Friedrich Nietzsche und das heutige Christentum [Reprint 2019 ed.] 9783111680552, 9783111294322


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German Pages 24 [28] Year 1926

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Table of contents :
Einleitung
Literatur
1. Die Lehre Nietzsches und die Religion
2. Der Grund der Ablehnung der Religion und des Christentums
3. Nietzsche und wir Christen
Inhaltsübersicht
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Friedrich Nietzsche und das heutige Christentum [Reprint 2019 ed.]
 9783111680552, 9783111294322

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praktisch.theologische Reihe:

1:

2: 3:

4:

Prof. D. Friedrich Niebergall, Moderne Evangeli­ sation. 1924 Mk. -.70 Prof. D. Dr. Rudolf Gtto, Zur Erneuerung und Aus­ gestaltung des Gottesdienstes 1925 Mk. 3.50 Prof. D. Dr. Rudolf (Otto u. Lic. Gustav Mensching, Lhorgebete für Rirche, Schule und Haus, insonderheit auch für Jugendfeiern 1925 Geb. Mk. 1.50 Pastor Ludwig Heitmann, vom Werden der neuen Gemeinde 1925 Mk. —.80 Rlttestamentliche Reihe:

1:

Prof. D. Dr. Walter Baumgartner, Das Buch Daniel. 1926 Neutestamentliche Reihe:

1:

Prof. D. Rudolf Bultmann, synoptischen Evangelien. 1925

Die Erforschung der Mk. —.70

Religionsgeschichtliche Reihe: 1:

Lic. Gustav Mensching, Die Bedeutung des Leidens im Buddhismus und Ehristentum. 1924 Mk. —.30

Es werden weiterhin erscheinen: D. Dr. Baumgartner, Israel in der vorderasiatischen Religionswelt. Prof. D. Faber, Psychologie u. Phänomenologie der Religion. Prof. D. Dr. Frick, Mission, aber nicht Propaganda! Prof. D. Dr. Hölscher, Die Propheten. Lic. Mensching, Luthers Galaterkommentar von 1535 in Auszügen übersetzt. Prof. D. Niebergall, Religionspädagogik der Gegenwart. Prof. D. Dr. Gtto, Indische Religionstexte. Pfarrer D. Pfister, Die Psychoanalyse und die theoretischen Prof.

Fächer der Theologie. Prof. Dr. Schaeder, Die orientalisch-hellenistische Gnosis. Prof. D. v. Soden, Das Lutherbild im Wandel der Zeiten. Privatdozent Lic. Wünsch, Barth und Gogarten.

Friedrich Nietzsche und

das heutige Christentum von

Theodor Odenwald Lic. theol. Priv.-Voz. der Theologie an der Univ, Heidelberg

1926 Verlag von Alfred Töpelmann in Gießen

Hu s der Welt der Religion Forschungen und Berichte, unter RRtwirkung von Huöolf Otto und

Friedrich Niebergall, herausgegeben von Gustav RIensching Religionsphilosophische Reihe. Heft 1

Vie Inhaltsübersicht befindet sich auf Seite 24

Vie Seit, in der Nietzsche totgeschwiegen wurde, ist vorüber, ebenso die erste Periode seines Nachwirkens, der Nlode- und Sen» sations- „Nietzscheanismus", diese schlechte Frucht gedankenarmer und seelenloser Diesseitsphilosophie. Unsere Gegenwart, selbst zwischen Unter­ gängen und Anfängen stehend, sieht sein tieferes Wollen und erfaßt in anderer Ebene als bisher die Problematik seines Werkes. Er ragt als ernst zu nehmende Gestalt in unsere Seit herein. Allen Bewegungen der Gegenwart, die im Protest gegen die Geistigkeit des 19. Jahrhunderts um neue Lebens- und Geisterform ringen, ist er irgendwie, sei es bewußt oder unbewußt, Hintergrund. Ist er es auch dem Gegenwartschristentum, das in die Krisis der Kultur hineingerissen und von den Sweifeln und der Verzweif­ lung bedrängt, wie auch von dem anbrechenden Nlorgen der Wende der Seit beleuchtet ist? hat Nietzsche zu dem heutigen Lhristentum, das vor lebenswichtigen Scheidungen und Entscheidungen steht, das in der Tiefe um eine neue Sinngebung kämpft und sich neu auf seine Welt­ aufgabe besinnt, Beziehung? hat sein lebenslängliches Ringen um das Christentum und mit ihm für uns heute noch eine Bedeutung? Um dieser Frage nachzugehen, ist es erforderlich, sein Werk in seiner Stellung zur Religion kennen zu lernen, die ihn sein ganzes Leben verfolgende Auseinandersetzung mit der Religion und seine Kampfansage gegen das Lhristentum aufzuzeigen und das Religions­ problem bei Nietzsche aufzurollen. In ihm handelt es sich um zweierlei: einmal um die Stellung seiner Lehre zur Religion, dann um die Gründe der Ablehnung der Religion und des Lhristentums.

Literatur: E. Bertram, Nietzsche, versuch einer Mythologie, 2. Hufl. Ber­ lin 1919. h. Römer, Nietzsche, Leipzig 1921.

®. Simmel, Schopenhauer und Nietzsche, Leipzig 1907. R. h. Grützmacher, Nietzsche, 5. und 6. Hufl. Leipzig 1921.

E. Hirsch, Luther und Nietzsche, Schriften der Luthergesellschaft 1921. M. Haven st ein, Nietzsche als Erzieher, Berlin 1922. Th. Odenwald, Vas Religionsproblem bei Friedrich

Nietzsche

Leipzig 1922. LH. Schrempf, Friedrich Nietzsche, Göttingen 1922.

E. Gundo lf, K. Hildebrandt, Nietzsche als Richter unsrer Zeit,

Breslau 1923. N. v. Bubnoff, Friedrich Nietzsches Rulturphilosophie und Um­ wertungslehre, Leipzig 1924.

K. I. Gbenauer,

Friedrich

Nietzsche,

der

ekstatische

Nihilist,

Jena 1924. G. Burckhardt, Weltanschauungskrisis und Wege zu ihrer Lösung,

Leipzig 1925.

Es sei noch darauf hingewiesen, daß in der kath. NietzscheLiteratur eine Wendung in der Stellung zu Nietzsche sichtbar

wird.

