zweite Natur = Sprache, ‚Welt‘) nicht hinreichend expliziert wurde, so ist doch darauf hinzuweisen, dass Geist keine Kompensation von Mängeln ist, sondern nur in einem Wesen aktiv werden kann, das bereits hinreichend weltoffen war. Wenn man den Menschen als Mängelwesen ansieht, dann muss man auch jedes andere animalische Lebewesen, das nicht gänzlich instinktgesteuert ist (und es ist fraglich, ob es so etwas gibt) als Mängelwesen ansehen. Nur wenn man einen Menschen in Gedanken nackt, also ohne Kleidung und ohne geistige wie materielle Werkzeuge in der Wildnis aussetzt, erscheint es so, als sei er im Vergleich zu anderen Lebewesen ein höchst unvollkommenes Wesen. Die Wildnis ist aber nicht sein ‚natürlicher‘ Lebensraum, sondern seine Kulturwelt. Und mit Hilfe seiner Werkzeuge, seiner Techniken und technischen Apparate ( „natürliche Künstlichkeit“) kann er dann auch noch (freilich abhängig vom Stand seiner Technik) in (fast) jeder Wildnis überleben: submarin, in der Antarktis, in der Sahara, im Weltraum und irgendwann vielleicht auch auf dem Mars und anderen Planeten (wenngleich vermutlich nicht auf der Sonne oder in schwarzen Löchern). In diesem Sinne ist der Mensch wahrlich ein „Prothesengott“ (Freud), indem er partiell seinen Körper immer weiter ausschaltet

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2 Einleitung

(Alsberg) und zwischen sich und die Natur eine Werkzeug- und Symbolwelt (auch Sprache ist ein Werkzeug, ein Organ) stellt. Unterscheidet man zwischen Weltoffenheit (Instinktreduktion) und Intelligenz einerseits sowie Welthabe und Geist andererseits, dann lässt sich durchaus beides begreifen: Die vielfältigen verblüffenden Ähnlichkeiten zwischen Homo sapiens und seinen nächsten Verwandten, den Menschenaffen, aber auch die deutlichen Unterschiede: Der Mensch hat sich (mit allen positiven und negativen Folgen) die Erde mit selbstkonzipierten Machtmitteln (Technik) unterworfen, kein Affe dagegen hat, soweit wir bisher wissen, auch nur den mindesten Begriff von Welt, Erde, Natur (oder Affe) gebildet etc. Hierfür kann es m. E. nur eine Erklärung geben: Geist und Intelligenz sind deutlich verschiedene Vermögen. Zusammenfassend lässt sich daher sagen: Nur weil der Mensch auch Geist (Nous) hat bzw. ist (Additionsmodell), ist er auch ein „exzentrisches“ Lebewesen und ein Wesen, das nicht nur weltoffen, sondern auch durch Welthabe ausgezeichnet ist (Transformationsmodell). Dabei ist die phylogenetische Adaption (‚somatische‘ Anpassung an die menschlichen Kulturerzeugnisse) von der ontogenetischen Transformation (Bildung eines animantischen Geistwesens zu einem Kulturwesen) zu unterscheiden und beides zugleich zusammenzudenken. In Bezug auf das Adaptionsmodell kann jedoch bereits an dieser Stelle eine wesentliche Einschränkung hinsichtlich der fundamentalanthropologischen Erfassung der Idee des ‚Anthropos‘ vorgenommen werden: Da der Mensch sich daran macht, menschliches Leben auf synthetischem Wege herzustellen, bedeutet dies für die Fundamentalanthropologie, dass die evolutionäre Adaption der ersten Natur vielleicht zum Begriff des Homo sapiens gehört, nicht aber wesentlich zum Begriff anthropoialen Lebens überhaupt. Ein X kann ein Anthropos sein, auch wenn seine erste Natur zum Beispiel im Labor designt wurde (und nicht das natürliche Produkt einer natürlichen Anpassung an Natur und Kultur darstellt). Abstammungsfragen sind daher von ‚statischen‘ Fragen nach der Konstitution zu unterscheiden. Wie auch immer ein X wurde, was es ist: es muss auf bestimmte Weise verfasst sein, um unter den Begriff ‚Anthropos‘ zu fallen. Und da natürliche Künstlichkeit ein Wesensmerkmal des Menschen ist, nimmt es auch nicht wunder, dass er sich daran macht, seinesgleichen ‚künstlich‘ hervorzubringen. Wie auch immer man zu solchen Projekten steht: Die Herkunft bestimmt nicht, ob jemand oder etwas ein Mensch im Sinne der Fundamentalanthropologie ist. Hierüber entscheidet nur, was ein X tatsächlich ist. Allerdings ist das Adaptionsmodell für die fundamentalanthropologische Bestimmung des Menschen auch nicht völlig irrelevant, scheint doch jegliches Leben allererst auf natürlichem Wege entstehen zu müssen. Und ist dies richtig, dann würde sich hieraus auch für den Begriff ‚Anthropos‘ ergeben, dass künstlich hergestellte Menschen natürlich entstandene Menschen notwendig voraussetzen und damit die erste Natur natürlich entstandener Menschen vielleicht notwendig auch das Ergebnis einer Kulturadaption darstellt. Oder gibt es ernstzunehmende Alternativen zum Evolutionsgedanken?

2.4  Ich und Gehirn, Geist und Geistigkeit

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2.4 Ich und Gehirn, Geist und Geistigkeit a) Gehirnparadoxon Vorweg möchte ich bereits an dieser Stelle auf ein wichtiges Theorieelement zu sprechen kommen, welches leicht missverstanden oder zumindest in seiner Bedeutung für das Gesamtprojekt falsch eingeschätzt werden kann.43 Ich meine die ontologische Bestimmung des Seins des Gehirns durch die Fundamentalanthropologie. Bei allem Dissens in Fragen der Philosophie des Geistes sind doch die meisten Philosophen, ja vermutlich die Mehrzahl der heute lebenden Menschen der Auffassung, dass wir mittels unseres Gehirns denken, wahrnehmen, vorstellen, ja sogar fühlen. Ich nenne diese Überzeugung das ‚Gehirndogma‘ oder auch den ‚Gehirnfundamentalismus‘. Diese Überzeugung beruht zweifellos auf einer Vielzahl von Evidenzen. Die Fundamentalanthropologie nimmt diese Evidenzen absolut ernst. Zugleich nimmt sie aber auch das sogenannte Gehirnparadoxon absolut ernst, dessen Auflösung auch das ‚Gehirndogma‘ zu Fall bringt. Worin besteht dieses Paradox?44 Wenn alles, was wir wahrnehmen, ein Gehirnerzeugnis ist, dann muss dies auch vom empirischen Gehirn gelten. Denn wenn man zugibt, dass das empirische Gehirn erfahrbar ist (eine Tautologie), und zudem glaubt, dass alle Erfahrungen durch das Gehirn produziert oder konstruiert werden, dann ist das empirische Gehirn, insofern es Teil der Erfahrung ist, ebenfalls eine Produktion oder Konstruktion des Gehirns. Das, was wir als unbezweifelbare materielle Grundlage aller geistigen und Bewusstseinsphänomene betrachten, entpuppt sich somit scheinbar selbst als Gehirnkonstrukt und zugleich als eine Tatsache des Bewusstseins. Sicher: Wir können Gehirne nicht nur sehen, sondern sie auch anfassen, ihre Aktivitäten messen und diese Messungen in Verlaufskurven und bunte Bilder (Stichwort: „bildgebende Verfahren“) übertragen, Gehirne in hauchdünne Scheiben ‚tranchieren‘ und diese unter dem Mikroskop betrachten und – ja – wir können Gehirne sogar essen (was bei tierischen Hirnen nichts Außergewöhnliches ist). Aber immer (auch beim Verspeisen) haben wir es mit Wahrnehmungskorrelaten zu tun. Das gilt übrigens für alle materiellen empirischen Gegen43So

schreibt etwa Düwell in seiner Buchbesprechung der Kritik der philosophischen Vernunft: „Zunächst ist mir nicht wirklich deutlich, warum Streubel behauptet: ‚Das Ich wird in der Welt durch das Gehirn repräsentiert‘ […] statt es als ein (wenngleich zentrales) Organ aufzufassen und die Repräsentation des Ich durch den Körper in einem umfassenderen Sinne zu denken.“ (Marcus Düwell: Wird philosophische Anthropologie als strenge Wissenschaft auftreten? In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 66.5 (2018). 724–728). Die Forderung Düwells, das Gehirn wieder in seine angestammte Position als Weltkreator einzusetzen, ist gleichbedeutend mit der Rehabilitierung des Naturalismus. Meine gesamte Argumentation zielt aber gerade darauf ab, dass der Naturalismus eine unhaltbare metaphysische Position darstellt. Dass das Gehirn eine Repräsentation und kein Ding an sich ist, ist für die Gesamtkonzeption der Fundamentalanthropologie zentral. Die Neubestimmung des Verhältnisses von Gehirn und Ich ist gleichsam das Herz der Fundamentalanthropologie. Reißt man es heraus, ist sie nicht mehr lebensfähig. 44Vgl. hierzu ausführlich: Thorsten Streubel: Kritik der philosophischen Vernunft. Die Frage nach dem Menschen und die Methode der Philosophie. S. 37–49; 342 ff.

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2 Einleitung

stände, etwa für eine Wand, gegen die ich laufe – weshalb es unsinnig ist, solche Beispiele gegen idealistische Positionen ins Spiel zu bringen. Die Erfahrung von Widerstand ist genau dies: eine subjektive Erfahrung! Das Gehirn scheint jedoch ein besonderer materieller Gegenstand zu sein, insofern es eben als der Generator unseres Bewusstseins und seiner geistigen wie nichtgeistigen ‚Inhalte‘ gilt. Da nun das empirische Gehirn jedoch selbst eine Tatsache des Bewusstseins oder alternativ: ein Gehirnkonstrukt ist, müsste es sich selbst hervorbringen. Nichts jedoch kann sich selbst ex nihilo hervorbringen (auch Gott nicht), ohne bereits etwas, nämlich es selbst, zu sein. Ist es aber bereits etwas, kann es nur etwas anderes als sich selbst hervorbringen. A kann nicht A hervorbringen, sondern höchsten B. Oder A kann sich verändern oder transformieren in A‘ (so wie ja auch ein Mensch als ganzer sich durch Ausbildung geistiger Verweisungszusammenhänge in ein animantisches Geistwesen im Vollsinne transformiert, wenn er sozialisiert wird). Doch ein solcher Vorgang der Transformation ist bei der Wahrnehmung und Erfahrung des Gehirns nicht gemeint. Die Wahrnehmung des Gehirns ist ja etwas völlig anderes als eine Transformation des Gehirns (Stichwort: neuronale Plastizität). Wenn das Gehirn eine Wahrnehmung von sich selbst erzeugt (und dies scheint es prima facie mittels der mit ihm verbundenen Sinnesorgane zu tun und nicht unvermittelt), dann ist das, was wir als Gehirn wahrnehmen, nicht das Gehirn als Ding an sich und Kreator, sondern nur eine Repräsentation dieser ‚Bewusstseinsmaschine‘. Man könnte auch sagen: Will das Gehirn sich selbst wahrnehmen, dann muss es sich notwendig ein ‚Bild‘ von sich machen. Doch genau dieses ‚Bild‘ ist ja eben das empirische Gehirn selbst. Das empirische Gehirn ist bereits eine Tatsache des Bewusstseins, und diese Tatsache kann sich nicht selbst hervorgebracht haben und ist daher auch nicht mit irgendeinem konstruierenden Gehirn identisch. Doch wenn einerseits das empirische Gehirn eine Repräsentation bzw. eine Tatsache des Bewusstseins ist, und andererseits dasjenige, was Bewusstsein und seine ‚Inhalte‘ hervorbringt, niemals originär gegeben und gebbar ist, mit welchem Recht behauptet man dann, dies sei ebenfalls ein Gehirn, entweder dasselbe phänomenale oder gar ein Ding-an-sich-Gehirn? – Die Antwort kann nur lauten: Es gibt hierzu überhaupt kein Recht! Denn eine Tatsache des Bewusstseins kann nicht zugleich die Ursache ihrer Hervorbringung sein. Unterscheidet man aber zwischen Ursache und Wirkung sowie zwischen Repräsentiertem und Repräsentant, dann folgt hieraus alleine nicht, dass beide von gleicher Seinsart sein müssen. Im Gegenteil: Eine Ursache muss ihrer Wirkung überhaupt nicht ähneln. So kann eine Beleidigung (ein Sprechakt) beim entsprechenden Adressaten sogenannte „verletzte Gefühle“ hervorrufen, ohne dass man behaupten könnte, der Sprechakt und dessen semantischer Gehalt ähnelten den hervorgerufenen Gefühlen. Nach allem, was wir über Ursachen und Wirkungen zu wissen glauben, scheint eher die Heterogenitätsannahme plausibel zu sein: Ursache und Wirkung sind nicht nur verschiedene Entitäten bzw. Ereignisse, sie müssen sich auch nicht ähneln.

2.4  Ich und Gehirn, Geist und Geistigkeit

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Die Lösung, die die Fundamentalanthropologie anzubieten hat, besteht nun nicht darin, einfach ‚idealistisch‘ zu sagen: Das Gehirn wird allein durch ein transzendentales Bewusstsein hervorgebracht. Sie behauptet aber auch nicht einfach trotzig: ‚Ich ist nicht Gehirn‘. Und erst recht behauptet sie nicht das Gegenteil: ‚Ich ist Gehirn‘. Vielmehr vertritt sie gerade in diesem Punkt eine Art neokantischer Position:45 Sie möchte zeigen, dass das phänomenale Gehirn die Erscheinung bzw. Repräsentation unseres Ich in der Anschauung bzw. Wahrnehmung und Erfahrung ist. Das heißt auch: ‚Ich‘ bin es, der erlebt, denkt, wahrnimmt etc., nicht mein (empirisches) Gehirn. Das Ich ist aber keine Tatsache des Bewusstseins, weshalb es auch keine Repräsentation eines Dritten ist, sondern dasjenige „Ding an sich“ mit dem ich streng identisch bin und das sich als empirisches Gehirn darstellt (vgl. hierzu Kap. 5). Kurz: Wenn ich mich wahrnehmend mittels meines Leibes auf mein Ich richte (wozu ich den Schädel öffnen und Spiegelvorrichtungen oder eine Kamera46 benutzen müsste), dann sehe ich zwar (m)ein Gehirn. Aber was ich da sehe, ist bereits das Ergebnis eines originär prinzipiell nicht erfahrbaren Wahrnehmungsvorgangs, an dessen Anfang das Ich steht (als wahrnehmungsverursachend) und an dessen Ende die Erfahrung des Ich als Gehirn. Ich sehe und taste also niemals das Ich selbst (Sehen und Tasten hier rein als erlebbare Kinästhesen verstanden), aber doch seine Repräsentation (als Korrelat der Kinästhesen und nicht als von diesen unabhängiger Gegenstand), nämlich das phänomenale Gehirn. Dieses denkt nicht, denn es ist nur eine Darstellung meines Ich, eine bloße Tatsache des Bewusstseins. Es ist kausal völlig impotent. Und trotzdem können vermeintlich materielle Eingriffe ins Gehirn zu realen Veränderungen des Erlebens, der Kognition, ja der leiblichen Aktionsmöglichkeiten führen. Diese Phänomene sind es ja unter anderen, die die These vom Gehirn als Grundlage unserer Subjektivität evidentiell stützen. Aber es sind Scheinevidenzen, die dadurch entstehen, dass der ganze Vorgang nicht als Repräsentationsvorgang bzw. als Repräsentation eines verborgenen Vorgangs durchschaut wird (und damit das Gehirn nicht als bloße Repräsentation des Ich). Jeder beobachtbare Eingriff ins Gehirn ist selbst nur die Repräsentation eines Eingriffs – nicht ins Gehirn, sondern in das Ich. Das wahre Subjekt ist das Ich. Und vermeintliche Gehirnaktivitäten sind nur Darstellungen der Bewusstseinsinhalte hervorbringenden Ichaktivitäten. Das Ich ist der kausale Akteur, nicht das Gehirn. Letzteres ist metaphorisch gesprochen nur ein ‚Bild‘ bzw. unmetaphorisch gesprochen eine Erscheinungsreihe, die etwas darstellt, was niemals originär erscheint, eben das Ich. Und dies ist also die (neokantianisch-fundamentalanthropologische) Auflösung des Gehirnparadoxons: Es ist nicht ein und dasselbe Gehirn, welches Grund-

45Der

Neokantianismus der Fundamentalanthropologie besteht darin, dass sie zwar die kantische Unterscheidung von Ding an sich und Erscheinung begründeterweise vertritt und verteidigt, aber nicht der Meinung ist, der Raum sei ausschließlich und primär eine Anschauungsform (was sie dagegen für die Zeit sehr wohl zugesteht, auch wenn sie das ‚nunc fluens‘ metaphysisch deutet). 46Das gilt allerdings nur für das Sehen, nicht für das Tasten.

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lage des Bewusstseins und widersinnigerweise zugleich selbst eine Tatsache des Bewusstseins ist, sondern das empirisch-materielle-phänomenale Gehirn, kurz: das wirkliche Gehirn, ist nur eine Erscheinung und kein Ding an sich. Das Ich ist das Ding an sich, das nicht nur Bewusstsein hervorbringt, sondern zugleich auch das wahre Subjekt des Erlebens, aber auch der ‚Hervorbringer‘ seiner Inhalte ist. Wie gesagt: Ich denke (und nicht: mein Gehirn denkt). Ich möchte noch hinzufügen, dass das Verhältnis Ich – Bewusstsein, aber auch Ich – Leib schwierige Probleme birgt, auf die ich hier nicht näher eingehen kann. Nur so viel: Es dürfte intuitiv einleuchten, dass die scheinbar passive Vorgegebenheit der oben erwähnten Wand (oder auch die Wahrnehmung von Gehirnen) auf andere Weise zustande kommt als etwa ein spontaner Urteilsgehalt, den ich (Ich!) aktiv in einem Akt des Urteilens erzeugt habe. Letzteres – das Urteilen – ist eine Aktivität, die ich auch als solche, nämlich als von mir ausgehend, empfinde, während die Produktion der Wahrnehmungsgehalte eigentlich gar nicht empfunden wird, weshalb es im normalen Erleben jederzeit so scheint, als sei die Welt der Wahrnehmung eine subjektunabhängige Welt. Dies beruht aber auf einer Art von transzendentalem Schein, der jedoch nicht nur theoretisch, sondern auch direkt durch Einnahme bestimmter ‚bewusstseinsverändernder‘ Substanzen durchschaut werden kann. Aus Sicht der Fundamentalanthropologie werden alle Erlebnisinhalte hervorgebracht, wenngleich auf unterschiedliche Weise, nämlich einmal extern durch transphänomenale Affektion des (transphänomenalen) leiblichen Wahrnehmungsapparates, einmal durch direkte Selbst- und Ichaffektion. Da ich hier nicht die ganzen komplexen Zusammenhänge bzgl. Ich, Affektion und Produktion erneut aufrollen kann, verweise ich auf die entsprechenden Ausführungen in der Kritik der philosophischen Vernunft (insbesondere: 305–326). Es kam mir hier lediglich darauf an, dass 1. die empirischen Evidenzen in keiner Weise den Gehirnfundamentalismus beweisen und 2. das Gehirnparadoxon sich nur dann auflösen lässt, wenn wir das Gehirn gerade aus der theoretischen Position des Bewusstseinsgenerators entfernen und an seine Stelle das Ich setzen. Nur diese Auflösung rettet die Phänomene (bzw. die entsprechenden Evidenzen) und vermeidet die explizierte Paradoxie. b) Geistigkeit: begriffliche Unterscheidungen Das Ich ist also das wahre Subjekt des Erlebens und zugleich die kausale Grundlage desselben. Das Ich bezeichne ich daher auch als das „Subjekt des Subjekts“, weil das ‚restliche‘ menschliche Subjekt entweder ‚Objekt‘ für das Ich ist und auch partiell dessen Willen untersteht (bei Leibesbewegungen) oder zumindest mit ihm verbunden ist (transphänomenaler Leib). Zur näheren Bestimmung des Ich in seiner Unterschiedenheit vom Bewusstsein qua Erleben gehört auch die Unterscheidung zwischen Geist und Geistigkeit. Geist (Nous) ist nämlich ein ichliches Vermögen, ebenso (vermutlich) das Gedächtnis. Nur die geistigen Gehalte und Vorgänge, die ich erlebe, sind (aktuelle) Tatsachen des Bewusstseins und werden von mir mit dem Begriff ‚Geistigkeit‘ im engsten, aktualistischen Sinne bezeichnet (i). Ein etwas weiterer Begriff von ‚Geistigkeit‘ bezeichnet dagegen alle geistigen (bewussten wie aktual nichtbewussten) Produkte des Geistes sowie

2.5  Michael Landmanns „Fundamental-Anthropologie“

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die geistigen Potentialitäten des Bewusstseins, wie ein aufblitzender, aber noch nicht ergriffener Gedanke (ii). Der weiteste Begriff des Geistes bzw. der Geistigkeit (‚Geistigkeit‘ als Anthropoial) umfasst sowohl den ichlichen Nous sowie alle geistigen Erzeugnisse (iii). Ich zweifle nicht daran, dass auch ein Schimpanse ein Ich und Bewusstsein hat. Ich bezweifle aber, dass er ein geistiges Ich besitzt und damit durch das Anthropoial der Geistigkeit ausgezeichnet ist. Andernfalls wäre er eine anthropoiale Lebensform, woraus sich aber auch kein ernsthaftes theoretisches Problem ergäbe – jedenfalls nicht für die Fundamentalanthropologie. Denn diese will nur einen adäquaten Begriff des ‚Anthropos‘ geben, nicht aber empirische Behauptungen über Menschenaffen aufstellen. Zuletzt möchte ich noch darauf hinweisen, dass sich aus der skizzierten neokantianischen Position ein vorwiegend pragmatisches Verständnis des Aufgabensinns der mathematischen Naturwissenschaften ergibt: Ihre Leistung besteht hiernach in erster Linie nicht darin, wahre, gerechtfertigte Aussagen darüber zu treffen, wie die erfahrungstranszendente Welt an sich metaphysisch beschaffen ist, sondern was wir tun müssen, um gewisse praktische Ziele zu erreichen (z. B. Krankheiten heilen, Autos bauen, Emissionen reduzieren etc.). Herrschaftswissen, wie es die Naturwissenschaften bereitstellen, ist ein ‚Wenn-dann-Wissen‘ hinsichtlich phänomenaler Gegebenheiten und nicht identisch mit metaphysischem Wissen (das glaubt, letzte Wahrheiten darüber erringen zu können, was die Welt im Innersten zusammenhält). Die Naturwissenschaften sind folglich keine moderne Form der alten Metaphysik. Oder auch: Physik ist nicht Metaphysik.

2.5 Michael Landmanns „Fundamental-Anthropologie“ In der Kritik der philosophischen Vernunft habe ich „Grundstücke einer Fundamentalanthropologie“ (223–357) zu geben versucht. Ich beanspruche damit weder die einzig mögliche noch eine erschöpfende Fundamentalanthropologie entwickelt zu haben. Und ich behaupte auch nicht, als Erster den Terminus „Fundamentalanthropologie“ geprägt zu haben. Nichtsdestotrotz bin ich der Überzeugung, den Aufgabensinn und die Idee einer Fundamentalanthropologie und deren Unterschied zu herkömmlichen Anthropologien auf eine neue und zugleich hinreichend distinkte Art konzipiert zu haben. Insbesondere die neuartige Synthese von Anthropologie und Transzendentalphilosophie in Form einer „anthropologia transcendentalis“ (Kant), die begriffliche Differenzierung zwischen Anthropos und Homo sowie die Anthropoialien- und Hypostasenlehre (also die Tatsache, dass der Mensch nicht nur aus mindestens sechs Teilmomenten besteht, sondern zugleich auch eine mundane, eine transzendentale und transphänomale ‚Seite‘ hat) lassen sich zur Begründung dieser Selbsteinschätzung anführen. Eine explizit als „Fundamental-Anthropologie“ bezeichnete Anthropologie wurde allerdings schon in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts von dem

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Berliner Philosophen Michael Landmann entwickelt.47 Ich möchte kurz erläutern, warum ich der Auffassung bin, dass Landmanns „Fundamental-Anthropologie“ nach meinen Maßstäben in Wahrheit keine wirkliche Fundamentalanthropologie, sondern eine respektable Philosophische Anthropologie im paradigmatischen Sinne ist. Landmanns „Fundamental-Anthropologie“ ist nämlich eine (biologisch informierte) Kulturanthropologie des Homo sapiens, die den Menschen als Kultur- und Geschichtswesen vor dem Hintergrund des als vornehmliches Instinktwesen verstandenen „Tieres“ deutet. Sie ist damit eine späte Ausprägung der Philosophischen Anthropologie des 20. Jahrhunderts. Landmann unterscheidet daher auch nicht begrifflich zwischen ‚Anthropos‘ und ‚Homo sapiens‘ als terrestrischem Menschen. Das wird auch deutlich, wenn man Landmanns ‚fundamental-anthropologischen‘ Begriff des „Anthropinons“ bzw. der „Anthropina“ (= „Kategorien des Menschseins“) mit dem fundamentalanthropologischen Begriff des Anthropoials (= Grundmomente des Menschseins) vergleicht: „Unter den Anthropina“, so Landmann, „verstehen wir die gleichbleibend sich durchhaltenden, ‚zeitlosen‘ Grundstrukturen des Menschseins.“ Und zur Erläuterung heißt es: „Der Mensch ist das geschichtlich variable Wesen: von Volk zu Volk, von Kultur zu Kultur, von Zeitalter zu Zeitalter gibt er sich wieder ein anderes Gesicht. Deshalb hat man gesagt: allgemeine, überdauernde, ‚ontologische‘ Strukturen des Menschen als solchen gibt es nicht. Ihn auf solche festlegen zu wollen wäre eine Statisierung, eine Verkennung seiner geschichtlichen Bewegtheit, seiner Offenheit, seiner Möglichkeitsfülle. Diese Argumentation ist kurzschlüssig. Sie sieht nicht, dass die zeitlosen Strukturen und die geschichtlich wechselnde Form zwei koexistible Schichten des Menschen sind. Jene bilden gleichsam den zugrundeliegenden Genotypus, diese den sich aktualisierenden Phänotypus. Das geschichtlich variable Wesen zu sein ist selbst eine ungeschichtlich fixe Struktur des Menschseins. Das Dass der Variabilität ist ungeschichtlich, ihr Was ist geschichtlich. Das bedeutet keinen Widerspruch.“48 Landmann führt 23 bzw. 36 Anthropina auf und gruppiert sie unter vier Rubriken (ich füge nur für die ersten beiden Rubriken die einzelnen Anthropina beispielhaft auf): • Anthropina der Kreativität (Unspezialisiertheit, Kreativität, Arbeit, Perfektibilität, Freiheit, höhere Bewusstheit, Individualität) • Anthropina der Kulturalität (Kulturalität, Institutionalität, Selbststeigerung, subjektive Geschichtlichhkeit, Traditionalität, Kommunität, Modellierbarkeit, Lernfähigkeit)

47Michael

Landmann: Fundamental-Anthropologie. Bonn 21984. Landmann: Fundamental-Anthropologie. Bonn 21984. 151 f. Allgemein zu Landmann: Hans-Joachim Hupe: „Werde, der Du sein willst“. Kreativität und Teleologie in der Kulturanthropologie Michael Landmanns. Bonn 1991, und: Jörn Bohr, Matthias Wunsch (Hg.): Michael Landmann im Kontext. Nordhausen 2015. 48Michael

2.5  Michael Landmanns „Fundamental-Anthropologie“

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• Anthropina des Wechselspiels zwischen Kreativität und Kulturalität • Anthropina der Erkenntnis Anthropina sind also Begriffe für reale Strukturen, die, so könnte man vielleicht sagen, als reale Strukturen die geschichtliche, kulturelle und soziale Variabilität des Menschen allererst ermöglichen. Zum Teil handelt es sich aber auch einfach nur um Begriffe, die variable Tatsächlichkeiten schlicht begrifflich zusammenfassen (also den Phänotypus und gerade nicht den Genotypus): So ist etwa „Kulturalität“ nichts, was eine Bedingung der Möglichkeit konkreter Kulturen darstellt, sondern nur die begriffliche Erfassung der Tatsache, dass Menschen stets (schon immer?) Kulturen ausbilden. Teil des „Genotypus“ wäre m. E. vielmehr die menschliche Fähigkeit, das begrifflich Allgemeine zu erfassen, Teil des Phänotypus wäre eine bestimmte kulturelle Prägung. Und die Kategorie ‚Kulturalität überhaupt‘ stellt aus meiner Sicht lediglich eine induktive Verallgemeinerung der verschiedenen faktischen Kulturen dar. Demgegenüber sind die sechs Anthropoialien eigentlich keine Strukturbegriffe, sondern mereologisch-topographische Begriffe: Sie bezeichnen die Grundmomente des Menschseins, wobei unter ‚Moment‘ unselbständige Teile zu verstehen sind. Anthropoiales Leben besteht im Wechselspiel dieser sechs Momente, wobei insbesondere dem Ich auch ein echter Akteursstatus zukommt. Aber das Ich ist gleichsam nichts, ohne die anderen fünf anthropoialen Momente. Verglichen mit Landmanns Anthropina bezeichnen die Anthropoialien tatsächlich das Fundament, welches es dem Menschen allererst ermöglicht, kreativ, kulturell, geschichtlich etc. zu sein. Denn dieses Fundament ist der Mensch selbst. Geschichtlichkeit (ein Anthropinon) mag universell menschlich sein. Aber diese „Struktur“ (ist es wirklich eine Struktur?) kann auf ihre Möglichkeitsbedingungen hin befragt werden. Und die sechs Anthropoialien bezeichnen gerade die fundamentalen Möglichkeitsbedingungen aller genuin menschlichen Phänomene. Landmanns Anthropina sind dagegen auf völlig verschiedenen Fundierungs- und Konstitutionsstufen angesiedelt. Unspezialisiertheit mag eine natürliche Voraussetzung dafür sein, dass der Mensch auch ein Kulturwesen und geschichtlich variabel sein kann. Aber dass Menschen nicht nur eine einzige, sondern viele verschiedene Kulturen hervorgebracht haben und durch diese geprägt wurden und werden, liegt auf einer anderen Ebene der Betrachtung. Mir scheint, dass das landmannsche System der Anthropina in der Mehrzahl „Strukturen“ zu benennen versucht, die sich erst ausbilden, wenn anthropoiales Leben in einem konkreten geschichtlichen und sozialen Umfeld betrachtet wird. Diese Strukturen sind nicht fundamental, sondern fundiert, Überbau und nicht Unterbau. Im Grunde bezeichnen die Anthropina primär allgemeine Strukturen der menschlichen Geistigkeit in ihrem konkreten Bezug zu einer bestimmten Welt. Ihre Realisierung ist nur aufgrund der anthropoialen Konstitution möglich, die daher grundlegender ist. Man könnte auch sagen, sie sind (verglichen mit den Anthropoialien) abgeleitete Größen. Dies teilen sie mit Heideggers Existenzialien, die ebenfalls nur in Bezug auf die anthropoiale Konstitution verständlich und (als Weisen, zu sein) möglich sind.

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Die „Fundamental-Anthropologie“ Landmanns ist somit, wenn ich richtig sehe, der Versuch, eine reflektierte Kulturanthropologie des rezenten irdischen Menschen zu geben, die Kurzschlüsse vermeidet wie: ‚Der Mensch ist gewissermaßen nichts anderes als ein Kultur- oder Gesellschaftsprodukt, weshalb es auch vermeintlich keinen Sinn ergibt, von ‚dem‘ Menschen zu sprechen.‘ In diesem Sinne jedoch ist Landmanns „Fundamental-Anthropologie“ nicht fundamental, sondern vielmehr nur allgemein. Man könnte sie als allgemeine Kulturanthropologie bezeichnen. Dagegen stellt meine Fundamentalanthropologie den Versuch dar, die anthropoialen Fundamente des Menschseins offenzulegen und begrifflich zu fassen, die auch die Bedingungen der Möglichkeit von Sozialität, Kulturalität und Geschichtlichkeit sind, aber auch zu erklären, warum der Mensch nicht nur Subjekt in der Welt, sondern zugleich auch Subjekt von Selbst und Umwelt ist. Man könnte auch sagen: Das System der Anthropina benennt (vermeintliche oder echte) Invarianten des Kulturwesens Mensch, das ‚System‘ der Anthropoialien aber das reale Fundament des Menschseins. Konkret heißt dies: Ohne Leib, Umwelt, Bewusstsein und Ich könnte ‚der‘ Mensch kein Kultur-, Geschichts- und Gesellschaftswesen sein bzw. werden.

2.6 Methode Die konkrete Gestalt der Fundamentalanthropologie ergab sich methodologisch aus dem Versuch einer autonomen Begründung der philosophischen Methode, wobei unter Methode hier der Weg der Selbstbegründung der Philosophie zu verstehen ist. Ausgehend vom methodischen Zweifel, der (abweichend von Descartes) zur Unbezweifelbarkeit der Anschauung respektive des Erlebens führt, über die Aletheiologie, die die Möglichkeit wahrer philosophischer Beschreibungen erwies, ergab sich ein gangbarer Weg, ausgehend von der anschaulichen Gegebenheit meines eigenen Da- und Soseins, einen allgemeinen Begriff des Menschen zu erarbeiten. Die methodische Idee bestand in folgendem Dreischritt: 1. Ich bin etwas und nicht nichts, das heißt, ich bin irgendwie beschaffen und diese Beschaffenheit kann man eidetisch verallgemeinern in dem Sinne, dass auch andere Wesen grundsätzlich so beschaffen sein können wie ich. Alle Wesen, die grundsätzlich so beschaffen sind wie ich, sind mir artgleich. Ich bezeichne nun die Art oder Spezies, der ich angehöre, als ‚Mensch‘, ohne mit diesem Terminus bereits einen bestimmten Begriff des Menschen vorauszusetzen, denn dieser soll ja allererst auf analytisch-deskriptivem Wege gewonnen werden. ‚Mensch‘ bezeichnet zunächst nur eine unbestimmte Artidee, nicht aber „animal rationale“, „Homo sapiens“ oder eine sonstige historisch überkommene Bestimmung (wie „imago dei“).

2.6 Methode

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2. Es erfolgt zunächst eine empirische Individualbeschreibung der Grundmomente meines Soseins. Unter einem Moment verstehe ich dabei einen unselbständigen Teil meines konkreten Seins, der nicht selbst wiederum Teil eines Teils ist. So ist beispielsweise die phänomenale Umwelt ein unselbständiges Teilmoment meines Seins, da sie nicht abstückbar ist und damit auch nicht für sich bestehen kann – wohlgemerkt die Umwelt als Wahrnehmungsgegebenheit. So gelangte ich zu einem topographischen System von sechs Teilmomenten oder Anthropoialien, die zusammen mein individuelles Menschsein konstituieren. 3. In einem dritten Schritt galt es, ausgehend von dieser Individualbeschreibung durch eidetische Variation zu überprüfen, ob es sich bei diesen sechs Grundmomenten tatsächlich um Grundmomente oder auch essenzielle Momente meines Menschseins handelt. Ein Grundmoment oder ein essenzielles Moment ist ein solches, bei dessen Fehlen eine Entität die Gattungsgrenze überschreitet (das heißt in diesem Fall: zu einer anderen Seinsform würde) oder ganz nihiliert wird. So kann ich zwar einen Arm verlieren, ohne deswegen aufzuhören, zu existieren oder ein Mensch zu sein, aber wenn ich den ganzen Körper verliere, höre ich auf, Mensch zu sein und möglicherweise höre ich sogar ganz auf zu sein. Dieser methodische Dreischritt verbürgt die Autonomie der Fundamentalanthropologie und lässt verstehen, warum es in Bezug auf den ‚Gegenstand Mensch‘ möglich ist, zu grundlegenden inhaltlichen Bestimmungen zu kommen, ohne einen unabschließbaren empirischen Vergleich durchführen zu müssen. Die reine Induktion der eidetischen Variation kann ausgehend vom Einzelfall zur Idee des Menschen (Anthropos) aufsteigen und eine Art epistemisch-normativen Begriff des Menschen konzipieren. So wie kein verheirateter Mann ein Junggeselle sein kann, so kann nichts ein Mensch (Anthropos) oder eine anthropoiale Lebensform sein, die nicht anthropoial konstituiert ist und damit der Idee des Menschen entspricht.49

49Die

Normativität beider Begrifflichkeiten hat jedoch einen unterschiedlichen Ursprung. Mit dem Begriff des Junggesellen wird ein bestimmtes soziales Phänomen erfasst, weshalb der Begriff des Junggesellen zwar ein empirisch-normativer, aber ganz sicher kein apriorischer Begriff ist. Der Begriff des ‚Anthropos‘ ist durch reine Induktion gewonnen worden und ihm entspricht eine apriorische Idee. Die Idee ist nicht in einem epistemologischen Sinne eine apriorische (etwa wie die reinen Verstandesbegriffe Kants), sondern in einem ontologischen Sinne: Wir Menschen haben das ‚Wesen‘ des Menschen (Eidos) nicht selbst konzipiert. Wir konnten als Menschen nur deshalb wirklich werden, weil wir als bestimmte Lebensform schon vor unserer Entstehung eidetisch-möglich waren. Nur ausgehend von unserem Faktum können wir die allgemeine Idee unseres Seins erfassen.

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2.7 Idee des Buches Seit der Veröffentlichung der Kritik der philosophischen Vernunft haben sich gewisse Unterscheidungen, die dort getroffen wurden, auch in einer neuen Terminologie und Systematik niedergeschlagen. Einige Konsequenzen der neuen Fundamentalanthropologie sind mir erst in den letzten Jahren wirklich klargeworden. Zudem ist es mir gelungen, bestimmte Themen, die in der Kritik der philosophischen Vernunft noch ausgespart werden mussten, auf fundamentalanthropologischer Grundlage auszuarbeiten. Hierzu gehören die komplexen Themen ‚Selbstbewusstsein‘ und ‚Identität des Ich‘, aber auch eine begrifflich exakte Bestimmung des Geistbegriffs. Es schien mir daher sinnvoll und an der Zeit, den neuesten Stand der Fundamentalanthropologie in einem an die Kritik der philosophischen Vernunft anknüpfenden Folgeband systematisch darzustellen und der philosophischen Öffentlichkeit vorzulegen. Ich habe versucht, die einzelnen Kapitel so zu verfassen, dass sie auch ohne großes fundamentalanthropologisches Vorwissen verständlich sind und daher als eigenständige Abhandlungen gelesen werden können. Wiederholungen waren daher unvermeidlich. Da die einzelnen Kapitel aber trotzdem thematisch aufeinander aufbauen, dürfte eine ‚lineare‘ Lektüre dem Verständnis am förderlichsten sein. Die Fundamentalanthropologie (systematisch dargestellt in Kap. 3) stellt für die Einzeluntersuchungen das theoretische Fundament und den einigenden Rahmen dar; umgekehrt sind die Kap. 3 bis 6 der Versuch, die Fundamentalanthropologie insgesamt voranzutreiben. Es handelt sich bei diesen Untersuchungen daher durchaus um fundamentalanthropologische Analysen. Das letzte Kap. 7 fußt argumentativ zudem besonders auf dem Kap. 5 und sollte zusammen mit diesem gelesen werden.

Kapitel 3

Die Idee einer Fundamentalanthropologie

3.1 Disziplinäre Einordnung: Philosophie, Philosophische Anthropologie und Fundamentalanthropologie Die Fundamentalanthropologie versucht eine grundsätzliche Antwort auf die Frage: ‚Was ist der Mensch?‘ zu geben.1 Was hier „grundsätzlich“ meint, wird im Folgenden noch näher zu erläutern sein. Die Fundamentalanthropologie versteht sich dabei weder als Prima Philosophia noch als identisch mit der sogenannten Philosophischen Anthropologie oder gar als umfangsgleich mit der Philosophie überhaupt. Sie begreift sich vielmehr als eine Art Brückendisziplin, welche die dem Begründungsgang nach an erster Stelle stehenden Erkenntnistheorie der philosophischen Erkenntnis, die die Möglichkeit einer (streng-)wissenschaftlichen Philosophie erkundet, mit den bekannten philosophischen Subdisziplinen verbindet. Auch wenn die Erkenntnistheorie der philosophischen Erkenntnis sich de facto mit der Möglichkeit menschlichen philosophischen Erkennens beschäftigt und insofern bereits minimal anthropologisch ausgerichtet zu sein scheint, so ist doch die Beantwortung der Frage, ob und wie Philosophie (und damit auch Fundamentalanthropologie) als (strenge) Wissenschaft möglich ist, der Fundamentalanthropologie methodisch und methodologisch vorgängig – wenngleich man die Ergebnisse der Erkenntnistheorie der philosophischen Erkenntnis dann ex post in die Anthropologie integrieren kann. Die Erkenntnistheorie der philosophischen Erkenntnis, die wesentlich eine Theorie der Wahrheit darstellt, begründet insofern auch die Fundamentalanthropologie, als diese den

1„Grundstücke einer Fundamentalanthropologie“ habe ich zu geben versucht in: Thorsten Streubel: Kritik der philosophischen Vernunft. Die Frage nach dem Menschen und die Methode der Philosophie. Wiesbaden 2016. 223–365.

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2021 T. Streubel, Fundamentalanthropologie, Abhandlungen zur Philosophie, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05766-2_3

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3  Die Idee einer Fundamentalanthropologie

Anspruch erheben muss, eine wahre Beschreibung des Menschseins prinzipiell geben zu können. Es gilt daher zunächst den Nachweis zu erbringen, dass wahre Deskriptionen überhaupt möglich sind. Die Fundamentalanthropologie bildet dann wiederum die anthropologische Grundlage aller anderen philosophischen Disziplinen, da letztlich sämtliche philosophischen Fragen einen anthropologischen Bezug aufweisen. So handelt die Sprachphilosophie von menschlicher Sprache, die Erkenntnistheorie von menschlichem Erkennen (wovon auch der Wissensbegriff affiziert wird), die Ethik und Handlungstheorie von menschlichem Handeln, die Politische und Sozialphilosophie von der (guten) Ordnung und den Beziehungen des Zusammenlebens von Menschen, die Ästhetik von der menschlichen Erfahrung des Schönen und künstlerischer Werke. Und selbst Disziplinen wie Metaphysik, Logik oder Naturphilosophie können nicht davon abstrahieren, dass es Menschen sind, die über Gott, die Idealgesetze von Urteilszusammenhängen oder das Sein der Natur nachdenken. Der Zweck und die Funktion der Fundamentalanthropologie besteht somit darin, gleichsam das ‚Erdgeschoß‘ der Philosophie zu bilden, auf dem die höheren Stockwerke der Philosophie erbaut werden können. Sie ist also fundierend für alle philosophischen Sonderdisziplinen und wird zugleich fundiert von einer Erkenntnistheorie des philosophischen Erkennens, die das eigentliche epistemische-methodologische-methodische Fundament bildet. Die Fundamentalanthropologie ist nun aber, wie gesagt, auch nicht identisch mit dem, was man P/philosophische Anthropologie nennt (gleich, ob man diese als Paradigma oder als philosophische Subdisziplin versteht). Und dies aus mehreren Gründen, von denen hier die drei wichtigsten angeführt werden sollen: So hinterfragt die Fundamentalanthropologie von vornherein etwa (i) die begriffsumfängliche Gleichsetzung von ‚Mensch‘ mit ‚Homo sapiens‘ (oder auch nur die methodische Einschränkung der Analyse auf Homo sapiens) und zielt (ii) zugleich auf die Gewinnung eines ganzheitlichen Begriffs des Menschen, der den Menschen nicht reduktiv als bloßen Organismus in der Welt oder als Körper + X (z. B.: Psyche, Geist, Mind, exzentrische Positionalität etc.) begreift. Die Fundamentalanthropologie zeigt vielmehr, dass Körper und Geist nur zwei von mindestens sechs „Anthropoialien“ (= Grundmomente des Menschseins) sind (s. u.: Abschn. 3.). Außerdem bezieht die Fundamentalanthropologie (iii) den anthropologischen Aspekt der Transzendentalität mit ein, also die Tatsache, dass der Mensch als mundanes Wesen sich selbst in der Anschauung gegeben ist, die daher nicht in gleicher Weise in der Welt und damit mundan ist. Insofern die Fundamentalanthropologie die Möglichkeitsbedingungen der Welt- und Selbstpräsenz thematisiert, begreift sie sich wesentlich auch als Transzendentale Anthropologie. Da sich die Fundamentalanthropologie folglich als eine Form von Transzendentalphilosophie versteht (oder zumindest diese als einen integralen Bestandteil ihrer selbst begreift), erhebt sie den Anspruch, eine grundsätzlichere oder radikalere Anthropologie als die meisten traditionellen Anthropologien zu sein: Denn sie thematisiert den Menschen nicht nur als Subjekt in der Welt, sondern auch als Subjekt von Welt.

3.1  Disziplinäre Einordnung …

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Was nun die gängige Gleichsetzung von ‚Mensch‘ mit ‚Homo sapiens ‘ betrifft, so belehrt uns schon die Paläoanthropologie, dass es vor und neben dem Homo sapiens noch andere Menschenarten (Hominini) gegeben hat. Ob diese auch Menschen im fundamentalanthropologischen Sinne waren, hängt freilich davon ab, ob sie unter den Begriff des Menschen im fundamentalanthropologischen Sinne fallen (der insofern in einem bestimmten Sinne normativ ist). Die biologische Systematik muss jedenfalls nicht notwendig mit einer philosophischen Systematik (Ontologie) übereinstimmen. Zudem ist es eine vertraute Redeweise, von Menschen auf anderen Planeten zu sprechen (z. B. „Marsmenschen“). Aus rein biologischer Sicht ergibt dies zwar wenig Sinn, zumindest solange zwischen den bekannten terrestrischen und solchen extraterrestrischen ‚menschlichen‘ Populationen keine Abstammungsverhältnisse nachweisbar sind (einmal abgesehen von der hypothetischen Unterstellung der Existenz außerirdischer Menschenformen). Aber dass diese Redeweise trotzdem einen verständlichen Sinn aufweist, zeigt doch, dass der Terminus ‚Mensch‘ schon in der Alltagssprache nicht immer bedeutungsgleich mit Homo sapiens verwendet wird und damit eine allgemeinere Idee zu bezeichnen scheint. Die Fundamentalanthropologie kann an dieses Vorverständnis anknüpfen, sieht ihre Aufgabe jedoch nicht darin, diese vage Idee analytisch zu explizieren, sondern nach ihrer eigenen Methode eine transoder besser: supermundane Idee des Menschen zu gewinnen und deren objektive Gültigkeit auszuweisen. (Wie dies möglich ist, soll kurz im nächsten Abschnitt umrissen werden.) Unter einer supermundanen Idee des Menschen versteht die Fundamentalanthropologie die Idee einer Seins- und Lebensform, die möglicherweise in mehreren (oder gar in allen) möglichen Welten möglich ist. Noch allgemeiner könnte man auch sagen: ‚Mensch‘ bezeichnet die Idee einer Lebensform, die nur auf eine mögliche ‚Welt überhaupt‘ bezogen ist (wenngleich reale Menschen natürlich nur Teil einer realen Welt sein können). Fragt man, warum die Fundamentalanthropologie auf einen derart allgemeinen Begriff abzielt, dann lässt sich als sachlicher Grund Folgendes anführen: Die notwendigen anthropologischen Merkmale, die die Fundamentalanthropologie zu identifizieren vermag, treffen nicht notwendigerweise nur auf Homo sapiens zu. Daher wird Homo sapiens von vornherein lediglich als eine tatsächlich realisierte Möglichkeit des Zielbegriffs ‚Mensch‘ (Anthropos) aufgefasst. Der Fundamentalanthropologie geht es nicht um eine biophilosophische Beschreibung eines mundanen Vorkommnisses, sondern um die Idee einer überhaupt möglichen Seinsform, die unzweifelhaft im meditierenden Philosophen verwirklicht vorliegt: Ich selbst bin etwas und nicht nichts – und daher kann ich (als der Reflexion fähiges Wesen) danach fragen, was ich generisch (und nicht nur individuell) betrachtet bin. Diese Frage ist allein schon deswegen legitim, weil a priori nichts dagegen spricht, dass es mehrere von meiner Art gibt (das heißt, dass es Wesen gibt, die so ähnlich sind wie ich selbst) – was a posteriori, also durch Erfahrung, bestätigt wird (und im Grunde eine Urevidenz darstellt). Im Unterschied zur P/philosophischen Anthropologie operiert die Fundamentalanthropologie also auf einem höheren Abstraktionsniveau: Sie fragt nicht primär nach dem Verhältnis von Homo sapiens zu anderen irdischen Tierspezies oder gar zu anderen möglichen Lebensformen (auch wenn

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3  Die Idee einer Fundamentalanthropologie

sie diese Frage als durchaus sinnvoll anerkennt).2 Und sie fragt auch nicht primär nach dem Verhältnis von Homo sapiens zu höheren Vernunftwesen (Engeln, Gott). Vielmehr versucht sie einen allgemeinsten Wesensbegriff ‚Mensch‘ (= ‚Anthropos‘) zu erarbeiten, unter den alle wirklichen (gewesenen, gegenwärtigen und künftigen) und auch nur möglichen Menschenformen fallen. Unter diesen Begriff können dann z. B. sowohl der Neandertaler (wenn er die entsprechenden Merkmale aufgewiesen hat) als auch außerirdische Lebensformen subsumiert werden, wenn diese nur die entsprechenden Kriterien des Menschseins im Sinne der Fundamentalanthropologie erfüllen. Die moderne Science-Fiction hat bereits zahlreiche Menschenformen kreiert und ästhetisch inszeniert, die Menschen im fundamentalanthropologischen (= anthropoiale Lebensformen), nicht aber im biologischen Sinne sind (Mr. Spock, Meister Joda etc.). Ihr Zielgegenstand (= supermundaner Begriff des Menschen), ihr Holismus sowie ihre transzendentale Ausrichtung (kurz: Supermundanität, Holismus und Transzendentalität) unterscheiden somit die Fundamentalanthropologie von der traditionellen P/pilosophischen Anthropologie. Es ist jedoch nochmals zu betonen, dass die Fundamentalanthropologie kein Konkurrenzunternehmen zu P/philosophischer Anthropologie und den einzelwissenschaftlichen Anthropologien darstellt, sondern vielmehr deren gemeinschaftliche Grundlagendisziplin bildet. Deshalb heißt sie: Fundamentalanthropologie. Und als solche ist sie befähigt und befugt, die herkömmlichen Anthropologien auf eine feste Grundlage zu stellen und hinsichtlich ihrer möglicherweise inadäquaten Menschenbilder kritisch zu hinterfragen. Fundamentaler als die P/philosophische Anthropologie ist die Fundamentalanthropologie deswegen, weil sie 1. unter ‚Mensch‘ nicht eine terrestrische Spezies versteht (Homo sapiens), sondern den Begriff einer (möglicherweise) in mehreren möglichen Welten möglichen Lebensform (‚Anthropos‘), unter den freilich auch Homo sapiens fällt. Und 2., weil sie die Bedingungen der Möglichkeit der Selbstpräsenz des Menschen sowie die der Selbsterkenntnis und anthropologischen Forschung überhaupt thematisiert und aufzuklären versucht. Das hierdurch ermöglichte ganzheitliche, nicht-reduktive ‚Bild‘ vom Menschen ist dann zwar eine Frucht des fundamentalanthropologischen Ansatzes, ohne dass man jedoch sagen kann, dass der Holismus an sich eine Anthropologie zu einer Fundamentalanthropologie qualifizieren würde. Die Fundamentalität der Fundamentalanthropologie liegt somit ‚nur‘ in ihrer supermundanen und transzendentalen Ausrichtung begründet, während die Besonderheit des fundamentalanthropologischen Holismus gerade in der Berücksichtigung

2Wie

bereits in der Einleitung erwähnt, gebe ich den traditionellen Tierbegriff auf und ersetze ihn u. a. durch die ‚ontologische‘ Differenz von Animant/Animat. Vgl. hierzu schon Jacques Derrida: Das Tier, das ich also bin. Wien 2010: „Es gibt nicht das Tier (l’Animal) im allgemeinen Singular, das vom Menschen durch eine einzige unteilbare Grenze getrennt wäre. Wir müssen in Betracht ziehen, dass es ‚Lebende‘ gibt, deren Pluralität sich nicht in einer einzigen Figur der Tierheit (animalité) versammeln lässt, die der Menschheit (humanité) schlicht entgegengesetzt wäre.“ (79).