Sie vollzieht sich zu immer tieferem verstehen vor­

wärtsdringend z. B. in den Arbeiten von:

F. KiesI, Katholische

Weltanschauung

und

modernes

Denken,

Regensburg 1923. R. Lindemann, Nietzsche und das Lhristentum. ver Gral, 1925, heft 4.

E. przqwara, Um das Erbe Friedrich Nietzsches, Schweizerische Rundschau, Rugust 1925.

1. vle Lehre Nietzsches und die Religion. Um Nietzsches Lehre zu erfassen, müssen wir von seiner Gesamt­ geisteshaltung ausgehen, müssen die Impulse, von denen sie getragen ist, spüren lassen und ihre Wurzeln, durch die sie sich nährt, bloß­ legen. Er selbst bezeichnet die geistige Atmosphäre, aus der er lebt, als dionysisch. Sie ist „ein Drang zur Einheit, ein Hinausgreisen über Person, Alltag, Realität, über den Abgrund des vergehens: das leidenschaftlich-schmerzliche Überschwellen in dunklere, vollere, schwebendere Zustände; ein verzücktes Jasagen zum Gesamtcharakter des Lebens, als dem in allem Wechsel Gleichen, Gleich-Mächtigen, Gleich-Seligen; die große pantheistische Mitfreudigkeit und Mitleidigkeit, welche auch die furchtbarsten und fragwürdigsten Eigenschaften des Lebens gutheißt und heiligt; der ewige Wille zur Zeugung, zur Fruchtbarkeit, zur Wiederkehr; das Einheitsgefühl der Notwendig­ keit des Schaffens und vernichtens" (X. 214 Taschenausgabe). Diese dionysische Geistigkeit, deren Parole es ist: „Bleibt der Erde treu, meine Brüder", die die „Rechtfertigung des Lebens selbst in seinem Furchtbarsten, Zweideutigsten, Lügenhaftesten" anstrebt (X. 190), die die Ausdenkbarkeit aller Dinge zum Maß erhebt (XL 287), die „mit eigenen Flügeln ins eigene Himmelreich fliegen" will (VII. 383), die zum Lebensgrundsatz macht: „Man soll das Leben auf das Sicherste, Beweisbarste hin einrichten: Nicht wie bisher auf das Entfernteste, Unbestimmteste, Horizont-Wolkenhafteste" (II. 359) — diese Geistigkeit gebiert Nietzsches Lehre vom Übermenschen und der ewigen Wiederkehr des Gleichen. Diese Atmosphäre ist beim Versuch, in Nietzsches Lehre einzu­ dringen und sie zu verstehen, maßgebender Hintergrund, der die Beleuchtungsperspektiven bedingt. Vie Lehre ist Prophetie eines ek­ statischen Sehers, enthusiastische Entladung. Als solche darf sie nicht an den Widersprüchen, die sich in ihr finden, gemessen werden. Es ist bei der Urteilsbildung über sie nichtssagend, daß Nietz­ sche im Zarathustra ausruft: „Siehe du bist der Lehrer der ewigen Wiederkunft —, das ist nun dein Schicksal! Daß du als der Erste diese Lehre lehren mußt", (VII. 321), während es fest­ steht, daß er schon im Jahre 1873/74 bei seinem Studium der grie-

6 chischen Philosophie auf diesen Gedanken stieß und ihn ablehnte (II. 122). Und es ist belanglos, daß Nietzsche im Zarathustra sagt: „Niemals gab es einen Übermenschen" (VII. 134), während er im Antichrist behauptet: „Vieser höherwertige Typ ist schon oft da­ gewesen" (X. 360). (Es ist nicht angebracht, von Nietzsche als einem Plagiator zu sprechen, oder in der sich widersprechenden Behauptung die Auflösung und Minderwertigkeit seiner Lehre zu erblicken. Auch die versuche eines verstehens, die Nietzsches Lehre im Zusammen­ hang mit der biologischen Fragestellung sehen, sind nicht berechtigt. Sie sind zwar ernster zu nehmen als die vorher angeführten mageren Interpretationskünste. Scheint doch Nietzsche selbst auf diesen Weg der Deutung hinzuweisen: „Der Mensch ist das Glied einer Reihe, die von der Pflanze zum Wurm, vom Wurm zum Affen, vom Affen zum Menschen führt, aber der Mensch ist nicht das letzte Glied. Vie Entwicklung läuft weiter" (VII. 13). Doch die Perspektive: „Der Übermensch als Ziel der biologischen Entwicklung" ist zu eng. Zweifel­ los ist Nietzsche von gewissen naturwissenschaftlichen Gedanken, speziell vom Entwicklungsgedanken, beeinflußt, er bestärkt seine Lebensbe­ jahung. Sie sind gleichsam Kostüme, mit denen sich seine Geistigkeit kleidet. Nietzsche hält sie für konkrete Sichtbarmachung des Diony­ sischen. Aber ähnlich, wie er anfänglich in Wagner den dionysischen Göttersohn erblickt, um dann enttäuscht mit ihm zu brechen, schreibt er den Aphorismus „Anti-Darwin". Schließlich spricht gegen jeg­ lichen versuch, Nietzsches Lehre von der naturwiflenschaftlichen Seite her zu entfalten, die im Keime stecken gebliebene mathematisch phy­ sikalische Fundamentierung der Lehre der ewigen Wiederkunft. Zu­ sammenfassend darf man sagen: der Weg über die Naturwissenschaft führt nicht zum Ziel; denn Nietzsches Gesamtgeistigkeit, die dionysische Atmosphäre, ist in ihm nicht berücksichtigt. Fragen wir von ihr aus nach dem Sinn seiner Botschaft, so will die Idee vom Übermenschen den christlichen Gottesgedanken er­ setzen. „Gott starb - nun wollen wir, daß der Übermensch lebe" (VII. 418). „Einst sagte man Gott, wenn man auf ferne Meere blickte, nun aber lehre ich euch sagen: Übermensch" (VII. 23). Und die Lehre der ewigen Wiederkehr des Gleichen: „Siehe wir wißen, was du lehrst: daß alle Dinge ewig wiederkehren und wir selbst mit, und daß wir schon ewige Male dagewesen sind und alle Dinge mit uns" (VII. 321), richtet sich wieder gegen das Christentum, und zwar gegen seinen Ewigkeitsgedanken. Damit wäre das Ziel der Lehre Nietzsches herausgestellt. Seine Botschaft soll die christliche ersetzen. In der Konzeption des Willens zur Macht, im 2. Buche, in dem die Kritik der bisherigen höchsten Werte gegeben wird, spricht er es unzweideutig aus: „An Stelle

von Metaphysik und Religion die ewige Wiederkunftslehre" (IX.355). will Nietzsche durch seine Verkündung „die Menschen den Sinn des Seins lehren" (VII. 24), so steht bis jetzt fest, daß diese Frage nach dem Sinn des Seins unter Ausschaltung von Metaphysik und Religion beantwortet werden soll. Es müssen nicht-metaphysische und nicht-religiöse Tendenzen und Kriterien sein, denen die Sinnsrage des Lebens unterstellt wird. Die dionysische Geistigkeit, die den Inhalt seiner Lehre prägt, hat von vornherein eine die Religion und die Metaphysik ablehnende Haltung. Sie ist Geistigkeit der reinen Im­ manenz, die als Kriterium nur die „Kusdenkbarkeit, Beweisbarkeit" (II. 359) und die Fünfsinnen-Tatsächlichkeit (X. 405) anerkennt. Wäre Nietzsche in folgerichtiger Konsequenz seiner dionysischen Mentalität nur Lebensphilosoph reiner viesseitigkeit, hätte er sonst nichts zu sagen, so würde er sich zwar als Meister der Sprache aus seiner Seit herausheben und hätte durch seinen Formbildungs­ willen die Grenzen unserer Epigonenzeit weit überschritten. Aber der Inhalt seiner Botschaft bliebe innerhalb des Rahmens des 19. Jahrhunderts, wäre nur zeitbedingt. Die Frage um Nietzsche wäre die Frage um ein Formproblem. Daß er für die Geistes­ geschichte, und nicht zuletzt für die Weiterentwicklung des Thristentums eine inhaltliche Bedeutung hat, dürfte seinen Grund darin haben, daß er die von ihm geforderte dionysische Geistigkeit gegen seinen Willen durchbrechen mutz. Dadurch entsteht in ihm diese un­ geheure Spannung, die ihn vernichtete, die ihn aber auch in die Tiefen des Geistes schauen ließ und ihm ermöglichte, Probleme zu stellen, Fragen zu erheben, Antworten zu suchen, die heute noch nicht ausgeschöpft sind. Line solche Durchbrechung des Dionysischen vollzieht sich zu­ nächst in der Richtung auf die Metaphysik. Der Brennpunkt seiner Lehre, in dem das Dionysische seinen Verdichtung?- und Kul­ minationspunkt finden sollte, wird ihm zu einer Denkantwort auf das letzte Wohin und Wozu, die selbst nicht mehr unter dem ge­ forderten Kriterium der Rusdenkbarkeit aller Dinge steht, die auch als Mutmatzung nicht mehr durch die Rusdenkbarkeit begrenzt ist, wie es Dionysos-Nietzsche verlangt (VII. 247, IX. 188, X. 413, XI. 287 usw.). Übermensch und ewige Wiederkehr, als Antwort auf die Frage nach dem Sinn des Daseins, sind metaphysische Ge­ dankengebilde. Das ist festzuhalten. Sie wollen „an Stelle von Metaphysik" (IX. 353) treten, sind aber selbst metaphysische Lehren, hat seine Verkündigung auch Beziehung zur Religion? Das ist unsere wichtigste Frage. Soweit seine Lehre metaphysisches Ge­ bilde ist, kann man von keiner Beziehung zur Religion reden. Denn Metaphysik ist Entschleierung und Durchdringung letzter Wahrheit

8 mittels des Denkens, Religion ist Erfassen des heiligen im Erleben. Metaphysik ist primär Leistung des Gedankens, Religion ist primär Hingabe des Gesamt-Ichs. Dadurch bestehen zwischen beiden Welten Gegensätze. Und doch gab es immer eine Art der Verbindung zwischen beiden: die religiös getönte Metaphysik. Aber nur diese Form der Verbindung ist möglich. wie ist in dieser Beziehung über Nietzsches Lehre zu urteilen? Auffallend ist die religiöse Tönung und Färbung seiner Ronzeption, der religiöse Apparat, in den seine Botschaft eingekleidet ist. Auch die Gefühlswelt, mit der Nietzsche das (Objekt seiner Lehre umgibt, mutet religiös an. Seine Sprache ähnelt der religiöser Prophetie. Die Personifizierung des Lebens, die Herstellung des Ich-Dn-Verhältnifies zwischen sich und dem Leben hat religiösen Klang. Man wird deshalb mit Recht seine Lehre als eine religiös getönte Metaphysik bezeichnen. Dabei mutz aber ganz eindeutig ausgesprochen werden: diese Gefühlswelt hat den Zauber der religiösen, ohne religiös zu sein. Dieses Überquellende, aus lebendiger Seele Stammende ist nicht schon das Religiöse. Es bleibt in der Sphäre des präreligiösen. Das Lharakteristische der Religion fehlt. 3m Sinne der Religion heißt es: Gott, Du hast mein Ich erhoben, Du hast mich über meine Endlichkeit hinausragen lassen. Bei Nietzsche liegt die (Quelle der Erhebung im eigenen Ich, das bis ins Unendliche gesteigert wird, nicht in einer vom Ich ganz verschiedenen Wirklichkeit, durch die das Ich erst ist. „Wenn es Götter gäbe, wie hielte ich es aus, kein Gott zu sein" (VII. 124). Doch das ist noch nicht die letzte Antwort, die auf die Frage nach dem religiösen Charakter der Botschaft Nietzsches gegeben werden muß. Nietzsche umgibt seine Lehre mit dem Wahrheitsanspruch, durch den alle Religion sich dokumentiert. (Es heißt im Ecce homo: „hat jemand Ende des 19. Jahrhunderts einen deutlichen Begriff davon, was Dichter starker Zeitalter Inspiration nannten? Im anderen Falle will ichs beschreiben. - Mit dem geringsten Rest von Aberglauben in sich würde man in der Tat die Vorstellung, bloß Inkarnation, bloß Mundstück, bloß Medium übermächtiger Ge­ walten zu sein, kaum abzuweisen wifien. Der Begriff (Offenbarung, in dem Sinn, daß plötzlich mit unsäglicher Sicherheit und Feinheit etwas sichtbar, hörbar wird, etwas, das Einen im Tiefsten er­ schüttert und umwirft, beschreibt einfach den Tatbestand. Man hört, man sucht nicht; man nimmt, man fragt nicht, wer da gibt; wie ein Blitz leuchtet ein Gedanke auf, ... ein vollkommenes Außersich-sein mit dem distinktesten Bewußtsein einer Unzahl feiner Schauder und Überrieselungen bis in die Fußzehen; eine Glückstiefe,