3.1  Disziplinäre Einordnung …

47

des Aspekts der Transzendentalität besteht. Nicht alles also, wodurch sich die Fundamentalanthropologie de facto von den meisten bisherigen Anthropologien unterscheidet, qualifiziert sie automatisch und de jure zu einer fundamentalen Anthropologie. Die Fundamentalanthropologie teilt zwar mit der transzendentalen Bewusstseinsphilosophie husserlscher Provenienz die Überzeugung, dass die je eigene Anschauung das ‚Transzendental‘ schlechthin sowie das (epistemische) fundamentum inconcussum und der ‚Ort‘ aller Gegebenheiten ist. Indem sie aber darauf verweisen kann, dass Leib, Körper und Umwelt anschaulich gegeben sind und das Bewusstsein (bzw. der Raum des Erlebens) offensichtlich die Grenzen des eigenen Körpers überschreitet, kann sie von vornherein die Gefahr bannen, ein weltloses transzendentales Bewusstsein zu konstruieren. Vielmehr thematisiert sie den eigenen Leib als Wahrnehmungsorgan und stellt damit deutlich seine transzendentale Rolle heraus. Indem sie zudem betont, dass der Leib sich wahrnehmend als(!) Umwelt erweitert, fundiert sie letztere einseitig im Leib, der dadurch welthaltig und dadurch zum großen ‚Weltleib‘ wird. (Der Leib als Wahrnehmungsorgan und die erscheinende Umwelt bilden ein einheitliches Phänomen.) Das Bewusstsein begreift die Fundamentalanthropologie zugleich als Anschauungsform oder erlebte Präsenz von Selbst und (Um-)Welt. Dies ist auch der Grund, warum die Fundamentalanthropologie den transzendentalen Psychologismus radikal überwunden hat: Die transzendentale Sphäre ist kein Weltinnenraum in irgendwelchen Köpfen animalischer Wesen und auch keine unräumliche Monade, sondern das räumliche Feld der Erfahrung selbst, in dem die Einheit von Selbst (= eigener Körper, Leib und Geistigkeit) und (Um-)Welt gegeben ist. Es ist ein- und dasselbe Feld, welches die Grundlage sowohl der mundanen (der wissenschaftlichen wie der vorwissenschaftlichen) als auch transzendental-reflexiven Erfahrung ist. Geht man nun von einer Vielzahl transzendentaler Subjekte und damit von einer Pluralität subjektiver Erfahrungsfelder (oder besser: Erfahrungsräume) aus, dann ergibt sich nur dann ein stimmiges Gesamtbild, wenn diese pluralen Räume wiederum in einem transsubjektiven, absoluten Raum situiert sind (denn nur so ist zu erklären, dass wir uns augenscheinlich in einem gemeinsamen Welt-Raum begegnen können). Es stellt eine wichtige Aufgabe der Fundamentalanthropologie dar, den Nachweis zu erbringen, dass es diesen transsubjektiven und letztlich subjektunabhängigen Raum tatsächlich gibt, zumal sie ferner zeigen möchte, dass auch das Sein des Menschen nicht gänzlich phänomenalisierbar ist, der Mensch mithin partiell ein Homo absconditus (ein Ding an sich im Sinne Kants) ist. Die Fundamentalanthropologie scheut sich jedenfalls nicht, von einer Pluralität transzendentaler Subjekte (bzw. anthropoialer Lebensformen) zu sprechen (wenngleich sie zugibt, dass der Solipsismus nicht logisch stringent widerlegt werden kann). Sie betont jedoch, dass es sinnvoll ist, verschiedene Arten oder Formen transzendentaler Subjekte zu unterscheiden (z. B. menschliche, tierische/animantische, göttliche etc. Subjekte). ‚Das‘ transzendentale Subjekt überhaupt gibt es dagegen nicht, es sei denn, man bezeichnet damit einen sehr ­allgemeinen Begriff oder auch nur die Tatsache, dass Subjekte zumindest eines

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3  Die Idee einer Fundamentalanthropologie

gemein haben müssen, um (transzendentale) Subjekte zu sein: dass sie nämlich fähig sind, sich und/oder etwas zu erleben. Zudem bezeichnet ‚Transzendentalität‘ bzw. ‚transzendentale Subjektivität‘ aus fundamentalanthropologischer Sicht kein Konkretum, also keine konkrete Lebensform, sondern nur einen Teilaspekt bewusster Lebensformen (Animanten). Ferner ist Erleben (oder Bewusstsein) auch nur eine notwendige, wenngleich sicherlich keine hinreichende Bedingung für das Vorliegen von Subjektivität. Andererseits ist es jedoch z. B. keineswegs klar, dass Leiblichkeit etwas ist, was allen Subjekten notwendig zukommen muss. Und selbst wenn dies so wäre, dann wäre für das Subjektsein sicherlich nicht die spezielle Leiblichkeit des Homo sapiens notwendig. Auch gehört zum Subjektsein nicht notwendig das Vermögen intuitiver und diskursiver Vernunft, kennen wir doch genügend ‚Tierarten‘ (bzw. Animanten), denen wir zwar Erleben, aber kein echtes begriffliches Einsichts- und Urteilsvermögen zusprechen können. Daher gilt: Alle Menschen (im Sinne der Fundamentalanthropologie) sind auch transzendentale Subjekte, aber nicht alle transzendentalen Subjekte sind (nach allem, was wir wissen) notwendig menschlich.3 Weil die Fundamentalanthropologie auf einen supermundanen Begriff des Menschen abzielt, ist sie hinsichtlich ihres Forschungsfeldes zugleich eine sehr begrenzte Wissenschaft. Denn sie kann lediglich das thematisieren und begrifflich fassen, was in unmittelbarer Erfahrung zugänglich ist. Zugleich zielt sie nur auf allgemeine anthropologische Bestimmungen, die einem X, welches ein Mensch ist, notwendig zukommen müssen (weil ansonsten dieses X kein Mensch wäre). So muss sie beispielsweise Geschlechterfragen oder auch genealogische Fragen (Abstammungsverhältnisse) sowie überhaupt all die Fragen, die sich an eine bestimmte empirische Spezies richten, den entsprechenden Spezialdisziplinen überlassen. Um ein Beispiel zur Verdeutlichung zu geben: So ist etwa ‚Körperlichkeit‘ ein Wesensmerkmal von ‚Mensch überhaupt‘ (Anthropos), nicht aber ‚(Zwei-)Geschlechtlichkeit‘. Eine Lebensform kann also sehr wohl Mensch im Sinne der Fundamentalanthropologie sein, ohne deswegen Mann oder Frau oder überhaupt geschlechtlich sein zu müssen.4 Andererseits muss ein X überhaupt einen Körper haben (notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung), wenn X unter den Begriff des Menschen fallen soll.

3Wie

bereits gesagt wurde, bezeichnet „transzendentales Subjekt“ überhaupt keine konkrete Gattung, sondern eigentlich nur einen Aspekt (pars pro toto) von bestimmten Lebewesen (Animanten). 4Ein nicht-terrestrischer, aber fundamentalanthropologischer Mensch (ein „Drac“), der sich asexuell vermehrt, wird in dem Film Enemy Mine (1985) von Wolfgang Petersen inszeniert.

3.2 Methode

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3.2 Methode Die Fundamentalanthropologie gründet in einer Erkenntnistheorie der philosophischen Erkenntnis, welche erstens mittels des methodischen Zweifels ein unbezweifelbares epistemisches Erkenntnisfundament (fundamentum inconcussum) auffindet und zweitens die Möglichkeit wahrer Deskriptionen sicherstellt (Aletheiologie). Als unbezweifelbares Erkenntnisfundament entdeckt die Erkenntnistheorie der philosophischen Erkenntnis die je eigene Anschauung, d.i. die bleibende Gegenwart vergehender Gegenwarten von vergehendem Gegenwärtigem (oder kurz: das je eigene Erleben von Selbst und Umwelt). In der Anschauung ist nun auch das Verhältnis von Satz und Sachverhalt, Urteil und Beurteiltem anschaulich gegeben – und diese Gegebenheit ermöglicht es der Aletheiologie wiederum, das ‚Wesen‘ der Wahrheit aufzuklären und damit den Nachweis zu erbringen, dass wahre Deskriptionen prinzipiell möglich sind. Soweit die Konstitution des eigenen Menschseins in die Anschauung fällt bzw. prozessual veranschaulicht werden kann, kann diese von der Fundamentalanthropologie daher prinzipiell adäquat beschrieben und auf den Begriff gebracht werden. Methodisch geht die Fundamentalanthropologie also von der anschaulichen Selbstgegebenheit des Reflektierenden aus und beschreibt zunächst die je eigene Seinsverfassung (einschließlich des Verhältnisses von Körper und Geist). Aber das eigentliche Erkenntnisziel ist nicht die begriffliche Erfassung meines individuellen Soseins, sondern das, was mein Menschsein überhaupt konstituiert. Lediglich dies wird daher für die Begriffsbildung hypothetisch vorausgesetzt: Dass ich etwas bin, das irgendwie beschaffen ist – und dass diese Beschaffenheit in gleicher oder ähnlicher Form auch an anderen möglichen Entitäten meiner Art vorhanden muss, sollen sie artgleich sein.5 Und dies bedeutet wiederum, dass ich trotz meiner durchgehenden Individualität immer auch ein Artvertreter bin (selbst wenn ich das einzige realisierte Exemplar dieser Art sein sollte). Die Individualbeschreibung stellt daher nur einen ersten Schritt dar, gewissermaßen eine erste begriffliche Erfassung des Ausgangsgegenstandes, wobei diese Erfassung methodisch auf die Identifikation von Grundmomenten abzweckt. Die Individualbeschreibung dient dazu, das begriffliche Ausgangsmaterial der reinen Induktion bereitzustellen, die mittels eidetischer Variation im Sinne Husserls durchgeführt wird und zu einem allgemeinen supermundanen Gattungsbegriff des Menschen führen soll. Dieser gesuchte Begriff X erhält den Namen ‚Mensch‘ bzw. ‚Anthropos‘, der – und das ist entscheidend – zu Beginn material noch völlig unbestimmt ist.6

5Diese hypothetische Voraussetzung ist methodisch unproblematisch, da sie zunächst nur regulative Funktion hat und im Erfolgsfall ihre nachträgliche Legitimation erhält. 6Da es der Fundamentalanthropologie um die Beantwortung der Frage „Was ist der Mensch?“ geht, zielt sie nicht auf die Gewinnung eines Individualbegriffs ab (in diesem Fall: auf den Begriff von T.S.). Die Individualbeschreibung steht im Dienste jener Aufgabe und ist daher nicht mit einer individuellen Selbsterkenntnis zu verwechseln (Wer bin ich, ich – T.S.?).

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3  Die Idee einer Fundamentalanthropologie

Die Induktionslogik, die hier befolgt wird, lautet: Ich bin ein X. Ich nenne dieses X ‚Mensch‘ bzw. ‚Anthropos‘. Jedes Lebewesen (bzw. jedes Seiende), das im Allgemeinen so ist wie ich, ist auch ein Mensch. Was essentiell anders ist als ich, fällt unter einen anderen Begriff (z. B. ‚nicht-belebter Körper‘, ‚nichtanthropoialer Animant‘, ‚Animat‘, ‚Gott‘, ‚Zahl‘ etc.). Wenn ich mich essentiell verändere (z. B. sterbe) falle ich ebenfalls nicht mehr unter den Begriff ‚Mensch‘. – An dieser Stelle an die Veränderlichkeit alles realen Seins zu erinnern, ist vielleicht nicht ganz unwichtig, wird der P/philosophischen Anthropologie doch oft vorgeworfen, sie behaupte anthropologische Konstanten, die sich meist als Scheinkonstanten entpuppt hätten. Zumindest die Fundamentalanthropologie behauptet keinerlei Konstanten, sondern verwirft den Begriff der realen Konstante als unbrauchbar, wenn nicht sogar als widersinnig, insofern es im Bereich des realen Seins überhaupt fraglich ist, ob es irgendwelche Konstanten über alle Zeiten hinweg gibt. Selbst dass die Zeit ewig sei, ist eine Behauptung, deren Wahrheitsgehalt zweifelhaft ist. In Bezug auf den realen Menschen gibt es jedenfalls nichts, was nicht prinzipiell veränderlich oder vergänglich ist (vielleicht mit Ausnahme des Ich, von dem wiederum fraglich ist, ob es „real“7 ist). Die Fundamentalanthropologie behauptet daher keine anthropologischen Konstanten, sondern höchstens die Konstanz der Idee des Menschen – wobei hier unter ‚Idee‘ ein objektiver Wesensbegriff zu verstehen ist: Das objektive begriffliche Wesen (einer realen Entität) ist unveränderlich, nicht aber das, was unter dieses fällt. Ein Individuum kann im Laufe seiner Entwicklung unter ganz verschiedene Begriffe fallen z. B. menschliches Leben, Mensch, Tochter, Mutter, Rentnerin, Leiche, Mumie, Staub etc. Worauf es hier ankommt, ist, dass die Artgrenze nicht die Grenzen realer Veränderung oder Entwicklung definiert. So kann ein Organismus zerstört werden und hört damit auf ein Organismus zu sein. Dadurch wird aber nicht der Begriff ‚Organismus‘ zerstört. Statt von Konstanten sollte man besser von hypothetischen oder konditionalen Wesenseigenschaften sprechen: Wenn(!) etwas aktuell ein Mensch (Anthropos) ist, dann kommen ihm notwendig bestimmte Eigenschaften zu (z. B. die sechs Anthropoialien). Die hier veranschlagte Notwendigkeit ist eine der eidetisch-analytischen Konsequenz: Alles, was von der Art X ist, muss auch die Merkmale der Art X realisieren. So sind Körper notwendig räumlich ausgedehnt, weil ‚Ausdehnung‘ zum begrifflichen Wesen von Körpern gehört. Daraus folgt aber nicht, dass es notwendig Körper geben muss. Nur wenn etwas tatsächlich ein Körper ist, dann ist es notwendig ausgedehnt. Was ein Mensch ist, ist jedoch gerade fraglich. Die Individualbeschreibung meiner selbst stellt nur das begriffliche Ausgangsmaterial der eidetischen Variation bereit, mittels der dann peu à peu ein allgemeiner und universal gültiger Begriff des Menschen (‚Anthropos‘) gewonnen werden soll. Die eidetische Variation ist gewissermaßen die Probe aufs Exempel: Sind die durch Individualbeschreibung

7„Real“

ideal.

ist hier im Unterschied zu „ideal“ zu verstehen. Das Ich ist womöglich weder real noch

3.2 Methode

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gewonnenen Grundmomente echte Essenzialien des Menschseins oder ändert sich gerade nichts ontologisch, wenn man sich ein Grundmoment um- oder gar wegfingiert? Macht es beispielsweise einen wesentlichen Unterschied, ob ein Wesen über ‚Welt‘ (= geistige Horizonte) verfügt oder nicht, ob es Bewusstsein hat oder ein Zombie ist etc.? Kann ein Zombie trotzdem ein Mensch sein? Die Fundamentalanthropologie ist hier eindeutig: ein Wesen das prinzipiell nicht dazu disponiert ist, Bewusstsein zu aktualisieren, ist kein Mensch im Sinne der Fundamentalanthropologie (also kein Anthropos), wenngleich es trotzdem menschliches Leben sein kann (im Sinne der Biologie). ‚Zombies‘ mit menschlichem Körper und menschlicher DNA (= menschliche Animaten) sind keine Menschen im fundamentalanthropologischen Sinne. Warum? Weil ein Wesen, welches prinzipiell keine Erlebnisperspektive auf sich und die Welt ausbilden kann, welches also überhaupt nicht erlebnismäßig ‚da‘ sein kann, ein qualitativ und damit spezifisch anderes Wesen ist, als ich es bin. Dies stellt keine Wertung dar, sondern ist eine bloße Feststellung, mit der ein Wahrheitsanspruch verbunden ist. Aus begrifflichen Differenzierungen lassen sich unmittelbar überhaupt keine Wertungen oder gar ethisch-praktische Direktiven logisch ableiten (vgl. hierzu den anschließenden Exkurs). Die Fundamentalanthropologie geht jedenfalls (belehrt durch die Erkenntnistheorie der philosophischen Erkenntnis) davon aus, dass wahre Beschreibungen des Menschen prinzipiell möglich sind, was natürlich nicht ausschließt, dass Beschreibungen nicht auch de facto falsch sein können. Gefordert ist nur, dass die Falschheit eingesehen und falsche Beschreibungen durch angemessenere Beschreibungen ersetzt werden können. Die Grundlage der Fundamentalanthropologie (wie jeder Erkenntnis) ist dabei die Anschauung, insbesondere die Anschauung des eigenen Da- und Soseins. Von diesem ausgehend versucht die Fundamentalanthropologie die grundlegenden Momente zunächst des eigenen Seins zu identifizieren. Unter einem Moment versteht sie dabei ganz allgemein einen unselbständigen Teil im Sinne Husserls, d.i. ein solcher, der nicht (wie ein „Stück“) für sich bestehen, also ‚abgestückt‘ werden kann, sondern Korrelat anderer Momente ist oder auch einseitig in solchen fundiert ist (so ist z. B. Farbe einseitig in Ausdehnung fundiert, während diese nur eine Fülle überhaupt fordert). Unter einem Grundmoment des Menschseins oder einem ‚Anthropoial‘ ist dementsprechend ein solcher Teil zu verstehen, der nicht selbst wieder ein Teil eines Teils ist, sondern unmittelbarer Teil eines Ganzes, hier des Menschen bzw. des eigenen Seins.8 „Anthropoial“ ist also der formale Oberbegriff für alle Arten von unmittelbaren Teilmomenten des Menschseins (also unselbständigen Teilen, die nicht Teile von Teilen sind). Die Fundamentalanthropologie kann sechs solcher Momente identifizieren, die in ihrem Zusammenspiel („Anthropologisches Sextett“), das Menschsein synchron und diachron konstituieren. Diese sechs

8So kann man z. B. ein Bein verlieren (= Stück), aber man kann nicht einfach seinen ganzen Körper verlieren (= Moment). Der Körper als ganzer wiederum ist ein Moment (und kein Teilstück), weil er einseitig im Leib fundiert ist (s. u.).

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3  Die Idee einer Fundamentalanthropologie

Anthropoialien sind: die Anschauung (= das Erleben/das Bewusstsein), das Ich (= das Subjekt des Subjekts), der Leib, der Körper, die Umwelt und die Geistigkeit. Die Anschauung ist insofern allen anderen Anthropoialien korrelativ zugeordnet, als sie nichts anderes als deren Präsenz für ein Ich darstellt. Nur dieses Ich ist kein Inhalt der Anschauung, sondern das Subjekt des Erlebens und insofern ‚unbewusst‘. Ich und „Es“ sind daher: dasselbe. Obgleich das Ich kein unmittelbares Phänomen ist, gelingt der Fundamentalanthropologie sowohl der Nachweis seiner Existenz als auch dessen Lokalisation: Es – das Ich – ist der räumliche Nullpunkt seiner Welt. Grundsätzlich betont die Fundamentalanthropologie mit ihrer Anthropoialienlehre, dass der zeitliche Vollzug des Existierens (im heideggerschen Sinne) in der räumlich-mereologischen Struktur des Menschen fundiert ist. Daher sind die Anthropoialien (bzw. deren gegenständlichen Korrelate) fundamentaler als alle existenzialen Vollzüge, welche sie zugleich fundierend ermöglichen. „Existenz“ (bzw. „Dasein“) gründet im ‚anthropologischen Sextett‘. Der Mensch muss schon etwas sein, um auch existieren zu können. Oder anders formuliert: Die räumliche Verfasstheit des Menschen fundiert seine zeitliche Existenz, weshalb die Fundamentalanthropologie zunächst auch als Topographie des Menschseins auftritt. Erst diese ‚topische‘ bzw. spatiale Verfasstheit des Menschen ermöglicht das temporale Zusammenspiel der sechs Anthropoialien, was wiederum so etwas wie zeitliche Existenz im Sinne Heideggers gestattet. Die Methode der Fundamentalanthropologie lässt sich methodologisch so zusammenfassen: 1. Rückgang auf die Anschauung des eigenen Selbst. 2. Identifikation und Beschreibung der anthropoialen Grundmomente und ihres funktionalen Zusammenspiels. 3. Eidetische Variation dieser Momente und ihres Zusammenhangs und Zusammenspiels, um die spezifischen Grenzen des Menschseins zu erkunden. Auf diese Weise lässt sich sukzessive ein adäquater (wenngleich nicht erschöpfender), holistischer und supermundaner Begriff des Menschen gewinnen. Es bedarf also keines empirischen Vergleichs (keiner empirischen Induktion) verschiedener Menschen(arten), da ich alle Wesensmerkmale an mir selbst auffinden kann und die eidetische Variation gewissermaßen als reine Induktion an die Stelle des empirischen Vergleichs tritt. Exkurs: Anthropologie und Moral Die Fundamentalanthropologie versucht zwar einen distinkten Wesensbegriff des Menschen (‚Anthropos‘) zu erarbeiten. Aber weder aus diesem Begriff noch aus der faktischen Natur des Menschen lassen sich axiologische Differenzen (Wertunterschiede) oder gar irgendwelche kategorischen Imperative ableiten. Aus keinem nicht-normativen realen Sein lässt sich ein Sollen logisch deduzieren. Aussagen wie: ‚Weil dies kein Mensch ist, darf es getötet werden‘ und ‚Weil etwas ein Mensch ist, darf es nicht getötet werden‘ erhalten ihren einzigen rechtmäßigen Sinn in Relation zu einer bestimmten Rechtsordnung (oder anderen Sozialnormen). Sie lassen sich aber nicht anthropologisch aus der Natur des Menschen gewinnen. Die Fundamentalanthropologie versucht vielmehr zu zeigen, dass es weder objektive Werte (Werte, die nicht aus subjektiver Wertung hervor-

3.2 Methode

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gehen, sondern an sich und unabhängig von jeglicher Wertung bestehen) noch objektive normativ-ethische Prinzipien (nicht durch subjektive Setzung entstandene Prinzipien) gibt. Was sein oder nicht sein soll, was erlaubt oder verboten werden sollte, ergibt sich hiernach de facto nur aus dem Willen eines bestimmten (Kreises von) Menschen und muss, wenn es sich als Norm auf Dauer durchsetzen soll, sanktionsbewehrt sein. „Auctoritas, non veritas, facit legem“! (Hobbes). ‚Der‘ Mensch ist im Werten und Wollen auf sich gestellt; und wenn er möchte, dass die Welt humaner und gerechter wird, dann bleibt ihm nichts anderes übrig, als sich mit Gleichgesinnten zusammenzuschließen und eine weltverändernde (normsetzende oder normverändernde) Macht (potentia, potestas) auszubilden. Unabhängig von menschlicher (oder allgemeiner: intersubjektiver) Setzung und Satzung gibt es kein ‚Erlaubt‘, ‚Geboten‘ oder ‚Verboten‘.9 Daher sind Tötungen nur auf der Grundlage gesetzlicher Regelungen (im juridischen Sinne) verboten – oder eben erlaubt. Und wer an einer bestehenden Gesetzeslage etwas ändern möchte, der sollte sich nicht auf ein (nicht-existentes) Sittengesetz oder ein angebliches moralisches Recht (z. B. auf Leben, körperliche Unversehrtheit, Gerechtigkeit etc.) berufen, sondern Mehrheiten für Gesetzesänderungen organisieren. Die Fundamentalanthropologie bestreitet also die objektive Gültigkeit von jeglichem nicht-juridischen universalmoralischen Sollen. Jedes Sollen ist in Wahrheit ein Wollen. „Du sollst nicht töten“ ist daher kein objektives moralisches Gebot, sondern zunächst nur ein Glaubenssatz. Auf die Gegenfrage: ‚Warum nicht?‘ gibt es keine hieb- und stichfeste Antwort – abgesehen von dieser: ‚Weil es die Gesetze dieses Staates verbieten!‘. Die absolute Geltung eines moralischen Imperativs lässt sich nicht nachweisen, weshalb dann oft nichts übrigbleibt, als an das aufgeklärte Eigeninteresse zu appellieren („Was Du nicht willst, was man dir tu, das füg auch keinem anderen zu!“). Erst als sanktionsbewehrte rechtliche Normen erhalten vermeintliche moralische Gebote/Verbote „objektive Geltung“. Dass hinter jeglichem Sollen ein (individuelles oder kollektives) subjektives Wollen steht, lässt sich dadurch begründen, dass Normen, die keine Willenssetzungen wären, sondern in einem platonischen Moralhimmel herum schwebten, eben noch nicht einmal als willkürlich, sondern als absolut kontingent anzusehen wären. Insofern sie absolut kontingent, also grundlos, wären, besäßen sie auch keine Überzeugungskraft. Man wird hier auch nicht ernsthaft eine Selbstevidenz moralischer Normen behaupten wollen. – Sollenssätze können nämlich nicht evident sein, weil sie nicht wahr sein können. Göttliche Gebote (angenommen, ihre göttliche Herkunft wäre gesichert) wären dagegen ebenfalls nur Ausdruck des göttlichen Willens, somit zumindest willkürlich. Und ihre Geltung beruhte ­ebenfalls nicht auf einer ihnen zukommenden Richtigkeit, sondern ebenfalls oder

9Vgl. zum Zusammenhang von Macht und Recht auch die entsprechenden Ausführungen Baruch de Spinozas im Politischen Traktat (Tractatus politicus). Kap. 3. „Denn das Recht des Gemeinwesens wird von der Macht der Menge, die wie von einem Geist geleitet wird, her bestimmt.“ (§7).

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3  Die Idee einer Fundamentalanthropologie

allenfalls auf Macht und Strafandrohung. „Du sollst!“ bedeutet auch in diesem Fall: „Ich will!“ (… „und bist Du nicht willig, so brauch ich Gewalt.“). Die Anthropologie ist somit nicht das Fundament und daher auch keine Stütze der Moral, sondern ganz im Gegenteil: Insofern es sich zeigen lässt, dass Werte prinzipiell durch subjektive Wertungen konstituiert werden und Normen durch einen (kollektiven) Normierungswillen, folgt aus der Anthropologie ein klarer Rechtspositivismus und (idealiter) ein deliberativer Rechtsvoluntarismus (nicht: Dezisionismus). Es gibt kein Naturrecht, sondern höchstens einen Willen zur Normierung, d.i. ein Wille zur Regelung des Miteinanders. Die Fundamentalanthropologie plädiert daher komplementär zugleich für die Position des Postmoralismus und für eine postmoralische Gesellschaft. Eine postmoralische Gesellschaft wäre eine solche, in der moralisierende Argumentationen endgültig aus dem öffentlichen Diskurs verschwunden wären (oder zumindest keine Überzeugungskraft mehr besäßen) und vormals moralische Probleme zu rein politischen Streitfragen würden. Wer noch auf dem moralischen Standpunkt steht, fragt: „Was dürfen wir tun?“. Ein Postmoralist dagegen fragt: „Was wollen wir tun?“ Die Fundamentalanthropologie versteht sich also als Fortführung des Projekts der Aufklärung und zielt daher ab auf eine aufgeklärte Gesellschaft und damit auf die geistige Befreiung von moralistischer/hypermoralistischer, ideologischer und religiöser Verblendung. Sie fordert die Menschen auf, sich nicht nur ihres eigenen Verstandes zu bedienen, sondern auch zu erforschen, was man als Individuum und als Teil einer Gemeinschaft wie des Kosmos wirklich will. Die Fundamentalanthropologie kennt zwar keine kategorischen, aber doch hypothetische Imperative im Sinne Kants. Neben „Sapere aude!“ und ‚Orientiere Dich an dem, was in Wahrheit der Fall ist!, empfiehlt sie auch diesen (aus der Popkultur bekannten) Imperativ: „Erforsche Deine Gefühle!“. Denn hierdurch lässt sich erkunden, warum ich momentan dies und nicht jenes will, obgleich diese meine Willensausrichtung für mich selbst undurchsichtig und nicht ausreichend reflektiert wurde. Das Wollen hängt nicht unwesentlich von meinem Erkenntnisstand (bzw. meinem Überzeugungssystem) und überhaupt von meiner gesamten geistigen Vorprägung (durch Kultur und Erziehung) ab. Und ein konkretes Wollen kann durchaus mit meinem Grundwollen im Widerspruch stehen, was ich oft erst bemerke, wenn es bereits zu spät ist. Alle drei hypothetischen Imperative lassen sich daher in diesem zusammenfassen: Erkenne Dich selbst! (im Sinne einer sowohl individuellen als auch generische Selbsterkenntnis). Die hypothetische Voraussetzung aller drei Imperative lautet: Man möchte einstimmig mit sich leben und Reue vermeiden, die immer dann eintritt, wenn man wieder gegen seine wahren Interessen gehandelt hat. Wenn man also einstimmig mit sich leben will, dann sollte man aus Klugheitserwägungen heraus (und das heißt: aus Selbstinteresse) über sich und seine Stellung in der Welt reflektieren und zugleich erkunden, warum man für A ist und gegen B usw., um zu möglichst fundierten Entschlüssen zu kommen. Die Fundamentalanthropologie bekennt sich zum Projekt der Aufklärung des Menschen über sich selbst und versteht sich als Teil des Projekts einer radikalisierten Aufklärung, die mit der Platonischen Idee der Philosophie

3.3  Der fundamentalanthropologische Begriff des Menschen

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zusammenfällt: Aufklärung und Orientierung der Menschen durch Philosophie und Wissenschaften.10 Die Kritik an unhaltbaren überkommenen Moral- und Wertvorstellungen, ja die Destruktion einer universalistisch-überzeitlichen (axiologisch-normativen) Idealmoral überhaupt, ist dabei ein integraler Bestandteil derselben. Daher ist die Fundamentalanthropologie nicht unmoralisch, sondern postmoralisch: Das Sollen wird auf das Wollen zurückgeführt und dieses als potenziell politisch verstanden. Die Fundamentalanthropologie tritt daher für die Befreiung der Politik und damit auch der Gesellschaft vom Moralismus, aber auch von Ideologien und religiösen Dogmen ein.

3.3 Der fundamentalanthropologische Begriff des Menschen Der Cartesianismus reduziert den Menschen fälschlicherweise auf zwei Teilmomente (Geist und Körper), Naturalismus und Idealismus lassen sogar nur eines gelten (Körper oder Geist). Jeweils werden bloße Momente zudem zu selbständigen Entitäten hypostasiert. Die Fundamentalanthropologie zeigt dagegen, dass der Mensch eine Ganzheit11 ist, welche aus mindestens sechs irreduziblen Teilmomenten konstituiert ist, und dass die begriffliche Gleichsetzung von ‚Leib‘ mit ‚Körper‘ sowie die Gleichsetzung von ‚Geist‘, ‚Ich‘ und ‚Bewusstsein‘ phänomenwidrig ist. Außerdem begreift sie die Umwelt, insofern sie eine unleugbare Tatsache des Bewusstseins ist, als essenziellen Teil des Menschseins. a) Die Anschauung und die trinitarische Struktur des Menschseins Ohne Anschauung wäre mir – dem auf mein Da- und Sosein Reflektierenden – buchstäblich nichts gegeben. – Ich wäre mir selbst nicht gegeben. Die Anschauung (= Bewusstsein, Erleben) ist daher nicht nur einfach ein Anthropoial neben anderen, sondern die grundlegende Bedingung der Möglichkeit (i) der Selbstpräsenz sowie (ii) des vollen Menschseins und damit auch (iii) der Fundamentalanthropologie selbst. Eine andere notwendige Bedingung der Fundamentalanthropologie, die aber ohne Anschauung ebenfalls nicht realisierbar wäre, ist die Fähigkeit zur Reflexion und zur Deskription: Ohne über eine Sprache und damit über ein entsprechendes Vokabular zu verfügen, wäre es nicht möglich, Anthropologie bzw. Wissenschaft zu betreiben. Anschauungen ohne Begriffe sind blind, Begriffe ohne Anschauung indes nicht nur leer, sondern gar nicht existent

10Es

braucht wohl kaum erwähnt zu werden, dass eine aufgeklärte Gesellschaft auf ein Bildungssystem angewiesen ist, das selbst im Dienste der radikalen Aufklärung steht. 11Der Begriff der Ganzheit ist hier als synchrone und topographische/spatiale Ganzheit zu verstehen. Dass der Mensch aber auch diachron eine Ganzheit darstellt, ist damit noch nicht entschieden. Hier wäre zu fragen, ob die Sorgestruktur und die existenziale Zeitlichkeit, wie sie von Heidegger zum Thema gemacht werden, wirklich Ganzheit ermöglichen oder nicht vielmehr nur Einheit mit sich selbst: eine höhere Form des Selbstbewusstseins.

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3  Die Idee einer Fundamentalanthropologie

bzw. verfügbar (da ohne Anschauung jegliche Begriffsbildung unmöglich wäre). Selbsterkenntnis und auf höherer Stufe die Ausbildung einer Fundamentalanthropologie setzt jedenfalls beides voraus: Anschauung und Begriff. Dass es sich bei der Fähigkeit zur Selbsterkenntnis und Wissenschaft indes um eine genuin (bzw. ausschließlich) menschliche Fähigkeit handelt, ist damit freilich nicht gesagt. Die Anschauung und ihre ‚Inhalte‘ werden konstituiert durch das Retinieren und Protinieren von Urimpressionen. Die Urimpressionen stellen gewissermaßen das Stoff- und Initialprinzip der Bewusstseinsgenerierung dar und sind dieser Generierung logisch und ontisch vorgängig. – Dieser Punkt ist von zentraler Wichtigkeit sowohl für das richtige Verständnis der Fundamentalanthropologie als auch für ihre nicht-psychologistische und nicht-naturalistische Anlage. Denn Bewusstsein wird hier nicht als Weltinnenraum verstanden und schon gar nicht als Behälter, in den irgendetwas hineinkommt, was durch sein bloßes In-Sein dann eben bewusst ist. Es kommt vielmehr – wörtlich verstanden – gar nichts ins Bewusstsein, sondern nur urimpressionales ‚Vorsein‘ zu(!) Bewusstsein, indem dieses transitorische Vorsein in seiner vorzeitlichen Sukzession retiniert und so temporal (für das Ich) re-präsentiert wird – und zwar in einer doppelten zeitliche Ordnung in infinitesimaler Abstufung und in Motion (d.i. als Zeitfluss). Die eine Ordnung ist die Früher-später-Relation, die andere Ordnung ist die Orientierung dieser ersten Ordnung auf ein je neues Jetzt hin, so dass frühere (aktuell gewesene) Urimpressionen als eben gewesen erscheinen und damit als vergangene (in der Ordnung ihres Auftretens) und aktuell vergehende noch erlebnismäßig präsent sind. Urimpressionen sind rein transitorische Inhaltsphasen, die absolut nur im nunc fluens existieren (und gleichsam mit dem Zeitindex ‚jetzt‘ versehen sind) und insofern jeglicher zeitlicher Ausdehnung entbehren. Sie sind an sich ohne Dauer. Erst dadurch, dass diese inhaltlichen Jetztphasen retiniert und protiniert werden, entstehen zugleich (und in diesem Sinne: gleichursprünglich) Anschauung und Angeschautes, Erleben und Erlebtes, Bewusstsein und bewusstes Seiendes oder erlebtes und zeitlich ausgedehntes Bewusst-Sein. Wir haben also zwei Ursprünge oder Prinzipien der Bewusstseinsgenerierung: a) Die Ankunft stetig neuer Urimpressionen und b) deren Retention und Protention. Und das heißt eben: Urimpressionales Sein ist dem Bewusstsein gleichsam vorgegeben und bildet doch zugleich dessen ständigen Neueinsatz und dessen immanentes Prinzip (als Jetztkern). Urimpressionen sind für das Bewusstsein konstituierend, aber nicht (durch es) konstituiert. Alles, was mir anschaulich gegeben ist bzw. von mir erlebt wird, ist mir (und meinem Bewusstsein) zunächst urimpressional vorgegeben. Dies gilt sowohl für die leiblichen, körperlichen, umweltlichen als auch für die ‚geistigen‘ Urimpressionen – also für den Teil meines Seins, der mir eben anschaulich gegeben wird. Anschaulich wird dieses urimpressionale ‚Vorsein‘ aber erst, indem es kontinuierlich retiniert und protiniert wird. Die Anschauung ist, so gesehen, das urtranszendentale Anthropoial schlechthin. Man kann auch schlicht sagen: Sie ist das Transzendental.

3.3  Der fundamentalanthropologische Begriff des Menschen

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Da schon die leiblichen Urimpressionen eine räumliche Gestalt bilden (eben den urimpressionalen Leib), ist der Raum der Anschauungsform der Zeit vorgängig. Und zwar in dem präzisen Sinne, dass Räumlichkeit nicht als solche die Anschauung ontologisch voraussetzt, sondern nur die präsente und damit erlebte Räumlichkeit. Es ist der schon räumliche Leib, der als urimpressionaler retiniert und protiniert wird und so erst erlebnismäßige Präsenz für mich gewinnt. Ohne Urimpressionen, Retentionen und Protentionen gäbe es keine Anschauung, keine Selbst- und Weltpräsenz und damit auch keine Philosophie und Fundamentalanthropologie. Der Ursprung der stetig erzeugten Urimpressionen fällt dagegen nicht in die Anschauung und ist daher als metaphysisch oder besser als transphänomenal zu bezeichnen. Überhaupt lässt sich allgemein sagen: Alles Phänomenale entspringt dem Transphänomenalen. Denn das Phänomenale existiert nur solange, wie es generiert wird. Aber weder das Retinierende noch das die Urimpressionen Hervorrufende sind selbst Teil der Anschauung, die ja nichts anderes ist als das System zeitlicher Gegebenheitsweisen urimpressionaler Gehalte (d.i. aktueller und aktuell gewesener sowie kommender). Die Anschauung ist „lebendige Gegenwart“ (Husserl), aber keine Substanz, sondern ein – man möchte fast sagen – ephemeres ‚Gebilde‘, dessen Ursprünge im metaphysischen Dunkeln liegen. Ein holistischer Begriff des Menschen, wie er von der Fundamentalanthropologie projektiert wird, muss nun nicht nur alle Anthropoialien erfassen, sondern auch deren Präsenzweisen, die zugleich Entfaltungsstufen (Hypostasen) des menschlichen Subjekts sind. Die Fundamentalanthropologie unterscheidet zwischen drei Formen des Präsenten und damit drei menschlichen Entfaltungsstufen: dem Mundanen (Eigenkörper, Umwelt), dem Transzendentalen (Leib, Geistigkeit inklusive Sprachlichkeit) und dem Transphänomenalen (dem transphänomenalen Ich und dem transphänomenalen Leib). Während das Mundane und das Transzendentale in ihrer reinen Phänomenalität genommen unmittelbar präsent sind, ist das Transphänomenale nur präsent über seine ‚Äußerungen‘, also seine inhaltlichen Affektionen des Bewusstseins (das heißt, indem es Urimpressionen veranlasst und/oder produziert, die dann in ihrer zeitlichen Ordnung erlebt werden). So gesehen stellt sich das Transphänomenale im Phänomenalen dar: Das Mundane und Transzendentale sind gewissermaßen phänomenale Darstellungen des Transphänomenalen für das selbst transphänomenale Ich (womit jedoch nicht gesagt ist, dass der letzte Ursprung alles Phänomenalen das je eigene Ich ist, womöglich aber jede Gebung über dieses vermittelt ist). Den Begriff des Transzendentalen versteht die Fundamentalanthropologie relativ und funktional: Etwas ist dann als transzendental zu kennzeichnen, wenn es eine (selbst anschauliche) Bedingung der Möglichkeit für die erlebnismäßige Präsenz eines Präsenten ist. In diesem Sinne ist nicht nur die Anschauung und der Leib, sondern auch die Sprache transzendental, insofern Letztere die Präsentierung von Sachverhalten in Urteilen ermöglicht. Da das Transzendentale selbst unmittelbar gegeben ist, zugleich aber die Bedingung der Möglichkeit der Präsenz von Mundanem ist (das insofern vermittelt ist, als es durch das Transzendentale bedingt ist), stellt

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3  Die Idee einer Fundamentalanthropologie

es eine eigene Hypostase des Menschen dar.12 Wichtig ist aber auch, dass die Fundamentalanthropologie ‚mundan‘ und ‚transzendental‘ nicht als oppositäre Begriffe versteht, sondern hier ein Implikationsverhältnis erkennt: Insofern alles, was mir gegeben ist, in der Anschauung gegeben ist, ist auch die (Um-)Welt, einschließlich meines Körpers, in der Anschauung gegeben und somit Teil der transzendentalen Sphäre. Kurz: Das Mundane ist Teil des Transzendentalen und von diesem unablösbar. Oder quasi-dialektisch ausgedrückt: Das Transzendentale impliziert das Mundane, das in diesem Sinne des Impliziertseins selbst als transzendental zu kennzeichnen ist. Daher ist das Transzendentale im weiteren Sinne die Einheit (nicht die Identität!) des Transzendentalen im engeren Sinne und des Nicht-Transzendentalen (= des Mundanen). Vom Begriff des Mundanen ist der Begriff des Empirischen zu unterscheiden. Meint man mit dem Empirischen einfach alles originär Erfahrbare, dann ist sowohl das Mundane als auch das Transzendentale empirisch (phänomenal) gegeben. Lediglich dasjenige, was beides wiederum ‚gibt‘ oder hervorruft, selbst aber nicht erscheint, wird das Transphänomenale genannt: Es ist weder empirisch gegeben, noch ist es mundan oder transzendental. Insofern ist Empirizität oder Phänomenalität ein Wesensmerkmal des Transzendentalen wie Mundanen gleichermaßen.13 Dies führt zu der ‚trinitarischen‘ Bestimmung des Menschen durch die Fundamentalanthropologie: Der Mensch ist ein mundanes-transzendentalestransphänomenales Wesen, insofern er mehr ist als das, was von ihm unmittelbar erscheint und insofern das, was von ihm erscheint, transzendentale Bedingungen und Bedingtes umfasst. Diese trinitarische Bestimmung ist keine eigentlich mereologische, sondern gewissermaßen eine „gnoseo-phänomenale“ und zugleich hypostatische (die Entfaltungsstufen des Menschseins betreffende): Das Transphänomenale des Menschen (z. B. das Ich) muss Bewusstsein generieren, um überhaupt ein Für-sich-Sein zu gewinnen. Indem der transphänomenale ‚Mensch‘ sich als Leib repräsentiert (durch Hervorbringung entsprechender urimpressionaler Gehalte) und sich dann leiblich wahrnehmend zur Umwelt erweitert und sich selbst in der Umwelt wiederum als Körper ‚vorfindet‘, konstituiert er sein Selbstsein und

12Das

Mundane ist damit zugleich: vermittelt und unvermittelt gegeben: Vermittelt gegeben ist das Mundane, weil es z. B. ohne Leib nicht Teil des Erlebens sein könnte. Unvermittelt ist das Mundane gegeben, insofern es als Gegebenes genauso originär gegeben ist wie das Transzendentale. 13Der Begriff des Empirischen ist mindestens doppeldeutig: Einerseits ist mit ihm das unmittelbar Erfahrbare gemeint, zum anderen das nur vermittelst des unmittelbar Erfahrbaren Erschlossene. Hierzu gehören alle theoretischen Entitäten, die per definitionem gar keine Erfahrungsgrößen darstellen. Empirische Wissenschaften wären also dadurch definiert, dass sie in ihren Forschungen von etwas originär Gegebenem ausgehen bzw. dieses allererst herstellen (z. B. Zahlenwerte und Kurven auf Bildschirmen, sonstige, durch technische Apparaturen präsentierte Gegebenheiten, in der Wahrnehmung gegebene Naturphänomene oder kulturelle Zeugnisse etc.).

3.3  Der fundamentalanthropologische Begriff des Menschen

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sein räumliches In-der-Welt-Sein zugleich an und für sich. Indem er zudem eine Sprache und sonstige praktische Fertigkeiten erwirbt, entwickelt er sich zunehmend zu einem aktual geistigen und praktisch-poietischen Wesen, das freilich hierfür bereits gewisse angeborene Fähigkeiten mitbringen muss wie z. B. Sprachfähigkeit (einschließlich der Fähigkeit, Begriffe zu bilden), Einbildungskraft, Aufmerksamkeitsfähigkeit, Assoziationsfähigkeit, Erinnerungsvermögen etc. und nicht zuletzt: leibliches Bewegungsvermögen. Indem geistige Vollzüge bewusst erlebt werden, kann sich der Mensch auch in seiner Geistigkeit erfassen, deren Ursprung und Genese im Wechselspiel zwischen Ich und Umwelt begründet liegen. Dies alles ist Thema einer fundamentalanthropologischen wie (interdisziplinären) anthropologischen Genealogie der Menschwerdung (onto- wie phylogenetische Anthropogenese).14 Wichtig ist hier nur, darauf hinzuweisen, dass das Transphänomenale (beständig) das Transzendentale hervorbringt und das Transzendentale wiederum das Mundane als Präsentes (mit-)ermöglicht. Die aktuale Anthropogenese verläuft daher in einem logischen und zeitlichen Sinne zunächst immer und fortlaufend in dieser Richtung: vom Transphänomenalen über das Transzendentale zum Mundanen.15 Erst von hier aus wird auch die gegensinnige Konstitution (vom Mundanen zum Transphänomenalen) möglich, insbesondere bei der Gedächtnisbildung. Veränderungen des Erlebens haben ihre Ursache deshalb immer im Transphänomenalen, wenngleich umgekehrt, worauf noch näher einzugehen sein wird, das Transphänomenale durchaus durch das Phänomenale fortwährend affiziert und zu Reaktionen nezessitiert wird. Dies geschieht in Form der Ichaffektion, also der Affektion des Ich durch Tatsachen des Bewusstseins. Die Anthropoialien lassen sich, wie schon angeführt, diesen drei Hypostasen zuordnen: Die Umwelt und der eigene Körper dem Mundanen, die Anschauung, der Leib und die Geistigkeit dem Transzendentalen (und allesamt dem Empirischen oder besser: Phänomenalen16) und das Ich (und der transphänomenale Leib) dem Transphänomenalen. Im Zustand der Bewusstlosigkeit bleibt vom Menschen nur seine transphänomenale Seite übrig. Das heißt: Nur das Transphänomenale kann eine Weile für sich fortbestehen, nicht aber umgekehrt das Phänomenale ohne das Transphänomenale.17 Lediglich für 14Die

Fundamentalanthropologie kann hier naturgemäß nur allgemeine Verhältnisse erkunden, nicht aber die Paläoanthropologie oder Entwicklungspsychologie ersetzen. 15Die körperlichen und umweltlichen Urimpressionen sind zwar dem Bewusstsein vorgängig, aber sie sind für ihr Erscheinen auf den Leib als notwendige Bedingung ihrer Möglichkeit angewiesen, weshalb dieser als transzendental zu kennzeichnen ist. 16Das Phänomenale ist selbst keine eigene Hypostase, sondern umfasst die beiden phänomenalen Hypostasen (das Mundane und Transzendentale) und alle anschaulich gegebenen und damit phänomenalen Anthropoialien (also alle mit Ausnahme des Ich). 17Dies scheint im Widerspruch zur mereologischen Momente-Lehre („anthropoiales Sextett“) zu stehen. Doch ein völlig bewusstloses Ich ist kein Subjekt des Subjekts mehr. Dies ist es nur als Subjekt des Bewusstseins von Selbst und Umwelt. Und ohne Bewusstsein kann der ganze Mensch kein anthropoiales Leben mehr realisieren. Das Transphänomenale kann insofern zwar für sich bestehen, aber es ist dann kein Moment des Anthropos mehr, da anthropoiales Leben ohne Bewusstsein unmöglich ist.

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einen Beobachter stellt sich dann dieser Mensch als Körper (der als bewusstloser Mensch apperzipierbar wird) dar, wobei die Körpererscheinungen dann der Umwelt des Beobachters und damit dessen Sein zugehören. Insofern auch andere Subjekte (und Dinge) ein eigenständiges (von mir unabhängiges) Sein haben, ist dieses ebenfalls transphänomenal (für mich). Lediglich ihre Repräsentationen sind mir unmittelbar anschaulich gegeben (z. B. ihre Körper in unterschiedlichen Perspektiven, Aspekten und Abschattungen), nicht aber ihr Leib, ihr Erleben, ihre Gedanken und Gefühle etc. Meine Umwelt ist eben meine Umwelt, auch wenn ich in Form einer Repräsentation auch Teil der Umwelt eines anderen Subjekts werden kann. Aber auch dies kann ich nicht unmittelbar erfahren, wenngleich ich mir dessen doch subjektiv sehr gewiss bin (selbst dann, wenn ich von einem anderen wie Luft behandelt werde und diese meine Gewissheit keine Bestätigung erfährt). b) der Leib Alles Empirische oder Phänomenale gibt es für mich nur, insofern deren jeweilige Urimpressionen dem Retinieren vorgegeben sind. Und das heißt: Leib, Körper und Umwelt müssen bereits ‚fertig‘ (aber immer wieder neu) in ihrer räumlichen Gliederung urimpressional ‚da‘ sein, um zeitlich konstituiert und damit ‚Inhalt‘ der Anschauung und des Erlebens zu werden. Allerdings sind zumindest Körper und Umwelt nicht unmittelbar (ohne Vermittlung) einfach präpräsent-existent, sondern nur, insofern sie Korrelat leiblicher Wahrnehmungsvollzüge (Kinästhesen) sind. Der Leib (und nicht der Körper) ist das eigentliche Wahrnehmungsorgan, aber nur als notwendige Kondition, nicht als Kausator. Denn sowohl Leib als auch Körper und Umwelt sind dem Erleben gleichermaßen urimpressional vorgegeben. Aber ohne den Leib und seine Kinästhesen gäbe es weder Körper noch Umwelt. Alles, was ich als Umwelt und als (meinen) Körper wahrnehme, ist konditional auf meinen wahrnehmenden Leib zurückbezogen. Ohne Sehen kein Gesehenes, ohne Hören kein Gehörtes, ohne Tasten kein Getastetes etc. Der Leib kreiert also Umwelt und Körper zwar nicht ex nihilo, aber er ist nichtsdestotrotz eine notwendige Bedingung ihres urimpressionalen und dann auch anschaulichen Erscheinens. Es ist daher der urimpressionale Leib, der die Erweiterung desselben um Körper und Welt ‚bewerkstelligt‘ (und nicht das Bewusstsein oder die Retention). Damit das urimpressionale Ensemble von Leib i.e.S., Umwelt und Körper jedoch anschaulich werden kann, bedarf es Retention und Protention. Der Leib i.e.S. ist das, was erlebnismäßig ‚zurückbleibt‘, wenn ich von allen Wahrnehmungen, die ich von meinem Körper (und natürlich der Welt) machen kann, abstrahiere. Der Leib ist nicht sichtbar, nicht hörbar, nicht tastbar, sondern dasjenige, was sieht, hört und tastet. Er selbst wird unmittelbar gespürt und somit erlebt und kann daher auch unmittelbar attentional wahrgenommen werden. Meine Leibhand etwa fühlt sich irgendwie an, aber sie ist unsichtbar – und doch spüre ich sie beständig (selbst wenn ich nicht auf sie achte). Die Rede vom ‚Spüren des Leibes‘ ist allerdings nicht dahingehend misszuverstehen, dass es einen substrathaften Leib gäbe, der dann auch noch partiell gespürt werden kann. ‚Den‘ phänomenalen Leib gibt es überhaupt nicht! Was es gibt, ist ein zeit-

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liches Phänomen, das permanent in seinem Erscheinungsgehalt in Veränderung begriffen ist, wenngleich es sich im Normalfall diachron in seiner räumlichen Gestalthaftigkeit ähnlich bleibt. Genau genommen sollte man daher nicht von dem Leib, sondern von Leiblichkeit sprechen. Das Gleiche gilt übrigens vom Körper, der als phänomenaler völlig anders erscheint (nämlich als abgeschattete und perspektivische Erscheinungsreihe) als sein idealisiertes „Geometral“, das im Grunde nur gedacht, aber nicht adäquat veranschaulicht werden kann. Von phänomenalen Leib und Körper ist wiederum der transphänomenale Leib zu unterscheiden, dessen Repräsentationen jene sind. Dieser wird aber unmittelbar nicht wahrgenommen oder gespürt, wenngleich er tatsächlich etwas Substanzielles sein mag. Transphänomenaler Leib, phänomenaler Leib und phänomenaler Körper sind verschiedene, miteinander nicht identische Entitäten und stehen zueinander im Verhältnis von Repräsentiertem (transphänomenaler Leib) und Repräsentation (phänomenaler Leib und Körper). Der (phänomenale) Leib ist mein unmittelbares Organon (Urwerkzeug) und zumeist im Modus der „Zuhandenheit“ gegeben: Mit ihm nehme ich die Welt und meinen (Leib als) Körper wahr, mit ihm spreche und kommuniziere ich, mit ihm bewege ich mich im Raum und mit ihm benutze ich Werkzeuge aller Art. Aber er ‚ist‘ auch mein primäres Selbst und als Selbstgefühl zugleich die anschauliche Basis für die Ausbildung eines basalen Selbstbewusstseins, wobei der Leib erst durch Selbstbewusstsein zum Selbst wird (zur Auflösung dieser vielleicht paradox anmutenden Formulierung s. Kap. 4). Indem der Leib sich selbst betastet und visuell betrachtet, konstituiert sich hierdurch der eigene Körper, der die mundane Darstellung oder Repräsentation des Leibes in der Welt ist. Der Körper ist gewissermaßen die Selbstobjektivation des Leibes in der Welt (weshalb der Körper als Körper nur solange existiert wie er wahrgenommen wird). Daher sind Leib und Körper weder voneinander unabhängige Entitäten noch miteinander identisch. Sie sind vielmehr Teilmomente eines (immer wieder zu konstituierenden) Ganzen, zunächst des großen Weltleibes (= die phänomenale Einheit von Leib im engeren Sinne, Körper und Umwelt) und schließlich des ganzen Menschen. Hier kehrt inhaltlich konkretisiert das oben beschriebene quasi-dialektische Verhältnis von Transzendentalem und Mundanem wieder: Der Leib im weiteren Sinne ist die Einheit (nicht die Identität!) von (transzendentalem) Leib im engeren Sinne, (mundanem) Körper und (mundaner) Umwelt. c) Körper und Umwelt Die Umwelt und der Körper sind das phänomenale Korrelat leiblicher Kinästhesen. Ihr esse ist ihr percipi. Die empirische(!) Welt (Lebenswelt) in toto ist nichts anderes als die Gesamtheit aller möglichen Umwelten bzw. das System möglicher Umwelten in Bezug auf meinen Leib.18 Die Umwelt ist daher ein Teil-

18Da

die Fundamentalanthropologie allerdings von einer Pluralität menschlicher und nichtmenschlicher Subjekte ausgeht, so ist es präziser zu sagen, dass die phänomenale Welt das System aller möglichen Umwelten in Bezug auf alle realmöglichen Leiber ist. Hiervon zu unterscheiden ist einerseits die Einheit des Seins und andererseits die Pluralität der intersubjektiven ‚Weltbilder‘.