in der das Schmerzlichste und das Düsterste nicht als Gegensatz wirkt, sondern als bedingt, als herausgefordert, als eine notwendige Farbe innerhalb eines solchen Lichtüberflusses; .... Alles geschieht im höchsten Grade unfreiwillig, aber wie in einem Sturme von Freiheitsgefühl, von Unbedingtsein, von Macht, von Göttlichkeit" (XI. 350). hier ist das heilige gespürt, hier ist Grausen und Er­ schauern vor dem verborgenen, Nichtverstandenen, Geheimnisvollen, hier ist Getroffensein von einem Du, das dem Gesamtkosmos gegen­ über als ein Übermächtiges erscheint. Und noch eine andere Stelle: „Du wirst niemals mehr beten, niemals mehr anbeten, niemals mehr in endlosem vertrauen ausruhen — du versagst es dir, vor einer letzten Weisheit, letzten Güte, letzten Macht stehen zu bleiben und deine Gedanken abzuschirren — du hast keinen fortwährenden Wächter und Freund für deine sieben Einsamkeiten — . . . Es gibt für dich keinen Vergelter, keinen verbefferer letzter Hand mehr — es gibt keine Vernunft in Dem mehr, was geschieht, keine Liebe in Dem, was dir geschehen wird, - deinem Herzen steht keine Ruhe­ statt mehr offen, wo es nur zu finden, nicht mehr zu suchen hat, du wehrst dich gegen irgend einen letzten Frieden, du willst die ewige Wiederkehr von Krieg und Frieden: — Mensch der Ent­ sagung, in Alledem willst Du entsagen? Wer wird dir die Kraft dazu geben? Noch hatte Niemand diese Kraft!" (VI. 242). Diese Stelle läßt uns wieder auf den religiösen Grund in Nietzsche sehen, hier ist „religiöses Du" als „letzte Güte", als „summum bonum", als wirkende Macht, als Vergelter, als „Wächter und Freund", als „Ruhestatt des Herzens", wie als ewige Unruhe Bewirkendes. Diese Beispiele — sie ließen sich noch um viele vermehren — zeigen, daß Nietzsche die dionysische Mentalität auch in der Richtung auf die Religion hin durchstoßen hat. Neben religiöser Tönung und Färbung, wie sie im Bereich des Enthusiasmus, des ekstatischen Außersichseins, der begeisteten Sehnsucht liegt, ist bei Nietzsche echtes religiöses Empfinden vorhanden. Er kennt die Religion als Band zwischen einer letzten Macht und dem Menschen, als ein wirklich Übergreifendes, das den ganzen Menschen angeht. Er sucht und haßt in gleicher Leidenschaft diese religiöse Verknüpfung. Die Wucht der Ablehnung des Beziehungsverhältnisses zu diesem Du, der un­ geheure Impuls, der aufgebracht wird, diese Bindung von sich zu weisen, zeigt die Stärke des Getroffenseins. 3n ihm spielt sich ein nie endender Kampf zwischen verneinen und Bejahen ab. Bll seine Sehnsucht muß ungestillt bleiben; denn seine Botschaft kann nicht in die religiöse Welt vordringen, seine Verkündigung selbst ist keine religiöse. Sie bleibt im Vorhof deffen, was Religion sein will. Re­ ligiöse Botschaft umspannt immer beides: „Stationäres und Dyna-

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misches": Unruhe und Ruhe in einem Letzten, haben und Suchen nach einem Allumfassenden, vernichtetwerden und Erhobensein durch ein Letztes. Wo nur das stationäre Moment vorhanden ist, da ist nicht mehr Religion, wo nur das Dynamische ist, ist sie noch nicht ganz. Sie ist der Schnittpunkt des Dynamischen und Stationären, das Jn-Einssein der Gegensätze: Bewegung und Ruhe, ohne daß beide aufhörten zu sein. Religion ist immer Bewegüng der Seele auf ein Überkosmisches, das selbst das Rosmische umfaßt, und ist Ruhe der Seele im Nichtirdischen, das wir nur durch das Irdische hindurch ahnen. Nietzsches Prophetie Kann auch keine Religion jen­ seits aller Religion sein, wie man sie bezeichnet hat. Doch läßt gerade diese Formulierung den richtigen Sachverhalt durchschimmern: daß die Verkündigung Nietzsches als Ganzes keine religiöse und doch andererseits mit echt religiösem Empfinden durchsetzt ist. Es ist entscheidend für die Beurteilung Nietzsches, wie für die Beantwortung unserer Frage nach seiner Beziehung zum heutigen Ehristentum, das Verhältnis seiner Lehre zur Religion so zu sehen, wie es hier versucht wurde. Alle Perspektiven, seine Stellung zur Religion nur als Ronsequenz reiner Jmmanenzphilosophie oder des platten Diesseitsstandpunktes zu würdigen, in ihm den anti- und «religiösen Gegner der Religion zu erblicken, sind von vornherein schief und, irreführend. Die unter diesem Gesichtspunkt gewonnenen Urteile über Nietzsches Stellung zur Religion sind abzuweisen; denn ihre Begründung ist unsachgemäß, ist nicht an der Tatsache orientiert, daß Nietzsche die Religion Kennt und sucht, und daß er von der Welt des heiligen getroffen ist. Vie Folgen dieser falschen und oben­ drein meistens noch sehr ärmlichen Betrachtungsweise reichen weit. Es wird einmal das Religionsproblem bei Nietzsche, so wie es vor­ liegt, garnicht gesehen. Damit hängt unmittelbar zusammen, daß seine Gründe der Ablehnung der Religion und des Thristentums nicht völlig erfaßt werden können. Schließlich kann, was das Wich­ tigste ist, seine Bedeutung für das Geistesleben und damit für die Welt der Religion nicht heraustreten. Wäre Nietzsche nur anti- und «religiöser Typ religionsgegnerischer Strömungen des 19. Jahr­ hunderts, dann hätte er uns in unserem gegenwärtigen religiösen Ringen und Suchen nichts zu sagen, wäre nur historische Fundgrube. Wir können diesen Standpunkt seiner unsachlichen Engstirnigkeit wegen nicht teilen. Die Weiterführung unserer Themastellung kann allein unter der hier aufgezeigten Voraussetzung, daß Nietzsche anti­ religiös, aber nicht «religiös ist, erfolgen. 3n dieser Spannung seiner antireligiösen und religiösen Welt wurzelt das Religionsproblem bei Nietzsche, von ihr aus muß auch nach dem Grund der Ab­ lehnung der Religion und des Thristentums gefragt werden.

2. ver Grund der Ablehnung der Religion und -es Christentums. (Es ergab sich uns: Nietzsche will „an Stelle von Metaphysik und Religion" durch seine Botschaft Antwort auf das letzte wohin und wozu geben. Metaphysik und Religion sind ihm die Gegen­ spieler seiner Verkündigung. Zur ein Rennenlernen der Gründe, die ihn zum Nein gegenüber der Religion bewegen, ist es deshalb wichtig, zu erfahren, warum Nietzsche seine Lehre von Metaphysik und Religion abhebt. In der Metaphysik sieht er ein Schlutzverfahren von der Ur­ sache auf die Wirkung, das nicht innerhalb der immanenten Welt stehen bleibt, sondern die „prima causa" als „ein kleiner lieber Herrgott, eine artige Unsterblichkeit, vielleicht etwas Spiritismus" als wisienschaftliches Ergebnis bucht (IV. 19, IX. 430), ein wissen­ schaftliches Ergebnis, das durch Ableitung des Bedingten aus dem Unbedingten gewonnen ist (IX. 427). Diese Methode aber ist die „schlechteste" aller Methoden, diese Ergebnisse sind die schlechtesten Resultate einer Wissenschaft (III. 24). Mag es eine metaphysische Welt geben, „die absolute Möglichkeit davon ist kaum zu bekämpfen", so ist sie erzeugt aus „Leidenschaft, Irrtum und Selbstbetrug". Alle Aussagen über diese Welt beschmutzen das intellektuelle Gewissen (III. 118). Selbst wenn diese metaphysische Welt ist, so kann man garnichts über sie aussagen als ein Anderssein, „ein uns unzuläng­ liches, unbegreifliches Anderssein; es wäre ein Ving mit negativen Eigenschaften" (III. 24). Nietzsche lehnt also die Metaphysik ab, einmal, weil er in ihr die „schlechteste Methode" erblickt (die speku­ lative), dann, weil er die metaphysische Position, als Hinweis auf eine Transzendenz selbst im weitesten Sinn, von seiner dionysischen Mentalität aus abweisen muß. Verhängnisvoll für die Begründung seiner Ablehnung der Religion wird diese seine Stellung zur Meta­ physik, als Methode und als Position, wie er sie sieht, aber erst dadurch, daß er Metaphysik und Religion identifiziert. „Der Idealist hat, ganz wie der Priester, alle großen Begriffe in der Hand (und nicht nur in der Hand!), er spielt sie mit einer wohlwollenden Verachtung gegen den „verstand", die „Sinne", die „Ehren", das „Wohlleben", die „Wissenschaft" aus (X. 365). (Es sind „Dogmen", um die es sich in der Metaphysik und in der Religion handelt, die man nicht glauben kann, „Irrungen der Vernunft" (III. 116). Durch

12 diese Identifikation trifft die Ablehnung der Metaphysik die Religion: „Gott wird ein Ergebnis der Spekulation" (VIII. 77), ein „Begriffsgespenst" (X. 427). Vie Glaubenswelt wird ihm zur Welt des „Fürwahrhaltens", als solche muß sie „ausdenkbar" sein; das ist sie nicht, also bleibt nur: sie ist Irrtum, „Gott ist eine faustgrobe Antwort, eine Undelikateffe gegen uns Denker — im Grunde sogar Klotz ein faustgrotzes verbot an uns: „ihr sollt nicht denken!" (XL 287). Venn „noch nie hat eine Religion eine Wahrheit ent­ halten" (III. 118). „Der „Glaube" als Imperativ ist das Veto gegen die Wissenschaft, - in praxi die Lüge um jeden Preis ..." (X. 423). Wie Nietzsche aus dionysischer Mentalität die metaphysische Position ablehnen mutzte, so mutz er die Glaubenswelt, die sich unter dem dionysischen Kriterium der Ausdenkbarkeit und des Be­ weises als Irrtum erweist, verneinen. Unter sein Wahrheitskriterium gestellt mutz die Wahrheit der religiösen Erfahrung versagen; denn die Art, wie er von Wahrheit spricht, ist die naturwiffenschaftliche. „Was ist Wahrheit? vielleicht eine Art Glaube, welcher zur Lebens­ bedingung geworden ist?" „Das Kriterium der Wahrheit liegt in der Steigerung des Machtgefühls" (IX. 400 ff, überhaupt hierzu: „Der Wille zur Macht" und im Ecce homo: „warum ich so klug bin"). Damit steht fest: Nietzsche lehnt die Religion ab, weil sie seinen amor intellectualis beschmutze. Die Glaubenswelt scheint ihm an die metaphysische Methode gebunden. Die religiöse Überzeugung ist von seinem biologischen Wahrheitsbegriff aus ein Irrtum, sie führt in die gleiche „Hinterwelt" wie die metaphysische Position. Seine Mentalität der dionysischen Vorderwelt, der im Bereich der Lebens­ steigerung liegenden Welt, schneidet alle Tendenzen ab, die im Sinne der Metaphysik und Religion auf ein über die „Ausdenkbarkeit" hinausragendes hinzielen. Neben diesen Gründen, die Nietzsche zwingen, die Religion ab­ zulehnen, liegen noch andere. Die Religion stellt die Forderung der Hingabe, der Unterwerfung des Menschen unter einen letzten willen. Sie verlangt ein bestimmtes soziologisches Verhältnis des Einzelnen zu dem in innerer Überzeugung gewonnenem Letzten, und von da aus zurückwirkend, ein bestimmtes soziologisches Verhältnis des Ein­ zelnen zu der Gesamtheit. Diese Forderung der Religion kann Nietzsche nicht erfüllen. Er Kann kein soziologisches Verhältnis ein­ gehen. 3u einem Du ein Verhältnis zu gewinnen, war ihm un­ möglich. So blieb zurück: „ein herz müde und frech, ein unsteter Wille, Flatterflügel, ein zerbrochenes Rückgrat" (XI 270). Die Ver­ zweiflung des Einsamen kommt über ihn. Wohl erlebt er in den Schauern der Inspiration das Du; aber so leidenschaftlich er sich