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moment des Menschen und nichts, worin der Mensch als ganzer ist, wenngleich er sich körperlich darin selbst vorzufinden vermag. Die Reduktion des Menschen auf seine Körperlichkeit resultiert aus dem Übersehen der transzendentalen Bedingungen dieses „In-der-Welt-seins“, weshalb jene dann psychisiert oder mentalisiert und schließlich zu Gehirnphänomenen erklärt werden, während umgekehrt der Körper zugleich substanzialisiert wird. Dieser transzendentale Schein (der eben durch die transzendentalen Bedingungen selbst mit hervorgerufen wird) lässt sich nicht beseitigen, aber doch durchschauen. Psychologismus, Naturalismus und Cartesianismus sind Positionen, die den Schein nicht durchschaut haben und aufgrund ihrer ideologischen Präponderanz sogar alles tun, um zu verhindern, dass der Schein durchschaut wird, in dem sie selbst befangen sind. Sie weigern sich nicht nur, den Kopf zu wenden und die Höhle zu verlassen, sondern verhindern zudem, dass die Fesseln der anderen in der Dunkelheit Gefangenen gelöst werden. Der Schein ist zwar natürlich – dass er aber einst allgemein durchschaut zu werden vermag dagegen eine Machtfrage. Die Fundamentalanthropologie muss hier auf die Kraft des besseren Arguments hoffen, das sich auf längere Sicht durchsetzt. Wer vergisst, dass Erfahrung ganz allgemein auf transmundanen (transzendentalen und transphänomenalen) Voraussetzungen beruht, muss die Bedingungen der Möglichkeit der Selbst- und Welterfahrung als (mundanen) Teil des mundanen Subjekts missverstehen. Das mundane Subjekt ist aber nichts anderes als eine Projektion und Repräsentation: eine Erscheinungsreihe von Körperdarstellungen. Der Körper (Organismus) ist keine Substanz, sondern nur ein Wahrnehmungskorrelat. Unmittelbar ist der eigene Körper die Erscheinungsweise des Leibes in der Welt, insofern der Leib sich im Wahrnehmen als Körper ‚objektiviert‘. Da es aber eine überwältigende Anzahl von Indizien für die Existenz eines transphänomenales Leibes gibt, gilt (unter der Voraussetzung, dass es diesen transphänomenalen Leib tatsächlich gibt), zugleich: Phänomenaler Leib und phänomenale Körpererscheinungen sind gleichermaßen Repräsentationen dieses Dritten, des Homo absconditus. – Der transphänomenale Leib würde sich also unmittelbar im transzendental-phänomenalen Leibe darstellen und – vermittelst dieses Leibes – zusätzlich als organischer Körper in der (Um-)Welt. d) Ich und transphänomenaler Leib Auch Gehirne sind nur (potenzielle) Korrelate leiblicher Kinästhesen und keine Dinge an sich. Nichtsdestotrotz fragt es sich, ob das erfahrbare Gehirn nicht etwas Bestimmtes und Zentrales des Menschen repräsentiert. Die Fundamentalanthropologie versucht zu zeigen, dass so, wie der Körper den Leib, das Gehirn das Ich repräsentiert. Was den Begründungsgang betrifft, so versucht die Fundamentalanthropologie zunächst überhaupt erst einmal nachzuweisen, dass es ein von Leib und Erleben unterschiedenes Ich gibt. Erst in einem zweiten Schritt versucht sie dieses Ich (räumlich) zu lokalisieren. Der Aufweis der Existenz eines Ich (des eigentlichen Subjekts des Subjekts) gelingt über das Phänomen der Ichaffektion. Gäbe es nur das Erleben und seine ‚Inhalte‘, dann könnte ich (bzw.: Ich) nicht durch Tatsachen des Bewusstseins affiziert werden. Auch affizieren sich die

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Erlebnisgehalte untereinander nicht direkt. Es gibt aber die Phänomengruppe der Reizung, Störung und Ablenkung. Gereizt, gestört oder abgelenkt wird aber nicht irgendetwas im Erfahrungsfeld, sondern ich, das Ich, das selbst kein unmittelbarer Teil des Erlebens ist. Während ich gerade diese Zeilen schreibe, werde ich von einem lauten Bohrgeräusch abgelenkt, das schon da war, ehe ich ihm meine Aufmerksamkeit zuwandte. Es affizierte mich, obgleich ich attentional/intentional nicht darauf gerichtet war, während es doch schon erlebt wurde und damit eine Tatsache meines Bewusstseins war. Dieses Phänomen kann in seiner Möglichkeit und Wirklichkeit nur begriffen werden, wenn man anerkennt, dass ich als Mensch ein Ich habe, das affizierbar ist und auf diese Affektionen mit attentionaler Zuwendung, Apperzeption, Deliberation etc. reagieren kann, wobei diese ichlichen Reaktionen selbst wiederum Affektionen des Bewusstseins darstellen, die dann erneut das Ich affizieren können. Die Fundamentalanthropologie unterscheidet daher in diesem permanenten Wechselspiel Ichaffektionen (= Affektionen des Ich) und Selbstaffektionen (= Affektionen des Bewusstseins und z. T. des Leibes durch das Ich). Jeder Aufmerksamkeitswechsel, jedes Denken, jede Emotion sind Reaktionen des Ich auf vorgängige Ichaffektionen und zugleich Selbstaffektionen. Diese beständige ‚Wechselaffektion‘, die das Erleben durchgängig bestimmt, könnte es ohne eine zentrale Instanz, die sowohl affizierbar als auch zu aktiven Reaktionen fähig ist, gar nicht geben. Somit darf die Existenz des Ich als gesichert gelten. Da der Mensch ein durch und durch räumliches Wesen ist, ist zu vermuten, dass auch das Ich einen Ort hat. Es ist (metaphorisch gesprochen) der Brennpunkt aller Affektionsstrahlen, der Ort, auf den alle Affektionsvektoren ‚zeigen‘. Und es muss dort sein, wo sich der Nullpunkt der Orientierung befindet. In der husserlschen Phänomenologie ist der Nullpunkt der Eigenleib. Doch auch dieser erscheint mir orientiert: Manche Leibesregionen sind mir besonders nahe z. B. die Kopfregion, andere sehr fern (z. B. die Füße). Auf der Erde sind Rumpf und Gliedmaßen für mich unten, die Augen vorne, der Hinterkopf hinten und die Kopfbehaarung oben und seitlich. Der Nullpunkt der Orientierung sowie der Schnittpunkt der Affektionsrichtungen fallen mit dem Zentrum des Leibkopfes zusammen. Daher muss dort auch das Ich lokalisiert sein. Es ist da, wo von ‚außen‘ betrachtet, das Gehirn vorfindbar ist. Da Ich und Gehirn sich eine Raumstelle teilen, ohne dass beide identisch sind, bleibt nur übrig, dass das eine (= Gehirn) die Repräsentation des anderen (= Ich) ist.19 Dies wird auch durch eine überwältigende Zahl neurologischer Befunde gestützt: Gehirnläsionen, gezielte Eingriffe ins Gehirn und die Einnahme psychoaktiver Substanzen haben nachweisbar mannigfachen Einfluss auf die Wahrnehmung der Welt, auf die Selbstwahrnehmung, auf kognitive und motorische Leistungen etc. Die Fundamentalanthropologie zeigt lediglich, dass auch das empirische Gehirn eine Repräsentation ist, dessen Repräsentiertes das Ich dar-

19Das heißt auch: Wäre es möglich, meinen Kopf (z. B. nach einem schweren Unfall) zu verpflanzen, dann wäre ich/Ich da, wo mein Kopf und nicht da, wo mein (zerstörter) Rumpf ist.

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stellt. Phänomenale Eingriffe ins Gehirn sind zugleich transphänomenale Eingriffe ins Ich, weshalb es so scheint, als sei nicht das Ich, sondern das Gehirn die Grundlage von Geist und Erleben. Interpretiert man aber das Gehirn fälschlicherweise als Ding an sich, gerät man in erkenntnistheoretischen Widersinn (Stichwort: Gehirnparadoxon). Doch warum rechnet die Fundamentalanthropologie nun zusätzlich auch noch mit einem transphänomenalen Leib? Dafür gibt es verschiedene Gründe, die hier nur angedeutet werden können.20 So weist die Fundamentalanthropologie z. B. nach (über die Lokomotion), dass der ganze Mensch in einem absoluten Raum lokalisiert ist, der daher radikal vorsubjektiv ist.21 Der Anschauungsraum ist zwar durchaus an den Leib und das Ich gebunden und in diesen verankert („Nullpunkt“). Im Gehen oder passiven Bewegtwerden (z. B. Zugfahrt) bewegt sich aber der starre Anschauungsraum mit dem Leibe mit, was einen ‚zugrundeliegenden‘ Raum voraussetzt, innerhalb dessen die Bewegung stattfindet und der sich in der Bewegung anschaulich vom Anschauungsraum abhebt (als Relationenraum der sonstigen anschaulichen Gehalte). Zumindest das Gehen setzt aber wiederum substanzielle Fortbewegungsorgane voraus. Und da weder der phänomenale Leib noch der phänomenale Körper etwas Substanzielles sind, verweist das Gehen (und damit letztlich alle wirksamen leiblichen Kinesen) auf einen transphänomenalen Leib. Ein zweiter Grund ergibt sich aus dem Phänomen des Phantomgliedes, welches zudem zeigt, dass die normale Konditionalität zwischen Leib und Körper keine notwendige ist (wenngleich notwendig gilt, dass ohne Leib als Wahrnehmungsorgan der eigene Körper nicht präsent sein könnte). Im Falle des Phantomgliedes erscheint trotz des Fehlens eines Körperteils die entsprechende Leibesregion weiter. Die entsprechende Objektivation dieser Leibesregion zur entsprechenden somatischen Erscheinung ist nicht mehr möglich. Außerdem verliert die entsprechende Leibesregion (also das Phantomglied) seine Wirkkraft. Mit einer Phantomhand beispielsweise lässt sich nichts mehr ergreifen. Gleichwohl ist es so, dass nach einer Abtrennung eines Körperteiles dieses (als Abgetrenntes) weiter in der Wahrnehmung erscheinen kann, wenngleich man z. B. in einer abgetrennten Hand nichts mehr empfindet. Da dies zeigt, dass der Leib nicht die Substanz des Körpers ist und zugleich abgetrennte Körperteile (ohne entsprechende Leiblichkeit) weiter wahrnehmbar sind, deutet dies alles auf einen transphänomenalen Leib hin, der (in diesem Fall) fragmentiert wurde. Ein dritter Grund ergibt sich aus dem umgekehrten Verhältnis: Narkotisierte Körperteile werden nicht mehr leiblich empfunden, erscheinen gleichwohl weiter in der Wahrnehmung wie gewohnt. Auch dies spricht dafür, dass Leib und Körper Repräsentationen eines Dritten sind. Ferner: Der bewusstlose Mensch (z. B. bei Vollnarkose) und die sog. sterblichen Überreste, also das Phänomen des Leich-

20Siehe

hierzu Thorsten Streubel: Kritik der philosophischen Vernunft. Die Frage nach dem Menschen und die Methode der Philosophie. Wiesbaden 2016. 316 ff. 21Vgl. Thorsten Streubel: Kritik der philosophischen Vernunft. 282 ff.

3.3  Der fundamentalanthropologische Begriff des Menschen

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nams, indizieren ebenfalls die Existenz eines transphänomenalen Leibes. Denn mit dem Verlust des Bewusstseins hören auch Leib und Körper auf zu existieren (der Körper zumindest für seinen ‚Eigentümer‘, während er für Dritte weiterhin erscheint). Dies lässt sich am besten mit der Existenz eines transphänomenalen Leibes erklären (der sich für andere als Körper darstellt). Viertens: Wenn wir das Fleisch von Tieren essen (und beim Kannibalismus bzw. der Anthropophagie dürfte es nicht anders sein), dann hat dies reale Konsequenzen: In der Regel sättigt und stärkt uns dieser Fleischgenuss. Von bloßen Repräsentationen wird man jedoch nicht satt, daher scheint dem phänomenalen Leib und dem phänomenalen Körper etwas Substanzielles zugrunde zu liegen (bei ‚Tieren‘ wie bei Menschen). Fünftens: Während der Körper eine unfassbare (phänomenale) Komplexität aufweist, ist der Leib offensichtlich vergleichsweise einfach verfasst. Er weist zwar ein komplexes emotionales Leben auf und die Intensität seiner Präsenz wandelt sich stetig (Stumpfheit, Unmerklichkeit, Schmerzen, Gespanntheit etc.), aber all dies ist nichts im Vergleich zur gleichsam unendlichen Differenziertheit auch nur eines Körperhaares. Sechstens: Es ist mittlerweile möglich, leibliches Spüren gezielt hervorzurufen („Brain-Machine-Interface“).22 Dies weist daraufhin, dass der phänomenale Leib keine Substanz, sondern eine beständige Hervorbringung des Ich ist. Dies ist zudem insofern ein Argument für die Existenz eines transphänomenalen Leibes, als das Ich durch (meta-)physische Affektion (phänomenal: Stimulierung des Gehirns durch Elektroden) zur Generierung von Leiblichkeit veranlasst wird (es somit den Leib nicht frei ‚erfindet‘). e) Geistigkeit Unter ‚Geistigkeit‘ begreift die Fundamentalanthropologie zwar nicht die Anschauung oder das Bewusstsein als solches, aber doch alles, was einen Sinngehalt aufweist (s. Kap. 6): die Wahrnehmung (die sich aus der attentional strukturierten Anschauung, leiblichen Kinästhesen, dem perzeptiven Gehalt und dem Auffassungssinn sowie dessen ‚Kehrseite‘, dem Gegenstand (als Noema), zusammensetzt), Imaginationen (zu denen auch das stumme Denken gehört, das ja nichts anderes als ein imaginiertes Sprechen ist), Träume, Intuitionen, die ‚Welt‘ als Verweisungszusammenhang von Bedeutsamkeiten, die hierdurch ermöglichte sprachliche Verlautbarung (z. B. reale Kommunikation, Selbstgespräche etc.) sowie die Teile des Ich, die solche Reaktionen bzw. Leistungen ermöglichen.23 Da jeder geistige Akt ichliche Kräfte zur Voraussetzung hat, ist das Ich beides: geistig

22Siehe

hierzu FAZ vom 19.10.2016, N2: Wenn die Wahrnehmung frisch verdrahtet wird. das Ich streng genommen keinen Sinngehalt aufweist, sondern die Instanz ist, die solche Sinngehalte konstituiert, könnte man es als Grund von Geistigkeit auch Geist nennen und klar vom Anthropoial der Geistigkeit unterscheiden. Um jedoch zu betonen, dass das menschliche Ich ein sinnkonstituierendes und sinnverstehendes ist, scheint es mir nichtsdestotrotz sinnvoll, das Ich partiell dem Anthropoial der Geistigkeit zuzuschlagen (wenngleich es als Einheit natürlich unter das gleichnamige Anthropoial ‚Ich‘ fällt). 23Da

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3  Die Idee einer Fundamentalanthropologie

und voluntativ. Denken z. B. ist in erster Linie eine Aktivität, die durchaus Kraft bzw. Energie kostet, ebenso wie alle anderen ichlichen Leistungen. Der Fundamentalanthropologie geht es nicht einfach nur darum, den faktischen Bestand an Vermögen, Leistungen und deren Zusammenspiel zu beschreiben, sondern vor allem darum, zu ergründen, was denn die notwendigen Voraussetzungen von funktionierender Geistigkeit und deren Devianzen (‚VerRücktheiten‘) sind. So setzt beispielsweise jegliche Sinnbildung auf der einen Seite die Anschauung und damit den welthaltigen Leib voraus. Auf der anderen Seite bedarf es aber der Fähigkeit der Begriffsbildung, der Sprachfähigkeit – und damit des Vermögens der Imagination und der Erinnerungsfähigkeit. Die Fundamentalanthropologie muss hier notwendigerweise genetisch werden und deckt sich methodisch mit der genetischen Phänomenologie Husserls, die gleichsam als geistige Archäologie auftritt. Die Fundamentalanthropologie beschreibt aber nicht die Geistigkeit eines transzendentalen Subjekts überhaupt, sondern zunächst nur die des Menschen im supermundanen Sinne, also eines Wesens, das seine Geistigkeit in Auseinandersetzung mit Um- und Mitwelt generieren muss. In anthropologischen Diskursen ist nicht nur oft die Rede von anthropologischen Konstanten, sondern auch von menschlichen Monopolen oder auch von einem anthropologischen Radikal. Manchmal findet auch der Begriff des Anthropologikums Verwendung, der in der Regel irgendetwas konstitutiv Menschliches bezeichnen soll (z. B. Sexualität, Verstehen, Gottesbewusstsein etc.). Dass der Begriff der Konstante keinen wirklichen Erkenntniswert besitzt, wurde oben bereits gezeigt. Anders steht es mit dem Begriff des anthropologischen Radikals und des Monopols. Das anthropologische Radikal (als die Wurzel oder Quelle, die den Menschen im Hinblick auf animalische Lebensformen erst eigentlich zum Menschen macht) vermutet die Fundamentalanthropologie im Nous oder dem Vermögen im Individuellen und Einzelnen ein begrifflich Allgemeine zu erfassen. Da diese Fähigkeit auch die Bedingung der Möglichkeit einer Begriffssprache ist sowie überhaupt der ‚Welt‘habe, so ist sie zugleich konstitutiv für die spezifisch menschliche Geistigkeit. Nun könnte man einwenden, dass auch ‚Tiere‘ (genauer: nicht-anthropoiale Animanten) zumindest über so etwas wie Intelligenz, Erinnerungsvermögen, Assoziativität etc. verfügen. Daher ist auch den ‚Tieren‘ das Anthropoial der Geistigkeit zuzusprechen und damit gibt es überhaupt keine qualitativen Unterschiede mehr. Doch ist es eben fraglich, ob ‚Tiere‘ fähig sind, allgemeine Begriffe zu bilden und Urteile zu fällen. Und selbst wenn es einige könnten, so wohl kaum alle. Die Fundamentalanthropologie bestimmt begrifflich (durch phänomenologische Deskription) das Sein des Menschen. Sie kann aber nicht mit ihren Mitteln erkunden, wo empirisch die Grenzen verlaufen (ob etwa auf der Erde zwischen Homo sapiens und dem Rest der ‚Tierwelt‘; oder ob z. B. auch Menschenaffen unter den Begriff des Menschen im fundamentalanthropologischen Sinne fallen). Dies ist vielmehr Aufgabe der interdisziplinär verfahrenden P/philosophischen Anthropologie. Nichtsdestotrotz würde die Fundamentalanthropologie zwischen ‚tierischem‘ Intellekt und menschlicher Geistigkeit eine qualitative Differenz behaupten, deren Wurzel sie menschlicherseits im angeborenen Nous erblickt. Menschliche Geistigkeit

3.3  Der fundamentalanthropologische Begriff des Menschen

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ist durch einen sprachlich-begrifflichen Verweisungszusammenhang (‚Welt‘) strukturiert, der ‚tierische‘ Intellekt (per definitionem) nicht. Nichtsdestotrotz muss auch der ‚tierische‘ Intellekt einen Verweisungszusammenhang nicht völlig entbehren. Dieser ist vermutlich ebenfalls assoziativ strukturiert, nur eben nicht sprachlich-begrifflich. Assoziation, so schon eine grundlegende Einsicht Humes und später Husserls, ist eine Grundgesetzlichkeit des Erlebens. Aber die Assoziationsglieder sind bei Tier und Mensch unterschiedlich verfasst: beim Tier sinnlich und emotional getönt; beim Menschen zusätzlich sprachlich-begrifflich. – Die Assoziationsprinzipien mögen dabei sogar die gleichen sein (Ähnlichkeit und raum-zeitliche Nähe). Daher bezeichnet das Anthropoial der Geistigkeit eine echte spezifische Differenz oder besser: ein Essenzial des Menschen, während die übrigen Anthropoialien animalische heißen können, weil auch ‚Tieren‘ einige oder alle dieser Anthropoialien zukommen. Aus dem anthropologischen Radikal entsteht also in Auseinandersetzung mit der Um- und Mitwelt das Anthropoial der Geistigkeit (dessen Radikal und integraler Bestandteil der Nous ist) – und aus der Geistigkeit all das, was man Monopole des Menschen nennt (wie Sprache, die allerdings selbst ein Aufbauprinzip der Geistigkeit darstellt, Lachen und Weinen, bestimmte soziale und existenzielle Gefühle, Gottesbewusstsein, Todesbewusstsein etc.). Der Begriff des Anthropologikums ist dagegen zu unbestimmt als dass er weiter in der Anthropologie verwendet werden sollte. Denn unter diesen Begriff passen sowohl die animalischen Anthropoialien als auch vermeintliche anthropologische Konstanten oder menschliche Monopole. So ist die Leib-KörperDifferenz sicherlich ein Anthropologikum, aber zugleich etwas, was auch das Sein der ‚Tiere‘ bzw. der nicht-anthropoialen Animanten bestimmt (wenngleich ‚Tiere‘ ihren Körper nicht vergegenständlichen und zum Thema machen können). Die Geistigkeit des Menschen strukturiert das Zusammenspiel der sechs Anthropoialien durchgreifend, indem sie zum Beispiel ein reflektiertes Selbstund Weltverhältnis (einschließlich eines begrifflichen Selbstbewusstseins), instrumentelle Vernunft, Gewissen, kollektive Intentionalität und objektiven Geist etc. ermöglicht. Der Mensch lebt nicht nur, sondern er führt sein Leben (gleich, ob gut oder schlecht). Es mag richtig sein, dass menschliche Geistigkeit sich nur in einem Wesen realisieren kann, dessen Instinktreduktion ein bestimmtes Maß überschritten hat und das auch über eine bestimmte Morphologie und Sinnesausstattung verfügt (z. B. aufrechter Gang, parallel angeordnete Sehorgane etc.). Die Klärung der Frage, inwieweit nur bestimmte morphologische Typen für die Ausbildung von Geistigkeit in Betracht kommen, muss die Fundamentalanthropologie aufgrund ihrer beschränkten methodischen Mittel und damit Kompetenz an die interdisziplinäre Anthropologie delegieren bzw. als gemeinsames oder interdisziplinäres Projekt betrachten. Fazit Man sieht, die Fundamentalanthropologie sprengt die traditionellen Alternativen bzw. Disjunktionen der Philosophie des Geistes und der P/philosophischen Anthropologie: entweder Naturalismus oder Dualismus oder Idealismus. Die Fundamentalanthropologie transzendiert diese Disjunktion und zeigt damit,

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3  Die Idee einer Fundamentalanthropologie

dass die anthropo-logischen Voraussetzungen dieser vermeintlich vollständigen Disjunktion falsch sind. Die Fundamentalanthropologie ist weder monistisch (Naturalismus/Materialismus/Idealismus) noch dualistisch, sondern holistisch und nicht-reduktionistisch. Sie zeigt, dass der Mensch mehr ist als Körper und Geist, nämlich das Zusammenspiel von mindestens sechs Anthropoialien („anthropologisches Sextett“). Außerdem kann sie nachweisen, dass die Natur (einschließlich des mundanen Menschen) nur die Repräsentation eines transmundanen Seins ist, wobei sowohl das Mundane als auch das Transzendentale und Transphänomenale in ein und demselben absoluten Raum lokalisiert sind. Daher vertritt die Fundamentalanthropologie streng genommen keine Mehrweltentheorie, sondern behauptet nur, dass sich Repräsentation und Repräsentiertes eine Raumstelle teilen können. Wissenschaftstheoretisch hat dies, das sei hier zum Schluss nur angemerkt, ein pragmatistisches Verständnis des Leistungssinns nomothetischer Wissenschaften zur Folge: Wissenschaftliche Gesetzesaussagen dürfen nicht vorschnell ontologisiert werden, sondern stellen zunächst einmal ein Herrschaftswissen dar (knowing-how): Es dient dazu, die Natur (auch die Natur im Menschen) bzw. das, was der erscheinenden Natur zugrunde liegt, zu beherrschen, ohne deshalb freilich selbst eine Form meta-physischen Wissens darzustellen. In kritischer Abgrenzung zum zeitgenössischen Naturalismus insistiert die Fundamentalanthropologie auf dem Grundsatz: Physik ist nicht Metaphysik.

Kapitel 4

Selbst-Bewusstsein

4.1 Problemformulierung und Fragestellung Ich bin mir meiner selbst bewusst: Dass ich Ich-selbst bin und zugleich verschieden von allen anderen Dingen in der Welt, ist eine Grundtatsache meines „In-der-Welt-seins“. Es scheint die selbstverständlichste Sache der Welt zu sein. Und doch versteht es sich mitnichten von selbst, ein ‚Bewusstsein‘ von sich selbst zu haben (= sich zu ‚wissen‘). Denn die meisten Entitäten scheinen nicht selbstbewusst zu sein. Es ist sogar fraglich, ob man ein Selbst haben kann, ohne ein entsprechendes Selbstbewusstsein. Hat mein Rechner ein Selbst? Oder der Baum vor meinem Fenster? Wer oder was ist das überhaupt – das ‚Selbst‘? Und was ist dieses Bewusstsein, welches man von diesem Selbst hat? Und schließlich: Wer ist es, der ein Bewusstsein von sich selbst hat? Dasselbe Selbst? Oder ein anderes Selbst? Bin ich mit meinem Selbst tatsächlich identisch? Wenn ich nun trotz all dieser Fragen in einem Satz pointiert zum Ausdruck bringen sollte, was aus meiner Sicht das zentrale philosophische Problem des Selbstbewusstseins ist, dann würde ich dieses Problem so formulieren: Wie ist es möglich, dass ein Subjekt sich selbst in seinem Feld der Erfahrung ursprünglich (und dann immer wieder) als sich selbst zu finden und zu erkennen vermag.

Es genügt dabei nicht, dass ich mich einfach wahrnehme und als Seiendes vorfinde. Dies wäre zunächst nur ein reines Objektbewusstsein: Dies-da ist ein Etwas, Subjekt, Mensch, Thorsten Streubel etc. Ich muss zusätzlich erkennen, dass dieses Objekt ‚Ich-selbst‘ bin. Erst dann bin ich selbstbewusst im eigentlichen und basalen Sinne. Dies ist die De-se-Bedingung, die erfüllt sein muss, damit Selbstbewusstsein vorliegt. ‚Sich selbst als sich selbst finden oder erkennen‘ – dies klingt nach einer recht verschrobenen philosophischen Umschreibung einer völlig banalen Angelegenheit, die eigentlich nicht der Rede wert zu sein scheint – geschweige denn tiefgründiger © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2021 T. Streubel, Fundamentalanthropologie, Abhandlungen zur Philosophie, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05766-2_4

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4 Selbst-Bewusstsein

philosophischer Analysen. Aber bedenkt man, dass wir nicht nur Computern und Bäumen, sondern auch den meisten Tieren (selbst wenn wir ihnen Subjektstatus zuerkennen) nicht so ohne Weiteres Selbstbewusstsein zusprechen, dann wird man im ‚Selbstbewusstsein‘ durchaus ein besonderes Phänomen erblicken können. Denn woran erkenne ich eigentlich, dass ich dieser Mensch bzw. dieses Seiende bin und kein anderer bzw. anderes? Nichts an meinem Wesen trägt die Aufschrift: ‚Dies bist Du!‘ Und doch muss es etwas geben, dass die Evidenz zu erzeugen vermag: „Dies bin ‚Ich-selbst‘!“ Was könnte dies sein? Oder anders gefragt: Wie ist Selbstbewusstsein als Bewusstsein des eigenen Selbst als Selbst möglich?

4.2 Die These Ich möchte dafür argumentieren, dass es mehrerer Bedingungen bedarf, um Selbstbewusstsein auszubilden, das heißt, sich selbst als sich selbst zu finden und zu erkennen: 1. Nur ein leibliches Wesen kann Selbstbewusstsein entwickeln. 2. Einem solchen Wesen muss zudem eine Umwelt anschaulich gegeben sein: Es muss also über einen welthaltigen Leib verfügen, d.i. einen Leib von Welt. 3. Der Leib muss sich von der Umwelt auf besondere Weise abheben, nämlich durch eine bestimmte Eigenschaft: die Qualität der Meinigkeit. 4. Ein solches Wesen muss zumindest zu einer basalen Apperzeption fähig sein: zur Unterscheidung von ‚Ich-selbst‘ versus ‚Nicht-Ich-selbst‘. Meine These lautet im Kern: Selbstbewusstsein beruht auf einer Art habitueller Urstiftung: Nämlich auf der Anerkenntnis meines Leib-Körpers als Kernselbst oder ‚Ich-selbst‘. Was ich unter dem Begriff der ‚Anerkenntnis‘ verstehe, werde ich unten an gegebener Stelle noch erläutern.

4.3 Begriffe von Selbstbewusstsein Zunächst möchte ich jedoch verschiedene Arten oder Begriffe von ‚Selbstbewusstsein‘ differenzieren, und erläutern, weshalb ich denke, dass Selbstbewusstsein im eigentlichen Sinne in einem ‚Wissen‘ eines selbstpräsenten leiblichen Subjekts um sich selbst besteht. I. Legt man die Betonung auf den zweiten Part des Kompositums ‚Selbstbewusstsein‘, dann meint Selbstbewusstsein nicht Bewusstsein des eigenen Selbst, sondern Bewusstsein des Bewusstseins. Versteht man unter Bewusstsein etwas sehr Basales, nämlich die erlebnismäßige Präsenz von Selbst und Umwelt, dann würde hier Selbstbewusstsein lediglich darin bestehen, dass die erlebnismäßige Präsenz selbst präreflexiv und unbegrifflich präsent ist. Weil

4.3  Begriffe von Selbstbewusstsein

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Bewusstsein als „lebendige Gegenwart“ (Husserl) selbst bewusst und nicht unbewusst ist, kann auf es aber (sofern dies durch ein theoretisches Interesse motiviert ist) jederzeit reflektiert und es damit auch begrifflich gewusst werden. Dann würde zum basalen Selbstbewusstsein auch noch ein begriffliches Wissen um das eigene Selbstbewusstsein treten, gewissermaßen ein ‚Selbstbewusstseinswissen‘ (oder bescheidener: ein Deskriptionsvorschlag bezüglich des Seins von Bewusstsein). Wenn es ein präreflexives Selbstbewusstsein gibt, von dem die Vertreter der sog. „Heidelberger Schule“ von Dieter Henrich bis Manfred Frank1 auf eine etwas verrätselnde Weise sprachen und sprechen, dann ist es das von Husserl sogenannte Phänomen des „inneren Zeitbewusstseins“ oder besser: der „lebendigen Gegenwart“. II. Diese Form des Selbstbewusstseins ist analytisch streng vom Selbst-Bewusstsein, also dem Bewusstsein des eigenen Selbst als des eigenen Selbst zu unterscheiden, das primär, so die These, ein leibliches Selbst darstellt: SelbstBewusstsein als Einheit von Erleben eines Selbst2 (II‘) und Anerkennen (II‘‘) eines Selbst als Selbst. Dies ist nach meiner Auffassung das eigentliche Rätselphänomen – zumal es auch noch eine konstitutiv-genetische Betrachtung erfordert. Zunächst scheint nur der eigene Leib (im Unterschied zum Körper) mit der besonderen Qualität der Meinigkeit ausgestattet zu sein. Erst dieses Selbstgefühl, so meine These, ermöglicht mir ein apperzeptives Selbst-Bewusstsein und – über die autotaktile Erfahrung – die Eigenkörperkonstitution. Wichtig ist hier jedenfalls vorweg die Unterscheidung zwischen der bloßen (präreflexiven) Präsenz des meinigen Leibes (II‘) einerseits und seiner Auffassung und kognitiven Aneignung als mein Leib bzw. als ‚Ich-selbst‘ andererseits. Erst der aus dieser Aneignung resultierende habituelle Erwerb verdient den Titel eines leiblichen Selbst-Bewusstseins im eigentlichen Sinne (II‘‘).3

1Vgl. hierzu die Ausführungen Franks in Manfred Frank: Präreflexives Selbstbewusstsein. Vier Vorlesungen. Stuttgart 2015: „Selbstbewusstsein, meint Henrich, kann nicht aus der Rückwendung eines Bewusstseins auf sich selbst erklärt werden. Und ‚reflexio‘ meint ebendieses: die Rückwendung eines Bewusstseins auf sich selbst mit dem Erfolg, dass es – vormals seiner unbewusst – seiner nunmehr bewusst ist.“ (27) – Es ist zwar richtig, dass das Bewusstsein und seine momentanen ‚Inhalte‘ mir(!) präreflexiv bewusst sind. Dies ist aber keineswegs ein rätselhaftes Phänomen, sondern erklärt sich aus der Implikationsstruktur der „lebendigen Gegenwart“, die alle vorhergehenden Bewusstseinsgegenwarten und deren ‚Inhalte‘ retentional re-präsentiert. 2Um mögliche Missverständnisse sofort auszuräumen: Vor dem oder unabhängig vom SelbstBewusstsein gibt es m. E. kein „Selbst“. Aber trotzdem muss etwas erlebnismäßig gegeben sein, das zum Selbst im Akt der Anerkenntnis werden kann. Dieses X (z. B. der Leib) ist nicht an sich das Selbst, sondern wird es erst dadurch, dass ich es als Selbst anerkenne. 3Genauer: Vollrealisiertes Selbstbewusstsein besteht zwar in der synchronen Einheit von Anschauung (präsenter Leib) und ‚Begriff‘ (‚Ich-selbst‘). Aber habe ich erst einmal ein Konzept von ‚Ich-Selbst‘ gefasst, dann bedeutet dies einen (durch das Gedächtnis ermöglichten und beständig aktualisierbaren) habituellen Erkenntniserwerb, der sich freilich immer wieder anschaulich einlösen lassen muss, aber nicht mit der Präsenz des meinigen Leibes zusammenfällt bzw. identisch ist.

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4 Selbst-Bewusstsein

III. Selbstbewusstsein als begrifflich-reflexives Wissen eines Selbst von sich selbst: Selbstwissen. Selbstwissen als De-se-Wissen basiert auf einem Dese-Verständnis des Personalpronomens ‚ich‘, und ein solches Verständnis setzt wiederum Selbst-Bewusstsein im Sinne von II‘‘ voraus. Ich muss schon wissen, wer ich unter den vielen möglichen Gegebenheiten bin – ja – ich muss überhaupt wissen, dass ich jemand oder etwas bin, um das Wort ‚ich‘ in seiner eigentlichen Bedeutung verwenden zu können und um hieran (und den Eigennamen) ein biographisches und begriffliches Selbstbewusstsein zu knüpfen. IV. Selbstbewusstsein als Wissen eines Ich (‚Ich‘ hier als Subjekt des Subjekts verstanden) von sich selbst als sich selbst (ein Ich weiß sich selbst als Ich). Das Selbstbewusstsein als Ich-Bewusstsein ist vom Selbstwissen und der Fähigkeit sich als Person zu begreifen, deutlich zu unterscheiden. Ich kann mich selbst als Person begreifen, ohne von einem Ich als Affektions- und Reaktionszentrum und Teilmoment meines Seins zu wissen. Daher referiere ich mit dem Wörtchen ‚ich‘ nicht auf das Ich, sondern auf mein Selbst bzw. auf mich als Menschen oder Person in der Welt. Viele Philosophen leugnen bekanntlich die Existenz eines Ich oder enthalten sich diesbezüglich des Urteils. Hieraus folgt aber nichts für die Frage nach der Existenz oder Nichtexistenz des Ich. Diese vier Arten von Selbstbewusstsein stehen in einem logischen und z. T. auch genetischen Zusammenhang: (I) [= Erleben] und (II‘) [= erlebnismäßige Präsenz des eigenen Leibes] sind zwar normalerweise zugleich realisiert, aber (I) ist die notwendige Bedingung für das Auftreten von (II‘) und dann auch von (II‘‘) [= Anerkenntnis des Leibes und Körpers als Ich-selbst]. (III) [= sprachlich-begriffliches Selbstwissen] setzt dagegen nicht nur (I) und (II) logisch und zeitlich voraus, sondern auch gewisse Sprachkompetenzen, die wiederum eine bereits konstituierte Sprachgemeinschaft zur Bedingung haben. Bei (IV) handelt es sich dagegen, wie bemerkt, um eine philosophische Einsicht, die daher gar kein allgemeinmenschliches Wissensgut darstellt. Warum sollte man nun das eigentliche Rätselphänomen im De-se-Bewusstsein des (leiblichen) Selbst (II“) sehen? Der erste Fall von Selbstbewusstsein (also die präreflexive Präsenz des Bewusstseins) spielt für das faktische Selbstverhältnis von Subjekten zwar eine bedingende Rolle, ist aber nicht im strengen Sinne selbst ein Selbstverhältnis, d.i. ein De-se-Verhältnis eines Subjekts zu sich selbst. Der dritte Fall von Selbstbewusstsein, also die sprachliche (oder denkerische) Selbstbezugnahme auf sich und die Ausbildung eines Selbstbegriffs bzw. eines biographischen Selbstbewusstseins, ist zwar die auffälligste Form eines Selbstverhältnisses. Gleichwohl basiert es m. E. auf einem präprädikativen (aber eben nicht präreflexiven!) Selbstverhältnis und Selbst-Bewusstsein, ohne welches jenes gar kein fundamentum in re hätte und mehr noch: schlichtweg gar nicht möglich wäre. Denn ich muss schon wissen, dass ich etwas oder jemand bin, ja dass ich überhaupt ein Selbst bin, damit ich das Personalpronomen ‚ich‘ angemessen verstehen kann. Ähnliches gilt für die selbstreferenzielle Zeigegeste: Ein Subjekt

4.3  Begriffe von Selbstbewusstsein

73

könnte auf sich zeigen, ohne zu wissen, dass es selbst dieses Subjekt ist. Es zeigte zwar auf sich wie auf ein beliebiges Vorkommnis, aber nicht: als auf sich (also mit dem Bewusstsein, dass der Referent das Subjekt selbst ist). Letzteres ist nur möglich, wenn es bereits darum weiß, dass das, worauf es zeigt, es selbst ist. Hierzu ist ein vorgestisches bzw. präprädikatives Selbstbewusstsein die Voraussetzung. Sprachlich vermitteltes Selbstbewusstsein ist also ohne ein vorsprachliches Selbstbewusstsein unmöglich! Selbst wenn ich gottgleich alles, was es gibt, kennen würde, wüsste ich damit noch nicht, dass ich selbst eines der existierenden Entitäten bin. Ich würde dann zwar wissen, dass dies hier ein Mensch mit dem Namen XY ist. Aber selbst wenn ich auch sonst alles über XY wüsste, wüsste ich damit noch nicht, dass ich selbst XY bin. Zu wissen, dass man selbst XY ist, ist nicht dasselbe, wie zu wissen, dass irgendeine bestimmte Person XY über Selbstbewusstsein verfügt. Daraus, dass ich weiß, dass der Papst über Selbstbewusstsein verfügt, folgt ja nicht, dass ich selbst der Papst bin. Wenn es jedoch um mich selbst geht, dann kann das objektive Wissen, dass diese Person über SelbstBewusstsein verfügt, nicht unabhängig davon sein, dass ich selbst eben selbstbewusst bin. Ich kann aber – im Falle von Amnesie oder Demenz – vergessen haben, dass ich T.S. heiße und bin, und trotzdem über ein leib-körperliches Selbstbewusstsein verfügen. Und das heißt eben: Ich kann immer noch wissen, wer oder was ich unter den Gegebenheiten in meinem Erfahrungsfeld bin, auch wenn ich vergessen habe, wer ich eigentlich bin (im Sinne eines Personenwissens). Daher fundiert vorsprachliches Selbst-Bewusstsein sprachlich vermitteltes Selbstbewusstsein. Kann man also erklären, wie ein vorsprachliches Selbst-Bewusstsein möglich ist, dann stellt ein sprachlich vermitteltes und getragenes Selbst-Bewusstsein kein besonderes Rätsel mehr dar. Ich möchte also zeigen, dass das sprachlich artikulierte Selbstbewusstsein nicht nur de facto auf vorsprachlichen Voraussetzungen (logisch und auch zeitlich) beruht, sondern dass ein vorsprachliches und vorgestisches Selbst-Bewusstsein sogar eine notwendige Bedingung (Bedingung der Möglichkeit) von sprachlichem Selbstbewusstsein darstellt. Damit sprachliches Selbstbewusstsein möglich ist, genügt aber nicht einfach der Rekurs auf ein Selbstgefühl. Denn ein Gefühl als solches stellt noch kein Selbstverhältnis dar, jedenfalls nicht für das Subjekt, welches den gleichsam noch stummen ‚Sinn‘ des Selbstgefühls erst verstehen muss, damit dieses für das Subjekt eine existenzielle Relevanz erhält. Ich fasse zusammen: • Die sprachliche oder gestische Bezugnahme auf mich als auf mich ist nur dann möglich, wenn ich 1. den basalen Gedanken von Selbstsein zu fassen vermag und somit bereits weiß, dass ich überhaupt ein Selbst bin oder habe, und 2., wenn ich weiß, wer unter den mannigfachen Gegebenheiten ich denn selbst bin. (Das ‚Wer‘ fällt hier gewissermaßen mit dem ‚Wo‘ zusammen.) Anders formuliert: Ich muss mich selbst bereits gefunden und als Selbst erkannt (bzw. anerkannt) haben, um auch semantisch (verbal und/oder gestisch) auf mich als auf mich verweisen zu können.

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4 Selbst-Bewusstsein

• ‚Sich-finden‘ ist aber wie gesagt etwas anderes als die bloße Präsenz eines Gefühls (und sei dies auch ein Selbstgefühl). Daher bedarf es eines zwar vorsprachlichen, aber durchaus reflexiven Aktes der Anerkenntnis des eigenen Leibes und Körpers als Selbst. Die durch Anerkenntnis ermöglichte habituelle Stiftung eines Selbstkonzeptes muss zwischen Selbstgefühl und sprachlichgestischer Selbstbezugnahme (und dem darin fundierten biographischen Selbstbewusstsein) vermitteln, da sonst ein sprachliches Selbstverhältnis gar nicht möglich wäre. Ein präreflexives Selbst-Bewusstsein gibt es m. E. somit nicht!

4.4 Der Begriff der Anerkenntnis Wie ist es also möglich, sich selbst als sich selbst zu erkennen? Fragt man zudem genetisch nach der urstiftenden Leistung, die ursprünglich die Selbsterfassung ermöglicht hat, dann fragt man nach einem Zustand, bei dem ein Subjekt noch nicht einmal eine Vorstellung davon hatte, dass ein Etwas ein ‚Ich-selbst‘ sein kann, geschweige, dass es selbst ein Ich-selbst sein kann. Das heißt: Im ursprünglichen Akt der Selbsterfassung muss ein Doppeltes geleistet werden: Ein SichFinden und damit zugleich die Fassung des Gedankens, dass man überhaupt ein ‚Selbst‘ sei, das einem zudem gerade erlebnismäßig gegeben ist. – Man kann sich ja diesen Ursprungsakt nicht so vorstellen, dass man bereits einen Begriff von ‚Ich-selbst‘ hätte und sich mit diesem gleichsam in der Hand auf die Suche nach einem Seienden machte, auf den dieser Begriff zutrifft. Sondern im Sich-Finden geht einem (wie unklar zu Beginn auch immer) zugleich ein Licht auf, dass es nicht nur Vieles gibt, sondern dass man selbst etwas ist, das zudem unter dem, was es gibt, auch vorhanden ist, ohne dass man deswegen sich gleich mit allem identifiziert, was einem anschaulich begegnet. (Vermutlich handelt es sich indessen nicht um einen singulären Urstiftungsakt, sondern um einen sich wiederholenden Aneignungsprozess, bei dem sich Nicht-Selbst und Selbst für das Subjekt immer klarer voneinander sondern.) Die Sachlage verkompliziert sich noch dadurch, dass in Sachen Anerkenntnis zudem die Rechtsfrage zu stellen ist: Inwiefern erfasse ich mich (de se) zu Recht in einem bestimmten Phänomen? Oder muss man sagen, dass unmittelbares Selbstbewusstsein prinzipiell infallibel ist?4 Überlegen wir näher: Leib und Körper sind Teilmomente meines Seins. Die Umwelt ist dies aber ebenfalls. Schon alltagssprachlich spreche ich von meiner Umwelt, meine aber damit nicht, dass die Umwelt ein Teil meines Selbst ist. Die Umwelt wäre also Teil meines Seins, aber

4Unter unmittelbarem Selbstbewusstsein verstehe ich das direkte Sich-finden-Können, was sich z. B. durch eine selbstreferenzielle Zeigegeste bekunden kann. Unter einem mittelbaren Selbstbewusstsein verstehe ich die Identifikation meines Selbst mit einem Individualbegriff. Dass ich mich im letzteren Fall täuschen kann, dürfte unstrittig sein. Aber auch hinsichtlich des ersten Falls sind Täuschungen nicht ausgeschlossen, wie gleich noch gezeigt werden wird.

4.4  Der Begriff der Anerkenntnis

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nicht Teil meines Selbst? Was rechne ich denn normalerweise zu meinem Selbst? – Meinen Körper, meine Leiblichkeit, meine Gedanken, Wünsche, Träume etc. Auch das Ich? – Nein, von einem Ich weiß ich eigentlich nichts. Und solange ich ein solches nicht finde und als Selbst anerkenne, ist es auch nicht Teil oder gar Kern meines Selbst. Nur weil also etwas Teilmoment meines Seins ist, qualifiziert es sich offenbar hierdurch alleine noch nicht dazu, Teil meines Selbst zu sein. Und kann es nicht umgekehrt passieren, dass ich artifizielle Gegenstände als zu meinem Selbst gehörig erfahre? Man denke etwa an den Blindenstock, die Brille oder an das Smartphone. Allerdings fehlt diesen Entitäten etwas Entscheidendes: Ich kann diese Gerätschaften zwar taktil-gegenständlich spüren, ja, vielleicht mit diesen sogar etwas anderes ertasten. Aber ich spüre mich nicht selbst in den Geräten und Hilfsmitteln. Anders scheint es sich mit transplantierten Gliedern zu verhalten, die auch unmittelbar leiblich gespürt und daher ganz anders zum Selbst gerechnet werden als Kontaktlinsen oder sogar Herzschrittmacher und künstliche Hüftgelenke. Es gilt daher folgende Differenzen zu beachten: • Was konstituiert de facto mein Sein? Und was rechne ich demgegenüber vorphilosophisch de facto zu meinem Selbst im engeren Sinne? • Was macht gerechtfertigter Weise mein Selbst aus? Mein gesamtes Sein? Oder nur ein unselbständiger Teilbereich? Bloßes Teilsein scheint noch kein Selbstverhältnis zu begründen. Haben siamesische Zwillinge ein gemeinsames Selbst, solange sie nicht getrennt werden? Zu welchem Selbst gehören dann jeweils die Köpfe der Zwillinge? Ich schlage vor, zwischen bloßem Teilsein und Selbstsein (bzw. Teil des Selbstseins) zu unterscheiden. Hieraus würde folgen, dass etwas ein Teil meines Seins sein kann, ohne deswegen Teil meines Selbst zu sein. Und dies trifft zum Beispiel auf meine Umwelt zu, die Teil meines Seins, aber nicht Teil meines Selbst ist. (Wenn mich jemand dazu aufforderte, auf mich zu zeigen, würde ich immer auf meinen Körper, niemals aber von meinem Körper weg in die Umwelt zeigen.) Selbstsein scheint daher keine rein ontologische Kategorie des (mereologischen) Ansichseins zu sein, sondern zudem auf einen Akt der Anerkenntnis zu beruhen. Das heißt: Nichts ist an sich mein Selbst, sondern wird es erst durch die Konstitution eines Selbstverhältnisses. Ein Selbstverhältnis entsteht aber nur durch einen Akt der Aneignung, der in einer Anerkenntnis von etwas als Selbst terminieren muss. Ich möchte den Akt der Aneignung mit dem stoischen Konzept der ‚Oikeiosis‘ (≈ Zueignung) belegen,5 um darauf aufmerksam zu machen, dass Selbstbewusstsein nicht einfach ein unerklärliches oder ursprungsloses Phänomen ist, sondern auf einem Konstitutionsakt beruht. Ein Tisch beispielsweise hat mehrere Beine und eine Tischplatte. Sie sind seine Teile; durch deren Zusammenfügung ist er als ein besonderes Seiendes entstanden. Gleichwohl hat der Tisch

5Zum Begriff ‚Oikeiosis‘ s. Chr. Horn: Artikel Zueignung (Oikeiosis). In: HWP 12. 2004. 1403– 1408.

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4 Selbst-Bewusstsein

kein Selbst noch ist er eines. Denn er verfügt weder über Bewusstsein noch Selbstbewusstsein. Erst wenn der Tisch seine Teile als Teile seines Selbst anerkennen würde, würden diese zu seinem Selbst und er – der Tisch – selbstbewusst. Man kann also sein, ohne ein Selbst zu sein. Halten wir fest: Anerkenntnis ist der konstitutive Akt, durch den etwas (warum auch immer) als Selbst oder Teil des Selbst aufgefasst wird. Erst durch Anerkenntnis entsteht ein ursprüngliches Selbstverhältnis und damit gewissermaßen auch das Selbst. Anerkenntnis ist kein rein erkennendes Erfassen (einer unabhängig vom Erfassen bestehenden Sachlage), sondern ein konstitutiver Akt, der aber (wie noch zu zeigen ist) eine evidenzielle Grundlage hat: den meinigen Leib. Ich möchte den Begriff der Anerkenntnis als erfassend-konstitutive Selbstaneignung durch vier Merkmale definieren. Anerkenntnis beinhaltet: 1. Einsicht/Erfassung: Dies-hier bin Ich-selbst! (Zugleich: ursprüngliche Bildung der Idee von Selbstsein bzw. Ich-selbst.) 2. Performative Konstitution: Teilmomente des ‚eigenen‘6 Seins werden zum Selbst promoviert. (Zuvor nur Teilsein, nicht Selbstsein.7) 3. Praktische Aneignung des eigenen Leib-Körpers als ‚Urselbst‘ und damit als Grundlage des sprachlich getragenen Selbstbewusstseins (Oikeiosis). 4. Eigenleistung: Anerkenntnis ist nicht wechselseitige Anerkennung: Anerkenntnis ist gewissermaßen eine Eigenleistung eines leiblichen Subjekts und beruht nicht auf einem wechselseitigen (‚intersubjektiven‘) Anerkennungsprozess. Letzterer setzt vielmehr Selbstanerkenntnis schon voraus. Wenn der Akt der Anerkenntnis jedoch kein rein erkennender Akt ist in dem Sinne, dass durch ihn ein an sich bestehender Sachverhalt schlicht erkannt wird (denn nichts ist an sich ein Selbst), dann dürfte zunächst sehr wohl der Verdacht aufkeimen, dass es sich bei diesem Akt um eine willkürliche Setzung handeln könnte. Und sofort taucht die Rechtsfrage wieder auf: Gibt es Kriterien für eine rechtmäßige Zueignung von Phänomenen zum Selbst? Und auf welcher evidenziellen Basis beruht eine solche Zueignung?

6Wenn

Selbstsein erst durch einen Akt der Anerkenntnis konstituiert wird, gibt es ursprünglich eigentlich nichts Eigenes. Da der Akt der Anerkenntnis aber keine creatio ex nihilo bedeutet, sondern nur ein Selbstverhältnis herstellt zwischen einem präexistierenden (u. a. leiblichen) Subjekt zu sich selbst, so ist das ‚eigene‘ Sein vor der Konstitution eines Selbstverhältnisses zwar kein Selbst, das sich irgendwie zu Eigen wäre, aber doch ein Subjekt. Wenn daher von einem „eigenen Sein“ als Grundlage der Anerkenntnis die Rede ist, dann einerseits nur retrospektiv oder ex post und andererseits als Teilsein eines Ganzen, das erst als Selbst noch anerkannt werden muss. 7Da ich davon ausgehe, dass der Akt der Anerkenntnis von einem Ich vollzogen wird, das selbst auch nur ein Moment des ganzen menschlichen Subjekts ist, aber sich selbst zugleich verborgen ist, wird immer nur ein Teil des Subjekts als Selbst anerkannt, nämlich der ganze Mensch abzüglich seiner Umwelt und seines Ich.

4.4  Der Begriff der Anerkenntnis

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Nehmen wir an, mir würde eine neue Hand transplantiert werden. Nach und nach könnte ich die Hand immer besser bewegen und sie auch spüren. Sie wird immer mehr zu einem Teil meines Selbst und das heißt nach dem bisher Gesagten: Ich anerkenne diese Hand auch zu mir gehörig. Tue ich dies zu Recht? Ja, wird man antworten, denn der Akt der Anerkenntnis ist gewissermaßen ein performativer Akt: Indem ich ihn vollziehe, ändert sich die Wirklichkeit – zumindest für mich: Die Hand wird meine (obwohl sie vorher Teil eines anderen Selbst war). Nehmen wir jedoch nun an, dass ich die Hand zwar bewegen kann, aber dass sie taub bleibt, das heißt, ich spüre sie nicht oder doch so, dass sie sich fremd anfühlt. Dies führt dazu, dass ich den Akt der Anerkenntnis verweigere. Zu Recht? Man könnte hierzu wieder sagen: Die (epistemischen) Begriffe von Recht und Unrecht haben hier keine Anwendung. Hiergegen spricht aber, dass ich nicht willkürlich alles Mögliche zu meinem Selbst hinzurechne (und dies auch nicht sollte). Den Körper einer andere Person kann ich nicht gerechtfertigter Weise einfach meinem Selbst zurechnen. Aber auch das bloße Teilsein als solches scheint ein Selbstverhältnis weder zu begründen noch zu rechtfertigen. Würde eine Muschel die Perle, die sie selbst hervorgebracht hat, als Teil ihres Selbst anerkennen, wenn sie hierzu fähig wäre? Betrachten werdende Mütter den Embryo als Teil ihres Selbst (so wie ihren Bauch oder ihre Beine) oder doch nur als vorübergehenden Teil ihres Körpers, gar als Fremdkörper? Und wie steht es mit Krebsgeschwüren: Sie sind gleichsam Fleisch vom eigenen Fleische, das dieses zugleich verzehrt. Rechnen wir ein solches Geschwür zu unserem Selbst? – Ich werde auf diese Fragen gleich zurückkommen. Die feste Verbundenheit mit meinem sonstigen Selbst scheint noch nicht einmal eine notwendige Bedingung dafür zu sein, etwas als zu meinem Selbst gehörig zu empfinden, wie die Gummihandexperimente nahelegen.8 Gleichwohl würde man diesen Übertragungseffekt aber doch die Rechtmäßigkeit in dem Sinne absprechen, als eine vor mir liegende Gummihand definitiv nicht Teil meines Seins und damit auch nicht Teil meines Selbst sein kann. Also ist Teilsein entgegen dem ersten Anschein doch zumindest eine notwendige Bedingung dafür, dass etwas rechtmäßig als Selbst anerkannt wird? – Angenommen dies wäre richtig, dann würde gelten: Alles, was Teil meines Seins ist, kann auch rechtmäßig als Teil meines Selbst anerkannt werden. Aber de facto können eben auch Phänomene als Teile des Selbst anerkannt werden, die nicht Teile meines Seins sind. – Dies geschähe dann zu Unrecht (wie bei der Identifizierung mit Gummihänden). Oder es könnte auch Teilen meines Seins die Anerkennung verweigert werden, weil das Gefühl der Meinigkeit fehlt (wie bei der phänomenalen Umwelt oder transplantierten Gliedmaßen oder auch bezüglich eigener Gliedmaßen in pathologischen Fällen). Geschähe auch dies zu Unrecht? Doch was wäre, wenn ich mich in einem deutlich von mir getrennten Gegenstand spüren würde? Würde ich dann fälschlicherweise mein Selbstbewusstsein

8Siehe hierzu ausführlich Thomas Metzinger: Der Ego-Tunnel. Eine neue Philosophie des Selbst. Von der Hirnforschung zur Bewusstseinsethik. Berlin 2009.

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4 Selbst-Bewusstsein

auf diesen Gegenstand ausdehnen? Schließlich ist er nicht mit mir verbunden. Ob diese Denkmöglichkeit eine echte Seinsmöglichkeit darstellt, kann ich hier nicht entscheiden. Doch angenommen, es wäre möglich, dass man sich in Entitäten spüren könnte, die keinen mereologischen Teil des eigenen Seins darstellten (z. B. in dem Stein vor mir): Würde dann gelten, dass ich rechtmäßig alle Entitäten meinem Selbst zurechnen dürfte, in denen ich mich spürte? Dann würde das Gegenteil vom eben Gesagten gelten. Mereologisches Teilsein wäre dann keine notwendige Bedingung für Selbstsein. Dann wäre die Verteilung des Selbstgefühls die einzige rechtmäßige Grundlage für den Akt der Anerkenntnis. Also da wo ich mich wirklich leibhaftig spüre, bin ich auch. (Oder in Abwandlung eines freudschen Aperçus: Wo Meinigkeit ist, kann Selbst werden.) Nun könnte man die Gummihandexperimente so verstehen, dass ich mich wirklich in den Gummihandschuhen spüre. Mir scheint dies aber auf einer Fehlinterpretation zu basieren. Ich spüre mich nicht wirklich in den Gummihandschuhen, sondern identifiziere lediglich die gesehenen Gummihandschuhe mit dem taktilen Kitzel auf dem Handrücken. Man könnte es sich natürlich einfach machen und beide Bedingungen kombinieren: Rechtmäßige Selbstaneignung durch Anerkenntnis geschieht nur dort, wo etwas mit mir mereologisch verbunden ist und worin ich mich auch spüre. Allerdings hätte diese Kombination den Nachteil, dass ich dann weder Haare noch Nägel meinem Selbst rechtmäßig zurechnen dürfte, da ich mich in diesen Partien nicht spüre. Dann würde es vielleicht genügen, wenn ‚mindestens eine der beiden Bedingungen‘ erfüllt ist? Das würde heißen: Rechtmäßige Selbstaneignung müsste sich entweder auf ein originäres Selbstgefühl stützen oder auf echte Teile meines Seins, oder auf beides. Doch wie steht es dann mit den siamesischen Zwillingen und dem Embryo? Im Falle der siamesischen Zwillinge können zwei verschiedene Subjekte Anspruch auf das jeweils andere Subjekt erheben, da sie ja verbunden und gewissermaßen Teile eines organischen Ganzen sind. Und auch der Embryo ist Teil der Mutter. Doch kann man ein Selbst ‚sein‘ und gleichzeitig durch ein anderes Subjekt als Teil von dessen Selbst nicht nur de facto angesehen, sondern auch rechtmäßig ‚angeeignet‘ werden? – Dies scheint aus den bisherigen Überlegungen zu folgen, auch wenn es sich hier gewiss um schwierige Grenzfälle handelt, die wahrheitstheoretisch vielleicht unentscheidbar sind. Hält man in diesen Fällen eine Selbst-Aneignung aber für gerechtfertigt, dann kann dies freilich nur bis zu dem Zeitpunkt gelten, an dem noch keine Separierung vonstattengegangen ist (Entbindung, Operation).9 Ansonsten könnte man auch sagen: Bei der organischen Verbundenheit zweier Subjekte mag es zwar de facto zu einer selbstbewusstseinsmäßigen Aneignung kommen, aber dies stellt noch kein juridisch relevantes Präjudiz dar. Aus der Verbundenheit zweier Subjekte

9Und wie stünde es im Fall einer nachträglichen Verbindung zweier Organismen wie sie z. B. bei Mäusen längst vorgenommen wurde? Oder muss man stärker zwischen Teilsein und Verbundensein zweier Organismen unterscheiden?