nach einem Du sehnt, so radikal mutz er es von sich stoßen. Auch das religiöse Du, das Geborgensein, das im Sinne der Religion nicht aufhört, Sehnsucht zu bleiben, muß sich Nietzsche versagen, so sehr er auch sehnsüchtig nach ihm verlangt. „(Es gibt einen See, der es sich eines Tages versagte, abzufließen, und einen Damm dort aufwarf, wo er bisher abflotz; seitdem steigt dieser See immer höher" (VI. 243). So errichtet auch Nietzsche sich einen Damm, und sein Jchgefühl mündet in titanisch gesteigertem Selbstgefühl. Warum? War es nur titanischer Trotz, romantische Genialität? Nein. „Der Mensch des Glaubens, der Gläubige ist notwendig ein abhängiger Mensch" (X. 436). hier liegt die Lösung. Nietzsche erblickt in dem religiös-soziologischen Verhältnis nur Abhängigkeit, nur Verkleine­ rung, nur Schwäche für das Ich, er sieht in der Religion nur Bin­ dung zur Unfreiheit. Das religiöse Du bedeutet ihm Entwürdigung, Entwertung, Entnervung des Ich, anstatt Freiheit in der Bindung. Das Dennoch des Glaubens war ihm leere traditionelle Form ohne Gewicht und Schwere. So mußte er das Du der Religion ablehnen, aber aus seiner religiösen Sehnsucht nach Bindung die Mythengestalt des Übermenschen schaffen und die „Mutmaßung" der ewigen Wieder­ kehr denken. Er mußte die religiöse Glaubenswelt ablehnen, weil er sie in einem Verhältnis der Identifikation zur spekulativen Metaphysik sah, weil er in der religiösen Überzeugung von seinem biologischen Wahrheitskriterium aus einen Irrtum erblickte, weil das religiöse Du sein titanisches Ich aufs Tiefste verletzte, weil es nach Schwäche roch. Als so Denkender, Fühlender und Wollender, als Mensch der dionysischen Mentalität mußte er Nein sagen, Nein gegen seine eigene Sehnsucht, Nein gegen die religiöse Welt, die er in sich trug. Seine Beru­ fung war, das eigene Schattenbild in menschenferner höhe zu errichten:

„hoch wuchs ich über Mensch und Tier; Und sprech ich — niemand spricht mit mir. Zu groß, zu einsam wuchs ich und zu hoch Ich warte: worauf wart ich doch? 3u nah ist mir der Wolkensitz, Ich warte auf den ersten Blitz." Dieses Warten war sein Leben - aber es war ihm verzehrende Leidenschaft, da Nein sagen zu müssen, wo er liebte, da von sich stoßen zu müffen, wo sein herz war. (Es ist tragisch, daß ein für religiöses Leben so scharfes Auge seinen Horizont im Vorhof der Religion behalten mußte, daß ein so tiefer Wahrheitssucher dilettan­ tische Wahrheit schuf, daß ein so die Religion Liebender und Suchender sie so satanisch Haffen mußte.

14 3n diesen Gründen für die Ablehnung der Welt der Religion wurzelt auch Nietzsches Stellung zum Christentum, vor der dio­ nysischen Geistigkeit, die das Erkennen durch das sinnlich Erreichbare unb Errechenbare begrenzt, ist die christliche Glaubenserkenntnis ein „Hemm­ schuh ", eine „Krankheitsform" der Wissenschaft, „ die allein Gott gleich macht" (X. 425). Nietzsche ist in seinem Urteil über den Glauben und die Glaubensgewißheit typischer Vertreter des vreistadiengesetzes. 3m Glauben sieht er „Übung und Vorspiel der Wissenschaft (VI. 255 f.). Vas Reich des Glaubens fällt ihm mit „abergläubischer Angst vor dämonischen Strafgerichten" zusammen (II. 380), er setzt es zu „Zaubervorgängen" in parallele. Diese Einwände gegen die Re­ ligion gelten auch dem Christentum, ihm ganz besonders, denn es ist doch Nietzsches Lebenseinsatz, „mit dem Christentum fertig zu werden" (X. 454). Alle Einzelheiten seiner Kampfansage können wir hier nicht verfolgen. 3nnerhalb unseres Rahmens soll nur sein Gegensatz gegen das Christentum, soweit er für uns heute von Bedeutung ist, heraus­ treten. Nur die übergreifende Spannung, die zugleich mehr als nur schiefe Urteile über das Christentum enthält, ist hier von 3nteresse. Nietzsche erblickt in der christlichen Botschaft ein Zwiefaches: einmal die Erschließung einer Überwelt, dann eine ganz bestimmte Forderung zum handeln. Die in christlicher Glaubensgewißheit ge­ wonnene Beziehung zu einer Überwelt mutz er ablehnen. Diese Ver­ kennung der Glaubenswelt, die Gottesglaube und Ewigkeitsgedanke als Ergebnisse spekulativer Metaphysik würdigt, ist schon berührt, wir können uns deshalb ohne weiteres Nietzsches Stellung zum christ­ lichen Ethos zuwenden. Wohl niemand vor Nietzsche hat in gleich dringlicher Weise das Problem Christentum und Welt gesehen und empfunden. Askese und Mönchtum hängen wohl mit dieser Frage zusammen, aber die Welt wird hier nicht ernst genommen, sie bleibt mehr oder weniger Schein, von dem man sich dann abkehrt. Anders bei Nietzsche. Seine lebenbejahende Weltanschauung dionysischer Mentalität nimmt alles, was Welt heißt: Kultur, Staat, Wissenschaft, Kunst, mensch­ liches Leben so ernst, wie es eigentlich nur dem Christen aus seinem Schöpferglauben sinnvoll möglich ist. Anderseits erscheint ihm das Christentum die lebenverneinende Macht schlechthin, die „Entartungs­ erscheinung" für jegliche Lebensbejahung. Diese Spannung zwischen dem Dionysischen, das das Leben auch in seinen fragwürdigsten Er­ scheinungen bejaht, ein Ethos der Lebenssteigerung in sich trägt, und dem Christlichen, das, wie es Nietzsche sieht, auf Lebenshemmung, Lebensvernichtung eingestellt ist, kann allein in negativem Sinne für das Christentum gelöst werden. Ein Christentum als Feind der

Sinne und des Leibes, als Verneiner des Staatsgedankens, als Hemmung der Kultur, der Wissenschaft und der Kunst ist so wider Nietzsches Grundeinstellung, daß es zum Bruch kommen muß. Da er in der Tiefe erfaßt hat, daß die europäische Gedankenwelt mit christlichem Geist durchtränkt ist, daß es nicht gelingt, mit ein paar Tintenstrichen die christlichen Jdeenkreise aus der europäischen Geistes­ welt herauszuschälen, ist die Prognose für die Weiterentwicklung der europäisch-christlichen Kultur äußerst düster. Sie stellt in dieser Ver­ quickung von christlichem und profanem Geist „Verfallserscheinung" fest, und da er selbst im besten Sinne Europäer ist, wird sein Kampf gegen das Christentum immer leidenschaftlicher. Vieser Einwand gegen das Christentum: als „Verfallserscheinung", in dem von ihm bezeichneten Sinne der Lebensverneinung, der Entnervung des Da­ seins, ist der übergreifende; alle anderen Gegenargumente hängen mit ihm zusammen und sind ihm unterzuordnen. Er selbst enthält für die Beurteilung Nietzsches und für die Frage nach seiner Be­ ziehung zu unserem heutigen Ringen innerhalb des Christentums zweierlei von Wichtigkeit: einmal, Nietzsche ist der Meinung, daß die Lebensverneinung des Christentums durch den „Jenseitsglauben" bedingt wird. Der „Jenseitsglaube" legt das Schwergewicht des Lebens hinter dieses Dasein (X. 413), die „jenseitige" Sphäre ent­ würdigt alle diesseitigen Institutionen und setzt sie herab (IX. 188). Aus dieser „Hinterwelt" ist zu verstehen, daß die Christen glauben, geboren zu werden, um gleich wieder anzufangen mit dem Sterben (VII. 63). Nietzsche verbindet also christliche Glaubensgewißheit mit christlichem Ethos, oder weitergefaßt: er ist der Überzeugung, daß das christliche Weltverhältnis, die christliche Weltgestaltung aus der christlichen Glaubensgewißheit in Angriff genommen werden muß. Damit hat Nietzsche seinen genialen Blick für das Christentum ver­ raten. Es ist konsequent, daß er das christliche Ethos ablehnt, wenn er nicht von der Glaubenswelt, aus der es stammt, durchdrungen ist. Auch enthält dieser Einwand ein außerhalb des Dionysischen liegendes Kriterium. Vie Beurteilung der Religion und des Christen­ tums aus dionysischem Geist ist vorwiegend intellektualistisch gehalten. Der naturwissenschaftliche Wissenschaftsbegriff ist das Forum, vor das die Religion gestellt wird, vor ihm kann sie nicht bestehen, allein deshalb nicht, weil das Kriterium selbst der Religion heterogen ist. Mit diesem Maß gemessen muß auch das christliche Ethos minder­ wertig sein, allein schon deshalb, weil es in der transsubjektiven Glaubenswelt wurzelt. — Das andere Maß, das Nietzsche an das Christentum anlegt, ist nicht intellektualistischer Einstellung entnommen. Am deutlichsten tritt es in der Formulierung zutage: „Jetzt ent­ scheidet unser Geschmack gegen das Christentum und nicht mehr die

16 Gründe." „Vas Ideal wird nicht widerlegt — es erfriert" (XI. 334, vgl. X. 435, 450, XI. 138). Vie Intention dieses Gegen­ arguments ist weit wichtiger, weil sie in der Ebene der Religion liegt und ihrer Sphäre adäquat ist. Sie ist weit gefährlicher, weil sie, als außerhalb des Rationalen stehend, nicht rational widerlegt werden kann, von einem letzten Instinktanderssein aus wendet sich Nietzsche gegen das Christentum. Rus seiner dionysischen Lebensbe­ jahung heraus, die in sich selbst ruht und ihre Wahrheit durch das Leben verifiziert, die ihren „wissenschaftlich" prophetischen Ausdruck in seiner religiös getönten Rletaphysik findet, erscheint ihm das Christentum als Lebensverneinung. Diese seine ureigene Lebensein­ stellung ist durch keine Frage des warum letztlich evident zu machen. Man kann vielleicht alle Mosaiksteine dieses Bildes einzeln haben, — sicher spielt in seiner Grundeinstellung Erziehung, Erbe vieler Generationen, Rrankheit, Geistigkeit seiner Seit eine Rolle — aber die Antwort, warum dieses Bild gerade so ist und nicht anders, kann nicht gegeben werden. In unserem Susammenhang bleibt noch von Interesse, ob Nietz­ sches Urteil das Christentum auch trifft. Ist der Seinsgehalt des Christentums lebenverneinender Art? hier ist rundweg Nein zu sagen. Nietzsches Blick für das Christentum ist in dieser Frage getrübt. Er prüft nicht die umfaffende und reichhaltige Spannweite der christlichen Religion, sondern sein Urteil ist an einzelnen zeitbe­ dingten Ausprägungen des Christentums orientiert und wird von da auf das Gesamtchristentum, auf das christliche Prinzip übertragen. 3m wesentlichen ist es der puritanisch-asketische und tränenselige Geist des Pietismus mit seiner Weltverneinung, der ihn sein Urteil fällen läßt, und von anderer Seite her die verwäfferte Bildungs­ religion im Sinne eines v. F. Strauß, in der er keine weltgestaltung des Christentums wahrnimmt, sondern ein handeln des Christen, das sich nicht von dem handeln aller Welt unterscheidet (IX. 148). Schließlich veranlaßt ihn noch die urchristliche endgeschichtlich orien­ tierte Welthaltung, der urchristliche Endglaube, — selbst eine äußerste Suspitzung der Ueberzeugung von transzendenter Wirklichkeit — das christliche Bewußtsein von einem neuen Sein prinzipiell als ein die Welt und das Leben negierendes zu deuten. Wie er die Religion ablehnt, Worte des Unglaubens hinaus­ schrie aus Sehnsucht nach letzter Hingabe, vertrauen, Bindung, so weist er auch das Christentum ab, während er doch immer in seinem Banne blieb. Sieht man auf die großen religionsgeschichtlichen Berg­ ketten, die im geschichtlichen Prozeß sich herausgebildet haben, so gehört Nietzsche als europäisch-abendländischer Mensch in die Spann­ weite des Christentums; er steht nicht auf der Seite des Buddhis-