4.5  Der meinige Leib und der nicht-meinige Körper und ihre Anerkenntnis …

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folgt alleine z. B. kein Recht auf Tötung. (Man denke an das Abtreibungsproblem.) Also lässt sich als Ergebnis festhalten: Das Gefühl der Meinigkeit und mereologisches Teilsein begründen gleichermaßen das (epistemische) Recht auf Anerkenntnis einer Entität als (Teil des) Selbst. Dies darf aber gerade nicht als ein das positive Recht bindendes Naturrecht missinterpretiert werden. Mit Hobbes könnte man sagen: Auctoritas, non veritas, facit legem! Oder modern: Was erlaubt oder verboten ist, entscheidet der Gesetzgeber, nicht die Philosophie. – Zumal in Fragen, die epistemisch nicht eindeutig beantwortbar sind. Diese Überlegungen laufen darauf hinaus, dass nichts von dem, was ich (rechtmäßig oder nicht) zu meinem Selbst rechne, notwendig zu meinem Selbst gehört. Im strengen Sinne bin Ich nicht mit meinem Selbst identisch, sondern eben nur mit meinem Ich. Die Identität des Ich über die Zeit hinweg (falls es strenge Identität überhaupt gibt), hängt nicht an der Verbundenheit mit diesem bestimmten Körper. Wache Ich morgen im Körper einer anderen Person oder eines Tieres auf (wie Gregor Samsa), dann kann ich mir diesen neuen Körper als Selbst aneignen, bleibe aber im tiefsten Grunde derselbe. Das Selbst ist also nicht der Kern meiner ‚Persönlichkeit‘, sondern nur dasjenige, wodurch ich mich phänomenal darstelle. Und es ist a priori nicht ausgeschlossen, dass ich mich in verschiedene ‚Selbste‘ gleichsam ‚inkarnieren‘ kann. Nur das Ich (Subjekt des Subjekts) kann ich nicht wechseln, denn ein Wechsel des Ich ist gleichbedeutend mit dem Ende meiner Existenz (s. zum Problem des Ich und seiner Identität Kap. 5). Gehen wir nun von folgender Vermutung aus: Was ich de facto zu meinem Selbst rechne, scheint weder völlig willkürlich zu sein noch ein für allemal festgelegt. Die interessante Frage lautet nun: Wie entsteht ursprünglich SelbstBewusstsein? Wodurch bekundet sich etwas originär als Selbst, so dass ich zu dem Gedanken gelangen kann: Dies bin Ich-selbst. Meine diesbezügliche These lautet: Es ist der als meinig qualifizierte Leib (und zwar in seiner Differenz zum Körper, aber vor allem auch in seiner Differenz zur Umwelt überhaupt), der die evidenzielle Basis und Wurzel des Selbstbewusstseins bildet. Nur ein Subjekt, das einen meinigen Leib besitzt, kann Selbstbewusstsein (Selbst-Bewusstsein im Sinne von II‘‘) ausbilden und erst dadurch auch nicht unmittelbar als meinig qualifizierte Phänomene als zum Selbst gehörig anerkennen (wie den eigenen Körper oder Gummihandschuhe). Genetisch und faktisch hätte daher das Selbstgefühl den konstitutiven Primat (vor dem Teilsein). Ich möchte daher im Folgenden klären, wie erstens auf der Grundlage des präsenten meinigen Leibes Selbstbewusstsein durch einen Akt der Anerkenntnis entsteht. Und wie zweitens auch der ‚eigene‘ Körper als Teilmoment meines Seins zum Eigenkörper als Teil des Selbst werden kann.

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4 Selbst-Bewusstsein

4.5 Der meinige Leib und der nicht-meinige Körper und ihre Anerkenntnis zum Selbst Mein Körper scheint sich zunächst durch nichts von anderen Körpern zu unterscheiden. Doch für mich ist er in mehrerer Hinsicht ein besonderes ‚Ding‘. Nicht nur, dass ich ihn prinzipiell nicht frei umrunden und mich auch nicht von ihm entfernen kann, sondern auch, dass er in Grenzen spontan durch mich frei beweglich ist, unterscheidet ihn von allen anderen Dingen der Welt. Dies alleine qualifiziert ihn aber noch nicht als meinen Körper bzw. als (Teil meines) Selbst. Es stellt sich also die Frage, warum ich ihn nicht für ein bloßes Werkzeug oder einen Avatar halte? Dies würde ich nämlich, wenn ich nicht auch einen Leib hätte. Unter (‚meinem‘) Leib verstehe ich dasjenige Phänomen, das mir zwar unmittelbar gegeben ist, aber im Modus der räumlich-gestalthaften Selbstempfindung. Auch der Leib und seine Regionen sind für mich in Grenzen frei beweglich. Und zudem ist es der Leib, mittels dessen ich den Körper und die Umwelt wahrzunehmen vermag. Das heißt: Der Leib ist im wörtlichen Sinne unsichtbar, so wie Schmerzen, die ja ebenfalls leibliche Phänomene sind, unsichtbar, aber deswegen nicht nichts für mich sind. Mein Leib (oder – weniger verdinglichend gesprochen – meine Leiblichkeit) ist im Unterschied zu meinem Körper jedoch nicht einfach nur ein bloßes Vorkommnis in meinem Erfahrungsfeld, sondern er ist mir vor jedem Akt der Anerkenntnis als meinig gegeben. Ich scheine mich leiblich direkt zu spüren oder zu empfinden. Der Leib ist nicht nur, aber doch auch durch und durch ein Selbstgefühl. Man könnte auch sagen: ‚Leibsein‘ heißt sich selbst kontinuierlich zu spüren (ohne dass man hierauf eigens aufmerksam sein müsste). Aufgrund dieses kontinuierlichen Sich-selbst-Spürens hebt sich der Leib qualitativ von dem ab, was ihn umgibt. Die Umwelt ist zwar meine, aber ich empfinde sie nicht als meinig (als mein Selbst). Ihr fehlt diese Qualität, weshalb ich sie auch nicht als Teil meines Selbst auffasse. Eher noch verliere ich mich selbst – in kosmischen oder „ozeanischen“ Gefühlen des Einsseins mit der Welt – als dass die Qualität der Meinigkeit auf die Welt überfließt. Indem mir diese Differenz von meinigem Leib und nicht-meiniger Umwelt anschaulich gegeben ist, ergibt sich mir die Möglichkeit, mich selbst auch apperzeptiv von der Umwelt zu unterscheiden und gewissermaßen gleichursprünglich eine Idee von Selbst und Nicht-Selbst zu gewinnen, also Selbst-Bewusstsein (II‘‘) auszubilden. Warum ‚gleichursprünglich‘? – Weil der Begriff des NichtSelbst den Begriff des Selbst erfordert und vice versa. Es gibt allerdings eine Traditionslinie, die die Ausbildung von Selbstbewusstsein konstitutiv an die Tasterfahrung bindet. Im Tasten spüre ich nicht nur etwas (z. B. eine raue, kalte Oberfläche), sondern zugleich auch mich: Etwas zu empfinden ist im Tasten korrelativ Sich-Empfinden. Hiergegen lässt sich aber Folgendes sagen: Auch wenn die Tasterfahrung sicherlich die Differenz von Selbst und Nicht-Selbst besonders augenscheinlich und aufdringlich werden lässt, so genügt m. E. die erlebnismäßige Präsenz von meinigem Leib und nicht-meiniger Umwelt überhaupt (die auch bei einem nur sehenden oder nur hörenden Subjekt

4.5  Der meinige Leib und der nicht-meinige Körper und ihre Anerkenntnis …

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gegeben wäre), um Selbstbewusstsein auszubilden. Es bedarf also lediglich dieser allgemeinen aisthetischen Differenz von meinigem Leib und nicht-meiniger Umwelt überhaupt (und nicht speziell der taktilen Differenz), damit ein Subjekt sich selbst finden und Selbstbewusstsein auszubilden vermag. Die aisthetische Differenz ist aber nur die evidenzielle Grundlage für die Ausbildung von SelbstBewusstsein (II‘‘). Es bedarf noch des Akts der Anerkenntnis aufgrund dieser evidenziellen Gegebenheit und damit der Fähigkeit, die basalen Gedanken von Selbst und Nicht-Selbst, zu bilden, um ein vorbegriffliches Selbst-Bewusstsein auszubilden. Wenn ich aber normalerweise ‚ich‘ sage, meine ich damit nicht nur meinen Leib, der mir als besonderes Phänomen auch gar nicht eigens bewusst ist, sondern meine ganze Person, einschließlich meines Körpers. Der Körper und das ‚Bild‘, das ich von diesem ausbilde, ist ein wesentlicher Teil meines Selbst-Bewusstseins; – nicht erst des sprachlich vermittelten Selbstbegriffs, sondern schon vor jedem Spracherwerb und jeder sprachlichen Bezugnahme bei Vorhandensein von Sprachkompetenzen). Wie konstituiert sich nun mein Körper als mein eigener? Die Aneignung des ‚eigenen‘ Körpers als eigenen verläuft – und hierauf hat nicht erst Husserl hingewiesen – über die autotaktile Erfahrung: Indem ich mit einem Leibesteil einen anderen berühre (z. B. mit der rechten Leibhand die linke), präsentieren sich die beiden Partien in ihrer Körperlichkeit und werden zugleich leiblich gespürt. Hierdurch wird es dem erfahrenden Subjekt ermöglicht, den ‚eigenen‘ Körper nicht nur zur Gegebenheit zu bringen (wie das ja auch durch das Sehen geschieht), sondern als eigenen zu erfahren und als eigenen Körper anzuerkennen. Indem Selbstberührungen zudem auch noch visuell beobachtet werden können, wird die Identifikation des taktil erfahrenen Eigenkörpers mit dem gesehenen Körper möglich. Ohne Erleben und meinigen Leib wäre zwar die Eigenkörperkonstitution undenkbar. Dies heißt aber eben nicht, dass Selbst-Bewusstsein als Bewusstsein des eigenen leiblichen Selbst nur durch die Tasterfahrung möglich ist. Hierzu genügt, wie gesagt, die aisthetische Differenz zwischen meinigem Leib und nichtmeiniger Umwelt, wie sie etwa in der visuellen Differenz realisiert wird. Nichtsdestotrotz macht die taktile Erfahrung diese Differenz besonders auffällig und auch affektiv bedeutsam, so dass hierdurch die Konstitution von Selbst-Bewusstsein als De-se-Bewusstsein des eigenen Leibes besonders begünstigt wird. Ein Selbst-Bewusstsein als reines Leibbewusstsein (d.i. ohne Eigenkörperbewusstsein) wäre daher per se möglich. Da Fremdberührung und Selbstberührung zumindest bei uns irdischen Menschen jedoch nicht im zeitlichen Nacheinander vonstattengehen, so scheint mir auch Selbst-Bewusstsein immer Leiblichkeit und Körperlichkeit zugleich zu umfassen. Das heißt, es ist de facto nicht so, dass ich erst den Leib als mein Selbst anerkenne und erst viel später mir auch noch den Körper aneigne, sondern dass es sich hier um eine Art Kokonstitution handelt. Nur der visuelle Körper kann selbstredend erst dann als identisch mit dem ertasteten und zudem als eigener erfahren werden, wenn das Sehen sich aktualisiert und autotaktile Vollzüge beobachtet werden können.

4 Selbst-Bewusstsein

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Ich fasse zusammen: • Die aisthetische Differenz von meinigem Leib und nicht-meiniger Umwelt ist die evidenzielle Basis, die die Anerkenntnis des Leibes als Kernselbst und damit Selbst-Bewusstsein de se ermöglicht. • Das Gefühl der Meinigkeit oder der Leib als Selbstgefühl stellen als solche kein Selbstbewusstsein dar, weder ein präreflexives noch ein reflexives. Selbstbewusstsein ist vielmehr ein Selbstverhältnis und daher per se reflexiv. Selbstbewusstsein als Bewusstsein des eigenen Selbst entsteht vielmehr nur durch Anerkenntnis des eigenen Leib-Körpers als Selbst. • Für den meinigen Leib gilt: Für seine Anerkenntnis als Selbst reicht die allgemeine aisthetische Differenz als evidenzielle Grundlage. (Hierzu bedarf es übrigens nicht der Ausbildung eines eigenen Leibbegriffes; es genügt sich ‚hier‘ zu finden und anzuerkennen.10) • In Bezug auf den Körper spielt dagegen vor allem die Tasterfahrung eine konstitutive Rolle: Die autotaktile Erfahrung, also die Selbstberührung von Leibesteilen durch andere Leibesteile, ermöglicht die Eigenkörperkonstitution und damit die Erweiterung oder Anreicherung des Selbst-Bewusstseins um den eigenen Körper. • Die visuelle Beobachtung der autotaktilen Erfahrung ermöglicht die Konstitution des visuellen Körperselbstbewusstseins (und davon abgeleitet des habituellen Körperselbstbildes). • Es ist begrifflich klar zu unterscheiden zwischen dem Ich als Subjekt des Subjekts und dem Selbst. Da sich hinter dieser Unterscheidung jedoch ein größeres Problem verbirgt, möchte ich auf dieses im nächsten Kapitel näher eingehen.

10Im

leiblichen Selbstbewusstsein wird nicht der Leib als Leib, sondern der Leib als ‚Ich-selbstbin-hier‘ offenbar und aufgefasst. Der Leib als Leib ist eine späte philosophische Entdeckung, was auch als eine Art philosophisches Selbstbewusstsein des Leibes als Phänomen sui generis verstanden werden kann.

Kapitel 5

Identität des Ich

5.1 Ich, Selbst und Selbstbewusstsein Ein Ergebnis der Überlegungen des vorherigen Kapitels war, dass ‚Ich‘ und ‚Selbst‘ begrifflich und sachlich nicht schlicht identisch sein können, da das Ich als reales Subjekt des Menschen („Subjekt des Subjekts“) zu denken ist (unabhängig davon, ob das Ich um sich selbst weiß), während der Begriff des ‚Selbst‘ indes als ein Konstitutionsbegriff interpretiert bzw. konzipiert wurde und damit das Selbst als das gegenständliche Korrelat des Selbst-Bewusstseins (II‘‘) eine Art ätherischer Existenz besitzt. Hiernach ist nichts an sich ein Selbst, sondern wird es erst (zu Recht oder zu Unrecht) durch den Akt der Anerkenntnis von etwas als Selbst, wobei das jeweilige Etwas, das als Selbst anerkannt wird, im Normalfall die anschauliche Grundlage für den Akt der Anerkenntnis darstellt. Das Selbst ist somit nichts anderes als das gegenständliche Korrelat einer Betrachtungsweise: Es ist kein Konstituierendes, sondern ‚nur‘ ein Konstituiertes im Sinne einer (nicht völlig willkürlichen, sondern durchaus evidenzbasierten) Auffassung oder Apperzeption oder Sinnzuweisung von etwas als Ich-selbst. Indem etwas der Sinn ‚Selbst‘ zugewiesen wird, wird es de facto Teil des Selbst. De jure erfolgt diese Sinnzuweisung in Form einer Selbstaneignung aber nicht immer korrekt. Wir hatten zwei mögliche Kriterien der korrekten Selbstaneignung genannt: Teilsein und/oder Sich-in-etwas-Spüren. Beide Kriterien waren jedoch nicht unproblematisch. Denn zum Teil meines Gesamtseins können auch Implantate oder irgendwelche Splitter werden, bei denen eine Zurechnung zum Selbst möglicherweise kontraintuitiv wäre. Und sollte ich mich in einem von mir getrennten Gegenstand spüren, dann müsste ich diesen nach dem zweiten Kriterium rechtmäßig als Teil meines Selbst ansehen dürfen, obgleich es sich vielleicht um eine Gliedmaße einer anderen Person handelt. Sicherlich hängt diese epistemische Rechtsproblematik und ihre mögliche Unlösbarkeit mit dem

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2021 T. Streubel, Fundamentalanthropologie, Abhandlungen zur Philosophie, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05766-2_5

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5  Identität des Ich

Konstitutionsbegriff des Selbst zusammen: dass eben nichts an sich ein Selbst ist und es gerade deswegen keine eineindeutigen Kriterien der ‚richtigen‘ Selbstaneignung gibt. Nur da, wo etwas wirklich getrennt von mir existiert und ich mich zugleich darin nicht spüre, kann man mit Recht sagen, dass es nicht Teil meines Selbst ist, selbst wenn dieses Etwas einst Teil meines Selbst war, wie z. B. ein ausgefallener Zahn, abgeschnittene Haare oder Nägel oder sogar eine abgetrennte Gliedmaße. Natürlich spreche ich dann noch in Eigentumsbegriffen von diesen Dingen (‚meine‘ Haare etc.), ja möglicherweise rechne ich sie de facto eine Zeitlang meinem Selbst zu. Aber je länger die Trennung zurückliegt, desto mehr verblasst das Gefühl der Zugehörigkeit dieser Dinge zu meinem Selbst. Verliere ich einen Finger und wird mir der Finger einer anderen Person angenäht, werde ich diesen fremden Finger nach und nach meinem Selbst zurechnen (nicht notwendig, aber sehr wahrscheinlich dann, wenn ich anfange, mich in diesem Finger zu spüren).1 Da also dem Selbst im Unterschied zu ‚meinem‘ Sein (d.i. das Wesen, das ich unabhängig von jeglichem Selbstbewusstsein bin), eine rein korrelationistische Existenz zukommt und es – das Selbst – also in seiner Existenz abhängig ist von einem Akt der Anerkenntnis und dem dadurch gestifteten habituellen Erwerb des Selbstseins und seiner (gedächtnisgetragenen) Aktualisierung als Korrelat des Selbstbewusstseins, sind die Begriffe ‚Selbst‘ und ‚Sein‘ (dieser Mensch in seinem Sosein existiert) zu unterscheiden. Folglich sind auch die Begriffe ‚Ich‘ (als real-existierendes Subjekt des Subjekts) und ‚Ich-selbst‘ (Selbst) zunächst auseinanderzuhalten. Zusammengehalten werden sie vorerst nur durch den Begriff des Ansichseins dessen, was ich im Akt der Anerkenntnis zu Recht als mein Selbst auffassen kann. Denn Ich und Selbst sind durchaus konstitutiv für das, was ich ab einer bestimmten Entwicklungsstufe konkret bin: ein selbst-bewusster Mensch (= anthropoiales Subjekt-Objekt). Da das Ich jedoch keine Tatsache des Erlebens ist, wird es auch in der Regel nicht als Teil des Selbst anerkannt und diesem zugerechnet. Insofern ist das Ich auch kein Teil des Selbst, wenngleich meines Seins. Das Ich ist vielmehr diejenige Instanz, die wiederholt den Akt der Anerkenntnis vollzieht (und mehr habe ich bisher über das Ich als Akteur und „Subjekt des Subjekts“ nicht gesagt). Das Ich wäre somit auch nicht das wahre Selbst. Denn Selbstbewusstsein ist weniger eine natürliche oder gottgegebene Eigenschaft als ein epistemischer Zustand, der nur besteht, wenn und solange er aufrechterhalten oder ‚konstituiert‘ wird. Selbst-Bewusstsein (und damit das Selbst) könnte man daher theoretisch auch verlieren, indem

1Aus

dieser Argumentation würde folgen, dass die unrechtmäßige Aneignung von etwas als Teil meines Selbst nichts daran ändert, dass dieses Etwas tatsächlich Teil meines Selbst wird. Dies mag man als problematische Konsequenz ansehen. Ich weiß jedoch nicht, wie man diese Konsequenz vermeiden könnte, außer man kehrt zu einem substanzialistischen Selbstbegriff zurück, der noch problematischer ist, da dieser nicht verständlich machen kann, wieso etwas, nur insofern es existiert, auch noch ein Selbst sein kann. Doch wie wäre ein unrechtmäßig angeeigneter Teil des Selbst zu konzeptualisieren und zu benennen? – Als falsches Selbst?

5.1  Ich, Selbst und Selbstbewusstsein

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die früheren Akte der Anerkenntnis vergessen werden und kein neuer Akt der Anerkenntnis mehr möglich ist. – Inwiefern dies eine reale Möglichkeit darstellt, sei hier offen gelassen. Das Sein des Ich ist dagegen von keinem Konstitutionsakt oder Akt der Anerkenntnis abhängig. Das Sein des Ich geht nicht darin auf, das gegenständliche Korrelat eines Ichbewusstseins oder des „Ich denke“ zu sein. Sein Da- und Sosein ist (anders als das des Selbst) nicht Korrelatsein, sondern Ansichsein. Gleichwohl lässt sich hiervon ausgehend eine begriffliche Verhältnisbestimmung vornehmen: So wie alle Teilmomente meines Seins (abgesehen von ihrer Anerkenntnis als Selbst) zwar nicht vom Akt der Anerkenntnis ontologisch abhängig sind und doch als Selbst rechtmäßig anerkannt werden können, so auch das Ich. Das Ich kann, wenn es sich zu finden vermag, als zentrales Moment des vollen Selbstseins aufgefasst und anerkannt werden (was zugleich heißt, dass es das Ich selbst ist, welches sich nicht nur als Ich erfasst, sondern als Teil des Selbst anerkennt). Nichtsdestotrotz sollte man dann trotzdem auf die Qualifikation des Ich als ‚wahres Selbst‘ verzichten, auch wenn sich in dieser Kennzeichnung durchaus eine richtige sprachliche Intuition ausspricht. Diese Intuition streitet aber mit der Sachintuition (Einsicht), dass nichts an sich ein Selbst ist, auch wenn es real existiert und Teil ‚meines‘ Seins ist.2 An sich ist das Ich = Ich. Wenn das Ich sich als existentes zu finden vermag und damit um sich weiß, erlangt es zunächst ein Ichbewusstsein (Selbstbewusstsein IV), das dann wiederum die Voraussetzung bildet, das Ich auch als Teil des Selbst anzuerkennen. Das Selbstbewusstsein IV kann dadurch in das Selbst-Bewusstsein II“ integriert werden bzw. dieses um das Ichbewusstsein erweitern. Wenn wir hier aufgrund der gewonnenen Sacheinsichten und aufgrund von begrifflichen Konsistenzgründen die Gleichung ‚Ich = wahres Selbst‘ ablehnen müssen, was ist das Ich dann? Am besten passt hier die vermeintliche Tautologie Ich = Ich. Sie ist eine nur vermeintliche Tautologie, denn mit ihr soll ausgedrückt werden, dass es mit dem Ich eine besondere Bewandtnis hat, die keiner anderen Entität zukommen kann. Nur das Ich ist auch Subjekt im ausgezeichneten Sinne und als Teil des Menschen oder anderer Subjekte eben ‚Subjekt des Subjekts‘. Man könnte auch sagen, ein Wesen kann

2Vor jeglicher Selbstaneignung bin ich zwar etwas (ein Mensch) und habe ein Ich, aber solange ich im Zustand der Selbst-Bewusstseinslosigkeit verharre, habe ich noch kein konstituiertes Selbst. Das Selbst ist gewissermaßen das als Selbst anerkannte Ansichsein, welches vor der Anerkenntnis (als Selbst) z. T. schon erlebnismäßig gegeben sein kann, aber damit noch kein Selbst ist. So wie einem Tisch oder einem Baum ein Ansichsein, aber kein Selbst, zukommt, nur weil diese an sich existieren. Und auch die Umwelt gehört als Teil meines Erlebens meinem Sein zu, ohne dass ich diese als Selbst anerkenne. Erst wenn ich dies tue (was ein philosophischer Akt ist), wird die Umwelt zum Teil meines Selbst – und zwar gegen die Evidenz, dass ich mich nicht in der Umwelt spüre und sie daher auch normalerweise als Nichtselbst erfahre. Dass die Umwelt ein Teil meines Seins ist, ist eine philosophische Einsicht und in diesem Falle eine stärkere Evidenz als die natürliche, die auf dem Phänomen der Meinigkeit basiert. Einsicht in das Teilsein sticht hier die natürliche Evidenz, die sich nur auf das Selbstgefühl stützt. Damit ist impliziert, dass ich auch den Körper eines anderen Subjekts meinem Selbst zurechnen kann, aber nur die jeweilige Körpererscheinung, nicht jedoch das, was diese repräsentiert: das Ansichsein des anderen (bzw. sein phänomenaler und transphänomenaler Leib).

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5  Identität des Ich

erst dann rechtmäßig als echtes Subjekt (Erlebnissubjekt, Erkenntnissubjekt, Handlungssubjekt etc.) angesprochen werden, wenn es auch ein Ich hat bzw. ist.3 Damit ist zugleich gesagt, dass es mehr gibt als nur ein oder auch eine Vielzahl von Ichen. Isolierte und eigenständige Iche gibt es vermutlich überhaupt nicht, sondern nur als Teilmomente konkreter menschlicher oder nichtmenschlicher Subjekte.4 Und menschliche Subjekte existieren in einem realen Raum und damit in einer Welt. Computer, Roboter oder Androiden mit künstlicher Intelligenz sind keine echten Subjekte, solange sie kein reales Ich besitzen. Und nur diejenigen Entitäten, die auch ein reales Ich haben, können sich wirklich zu eigen im Sinne des Selbst-Bewusstseins II“ werden, denn ohne Ich gibt es niemanden, dem etwas als Selbst zu eigen werden könnte (ohne Ich kein Selbst). Nur wenn ich ein bestimmtes Ich bin, kann ich auch ein bestimmter Mensch (Anthropos) oder allgemeiner: ein bestimmtes Subjekt (Hundesubjekt, Aliensubjekt etc.) sein. Um ein selbstbewusstes Subjekt sein oder werden zu können, müssen also mehrere Bedingungen erfüllt sein: Es bedarf eines phänomenalen meinigen Leibes und als Korrelat des Leibes (als Wahrnehmungsorgans) einer phänomenalen Umwelt, eines Bewusstseins als Erlebens sowie eines Ich-Subjekts, das die aisthetische Differenz überblickt und den Akt der Anerkenntnis vollziehen kann, durch den es Leib und Körper und später höhere Ichakte aneignen, d.i. dem Selbst zurechnen kann.

5.2 Das egologische Mysterium Die Ichproblematik verweist zudem auf das mystische Geheimnis, warum ich dieser Mensch sein musste und kein anderer. Selbst wenn man dereinst bewusste Automaten, Roboter oder Androiden mit (allgemeiner) künstlicher Intelligenz und Erleben erschaffen sollte, so würde diesen Entitäten etwas Entscheidendes fehlen: ein Ich, das sie zu echten Subjekten machen würde. Und die Frage, warum etwas dieser Artefakt und kein anderer sein musste, wäre widersinnig. Denn ohne reales Ich, kann man zwar fragen, wer oder was etwas ‚ins Leben‘ gerufen oder kreiert hat, aber diese Entität kann sich selbst nicht sinnvoll fragen, warum sie gerade diese Entität sein musste und keine andere. Selbst wenn sie diese Frage stellen könnte, wäre sie widersinnig. Denn nur ein Ichwesen kann diese Frage sinnvoll stellen. Warum? Weil ich mit meinem Ich streng identisch bin. Wenn ich mich frage, warum musste ich T.S. sein, dann zielt diese Frage nicht nur darauf ab, zu wissen, warum ich in ein bestimmtes Elternhaus geboren wurde und

3Echte,

lebendige Subjekte sind nicht dasselbe wie Rechtspersonen, die nicht notwendig Subjekte im hier gemeinten Sinne sein müssen. 4Was ‚Gehirne im Tank‘ betrifft, so ist zu sagen, dass diesen bisher nur eine Existenz in Gedankenexperimenten zukommt; und niemand weiß, ob ein solches Szenario jemals realisierbar sein wird.

5.2  Das egologische Mysterium

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dieser konkrete Mensch bin. Denn diese Antwort setzt ja bereits voraus, dass ich dieser konkrete Mensch bin. Aber warum bin ich dieser konkrete Mensch und kein anderer? Hierauf kann man nicht antworten: Weil ich von diesem Vater und dieser Mutter gezeugt wurde. Denn diese Tatsache alleine erklärt nur, wie T.S. zu existieren anfing, nicht aber, dass ich T.S., also dieser bestimmte Mensch, bin. Ich frage hier natürlich nicht, warum ich heiße, wie ich heiße (Antwort: Meine Eltern nannten mich so und der Nachname der Eltern wird i. d. R. auf das Kind übertragen), sondern danach, warum ich dieser Mensch und kein anderer bin. Und hierauf kann man nicht mit der Angabe der biologischen Ursachen antworten. Die Frage nach den Existenzgründen und –ursachen fragt nämlich nicht nach der Identität im angedeuteten Sinne: Warum musste ich T.S. sein und nicht z. B. Putin oder einer meiner Geschwister? Auch wenn es vielleicht auf diese Frage keine befriedigende Antwort gibt, so wirft sie doch ein gewisses Licht auf das ‚Wesen‘ des Ich: Ich kann mich mit allem möglichen identifizieren, aber wirklich ontisch identisch bin ich nur mit mir: dem Ich. Warum ich dieses Ich bin und nicht jenes, darauf wird man wohl keine Antwort finden. Aber deshalb haftet dieser Frage nicht einfach etwas Mysteriöses an, sie ist vielmehr direkt mystisch. Sie ist nicht mystisch in dem Sinne, dass ihr Sinn nicht verstanden werden kann, sondern sie ist mystisch in dem Sinne, als sie Teil der Frage ist, warum die Welt so und nicht anders ist und warum es Subjekte gibt, die ihrer Individualität nur dadurch entkommen können, dass sie zu existieren aufhören. Oder anders formuliert: Nicht dass es etwas und nicht vielmehr nichts gibt, ist das größte Mysterium, sondern dass es Subjekte gibt, die sich zudem auch noch fragen können, warum sie etwa Judas und nicht Jesus sein mussten. Oder noch pointierter gefragt: Warum gibt es nicht nur überhaupt solche Subjekte, die sich derartige Fragen stellen können, sondern auch noch ein ganz bestimmtes Subjekt, das ich selbst bin, mit dem ich im strengen Sinne identisch bin. Für die Welt und die anderen Subjekte würde es keinen Unterschied machen, ob ich mit T.S. identisch bin oder nicht. – Für mich aber sehr wohl! Daher ist das größte Mysterium auch das persönlichste. Es geht hier weder um eine Verhexung des Verstandes durch die Sprache noch um eine widersinnige oder gar sinnlose Frage. Denn erstens kann ich mir alles an mir variabel denken: Körper, Leib, geistige Horizonte und natürlich meine jeweilige Umwelt. Ich kann Beine und Arme verlieren, vielleicht nur noch als „Gehirn im Tank“ existieren – und doch Ich = Ich bleiben. Nur dieses Ich muss ich bleiben (Ich = Ich), sonst bin ich gewissermaßen ‚weg vom Fenster‘, also nicht mehr da – inexistent als letztes Subjekt. Und zweitens macht es, wie gesagt, nur für mich, nicht aber für andere oder die Welt einen Unterschied, ob ich mit diesem bestimmten Ich identisch bin oder nicht. T.S. kann auch mit einer Kopie oder einem variierten Ich immer noch (für sich und alle anderen) T.S. sein. T.S. hätte auch von Anfang an T.S. sein können, auch wenn ich niemals T.S. geworden wäre, weil ich überhaupt nie gewesen wäre. Gleichwohl ist es nicht ausgeschlossen, dass es einst nicht mehr ich bin, der mit den Augen von T.S. in die Welt blickt und sich selbst spürt. T.S. ist dann ein anderer (als ich). Es geht hier somit bei der Frage nach dem Ich und seiner Identität mit mir (der ich genau dieses Ich bin) um Sein oder Nichtsein, Leben oder Tod in einem metaphysischen Sinne.

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5  Identität des Ich

5.3 Die dreifache Identität des Ich Warum musste ich dieser Mensch und dieses Ich sein und nicht ein anderes oder gar keines? Sich den Gehalt dieser Frage deutlich zu machen hilft dabei, sich die Dreideutigkeit der Frage nach der personalen Identität des Ich zu verdeutlichen: (i) Identität von mir mit diesem individuellen Ich (ii) Synchrone Identität des Ich (iii) Diachrone Identität des Ich Die erste Frage ist die eigentlich mystische. Sie verwirrt, denn sie impliziert Identität und Nichtidentität zugleich: Die faktische Identität von mir mit einem realen Ich scheint nämlich nicht notwendig zu sein. Denn außer für mich würde es für niemanden und nichts einen Unterschied machen (außer vielleicht für ein allwissendes Wesen), ob Ich dieses Ich und damit T.S. bin oder nicht. Nennen wir diesen Sachverhalt das egologische Paradoxon der Nicht-/Identität und das hier aufgeworfene Identitätsproblem das Ichmysterium. Die zweite Frage ist dagegen trivial: Gibt es ein reales Ich, dann ist es in einem Augenblick auch mit sich identisch (wenngleich nur ein einziges Ich auch mit mir identisch ist). Jetztsein und Identischsein sind hier konvertible Ausdrücke. Wenn etwas zu tx ist, dann ist es auch mit sich zu tx identisch, was ja wiederum nur heißt: es existiert zu tx. Es ist die dritte Frage, die die eigentlich philosophisch interessante ist, da sie nichttrivial ist und sich anders als die erste Frage doch philosophisch behandeln lässt. Inwieweit sie sich auch beantworten lässt, wird sich zeigen. Jedenfalls soll sie im Zentrum der weiteren Überlegungen stehen. Um Missverständnisse zu vermeiden, sei gleich vorweg darauf hingewiesen, dass es nicht um die Frage geht, wie eine Person im Laufe ihres Lebens aufgrund psychischer Kontinuität eine stabile biographische Identität ausbilden, gar Authentizität oder zumindest so etwas wie Einstimmigkeit mit sich erreichen kann. Diese Frage ist sicherlich eine wichtige Frage und die Literatur hierzu ist unübersehbar geworden. Stattdessen soll es um eine basalere Frage gehen: Inwiefern bin ich jetzt, der ich synchron mit diesem aktuellen Ich identisch bin, auch mit dem Ich zu früheren und späteren Lebensphasen identisch? Könnte es nicht sein, dass dieser konkrete Mensch, den ich im Moment verkörpere, nicht in Zukunft von einem anderen bewohnt wird, weil mein Ich sich verändert hat und somit nichtidentisch mit sich zu einem früheren Zeitpunkt geworden ist? Insofern hängt die dritte Frage doch mit der ersten zusammen. Denn es scheint prima facie nicht so zu sein, dass ich notwendig dieses Ich bin. T.S. könnte (weiter) existieren, ohne dass ich (weiter) T.S. oder weiterhin mit seinem Ich identisch wäre. Beginnen wir zur Klärung dieser Frage nochmal beim Selbstbewusstsein, um die Differenz von austauschbarem Selbst und unvertretbarem Ich zu entwickeln. Austauschbarkeit und Unvertretbarkeit bilden zwar keine logischen Gegensätze (denn auch das Ich ist austauschbar, wenngleich das Selbst umgekehrt nicht unvertretbar ist). Sie eignen sich trotzdem dazu, einen wichtigen Unterschied zwischen ‚Selbst‘ und ‚Ich‘ zu markieren.

5.4  Die Austauschbarkeit des Selbst und die Unvertretbarkeit des Ich

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5.4 Die Austauschbarkeit des Selbst und die Unvertretbarkeit des Ich Konstitution in Bezug auf „Selbst-Bewusstsein“ wurde erläutert als ursprüngliche Anerkenntnis des Leibes und des Körpers aufgrund eines Selbstgefühls („Meinigkeit“), das zwar dasjenige, was mit Leib gemeint ist, nicht vollständig umschreibt, aber doch seine Präsenz grundlegend bestimmt. Der Leib als konkretes Phänomen ist auch ein Selbstgefühl: die Selbstpräsenz als beständiges Sichspüren.5 Auch wenn es denkmöglich ist, dass der Leib auch ohne Selbstgefühl weiterhin als Wahrnehmungsorgan fungieren könnte,6 so würde er erlebnismäßig jedoch nicht mehr als Leib gespürt werden und damit als ‚emotionale‘ Grundlage für Selbstbewusstsein ausfallen. Ob dies eine reale Möglichkeit ist, wage ich hier nicht zu entscheiden. Aber ein Zustand, bei dem ich mich in keinster Weise mehr spüren würde und auch die taktilen Doppelempfindungen wegfielen, wäre enorm verstörend und würde sicherlich als Selbstverlust erfahren werden. In Bezug auf ein basales Selbst-Bewusstsein vertrat ich jedenfalls die These, dass Selbstbewusstsein als Selbstverhältnis de se mehr sein muss als ein bloßes Gefühl, das zwar gewissermaßen ein zeitlich fluktuierender Zustand, aber kein Selbstverhältnis darstellt. Selbstbewusstsein als ein ‚Wissen‘ davon, dass ich nicht nur überhaupt etwas sein kann, sondern dass genau dies hier Ich-selbst bin, ist ein apperzeptives Selbstverhältnis, auf dem dann die sprachliche Selbstbezugnahme aufbauen kann. Genauer: Das Selbst umfasst all das, was vom Ich als sein Selbst anerkannt wird, weil es sich darin selbsthaft spürt (oder weil es erkennt, dass es ein Teil seines Seins ist). Das Ich ist sich selbst dagegen phänomenal originär gar nicht gegeben und spürt sich daher auch nicht, weshalb es sich auch nicht aufgrund eines Selbstgefühls als Teil seines größeren Selbst anerkennen kann. Zunächst kann man eigentlich nur so viel sagen: Gibt es ein Ich, dann wäre ich mit diesem streng identisch: Ich = Ich (unter der Bedingung, dass ich es bin, dem dieses Selbst und die Umwelt originär präsent sind).7 Daher heißt es ‚Ich‘ und nicht ‚Selbst‘. Denn dass ‚Ich = Ich‘ bin, beruht (anders als in dem Fall, dass ich nicht nur mit einem Leib und Körper verbunden bin und diese ‚habe‘, sondern auch bin) nicht auf einem Akt der Anerkenntnis oder einem sonstigen Konstitutionsakt, sondern bezeichnet eine ontologische Sachlage. Oder besser: Aufgrund des Sinns von ‚Ich‘

5Um ein naheliegendes Missverständnis abzuwehren: Wenn hier vom Leib als einem Selbstgefühl gesprochen wird, dann meint dies nicht, dass es doch ein Selbst vor jeder Anerkenntnis gibt. Was es vor jeder Anerkenntnis gibt, ist das Ich, das, zusammen mit den anderen Anthropoialien, ein Ganzes bildet. Und dieses Ich bin Ich, unabhängig von jeglicher Anerkenntnis und jeglichem Selbstbewusstsein. 6Was bliebe vom Leib übrig, wenn er kein Selbstgefühl mehr wäre? – Eigentlich nur noch die spezifische Art und Weise wie mir die Umwelt erscheint (z. B. wäre die visuelle Umwelt weiterhin orientiert auf den Bereich, der körperlich mit der Augenpartie zusammenfällt). 7Man könnte folgern: Gibt es kein Ich, dann gibt es auch mich nicht. Nun gibt es mich aber, also gibt es auch mein Ich, mit dem Ich identisch bin.

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5  Identität des Ich

muss dasjenige, was ‚mein‘ Ich real ist, mehr als ein bloßer Bestandteil meines Seins oder Selbst sein: nämlich dasjenige, ohne welches ich als eigentliches (‚letztinstanzliches‘) Subjekt nicht ‚da‘ wäre bzw. ohne welches Ich ich nicht dieses Subjekt des Subjekts wäre und infolgedessen auch nicht dieser Mensch. Ich bin nicht einfach nur mein Ich, sondern indem Ich = Ich bin, bin ich damit zugleich auch das Subjekt, welches seinen Leib und (mittelbar auch) seinen Körper in der Welt empfindet bzw. erlebt und diese deshalb als Selbst (als leiblichkörperliches Wesen in der Welt) anerkennen kann. Betrachte ich mich ganzheitlich als Subjekt von Selbst und Umwelt und zugleich als Mensch in der Welt, dann kann ich durchaus sagen: Ich habe(!) ein Ich (Ich als konstitutiver Bestandteil). Wenn ich jedoch danach frage, wer das eigentliche Subjekt ist, das sein Selbst und die Welt erlebt, sowie nach dessen diachroner Identität, dann habe ich dieses Ich nicht, sondern bin(!) dieses Ich. Beide Betrachtungs- und Auffassungsweisen sind richtig, auch wenn das Ichsein (Ich = Ich) der ontologisch ursprüngliche Sachverhalt ist. Die Tatsache, dass Ich = Ich bin, beruht zwar, wie gesagt, weder auf einem Gefühl der Meinigkeit (das Ich ist nichts Empfundenes) noch auf einem Akt der Anerkennung. Gleichwohl ist es möglich, zu erkennen, dass ich ein Ich nicht eigentlich habe, sondern bin. Ich als Ich bin es, der erkennen kann, dass Ich etwas und nicht nichts bin. Ich kann mein Ich durchaus auch als Teil meines Selbst anerkennen, wenn Ich mich als Ich gefunden habe. An sich gibt es jedoch eine wichtige Differenz zwischen dem Ich und dem sonstigen Selbst: Das sonstige Selbst ist nämlich etwas, das in diachroner Sicht die strengen Identitätskriterien nicht erfüllen muss (s. u.). Es ist nichts Widersprüchliches in dem Gedanken, dass Ich auch einen neuen Körper als Selbst anerkennen könnte, weil ich mich in diesem spüre. Das gesamte Selbst mit Ausnahme des Ich ist daher austauschbar, während ich doch dabei identisch und dasselbe Subjekt bleiben kann, weil ich weiter dieses bestimmte Ich bin. Wird das Ich ausgetauscht oder verliert es seine Identität, dann bin ich nicht mehr dieser Mensch, weil ich nicht mehr dieses bestimmte Ich ‚verkörpere‘. Mein Ich ist daher unvertretbar, wenngleich wie das übrige Sein bzw. Selbst austauschbar. Das sonstige Selbst dagegen ist vertretbar, ohne dass ich aufhörte dieses bestimmte Ich zu sein! Dabei muss man gar nicht an Gregor-Samsa-Szenarien oder Hirntransplantationen denken. Weder mein jetziger Körper noch mein momentaner Leib sind identisch mit dem Körper und dem Leib meiner Kindheit. Aus Sicht der Fundamentalanthropologie sind sie sogar diachron nie identisch mit sich selbst. Für den Körper würde dies auch aus naturalistischer und biologischer Sicht gelten. Der organische Körper wird hier als lebendes „Ding an sich“ verstanden, welches sich durch beständige Stoffwechselprozesse als Einheit über die Zeit (bis zum Tode) erhält, ohne dass es irgendetwas gäbe, was sich streng identisch durchhält. (Diachrone Einheit und diachrone Identität sind begrifflich nicht identisch.) Selbst der genetische Code ist äußeren Einflüssen ausgesetzt und nicht unveränderlich. Fundamentalanthropologisch betrachtet verschärft sich das Identitätsproblem sogar noch, denn hiernach ist der phänomenale Eigenkörper (der mit den sich als Organismus darstellenden körperlichen Erscheinungen als identisch apperzipierbar ist) nur eine Erscheinung (Repräsentation) und kein Ding an sich. Er ist keine Substanz, sondern nur eine Erscheinungsreihe. Das Gleiche

5.4  Die Austauschbarkeit des Selbst und die Unvertretbarkeit des Ich

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gilt für den Leib. Daher spreche ich auch bevorzugt von Körperlichkeit und Leiblichkeit, um substanzontologische Assoziationen zu vermeiden. Von Identität kann man hier nur in einem synchronen Sinne sprechen: Als Erscheinungen sind Körper und Leib nur in einem abstrakten Zeitmoment mit sich identisch, während sie als kontinuierliche Erscheinungsreihen in einem beständigen Wandel (mit dem Limes der Unveränderlichkeit) begriffen sind und ihre Phasen daher in der Relation der Nichtidentität zueinanderstehen. Sie sind fließende Phänomene, keine unveränderlichen Substanzen und diachron radikal nichtidentisch mit sich selbst. So wie man gewissermaßen nicht zweimal in denselben Fluss steigen kann, kann man auch nicht zweimal denselben Leib oder Körper haben. Man muss hier klar zwischen alltagsprachlichen Identitätszuschreibungen einerseits und Identität im onto-/ logischen Sinne andererseits unterscheiden. Machen wir uns dies an einem Beispiel klar: So kann man beispielsweise sagen, ein und derselbe (identische) Ton bleibe sich über einen bestimmten Zeitabschnitt hinweg gleich oder er werde höher und gewinnt an Lautstärke oder Volumen etc. Nichtsdestotrotz unterscheiden wir zugleich zwischen dem Ton c und anderen Tönen (d, e, f etc.). Je nach Betrachtungsweise können wir daher entweder sagen: ein und derselbe Ton (als temporales Gestaltphänomen) wird höher (Identität); oder: der Ton geht kontinuierlich über in einen anderen Ton (Nichtidentität). Und selbst wenn ein Ton für das Hörerlebnis völlig gleich bliebe, könnte man hier nur von der Einheit eines sich gleichbleibenden Tonkontinuums sprechen, während seine einzelnen (nur abstraktiv) zu fassenden Phasen sich nichtidentisch zu einander verhalten würden. Auch bei völlig gleichem Toninhalt ist der Toninhalt zu t1 ontisch nicht identisch mit dem Toninhalt zu t2. Dies dürfte evident sein. Wem das nicht einleuchtet, dem sei noch Folgendes gesagt: Ein Ton ist normalerweise von begrenzter Zeitdauer. Er kann z. B. für zehn Sekunden erzeugt werden oder auch für zehn Jahre. Zu jedem beliebigen Zeitpunkt könnte der Ton aufhören, zu erscheinen. Wären die einzelnen Tonphasen alle streng identisch (und nicht nur völlig gleich) miteinander, dann gebe es eigentlich gar keine Vielheit oder ein Kontinuum von (transitorischen) Tonphasen, sondern nur eine einzige. Dann gäbe es aber weder den Ton als hörbares Phänomen noch seine Dauer. Nur wenn man die Nichtidentität auch (idealiter) völlig gleicher Toninhalte zu verschiedenen Zeitpunkten anerkennt, kann man verstehen, warum ‚ein und derselbe‘ Ton länger oder kürzer dauern könnte. Denn in Wahrheit erfüllt ein Ton überhaupt nicht die Identitätsbedingungen. Er ist nur als sich aufbauendes und dann zeitlich zurücksinkendes Gestaltphänomen und damit eine Einheit gleicher oder verschiedener, aber eben nicht identischer Phasen. Auch wenn er als Identität aufgefasst wird (und es ist ja auch eine grundlegende Sprachfunktion überall Identitäten zu setzen), ist er doch seiner Seinsweise nach nur eine kontinuierliche Einheit des Erlebens. Und dasselbe gilt für die Phänomene von Leiblichkeit und Körperlichkeit, aber letztlich auch von jedem anderen realen Phänomen, das sich aus kontinuierlichen Phasen aufbaut. Nun ist es prima facie nicht ausgeschlossen, dass auch das Ich nur eine kontinuierliche, aber durch und durch wandelbare Einheit in der (‚objektiven‘) Zeit ist. Sollte dies zutreffen, dann geht in diachroner Hinsicht jedoch nicht mehr die Gleichung Ich = Ich auf, denn dann könnte es sein, dass Ich zu t1 nicht

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5  Identität des Ich

dasselbe Ich bin wie zu t2, ja schlimmer noch: wenn Ich = Ich (t1) war, dann bin ich nicht mehr das Ich zu t2: also Ich ≠ Ich (t2). Und dies hieße: Ich als dasjenige Subjekt, welches das letzte Subjekt des Erlebens und Erfahrens ist, wäre nicht mehr existent und an meine Stelle wäre ein anderes Ich getreten, welches vielleicht aufgrund der weiterhin vorhandenen Erinnerungen nur glauben würde, es seien seine Erlebnisse, die es erinnert, ohne dass es wirklich dabei gewesen ist. Ich könnte mich daran erinnern, wie mein erster Tag als Student an der Universität war, aber dies wäre eine Scheinerinnerung, denn Ich war gar nicht dabei, da Ich (jetzt) und Ich (damals) verschiedene Iche sind. Da die Erinnerung aber in diesem Fall ein Erlebnis erinnert, das wirklich stattgefunden hat, nur dass ich damals nicht das Subjekt des Erlebens war, ohne dies jedoch im Erinnern zu durchschauen, würde ich von meiner kontinuierlichen diachronen Identität überzeugt sein. Die Erinnerung wäre also nicht deswegen eine Scheinerinnerung, weil sie etwas erinnert, was gar nicht stattgefunden hat (auch dies wäre freilich eine Scheinerinnerung), sondern weil sie ein Erlebnis eines anderen Ich auf eine für mich undurchschaubare Weise erinnert. Wäre das Ich durch und durch wandelbar und gäbe es nichts, was sich als Kern-Ich identisch durchhält, dann gäbe es auch keine ‚personale Identität‘ als ontologische diachrone Identität des Subjekts des Subjekts. Da ich hier jedoch den vieldeutigen und umstrittenen Personbegriff meiden möchte, spreche ich im Weiteren nur noch von Ich- oder Subjektidentität, wobei ich mit Subjekt nicht den ganzen Menschen meine, sondern sein Ich, welches das eigentliche Subjekt im Menschen oder eben das Subjekt des Subjekts darstellt. Es gilt nun mehrere Fragen zu beantworten oder zumindest zu klären: 1. Lässt sich die Existenz eines solchen Ich überhaupt nachweisen? 2. Ist dieses Ich diachron ontisch identisch? Und was heißt hier überhaupt ‚Identität‘? Was bedeutet in diesem Zusammenhang ‚Identität‘ im Unterschied zu ‚Einheit‘, ‚Gleichheit‘, ‚Ähnlichkeit‘ etc.? 3. Warum ist die Frage nach der diachronen Identität des Ich philosophisch interessant und vielleicht sogar existenziell bedeutsam?

5.5 Das rätselhafte Ich Zu 1. Existenz und Ort des Ich Dass es ein reales Ich (und nicht nur ein hinzugedachtes Ich) gibt, darf natürlich nicht einfach nur behauptet werden. Man sollte das Ich auch nicht ‚Seele‘ nennen. Denn im Begriff der Seele fehlt gewissermaßen etwas Essentielles: dass nämlich Ich = Ich bin. Wie lässt sich nun die Existenz des Ich, welches ich im strengen Sinne bin, nachweisen? Wenn man auf sein Erleben reflektiert, dann ist einem beständig die aisthetische Differenz präsent: Ich empfinde mich hier, während mir gleichzeitig eine zwar nicht als meinig empfundene, aber doch phänomenal präsente Umwelt

5.5  Das rätselhafte Ich

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gegeben ist, in der auch mein Eigenkörper vorkommt (der allerdings erst durch Aneignung und Anerkenntnis Teil meines Selbst wird).8 Der Eigenkörper wird von mir nur als getastete oder gesehene Oberfläche wahrgenommen. Letztlich nehme ich in der Umwelt immer nur Oberflächen wahr. Selbst Phänomene wie Nebel oder Wasser machen hiervon keine echten Ausnahmen. Nur ein reales ‚Objekt‘ ist mir phänomenal völlig anders gegeben: der eigene Leib. Diesen spüre ich unmittelbar ganzheitlich in seinem ‚Volumen‘, wenngleich meist mit diffusen Grenzen. Er ist das Zentrum meines räumlichen Erlebens, während sich die Welt um meinen Leib als Umwelt konzentriert, wenngleich sie visuell, aufgrund der Anordnung meiner Sehorgane, nur semikonzentrisch originär erscheint. Für mein Raumerleben dehnt sich jedoch die Welt in alle Richtungen gleichermaßen aus. Aufgrund der endlichen Räumlichkeit meines empfundenen Leibes ist ein vollständiges räumliches Jenseits gleichsam mitgesetzt: Ist der Leib nämlich räumlich endlich, gibt es notwendig auch ein räumliches Jenseits des Leibes i.e.S. Der Leib ist das Zentrum meines In-der-Umwelt-Seins und damit zugleich Orientierungszentrum oder „Nullpunkt der Orientierung“ (Husserl). Doch ist der Leib selbst orientiert gegeben und zwar auf ein letztes Zentrum hin, das im Leibkopf lokalisiert ist. So ist die Distanz zu meinen gespürten Augen viel geringer als zu meinen Fußzehen. Ohne dieses letzte Orientierungszentrum könnte mir nicht nur nicht der Leib orientiert gegeben sein, sondern ‚mir‘ wäre gar nichts gegeben, weil ich dann nicht existierte. Ich bin es, auf den hin sich auch noch die Leibesregionen orientieren.9 Daher existiere ich – das Ich – nicht nur überhaupt, sondern lokalisiert im Leibkopf. – Da, wo von außen betrachtet, das Gehirn zu finden wäre. Daher hatte ich in der Kritik der philosophischen Vernunft und auch in anderen Schriften die These vertreten, dass das Gehirn zwar nicht mein Ich, aber doch die phänomenale Erscheinung des Ich sei. Wie bei allen Phänomenen ist das Sein des Gehirns Korrelatsein: Es ist kein Ding an sich, sondern ‚nur‘ eine Tatsache des Bewusstseins und damit in eins ein leibliches Wahrnehmungskorrelat. Rein als solches genommen ist es ein ‚Fastnichts‘. Als Wahrnehmungsinhalt repräsentiert es jedoch zugleich etwas, das nicht wahrgenommen wird und damit das wahre Ding an sich ist: nämlich mein Ich. Mein Ich stellt sich daher für dasselbe oder für ein anderes Ich als materielles Gehirn dar. Für Ich und Gehirn gelten also die folgenden Beziehungen: 1. „Ich ≠ Gehirn“ und 2. „Ich : Gehirn = Ding an sich : Erscheinung“. Eine Einwirkung auf mein Ich stellt sich daher als Einwirkung auf mein Gehirn dar, weswegen eine phänomenale ‚Hirnverletzung‘ drastische Konsequenzen für mich haben kann.

8Im Traum ist es sogar ein selbst nur geträumter Leib, der den Kern meines Traum-Selbst ausmacht. 9Die räumliche Orientierung des Leibes auf das letzte Zentrum hin ist nicht zu verwechseln mit einer perspektivischen Abschattung des Leibes. Im Unterschied zu den Gegebenheiten der Umwelt schattet sich der Leib nicht ab, sondern ist unmittelbar in seiner Ganzheit und seine Regionen nur in den Modi näher oder ferner und ihrer Relationalität gegeben.

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5  Identität des Ich

Für unser Erkenntnisinteresse ist jedenfalls zu konstatieren: Gäbe es mich nicht als Subjekt des Erlebens, als Ich, könnte mir weder der Leib als räumlich verteiltes Selbstgefühl und als gegliedertes Wahrnehmungsorgan bzw. kinästhetisches System räumlich orientiert erscheinen, noch könnte ‚mir‘ überhaupt etwas erscheinen. Auch wäre folgendes Phänomen nicht möglich: Erlebnismäßig ist mir beständig eine Vielzahl von Phänomenen gegeben: leibliche Empfindungen, der Eigenkörper, die Umwelt samt anderer Subjekte, einfallende Gedanken, Störgeräusche, Gerüche etc. Ich bin in der Regel nur auf bestimmte Erlebnisgehalte aufmerksam, während andere Erlebnisgehalte in der Aufmerksamkeitsperipherie verbleiben. Trotzdem ist es möglich, dass ich von Erlebnisgehalten vor jeder attentionalen Zuwendung affiziert werden kann. Im Grunde sind alle Erlebnisgehalte in unterschiedlicher Stärke affiziös oder aufdringlich (mit dem Limeswert 0, aber niemals darunter).10 Gäbe es nur das Erleben samt seiner Inhalte (Leiblichkeit, Körperlichkeit, Umwelt, Mitsubjekte, Gedanken etc.), dann könnte es das Phänomen der Affektion (des Subjekts durch nicht-attentionale Erlebnisgehalte) nicht geben. Denn nur wenn es mich als Ich gibt, kann Ich im Wahrnehmen auch von Gehalten affiziert werden, auf die ich attentional (oder „intentional“) nicht gerichtet bin. Selbst wenn es ohne Ich das Phänomen der Aufmerksamkeit und des Erlebens gäbe (was ich bestreiten würde), gäbe es ohne Ich als Subjekt des Erlebens nichts, was affiziert werden könnte. Etwas (eine Tatsache des Erlebens) affiziert hier etwas anderes (das Ich). Daher muss das Ich als dasjenige existieren, was beständig von allen Tatsachen des Erlebens affiziert wird. Diese Form der Affektion nenne ich daher ‚Ichaffektion‘. Und sie beweist ebenso wie die perspektivische Gegebenheit des Eigenleibes die Existenz des Ich. Das Ich ist als letztes Subjekt des Erlebens und des Leibes zugleich der ‚Sehepunkt‘ und der wahre Nullpunkt der Orientierung (wenngleich aktive Orientierung nur möglich ist, wenn der Nullpunkt nicht isoliert vorkommt, sondern in räumlicher Beziehung zum Leib und zur Umwelt steht). Die Ichaffektion ist zu unterscheiden von den Reaktionen des Ich auf diese Art der Affektion (durch Tatsachen des Erlebens), die sich wiederum phänomenal darstellen können, z. B. als Aufmerksamkeitswechsel, Interesse, Deliberation, Leibesbewegung etc. Jede formale (attentionale) oder materiale Affektion des Erlebens und seiner Inhalte (insbesondere des Leibes) durch das Ich nenne ich Selbstaffektion, wobei hier mit ‚Selbst‘ jedoch nicht nur der Leib i.e.S. gemeint ist, sondern das ganze Erleben samt seiner Inhalte. Ohne Ich gäbe es das Wechselspiel von Ich- und Selbstaffektion nicht, zumal jede Selbstaffektion zugleich zu einer Ichaffektion wird. Reagiere ich auf eine Bewegung in den Augenwinkeln mit einer Kopfdrehung, so affiziert mich diese Leibesbewegung wiederum, insofern diese gespürt wird. – Was nicht bedeutet, dass Ich deshalb der gespürten

10Selbst

wenn Phänomene eine abstoßende Wirkung auf mich haben, müssen sie mich vorher ‚positiv‘, das heißt: wirksam affizieren.

5.5  Das rätselhafte Ich

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Bewegung meine Aufmerksamkeit zuwenden müsste, obwohl sie mich affiziert. Ich bin ja an der visuellen Bewegung in meiner Umgebung (und was es mit ihr auf sich hat) interessiert. Sollte die Kopfbewegung jedoch Schmerzen verursachen, dann werde ich mich sicherlich auch dem Schmerz attentional zuwenden. Zwar verweist nicht das Phänomen des Erlebens und der Aufmerksamkeit unmittelbar auf ein real-existierendes Ich, sehr wohl aber das Phänomen der (Ich-)Affektion und Ichreaktion. Das reale Ich ist eben das „Ich der Affektionen und Reaktionen“ (Husserl). Das Phänomen des letzten Nullpunkts und das Phänomen der Ichaffektion beweisen also die Existenz des Ich, und ersteres verweist zudem auf den Ort des Ich: im Leibkopf. Zu 2. Identität des Ich Aus der Tatsache, dass für dieses Bewusstsein ein reales Ich existiert, folgt jedoch nur, dass ich in diesem Moment mit diesem Ich identisch bin, weil ich es bin, der ich gerade das aktuelle Subjekt meines Erlebens bin bzw. weil ich gerade erlebe. Ich kann mich natürlich trotzdem kritisch fragen, ob ich es bin, der gerade erlebt. Aber solange ich diese Frage stellen kann, habe ich – unter der Voraussetzung, dass überhaupt ein Ich existiert (was jeder für sich selbst herausfinden kann) – auch die Gewissheit, dass ich als dieses Ich, d.i. als dieses Subjekt des Subjekts bzw. als dieses Subjekt des Erlebens, existiere. Man kann eben logischerweise (Satz des zu vermeidenden Widerspruchs) nicht das (existierende) Subjekt des Erlebens sein, ohne zu existieren. Aber die uns hier interessierende Frage lautet nun: Ist dieses Ich, das ich gerade bin, auch diachron notwendig identisch, so dass auch ich mit diesem Ich identisch bin, solange es existiert? Lässt sich diese Frage überhaupt begründet beantworten? Als erstes gilt es, den Begriff der ‚Identität‘ im Unterschied zu Begriffen wie ‚Einheit‘, ‚Gleichheit‘, ‚Ähnlichkeit‘ etc. zu klären. Hierzu scheinen mir einerseits die Überlegungen von Thomas Reid zum Begriff der Identität und andererseits Edmund Husserls Verhältnisbestimmungen der Begriffe Identität, Gleichheit, Ähnlichkeit etc. besonders hilfreich zu sein. Auch wenn Thomas Reid eine Definition des Identitätsbegriffs nicht für möglich hält,11 so benennt er doch drei Kriterien, die etwas erfüllen muss, damit es mit sich als diachron streng identisch bezeichnet werden kann: 1. Ununterbrochene Kontinuität der Existenz 2. Unteilbarkeit 3. Unveränderlichkeit Diese drei Kriterien strenger Identität müssen nun auch in Bezug auf die diachrone personale Identität bzw. Identität des Ich erfüllt sein. Wäre das Ich z. B. in Teilen oder gänzlich veränderlich, dann wäre ein verändertes Ich zu einem bestimmten

11Thomas

Reid: Of Identity. In: Personal Identity (Ed. by J. Perry). Berkeley, Los Angeles, London 1975. 107–112. „If you ask a definition of identity, I confess I can give none.“ (108)

5  Identität des Ich

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Zeitpunkt ty nicht mehr streng identisch mit einem Ich zu einem früheren Zeitpunkt tx. Reid verweist auch darauf, dass die meisten realen Dinge, die wir als identisch auffassen, die Kriterien strenger Identität gerade nicht erfüllen: The identitiy, therefore, which we ascribe to bodies, whether natural or artificial, is not perfect identity; it is rather something which, for the conveniency of speech, we call identity.12

Identitätssetzung ist eine Grundfunktion der Sprache. Aber nicht alles, was sprachlich als identisch gesetzt bzw. aufgefasst wird, ist im strengen logischen und ontologischen Sinne wirklich diachron identisch. Das Problem, das sich hieraus ergibt, besteht darin, dass eigentlich alle realen Entitäten, insofern sie eben real (und nicht ideal) sind, veränderlich und teilbar und damit diachron nichtidentisch mit sich selbst sind. Wenn nun auch das Ich ein reales sein soll, dann kann es womöglich die Kriterien der „perfekten“ oder strengen Identität, die Reid aufstellt, gar nicht erfüllen. Andererseits sind die strengen Kriterien Reids nicht willkürlich, sondern analytisch mit dem Begriff der Identität verknüpft. Und nur diese Kriterien zusammen gewährleisten, wie wir noch sehen werden, die Transitivität von Identitätsrelationen: Wenn (1) Ich* zu t1 mit diesem realen IchT.S. zu t1 identisch bin; und wenn (2) das IchT.S. zu t1 identisch ist mit IchT.S. zu t2, dann gilt auch, dass (3) Ich* zu t2 mit IchT.S. zu t2 identisch bin.

Also: Ich* = IchTS(t1) = IchTS(t2) = Ich*. Sicher, wir sagen solche Sätze wie: ‚Das einst so scharfe Messer schneidet nicht mehr richtig, es ist ganz stumpf. Es muss wieder geschärft werden.‘ Dabei unterscheiden wir das identische Messer scheinbar von seinen veränderlichen Eigenschaften. Aber das Messer ist nichts anderes als die Verbindung aller seiner Eigenschaften (Stücke und Momente). Daher ist die ontische Verabsolutierung der sprachlich-logischen Entgegensetzung von Subjekt und Prädikat im Urteil eine Fehlinterpretation dieser Logik. Ich nenne diese falsche ‚Onto-Logik‘ das Christbaummodell von Ding und (dessen) Eigenschaften: Es gibt hiernach die Substanz (den Baum) und die von dieser Substanz getragenen Eigenschaften (den Schmuck). Dieses Trägermodell lässt sich aber weder durch eine Analyse realer Entitäten noch durch eine logische Analyse der Subjekt-Prädikat-Struktur rechtfertigen. Noch keine Zerlegung (Analyse) realer Entitäten konnte einen reinen Eigenschaftsträger auffinden. Und abstrahiere ich gedanklich von allen Eigenschaften einer Sache, dann bleibt von dieser Sache nichts übrig. Ich habe sie gedanklich vernichtet. Es gibt eben kein nacktes Dasein ohne Sosein. (Weshalb auch niemals eine leere Existenz einem Sosein vorausgehen kann.) Wenn ich das Messer von seinen Eigenschaften unterscheide, dann meine ich in Wahrheit (zumindest vor jeder reflexiven logischen Hermeneutik) nicht ein Zugrundeliegendes X, welches das Messer im Unterschied zu seinen Eigenschaften ist,

12Thomas

Reid: Of Identity. 112.

5.5  Das rätselhafte Ich

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sondern das Messer als Ganzheit, dessen konstituierenden Eigenschaften ich im Urteil explizieren kann.13 In einem strengen Sinne ist es daher nicht richtig zu sagen, das stumpfe Messer sei identisch mit dem früheren scharfen Messer. Trotzdem reden wir im Alltag so, weil wir davon ausgehen, dass sich die restlichen Eigenschaften des Messers (einschließlich des Materials) absolut identisch durchgehalten haben. Aber dies ist gerade nicht der Fall. Wie unsere Apperzeption ontologisch verwirrt werden kann, zeigt das scheinbare Paradoxon von Theseusʼ Schiff: Das Schiff, auf welchem Theseus mit seinen Gefährten nach Kreta gesegelt und glücklich zurückgekommen war, und das dreißig Ruder führte, haben die Athener bis auf die Zeiten des Demetrius von Phaleron aufbewahrt, indem sie immer statt des verfaulten Holzes neues und festes einziehen ließen. Daher pflegten in der Folge die Philosophen bei ihren Streitigkeiten über das Wachstum der Dinge sich immer auf dieses Fahrzeug zu berufen, so dass einige behaupteten, es wäre und bliebe dasselbe Schiff, andere hingegen, es wäre ein ganz anderes.14

Da beides nicht zugleich und in derselben Hinsicht zutreffen kann, muss das Schiff entweder diachron identisch oder nicht-identisch sein. Aus den bisherigen Erörterungen folgt: An sich, das heißt streng ontologisch betrachtet, ist das Schiff nicht mit sich über die Zeit hinweg identisch, obwohl das Kriterium der kontinuierlichen Existenz erfüllt ist; – aber eben nur dieses eine ‚reidsche‘ Identitätskriterium und nicht die beiden anderen. Aber für uns, für unsere Auffassung in pragmatischen Kontexten, kann das Schiff als identisch erscheinen. Und solange man hieraus ontologisch nichts weiter folgert, ist dies auch in einem pragmatischen Sinne unproblematisch. So könnte man sich auch Theseusʼ Schiff gedanklich durch einen modernen PKW ersetzt denken, bei dem ein Autoliebhaber über die Jahre hinweg immer weitere Teile austauscht (ohne dabei jedoch das Auto hoch- oder umzurüsten). Rechtlich werden Besitzer und Auto als identisch geführt, wenngleich beide nach zehn Jahren sicherlich nicht mehr identisch sind. Auch hier also pragmatische (in diesem Falle juristisch-administrative) Identitätsunterstellung bei ontologischer Nichtidentität. Freilich gibt es eine wesentliche Differenz zwischen Menschen (und einigen anderen Lebewesen) und natürlichen und artifiziellen Körpern. Im Unterschied zum Menschen haben Steine, Messer, Schiffe und Autos nämlich (nach allem, was wir wissen) kein Ich. Menschen sind nicht nur die Ganzheit ihrer Teile und Momente, sondern sie sind auch jemand, weil sie ein Ich haben und sind, welches ein echtes Subjekt des Subjekts ist. Das Ich ist freilich nicht der substanzontologische Christbaum, aber doch das eigentliche Subjekt. Es ist Subjekt nicht als Träger oder als ‚Hypokeimenon‘, als Zugrundeliegendes, aber doch als dasjenige Zentrum, das aus einem Lebewesen ein echtes Subjekt macht (ein Subjekt,

13Ich

kann zwar den Schmuck vom Christbaum abnehmen, aber der Baum selbst ist kein nackter (eigenschaftsloser) Träger, sondern die spezifische Verbindung seiner Eigenschaften. Nur als konkretes Ding eignet sich der Baum als Träger des Schmuckes. 14Plutarchs Vergleichende Lebensbeschreibungen Bd.1 (übers. v. Kaltwasser). Leipzig 21921. 36.

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5  Identität des Ich

das ein Kernsubjekt aufweist). Legt man nun allerdings den strengen Identitätsbegriff Reids zugrunde, dann erzeugt man möglicherweise auch für ‚Personen‘ (Ichsubjekte) eine Aporie bezüglich der diachronen Ichidentität. Ich möchte diese Aporie als mögliche begriffliche und sachliche Inkompatibilität von strenger (diachroner) Identität und Realität (Wirklichsein) fassen, die eine strenge diachrone Identität des Ich als unmöglich erweisen könnte. Die Aporie besteht dann darin, dass die diachrone Ichidentität wirklich und doch zugleich unmöglich zu sein scheint – was sich widerspricht. Will man die Aporie auflösen, dann muss man entweder die diachrone Ichidentität leugnen oder zeigen, dass nicht alles Reale teilbar und veränderlich ist. Dass auch die kontinuierliche Existenz definitiv ein unverzichtbares Kriterium für diachrone Identität ist, werden wir ebenfalls noch sehen. Bevor wir uns aber mit der eben formulierten Aporie beschäftigen, soll zuvor der Identitätsbegriff weiter bestimmt werden. Der Begriff der Identität lässt sich weiter negativ durch Abgrenzung zu anderen Begriffen wie Einheit, Gleichheit etc. bestimmen (omnis determinatio est negatio): Jede Identität ist natürlich auch eine Einheit, aber nicht jede Einheit erfüllt die strengen Identitätskriterien. So bleibt etwa eine militärische Einheit auch dann eine Einheit, wenn sie verkleinert oder vergrößert wird oder einzelne Personen ausgetauscht werden. Solche Einheiten können prinzipiell aus veränderlichen und auch austauschbaren Teilen bestehen. Überhaupt ist der Begriff der Einheit ein sehr vieldeutiger. So ist die Einheit von Form und Inhalt eines sinnlichen Phänomens (z. B. Form und Farbe) eine andere als die Einheit eines Sinns oder die Einheit von Sinn und Sinnlichkeit, Wort und Bedeutung oder die Einheit der Gesinnung einer Gruppe von Menschen oder die Einheit eines Staates. Da in Bezug auf unser Thema eine vollständige Auflistung der mannigfachen Bedeutungen von ‚Einheit‘ nicht sonderlich interessant ist, sei hier lediglich darauf hingewiesen, dass in Bezug auf das Ich nicht der Begriff der Einheit fragwürdig ist. Denn existiert das Ich, dann ist es auch eine Einheit (ein Etwas). Selbst wenn sich das Ich teilen könnte, würde dies nur bedeuten, dass am Ende zwei Iche oder zwei halbe Iche als Einheiten existierten. Fragwürdig in Bezug auf das Ich ist nur der Begriff der „perfect identity“. Identität ist auch nicht dasselbe wie Gleichheit – weder begrifflich noch ontologisch. Identität bedeutet in einem absoluten Sinne A = A, also absolute differenzlose ontische Ununterschiedenheit.15 Gleichheit dagegen setzt ontische Zweiheit und damit numerische Differenz voraus. Die Relation der Gleichheit kann nur für zwei verschiedene Entitäten realisiert sein, z. B. zwischen zwei qualitativ oder eigenschaftlich absolut ununterscheidbaren Ein-Euro-Münzen oder zwei völlig gleichen („abstandslosen“) Farbtönen. Idealiter zumindest können sich zwei Münzen völlig gleichen und doch numerisch verschieden sein (Gleichheit als Limeswert). Ja die numerische Verschiedenheit ist eine notwendige Bedingung

15Das

aus der Mathematik stammende Gleichheitszeichen ist eigentlich nicht passend, denn es drückt nur die quantitative Entsprechung, nicht aber die strenge (auch qualitative) ontische Identität aus.

5.5  Das rätselhafte Ich

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für Gleichheit. ‚Ähnlichkeit‘ dagegen ist schon nicht mehr völlige Gleichheit. Sondern hier herrscht ein qualitativer „Abstand“ vor. So sind sich Türkisblau und Königsblau als Blautöne nur ähnlich, aber als reale Farben sind sie weder gleich oder gar identisch. Wie Gleichheit setzt Ähnlichkeit numerische Verschiedenheit, aber auch qualitative Differenz voraus. Unähnlichkeit ist dagegen nur ein relativer Begriff, der eigentlich nichts anderes sagt, als dass zwei Entitäten oder Eigenschaften sehr wenig Ähnlichkeit miteinander aufweisen. So sind zwar Form und Farbe sich sehr unähnlich, aber sie haben doch dies gemeinsam, dass sie eine sinnliche Qualität darstellen. Wie Husserl müssen wir hier jedoch offen lassen, ob es Unähnlichkeit in einem absoluten Sinne gibt: völlige Heterogenität. Bei diesen Begriffsbestimmungen ergibt sich daher ein Problem, wenn man sie auf ein und denselben realen Gegenstand zu verschiedenen Zeitpunkten anwendet. Es ist ja eine gängige philosophische Redeweise, synchrone und diachrone Identität als Gleichheitsrelation in Bezug auf ein und desselben Gegenstand zu verstehen. Gehen wir idealerweise davon aus, dass ein realer Gegenstand G sich zwischen t0 und t1 in keinster Weise verändert und damit natürlich auch kontinuierlich existiert hat. Kann man dann sagen, er sei mit sich diachron identisch geblieben? Wendet man Reids strenge Kriterien an, dann muss man zunächst sagen: absolute Gleichheit von G zu t0 und G zu t1 ist nur eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung von Identität. Sich-gleich-Bleiben (= Unverändertheit) über die Zeit hinweg ist noch nicht einmal dasselbe wie Unveränderlichkeit. Denn Unveränderlichkeit schließt eben jede Veränderung notwendig aus. Und dies setzt nicht nur Unteilbarkeit voraus, sondern auch jede qualitative Unveränderlichkeit aller unselbständigen Teile (Momente). Und dies scheint bei keinem realen Gegenstand gegeben zu sein. Dies hieße, dass kein realer Gegenstand mit sich diachron identisch sein könnte, da er das Kriterium der Unveränderlichkeit und auch das der Unteilbarkeit nicht erfüllte. Reale Gegenstände können daher nur in der Relation der Gleichheit zu sich selbst stehen, weil sie über die Zeit nichtidentisch mit sich selbst sind: At1 ≠ At2 (Lies: At1 ist nicht identisch mit At2, auch wenn abstandslose Ähnlichkeit, d.i. Gleichheit, gegeben ist.) Doch ist die Unterscheidung zwischen faktischer ‚Unveränderung‘ und notwendiger Unveränderlichkeit überhaupt relevant für die Identitätsfrage? Würde es nicht genügen, wenn ein Gegenstand zwischen zwei Zeitpunkten sich völlig gleichgeblieben (unverändert geblieben) ist? – Angenommen wir würden sagen, dass diachrone Gleichheit bei kontinuierlicher Existenz hinreichend für „perfect identity“, also perfekte oder strenge Identität im onto-logischen Sinne, wäre. Dann ergäbe sich das bereits angesprochene Problem, dass ich Identität der Sache setzen würde, obwohl doch die einzelnen (inhaltlich gleichen) zeitlichen Phasen des Gegenstandes nichtidentisch wären. Ich müsste als wieder von einem identitären, gewissermaßen der Zeit enthobenen, Träger ausgehen, der den einzelnen temporalen Phasen des Gegenstandes zugrundeliegt. Und da dieser nicht völlig eigenschaftslos sein kann, da er dann nichts wäre, wiederholt sich das Problem entweder in Bezug auf diesen Träger (und es droht ein unendlicher Regress), oder wir müssen davon ausgehen, dass auch seine Eigenschaften unveränderlich und zeitenthoben sind. Leugnet man die ganze Denkfigur eines ontologischen identitären Trägers, dann würde gelten, dass reale Gegenstände sich

5  Identität des Ich

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über die Zeit nur gleichbleiben und wie numerisch verschiedene Gegenstände in der Relation der Gleichheit, aber nicht in der der diachronen Identität zu sich selbst stehen könnten. Auch ein sich völlig gleichbleibender Gegenstand G wäre also mit sich über die Zeit hinweg nicht identisch, sondern nichtidentisch, selbst wenn er keiner Veränderung unterliegen würde. Er – oder genauer: seine einzelnen temporalen Phasen – stünden (ähnlich wie numerisch verschiedene Gegenstände) dann nur im Verhältnis der Gleichheit zueinander, nicht aber der Identität. Es träfe also für alle realen Gegenstände zu, was wir oben in Bezug auf Töne demonstriert hatten. Man könnte nun versuchen, dieser Konsequenz auszuweichen und doch die alternative Option wählen, indem man für diachrone Identität zwar nicht völlige diachrone Gleichheit fordert, sondern eben nur den einen Identitätskern. Genau um einen solchen geht es ja beim Ich, welches das Identische im Nichtidentischen der Person darstellen soll. Dieselbe Operation könnte man natürlich erneut anwenden, wenn sich herausstellen sollte, dass auch das Ich bestimmten Veränderungen unterliegt. Dann muss es entweder einen identischen Ichkern geben oder personale Identität ist nicht zu retten. Und das führt uns zur oben angesprochenen Aporie zurück, die wir nun auch so formulieren können: Entweder ist das Ich ein durch und durch reales, dann scheint seine diachrone Identität nicht gerettet werden zu können. Oder es ist diachron identisch, dann kann es (oder ein Teil von ihm) nicht real sein. In der philosophischen Tradition wurde das Identische zumeist als Substanz verstanden: als Idee, Eidos, Entelechie, Psyche, Nous poietikos, Materie, Kraft, Energeia, res extensa und res cogitans, Monade, Wille oder eben Ich (letzteres – bei Fichte zumindest – jedoch als Tathandlung). Eine moderne Entsprechung könnten Energie und Materie im physikalischen Sinne oder auch die sogenannten Naturkräfte sein. Könnte nun auch das Ich eine Art sich identisch durchhaltender Naturkraft sein, wie dies bereits Schopenhauer unter dem Titel „menschlicher Wille“ angenommen hat? Das Ich müsste dabei genauso wenig wie die Naturkräfte ewig sein (im Sinne von ‚notwendig existieren‘); es müsste lediglich über eine gewisse Zeitspanne die strengen Identitätskriterien erfüllen, damit die obige Identitätsrelation erfüllt wäre:

Ich* = IchTS(t1) = IchTS(t2) = Ich*. Seit dem Mittelalter ist die Einsicht gereift, dass das Reale durch und durch real ist und kein Amalgam von Realem und Idealem. Tatsächlich lässt sich im Realen nichts Ideales, weder Begriff noch Idee, noch Zahl16 vorfinden. Daher kann die

16Nur

weil man die Wirklichkeit mathematisch beschreiben kann, heißt dies nicht, dass die Wirklichkeit aus Zahlen und Zahlenverhältnissen besteht. Man darf auch die sogenannten primären Qualitäten, die sich direkt quantifizieren lassen (z. B. Ausdehnung), nicht als mathematische, sondern nur als messbare Größen verstehen. (Dies ist das Proton Pseudos Quentin Meillassouxʼ, auf welchem dessen ontologischer Mathematizismus basiert.) Primäre Qualitäten sind reale Qualitäten, die sich ins Verhältnis zu anderen realen Qualitäten setzen und sich deshalb mathematisch beschreiben lassen. Und dies gilt unabhängig davon, ob man Qualitäten korrelationistisch deutet oder nicht.

5.5  Das rätselhafte Ich

101

reale Identität eines Realen nicht in etwas Idealem gesucht werden.17 Und weil das Ideale nicht in gleicher Weise temporal existiert wie das Reale, ist die Frage nach der Identität für ideale Entitäten nicht in gleicher Weise virulent wie für reale Entitäten. Da außerdem die Frage nach dem Da- und Sosein idealer Entitäten in unserem Zusammenhang irrelevant ist, soll sie hier auch weiter keine Rolle spielen. Eine Ontologie des Idealen trägt nichts zur Lösung unseres Problems bei. Unser Problem lässt sich daher auch so stellen: Gilt für das Reale ein universaler Heraklitismus („Alles fließt?“). Oder liegt dem Fließen etwas zugrunde, das die strengen Identitätskriterien erfüllt, so dass gilt, dass nicht alles Reale veränderlich und damit nichtidentisch ist? ‚Heraklitismus‘ würde bedeuten: Es gibt keine Identitäten im strengen Sinne. Alles (reale) Seiende, selbst solches, das sich diachron gar nicht veränderte (was real vermutlich unmöglich ist), wäre nur ein temporales Phasenkontinuum. Man könnte noch nicht einmal diskrete Phasen unterscheiden und als Identitäten ansprechen, da jede Phasen nur im Übergang (transitorisch) existiert und nichts Starres ist. Und in der Tat: Sehe ich mir alte Bilder von mir an, ‚weiß‘ ich zwar um die kontinuierliche Existenz von mir und der abgebildeten Person. Aber ich bin nicht mehr diese Person auf dem Foto, auch wenn alltagssprachlich sowie in moralischen und juristischen Zusammenhängen diese Illusion als eine Art Faktum behandelt und in diversen praktischen Kontexten vorausgesetzt wird. Sollte sich allerdings die diachrone Identität des Ich über ein ganzes Leben begründen lassen, dann könnte sich auch die Praxis der Identitätszuschreibung auf ein ontologisches Faktum gründen. Die Frage nach der Identität der Person ist dabei in erster Linie für Verantwortungs- und Schuldzuschreibungen bzw. Zurechnungsfragen wichtig. Dabei wäre allerdings streng zwischen moralischer und juridischer Schuld und Zurechenbarkeit zu unterscheiden. Nur wenn Ich nicht nur diachron identisch bin, sondern dieses Ich völlig frei oder zumindest dieses Ich das Werk meiner Freiheit (z. B. in Form einer freien Selbstwahl) wäre, könnte ich als Person – vorausgesetzt es gäbe so etwas wie eine letztbegründbare Moral (was ich allerdings negiere) – in einem moralischen Sinne schuldig oder ‚sündig‘ werden. Und wo weder Identität noch Freiheit noch eine letztbegründbare Moral existiert, gibt es auch keine moralische Verantwortung und Schuld. Für rechtliche Schuldzuschreibungen reicht es dagegen, wenn ich (dieser Mensch) Täter meiner Tat bin und damals wusste, was ich tat (bei Sinnen war). Entgegen einem verbreiteten Fehlglauben muss ich nicht frei im Sinne einer absoluten Willensfreiheit gewesen sein, um juristisch belangt werden zu können. Es genügen Täterschaft und „intellektuelle Freiheit“ (Schopenhauer). Das Recht funktioniert hier wie die alte autoritäre Erziehung: ‚Wer nicht hören will, muss fühlen.‘ Auch das moderne Recht ist gewaltförmig (Rechtsgewalt, Staatsgewalt, Gewaltmonopol).

17Die

reale Identität einer realen Sache ist von seiner Spezifik, also seiner Art- und Gattungszugehörigkeit, zu unterscheiden. Die „Identität der Spezies“ (Husserl) ist etwas anderes als die Identität eines Individuums als eines Individuums.

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5  Identität des Ich

Doch bin ich jetzt wirklich identisch derselbe ‚Täter‘ wie vor fünf Minuten, vor fünf Monaten oder vor fünf Jahren? Beruht die juristische Identitätszuschreibung auf einem Faktum oder basiert sie vielmehr auf einer praktisch bequemen Fiktion? Denkt man den Heraklitismus und den ihm immanenten Temporalismus radikal zu Ende, dann müsste man sagen: Ich (diese Person) jetzt, eben und sogleich sind nicht identisch. Meine Identität würde sich völlig in ein transitorisches Phasenkontinuum auflösen. Und dies beträfe auch mein Ich, solange es durch und durch als real, das heißt als veränderlich und/oder teilbar angesehen wird. Da das Ich nicht nur als existierend, sondern als realer und wirksamer Bestandteil meines Menschseins nachgewiesen wurde („Ich der Affektionen und Reaktionen“), scheint dessen diachrone Identität nicht gerettet werden zu können. Man kann den Heraklitismus auch mit einem rein temporalen Argument stützen: Alles, was existiert, muss jetzt (im transitorischen Augenblick oder nunc fluens) existieren. Denn alles, was vergangen ist, ist nicht mehr; und was nicht mehr ist, ist nichts (außer es existiert als Erinnertes in der Erinnerung – aber dann existiert es trotzdem nicht mehr an sich). Dasselbe gilt für Zukünftiges. Solange es nicht wirklich geworden ist, existiert es nicht an sich (höchstens ‚intentional‘ als Erwartetes). Da Nichtseiendes nicht mit Seiendem ontisch identisch sein kann, gäbe es, wenn dieses temporale Argument schlüssig wäre, keine diachrone Identität von Realem. Andererseits bin Ich es doch gewesen, der ich, seit ich denken kann (und vermutlich schon lange davor), immer das Subjekt meines Erlebens war. Ich war es, der z. B. als Kind mit seinen Eltern nach Italien fuhr. Doch woher weiß ich das? Erstens erinnere ich mich lebhaft daran; zweitens gibt es Fotos, die mich als Kind am Strand zeigen; und drittens sprechen auch meine Eltern heute noch manchmal von den Italienurlauben (und dass ich dabei war). Wenn ich aber damals dabei war, dann war ich damals das Subjekt des Erlebens und bin es heute immer noch, so dass gilt, dass Ich heute mit dem damaligen Ich identisch bin (oder zumindest ein Kern-Ich sich identisch erhalten hat). Woher weiß ich aber, dass ich das damalige Subjekt des Erlebens war? Antwort: Weil ich mich daran lebhaft erinnern kann, dass ich es war, der als Kind in Italien war. (Die Fotos und die Aussagen der Eltern stützen dieses Wissen eher als dass sie die Ichidentität begründen könnten.18) Und selbst wenn diese bestimmte Erinnerung eine Scheinerinnerung wäre, ändert das nichts daran, dass ich eine Vielzahl von Erinnerungen an meine Kindheit, an meine Schulzeit, Studienzeit etc. habe. Doch wäre es nicht möglich, wie bereits weiter oben bemerkt wurde, dass diese Erinnerungen (an größtenteils wirkliche Erlebnisse) insgesamt Scheinerinnerungen sind, weil ich eben gerade nicht mit

18Mir

geht es hier nicht um eine allgemeine skeptische Diskussion (die man natürlich auch führen kann), sondern nur um das spezielle Problem von Ichidentität und erinnerter Identität. Ein allgemeiner Skeptizismus könnte etwa den Wahrheitsgehalt der Aussage der Eltern mit unterschiedlichen Gründen anzweifeln; ebenso könnte er den Glauben hinterfragen, dass ich es bin, der auf den Urlaubsbilder zu sehen ist. Ja ein allgemeiner Skeptizismus könnte sogar anzweifeln, dass es überhaupt etwas außer mir gibt oder dass es sich erkennen lässt. Doch diese Diskussion würde zu weit weg von unserem eigentlichen Thema führen.

5.5  Das rätselhafte Ich

103

den damaligen Erlebnissubjekten identisch bin? Die diachrone Nichtidentität des Ich als solche zerstört ja nicht notwendig die Erinnerungsfähigkeit und die damit verbundenen möglichen Erinnerungen. Es geht hier nota bene nicht um die Möglichkeit, dass Erinnerungen durch und durch trügerisch sind, sondern nur um die Frage, ob richtige Erinnerungen an echte Erlebnisse nicht trotzdem Scheinerinnerungen sein könnten, weil sie Ichidentität vorgaukeln, obwohl diese nicht (vielleicht sogar nie) gegeben ist. Ich könnte also aufgrund meiner Erinnerungen nur glauben, ich sei dasselbe Ich wie damals und es seien meine erinnerten Erlebnissen, ohne dass dies der Fall ist und ich dies durchschauen könnte. Ein einigermaßen intaktes Erinnerungssystem könnte durchaus die Illusion von ‚personaler Identität‘ erzeugen, nicht aber diese als reale konstituieren (wie John Locke glaubte). Dies kann man sich an den Teleportationsgedankenexperimenten Derek Parfits klarmachen (ich gebe sie kurz mit eigenen Worten wieder und ziehe zugleich meine Schlussfolgerungen):19 Teleportation 1 Ich werde auf den Mars gebeamt. Technisch bedeutet dies, dass mein Körper vollständig zerstört und hierbei zugleich die Information gewonnen wird, die dazu dient, ein völlig gleiches Double auf dem Mars zu kreieren. Anders als dies Parfit suggeriert, bin ich natürlich dann nicht auf dem Mars, sondern tot, weshalb existenziell gewissermaßen alles auf personale Identität ankommt. Aber das Wesen auf dem Mars glaubt trotzdem, ich zu sein, weil es nicht nur so aussieht wie ich, sondern vor allem auch über ‚meine‘ Erinnerungen verfügt. Es glaubt, es sei damals mit meinen Eltern in Italien gewesen. Es glaubt, T.S. zu sein. Aber ich bin nicht dieses Wesen, denn mich gibt es nicht mehr. Ich wurde ja zerstört. Teleportation oder Beamen bedeutet den sicheren Tod. Und hier wird auch die Richtigkeit des ersten Identitätskriteriums Reids einsichtig: Ohne Kontinuität der Existenz gibt es auch keine Identität. Teleportation 2 Ich werde nicht zerstört, aber ein Klon oder Double wird von mir auf der Erde oder dem Mars hergestellt (zu t0). Der Klon (zu t1) glaubt nun wieder ich, also T.S., zu sein, weil er meine Erinnerungen hat. Das Ich des Klons ist aber nicht mit meinem Ich (und auch nicht mit meinem konkreten Menschsein) identisch, da wir ja zwei numerisch verschiedene Menschen sind. Trotzdem würde nach Locke gelten, dass der Klon als Person aufgrund psychischer Kontinuität mit mir zu t0 identisch ist – und ich wäre natürlich auch mit mir zu t0 identisch. Hierbei wäre aber das Transitivitätskriterium verletzt, das für Identitätsrelationen aus begrifflichen Gründen gilt. Es müsste nämlich gelten: T.S.t0 = KlonT.S.t1 = T.S.t1. Da diese Identitätsgleichung aber aufgrund der numerischen Nichtidentität nicht erfüllt ist, denn es gilt stattdessen: KlonT.S.t1 ≠ T.S.t1, ist personale Identität nicht

19Vgl.

Derek Parfit: Reasons and Persons. Oxford 1984. 199–217.

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5  Identität des Ich

über psychische (erinnerungsgestützte) Kontinuität gewährleistet. Psychische Kontinuität kann also höchsten die Illusion von personaler Identität erzeugen (für den Klon, aber auch für andere), weil echte ‚personale Identität‘ nur die Identität dessen sein kann, womit ich oder jemand anderes streng identisch bin bzw. ist: dem Ich.20 Diese Gedankenexperimente zeigen aber auch, dass ich aufgrund meiner Erinnerungen fest an meine diachrone Identität glauben könnte, obwohl diese gar nicht bestünde. Der Klon in ‚Teleportation 1‘ würde niemals auf die Idee kommen, eine andere Person (bzw. ein anderer Mensch) zu sein als Ich. Es sei denn, er würde die philosophische Erkenntnis erlangen, dass Beamen = Zerstörung = Vernichtung der Person (also dieses Menschen mit diesem Ich) bedeutet, und dass der wahre T.S. damit nicht mehr existiert. Oder weil ich (wie im zweiten Gedankenexperiment) gesund und munter weiterlebe und ihm erklären könnte, dass er keineswegs ich sei, sondern nur meine Kopie. – In beiden Fälle wäre dies vermutlich für die Kopie meiner selbst eine sehr irritierende Situation (die zu einer veritablen Identitätskrise führen könnte), da sich ja alle Erinnerung weiterhin für ihn sehr echt anfühlen und dieser neue Mensch sich an alles Mögliche erinnern würde, was er tatsächlich nie erlebt hat. – Und zwar, weil ich es war, der dies erlebt hat und nicht er! Doch kann ich mir da so sicher sein, dass wirklich ich es war, der das erlebende Subjekt war? Das ist gerade die Frage! Ließe sich nichts Identisches in meinem Ich nachweisen, dann ginge es mir wie dem Klon. Ich würde glauben, all die Erinnerungen seien real (insofern sie jemandes Erlebnisse erinnerten), in Wahrheit wäre dies aber eine Illusion. Denn ich erinnere mich tatsächlich an die Erlebnisse eines meiner ‚Vorgänger-Iche‘. Aber das Schlimmste wäre etwas anderes: Wenn ich nicht mit dem früheren Erlebnis-Ich identisch bin, dann wäre es auch nicht ausgeschlossen, dass Ich im nächsten Augenblick mit dem aktuellen Erlebnis-Ich nicht-identisch werden, also eine Art metaphysischen Tod sterben, könnte. Es ist nun denkmöglich, dass morgen der Mensch T.S. aufwacht, aber ich bin nicht mehr T.S., weil es mich nicht mehr gibt. ‚Ich‘ wäre nun ein anderer (Ich ≠ IchT.S.), weil es keine diachrone Identität gibt. Doch ist dies wirklich ein konsistenter Gedanke? Ich bin jetzt (t1) das reale Ich meines Erlebens. Wäre ich es jetzt (zu t2) nicht mehr, dann wäre ich nicht mehr das Subjekt meines Erlebens. Es scheint sich hier ein Widerspruch aufzutun. Ich bin jetzt bewusst und jetzt immer noch und jetzt immer noch usw. Daher muss ich mich identisch durchgehalten haben. Doch könnte das nicht das Ergebnis der Erinnerungsillusion sein? Andererseits: kann ich wirklich jeden Morgen das sichere Gefühl haben, dass ich auch gestern und vorgestern Morgen hier saß und doch nur einer Erinnerungstäuschung aufsitzen? Genauer: Jedes neue Ich müsste einer Erinnerungstäuschung aufsitzen…

20Stützt

man personale Identität auf einen Erinnerungsbezug, dann gilt noch nicht einmal ‚T.S.(t0) = T.S.(t1)‘, da hier ‚derselbe‘ Mensch diachron betrachtet nicht über dieselben Erinnerungen verfügt, somit nichtidentisch, ja sogar ungleich mit sich selbst ist. Man könnte folglich sagen: Ich als dieser Mensch werde beständig ein anderer.

5.5  Das rätselhafte Ich

105

Nachdem ich mich gestern an dieser Stelle gedanklich im Kreis zu drehen begann, versuche ich heute erneut einen Lösungsweg zu finden. Ich bin mir sicher, dass ich es war, der sich gestern Gedanken über die Identität des Ich gemacht hat und der mit seinen Augen auf diesen Bildschirm vor mir blickte, während er Satz um Satz schrieb. Doch woher weiß ich denn, dass ich mich an mein Erlebnis erinnere und nicht an das (reale) Erlebnis meines Vorgänger-Ich? Es gibt nur zwei Möglichkeiten: Entweder war Ich gestern identisch mit IchTSgestern, oder eben nicht-identisch.21 Ich bin mir sicher, gestern ‚da‘ (also Subjekt meines Erlebens) gewesen zu sein. Wirklich unzweifelhaft bin ich jetzt das Subjekt meines Erlebens. Ich bin wirklich da! Sollte ich morgen nicht mehr dieses Ich sein, dann wäre ich nicht mehr ‚da‘. Nicht Ich würde morgen auf diesen Bildschirm schauen und über das Problem der Identität nachdenken, sondern ein anderes Ich. Doch diese Gedanken lösen das Problem der diachronen Ichidentität wieder nicht. Heute bin ich wieder ‚da‘. Doch kann ich mir nun sicher sein, dass Ich es war, der auch gestern und vorgestern etc. ‚da‘ war? Ich bin mir subjektiv gewiss, kann aber gleichzeitig damit die Möglichkeit der Erinnerungsillusion nicht ausräumen. Aber eines ist sicher: Ich jetzt kann nicht gestern ‚da‘ gewesen sein, wenn ich nicht diachron dreifach identisch geblieben wäre. Ich = IchT.S.gestern = IchT.S.heute = Ich. Das Problem ist, dass die erinnerungsgestützte Gewissheit, dass ich kontinuierlich das Subjekt meines Erlebens war und bin, stets mit dem skeptischen Erinnerungsargument in Frage gestellt werden kann. Die Evidenz der Erinnerung wird nicht durch eine stärkere Gegenevidenz eines vermeintlichen Faktums korrigiert, sondern durch die Denkmöglichkeit in Frage gestellt, dass es sich inhärent um eine Scheinevidenz handeln könnte. Sie wird nicht durchgestrichen und völlig außer Kraft gesetzt und als Scheinevidenz entlarvt, aber doch eines wesentlichen Teils ihrer überzeugungsbegründenden Kraft beraubt. Es scheint hier keinen epistemischen Ausweg zu geben. Andererseits kann es aber auch nicht sein, dass Ich heute und gestern und vorgestern ‚da‘ war, ohne dabei identisch zu sein. Versuchen wir, um dem gedanklichen Zirkel zu entkommen, das Problem gleichsam konditional zu behandeln: Entweder Ich war jeden Morgen dasselbe erlebende und denkende und wahrnehmende Subjekt oder nicht. Im ersten Fall wäre diachrone Identität wirklich und man könnte fragen: Wie ist sie möglich? Im zweiten Fall wäre diachrone Identität nicht wirklich. Dann gäbe es zwar kein interessantes theoretisches Problem mehr, aber ein praktisch-existenzielles. Denn dann könnte mein ichliches Dasein schneller vorbei sein als mir lieb ist. Leider bleibt hier der einzige Trost, dass der diachrone Ichwandel schmerzlos

21Von

hier.

der abstrakten Möglichkeit, gerade als Klon hergestellt worden zu sein, abstrahiere ich

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5  Identität des Ich

verläuft und man die Nichtung der Identität von Ich und Ichxy nicht erlebt. Für Menschen, die am Leben als ‚Dabeisein‘ hängen, ist das freilich nur ein schwacher Trost. Doch hängt die Identität von Ich und IchT.S. wirklich an der Unveränderlichkeit? Man darf ja diese beiden Ichbegriffe nicht einfach als zwei verschiedene Entitäten auffassen, die sich zeitweise vereinigen und dann wieder getrennte Wege gehen. Andererseits lässt sich kein anderer Grund denken, warum ich mit diesem und nicht mit jenem Ich identisch bin. Würde ich mir mein Ur-Ich als eine Art Seele oder Licht vorstellen, das zeitweise ein reales Ich beseelt, sich in diesem inkorporiert (oder wie auch immer man sich diese ‚unio egologica‘ vorstellen möchte), dann wiederholt sich die Frage, warum Ich gerade mit dieser Seele oder diesem Licht identisch bin und mit keiner oder keinem anderen (und das Fragen nimmt dann kein Ende). Auch wenn man die Frage nach der Identität von mir mit einem bestimmten Ich nicht mit der Annahme einer ontischen Dualität zweier Iche beantworten möchte, bleibt es doch höchst rätselhaft, warum ich gerade dieses Ich und kein anderes, ja, warum ich überhaupt mit einem bestimmten Ich identisch sein musste. Geht man von der Einheit des Ich aus, dann könnte man einfach sagen: Da Ich mit dem IchT.S. zu tx identisch war, dieses sich aber in der Zeit veränderte, habe auch Ich mich verändert. Ich bin immer noch mit IchT.S. zu ty identisch. Allerdings gilt dann aber auch, dass Ich dann nicht mehr Ich bin im Sinne der Identität. Wenn Ich aber trotz Veränderung und Nichtidentität identisch das Subjekt des Erlebens sein soll, muss sich dann nicht doch etwas identisch durchgehalten haben? Die Frage lautet also: Könnte ich trotz durchgehender Veränderung trotzdem weiterhin das Subjekt des Erlebens sein, weil Ich immer synchron identisch mit einem bestimmten realen Ich bin und daher zumindest auch diachron mit genau diesem Ich (wenngleich das reale Ich selbst nicht diachron mit sich identisch ist)? Oder ist die dreifache Identität von (1) mir mit dem realen Ich und (2) dem realen Ich mit sich über die Zeit hinweg und (3) der permanenten synchronen Identität von mir mit diesem Ich eine notwendige und hinreichende Bedingung für mein diachrones Dasein und Subjektsein? Ich gestehe, dass ich diese Fragen nicht, jedenfalls im Moment nicht, zu beantworten weiß. Sollte die strenge Identität im dreifachen Sinne eine notwendige Bedingung der Möglichkeit von Dabeisein und Subjektsein sein, dann muss das Ich oder ein Kern desselben die strengen Identitätskriterien erfüllen: Kontinuität der Existenz, Unteilbarkeit und Unveränderlichkeit. Da es möglicherweise nicht nur im Menschen, sondern in der Natur (bzw. in demjenigen, was der phänomenalen Natur zugrundeliegt), konstante Naturkräfte gibt, gibt es vielleicht doch real-metaphysische Größen (Wirklichkeiten), die ähnlich wie ideale Entitäten strenge Identität bewahren können bzw. als streng identische zeitlich erhalten werden. Dies ist jedoch nicht mit Unzerstörbarkeit oder – wie im Falle des Ich – mit Unsterblichkeit gleichzusetzen. „Perfect identity“ ist noch nicht hinreichend für ‚ewiges Leben‘ und damit für ein Leben nach dem biologischen Tod. – Aber möglichweise eine notwendige. Es sei denn man versteht unter ‚Unveränderlichkeit‘ auch ‚Unzerstörbarkeit‘. Dann würde ‚perfekte Identität des Ich‘ auch ‚Unsterblichkeit‘ implizieren.

5.5  Das rätselhafte Ich

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Das Problem der Ichidentität lässt sich jedenfalls so zusammenfassen: Wenn es um mein Dabeisein als Subjekt des Erlebens geht, dann scheint jede Ichveränderung mein diachrones Dabeisein als Subjekt unmöglich zu machen. Oder alternativ: Diachrone Identität des Ich ist keine notwendige Bedingung dafür, dass ich mit einem bestimmten Ich diachron identisch bleiben kann, auch wenn dieses Ich mit sich selbst diachron nicht-identisch ist. (In diesem Fall ist aber unklar, warum eine kurze Unterbrechung meines Seins mein Dabeisein als dieses Ich unmöglich macht, wie es das Teleportationsgedankenexperiment 1 nahelegt.) Auch wenn unsere Überlegungen nun doch aporetisch verlaufen sind, liegt ihr Ertrag immerhin in einem Fortschritt des Problembewusstseins. Auch wenn ich nicht der Meinung bin, dass in der Philosophie die Fragen wichtiger sind als die Antworten, so stellen doch die richtigen Fragen nicht nur bereits einen Erkenntnisfortschritt dar, sondern sie sind echte Bedingungen der Möglichkeit des Weiterforschens. Ob es auf die Identitätsfragen jemals eine befriedigende Antwort geben wird, lässt sich nicht gesichert prognostizieren. Dass die Frage nach der Identität unseres Ich jedoch existenziell bedeutsam ist, dürfte hoffentlich klar geworden sein. Ich möchte zum Abschluss die Gründe hierfür noch einmal kurz zusammenfassen: Zu 3. Existenzielle Bedeutsamkeit Die Frage nach dem Ich und seiner Identität ist aus folgenden Gründen existenziell bedeutsam: (i) Beim Ich geht es um diejenige Entität mit der wir (jedenfalls zeitweise) streng identisch sind. Aber warum mussten wir dieses Ich sein und kein anderes? Warum musste einer Hitler oder Stalin sein und ein anderer durfte Mick Jagger oder Karl V. sein?22 (ii) Was heißt es mit einem bestimmten Ich identisch zu sein? Ist dies nur eine zeitweise Identität oder eine Identität auf Lebenszeit? Könnte ich aus dem Schlaf oder einer Narkose erwachen und doch nicht mehr da sein, weil mein Ich ein anderes geworden ist? Ich wäre tot und niemand würde etwas merken? (iii) Könnte die diachrone Identität vielleicht eine notwendige Bedingung für ein Leben nach dem physischen Tod sein? Gibt es etwas Ewiges im Menschen bzw. im Ich, das die sterblichen Überreste nach dem Tod (oder während des „Nahtodes“) verlassen kann? Abschließende Bemerkung Ein vollständiges ‚philosophisches‘ Selbstbewusstsein würde dann erreicht werden, wenn ich alle Seiten und Momente meines Seins nicht nur als Teile meines Selbst anerkennen, sondern auch in ihrem allgemeinen Da- und Sosein erkennen könnte. Und dies würde mit einer vollständigen Fundamentalanthropologie bezogen auf mein individuelles Sein zusammen fallen. Selbsterkenntnis,

22Um

eine bestimmte Person (oder allgemeiner: ein bestimmter Animant) zu sein, muss ich mit dessen Ich identisch sein. Das Ich macht aus einem Etwas einen ‚Jemand‘ (ein echtes Subjekt).

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5  Identität des Ich

Fundamentalanthropologie und ein vollständiges Selbstbewusstsein würden hier zusammenfallen. Nach den bisherigen Erörterungen dürfte es jedoch eher so sein, dass die Fundamentalanthropologie niemals abgeschlossen ist, zumindest wenn man unter einem Abschluss eine adäquate eidetische Selbst- und Menschenerkenntnis versteht. Denn eine wichtige Einsicht der Fundamentalanthropologie lautet ja, dass der Mensch mehr ist als das, was von ihm in seiner Anschauung erscheint. Der Anthropos ist partiell ein Homo absconditus. Und daher kann er nicht wissen, was ihn im vollen ontologisch-anthropologischen Sinne ausmacht. Aber prinzipiell ist es möglich, das Ich als Teil des Selbst rechtmäßig anzuerkennen, auch wenn das Ich an sich nicht das wahre Selbst ist. Zu unserem Begriff des Selbst gehört es, dass nichts, was als Selbst angeeignet wird, notwendig zu mir gehören muss (dieser Leib, dieser Körper, diese Umwelt etc.). Vom Ich dagegen kann ich nur uneigentlich sagen, dass es zu mir gehört: Da ich mit ihm identisch bin, ist es unvertretbar. Zwar ist nichts an sich mein Selbst. Aber im Unterschied zu allem anderen, kann das Ich nicht wechseln und trotzdem vom selben Subjekt seinem Selbst zugerechnet werden. Ohne Ich wäre ich niemand und nichts und nirgendwo, selbst wenn der Rest ‚von mir‘ weiterbestehen könnte. Bin ich nicht mehr dieses bestimmte reale Ich, dann bin ich auch nicht mehr dieser bestimmte Mensch, wenngleich dieser vielleicht trotzdem weiterexistiert als wenn nichts geschehen wäre.

Kapitel 6

Was ist Geist?

In diesem Kapitel versuche ich, eine differenzierte begriffliche Bestimmung des menschlichen Geistes aus fundamentalanthropologischer Sicht zu geben. Dies soll in drei Schritten geschehen: (1) In einem ersten begriffsklärenden Teil werde ich die Mehrdeutigkeit des Terminus ‚Geist‘ analysieren, um einen möglichst eng umgrenzten und sachadäquaten Begriff des Geistes zu gewinnen. Ich unterscheide dabei unter anderem zwischen dem Geist als einem angeborenen ichlichen Vermögen und den erworbenen geistigen Gehalten. (2) Hieran anschließend gehe ich der Frage nach, inwiefern die geistigen Gehalte intersubjektiv geteilte sind und damit unter die Kategorie des „objektiven Geistes“ fallen, und inwiefern sie individuell verschieden sind. Ich greife dabei Nicolai Hartmanns analytische Unterscheidung von personalem, objektivem und objektiviertem Geist auf. (3) Im letzten Teil widme ich mich der Frage, wie im Anthropos objektiver und subjektiver Geist miteinander interagieren und so begriffliches Denken und Sprechen allererst ermöglichen.

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2021 T. Streubel, Fundamentalanthropologie, Abhandlungen zur Philosophie, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05766-2_6

109

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6  Was ist Geist?

6.1 Begriffsklärungen1 a) Geist als Spirit, Mind und Ratio (i) Der Terminus ‚Geist‘ ist ein mehrdeutiger: Unter ‚Geist‘ kann zunächst ein Prinzip der sinnhaften Weltaneignung, ja der Sinnproduktion überhaupt verstanden werden, welches sich – um mit Ernst Cassirer zu sprechen – in verschiedenen symbolischen Formen und Ordnungen wie dem Mythos, der Sprache, der Religion, der Metaphysik, der modernen Wissenschaft etc. objektiviert. Geist wäre hiernach also einerseits das Vermögen der Sinn- und Symbolproduktion und andererseits die Gesamtheit seiner Produkte: also die verschiedenen Symbolsysteme bzw. der Verweisungszusammenhang der Symbole selbst (der allerdings immer „jemeinig“, also personal gebunden ist). (ii) Man spricht aber auch vom Geist der Tiere im Unterschied zum Geist des Menschen, wobei hier unter ‚Geist‘ auf recht unklare Weise die Verbindung von Subjektivität, Bewusstsein und irgendwelchen kognitiven Kapazitäten gemeint ist, die den Input von außen artspezifisch verarbeiten und einen ebensolchen artspezifischen Output in Form von Reaktionen ermöglichen. Dabei wird bis heute kontrovers diskutiert, ob der Geist der Tiere sich qualitativ vom menschlichen unterscheidet oder ob nicht sogar alle animalischen Spezies einen jeweils artspezifisch verschiedenen ‚Geist‘ besitzen.2 Man könnte die Bedeutungsdifferenz von Geist als einem spezifisch symbolischen oder auch begrifflichen Vermögen und Geist als Intellekt durch die englischen Termini „spirit“ und „mind“ markieren.3 (iii) Außerdem kann man ‚den‘ Geist ‚der‘ Vernunft begrifflich gegenüberstellen, wobei die Vernunft jedoch nicht das völlig andere in Bezug auf den Geist darstellt, sondern vielmehr der Geist (spirit) selbst ist, insofern er entweder in den Dienst der methodisch disziplinierten Welterkenntnis und der Wahrheit (Wissensproduktion) oder auch in den Dienst der praktischen Erreichung bestimmter Zwecke durch adäquate Mittelwahl gestellt wird. Der Sinn von ‚Vernunft‘ kann hier am besten mit dem griechischen „logon didonai“ wiedergegeben werden. Vernunft wäre also die geistige Fähigkeit, Gründe zu finden und angeben zu können: a) zur Untermauerung von

1Es

sei hier darauf hingewiesen, dass Begriffsklärungen geistige Gehalte zum Gegenstand haben. Bei der Frage „Was ist Geist?“ scheint es sich also um eine Selbsterkenntnis des Geistes zu handeln: Der Geist wäre hiernach Erkennendes (Subjekt) und zu Erkennendes (Objekt) in einem. Da das geistige Ich aber nicht mit den geistigen Gehalten identisch ist, sondern ‚der‘ Geist als Subjekt ist, ist es richtiger zu sagen, dass das Ich das Subjekt der Erkenntnis seiner selbst und seiner Leistungen und Produkte (einschließlich der geistigen) ist. 2Man denke hier etwa an die Umweltlehre J. v. Uexkülls (Umwelt und Innenwelt der Tiere. Berlin, Heidelberg 21921.). 3Vgl. die gängige Übersetzung von Hegels Phänomenologie des Geistes als „Phenomenology of Spirit“ und die philosophische Disziplinbezeichnung „Philosophy of Mind“.

6.1 Begriffsklärungen

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Wissensansprüchen, b) für die Wahl und gegebenenfalls zur Rechtfertigung des Einsatzes bestimmter Mittel und c) für die Auswahl und Rechtfertigung bestimmter Zwecke. ‚Geist‘ (spirit) wäre so gesehen in Bezug auf ‚Vernunft‘ eher ein Überbegriff und damit der Begriff für alle sinnstiftenden Leistungen bestimmter Subjekte, die Vernunft wäre dagegen eine bestimmte Erscheinungsform des Geistes, die durch Selbstdisziplinierung desselben zustande kommt.4 Eine paradigmatische Form der Selbstdisziplinierung des Geistes zur Vernunft stellen die diversen wissenschaftlichen Methodologien und die formale Logik dar, aber auch die platonische Dialektik.5 Ich werde im Folgenden unter Geist (im Sinne der obigen ersten Begriffsbestimmung) ausschließlich die Korrelation von Geist als Sinnbildungs- und Sinnaneignungsvermögen und den jeweiligen geistigen Gehalten verstehen, wobei ich den Begriff des geistigen Gehalts mit dem Begriff des Sinns identifiziere, um zwischen Bewusstseinsgehalten im Allgemeinen und genuin geistigen Gehalten im Besonderen unterscheiden zu können. Um nun den Begriff des Geistes als Sinnstiftungs- bzw. Sinngenerierungsvermögens (spirit) weiter zu konturieren, bietet es sich an, diesen von den Begriffen des Bewusstseins, des Intellekts und der Intelligenz abzugrenzen – und das bedeutet, den Begriff des Geistes als Mind (ii) in seine begrifflichen Bestandteile zu zerlegen, um dann vollends auf ihn als Begriff einer vermeintlich einheitlichen Entität zu verzichten. Das hat auch

4Genauer: Der Vernunft geht ein Willen zur Vernunft voraus – und dieser Wille zur Vernunft wiederum wird durch ein spezifisches theoretisches oder praktisches Interesse motiviert. Das theoretische Interesse kann im Dienste eines praktischen stehen oder es kann ein direktes Interesse am Wissen als Selbstzweck sein. Die emotionale Grundlage dieses Willens zum Wissen kann in der Verwunderung (admiratio) erblickt werden (vgl. René Descartes: Les Passions de l’Ame. Art. 53), die letzte anthropologische Grundlage dürfte aber eine ichlich-charakterliche sein (die sich freilich nur unter bestimmten sozioökonomischen Voraussetzungen entfalten kann). Die Grundlage des praktischen Interesses besteht in erster Linie im Interesse an der Selbsterhaltung, Selbststeigerung und dem eigenen Wohlleben, kann aber auch andere Triebfedern haben, je nach der Wertordnung (ordo amoris) des jeweiligen Subjekts und der jeweiligen Subjektgemeinschaft. Der Mensch (soweit wir ihn kennen) ist ein wertexzentrisches Wesen, das heißt, er kann sein Herz an alle möglichen ‚Dinge‘ oder Projekte hängen, die nicht mit ihm und seiner Selbsterhaltung und seinem Wohlbefinden schlicht identisch sind. So setzen sich Menschen für das Wohl anderer Menschen oder ‚Tiere‘, für den Erhalt des Regenwalds, für das Klima etc. ein, ohne dass der letzte (geheime) Zweck immer das eigene Wohlbefinden wäre. (Eine Behauptung, die allerdings kaum apodiktisch beweisbar sein dürfte, sondern nur durch den Umgang mit Menschen eine gewisse Evidenz erhält.) Nur wer sich nie wirklich ernsthaft mit den eigenen Motivationen und denen anderer beschäftigt hat, wird der unterkomplexen und m. E. falschen These anhängen, dass die einzige Triebfeder des menschlichen Strebens und Handelns der Egoismus sei. 5Darüber hinaus spricht man auch vom Geist bestimmter Sinngebilde und Epochen (‚Geist der Gesetze‘, ‚Geist der Aufklärung‘ etc.). Diese Begriffsverwendung verweist auf das Problem des objektiven Geistes, dem ich im zweiten und dritten Teil dieses Kapitels nähere Überlegungen widme. Außerdem spricht man vom Geist im Sinne von ‚Gespenst‘. Letztere Bedeutung ist für meine Überlegung irrelevant.

112

6  Was ist Geist?

zur Konsequenz, die Rede vom „Geist der Tiere“ im Unterschied zum Geist des Menschen konsequenterweise aufzugeben (insofern auch in Bezug auf ‚die‘ Tiere das sachlich inadäquate Konzept ‚Mind‘ angewendet wird). Zudem werde ich im Folgenden den Begriff des Tieres destruieren und zugleich den Begriff des Menschen differenzieren. b) Geist versus Bewusstsein, Intellekt und Intelligenz Unter Bewusstsein verstehe ich im Folgenden lediglich die erlebnismäßige Präsenz von Selbst und Umwelt für ein Subjekt einschließlich der Präsenz aller erscheinenden mentalen Vollzüge (falls vorhanden). Dieses Subjekt kann über ein angeborenes Verhaltensrepertoire (Instinkt), assoziatives Gedächtnis und triebhafte Intelligenz verfügen, aber der Fähigkeit der Begriffs- und Symbolbildung entbehren. Ein solches Subjekt ist weder Geist (spirit als Vermögensbegriff) noch hat es Geist (spirit als Struktur- und Prozessbegriff).6 Es verfügt zwar über einen Intellekt, wenn es zu intelligenten Leistungen fähig ist, aber nicht über Geist als Symbol-, Sinnbildungs- und Begriffsvermögen. Intelligenz zeigt sich zunächst einmal in gelingenden Problemlösungen, also in einem bestimmten Verhalten in einer bestimmten Situation. Hierbei kann ‚Geist‘ beteiligt sein, muss es aber nicht. Zudem muss zwischen dem intelligenten Verhalten und dem ‚Wie-es-für-das-Subjekt-ist‘, intelligent zu sein, unterschieden werden. Weder intelligente noch geistige Leistungen müssen dem Subjekt im Erleben vollständig gegeben sein. Max Scheler definiert daher Intelligenz zunächst als „intelligentes Verhalten“: Ein Lebewesen ‚verhält‘ sich intelligent, wenn es ohne Probierversuche […], ein sinngemäßes – sei es ‚kluges‘, sei es das Ziel zwar verfehlendes, aber doch merkbar anstrebendes, also ‚törichtes‘ – Verhalten neuen, weder art- noch individualtypischen Situationen gegenüber vollzieht, und zwar plötzlich, und vor allem unabhängig von der Anzahl der vorher gemachten Versuche, eine triebhaft bestimmte Aufgabe zu lösen.7

Nichtsdestotrotz versucht sich Scheler auch an einer ‚mentalen‘ Beschreibung dessen, was intelligentem Verhalten zugrunde liegt. Intelligenz bestünde hiernach in einer. plötzlich aufspringende[n] Einsicht in einen zusammenhängenden Sachverhalt und Wertverhalt innerhalb der Umwelt, der weder direkt wahrnehmbar gegeben ist noch auch je wahrgenommen wurde, d. h. reproduktiv verfügbar wäre.8

Aufgrund von Wolfgang Köhlers „Intelligenzprüfungen an Menschenaffen“9 gibt Scheler folgende beispielhafte Beschreibung:

6Geist

als Struktur- und Prozessbegriff meint, dass die geistigen Gehalten in logischsemantischen Beziehungen zueinander stehen und zudem in ihrer Präsenz für ein Subjekt eine gewisse Dynamik aufweisen, auf die ich unten näher eingehen werde. 7Max Scheler: Die Stellung des Menschen im Kosmos (hrsg. v. W. Henckmann). Hamburg 2018. 39. 8Max Scheler: Die Stellung des Menschen im Kosmos. 39. 9Wolfgang Köhler: Intelligenzprüfungen an Menschenaffen. Berlin, Heidelberg 21963.

6.1 Begriffsklärungen

113

Indem das Triebziel, z. B. eine Frucht, dem Tiere optisch aufleuchtet und sich gegenüber dem optischen Umwelt-Felde scharf abhebt und verselbständigt, bilden sich alle Gegebenheiten, die die Umwelt des Tieres enthält, insbesondere das ganze optische Feld zwischen Tier und Umwelt, eigenartig um. Es strukturiert sich in seinen Sachbezügen so, erhält ein derartiges relativ ‚abstraktes‘ Relief, dass Dinge, die, für sich wahrgenommen, entweder gleichgültig erscheinen oder etwas ‚zum Beißen‘, etwas ‚zum Spielen‘ […], den dynamischen Bezugscharakter ‚Ding zum Fruchtholen‘ erhalten.10 Die Triebdynamik im Tiere selbst ist es, die sich hier zu versachlichen und in die Umgebungsbestandteile hinein zu erweitern beginnt. […] Das Seil, der Stock selbst scheint sich dem Tiere auf das optisch gegebene Ziel hin zu ‚richten‘, wenn nicht hin zu bewegen.11

Die Um-zu-Struktur der Umweltbestandteile und deren Bezug zum Triebziel sind hier bedingt durch den unerfüllten Trieb und die objektivierte Intelligenz. Was hier fehlt, ist eine explizite Zwecksetzung und der von Heidegger beschriebene welthafte Verweisungszusammenhang, welche die praktische Umwelt des Menschen konstituieren und als ‚Welt‘ begegnen lassen. Zwecksetzung und ‚Welt‘ sind nämlich geistige Produkte eines geistigen und zudem sozialen Wesens, also eines Wesens, das den Geist einer bestimmten Kultur (oder gar Multikultur) internalisiert hat. Und hieraus ergibt sich wiederum, dass sich nicht nur die triebhafte Intelligenz, sondern auch der Geist in die Umweltbestandteile hinein objektivieren kann und dann als sinnhafter Verweisungszusammenhang in der praktischen Umsicht, aber auch im sachlichen und theoretischen Blick an Umweltbestandteilen ‚aufleuchtet‘ (z. B. im ‚Etwas-als-etwas-Sehen‘). Allerdings, das sei gleich korrigierend hinzugefügt, sollte man den sinnhaften Verweisungszusammenhang auch nicht zu sehr verdinglichen. Dieser existiert nämlich nur im Auge des Betrachters und ‚entsteht‘ in der jeweiligen Apperzeption beständig neu, auch wenn es nicht im freien Belieben des geistigen Subjekts steht, wie ihm die Teile der Welt begegnen. Die Anschauung des Menschen mag ‚sinnhaft überformt‘ oder begrifflich sein. Aber Sinne und Begriffe habe ihren konstitutiven Ursprung im geistigen Subjekt des Subjekts (Ich) und nicht in der Umwelt,12 wenngleich diese ein wesentliches konstitutives Seinsmoment des Menschen darstellt und die Art und Weise, wie wir die Welt apperzipieren, mitmotiviert. So steht es mir nicht frei, in einem Volkswagen, der vor mir steht, keinen Volkswagen, sondern einen Teich zu sehen. Zudem kann ein Umweltbestandteil (z. B. ein bestimmter affektiv aufgeladener Ort) bei mir bestimmte gedankliche Assoziationen und Erinnerungen

10Max

Scheler: Die Stellung des Menschen im Kosmos. 42. Scheler: Die Stellung des Menschen im Kosmos. 43. 12Die Umwelt ist zwar durchaus eine notwendige Bedingung der Möglichkeit des Spracherwerbs und der Begriffsbildung. Aber Begriffe und Sinne sind nicht material in den Umweltbestandteilen inkarniert (das heißt ursprünglich nicht in den Perzepten enthalten). Vielmehr besteht die geistige Leistung darin, im Besonderen das Allgemeine zu erfassen, indem man das Besondere als unter verschiedenen Arten und Gattungen enthalten begreift. So steckt der Begriff ‚Rot‘ nicht als Form oder Eidos real in allen Rottönen, sondern alle Rottöne sind vielmehr selbst Realisierungen der durch das Eidos definierten reinen Möglichkeiten, die seinen Begriffsumfang bilden. 11Max

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6  Was ist Geist?

hervorrufen und mich geistesabwesend werden lassen, was aber eigentlich eine Intensivierung des geistigen Zustandes und nicht seine Abwesenheit bedeutet. Geistesabwesenheit bedeutet, dass ich vergeistigt-geistig abwesend und nicht mehr wirklich umweltbezogen präsent bin. Doch kommen wir zurück zum Intelligenzbegriff. Die schelersche Phänomenologie intelligenten Wahrnehmens und Verhaltens (also wie es sich für das intelligente Subjekt selbst darstellt, Probleme zu lösen) erhält ihre Validität natürlich wiederum nur aus dem je eigenen (individualmenschlichen) Erfahren, in der die animalische Intelligenz gewissermaßen im hegelschen Sinne aufgehoben und insofern weiterhin vorhanden ist. Auch wenn man selbst sich als Mensch in einem geistigen Verweisungszusammenhang bewegt, so müssen sich die von Scheler dargestellten Wahrnehmungsphänomene in diversen praktischen Problemsituationen doch erlebnismäßig nachvollziehen lassen. Das heißt: Auch beim Menschen muss sich nachweisen lassen, dass die von Scheler beschriebene Neustrukturierung des Wahrnehmungsfeldes hinsichtlich der praktischen Bedeutsamkeit bestimmter Umweltbestandteile („Um-zu-Struktur“) und des Auftretens gewisser „Bewegungssuggestionen“ (H. Schmitz) tatsächlich geschieht. Dies dürfte tatsächlich der Fall sein. Lassen sich die schelerschen Beschreibungen im eigenen Erleben in praktischen Problemlösungssituationen anschaulich einlösen und erkennt man an, dass manche Tiere tatsächlich zu echten Intelligenzleistungen fähig sind, dann kann man den Begriff eines intelligenten, aber gleichwohl geistlosen Lebewesens bilden. Da es aber weder sicher ist, dass wirklich alle Tiere zu intelligentem Verhalten fähig sind, noch dass wirklich alle Tiere über Bewusstsein verfügen, bietet es sich an, all diesen möglichen bio-ontischen Differenzen umfassend begrifflich Rechnung zu tragen. Alle Entitäten, die mindestens über die fünf Momente des Erlebens, des Ich (= Erlebnis- und Reaktionszentrum), ‚des‘ Leibes und ‚des‘ Körpers sowie ‚der‘ Umwelt verfügen, möchte ich mit dem ontologischen Terminus Animant bezeichnen. ‚Tiere‘, die konstitutionell über kein Bewusstsein verfügen, werde ich dagegen Animaten nennen (die Doppelassoziation von ‚Animat‘ mit ‚Animal‘ und ‚Automat‘ ist gewollt) und damit den alltagssprachlich-biologischen Begriff des Tieres für meine Zwecke durch die Dichotomie von Animanten und Animaten (= animalische Zombies) ersetzen. Da jedoch m. E. die wichtigste Differenz bei Lebewesen überhaupt darin besteht, ob sie als Lebensform zur Aktualisierung von Bewusstsein fähig sind (oder nicht), werde ich unter den Begriff des ‚Animaten‘ alle bewusstseinslosen Lebewesen subsumieren (also alle Pflanzen, Pilze, Bakterien und bewusstseinslosen ‚Tiere‘ etc.).13 Statt

13Natürlich

sollen die Unterschiede zwischen bewusstseinsfreien ‚Tieren‘ und Pflanzen (und anderen nichtzentralisierten Lebewesen) nicht geleugnet werden. Aber es sind eben spezifische Unterschiede innerhalb der Gattung der Animaten und sie betreffen in erster Linie die unterschiedliche körperliche Organisation, so wie sie sich einem menschlichen Beobachter in der Erscheinungswelt darstellt. Man könnte daher zunächst weiter zwischen zentralisierten und nicht-zentralisierten Animaten differenzieren.

6.1 Begriffsklärungen

115

daher die lebensweltliche Unterscheidung von Pflanzen, Tieren und Menschen auch philosophisch fortzuführen, bezeichne ich alle lebenden Entitäten14 mit dem Terminus ‚Animalia‘ (= Lebewesen, nicht: Tiere) und untergliedere die ontologische (nicht: biologische) Gattung der ‚Animalia‘ in ‚Animanten‘ und ‚Animaten‘. Nun kann man die Untergattung der Animanten idealtypisch danach differenzieren, ob ihr Weltverhältnis komplett arttypisch festgelegt ist; oder ob sie lernfähig und gar intelligent sind. Oder ob sie zudem zur Konstitution geistiger Gehalte fähig sind, also geistige Animalia bzw. Animanten sind. Man könnte also das, was man alltagssprachlich Tier nennt, unterscheiden in Animaten (zu denen jedoch alle bewusstlosen Lebewesen gehören) und Animanten – und Letztere wiederum in reine Instinktwesen, in instinktreduzierte, instinktarme oder gar reine lernfähige Intelligenzien sowie in intelligente Geistwesen (Menschen) untergliedern. Ob es ‚Tiere‘ ohne Bewusstsein (Korallen?) überhaupt gibt, ist hierbei gleichgültig. Die hier vorgenommenen Begriffsdifferenzierungen dienen lediglich der Konzeptualisierung von bio-ontischen Denkmöglichkeiten (s. hierzu auch die Grafiken in der Einleitung).15 Ich verzichte jedenfalls auf den alltagssprachlichen und biologischen Begriff des Tieres und verwende stattdessen den philosophischen Begriff des ‚Animanten‘, welcher ein Lebewesen bezeichnet, dessen Spezifikum das Bewusstsein ist. Dies bedeutet aber zugleich, dass ich gerade nicht den Begriff des Menschen dem des ‚Tieres‘ subsumiere, sondern nur dem des ‚Animanten‘. Der Oberbegriff ‚Animant‘ ist ein transzendental-ontologischer Begriff, was bedeutet, dass in diesem Begriff das Subjekt in seiner Doppelung als Subjekt von Welt und als Objekt in der Welt gedacht wird. Unter einem transzendental-ontologischen Begriff in Bezug auf Lebewesen verstehe ich näherhin einen solchen, der Bewusstsein nicht als Gehirnphänomen versteht, somit die cartesisch-naturalistische Denkungsart vermeidet, und Bewusstsein als Feld oder besser: als Raum des Erlebens und der Erfahrung von Selbst und Umwelt begreift. Die Pointe hierbei ist, dass der als reiner Organismus betrachtbare Eigenkörper (einschließlich des Gehirns) Vorkommnisse innerhalb dieses Erfahrungsfeldes sind und diesem daher nicht bedingend zugrunde liegen können. Insofern einerseits die Umwelt ein Teilmoment des Seins aller Animanten ist16 und andererseits aber nicht das volle Sein der Animanten in ihrem Bewusst-Sein aufgeht, sind alle Animanten (und nicht

14Welche

Entitäten lebendig sind, hängt davon ab, was man unter ‚Leben‘ versteht. ist auch, das sei hier betont, nicht ausgeschlossen, dass es intelligente, bewusstlose Lebewesen gibt – so wie es nicht ausgeschlossen ist, dass es schon intelligente, bewusstlose Maschinen gibt oder zumindest vielleicht bald geben wird. 16Genauer gesagt: Alle Animanten sind sich als Leib und als Körper gegeben; und ihnen erscheint die Welt erlebnismäßig als Umwelt, wobei die Art und Weise, wie ihnen diese perzeptive Umwelt erscheint, artspezifisch verschieden sein kann. Die Verschiedenheit kann schon auf der untersten Ebene, der perzeptiven Repräsentation, zustande kommen (Bienen ‚sehen‘ die Welt vermutlich anders als Fledermäuse), oder durch die artspezifische Relevanz bestimmter Umweltanteile (so hat eine Banane für einen Schimpansen eine andere Relevanz als für einen Tiger – selbst wenn für beide Tiere Bananen gleich aussehen mögen). 15Es

116

6  Was ist Geist?

nur der Mensch) mundane-transzendentale-metaphysische Wesen. Das empirisch erforschbare Organische ist dabei nur Erscheinung, nicht „Ding-an-sich“. Und dies meint letztlich die Aussage, dass der Begriff des Animanten (aber auch der des Animaten) ein transzendental-ontologischer (bzw. holistisch-philosophischer) Begriff ist: Er versucht das ganze Sein dieser Lebewesen (einschließlich der mundan-/transzendentalen und der phänomenal-/transphänomenalen Differenz) in Grundzügen zu erfassen. Alle transzendentalen Subjekte, die sich selbst zugleich in einer Umwelt als mundane Lebewesen anschaulich gegeben sind, also als leiblich-körperliche Einheiten, sind hiernach Animanten. Nicht alle Animanten sind aber wesensnotwendig intelligent oder gar geistbegabt. Dieser Registerwechsel von einer biologischen zu einer transzendental-ontologischen Begrifflichkeit soll vermeiden helfen, nach gängiger Manier, den rein biologisch verstandenen Menschen (Homo sapiens) entweder schlicht und ausschließlich als Tierart zu begreifen oder den Menschen ‚dem‘ Tier strikt entgegenzusetzen (was jeweils zu widerstreitenden Intuitionen führt). Stattdessen geht es mir darum, begriffliche Klarheit zu erlangen, das heißt, die Vieldeutigkeit des Geistbegriffs aufzulösen, und verständlich zu machen, inwiefern der Mensch (im transzendentalphilosophischen Sinne) mit den anderen Animanten (bewussten Lebewesen) einerseits wesensverwandt ist (und insofern selbst ein Animant ist) und inwiefern er andererseits durch seine Geistnatur sein ‚tierisches‘ Erbe zwar durchaus aufbewahrt und doch in neue Strukturen eingebunden und insofern transformiert hat und daher kein ‚Tier‘ mehr ist. Kurz: Der Mensch ist kein Tier, aber eben ein Animant (bewusstes Lebewesen).17 Und da der Begriff des Tieres in der fundamentalanthropologisch fundierten Biophilosophie außer Geltung gesetzt (bzw. aus dem Verkehr gezogen) wird, gilt es zwischen nicht-anthropoialen und anthropoialen Animanten zu unterscheiden. Anthropos ist ein geistiger Animant oder eben eine anthropoiale Lebensform. Ich löse also, wie gesagt, in philosophischer Absicht den Begriff des Tieres auf und ersetze ihn durch die transzendental-ontologischen Begriffe des ‚Animanten‘ (Bewusstseinslebewesen) und des ‚Animaten‘ (= Zombieanimalien = bewusstlose Lebewesen, die biologisch trotzdem als Tiere oder Nichttiere betrachtet werden). Bei den Animanten, bei denen sich der eiserne Ring des Instinkts gelockert oder gar aufgelöst hat, treten als Ersatzleistungen das assoziative Gedächtnis (welches Lernen ermöglicht), die triebhafte Intelligenz (welche spontane Problemlösungen ermöglicht) und schließlich der Geist (der einen Animanten zu einem Umwelt-

17Aus

Abgrenzungs- und Verständigungsgründen gebrauche ich hier noch den Terminus ‚Tier‘. Die Aufgabe bestünde darin, für die wesensverschiedenen tierischen Spezies neue Begriffe zu prägen. Bei den Animanten etwa: reine Instinktanimanten, instinktreduzierte intelligente Animanten, instinktreduzierte geistige Animanten. Bei den Animaten: zentralisierte versus nichtzentralisierte Animaten in Kombination mit Intelligenz und Instinkt oder deren Absenz. Konkrete biologische Spezies müssten sich dann diesen ontologischen Kategorien zuordnen lassen.

6.1 Begriffsklärungen

117

‚Welt‘-Wesen erhebt und ein Leben ‚im‘ objektiven Geist ermöglicht). Der Begriff des Geistes ist dabei durchaus konstitutiv für den Menschen als intelligentes Geistwesen, wobei ‚intelligentes Geistwesen‘ nur eine Abkürzung für die spezifisch menschliche Konstitution darstellt, die durch mindestens sechs Momente oder Anthropoialien gekennzeichnet ist: Ich, Bewusstsein, Leib, Körper, Geistigkeit und Umwelt. Wenn hier also vom Menschen als intelligentem Geistwesen die Rede ist, dann nicht im Sinne eines „geflügelten Engelkopfes“ (Schopenhauer), sondern nur im Sinne eines Animanten, bei dem an die Stelle des Instinkts Weltoffenheit, assoziatives Gedächtnis, Intelligenz und Geistigkeit getreten sind. Was ist nun Geist im Unterschied zur Intelligenz? Um eine klare Vorstellung von dieser Frage zu bekommen, sei nochmal darauf hingewiesen, dass die Rede vom sogenannten „Geist der Tiere“ begriffliche Verwirrung stiftet, da mit ‚Geist‘ (spirit) gerade ein qualitativer Unterschied bzw. eine spezifische Differenz innerhalb der ontologischen Gattung der Animanten bezeichnet sein soll. Zudem verführt die Rede vom „Geist der Tiere“ (mind) zu falschen psychologistischen Vorstellungen. Es geht ja nicht einfach um den Geist (im Unterschied zum Körper), sondern um die Gesamtkonstitution des Menschen und der sonstigen Animanten und um ihren spezifischen Selbst- und Weltbezug. Daher werde ich statt vom „Geist der Tiere“ von der animantischen Konstitution sprechen und reserviere den Begriff des Geistes für die typisch ‚menschliche‘ Fähigkeit der Sinnproduktion und Sinnrezeption im Allgemeinen sowie für die Sinnprodukte selbst. Da der Terminus ‚Mensch‘ ebenfalls ein vieldeutiger Terminus ist, ersetze ich diesen durch den des Anthropos, der die Idee einer möglichen geistigen Lebensform überhaupt bezeichnet und deren eine Realisierung der rezente Homo sapiens darstellt. Da ich hier einen philosophischen Diskurs führe, lege ich mich jedoch nicht fest, welche terrestrischen Spezies unter den Begriff des ‚Anthropos‘ fallen. ‚Anthropos‘ ist also die ontologische Gattungsbezeichnung für eine spezifische Lebensform, die der übergeordneten ontologischen Gattung der Animanten untersteht und zugleich begriffsumfänglich nicht auf eine biologische Spezies dieses Planetens eingeschränkt ist, sondern alle Lebewesen umfasst, die die anthropoialen Begriffsmerkmale realisieren (oder quasi-realisieren). ‚Anthropos‘ ist der Begriff einer möglichen Lebensform überhaupt bezogen auf diese wirkliche, aber auch sonstige mögliche Welten (falls es diese ‚gibt‘). Alle Animanten verfügen zwar aus Wesensgründen über eine Art Ich als Subjekt des Bewusstseins sowie als Leistungszentrum des ganzen Subjekts (ich nenne daher das Ich „Subjekt des Subjekts“), das die Quelle bestimmter Leistungen ist wie Bewusstseinsgenerierung, Wahrnehmungsstrukturierung, Instinkt, assoziatives Gedächtnis, triebhafte Intelligenz. Aber nur das ‚anthropoiale‘ Ich ist ein geistiges Ich oder Geist, insofern es auch zu geistigen Leistungen und zur Ausbildung geistiger Dispositionen (die z. B. durch den Sprach- und Wissenserwerb zustande kommen) befähigt ist. Je nach animantischer Konstitution kann man daher von einem reinen Instinktich, einem Intellekt oder sogar von einem geistigen Ich sprechen. Es ist also stets bei diesen Begriffen zwischen (i) der jeweiligen aktiven Disposition im Leistungszentrum, (ii) der

118

6  Was ist Geist?

aktualen Aktivität dieses Leistungszentrums und (iii) den Leistungsprodukten zu unterscheiden. Die Rede vom Geist der Tiere ist jedenfalls doppelt problematisch: Erstens, weil Tiere keinen Geist im angegeben Sinne besitzen, und zweitens, weil der Begriff des Tieres für wesensontologische Begriffsbestimmungen untauglich ist. Es ist zwar aus nunmehr begrifflichen Gründen folgerichtig vom Bewusstsein aller Animanten zu sprechen, aber nicht mehr vom Geist der Tiere oder (begriffsreformatorisch) vom ‚Geist der Animanten‘. Denn per definitionem sind Geistwesen keine Tiere und auch nicht alle Animanten sind Geistwesen (was jedoch auch nicht bedeutet, dass jedes Geistwesen deshalb ein Mensch wäre). Was Geist ist, lässt sich trotzdem zunächst nur beim Menschen (denn andere Geistwesen kennen wir nicht) und durch Selbsterfahrung bestimmen. Dass wir geistige Wesen sind, wissen wir jedoch nicht durch einen intuitiven Blick in unser Ich, denn dieses Ich ist keine Tatsache des Bewusstseins, sondern der verborgene Blickpunkt unseres Bewusstseins. Dass unser Ich auch ein geistiges ist, können wir nur aus seinen Leistungen erschließen, etwa aus der Tatsache, dass wir nicht nur mit affektiv getönten Umweltbestandteilen konfrontiert sind, sondern dass uns diese im Medium des Sinns, des Begriffs und der Sprache begegnen – wie überhaupt die Objektivationen des Geistes es sind, die den berechtigten Schluss auf die Geistigkeit des Ich erlauben. Somit hätten wir einerseits die Mehrdeutigkeit des Geistbegriffs aufgelöst (Geist als Vermögen: spirit versus mind, Geist als Pluralität symbolischer Formen sowie als sinnhafter Verweisungszusammenhang im Singular, Geist als Vernunft) sowie andererseits den Geistbegriff vom Begriff des Bewusstseins (erlebnismäßiger Präsenz), des Intellekts (Vermögens zu intelligenten Leistungen) und der Intelligenz (als einer aktualen intelligenten ‚mentalen‘ und praktischen Leistung) abgegrenzt. Geistigkeit ist aus Sicht der Fundamentalanthropologie ein Anthropoial und Essenzial des Menschen (Anthropos) und bezeichnet a) das Ich, insofern es zu geistigen Leistungen fähig ist, b) die geistigen Ichaktivitäten, c) die Produkte dieser Tätigkeiten, z. B. das sukzessiv erscheinende Urteil (vermeinter Sachverhalt) und d) die ‚Welt‘ als sinnhaften Verweisungszusammenhang. Im Folgenden widme ich mich nun der Frage nach der Subjektivität und Objektivität der geistigen Gehalte.

6.2 Geist und Sinn Geistlose Animanten sind also mehr oder weniger intelligente Bewusstseinslebewesen, wobei die Extrempole durch reine Instinkthaftigkeit auf der einen Seite und reine triebbefeuerte Intelligenz und Lernfähigkeit auf der anderen zu kennzeichnen sind. Vermutlich gibt es real keine Rein-, sondern nur Mischformen. Geistige Animanten (anthropoiale Lebensformen) verfügen dagegen über eine zusätzliche Fähigkeit, die ihr gesamtes Selbst- und Weltverhältnis neu strukturiert und gewissermaßen das anthropologische Radikal dar-

6.2  Geist und Sinn

119

stellt.18 In Abwandlung eines Aperçus Wilhelm von Humboldts könnte man daher sagen: Der Mensch ist nur Mensch durch den Geist. Um aber zu einem geistigen Wesen zu werden, musste der Mensch schon Geist und damit Mensch sein.19 Das heißt: Schon von Geburt an (oder sogar wesentlich früher) ist der Mensch (Homo sapiens) = Mensch (Anthropos), insofern sein Ich (auch) ein geistiges ist. Das geistige Ich erst macht (konstituiert) aus einem Animanten einen Menschen (Anthropos).20 Aber erst indem er Geistigkeit in Form z. B. einer weltdarstellenden Begriffssprache und sinnhaften Verweisungszusammenhängen entwickelt bzw. erwirbt, wird er erst eigentlich Mensch im vollen Sinne des Wortes. Denn angeboren ist vermutlich nur die Fähigkeit, sich die Welt im Medium des Sinnes und des Begriffs und der Sprache anzueignen und sprachlich zu artikulieren. Weder dürfte es eingeborene Begriffe geben noch eingeborene logische Funktionen (wie noch Kant glaubte). Der menschliche Geist entwickelt daher seine Produkte nicht aus sich heraus, sondern erwirbt diese durch seinen erfassenden Bezug zur Umwelt, in der ihm auch andere geistige Wesen begegnen, allen voran die Mutter bzw. die Eltern und Geschwister. Die Art und Weise der Weltaneignung und des Spracherwerbs sind ontogenetisch betrachtet von Beginn an durch bereits kulturalisierte Subjekte angeleitet und geprägt. Auch wenn es rudimentäre Eigenkreationen geben mag,21 so erfindet sich kein Mensch alleine eine differenzierte Sprache, sondern er wird in die Sprache der Eltern – die Muttersprache – eingeführt. Dies setzt jedoch voraus, dass das Kind die Welt auf ähnliche Weise perzeptiv repräsentiert wie die Eltern und die anderen Sprachgenossen.22 Dies schließt Abweichungen (wie z. B. Farbenblindheit oder Blindheit

18Damit vertrete ich jedoch gerade nicht simpliciter das Modell „Mensch  = Tier/ Animant + Geist“. Der Mensch dürfte seiner ersten Natur nach dem Pol der absoluten Instinktfreiheit sehr nahe kommen und dies ist eine Voraussetzung für die Möglichkeit von Geistigkeit. Könnte man einer Spinne Geist einpflanzen, würde sie sich vermutlich trotzdem nicht geistig entfalten können, solange sie aufgrund ihres starken Instinktes umweltgebunden bleibt. Erst bei einem weltoffenen Wesen kann der Geist sich überhaupt onto- und phylogenetisch entfalten. Ein weltoffenes Wesen ist ein solches, bei dem sich die Umweltgebundenheit stark reduziert hat und das sich infolgedessen von den Umweltreizen distanzieren kann. Am weitesten scheint sich mir hier der Gorilla entwickelt zu haben, ohne jedoch die Schwelle zum Menschsein überschritten zu haben. 19Das Originalzitat lautet: „Der Mensch ist nur Mensch durch Sprache; um aber die Sprache zu erfinden, müsste er schon Mensch seyn.“ (Wilhelm von Humboldt: Ueber das vergleichende Sprachstudium in Beziehung auf die verschiedenen Epochen der Sprachentwicklung. In: Schriften zur Sprachphilosophie. Darmstadt 51979. 1–25. 11.) 20Nicht aber macht ein geistiges Ich aus einem Animanten einen Homo sapiens. Homo sapiens ist eine terrestrische biologische Spezies, die unter anderem durch ihre gemeinsame Abstammungsgeschichte definiert ist. 21Vgl. hierzu auch die Ausführungen Tomasellos zur „Home-Sign-Gebärdensprache“ in Michael Tomasello: Die Ursprünge der menschlichen Kommunikation. Frankfurt a.M. 2009. 274 ff. 22Ähnliche perzeptive Repräsentation meint: Auch das vorsprachliche Kleinkind verfügt über die gleichen sinnlichen Qualitäten, die in einer räumlichen Umwelt lokalisiert sind.

120

6  Was ist Geist?

überhaupt) natürlich nicht aus. Doch es ist schwer vorzustellen, dass ein Wesen, das die Welt auf völlig andersartige Weise zur perzeptiven Darstellung bringt als alle anderen Artgenossen, wirklich dieselbe Sprache erlernen und sich mittels dieser Sprache verständigen kann. Schon ein von Geburt an Blinder wird sich nicht über die Farbeigenschaften der Dinge angemessen verständigen können. Wären bei einem Menschen alle Sinne defekt, hätte er gar keinen erlebnismäßigen Bezug zur Welt und zu anderen. Würde ein Mensch die Welt in jeder Hinsicht deviant perzeptiv repräsentieren, wäre eine geteilte Sprache wohl unmöglich. Damit also ein geistiges Subjekt geteilte Bedeutungen und Begriffe sowie eine gemeinsame Sprache erwerben kann, müssen mindestens drei Bedingungen erfüllt sein: Es muss selbst Geist sein (also über das Vermögen des Geistes verfügen), es muss in eine Sprach- und Kulturgemeinschaft hineingeboren werden, die das kleine Geistwesen entsprechend sozialisiert (sprachliche Erziehung, Teilnahme an geteilten sozialen Praktiken, die den Hintergrund sprachlicher Verständigung bilden), und es muss drittens über eine ähnliche Wahrnehmungsorganisation verfügen. Dieses Dreieck von Ich/Geist, Subjektgemeinschaft und (spezifisch leiblich vermittelt gegebener) Umwelt ist es, die es einem Kind ermöglicht, zu einem im wörtlichen Sinne mündigen Mitglied der Gemeinschaft und Gesellschaft zu werden. Die Sprache, ihre Sinne und ihre Begriffe sind intersubjektiv geteilte Größen, was jedoch nicht heißt, dass jeder Mensch mit jedem Wort absolut denselben Sinn verbinden muss. Was und wie wir verstehen, hängt von unserer Sozialisation und insbesondere von unserer Spracherwerbsgeschichte und der darauf aufbauenden Bildung ab. Der Erwerb von geistigen Gehalten geschieht nicht dadurch, dass diese Gehalte einfach mit der gesprochenen Sprache über das Gehör in das Kind fließen (gleichsam nach Art des Nürnberger Trichters), sondern vom Kind im Rahmen alltäglicher Situationen verstehend bzw. begreifend konstituiert (= verstehend bzw. begreifend angeeignet) werden müssen. Solche alltäglichen Situationen bestehen in irgendwelchen sozialen Interaktionen, die für das jeweilige Subjekt in seiner phänomenalen Umwelt stattfinden. Mit dem Spracherwerb wird aber nicht einfach nur die jeweilige Nahwelt sprachlich erschlossen, sondern auch ein ‚Eintauchen‘ in eine ganze Kultur (Liedgut, Mythen und Märchen, Literatur, Sitten und Gebräuche etc.), einschließlich ihrer Weltsichten und Weltanschauungen, ermöglicht. Hieraus erhellt: Der je subjektive Geist (also die subjektiven geistigen Gehalte) ist somit in Wahrheit partiell der objektive Geist. Und weil dies so ist, sind wir als geistige Wesen Kinder unserer Zeit und unserer Kultur. Es war Nicolai Hartmann, der im Anschluss an und in Abgrenzung zu Hegel zwischen personalem, objektivem und objektiviertem Geist unterschieden hat und ihr Verhältnis zueinander zu bestimmen versuchte. Seine Grundthese lautet: „Das Bewusstsein trennt, der Geist verbindet.“23 Das

23Nicolai

Hartmann: Das Problem des geistigen Seins. Untersuchungen zu den Grundlagen der Geschichtsphilosophie und der Geisteswissenschaften. Berlin 21949. 185.

6.2  Geist und Sinn

121

heißt: Jedes bewusste Lebewesen erlebt nur sein je eigenes Erleben.24 Aber die geistigen Gehalte können prinzipiell geteilt werden und als (partiell) Identische in einer Vielzahl von Subjekten zugleich vorhanden sein. Der Bereich der geteilten Gehalte ist das, was Hartmann den objektiven Geist im subjektiven nennt. „Der objektive Geist ist nicht ein Wesen hinter den Individuen, sondern durchaus nur etwas ‚in‘ ihnen – wennschon nicht ‚aus‘ ihnen zusammengesetzt und nicht im Einzelindividuum aufgehend.“25 Und auch das, was Hartmann als den objektivierten Geist bezeichnet, also Schriftzeichen, Kunstwerke, Überreste etc. gibt es nur von Gnaden des Subjekts und seiner Verstehensleistungen, die wiederum durch den objektiven Geist im subjektiven mitermöglicht werden. An sich (ohne verstehende Subjekte) gibt es keinen objektivierten Geist, sondern nur sinnfreie ontische Formationen, die zwar durch menschliche Formung entstanden sind, aber erst eines lebendigen Geistes bedürfen, um wieder zu Kulturobjekten zu werden, die etwas bedeuten und auf menschliche Praxen und Kulturen verweisen. „[W]as an den geformten Werken real ist, das ist“, so Hartmann, „nicht ihr geistiger Gehalt, sondern nur die geformte ‚Materie‘, in der er festgehalten ist (die Schrift, der Stein mit seiner Raumform).“26 Wenn der starke Korrelationismus hinsichtlich eines vermeintlich subjektunabhängigen Seinsbereichs wirklich vollständig zutrifft, dann in Bezug auf Kulturobjekte, die es ohne entsprechende betrachtende Subjekte als Kulturobjekte nicht gäbe. Geistiges Sein ist generell an individuelle Subjekte gebunden, auch wenn die geistigen Gehalte partiell geteilt werden und insofern ‚objektiv‘ (= überindividuell) sind.27 Nur aufgrund der partiellen Identität der geistigen Gehalte oder Sinne ist Verständigung möglich. Die Trennung zwischen subjektivem bzw. personalem, objektivem und objektiviertem Geist, wie sie Hartmann vornimmt, ist also „nur eine methodische“ oder analytische.28 „Es gibt nur das eine, einheitliche geistige Sein, ungeteilt und unteilbar.“ (73) Auch wenn der Mensch qua Mensch (Anthropos) ein geistiges Wesen ist, insofern er das Vermögen besitzt, geistige Gehalte (Sinne, Begriffe) zu erfassen oder zu bilden, so sind doch die meisten geistigen Gehalte, die ein Mensch erworben hat, zumindest kulturell geteilte Gehalte und gehören damit der

24Dies

ist zwar absolut richtig. Nichtsdestotrotz verbindet auch das je eigene Bewusstsein die Subjekte miteinander – und zwar auf repräsentationalistische Weise: Indem nämlich jedes Subjekt alle anderen Subjekte seiner Umgebung in seiner Umwelt perzeptiv repräsentiert. 25Nicolai Hartmann: Das Problem des geistigen Seins. 200. 26Nicolai Hartmann: Das Problem des geistigen Seins. 72. 27Allerdings bleibt zu fragen, ob die ‚vorgeistige‘ Ordnung (sei es der Wahrnehmung, des Subjekts oder der Welt insgesamt) nicht auf einen asubjektiven Aggregatzustand des Geistes verweist, das heißt, dass schon vor jeder subjektiven Sinngebung das, was ist, immer schon geistig ist. Dagegen ist zu sagen, dass Ordnung nicht dasselbe wie Geist ist. Man kann höchstens mutmaßen, dass die Ordnung dessen, was ist, auf einen Grund der Ordnung verweist, der möglicherweise selbst Geist ist. 28Nicolai Hartmann: Das Problem des geistigen Seins. 71.

122

6  Was ist Geist?

Kategorie des objektiven Geistes an. Die Gehalte sind zwar je meine. Das spricht aber nicht dagegen, dass sie nicht zumindest prinzipiell in Identität auch Teil der Geistigkeit eines anderen Subjekts sein können. Die Zahl 1 dürfte als identischer Gehalt bei sehr vielen Subjekten wiederkehren.29 Zusammenfassend lässt sich jedenfalls sagen: Der subjektive Geist ist zwar je meiner. Aber die geistigen Gehalte sind zumindest partiell intersubjektiv geteilte Gehalte. Sie können dies jedoch nur dadurch sein, dass wir die Welt 1. auf ähnliche Weise repräsentieren und 2. auf ähnliche Weise aneignen. Dies setzt nicht nur überhaupt gemeinsame geteilte Praktiken voraus, sondern einen mehr oder weniger angeleiteten Spracherwerb, wodurch der objektivierte Geist in Form der Sprache vom kindlichen Spracherwerber erlernt und internalisiert wird. Nicolai Hartmanns Unterscheidung zwischen subjektivem, objektivem und objektiviertem Geist erweist sich so als verwirklichte Einheit in jedem uns bekannten geistigen Wesen. Nichtsdestotrotz gibt es ‚den‘ objektiven Geist nur im Plural aufgrund der Pluralität der Kulturen und auch Individuen. Lokalisiert ist er aber in den jeweiligen geistigen Individuen, deren Seinsweise und Weltbezug er essentiell konstituiert und strukturiert, wenngleich er zuvor vom jeweiligen Subjekt (im Rahmen der Erziehung, des Unterrichts, der allgemeinen Bildung und kulturellen Prägung) konstituiert, d.i. verstehend angeeignet werden musste.30 Das Subjekt (als Teil einer Subjektgemeinschaft) konstituiert somit den objektiven Geist für sich und der objektive Geist wiederum konstituiert (macht) das Subjekt zu einem geistigen und mündigen Wesen. Konstitution (Aneignung) des Geistes ist Selbstkonstitution durch den Geist. Der objektive Geist beherrscht uns, obgleich wir ihn uns mehr oder weniger aktiv angeeignet haben. Und so beherrscht uns eine Sprache, indem wir sie beherrschen.31 Sie ist ein uns als geistige Wesen konstituierender und strukturierender Bestandteil und Prozess und doch auch unser Werkzeug: Etwas, womit man verändernd in den Lauf der Welt eingreift. Der objektive Geist ist daher beides: eine uns beherrschende Größe, die uns doch zugleich allererst so etwas wie „individuelle Spontanität und Schöpferkraft“ ermöglicht. Er ist eine uns bestimmende Macht und als das zugleich eine

29Dagegen

dürfte es eben so viele Verständnisse der Kritik der reinen Vernunft geben wie Leser. Erziehung ist der Weg der Menschwerdung des Einzelnen.“ „[A]lle Erziehung ist Erziehung zum objektiven Geist. Zu etwas anderem eben als dem Geiste, den sie hat, kann eine Sphäre der Mitlebenden den Werdenden nicht heranziehen. Und so ist dieses Heranziehen notwendig identisch mit der Führung des Werdenden bei seinem Hineinwachsen in den objektiven Geist, und insofern bei seiner Menschwerdung. Weil aber das formende Prinzip dieser Formgebung die Vorgeformtheit derer ist, von denen Beispiel, Lehre und Einfluss ausgeht, so ergibt sich mit gleicher Konsequenz der zweite Grundsatz: alle Erziehung ist letzten Endes auch Erziehung durch den objektiven Geist – und zwar ohne Unterschied, ob sie bewusste Führung oder ungewollter Einfluss ist.“ (Nicolai Hartmann: Das Problem des geistigen Seins. 251 f.)

30„[D]ie

31„Was

wir ‚eine Sprache beherrschen‘ nennen, ist vielmehr das innere Beherrschtsein von ihr.“ (Nicolai Hartmann: Das Problem des geistigen Seins. 215.)

6.3  Der objektive Geist im subjektiven

123

Macht, die uns neue Möglichkeiten der Selbstverwirklichung und der Wirksamkeit offeriert: Eine scheinbar fremde Macht in und über uns und doch zugleich ein unser Sein konstituierendes Machtmittel, das wir gebrauchen, um Macht über uns, über andere und die Welt zu erlangen. „[M]it dem Beherrschtsein des Individuums“ durch die Sprache und den objektiven Geist wächst auch „seine bewegende Kraft“ […]. „Der objektive Geist entfaltet ebendort, wo er die größte Macht über den Einzelnen gewinnt, auch die größte Beweglichkeit; und das Suchen und Finden der Einzelnen ist nicht eine Bewegung neben der seinigen, sondern diese selbst.“32

6.3 Der objektive Geist im subjektiven Wenn man nun genauer bestimmen wollte, wie das geistige Leben des Anthropos abläuft und wie der subjektive Geist als Ichzentrum und der objektive Geist miteinander interagieren, so gerät man weniger in die Psychologie als vielmehr wieder in die Anthropologie. Denn es handelt sich bei dieser Interaktion gerade nicht um eine Interaktion zwischen geistigen Tatsachen des Bewusstseins, sondern zwischen diesen Tatsachen und dem geistigen Ich. Wir hatten bereits zwischen dem Geist als lebendigem geistigem Subjekt des Subjekts (i), seinen ichlichen Aktivitäten (ii), den damit korrelierten geistigen Akten (sukzessiven vermeinenden Setzungen) (iii), den (gesetzten) geistigen Gehalten (iv) und den geistigen Verweisungszusammenhängen (v) unterschieden. Darüber hinaus wäre auch noch der sedimentierte Geist (vi) zu nennen, der gewöhnlich mit den Begriffen Gedächtnis und Gedächtnisgehalte gefasst wird und einen essentiellen Teil des Unbewussten bzw. Nichtbewussten ausmacht. Der objektive Geist als wesentlicher Teil des subjektiven ist ja nie in seiner Totalität dem geistigen Subjekt präsent. Präsent sind diesem außer seinen perzeptiven Gehalten (wie Leib, Körper und Umwelt) nur die jeweils aktuellen Gedanken in ihrer retentionalen und protentialen Gegebenheitsweise. Hierbei ist aber zu unterscheiden zwischen den Gedanken, die ich aktiv denke, und denjenigen Gedanken, die sich als Einfälle und Anknüpfungspunkte für das Denken zu einem bestimmten Zeitpunkt einstellen.33 Gehen wir zudem davon aus, dass die meisten Gedanken an Sprache (bzw. allgemeiner: an

32Nicolai

Hartmann: Das Problem des geistigen Seins. 219. hierzu die Ausführungen Husserls in den Cartesianischen Meditationen (Hua I, 81 f.): „Jedes Erlebnis hat einen im Wandel seines Bewusstseinszusammenhanges und im Wandel seiner eigenen Stromphasen wechselnden ‚Horizont‘ – einen intentionalen Horizont der Verweisung auf ihm selbst zugehörige Potenzialitäten des Bewusstseins. […] Zudem gehört […] zu jeder Wahrnehmung stets ein Vergangenheitshorizont als Potenzialität zu erweckender Wiedererinnerungen und zu jeder Wiedererinnerung selbst als Horizont die kontinuierliche mittelbare Intentionalität möglicher […] Wiedererinnerungen bis zum jeweils aktuellen Wahrnehmungsjetzt hin. […] Die Horizonte sind vorgezeichnete Potenzialitäten.“ 33Vgl.

124

6  Was ist Geist?

imaginierte akustische oder visuelle Zeichen) geknüpft sind, so wird die Spontanität des Denkens nicht nur durch die sprachlich explizierbaren Sinnhorizonte mitermöglicht, die Sinnabbrüche verhindern und zu einem Weiterdenken (und Weitersprechen) befähigen. Sondern die Verweisungsstrukturen sind selbst zum Teil sprachlicher Natur. Ich muss im Weiteren allerdings offenlassen, ob „Denken“ bei anderen anthropoialen Lebensformen auch notwendig an akustische Zeichen oder visuelle Gesten (und ihrer „Imaginalisierung“) gebunden ist. Um hier überhaupt eine phänomenologische Analyse durchführen zu können, beschränke ich mich hier auf solche anthropoiale Lebensformen, deren Geistigkeit (wie bei mir) vornehmlich durch eine Lautsprache konstituiert und strukturiert ist. Erst wenn über diese Art der Geistigkeit Klarheit gewonnen wurde, kann dann auch über Varianten der Geistigkeit nachgedacht werden (das heißt, ob es andere Formen von Denken gibt, die nicht auf akustischen und visuellen Zeichen basieren). Meine sinnhaften Verweisungszusammenhänge sind jedenfalls in einem konstitutiven Sinne lautsprachlich organisiert. Und nur wo das rechte Wort sich zur rechten Zeit einstellt, kann es von mir oder generell: vom Ich erfasst und ‚gedacht‘ oder gar ausgesprochen werden.34 Insofern gilt tatsächlich, dass die Sprache spricht (Heidegger) und wir ihr entsprechen. Aber man darf dies nicht dahingehend vereinseitigen, dass wir nur die Empfänger und Entsprecher eines meta-anthropoialen „Ereignisses“ sind. Wir sind als Sprecher und Denker kein bloßes Medium (wie bei einer Geisterbeschwörung). In Wahrheit ist die Sache viel komplizierter. Denn indem wir aktiv denken, verändern wir(!) den sinnhaften Verweisungszusammenhang, der wiederum andere Möglichkeiten des Weiterdenkens und –sprechens eröffnet. Zudem werden wir (d.i. unser Ich) von jeglichen Gedanken affiziert. Und jeder weitere Denkakt ist eine Reaktion auf bereits Gedachtes sowie die jeweilige Horizontsituation, die zudem auch durch das, was in unserer Umwelt wahrgenommen wird, modifiziert wird. Nur eine angemessene Anthropologie, die den Menschen nicht nur auf den Körper oder auf Körper und Geist reduziert, kann das geistige Leben des Menschen entschlüsseln und verstehbar machen. Und hierzu gehört es, schon innerhalb der Kategorie des Geistes, die einzelnen Komponenten auseinander zu halten: Es ist das Ich, welches denkt, aber auch gedanklich affiziert wird (Ichaffektion) und auf jegliche Affektionen in bestimmter Weise reagiert (Selbstaffektion des Bewusstseins und z. T. des Leibes). Weder das Ich noch seine Aktivitäten sind jedoch unmittelbar beobachtbar. Erlebnismäßig gegeben sind

34Freilich

gibt es auch das gleichsam automatische Sprechen, das im Alltag vorherrscht. Hier ist es fraglich, ob die ‚Worteingebung‘ als passives Auftauchen der Wörter und aktives Ergreifen derselben zu beschreiben ist. Aber immer wenn wir um den adäquaten Ausdruck, um eine adäquate Beschreibung ringen müssen, sind wir auch auf den Zuspruch ‚der‘ Sprache angewiesen, genauer: auf die gelingende Weckung der unbewussten Sprachgedächtnisinhalte. Wo die passenden Wörter gehäuft ausbleiben, sprechen wir von „Wortfindungsstörungen“.

6.3  Der objektive Geist im subjektiven

125

dem Ich nur die Gehalte, die es sukzessive ins Bewusstsein setzt (z. B. in Form imaginierter Wörter bzw. bedeutsamer Symbole). Diese Sukzession von Setzungen wird erlebt (d.i. das Auftauchen von sinnlich-geistigen Gehalten), nicht das Setzen als ichliche Aktivität selbst. In den Setzungen (im Urteilen als temporale Vollzugserscheinung) setzt (und vermeint) das Ich z. B. einen Sachverhalt oder einen Willensgehalt, einen Wunschgehalt oder einen Vermutungsgehalt etc. Und ganz unwillkürlich erzeugt das Ich sinnhafte Verweisungszusammenhänge, also geistige Horizonte, die erlebnismäßig dadurch ausgezeichnet sind, dass sie als Einfälle oder Eingebungen (Intuitionen) oder Gedanken im Hintergrunde erfahren werden, denen man – sie ergreifend – nachgehen kann oder auch nicht. Nicht jede Aktivität des Ich wird von ebendiesem als Selbsttätigkeit erfahren und erkannt. Viele ichliche Aktivitäten bzw. deren Produkte erscheinen dem Ich vielmehr als erlebnismäßige Widerfahrnisse, weil das Ich, ohne es selbst zu wissen, in festgelegter automatischer Weise nur unbewusste Affektionen in Repräsentationen übersetzt oder ihm einfach das agentielle Bewusstsein fehlt wie bei: Emotionen (Stimmungen, Gefühlen), Schmerzen, Einfällen, Eingebungen, Ohrwürmern, fixen Ideen, Halluzinationen etc. Heinrich von Kleist hat diesen Zusammenhang von Aktivität und Intuition beim Denken und Sprechen sehr schön in seinem Fragment Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden analysiert. Kleist illustriert den Sachverhalt am Beispiel der Erwiderung Mirabeaus auf den Zeremonienmeister: „Mir fällt jener ‚Donnerkeil‘ des Mirabeau ein“, schreibt Kleist, mit welchem er den Zeremonienmeister abfertigte, der nach Aufhebung der letzten monarchischen Sitzung des Königs am 23. Juni, in welcher dieser den Ständen auseinander zu gehen anbefohlen hatte, in den Sitzungssaal, in welchem die Stände noch verweilten, zurückkehrte, und sie befragte, ob sie den Befehl des Königs vernommen hätten? ‚Ja‘, antwortete Mirabeau, ‚wir haben des Königs Befehl vernommen‘ – ich bin gewiß [so Kleist], dass er bei diesem humanen Anfang, noch nicht an die Bajonette dachte, mit welchen er schloß: ‚ja, mein Herr, wiederholte er, ‚wir haben ihn vernommen‘ – man sieht, dass er noch gar nicht recht weiß, was er will. ‚Doch was berechtigt Sie‘ – fuhr er fort, und nun plötzlich geht ihm ein Quell ungeheurer Vorstellungen auf – ‚uns hier Befehle anzudeuten? Wir sind die Repräsentanten der Nation‘. – Das war es, was er brauchte! ‚Die Nation gibt Befehle und empfängt keine.‘35 (Kursiv: T.S.)

Im Reden ging Mirabeau, so schreibt Kleist, „ein Quell ungeheurer Vorstellungen auf“. Die Vorstellungen tauchen zwar im und durch das Reden auf, werden durch die Rede evoziert, stellen sich aber gleichsam von selbst ein. Sie sind für den Redner bereits präsent, bevor sie (sukzessive) aktiv ergriffen und gedacht bzw. ausgelegt und ausgesagt werden können. Das heißt: Das Auftauchen neuer Gedanken geht dem aktiven Denken und Aussagen ihrer zeitlich voraus. Woher kommen diese Vorstellungen? Kleist schreibt: „Denn nicht wir wissen, es ist allererst ein gewisser Zustand unserer, welcher weiß.“ Diesen Satz kann man in dreifacher Weise verstehen:

35Heinrich

von Kleist: Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden. In: Werke in einem Band. München, Wien. 61996. 810–814. 811.

6  Was ist Geist?

126

1. Erste Potentialität: Es gibt ein Wissen (oder partiell intersubjektive geistige Gehalte), die in irgendeiner Form im Subjekt aufbewahrt werden und assoziativ geweckt werden müssen, damit sie für das Subjekt bereitstehen bzw. aktuell präsent sind. Wir nennen diese Aufbewahrung in der Alltagssprache Gedächtnis. Da das Gedächtnis vermutlich kein Behälter, aber auch unklar ist, was es positiv sein könnte, wollen wir den unbewussten Zustand der Gedächtnisgehalte formal ihre erste Potentialität nennen. Das meint: Die Gehalte liegen in irgendeiner Form im Bereich des subjektiv Transphänomenalen zur Weckung bereit. Da die Weckung durch Affektion des Ich durch seine eigenen Gedanken geschieht, liegt es nahe, das Ich auch als aktives Gedächtnis oder zumindest das Ich als die Verbindungsstelle von Bewusstsein und Gedächtnis zu begreifen. (Ich tendiere zu Ersterem.) 2. Zweite Potentialität sedimentierten und reaktualisierten Sinns: Werden die Gedächtnisgehalte geweckt, tauchen sie zunächst in einer bestimmten Form auf: als zweite Potentialität, das heißt, als Horizont (‚Welt‘) bzw. als Einfälle, Eingebungen, Intuitionen. Husserl spricht von Potentialitäten des Bewusstseins. Dies bedeutet wiederum – scheinbar paradox: Die Aktualität der Gedanken in ihrer zweiten Potentialität, d.i. ihre Gegebenheitsweise für das Ich, ist zunächst ihre Potentialität für ebendieses denkende Ich. Husserl illustriert diesen Modus der zweiten Potentialität an der Strukturierung der Wahrnehmung. Der Wahrnehmungsraum ist aufgrund der qualitativen Mannigfaltigkeit der perzeptiven Gehalte für das Ich dreifach gegliedert: Gestalthafte Gliederung (Gestaltrelief), attentionale Gliederung (attentionales Relief: Aufmerksamkeitszentrum – und peripherie) und affektive Gliederung (affektives Relief). Ich bin zum Beispiel (in einer lauen Sommernacht) attentional auf den Mond gerichtet, der sich gestalthaft vom Hintergrund des Nachthimmels abhebt und mich ästhetisch affiziert. Zugleich ist mir mitpräsent ein besonders heller Stern im Hintergrunde, dem ich meine Aufmerksamkeit jedoch noch nicht schenke, der mich (= das Ich) aber vor einer möglichen Zuwendung bereits affiziert. So wie dieser Stern aktual für mich präsent ist, insofern er ein affizierender gestalthafter Teil meines Wahrnehmungsraumes ist, ohne aktuell Gegenstand der Betrachtung zu sein (= zweite Potentialität), so kann ein Gedanke bereits Teil meines erlebten geistigen Zustandes sein, ohne dass ich mich ihm schon attentional und erfassend zuwende. In Husserls Worten: „[U]nter verschiedenen dunklen Gedankenregungen, die uns bewegen, hebt sich z. B. ein Gedanke vor allem anderen heraus, hat eine empfindliche Wirkung auf das Ich, indem er sich ihm gleichsam entgegendrängt.“36 Es gibt also die Gedanken im Zustand der ersten Potentialität (unbewusste Gedanken), Gedanken im Zustand der zweiten Potentialität (vorattentionale, erlebnismäßige Präsenz

36Edmund 71999.

80.

Husserl: Erfahrung und Urteil. Untersuchungen zur Genealogie der Logik. Hamburg

6.3  Der objektive Geist im subjektiven

127

eines Gedankens), die zwar schon affizieren, aber noch nicht aktiv ergriffen wurden; und die Gedanken, die beachtet (= rezeptive Aktualität der Gedanken für das Ich) und dann auch aufgegriffen und ausgelegt, gedacht und vielleicht sogar ausgesagt werden (= Aktualität des Gedankens für das Ich). Auch die Gegebenheitsweise der Gedanken in Form der zweiten Potentialität ist (synchron betrachtet) ein bestimmter geistiger Zustand des Subjekts. 3. Zweite Potentialität von neuem Sinn: Aber es gibt eben auch ein Wissen, das entsteht allererst im ‚allmählichen Verfertigen der Gedanken beim Reden‘ und Denken. Neuer Sinn blitzt auf (wie bei Mirabeau), und das Ich kann sich ihm zuwenden und ihn ergreifen und aussprechen. (Oder ihn auch wieder verlieren.) Ob dieser neue Sinn wirklich radikal neu ist oder ‚nur‘ die Synthese oder das Amalgam alter Gedanken, wäre allerdings eigens zu klären. Vermutlich ist es so, dass die Synthese bereits vorhandener Gedanken gerade das Neue ist. In allen drei Fällen ist es zunächst ein Zustand unserer, der ‚weiß‘. Im Falle der zweiten Potentialität sind uns die jeweiligen geistigen Gehalte zumeist auch nicht in ausdrücklicher oder prädikativer Form und schon gar nicht im aktiven Vollzug (Spontanität) gegeben.37 Aber das eine Mal wird sedimentierter Sinn aktualisiert, das andere Mal neuer Sinn generiert. Doch wer generiert hier? Hierauf kann es nur eine Antwort geben: Eine bestimmte Sinnkonstellation und Sinnsituation (z. B. bestehend aus eben getätigten Denkhandlungen wie etwa Prädikationen) und ‚hintergründigen Sinnen‘ (zweite Potentialität) affiziert das Ich, das hierauf sein Erleben reaktiv mit neuem Sinn affiziert – zunächst nicht im Modus der reaktiven Denkhandlung, sondern im Modus einer scheinbar anonymen Reaktion. Da wir uns dabei nicht im Klaren sind, dass wir selbst es sind, die hier auf eine Sinnkonstellation reagieren (antworten), sagen wir beispielsweise: „Mir fällt ein, dass…“; „Da kommt mir gerade der Gedanke, dass…“ etc.38 Dieser ‚Mechanismus‘ der Sinngenerierung („Welten der ‚Welt‘“) wird von Husserl mit dem klassischen Ausdruck der Assoziation belegt. Der Titel Assoziation bezeichnet in diesem Zusammenhang eine zum Bewusstsein überhaupt gehörige, wesensmäßige Form der Gesetzmäßigkeit immanenter Genesis. […] Assoziation kommt hier ausschließlich in Frage als der rein immanente Zusammenhang des ‚etwas erinnert an etwas‘, ‚eines weist auf das andere hin‘.39

Versteht man unter Assoziation ein sinnhaft-kausales bzw. motivationales Geschehen, dann bedarf es indes einer Kraft, die es einem Gedanken erlaubt, einen anderen Gedanken hervorzurufen oder zu „wecken“ (wie Husserl sagt).

37Eine

Mittelstellung nehmen ‚passiv‘ auftauchende Erinnerungen an z. B. selbst Gesagtes ein. kommt die Aufeinanderfolge von passivem Einfall bzw. passiver Vorgabe und ‚spontaner‘ Entsprechung (mit Akteursbewusstsein) auch im Alltag zum sprachlichen Ausdruck. 39Edmund Husserl: Erfahrung und Urteil. 78. 38Hier

128

6  Was ist Geist?

Diese Kraft ist das transphänomenale Ich. Denn ein Gedanke als solcher hat für sich gar keine Kraft. Er ist, wie jedes Motiv, nur eine Gelegenheitsursache (wie dies schon Schopenhauer klar gesehen hat), also eine Ursache, die eine vorhandene Kraft (hier: das Ich) zwingt, sich unter diesen Umständen auf eine bestimmte spezifische oder individuelle Art und Weise zu äußern. Ein Motiv wirkt dabei durch reine Affektion des Ich, das heißt durch seine bloße erlebnismäßige Präsenz für das Ich (und nicht durch physische Einwirkung). Da kein Ich dem anderen völlig gleicht, reagiert jedes Ich individuell auf seine individuelle und situative geistige Situation. Und diese geistige Situation ist durchsetzt mit Gehalten des objektiven Geistes. Das Ich hat nach den obigen Analysen dabei einen dreifachen Bezug zum objektiven Geist: In seinen prädikativen Akten und Aussagen verwendet es (partiell) intersubjektiv geteilte Gehalte und es bedient sich dabei zugleich einer geteilten Sprache. Ein einfacher Satz wie: „Könntest Du mir bitte das Salz reichen?!“ ist nicht nur sprachlich, sondern auch in seinem Sinngehalt (also grammatisch, lexikalisch, logisch und materialbegrifflich) ein durch und durch intersubjektives Gebilde oder eben „objektiver Geist“. Zudem lagern sich alle möglichen Sinngehalte ‚am‘ Ich ab (Gedächtnis), die durch eine bestimmte erlebnismäßige Sinnkonstellation jeweils partiell geweckt werden. Daher ist das Ich selbst ein Ort des objektiven Geistes, ohne vollständig darin aufzugehen. Und drittens besteht auch die sinnhafte Horizontstruktur des Erlebens bzw. des geistigen Zustands aus objektiven Gehalten. Selbst die neue Sinngenerierung muss in verstehbare Sprache gefasst werden und daher auf Altbekanntes zurückgreifen. Abgesehen vom Ich und seinen angeborenen Vermögen (wie der Fähigkeit im Besonderen das Allgemeine zu erfassen, der Spracherwerbsfähigkeit etc.) ist daher der subjektive Geist eine bestimmte Konstellation von internalisiertem objektivem Geist. Anthropologisch bedeutet dies: Auch wenn es geistige Anlagen gibt, so ist doch die Geistigkeit des Menschen nicht einfach das Ergebnis der Entfaltung dieser Anlagen. Vielmehr gilt: „Es will alles errungen sein.“40 Entwicklung der eigenen Geistigkeit besteht in der verstehenden Aneignung „objektiven Geistes“ (und mittels diesem von Selbst und Welt). „Tatsachen und Resultate können einem dargeboten werden, das Verstehen muss man selbst besorgen; die Einsicht, den Sinn erschließt nur die eigene Bemühung.“41 Denn der Geist als inhaltliche Sphäre des Gemeinsamen vererbt sich nicht mit der Reproduktion des physischen Individuums. Es ist ein anderer Modus der Wiederbildung im Individuum, auf dem seine geschichtliche Kontinuität beruht. Er wird tradiert und muss als tradierter vom Individuum erworben werden, indem es an ihn als bestehende Sphäre heranwächst.42

40Nicolai

Hartmann: Das Problem des geistigen Seins. 104. Hartmann: Das Problem des geistigen Seins. 104. 42Nicolai Hartmann: Das Problem des geistigen Seins. 208. 41Nicolai

6.4  Ergänzende Überlegungen

129

Kurz: Geistige Entwicklung besteht in der (lange Zeit) angeleiteten, aber immer auch aktiven Aneignung des objektiven Geistes. Der objektive Geist im subjektiven ist partiell identisch mit allen geistigen Gehalten, aus denen sich der subjektive Geist inhaltlich zusammensetzt. In diesem Sinne sind wir, wie gesagt, Kinder unserer Zeit und Produkte des Zeitgeistes, einer Kultur, einer Gesellschaft, eines Milieus und einer Familie. Da wir aber trotzdem viel mehr sind als sedimentierter objektiver Geist, haben wir auch die Möglichkeit unsere geschichtliche Bedingtheit zu transzendieren und vielleicht sogar auf den objektiven Geist – diesen verändernd – einzuwirken. Nochmal Hartmann: Der personale Geist ist geschichtlich relevant keineswegs nur als Sprecher des objektiven Geistes. Er ist es auch in seinem Abweichen von ihm. Es ist eben nicht wahr, dass niemand über den jeweilig lebenden objektiven Geist hinauswachsen könne. Der Einzelne kann zwar nicht ‚neben ihn‘ hintreten, er bleibt stets in ihm verwurzelt. Aber das, wohin er hinauslangt, ist ein anderes als seine Verwurzelung. Und das Erstaunliche ist gerade, dass es die geschichtliche Kraft haben kann, die Menge nachzuziehen.43

6.4 Ergänzende Überlegungen a) Geistiger Gehalt α) Doppelaspektivität der Bedeutung Wie so oft in Philosophie und Wissenschaft ergeben sich aus ersten Antworten neue Fragen. – Oder es tauchen alte Fragen auf, die bislang ohne befriedigende Antwort geblieben sind. Die zentrale Frage, die mit der Frage „Was ist Geist?“ verknüpft ist, ist die Frage: ‚Was ist Sinn oder Bedeutung?‘; bzw.: ‚Was ist ein geistiger Gehalt?‘. Ich habe hierzu in der Kritik der philosophischen Vernunft im Rahmen einer phänomenologischen Wahrheitstheorie (Aletheiologie) im Anschluss an Husserl grundlegende Überlegungen angestellt, an die ich hier anknüpfen möchte.44 Hiernach ist jeder geistige Gehalt (Sinn, Bedeutung, Noema etc.) gleichsam janusköpfig: Ein und dasselbe ‚Gebilde‘ erscheint je nach Blickrichtung entweder als Sachverhalt bzw. Sache (in intentio recta) oder als Urteilsgebilde bzw. Begriff (in intentio obliqua). Dies ist allerdings nur eine sehr vereinfachte Darstellung dieses Sachverhalts. Denn auch in der Reflexion behalten geistige Gehalte ihr Doppelgesicht: Auch reflexiv kann etwa das ‚intentionale Korrelat‘ des Urteilens als vermeinter Sachverhalt oder als Urteil aufgefasst werden – und das völlig zu Recht! Denn im geradehin Urteilen bin ich zwar zunächst immer auf Sachverhalte bezogen (selbst wenn ich über Urteile urteile) und nicht auf die Tatsache, dass der Sachverhalt zugleich ein Urteil ist. Aber in der

43Nicolai 44Vgl.

Hartmann: Das Problem des geistigen Seins. 204. Thorsten Streubel: Kritik der philosophischen Vernunft. 67–221.

130

6  Was ist Geist?

Reflexion auf den ontologischen und epistemischen Status des vermeinten Sachverhalts kann dieser auch als Urteilseinheit vorgefunden und erfasst (oder auch aufgrund früherer eidetischer Einsicht in die Doppelaspektivität der Bedeutung gewusst) werden. Ich kann natürlich sagen: „Ich urteile, dass p.“ Aber auch hier hat ‚p‘ (= der vermeinte Sachverhalt) den logischen und zeitlichen Primat,45 der in diesem Fall reflexiv auf die Urteilstätigkeit des urteilenden Subjekts bezogen wird („Ich urteile, dass“). Wenn man nun einwenden möchte, dass doch ‚p‘ trotzdem ein Urteil und nicht der Sachverhalt selbst sei, dann ist das zwar richtig. Aber die Frage ist ja, was ich im normalen Urteilen wirklich meine. Wenn ich sage: „Ich urteile (bzw. ich bin der Überzeugung), dass Person A nicht die Wahrheit sagt.“, dann urteile ich über den Sachverhalt bzw. die (vermeintliche oder tatsächliche) Tatsache, „dass Person A nicht die Wahrheit sagt“ und nicht über (m)ein Urteil. Sage ich: Ich weiß, dass ich urteile, dass p.“, dann ist p immer noch als vermeinter Sachverhalt thematisch und nicht als Urteil. Erst indem ich reflexiv den vermeinten Sachverhalt als Urteil auffasse, bin ich nicht mehr auf den vermeinten Sachverhalt gerichtet, sondern auf den geistigen Gehalt (das Urteil) als solchen. In der Reflexion kann ich aber beide Aspekte des geistigen Gehalts zum Gegenstand machen: den geistigen Gehalt als Urteil und ‚denselben‘ geistigen Gehalt als vermeinten Sachverhalt, den gleichen Sachverhalt übrigens, auf den ich schon vorreflexiv gerichtet war, indem ich ihn gedacht und zu Sprache gebracht habe. Im vorphilosophischen Denken und Erkennen bin ich zunächst also auf die Sachen bzw. Sachverhalte im weitesten Sinne gerichtet (zu der auch Personen, Ereignisse oder Erlebnisse gehören). Ich denke immer etwas, z. B. ‚dass es bald dunkel wird‘.46 Dies kann wahr oder falsch sein, aber der Sachverhalt als vermeinter ist hier der geistige Gehalt, die Bedeutung oder der Sinn – ohne, dass das Vermeintsein des Sachverhalts allerdings selbst mitgemeint sein muss. Der geistige Gehalt wird in diesem Fall also nicht als geistiger Gehalt, Sinn oder Bedeutung aufgefasst, sondern direkt als Seinsverhalt vermeint. Erst in der Reflexion (intentio obliqua) auf diesen Seinsverhalt kann ich erkennen, dass dieser Seinsverhalt („dass es bald dunkel wird“) selbst eine Sache ist, die doppelt auffassbar ist, nämlich einerseits als vermeinter oder gedachter Sachverhalt (Ich denke, glaube, meine, vermute etc., dass es bald dunkel wird) und andererseits als Urteil oder Bedeutungsgebilde (welches ich einer epistemischen, logischen oder grammatischen Analyse unterziehen kann). In der Reflexion wird zwar ebenfalls der vermeinte Sachverhalt gefunden (derselbe der zuvor vermeint wurde, aber nun reflexiv gegenständlich). Dieser kann jedoch zugleich als Bedeutung erkannt werden. Ein und dasselbe (nämlich der geistige Gehalt) kann somit auf zwei ver-

45In

dem Sinne, dass ich erst den Sachverhalt urteilen muss, bevor ich diesen auf mich – das urteilende Subjekt – urteilend zurückbeziehen kann. 46Der Einfachheit halber abstrahiere ich von den Seins- und Einstellungsmodalitäten wie „Ich glaube, dass …“ oder „wahrscheinlich wird …“. Aber auch diesbezüglich gelten die oben entwickelten Unterscheidungen: „Ich glaube, dass es bald dunkel wird“ ist der Ausdruck für einen Glaubensverhalt, der sowohl als Sachverhalt als auch als Urteil apperzipierbar ist.

6.4  Ergänzende Überlegungen

131

schiedene Weisen reflexiv gegenständlich werden. Daher sind geistige Gehalte eigentlich nicht doppelgesichtig, sondern gleichen eher Kippfiguren oder Vexierbildern. Man kann niemals beide ‚Seiten‘ oder Aspekte gleichzeitig ‚sehen‘, sondern entweder die Bedeutung oder den Sachverhalt. Diese Dopplung ermöglicht auch zwei verschiedene Urteilsreihen, die semantisch nicht aufeinander reduzierbar sind: a. Der vermeinte Sachverhalt: „Es wird bald dunkel.“ Dies meint: Es wird in naher Zukunft ein Ereignis eintreten, welches sich über einen gewissen Zeitraum erstreckende wird. Dieses Ereignis ist real bzw. wird als real vermeint (wenn die Aussage von einem realen Subjekt in einem nichtfiktionalen Kontext geäußert wird.) Der geistige Gehalt ist also gleichsam ein zukünftiges reales Ereignis; – aber trotzdem nicht dieses Ereignis selbst, insofern es ja nur vermeint und vorhergesagt und geglaubt wird, dass es eintreten wird. Das Ereignis selbst ist der Inhalt einer möglichen Wahrnehmungsreihe. (Was dieses Ereignis unabhängig von seinem Wahrgenommenwerden ist, ist im Alltag normalerweise kein Thema, kann es aber werden, wenn z. B. Kinder ihre Eltern fragen, warum es dunkel wird. Die Antwort wird in unserer wissenschaftlich geprägten Kultur in der Regel auf astronomische Zusammenhänge rekurrieren. Allerdings sollte man die astronomischen Theorien nicht als metaphysische Aussagen über ein radikales Ansichsein missinterpretieren.) b. Weil der vermeinte reale Sachverhalt nicht der reale Sachverhalt an sich selbst ist, kann der vermeinte Sachverhalt nicht nur reflexiv als vermeinter Sachverhalt aufgefasst werden, sondern auch als Bedeutungsgebilde oder Urteil, über das wiederum geurteilt werden kann: dass es formal aus Subjekt(begriff) und Prädikat(begriff), Tempusmarker etc. aufgebaut ist, dass das „Es“ (im „Es wird bald dunkel“) material kein handelndes Subjekt bezeichnet etc. Die Urteile über das Urteil haben wieder ihren Gegenstand, nämlich das ursprüngliche Urteil, über welches sie Verschiedentliches aussagen (bzw. behaupten) und welche Aussagen wiederum wahr oder falsch sein können. Um ein prägnantes und bekanntes Beispiel zu nehmen: „Der Abendstern ist der Morgenstern.“ ist nicht dasselbe Urteil wie: „Der Begriff der ‚Abendstern‘ ist der Begriff der ‚Morgenstern‘.“ Denn das erste Urteil ist wahr, das zweite falsch. Das erste Urteil behauptet eine Identität zwischen zwei nichtbegrifflichen, aber begrifflich unterschiedlich erfassten Entitäten. Das zweite Urteil urteilt über die Bestandteile des ersten Urteils und fällt ein falsches Identitätsurteil zwischen zwei Begriffen. β) Bedeutung als Verweisungszusammenhang Nun wäre es aber ein Irrtum, zu glauben, dass Sinne, Bedeutungen, Propositionen, Urteile etc. stets in absoluter Präsenz gegeben seien, solange sie im Vermeinen für mich ‚da‘ sind. Gewiss: Vermeintheiten sind in jedem Moment in dem Sinne absolute Präsenzen, als sie etwas und nicht nichts für mich – den Vermeinenden – sind. Sie sind gewissermaßen in jedem Moment des Vermeinens absolute

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6  Was ist Geist?

Präsenzen im Wie ihrer Gegebenheit.47 Aber das, was vermeint wird (also der Sachverhalt selbst als vermeinter und die ihn mitkonstituierenden ‚Sachen‘ bzw. Sachbegriffe), kann in unterschiedlichen Gegebenheitsweisen gegeben sein. Ein wichtiges Lehrstück diesbezüglich, das noch der systematischen Ausarbeitung harrt, ist Husserls Phänomenologie der Gegebenheitsweise von Bedeutungen/ Urteilen (Verworrenheit, Deutlichkeit und Klarheit), wie sie sich unter anderem in Formale und transzendentale Logik § 16 findet: Ein Urteil kann als dasselbe Urteil evident gegeben sein in sehr verschiedenen subjektiven Gegebenheitsweisen. Es kann auftreten als ein völlig vager Einfall oder auch als völlig vage Bedeutung eines gelesenen, verstandenen und gläubig übernommenen Aussagesatzes. Dabei braucht nicht das mindeste von einem expliziten Vollzug der urteilenden Spontanität, von einem expliziten Subjektsetzen, als Prädikat Daraufhinsetzen, beziehend zu einem anderen, für sich gesetzten Objekt Übergehen usw. statthaben. Schließt sich an das ‚vage‘, ‚verworren‘ urteilende Meinen eines Einfalls ein solcher Prozess expliziten Urteilens an, so sagen wir auf Grund der Synthesis erfüllender Identifikation, die nun eintritt, die verworrene Meinung ‚verdeutliche‘ sich, jetzt erst sei ‚eigentlich geurteilt‘ und das Urteil eigentlich und selbst gegeben, das vorher nur vorgemeint war. (Hua XVII, 61)

Geistige Gehalte sind folglich nicht einfach nur da (präsent) oder nicht da (nicht präsent), sondern sie können (wenn sie überhaupt aktuell präsent sind) auf unterschiedliche Weise gegeben sein für das Ich als geistiges Subjekt (= das ‚Wie‘ ihrer Präsenz für mich). Jeder hat sicher schon einmal erlebt, wie er etwas gelesen hat oder jemanden sprechen hörte, aber gedanklich völlig ‚woanders‘ war und so eigentlich gar nichts (oder kaum etwas) verstanden hat. Manchmal ist es möglich, das Gelesene oder Gesprochene noch eben zu vergegenwärtigen und den Sinn dadurch nachholend zu erfassen. In diesem Fall ist es jedoch fraglich, ob der Sinn zuvor überhaupt im Modus völliger Verworrenheit gegeben war oder nicht vielmehr erst im Nachhinein verstanden wurde. Im letzteren Fall, der Adhoc-Vergegenwärtigung, muss bereits das Geschriebene bzw. Gesprochene im Erinnern verdeutlicht werden um überhaupt Zugang zu den jeweiligen geistigen Inhalten zu erhalten.48 Verdeutlichung der Wortlaute (bzw. der Sätze) ist also hier die Voraussetzung für die Verdeutlichung des Sinnes (der vorher noch nicht einmal verworren gegeben sein musste). Im Falle des aufmerksamen, aber rein rezeptiven Zuhörens oder Lesens sind mir die Inhalte zwar tatsächlich im Ver-

47Da

unser Erleben selbst im Fluss ist, kann von absoluten Präsenzen in Bezug auf einen Moment nur abstraktiv gesprochen werden, da es Momente als starre Einheiten gar nicht gibt (denn jeder Moment ist in Wahrheit eine transitorische Phase). Urteilen, Vermeinen findet selbst in der Zeit des Erlebens statt und unterliegt der retentionalen und protentionalen Abwandlung. Erleben ist die selbst bleibende (aber nicht stehende) Präsenz vergehender Erlebnisphasen von vergehenden Erlebnisinhalten. Ein Urteil muss geurteilt werden. Und ist es fertig geurteilt, dann versinkt der einheitliche Urteilssinn als ganzer (als verworrener, deutlicher oder klarer) in die Erlebnisvergangenheit. 48Um Missverständnisse zu vermeiden: Ich bin nicht der Meinung, dass Wörter auf geheimnisvolle Weise die Transporteure von Bedeutungen sind. Es ist das sprachkompetente geistige

6.4  Ergänzende Überlegungen

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stehen ‚gegeben‘, jedoch zunächst nur verworren. Verdeutlichung eines verworrenen Urteils bedeutet in diesem Fall nun, ein rezipiertes Urteil explizit selbst zu vollziehen, also sich (für sich selbst) zu verdeutlichen, was eigentlich gemeint ist, ohne dass dabei aber schon auf die Anschauung der Sachen selbst (sei es im Modus der originär-gebenden Anschauung oder der vergegenwärtigenden Anschauung) rekurriert werden müsste. Im deutlichen Urteilen eines zuvor verworren und undeutlich gegebenen Urteilsgehaltes bringe ich mir das Urteil selbst zur Gegebenheit. „Nur ein anderer Ausdruck ist: das explizite, das ‚deutliche‘ Urteilen ist die Evidenz für das ‚deutliche Urteil‘, als die ideale Gegenständlichkeit, die sich in solcher synthetischen Aktion eben ursprünglich konstituiert und in deren Wiederholung identifiziert.“49 Von der Evidenz der Deutlichkeit ist die Evidenz der Klarheit zu unterscheiden: Während in der Evidenz der Deutlichkeit das „Urteil selbst als Urteil zur Selbstgegebenheit kommt“, kommt in der Evidenz der Klarheit dasjenige zur Selbstgegebenheit, „worauf der Urteilende ‚durch‘ sein Urteil hindurch will, nämlich als erkennen Wollender“. […] Explizit urteilen ist noch nicht in ‚Klarheit‘ urteilen, als welches in dem Vollzug der Urteilsschritte zugleich Klarheit der Sachen und im ganzen Urteil Klarheit des Sachverhaltes hat.“50 Was hier am Beispiel des geistigen Gehalts des Urteils bzw. des vermeinten Sachverhalts durchgeführt wurde, lässt sich auch auf einzelne Begriffe anwenden. So kann ich in einem Urteil Begriffe wie ‚Bewusstsein‘ oder ‚Mensch‘ verworren vermeinen. Oder ich kann versuchen, mir zu verdeutlichen, was ich mit diesen Begriffen eigentlich meine (durch Begriffsanalyse im Sinne Kants). Oder indem ich darüber hinaus versuche, diese Begriffe durch Rückgang „zu den Sachen“ selbst zu klären. Dies kann entweder unmittelbar durch eigene empirische Erkenntnis geschehen oder vermittelt auch durch Lektüre einschlägiger Literatur (deren Quellenangaben zumindest prinzipiell eine Rückverfolgung zu den Sachen selbst ermöglichen sollten), oder bei bestimmten Begriffen durch eidetische Variation. Auch wenn hierdurch die Sachen selbst (der empirische Typus oder das reine Eidos) wohl niemals als Totalität zu geben sind, da sie in der Regel unendliche Größen darstellen, kann doch die Inadäquatheit und die Differenz zwischen vermeintem Allgemeinen und dem Allgemeinen selbst anschaulich und evident erfasst werden. Begriffe sind wie die Urteile, in denen sie durch Setzung auf-

Subjekt, welches im Denken, Sprechen und Verstehen Sinn zum Ausdruck bringt oder Sinn aktualisiert (im Verstehen). Diesen Sinn musste das Subjekt im Rahmen sozialer Praktiken erwerben (z. B. im Spracherwerb) und daher ist dieser (wie oben gezeigt wurde) ein partiell intersubjektiv geteilter Sinn (zumindest relativ auf eine Sprachgemeinschaft). 49Hua XVII, 65. 50Hua XVII, 65.

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6  Was ist Geist?

treten, somit keine absoluten Präsenzen, sondern nur in verschiedenen Modi der Gegebenheit präsent. Und in jedem Augenblick sind sie dann zwar im jeweiligen Modus der Gegebenheit tatsächlich anwesend, aber zugleich auch abwesend. Präziser gesprochen: Das, was wir Begriffe (Konzepte) nennen, sind eigentlich nur Vermeinungen von Allgemeinheiten. Und diese Allgemeinheiten können durch Worte entweder nur indiziert sein (Leermeinen), verworren, deutlich oder sogar klar gegeben sein. Im letzteren Fall bedeutet ‚klar‘ aber nicht dasselbe wie ‚adäquat‘ und ‚absolut‘. Nur im letzteren Fall wäre das Allgemeine selbst (z. B. das Eidos ‚Mensch‘) vollständig im Vermeinen und damit auch im Erleben für das Subjekt anwesend. Dies dürfte jedoch ein unerreichbares Ideal sein. So kann ich zwar durch eidetische Variation das Eidos ‚Rot‘ im Unterschied zum Eidos ‚Blau‘, ‚Grün‘ etc. erfassen; zudem die Tatsache, dass die Umfänge dieser begrifflichen Allgemeinheiten nicht scharf abzugrenzen sind, sondern kontinuierlich ineinander übergehen (was zum Wesen der Farben dazugehört). Außerdem, dass Rot, Grün, Gelb etc. Farben sind bzw. der Gattung ‚Farbe‘ unterstehen. Zugleich gehört jedoch das Eidos ‚Farbe‘ zum begrifflichen Gehalt (der eidetischen Intension) jedes subordinierten Farbeidos. Im Eidos ‚Rot‘ beispielsweise ist also das Eidos ‚Farbe‘ enthalten (wodurch das analytische Urteil: ‚Rot ist eine Farbe‘ möglich wird). Und zu dessen Begriffsumfang (des Eidos ‚Farbe‘) gehören alle anderen Farbspezies (und zu deren Begriffsumfang wiederum alle idealmöglichen Farben überhaupt), so dass im Eidos Rot gewissermaßen alle möglichen Farben und Farbspezies überhaupt enthalten sind. Man erkennt schon an diesem einfachen Fall die fraktale Struktur des Allgemeinen, also das unendliche Ineinanderenthaltensein der Eidé, wodurch eine vollständige Präsenz auch nur des scheinbar simplen Eidos Rot für ein endliches Subjekt unmöglich wird (auch wenn die fraktale Struktur selbst intelligibel ist). Es ist aber noch komplizierter: Zumindest wenn man zeigen kann, dass Farben nicht ohne sehende leibliche Subjekte existieren können, so dass Farben mit dem Eidos visuelles Subjekt verflochten sind und damit wiederum mit dem Eidos ‚Anthropos‘ bzw. ‚Animant‘ und dadurch mit dem Eidos Welt (denn der Begriff des Menschen bzw. des Animanten kann ohne den Begriff der Welt nicht sachadäquat gedacht werden). Die Eidé bilden, so scheint es, untereinander einen holistischen Zusammenhang, der selbst wiederum unendlich zu sein scheint. Dies dürfte daran liegen, dass sie nicht nur selbst eine Welt bilden (Welt der Eidé), sondern zugleich unselbständige Teilideen einer Welt überhaupt sind und daher nur als holistischer Zusammenhang existieren können (als symploké). Vielleicht lässt sich sogar sagen: Die vollständige Präsenz auch nur eines Eidos ist gleichbedeutend mit der vollständigen Präsenz aller anderen Eidé. (Ich stelle diesen Satz hier nur als falsifizierbare Hypothese auf.) Aufgrund des bisher Ausgeführten dürfte daher evident sein, warum epistemisch eine absolute Präsenz begrifflicher Allgemeinheiten (Eidé) nicht möglich ist, sie aber trotzdem vermeint und auch partiell erfasst werden können.

6.4  Ergänzende Überlegungen

135

Empirisch-reale Sachverhalte wiederum werden direkt nur auf Grundlage der vorprädikativen Erfassung von Sachlagen direkt erfasst. Dies ist dann möglich, wenn sie anschaulich gebbar sind und wir daher unsere Aufmerksamkeit und unseren geistigen Blick auf sie richten können. Wer leugnet über diesen geistigen Blick zu verfügen, der möge sich doch einmal überlegen, wie man das Phänomen benennen soll, das darin besteht, dass wir uns z. B. auch auf leibliche Phänomene wie Schmerzen im Bein, ein Jucken in der Nase, ein Ziehen im Rücken etc. richten können (also ohne mit unseren Augen zu sehen) – oder auch bewusst nicht, indem wir diese leiblichen Phänomene zu ignorieren versuchen. Dieses Phänomen nennen wir zwar landläufig „Aufmerksamkeit“. Aber wir Menschen jedenfalls können durch Aufmerksamkeit auch Sachverhalte direkt erfassen und dadurch auch explizit ausdrücken – und daher kann dieser „Blick“ zu Recht geistig genannt werden.51 Es würde hier zu weit führen, das Problem der vorprädikativen und der darauf aufbauenden prädikativen Erfahrung erneut aufzurollen.52 Worauf es hier jedoch ankommt, ist, dass der geistige Blick (die geistige Intuition) uns in direkten Kontakt mit den in der Anschauung präsenten oder präsentierbaren Inhalten (bzw. Sachlagen) bringt und dadurch eine Klärung unserer Sachverhaltsvermeinungen möglich wird. Aufgrund der bisherigen Überlegungen lässt sich nun allgemein sagen: Geistige Gehalte sind in Wahrheit Vermeintheiten der „Sachen selbst“ (der begrifflichen Allgemeinheiten und der idealen oder realen Sachverhalte), welche die Sachen selbst auf vielfältige Weise richtig oder falsch darstellen können. Die Rede von geistigen Gehalten führt also insofern in die Irre, als damit insinuiert wird, es gäbe in unserem Geist (in unserem Denken) feststehende Gehalte (Ideen, Begriffe, Urteile), die in völliger Präsenz den Inhalt unseres Geistes bzw. unseres Denkens und Erkennens ausmachten. In Wahrheit vermeinen wir zwar immer etwas, wenn wir überhaupt geistig tätig sind, aber dieses Etwas entpuppt sich bei genauerem Hinsehen als eine Art Verweisungszusammenhang, dem wir immer weiter nachgegen können bis zur originär-gebenden Anschauung. Und insofern diese selbst weitere Verweisungen enthält (wie z. B. die Innen- und Außenhorizonte) ist ein letzter Endpunkt in den allermeisten Fällen nicht abzusehen. Anders formuliert: Geistige Gehalte gleichen den ‚Inhalten‘ der Wahrnehmung insofern, als sich diese zwar partiell in Aspekten darstellen, aber in ihrer Totalität nur Ideen im kantischen Sinne sind, die sich nur auf endlichem Wege veranschaulichen lassen. Der Unterschied besteht darin, dass die Wahrnehmung die ‚Sachen selbst‘ präsentiert (wenn auch zumeist völlig unvollkommen), während wir im anschauungsfernen ‚Vermeinen‘ nur mit Verweisungen auf die Sachen selbst operieren. Hierzu wäre insgesamt noch viel zu sagen. Für eine erste Aufhellung des Wesens geistiger Gehalte dürften aber die bisherigen Ausführungen inso-

51Auch

nicht-geistige Animanten vermögen sich sehr wahrscheinlich auf etwas aufmerksam zu richten. Aber diese Attentionalität ist keine geistige (apperzeptive). 52Vgl. Thorsten Streubel: Kritik der philosophischen Vernunft. 86 ff.

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6  Was ist Geist?

fern genügen, als durch diese ein falsches Bild geistiger Gehalte destruiert und an dessen Stelle der Verweisungscharakter herausgestellt wurde, den wir auch mit dem Namen ‚Welt‘ bezeichnen können (‚Welt‘ im philosophischen Sinne als umfassender sinnhafter Verweisungszusammenhang, aber auch als ontische ‚Welt‘ der Eidé). In der Regel begnügen wir uns im Denken und Verstehen mit den Bedeutungsindikationen, die mit den Ausdrücken der Sprache verbunden sind, ohne den Verweisungszusammenhängen nachzugehen und sie zu verdeutlichen oder gar zu klären. Um etwas zu verstehen (z. B. einen Roman, eine Rede etc.) muss ich tatsächlich nicht jeden einzelnen Begriff klären. Ich habe schon verstanden, wenn meine Verweisungszusammenhänge53 evoziert werden und von einzelnen Imaginationen des Begriffsumfangs veranschaulicht und illustriert werden. Dies führt uns auch gleich zum nächsten Problem, dem Verhältnis von Imagination und Geistigkeit, welches das Thema des folgenden Abschnitts sein wird. Im Anschluss hieran werde ich dann wieder an die obige Hauptuntersuchung anknüpfen (Was ist Geist?) und nach dem Verhältnis von (subjektivem und objektivem) Geist und sozialen Praktiken fragen. Zum Abschluss knüpfe ich dann schließlich an die Überlegungen der Einleitung an und versuche prä-geistige Leistungen wie Instinkt, assoziatives Gedächtnis und Intelligenz fundamentalanthropologisch einzuordnen. b) Das Verhältnis von Imagination und Geistigkeit Auch wenn die Einbildungskraft sicher nicht die gemeinsame Wurzel von Sinnlichkeit und Verstand, Anschauung und Begriff oder von Wahrnehmung und Denken/Geist ist (denn die urimpressionalen Gehalte des Erlebens sind keine imaginativen Vergegenwärtigungen und geistige Gehalte sind ebenfalls keine bloßen Imaginationen), so ist sie doch eine Grundlage und notwendige Bedingung des Geistes bzw. der Ausbildung von Geistigkeit. Und zwar in mehrerer Hinsicht: An erster Stelle ist die Imagination wesentlich für die Zeichenkonstitution und damit für das Sprachgedächtnis und das aktuelle stumme Denken (verbum interior), welches ja nichts anderes als ein imaginiertes Sprechen ist.54 Ohne Imagination gäbe es kein Sprachgedächtnis; und damit wäre es ohne Imagination auch unmöglich, eine Sprache zu erwerben und objektiven Geist zu internalisieren. Die Imagination ist somit eine notwendige, wenngleich nicht hinreichende Bedingung für die Zeichen- und damit für die Gedächtnisbildung (Sprachgedächtnis), für Sprache und Sprechen/Denken und schließlich für die Ausbildung von Geistigkeit überhaupt. Aber auch die Begriffsbildung kommt ohne imaginative Vergegenwärtigung gleicher und ähnlicher Vorkommnisse nicht aus.55

53Diese

Tatsache, dass es eben je meine Verweisungszusammenhänge sind, ist auch eine wesentliche Ursache für das alltägliche Phänomen des Missverstehens. 54Wenn Sprache durch nicht-akustische Ausdrücke realisiert wird, dann müsste das Denken solcher Menschen auf der Imagination solcher nicht-akustischen Ausdrücke basieren (z. B. Gebärden). 55Vgl. Edmund Husserl: Erfahrung und Urteil. 385 ff.

6.4  Ergänzende Überlegungen

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Darüber hinaus ist die Imagination ein wichtiges Hilfsmittel um die Bedeutung von Wörtern oder Sätzen zu klären (s. o. 4. a)) und auf diese Weise deren Sachhaltigkeit zu überprüfen. – Und es ist überhaupt fraglich, ob ich über Begriffe (Intension) verfügen kann, ohne mir unter diesen etwas vorstellen (also partiell den Begriffsumfang imaginieren) zu können. Zudem sind alle anschaulichen Erinnerungen und Erwartungen, die zumindest bei uns Menschen mit geistigem Gehalt durchsetzt sind, auch Produkte der Imagination, die mit einem zeitlichen und einem Realitätsindex versehen sind. Dies ist der Grund, warum bloße Fantasien zu Scheinerinnerungen werden und umgekehrt echte Erinnerungen ihren Zeit- und Realitätsindex verlieren und als bloße Imaginationen erlebt werden können. Schließlich sind auch reine Imaginationen (und erst recht Träume) keine sinnfreien und damit geistlosen Akte (oder Erlebnisse). Kurz: Auch wenn alle geistigen Gehalte vom geistigen Ich durch seinen anschaulichen Bezug zur Umwelt (und im Rahmen sozialer Praktiken) gewonnen werden müssen, so könnte ein solches Wesen, würde ihm die Fakultät der Einbildungskraft ermangeln, kein geistiges Wesen im Vollsinne werden, weil es ohne imaginative Verankerung geistiger Gehalte sich nichts merken könnte und damit konstitutiv dement wäre. Und das würde ferner implizieren, dass ein solches Wesen auch kein auf Erinnerungen basierendes begriffliches Selbstbewusstsein ausbilden könnte. Das geistige Ich bedarf somit der Imagination, um sich als geistiges Wesen und mündiges Mitglied einer Sprach- und Kommunikationsgemeinschaft konstituieren zu können. c) Die Einheit und Differenz von (subjektivem und objektivem) Geist und sozialen Praktiken Man sollte analytisch zwischen sozialen Praktiken und ihrer Internalisierung in Form des Knowing-how auf der einen Seite und den Gehalten des objektiven Geistes (dem objektiven Geist im subjektiven) andererseits unterscheiden, wenngleich beides in der alltäglichen Praxis zusammenwirkt. Man kann sich das am Sprechen verdeutlichen: Sprechen ist eine körperlich-leibliche und ichlichgeistige Tätigkeit gleichermaßen, die in soziopragmatischen Kontexten erworben wird. Seine Sprachwerkzeuge richtig zu bewegen (also sich den intersubjektiven sprachlichen Normen gemäß richtig zu artikulieren), ist einerseits eine praktische Fertigkeit, die von klein auf eingeübt wird; und sie ist andererseits ein geistiges Geschehen, insofern wir in der Regel nicht auf das Sprechen, sondern auf das Auszusprechende (den Sinn und den Zweck des Sprechens) attentional gerichtet sind. Und der Gegenstand der Rede besteht (reflexiv betrachtet) aus intersubjektiv geteilten Gehalten (wenngleich deren Zusammenstellung völlig neu sein kann). Kurz: Objektiver Geist und ‚soziale‘ Fertigkeiten (einschließlich aller internalisierten praktischen Normen) sind beiderseits ‚die‘ Gesellschaft und ‚die‘ Kultur in uns, aber sie sollten nicht schlicht miteinander identifiziert werden, sondern in ihrem Zusammenspiel beschrieben werden. In Form von Habitus und Bildungshorizont konstituieren sie das Gesellschafts- und Geistwesen Mensch,

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6  Was ist Geist?

ohne doch im Individuum komplett zusammenzufallen. So war beispielweise Kant einer der bedeutendsten Köpfe des 18. Jahrhunderts und hat dieses sogar geistig transzendiert (war also nicht nur Kind seiner Zeit) – und blieb doch habituell seinem kleinbürgerlichen und dann auch universitären Milieu seiner Zeit verhaftet. Allerdings wäre es indes verkehrt, die Kategorie des objektiven Geistes und die Kategorie des Habitus einfach als zwei (zumindest gedanklich) sauber zu trennende Größen zu denken. Der Habitus ist vielmehr die Einheit von objektivem Geist und gewissen Fertigkeiten und Reaktionsweisen (inklusive bestimmter Bewertungsschemata). Allgemeine Bildung, kulturelle und milieuspezifische Prägung sowie die konkreten Lebenserfahrungen einer Person (und die Art der geistigen Verarbeitung derselben durch diese Person) machen die zweite Natur des Menschen aus und prägen nicht nur abstrakt seinen Geist, sondern konstituieren seinen Habitus in Gänze. Der objektive Geist im subjektiven macht daher vielmehr einen Teil des Gesamthabitus aus, kann aber partiell als das ‚übermilieuhafte‘ des Habitus verstanden werden. So können sich beispielsweise Menschen mit konträren Bildungskarrieren trotzdem problemlos verständigen, wenn sie die gleiche Sprache sprechen (wenngleich nicht über alle Themen gleichermaßen). Umgekehrt können sich zwei Wissenschaftler, Politiker oder Sportler habituell deutlich unterscheiden, obwohl sie vielleicht eine ähnlich erfolgreiche Karriere durchlaufen haben. Man könnte ‚den‘ Habitus schlicht mit der zweiten Natur des Menschen identifizieren, wobei diese sich aus sehr heterogenen Elementen zusammensetzt: aus Fertigkeiten, gewohnheitsmäßigen Reaktionen und Verhaltensweisen, bestimmten internalisierten gesellschaftlichen und milieuspezifischen Normen und Wertvorstellungen, dem Bildungsniveau und der gegenwartswirksamen Lebensgeschichte (einschließlich aller individuellen positiven wie negativen Erfahrungen). Man kann den Habitus zunächst als reinen Dispositionsbegriff verstehen: dann umfasst er völlig verschiedene Fertigkeiten, geistige Gehalte, Einstellungen (Überzeugungen, Werte, Geschmack etc.), die auch dann noch bestehen, wenn ein Mensch vorübergehend bewusstlos ist. Versteht man aber unter Habitus mehr, nämlich die konkrete zweite Natur eines Menschen zu einem bestimmten Zeitpunkt seines Lebens, dann umfasst er auch die konkrete dynamische Verfassung eines bestimmten Menschen. Der Habitus bezeichnet dann die konkrete Art und Weise, wie ein individueller Mensch seine anthropoiale Verfassung in bestimmten Situationen habituell realisiert; und er (der Habitus) bestimmt wesentlich mit, wie ein solcher Mensch sich in bestimmten Situationen (die je seine sind) verhält, z. B. wie er emotional auf eine bestimmte Musik oder bestimmte Menschen reagiert oder zu diversen politischen Forderungen steht. Wenn anthropoiales Leben allgemein im Zusammenspiel der sechs Anthropoialien besteht, wobei das Ich das eigentliche Handlungssubjekt ist (welches aber ohne die anderen Anthropoialien nicht handeln könnte), dann könnte man den Habitus auch als den erworbenen Charakter eines Menschen verstehen, der zu seinem angeborenen hinzukommt und seine konkrete Individualität wesentlich mitkonstituiert, obwohl der Habitus selbst eigentlich eine wesentlich gesellschaftliche und kulturelle Größe (Dis-

6.4  Ergänzende Überlegungen

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position, Struktur und dynamisches Funktionieren) ist. Dies darf allerdings nicht in der Weise missverstanden werden, dass die erste Natur des Menschen (der angeborene Charakter des Ich, das Erleben, seine Leiblichkeit und Körperlichkeit sowie seine jeweilige Umwelt) nur eine abstrakte Allgemeinheit wäre, die erst durch Sozialisierung individualisiert würde. Jeder Mensch, ja jedes reale Seiende überhaupt, ist individuell von Beginn an. Aber die konkrete Individualität eines Gesellschaftswesens ist eben notwendig auch eine gesellschaftlich konstituierte. Für konkrete handlungstheoretische Analysen müsste daher immer Mehreres berücksichtigt werden: die allgemeine anthropoiale Verfassung, der individuelle angeborene Charakter des Ich (gleich ob er als veränderlich oder unveränderlich gedacht wird), der erworbene oder Gesellschaftscharakter (Habitus und Geistigkeit) sowie die jeweilige Handlungssituation (vor allem: Wie sieht das Subjekt selbst diese Situation und in welcher Verfassung befindet sich das Subjekt selbst gerade?). Auch wenn der Analytiker nur begrenzt Einsicht in diesen komplexen Zusammenhang hat, so ist dieser Zusammenhang (also das komplexe Zusammenspiel des anthropologischen Sextetts) es doch, der hinter jedem menschlichen Verhalten steht und somit den Schlüssel des Verstehens darstellt. d) Die Frage nach dem systematischen Ort der prä-geistigen Leistungen wie Instinkt, assoziatives Gedächtnis und Intelligenz innerhalb der Fundamentalanthropologie. Stellen diese das siebte Anthropoial dar? Im Rahmen der Fundamentalanthropologie wird der Mensch als Anthropos als aus sechs Teilmomenten konstituiert beschrieben: Ich, Erleben/Anschauung/Bewusstsein, Geistigkeit, Leib, Körper und Umwelt. Doch welchem Anthropoial weist man Instinkt, assoziatives Gedächtnis, Imagination und Intelligenz zu? Da der Mensch kaum noch über angeborene Instinkte (im Sinne von angeborenen Verhaltensprogrammen, die mehr als bloße Reflexe sind) verfügt, stellt sich die Frage eigentlich nur noch für assoziatives Gedächtnis, Imagination und Intelligenz. Zunächst handelt es sich hierbei um ichliche Fähigkeiten oder Funktionen. Insofern könnte man sie dem Anthropoial „Ich“ zuordnen. Bedenkt man zudem, dass das Ich ja auch zu leiblich-körperlichen Bewegungen (Verhalten, Handeln, Arbeiten, Herstellen, Tanz etc.) fähig ist, dann wird man weder diese noch die mentalen Leistungen des Ich als jeweils eigene Anthropoialien fassen. Denn die Definition eines Anthropoials ist, dass es ein unmittelbares Teilmoment des Ganzen (des Anthropos) ist, ohne selbst Teil oder Moment oder Affektion eines anderen Teilmoments zu sein. Vom Ich ausgehende Leibesbewegungen sind aber ‚Affektionen‘ des Leibes. Wie Leibesbewegungen sind auch die imaginativen Vorstellungsgehalte einerseits vom Ich hervorgebracht (und insofern in ihm fundiert) und andererseits Teilmomente des Bewusstseins. Letzteres trifft jedoch auf alle Erlebnisgehalte zu, ohne dass deswegen Leib, Körper, Umwelt und Geistigkeit keine Anthropoialien wären. Insofern trägt die Analogie zwischen ichlichen Leibesbewegungen und protogeistigen Aktivitäten nicht hinreichend weit. Nennen wir die vorgeistigen ‚mentalen‘ Funktionen „animantische protogeistige Funktionen“ und ihre Produkte „animantische protogeistige Inhalte“

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6  Was ist Geist?

(Imaginationen, anschauliche Vergegenwärtigungen) und (zum Teil auch) „Modifikationen des Wahrnehmens“, dann wären diese vor dem Eintauchen in den objektiven Geist ein eigenständiges Anthropoial, wobei das Anthropoial der Geistigkeit im eigentlichen Sinne noch gar nicht vorhanden, da nicht ausgebildet, wäre. Da sie aber beim erwachsenen Menschen untrennbar mit den geistigen Gehalten verwoben sind (am deutlichsten bei der Sprache), ist es sinnvoller, sie dem Anthropoial der Geistigkeit zuzurechnen. Sie sind zwar nicht selbst Geist im Sinne von ‚Sinn‘, ‚Bedeutung‘ oder ‚Begriff‘, aber sie fundieren einerseits das Leben des Geistes und werden gleichzeitig von diesem strukturiert und überformt. Liefen sie unabhängig vom Leben des Geistes im Menschen ab, wäre es richtig, sie als siebtes Anthropoial zu fassen. Da sie aber im Dienste des Ich (als Geist) und der Geistigkeit stehen, ist es sinnvoll sie dem Anthropoial der Geistigkeit zuzuschlagen. Es handelt sich hier um ein gleichzeitiges Fundierungs- und Überformungsverhältnis. Läge nur ein einseitiges Fundierungsverhältnis vor (animantische protogeistige Funktionen fundieren Geistigkeit), dann wäre es sicher gerechtfertigt, die protogeistigen Funktionen und vor allem ihre Produkte (Vorstellungen, Wahrnehmungsstrukturierung, assoziative Weckung von Vorstellungen durch Ähnlichkeit) als eigenständiges Anthropoial zu fassen. Da diese Funktionen aber geistig strukturiert und organisiert sind, kleben sie und ihre Produkte gewissermaßen so sehr aneinander, dass sie aufgrund ihrer Unzertrennlichkeit eine Einheit und damit ein Anthropoial ausmachen. Und an dieser Stelle lässt sich (anknüpfend an die Ausführungen der Einleitung) die anthropologische Differenz (Differenz zwischen Tier und Mensch) fundamentalanthropologisch reformulieren. Aus fundamentalanthropologischer Sicht muss die anthropologische Differenz als Differenz zwischen geistigen und nichtgeistigen Animanten gefasst werden (und nicht zwischen Homo sapiens auf der einen Seite und allen „Tieren“ auf der anderen Seite überhaupt). Die Differenz besteht nicht darin, dass nicht-geistige Animanten kein Ich hätten, sondern darin, dass sie kein geistiges Ich haben, also ein Ich, das geistige Gehalte konstituieren kann. Das geistige Ich des Anthropos kann Geistigkeit freilich nur deshalb konstituieren, weil es ebenfalls über die animantischen protogeistigen Funktionen verfügt, diese aber nun zur Grundlage geistigen Lebens und zugleich in dessen Dienst gestellt werden. Der Unterschied (die anthropologische Differenz) besteht also nicht nur in einem Mehr an Intelligenz und Gedächtnis auf Seiten des Menschen (darin allerdings auch), sondern in einem echten Plus: in der Fähigkeit, nichtsinnliche (geistige) Gehalte (Sinn) zu konstituieren und dadurch in einer ‚Welt‘ von allgemeinen Bedeutungen zu leben. Da diese geistigen Gehalte aber, wie wir gesehen haben, sinnhafte Verweisungszusammenhänge sind und die Gesamtheit aller Verweisungszusammenhänge (die so nie absolut präsent ist) ‚Welt‘ heißt, ist diese der ermöglichende Hintergrund aller konkreten geistigen Leistungen – mit Ausnahme der allgemeinen ichlich-geistigen Grundfähigkeit der Erfassung von Allgemeinem im Besonderen. Weil dies so ist, ist es unumgänglich den Menschen (Homo sapiens, Anthropos) einerseits zwar als Animant zu verstehen (und nicht als Tier), zugleich aber ein additives Vermögen anzuerkennen,

6.4  Ergänzende Überlegungen

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welches wiederum (als conditio sine qua non) eine vollständige Transformation des Menschseins zu einem durch ‚Welt‘ vermittelten Welt- und Selbstverhältnis bewirkt. Zudem muss schon die erste Natur des Menschen durch Weltoffenheit (Instinktreduktion) gekennzeichnet sein, damit sich ‚Welt‘ als Geistigkeit entfalten konnte (wobei Weltoffenheit nichts exklusiv dem Anthropos Zukommendes ist, ‚Welt‘habe jedoch durchaus). Zumindest in Bezug auf unsere eigene Spezies (Homo sapiens) spricht zudem viel dafür, dass unsere erste Natur eine Adaption an unsere durch unseren Geist ermöglichte Kulturwelt darstellt.56

56Ein

heißer Kandidat für den Titel des siebten Anthropoials ist der transphänomenale Leib, über den ich hier nicht viel gesagt habe. Er wurde in der Kritik der philosophischen Vernunft aus dem Grund eingeführt, weil ohne das Konzept eines transphänomenalen Leibes sich unterschiedlichste Phänomene (wie z. B. Phantomglieder oder die Präsenz des Körpers für andere Subjekte bei Bewusstlosigkeit etc.) nicht verstehen lassen, mit diesem Konzept sich aber plötzlich ein völlig kohärentes Bild des Menschen als Subjekt von und Objekt in der Welt ergibt. Mit dem transphänomenalen Leib würde sich das anthropologische Sextett zum anthropologischen Septett erweitern. Man könnte freilich auch versucht sein, den Phänomenkomplex Leib-Körper-Umwelt zu einem Anthropoial zusammenzufassen und den übrigen Anthropoialien (‚transphänomenaler Leib‘, ‚Ich‘, ‚Geistigkeit‘ und ‚Bewusstsein‘) zu koordinieren. Diese Vereinfachung und Reduktion übersieht aber die Disparität dieser Phänomene sowie die unterschiedliche Rolle, die diese Phänomene für das konkrete anthropoiale Existieren spielen (z. B. für die Konstitution von Selbstbewusstsein und eine selbstbewusste Existenz).

Kapitel 7

Zur Zukunft des Menschen

Wenn hier von der Zukunft des Menschen bzw. der Spezies Homo sapiens die Rede ist, dann geht es nicht darum, spekulative Aussagen über den weiteren tatsächlichen Verlauf der Menschheitsgeschichte zu treffen. Es geht vielmehr darum, aus fundamentalanthropologischer Sicht zu klären, welche Formen des Eingriffs in die menschliche Natur des Homo sapiens (oder einzelner Artvertreter desselben) nicht nur möglich sind, sondern vor allem – bei erfolgreicher Realisierung – dazu berechtigen würden, von einer Überschreitung der Spezies- oder sogar der anthropoialen Gattungsgrenze zu sprechen. Nur wenn solche Eingriffe tatsächlich eine solche transgressive Transformation zur Folge hätten, könnte auch sinnvoll von einer realisierbaren posthumanen Zukunft des Menschen gesprochen werden, also von einer Überführung der menschlichen Spezies in eine andere Spezies oder gar in eine völlig neue und andersartige Seinsform. Dass der Mensch als irdische Spezies sich selbst früher oder später auch eliminieren könnte, dürfte zwar ein nicht völlig unwahrscheinliches Zukunftsszenario darstellen, gehört aber nicht in den Bereich der folgenden Überlegungen, die sich nicht als Prophetie verstehen, sondern als ontologische Analyse der Folgen diverser Eingriffsmöglichkeiten in die Natur (= die Verfasstheit) der terrestrischen Menschen.

7.1 Wessen Zukunft? Eine der wichtigsten begrifflichen Unterscheidungen der Fundamentalanthropologie betrifft diejenige zwischen ‚Mensch‘ im Sinne von ‚Homo sapiens‘ und ‚Mensch‘ im Sinne von ‚Anthropos‘. Während mit ‚Homo sapiens‘ eine ‚reale‘ irdische Spezies (ein Erdenbewohner) bezeichnet wird, ist ‚Anthropos‘ der Name für die Idee einer mögliche Lebensform überhaupt, deren Begriff nicht an einen bestimmten Planeten oder gar diese Welt (‚unser‘ Universum) allein gebunden © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2021 T. Streubel, Fundamentalanthropologie, Abhandlungen zur Philosophie, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05766-2_7

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7  Zur Zukunft des Menschen

ist. Die Frage, ob es mögliche andere Welten als die wirkliche gibt, wird von der Fundamentalanthropologie dabei weder positiv noch negativ beantwortet. Es wird lediglich behauptet, dass es eine begründete Denkmöglichkeit ist, dass in anderen Sonnensystemen der Milchstraße oder anderer Galaxien dieses realen Universums anthropoiales Leben möglich und vielleicht sogar schon wirklich geworden ist; ebenso, dass zumindest in anderen möglichen Welten (wenn es sie denn als mögliche gibt), möglicherweise auch die Lebensform ‚Anthropos‘ als Möglichkeit enthalten ist. Unsere Spezies (Homo sapiens) ist dabei nur eine Realisationsweise dieser supermundanen Idee ‚Anthropos‘. Alle Angehörigen der Spezies Homo sapiens sind als (gewesene, gegenwärtige oder künftige) Wirklichkeiten (wirkliche Individuen) zugleich reine oder eidetische Möglichkeiten (Einzelheiten oder mögliche Individuen) und als solche Glieder des Begriffsumfangs des Eidos ‚Anthropos‘. Dieser Begriffsumfang enthält aber eine unendliche Anzahl von weiteren eidetischen Möglichkeiten (an Arten, Unterarten und darunter fallende Einzelheiten), die auf Terra aufgrund faktischer Kausalitäten niemals Wirklichkeit werden können, aber vielleicht partiell auf anderen Planeten Realisierung erfahren.1 Schon dem empirischen Begriff ‚Homo sapiens‘ kommt ein offen-endloser Umfang von wirklichen und möglichen Individuen zu, denn unter ihn fallen ja nicht nur alle jetzt lebenden Menschen und die Gesamtheit ihrer Vorfahren, sondern auch alle zukünftigen, also insgesamt alle realmöglichen.2 Unter den supermundanen Begriff ‚Anthropos‘ fallen dagegen nicht nur alle realmöglichen, sondern alle eidetisch-möglichen anthropoialen Lebensformen überhaupt, gleichgültig, ob sie jemals irgendwo und irgendwann in diesem Universum realisiert werden oder nicht. Alle wirklichen und realmöglichen Menschen (alle anthropoialen Lebensformen) dieses Universums sind also zugleich reine oder eidetische Möglichkeiten des Begriffsumfangs des Eidos ‚Anthropos‘, aber nicht alle reinen Möglichkeiten sind umgekehrt (logisch betrachtet) notwendig in einer Welt auch realmöglich. – Es ist folglich kein Widerspruch, dass eine reine Möglichkeit zugleich realunmöglich ist.3 1Vgl.

zum Verhältnis von Eidos, Einzelheiten als reinen Möglichkeiten und Individuen als Wirklichkeiten: Edmund Husserl: Erfahrung und Urteil. Genealogie der Logik. Hamburg 71999. § 91. In Bezug auf den Menschen als ein wesentlich geschichtliches Wesen wäre aber die Differenz von Einzelheit und Individuum doch zu modifizieren, insofern es einen konkreten Menschen (mit einer ganz bestimmten Biographie) nicht in verschiedenen Welten geben kann. Nur ein Identisches kann in unterschiedlichen Welten Realisierung erfahren, also höchstens das Ich, nicht der einmalige konkrete Mensch. 2Realmöglichkeit in Bezug auf eine reale Welt impliziert Realwirklichkeit zu einem bestimmten Zeitpunkt bzw. in einem bestimmten Zeitintervall. 3Nicht alles, was eidetisch möglich ist, muss auch real-möglich sein. So könnte man sich einen Planeten (in diesem realen Universum) vorstellen, auf dem zwar Leben entstanden ist, aber kein bewusstes Leben. Eidetisch möglich ist Bewusstsein trotzdem (was durch das Faktum meines eigenen Erlebens apodiktisch bewiesen wird). Aber damit etwas auch real-möglich ist, müssen alle notwendigen und zusammen hinreichenden Bedingungen irgendwann vorliegen. Liegen sie vor, dann entsteht Bewusstsein mit Notwendigkeit und dieses ist dann real-möglich, real-wirklich und real-notwendig zugleich. Liegen sie faktisch niemals vor, dann ist Bewusstsein an diesem Ort real-unmöglich, wenngleich es stets eine eidetische Möglichkeit bleibt. Die eidetische

7.1  Wessen Zukunft?

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Wenn man sich nun Gedanken über die Zukunft des irdischen Menschen macht, insbesondere über seine mögliche Selbsttransformation, dann ist es aus Gründen der begrifflichen Klarheit geboten, genau anzugeben, ob man vom Menschen nur und ausschließlich im Sinne einer bestimmten biologischen Spezies (Homo sapiens) spricht oder von demselben, insofern er die Lebensform ‚Anthropos‘ realisiert.4 Denn nicht jede Transformation der menschlichen Natur (des Homo sapiens) überschreitet die anthropoiale Gattungsgrenze bzw. den Rahmen anthropoialer Verfassung. So ist es eines, das humane Genom soweit zu verändern, dass es am Ende fraglich ist, ob die jeweiligen genveränderten Wesen noch der Spezies Homo sapiens zuzurechnen sind. Es ist aber etwas völlig anderes, solchen Wesen das Menschsein im Sinne der Fundamentalanthropologie allein aufgrund eines künstlichen Eingriffs in das Genom abzusprechen. Und schon in Bezug auf Homo sapiens ist es fraglich, ab wann man sagen könnte, dass ein genveränderter Mensch nicht mehr Angehöriger der Spezies Homo sapiens ist. Schon wenn über-

Möglichkeit geht der Realmöglichkeit vorher, insofern durch erstere etwas als eine Möglichkeit überhaupt (im Allgemeinen und welt-unabhängig) bestimmt wird. Ist diese reine Möglichkeit Teil einer möglichen Welt, dann ist diese Möglichkeit eine solche, die zudem auf die Idee dieser Welt bezogen ist, was bedeutet, dass es keine eidetische Unmöglichkeit ist, dass diese reine Möglichkeit in dieser Welt realisiert wird (wenn diese Welt selbst real würde). Aber ob etwas tatsächlich real wird, wird nicht durch die eidetische Möglichkeit determiniert. Diese ist vielmehr gar kein Kausalfaktor, sondern bestimmt nur a priori, was durch Kausalitäten überhaupt wirklich werden könnte. Runde Quadrate beispielsweise sind in diesem Sinne keine eidetischen Möglichkeiten (in keiner möglichen Welt), und es kann daher auch real keine solchen geben. Organisches Leben ist dagegen nicht nur eine eidetische Möglichkeit, sondern – zumindest auf unserem Planeten – auch eine reale Möglichkeit von Anfang an gewesen (was man freilich nur ex post feststellen kann) und daher notwendig wirklich geworden. Die logische Implikation von Realmöglichkeit, Realwirklichkeit und Realnotwendigkeit gilt natürlich nur unter der Voraussetzung eines durchgehenden Kausalzusammenhangs. Leugnet man diesen, dann führt man den absoluten Zufall in die Kosmologie und Ontologie ein. Dann wäre jederzeit alles real-möglich, was auch eidetisch-möglich ist. Nichtsdestotrotz würde dies aber ebenfalls bedeuten, dass eidetische Möglichkeiten Realitäten nicht kausal hervorbringen können. Denn würden sie dies, dann bedeutete eine solche eidetische Wirkpotenz nur eine andere Form von durchgehender Kausalität. Vgl. zu diesem ganzen Zusammenhang insgesamt auch Nicolai Hartmann: Möglichkeit und Wirklichkeit. Berlin 31966. 4Von der Selbsttransformation des ‚Anthropos überhaupt‘ zu sprechen, ergibt übrigens überhaupt keinen konsistenten Sinn. Streng genommen ist schon die Rede von der Selbsttransformation des Menschen als irdischer Spezies problematisch. Denn nicht Gattungen und Arten, sei es als begrifflich Allgemeines überhaupt oder als Klasse (Begriffsumfang), können sich transformieren, sondern nur einzelne Individuen (s. hierzu auch unten die Abschlussbemerkung zu diesem Abschnitt). Durch eine Selbsttransformation (wie auch durch natürliche Evolution) können Individuen eine neue Art begründen (bzw. eine neue Art realisieren). Aber die Basis der Veränderung ist immer das Reale und nicht das Ideale, welches lediglich definiert, was überhaupt möglich ist. Das Ideale verändert sich nicht, sondern wird höchstens ersetzt (was eine radikal neue mögliche Welt implizieren würde). Von wem oder was? – Dies ist eine Frage, deren Beantwortung die menschlichen Erkenntnismöglichkeiten vermutlich übersteigt. Doch dies ist eine andere erkenntnistheoretische und metaphysische Geschichte.

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7  Zur Zukunft des Menschen

haupt ein künstlicher Eingriff vorgenommen wurde? Oder erst dann, wenn aus gemischter Elternschaft, z. B. zwischen einer künstlich genveränderten Mutter und einem nicht künstlich genveränderten Vater, keine selbst zeugungsfähigen Nachkommen hervorgehen? Oder erst dann, wenn sich zwei oder mehrere Menschenarten (Post-Homo-sapiens-Spezies) entwickelt haben, deren Angehörigen sich untereinander (interspezifisch) nicht mehr fortpflanzen können?5 Es spricht zwar aus fundamentalanthropologischer Sicht nichts dagegen, begründete biologische Kriterien aufzustellen, ab wann ein Mensch, dessen künstlich verändertes Erbgut zwar auf die Spezies Homo sapiens zurückverweist, trotzdem nicht mehr als ‚Exemplar‘ der Spezies Homo sapiens zu gelten hat, sondern einer neuen bio-artifiziellen Spezies zugeordnet werden sollte. Aber für den fundamentalanthropologischen Begriff des Menschen (Anthropos) ist das Genom (als Kriterium des Menschseins) völlig irrelevant.6 Wer oder was ein Mensch (Anthropos) ist, bestimmt sich nicht über das Erbgut, sondern ausschließlich darüber, ob er/sie/es anthropoiales Leben prinzipiell und konstitutionell zu realisieren vermag. Die Frage, ob der irdische Mensch sich selbst in eine andere Spezies transformieren kann, bedeutet, je nachdem ob man ihn entweder nur als biologische Spezies oder als ‚Anthropos‘ betrachtet, etwas völlig Unterschiedliches: Jemand braucht, obwohl seine Vorfahren Homo-sapiens-Menschen sind bzw. waren, selbst kein Homo sapiens mehr zu sein, obwohl er nichtsdestotrotz anthropoiales Leben realisiert. Und umgekehrt kann jemand nicht mehr in der Lage sein, anthropoial zu existieren, und trotzdem weiterhin der Spezies Homo sapiens legitimerweise zugerechnet werden. Nur wenn es um die Frage geht, ob sich der Mensch als Lebewesen überhaupt zu überwinden vermag, ist es im Grunde gleichgültig, ob man von ‚Homo sapiens‘ oder von ‚Anthropos‘ spricht. Denn mit ‚Mensch‘ wird in beiden Fällen eine Lebensform bezeichnet. Eine solche radikale Überwindung des Menschen als einer Lebensform überhaupt wird zumeist so verstanden, dass der ‚Geist‘ des Menschen in der näheren oder ferneren Zukunft vom Rest des Organismus abgelöst werden kann und durch elektronische Prozesse ein zweites, digitales (postbiotisches) ‚Leben‘ erhält („Mind uploading“). Der Begriff des Lebens ist hier freilich zweideutig – und er ist es spätestens mit dem Aufkommen der Lebensphilosophie Ende des 19. Jahrhunderts. Aus Sicht der Fundamentalanthropologie ist das Leben als das bewusste Leben, also als erlebendes Subjekt und „Dasein“ mit Zukunfts- und Vergangenheitsbezug zu existieren (bzw. ‚zu ekstatisieren‘), nicht das Leben in toto. Hierzu gehören auch alle im Verborgenen ablaufenden Prozesse, die uns am Leben und bei Bewusstsein erhalten und selbst

5In der Science-Fiction-Romanreihe „Red Rising“ (2014  ff.) von Pierce Brown wird auf erzählerisch beeindruckende Weise eine interplanetarische Klassengesellschaft aufgrund genetischer Veränderung entworfen, mit nietzscheanisch anmutenden Herrenmenschen (die Goldenen) an der Spitze und marxistisch anmutendem Proletariat am unteren Ende der Hierarchie (die Roten). 6Es sei denn, es ließe sich nachweisen, dass anthropoiales Leben ausschließlich durch eine Homo-sapiens-ähnliche DNA möglich ist.

7.1  Wessen Zukunft?

147

Lebensprozesse sind (aber eben keine Existenzvollzüge). Sicher: Diese Lebensprozesse können partiell phänomenal zur Darstellung kommen (z. B. unter dem Mikroskop), aber als Phänomene sind sie Korrelate von Leib und Erleben; und für sie gilt daher, dass ihr Sein gewissermaßen ihr Wahrgenommenwerden ist („esse est percipi“). Der organische Körper des Menschen, den etwa die Biologie und die Humanmedizin zum Gegenstand haben, ist kein Ding an sich, sondern nur die Erscheinung oder Repräsentation eines solchen für einen Beobachter.7 Das verborgene Leben firmiert in der Fundamentalanthropologie unter dem Titel „transphänomenaler Leib“ und „transphänomenales Ich“. Beide kommen niemals originär zur Gegebenheit, bilden jedoch die lebendige Basis des Lebens im Sinne des Stroms des Erlebens, der ein Erleben von Selbst und Umwelt ist und damit auch die Präsenz aller existenziellen Verhaltungen, aber eben auch die Betrachtung des Menschen – in naturalistisch-biologischer Einstellung – als bloßen Organismus ermöglicht. Der Befund, dass uns Menschen alles sogenannte organische oder biotische Leben nur als Erscheinung gegeben ist, nicht aber so, wie es an sich selbst ist (und es daher nie originär anschaulich werden kann), spricht alleine zwar noch nicht gegen die Möglichkeit einer postbiotischen, digitalen Existenz. Aber die Unterscheidung zwischen biotischem und digitalem Leben wird dadurch nicht unbedingt unproblematischer. Kann man nämlich keine echte Einsicht gewinnen in das, was Leben im umfassenden Sinne eigentlich ist, dann kann man erst recht nicht zu wissen beanspruchen, ob es eine davon abgelöste digitale Existenzweise geben kann, die als Lebensform gekennzeichnet zu werden verdiente. Der Begriff eines digitalen Lebens knüpft im Grunde beim subordinierten Begriff des Lebens als Erleben an und behauptet, dass Erleben ohne das transphänomenale, sich in unserem lebendigen Körper darstellende Leben realmöglich oder zumindest in dieser Welt realisierbar sei.8 Dies ist jedoch höchst zweifelhaft, 7Der

Repräsentationalismus der Fundamentalanthropologie wird durch zwei Argumente gestützt (die ich hier nur kurz zusammenfassend skizzieren kann): Erstens durch eine Art indirekter Argumentation (die zu zeigen versucht, dass die naturalistischen Prämissen in Widersinn münden) und zweitens durch einen phänomenologischen Befund. Das indirekte Argument, welches die Widersinnigkeit des Naturalismus dartun möchte, lautet: Wenn das wirkliche Gehirn alle bewussten Wahrnehmungen hervorbringt, ohne selbst in direkten Kontakt mit den Dingen zu stehen, dann gibt es eine Differenz zwischen den Dingen an sich und den vom Gehirn produzierten Wahrnehmungsgehalten. Da diese Differenz auch auf das Gehirn selbst zutrifft, ist auch das empirische Gehirn nur eine Erscheinung und kein Ding an sich (desgleichen der empirische Körper). Die empirisch erfahrbare Natur ist also insgesamt keine subjektunabhängige Größe und kann daher nicht sinnvoll als das ontologische Fundament von Subjektivität gedacht werden. Der phänomenologische Befund lautet: Alle wirklichen Gegenstände, insofern sie wahrgenommen werden, sind a) Korrelate leiblicher Kinästhesen und sie werden b) ebenso wie der phänomenale Leib urimpressional-retentional-protentional konstituiert. Der Nachweis der subjektiven Konstituiertheit der Natur und des Eigenkörpers impliziert deren ‚Subjektivität‘. Vgl. hierzu ausführlich: Thorsten Streubel: Kritik der philosophischen Vernunft. Die Frage nach dem Menschen und die Methode der Philosophie. Wiesbaden 2016. 37–49 und 223–357. 8Wenn Realmöglichkeit mit Realnotwendigkeit letztlich zusammenfällt (also: was realmöglich ist, wird auch notwendig real sein), dann bedarf es eines weiteren Modalbegriffs für das, was wir oder andere anthropoiale Lebensformen (irgendwann) zu realisieren vermögen, ohne

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7  Zur Zukunft des Menschen

wenngleich sich hieraus alleine, wie gesagt, auch kein überzeugendes Argument gegen die Möglichkeit des Mind uploading entwickeln lässt. Trotzdem ist es wichtig, sich die Doppeldeutigkeit des Lebensbegriffs klarzumachen und vor allen Dingen, wie beide Lebensbegriffe zusammenhängen: Biotisches Leben kann (nach allem, was wir wissen) mit und ohne Bewusstsein auftreten. Bewusstsein oder Erleben von Selbst und Umwelt ist ein zentraler Aspekt bestimmter Lebensformen, die ich Animanten nenne (s. o. Einleitung und Kap. 6), und daher ist Bewusstsein zunächst ein Aspekt des Lebens selbst (wenngleich nicht unbedingt aller Lebensformen) und zugleich in bestimmten Lebensprozessen fundiert. Ob dieser Aspekt des Lebens durch nichtbiotische Prozesse realisiert werden kann, ist folglich höchst fraglich. Da jedoch Geist und Bewusstsein keine wesentlichen Aspekte biotischen Lebens überhaupt darstellen, scheint es zumindest so, als ob sie überhaupt nicht notwendig nur durch biotisches Leben realisierbar sind. Aber dies könnte ein Trugschluss sein. Aus Sicht der Fundamentalanthropologie kann zwar nicht mit apodiktischer Evidenz behauptet werden, dass anthropoiales Leben aufgrund nichtbiotischer Prozesse prinzipiell unmöglich ist. Hierzu müssten aber die sechs Anthropoialien und ihr Zusammenspiel (im anthropologischen Sextett) als Realitäten erzeugt (und nicht nur simuliert) werden. Da jedoch ohne wirkliches Ich als Subjekt des Erlebens und der Affektionen und Reaktionen anthropoiales Leben undenkbar ist und das Ich selbst etwas Substanzielles zu sein scheint, kann doch mit mentalem Vorbehalt gesagt werden: Es ist relativ unwahrscheinlich, dass ein Silizium-Gehirn tatsächlich ein echtes Ich darstellen (repräsentieren) könnte.9 Und wenn ein Ich prinzipiell nicht als ‚Siliziumgehirn‘ erscheinen und somit nicht auf diesem Wege kreiert werden könnte, dann wären auch artifizielle anthropoiale Lebensformen tatsächlich unmöglich. Am Ich und seiner Identität wird auch, wie wir gleich sehen werden, das Mind uploading als reales Projekt scheitern. Beide Projekte sind aber auseinanderzuhalten: die Kreation einer künstlichen menschlichen Lebensform einerseits und das ‚Hochladen‘ des menschlichen Geistes andererseits, auch wenn der erfolgreiche Versuch, das Letztere zu realisieren, in Wahrheit das Erstere bedeuten würde. Aber während für künstliche Menschen (Androiden), sollen sie anthropoiales Leben realisieren können, notwendig ein

dass feststeht, dass wir (oder andere) es tatsächlich realisieren. So ist es vielleicht nicht unmöglich, dass wir einst durch Gentechnik Menschen mit neuen Sinnen erschaffen können. Ob wir dies tatsächlich tun werden, ist damit nicht behauptet. Insofern könnte dies realunmöglich sein, obwohl es realisierbar wäre. Realisierbarkeit ist also eine ontologische Modalität, die relativ auf anthropoiales Leben ist, das realisierbare Möglichkeiten verwirklicht. Realisierbare Möglichkeiten sind somit von Realmöglichkeiten zu unterscheiden. Etwas kann eine realisierbare Möglichkeit darstellen und trotzdem realunmöglich sein. 9So wie das natürliche Ich sich als organisches Gehirn darstellt, so müsste sich ein künstlich hergestelltes Ich als eine Art Computer darstellen. Nichtsdestotrotz haben wir es unmittelbar immer nur mit Repräsentationen von etwas zu tun, das selbst nicht originär erscheint. Wenn wir also ein künstliches, nichtbiotisches Gehirn kreieren, dann können wir nicht wissen, was wir da ‚an sich‘ erschaffen haben und ob es wirklich ein Ich ist.

7.1  Wessen Zukunft?

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reales Ich gefordert ist (welches die restlichen Anthropoialien erzeugt), muss beim Mind uploading zusätzlich die Identität des Ich gewahrt bleiben. – Und das ist unmöglich, weshalb eben Mind uploading unmöglich ist. Doch bevor ich gleich näher auf das Problem der Identität, welches mit dem Mind uploading als Hoffnungsprojekt verbunden ist, eingehen werde, sei zunächst Folgendes festgehalten: Wenn hier von der Zukunft des Menschen die Rede ist, dann geht es zwar nicht allgemein um die Lebensform ‚Anthropos‘, die ja für sich nur eine Idee ist und daher immer nur in realen Individuen selbst Realisierung erfahren kann (weswegen sich auch nur reale ‚Gattungsexemplare‘ fortentwickeln können), sondern speziell um die Zukunft unserer Spezies, des Homo sapiens. Die Spezies ‚Homo sapiens‘ ist zwar auch nur ein begrifflich Allgemeines und daher ebenfalls nur in realen Individuen selbst gleichsam real, weswegen auch beim Homo sapiens immer von den realen oder realmöglichen Individuen theoretisch und praktisch ausgegangen werden muss; aber insofern hier in Bezug auf alle Artvertreter bzw. ‚Artrealisierer‘ sinnvoll von einer Abstammungsgemeinschaft gesprochen werden kann (zumindest nach allem, was wir über uns zu wissen glauben), dürfte es auch relativ unproblematisch sein, so zu sprechen, als ob die Spezies selbst etwas Reales sei. Trotzdem steht hier nicht der Homo sapiens als biologische Spezies im Fokus, sondern dieser als eine Art anthropoialer Lebensform. Es geht also im Weiteren nicht um die Frage, inwiefern die Spezies Homo sapiens sich etwa durch Genmanipulation zu einer Post-Homo-sapiens-Spezies transformieren bzw. in verschiedene Folgespezies aufspalten könnte (dies scheint durchaus möglich zu sein), sondern primär um die Frage, ob die Vorstellung einer postanthropoialen Zukunft des Homo sapiens als Post- oder Hyperanthropos ein sinnvolles Konzept darstellt. Dies bedeutet auch: Es geht nicht um eine Diskussion des biologischen Artbegriffs, inwiefern dieser überhaupt sinnvoll ist und was sein Anwendungsbereich ist, sondern um die ontologisch-anthropologische Frage, ob es einen realen Weg gibt, die Lebensform ‚Anthropos‘, insofern sie als terrestrischer Mensch Wirklichkeit geworden ist, in eine andere Seinsform zu transformieren, die kein Zurück zu einer präanthropoialen Lebensform (also zu einem vorgeistigen animantischen oder animatischen Lebewesen) bedeuten würde, sondern ein Darüber-hinaus. – Nennen wir eine solche Seins- oder Lebensform also nicht Post-, sondern ‚Hyperanthropos‘. Versteht man übrigens Nietzsches Übermenschen so, dass hiermit die Idee eines geistig freien, seine Werte und Handlungsmaximen autonom setzenden Menschen bezeichnet wird, dann würde ein solcher Mensch die anthropoialen Grenzen gerade nicht überschreiten, sondern vielmehr der „eigentliche“ Mensch sein.10 Der autonome Übermensch ist daher

10Hiermit

soll freilich kein allgemeines Telos des Menschseins behauptet werden, sondern nur eine menschliche Möglichkeit, die jeder einzelne zu realisieren versuchen kann, weil es in seinem Eigeninteresse liegt. Auf diese Weise ‚eigentlich‘ zu werden, setzt als Komplement eine Gesellschaft voraus, die den Willen hat, eine aufgeklärte Gesellschaft zu sein. Autonome (geistig freie) Menschen kann es letztlich (abgesehen vielleicht von einigen wenigen Ausnahmen) nur in einer geistig befreiten Gesellschaft geben; das wäre eine postmoralische, postideologische und postreligiöse Gesellschaft. Vgl. hierzu: Thorsten Streubel: Die Phänomenologie und das

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7  Zur Zukunft des Menschen

keine hyperanthropoiale Lebensform, sondern eine anthropoiale im eminenten Sinne.

7.2 Die Utopie des Mind uploading Im trans- und posthumanistischen Gedanken des Mind uploading wird ein personales Leben imaginiert, das vom eigentlichen lebendigen Grund des erscheinenden Lebens gleichsam chirurgisch sauber separiert werden kann und „Silizium-basiert“ trotzdem als postbiotisches ‚geistig-digitales Leben‘ möglich sein soll. Stefan Lorenz Sorgner schreibt hierzu: Im Unterschied zum Kohlenstoff-basierten Transhumanismus fokussiert der Siliziumbasierte Transhumanismus insbesondere auf die Technologie des Herunterladens der Persönlichkeit auf eine Festplatte, sodass diese multipliziert werden kann, in einen neuen Organismus integriert werden kann oder auch alleine im Cyberspace weiter leben könnte. Diese Prozesse werden als mind uploading oder whole brain emulation bezeichnet. Im Gegensatz zum kohlenstoffbasierten scheint der Silizium-basierte Transhumanismus von einer anderen Anthropologie auszugehen. Der erste legt eine naturalistische Anthropologie nahe. Die zweite Version scheint von einer Art des Dualismus auszugehen – so jedenfalls der Vorwurf zahlreicher Posthumanisten und vieler anderer TranshumanismusKritiker.11

Es lassen sich also im Grunde drei grundsätzliche Möglichkeiten unterscheiden, wie ein digitales Leben nach dem Uploading gedacht werden kann: Ein rein digitales Dasein (mit einem virtuellen Körper?), ein digitales Leben in einem Roboterkörper und ein digitales Leben in einem organischen Körper. Die Implantation eines Computergehirns, welches zugleich eine funktionale Kopie eines menschlichen Gehirns ist, in einen humanen oder posthumanen Organismus, dem man zuvor das organische Gehirn entfernt hat, scheint die Einheit von unbewusstem und bewusstem Leben wieder herstellen zu wollen und eine leibliche Fortexistenz über den organischen Tod hinaus zu gewährleisten. Doch hier – wie auch bei den beiden anderen erwähnten Denkmöglichkeiten – wird etwas Entscheidendes übersehen oder übergangen, wodurch sich das Mind uploading als gleichsam zweckirrationales Projekt erweisen wird. Das entscheidende Problem des Mind uploading ist nämlich, dass dabei die personale Identität nicht gewahrt werden kann. Ich möchte daher davon überzeugen, dass wir uns von dieser transhumanistisch-posthumanistischen Fantasie verabschieden

Politische. Überlegungen zu den methodischen Möglichkeiten und Grenzen der Phänomenologie. In: Perspektiven der Philosophie (2019). 209–228. 11Stefan Lorenz Sorgner: Transhumanismus. „Die gefährlichste Idee der Welt“!? Freiburg i.Br. 2016. 76. Kritisch zu diesen Unterscheidungen: Janina Loh: Trans- und Posthumanismus zur Einführung. Hamburg 2018. 75 f.

7.2  Die Utopie des Mind uploading

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sollten, also von der Hoffnung, dass wir Unsterblichkeit erreichen können, indem wir unserem Geist ein digitales Dasein verschaffen. Doch sehen wir uns an den Ausführungen Nick Bostroms zunächst näher an, wie man sich das Mind uploading genau vorzustellen hat: Unter dem Hochladen wird der Transfer eines menschlichen Geistes vom Gehirn auf einen Computer verstanden, was folgende Schritte beinhalten würde: Erstens muss ein hinreichend detaillierter Scan eines bestimmten menschlichen Gehirns erstellt werden, vielleicht, indem vitrifiziertes Hirngewebe unter starken Mikroskopen automatisch zerteilt und abgetastet wird. Zweitens muss aufgrund dieses Scans mithilfe automatischer Bildverarbeitungsprogramme das dreidimensionale neuronale Netzwerk rekonstruiert werden, das für die Kognition im ursprünglichen Gehirn verantwortlich war. Dieses Netzwerk muss dann mit neurokomputationalen Modellen der Arten von Neuronen kombiniert werden, die das Netzwerk enthält. Drittens muss schließlich die gesamte komputationale Struktur auf einem leistungsstarken Supercomputer (oder Cluster) emuliert werden. Im Erfolgsfall führt das Verfahren zu einer qualitativen Reproduktion des ursprünglichen Geistes – samt Erinnerungen und Persönlichkeit – als Software auf einem Computer. Diese digitale Intelligenz könnte dann entweder einen Roboterkörper bewohnen oder in der virtuellen Realität leben.12

Inwiefern sich das Mind uploading als Kopier- und Emulationsvorgang technisch realisieren lässt, kann und braucht hier nicht beurteilt werden. (Ich hatte oben bereits meine Zweifel geäußert, dass ein Siliziumgehirn ein wirkliches Ich darstellen könnte.) Wenn das Ziel aber die Fortexistenz der eigenen ‚Persönlichkeit‘ über den biologischen Tod hinaus ist, dann ist das Mind uploading ein hoffnungsloses Unterfangen. Und zwar deswegen, weil das Ich (wie im Kap. 5 ausgeführt wurde) unvertretbar ist, was bedeutet, dass die Herstellung eines Zwillings, Klons oder Doubles unseres Geistes bzw. unseres Ich oder Gehirns (oder gar seine Simulation/Emulation) gerade nicht die Persistenz meiner selbst oder meines Ich, bedeuten würde. Ich bin Ich und nicht Alter-Ego – und Ich werde daher erst recht niemals eine digitale Person oder gar eine künstliche Superintelligenz sein. Da mein Ich unvertretbar ist, wird es keine postmortale digitale Existenz geben, die meine Existenz wäre. Ich behaupte also nicht, dass eine digitale Simulation meines Ich (was auch immer das genau heißen mag) unmöglich ist, sondern dass es unmöglich ist, dass Ich es bin, der digital zu existieren vermag und der zuvor biotisch-anthropoial existiert hat. Duplikation bedeutet eben, dass das Double nicht identisch mit dem Original ist. Da Identität durch Duplikation gerade nicht erhalten bleibt, gibt es auch keinen Transfer in ein digitales Dasein. Noch klarer wird dies, wenn man die von Sorgner angesprochene Multiplikation der Persönlichkeit durch Kopiervorgänge in Betracht zieht: Ichidentität schließt Pluralität (Identität mehrerer Iche) aus (wobei es hier nicht um das umstrittene Phänomen der multiplen Persönlichkeit geht, die eben auf ein und dasselbe Ich verweist und an dieses gebunden bleibt). Es ist übrigens interessant, dass dieses Argument – Identität schließt Duplizierung aus – von einem prominenten Posthumanisten bzw. ‚Singularisten‘

12Nick

Bostrom: Die Zukunft der Menschheit. Aufsätze. Berlin 2018. 41 f.

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wie Ray Kurzweil durchaus geteilt wird, ohne dass dies jedoch irgendwelche theoretischen Konsequenzen zeitigte: Wenn wir mich kopieren und das Original zerstören, so ist das mein Ende, da es sich bei der Kopie, wie wir festgestellt haben, nicht um mich handelt. Da die Kopie mich absolut überzeugend imitiert, würde niemand den Unterschied bemerken, doch es wäre nichtsdestotrotz mein Ende.13

Wenn es jedoch mein Ende ist, warum sollte ich mir dann weiter irgendwelche Hoffnungen auf eine digitale Existenz machen? Wir kommen eher noch in den Himmel (oder in die Hölle) als auf eine Festplatte. Gleich wie man sich also das Uploading vorstellt, sei es invasiv oder nichtinvasiv, prinzipiell muss hierbei eine funktionale Kopie des Gehirns erstellt und digital nachgebildet oder simuliert/ emuliert werden. Eine Kopie erfüllt jedoch niemals die strengen Identitätskriterien (s. o. Kap. 5). Was auch immer das ist, was durch Mind uploading hergestellt wird (selbst wenn es ein echtes Subjekt wäre), es ist etwas anderes als der originale Mensch und sein originales Ich. Ein Klon oder eine Kopie meiner selbst ist eben ein Klon oder eine Kopie von mir – und nicht mit mir identisch. Und alles, was nicht mit mir identisch ist, bin ich schlicht nicht. Wer also auf Unsterblichkeit hofft und im Mind uploading hierfür ein probates Mittel sieht, wird enttäuscht werden, wenn er die Prozedur überhaupt überlebt. Denn wenn er nicht getötet wird, bleibt er derjenige, der er war – und stirbt früher oder später den Tod eines Menschen. Oder er wird durch das Mind uploading getötet. – Im letzteren Fall wird er freilich keine Gelegenheit mehr haben, im strengen Sinne ent-täuscht zu werden. Es sei denn, es gibt einen unsterblichen ichlichen Kern; aber diese Art der Unsterblichkeit hätte mit dem Mind uploading nichts zu tun. In der Idee des Mind uploading sind aber noch weitere Fehler enthalten, die nicht nur speziell das Mind uploading betreffen, sondern überhaupt bei der Erschaffung digitalen anthropoialen Lebens erkannt werden müssten (so man denn ein solches Projekt überhaupt für sinnvoll erachtet): 1. Die Identifikation des eigentlichen aktiven Subjekts mit geistigen Prozessen (also die fehlende Unterscheidung zwischen Ich und Geistigkeit) und der Glaube, dass mein Ich- und Subjektsein elektronisch simuliert oder emuliert werden könnten. – Ein simuliertes oder emuliertes Ich ist aber kein wirkliches Ich. Nur ein wirkliches Subjekt ist auch ein wirkliches Subjekt des Erlebens, Wahrnehmens, Denkens und Handelns. Ein simuliertes Subjekt ist überhaupt kein echtes Subjekt, so wie auch die Avatare der Computerspiele keine echten Subjekte und Lebewesen sind. 2. Hieraus folgend: Die fehlende Differenzierung zwischen dem Ich als Subjekt des Subjekts, seinen verschiedenartigen Aktivitäten und den im Erleben auftauchenden Produkten dieser Aktivitäten. Es gilt z. B. zu unterscheiden zwischen (i) dem denkenden Ich, (ii) dem Denken des Ich als Ichaktivität und

13Ray

Kurzweil: Menschheit 2.0. Die Singularität naht. Berlin 22014. 395.

7.2  Die Utopie des Mind uploading

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(iii) den im Erleben erscheinenden Gedanken (etwa den vermeinten Sachverhalten) und imaginierten Wortlauten. 3. Der Glaube, Geistigkeit verhalte sich zum Gehirn (bzw. zum Ich) wie Software zu Hardware. – Der eigentümliche Zusammenhang von Selbst- und Ichaffektion ist jedoch etwas völlig anderes als unbewusste Datenverarbeitung. Der Glaube, Subjektsein bedeute entweder nur (Rechen-)Prozess oder immerhin Ursache von Rechenoperationen zu sein, ist grundfalsch. Das Ich als Subjekt ist zwar auch wesentlich tätiges, aktives Subjekt (Subjekt der Affektionen und Reaktionen). Zuvörderst ist es aber das lebendige Subjekt seines Erlebens und nur insofern kann es überhaupt von Motiven (Erlebnisgehalten) affiziert werden, die es zu Reaktionen aktivieren.14 Weder ein Prozessor noch ein Gehirn sind jedoch Subjekte des Erlebens. Denn ein Subjekt hat nicht nur Bewusstsein, sondern wird auch von den Inhalten des Bewusstseins affiziert. Und Affektion (bzw. allgemein Motivationskausalität) ist eine völlig andere Art Kausalität als die physische. Ein Gehirn ist weder ein Subjekt des Erlebens noch ist es ein Ich der Affektionen und Reaktionen. 4. Die fehlende Differenzierung zwischen Erleben (Bewusstsein) und geistigen Gehalten. – Geistige Gehalte und ihr Erleben sind zwei völlig verschiedene ‚Dinge‘, wenngleich trivialerweise geistige Gehalte auch bewusst werden oder sein können. Wie alle Erlebnisgehalte können indes auch Gedanken nur dadurch bewusst werden, dass sie urimpressional-retentional zur Präsenz gelangen. Was die Herstellung artifiziellen anthropoialen Lebens betrifft (z. B. in Form von Androiden), hängt alles davon ab, ob man ein wirkliches Ich aus nichtorganischen Materialien konstruieren kann. Die Herstellbarkeit von Androiden hat unmittelbar jedoch nichts mit der Überschreitung der anthropoialen Gattungsgrenze unserer Spezies zu tun. Denn es führt kein Entwicklungspfad vom Homo sapiens zu androiden Seinsformen, insofern diese ja reine Artefakte sind, die in keinem biologischen Abstammungsverhältnis zu uns stehen, sondern nur in einem technischen. Und da Mind uploading als Fortexistenz einer Person unmöglich ist, scheidet die Androiden-Option überhaupt als posthumane Möglichkeit aus, das heißt als Transformationsmöglichkeit des Homo sapiens oder einzelner Vertreter desselben. Nichtsdestotrotz ist damit nicht ausgeschlossen, dass in Zukunft Androiden hergestellt werden könnten, die anthropoiales Leben realisieren, wenngleich ich selbst dies nicht für sehr wahrscheinlich halte, weil ich mir nur schwer vorstellen kann, wie unser anthropoiales Leben auf der Basis eines nichtbiotischen Körpers möglich sein sollte. Aber sich etwas nicht vorstellen zu können, heißt natürlich nicht notwendig, dass etwas tatsächlich unmöglich ist.

14Dies

soll nicht heißen, dass das Ich ansonsten völlig inaktiv ist. Aber es kann nur dann motiviert werden, wenn ihm Motive präsentiert werden; und dies setzt Erleben als Präsenz von Selbst und Umwelt voraus.

154

7  Zur Zukunft des Menschen

Anthropoiale Androiden sind übrigens nicht zu verwechseln mit biotischen Gehirnen in einer Maschine bzw. in einem Roboterkörper, also Cyborg-Extremvarianten, und schon gar nicht mit biotischen „Gehirnen im Tank“. Auch in diesen Fällen ist es alles andere als klar, ob solche Seinsformen echte ontische und realisierbare Möglichkeiten darstellen oder nur verrückte SciFi-Fantasien. Es stellt sich nämlich die Frage, ob nicht tatsächlich das Gehirn (bzw. das Ich) notwendig Teil eines (transphänomenalen) lebendigen Leibes sein muss, um anthropoiales Leben realisieren zu können. Das Gehirn-im-Tank-Szenario ist aufgrund der bisherigen fundamentalanthropologischen Prämissen bzw. Befunde, ebenso wie das Gehirn-in-einer-Maschine-Szenario, zwar nicht völlig ausgeschlossen. Aber abgesehen davon, dass es sich hier um echte Horrorszenarien handelt, ist zu fragen, ob diese Denkmöglichkeiten eine Überschreitung der anthropoialen Gattungsgrenze bedeuten würden. Diese Frage führt uns zum letzten Teil dieses Kapitels.

7.3 Weitere Optionen Wenn Mind uploading als veritable Option der Selbsttransformation ausscheidet, wie könnte man sich dann eine Selbsttransformation des Homo sapiens vorstellen? In Bezug auf die anthropoiale Verfassung wüsste ich nicht, was noch hinzukommen könnte, so dass ein Anthropos zu einem Hyperanthropos, also zu einer generisch ‚höheren‘ Lebens- oder gar Existenzform würde (was hier ‚höher‘ auch immer bedeutet). Denn bloße quantitative Steigerungen der bisherigen Fähigkeiten (Gedächtnis, Intelligenz, Gesundheit, Kraft, Lebensdauer etc.) sprengen den anthropoialen Rahmen nicht. Auch neue Sinne (Ultraschallwahrnehmung), neue geistige (z. B. parapsychologische) Fähigkeiten oder auch morphologische Veränderungen für sich, bedeuten keine Überschreitung der anthropoialen Gattungsgrenze. Ebenso wenig würde die weitere Cyborgisierung per se den Homo sapiens als anthropoiale Lebensform in trans- oder postanthropoiale Lebensformen überführen. Die Cyborgisierung stellt im Grunde – zumindest bezogen auf die Gattung Homo – lediglich die Fortsetzung des „Menschheitsprinzips“ (Alsberg) dar, nur dass die „Körperausschaltung“ durch technische Implantate eine neue Qualität erreichen würde und auch schon erreicht hat. Die Cyborgisierung des Homo sapiens hat längst begonnen. Aber legt man das „Subkutanitätskriterium“ zugrunde,15 dann ist diese Entwicklung (Cyborgisierung) nicht gleichursprünglich mit der Anthropogenese schlechthin, sondern beginnt damit, dass in den menschlichen Körper technische Artefakte integriert werden. Eine Brille oder Kontaktlinsen machen (legt man das Subkutanitätskriterium zugrunde) einen

15Vgl.

hierzu Dierk Spreen: Der Cyborg. Diskurse zwischen Körper und Technik. In: Die Figur des Dritten. Ein kulturwissenschaftliches Paradigma (hrsg. v. E. Eßlinger et al.). Berlin 2010. 166–179. 170 f.

7.3  Weitere Optionen

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Menschen noch nicht zu einem Cyborgmenschen, künstliche Linsen, Herz- und Hirnschrittmacher, künstliche Hüftgelenke etc. schon. Günther Anders sprach von der „Antiquiertheit des Menschen“ bezüglich der fortgeschrittenen Technik bzw. der technischen Apparate.16 Der Homo sapiens ist nun dabei, seine Antiquiertheit zu überholen und als Cyborg wieder mit seinen Artefakten ‚gleichzuziehen‘. Ob ihm das gelingt, ist eine andere Frage. (Vielleicht wird Homo sapiens sogar tatsächlich irgendwann von einer artifiziellen Superintelligenz abgelöst, die er selbst erschaffen hat.) Nichtsdestotrotz bedeutet die Cyborgisierung die Fortsetzung des uranfänglichen Menschheitsprinzips der Körperausschaltung durch Technik. Daher bedeutet Cyborgisierung an sich noch keine Überwindung des Menschen als Homo sapiens und Anthropos. Erst wenn man die Cyborgisierung soweit fortgeschritten denkt, dass nur noch ein funktionsfähiges biotisches Gehirn (das selbst auch partiell cyborgisiert sein kann) übrigbleibt, das integraler Bestandteil eines Roboterkörpers ist, wird es fraglich, ob wir eine solche Kreatur noch als Mensch ansehen können. Angenommen ein solcher Cyborg könnte auf seine Weise anthropoiales Leben realisieren (was alles andere als selbstevident ist), wäre er dann immer noch ein Mensch? Das Gehirn wäre ja ein technisch aufgerüstetes biotisches Homo-sapiens-Gehirn; der Rest jedoch wäre nicht human. Dieser ist überhaupt nicht lebendig, sondern ein technisches Artefakt. Die ganze CyborgEntität würde wohl begrifflich nicht mehr als Homo sapiens durchgehen. Und als Anthropos? Unter der hypothetischen und höchst zweifelhaften Voraussetzung, dass das anthropoiale Sextett durch ein Gehirn in einem Roboterkörper realisierbar wäre, spräche eigentlich nichts dagegen, diese Seinsform als Abart eines Anthropos zu begreifen. Man müsste dann die Gattung ‚Anthropos‘ unterteilen in reinbiotische anthropoiale Lebensformen und gemischte anthropoiale Lebensformen (Cyborgs) – und evtl. sogar in nichtbiotische (rein artifizielle) anthropoiale Lebensformen17 – Begriffsdifferenzierungen, die im Moment freilich nur hypothetisch sind. Ein solcher Extrem-Cyborg (Gehirn in einem Roboterkörper) wäre somit nur in dem Sinne eine posthumane Lebensform, als er kein Homo sapiens mehr wäre. Insofern er aber immer noch anthropoiales Leben zu realisieren vermöchte, wäre er höchstens eine technisch transformierte anthropoiale (und nicht: trans- oder postanthropoiale) Lebensform. Und was wäre ein Gehirn im Tank? Eine solche Lebensform würde sich und die Welt nicht mehr repräsentieren, hätte keinen realen (transphänomenalen) Leib und lebte in einer reinen Scheinwelt. Ich bin geneigt eine solche grausige Existenzweise als posthuman und postanthropoial zu bezeichnen, aber nicht als hyperanthropoial. Ein Gehirn im Tank ist jedenfalls nichts, was sinnvollerweise als Hyperanthropos bezeichnet werden könnte, zumindest wenn man darunter

16Günther

Anders: Die Antiquiertheit des Menschen. Band 1. Über die Seele im Zeitalter der zweiten industriellen Revolution. München 71994. 17Der lebendige Anteil würde sich bei solchen Subjekten auf das Erleben von Selbst (einschließlich der Geistigkeit) und Welt beschränken, weil der transphänomenale und der phänomenale Körper nicht lebendig wären.

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7  Zur Zukunft des Menschen

eine höherstufige oder zumindest komplexere, potentere und halbwegs autonome Lebensform verstehen möchte. Aus den bisherigen Überlegungen folgt, dass sich keine klare (oder auch unklare) Idee davon entwickeln ließ, was ein qualitativer (gattungstranszendierender) Sprung in Bezug auf die anthropoiale Verfassung (‚anthropologisches Sextett‘) bedeuten könnte. Ich halte schon eine fast vollständige Cyborgisierung für unmöglich, wie sie in den RoboCop-Filmen dargestellt wird. Aber selbst wenn es möglich wäre, das Gehirn in einen roboterhaften Körper so zu integrieren, dass dadurch weiterhin anthropoiales Leben realisierbar wäre, ändert dies nichts daran, dass dies nur durch den Erhalt dieses organischen Rests möglich wäre, der zudem fortgesetzt am Leben erhalten werden muss. – Sicherlich technisch gesehen alles andere als eine leichte Aufgabe! Da solche Extremvarianten von Cyborgs sich zudem nicht miteinander fortpflanzen könnten, würden diese auch bald aussterben. Denn selbst wenn die Roboterkörper ersetzbar sind, das Ich ist es nicht; und das Gehirn ist sterblich. Und sollte es so etwas geben wie eine Art Seelenwanderung (im Sinne einer Reinkarnation eines Ich), dann sollten wir besser darauf achten, dass das Leben erhalten bleibt, anstatt unser Heil in einer Roboterexistenz zu suchen. Welche Eingriffsmöglichkeiten gibt es noch? Stefan Lorenz Sorgner unterscheidet „vier Bereiche von Enhancement-Technologien“: 1. Genetisches Enhancement; 2. Pharmakologisches Enhancement, d. h. Medikamente, Dopingmittel oder Drogen, Stichwort: Neuroenhancement; 3. Cyborg-Enhancement durch Etablierung von Mensch-Maschine-Schnittstellen oder allgemeiner gesprochen Cyborgs (cybernetic organisms), d. h. Komplexen, die aus lebenden Organismen und digitalen oder nicht-digitalen Maschinen bestehen […]; 4. Morphologisches Enhancement, z. B. Schönheitsoperationen.18

Pharmakologische Enhancement bedeutet nur eine Steigerung, keine qualitative Überschreitung der anthropoialen Verfassung.19 Dies gilt erst recht für das „morphologische Enhancement“. Das Genetische Enhancement kann zwar die Einheit unserer irdischen Spezies auflösen, bedeutet jedoch nicht per se, dass hieraus hyperanthropoiale Lebensformen entstehen können. Und dem „CyborgEnhancement“ scheinen mir ebenfalls Grenzen gesetzt zu sein. Denn man darf ja, wie gesagt, nicht „Transformation“ des Menschen mit „Ersetzung“ des Menschen durch ein Maschinenwesen mit künstlicher Intelligenz verwechseln. Ersetze ich einen Menschen nach und nach durch technische Teile, werde ich diesen Menschen irgendwann töten. Tötung ist jedoch nicht dasselbe wie Transformation, bei der zumindest Ichidentität gewahrt bleiben müsste.

18Stefan

Lorenz Sorgner: Transhumanismus. „Die gefährlichste Idee der Welt“!?. Freiburg i.Br. 2016. 30. 19Vgl. hierzu auch Klaus Viertbauer, Reinhart Kögerler (Hg.): Neuroenhancement. Die philosophische Debatte. Berlin 2019.

7.3  Weitere Optionen

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Was lässt sich also über die Zukunft des Menschen (des Homo sapiens als Anthropos) sagen? 1. Mind-uploading bei allen Angehörigen der Spezies durchgeführt, bedeutete das Ende des Menschen, ohne dessen Transformation in ein posthumanes Wesen. 2. Genetische Manipulation könnte die Einheit der Spezies Homo sapiens zerstören, aber nicht die Transformation des Menschen als Anthropos in einen Hyperanthropos bewirken (es sei denn, man kann sich eine qualitative Veränderung imaginieren, die sich genetisch herstellen ließe, die also realisierbar ist). 3. Die Cyborgisierung wird weiter voranschreiten. Cyborgisierung alleine wird aber die Einheit der Spezies nicht unterminieren, da sich nicht Cyborgs als Cyborgs, sondern nur Menschen fortpflanzen können. Cyborgisierung ist etwas, was den natürlich gezeugten Menschen voraussetzt. Aber auch gentechnisch veränderte Cyborg-Menschen sind, insofern sie menschlich sind, keine hyperanthropoiale Lebensformen. 4. Alle sonstigen Formen des Enhancement stellen ebenfalls die Einheit der Spezies nicht in Frage. Fazit: Menschliche Post-Homo-sapiens-Lebensformen sind qua Genmanipulation durchaus denkbar. Cyborgmenschen gibt es bereits, vielfältige Formen des Enhancement ebenfalls. Wie eine hyperanthropoiale Lebensform oder eben ein Hyperanthropos zu denken wäre, ist dagegen äußerst unklar, wenn eine solche diffuse Idee nicht vielleicht überhaupt sich als eine Unmöglichkeit erweisen wird.

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