mus, den er immer gegen das Christentum ausspielt. Er ist Erbe der gesamteuropäischen Geistigkeit, die immer irgendwie mit dem Christentum amalgamiert ist. Sein reicher Geist umspannt die Viel­ fältigkeit der Typen europäischer Geistigkeit, seine lebendige Seele sucht ein Letztes in allen möglichen Nuancen christlicher Leidenschaft für Gott. Man darf dieses Nebeneinander der Reichhaltigkeit seines Geisteslebens nur nicht zum Nacheinander umschichten wollen, oder in die Enge eines bestimmten religiösen oder geistigen Typs pressen. Nietzsche hat protestantisches Erbgut in sich, die protestantische Ver­ einzelung, wie die protestantische Gewissensfreiheit, die das Gericht in sich trägt. Dürers Bild: Ritter, Tod und Teufel ist ihm Symbol unseres Daseins, es begleitet sein Leben, es kehrt in seinen Schriften immer wieder. Vieser Trotz, dieses Dennoch, diese Vereinsamung ist Lutherischer Geist: „Jeder muß in eigener Person geharnischt und gerüstet sein, mit dem Teufel und dem Tode zu Kämpfen. . . Ich werde dann nicht bei dir sein, noch du bei mir ..." (Jnvocavitpredigten). Nietzsche hat aber auch Platz in sich für Wesenszüge des Ratholizismus: sein Ringen um Gebärde, um Sinnenfälligkeit, fein Streben nach Harmonie von Geist und Gestalt stellt ihn in den Bereich des katholischen Zormungs- und Gestaltungswillens. Es führt von ihm ein Weg zum Kreis um K. Barth, der liegt nicht auf der Oberfläche, und es gehen von ihm Linien zu Stefan George, die aber ganz sichtbar sind. 3m Katholizismus sieht er „vielleicht die feinsten Gestalten der menschlichen Gesellschaft ausgemeißelt, die es bisher gegeben hat: die Gestalten der höheren und höchsten Katho­ lischen Geistlichkeit, namentlich wenn diese einem vornehmen Ge­ schlecht entsprossen waren und von vornherein angeborene Anmut der Gebärden, herrschende Rügen und schöne Hände und Füße hin­ zubrachten. hier erreicht das menschliche Antlitz jene vurchgeistigung, die durch die beständige Ebbe und Zlut der zwei Arten des Glücks (des Gefühls der Macht und des Gefühls der Ergebung) hervorge­ bracht wird" (V. 59). Daneben liegt in ihm ein romantischer Zug: die Wertung der Individualität, des souveränen Ichs, des genialen Menschen, des göttlichen Egoismus. Er ist Skeptiker und Mystiker. Nach außen sagt er sich von der Mystik los: „Wahrlich ihr täuscht, ihr Beschaulichen! Auch Zarathustra war einst ein Narr eurer gött­ lichen häute, nicht erriet er das Schlangengeringel, mit dem sie ge­ stopft waren" (VII. 181). Doch das „Glücklichsein im Schauen" hat er nie in sich ausrotten können. Vie Vielgestaltungsmöglichkeit europäischen Geisteslebens und europäischen Thristentums klingt aus ihm heraus; aber er ist zu keiner Gestaltung gekommen, selbst die sein Ich umfassende dionysische Welt kommt nicht rein zur Entfaltung, wird vielmehr von anderen

18 Einstellungen durchbrochen. Nietzsche findet Keine Harmonie, obwohl er sie so tief sucht und begehrt. Er bleibt der „gläubige Zweifler", der „gottsuchende Lästerer" „der Verkünder luziferischen Trotzes, aber eines Trotzes, der mit göttlichem Heimweh rätselhaft vermischt und beinahe identisch ist", slus seinem Suchen hat er seiner Zeit den Spiegel vorgehalten, um ihr ihre Physiognomie zu zeigen: die Züge der Nulturseligkeit, des hohlen Zortschrittsgedankens, der philisterhaftigkeit, was letzte Werte angeht, eines Lebens nach außen, dar die Seele demütigt, der Zreigeisterei, der die Leidenschaft und das Leiden an den letzten Dingen fehlt, der Proletarisierung in demagogischer Gleichmacherei, die Nlassenordnung anstrebt, anstatt Rangordnung. „Pöbel oben, Pöbel unten!" ruft Zarathustra aus. „Darum, o meine Brüder, bedarf es eines neuen Adels, der allen Pöbel und allen Gewalt-Herrischen Widersacher ist und auf neue Tafeln neu das Wort schreibt: „edel". So ist er Richter seiner Zeit und will sie durch seine Botschaft neuen Zielen und neuem Leben zuführen. Aber in seiner Zeit blieb er eine Einzelgestalt, die unter der Vereinzelung litt, die sich verzehrte, ohne zu beleben. Um die wende des Jahrhunderts ist sein Werk Schlagwortregister für vampirische Literaten, Genutzmittel für Ehrfurchtslose, dämonische Lektüre puber­ tätsjähriger. Erst in jüngster Zeit wird sein tieferes Wollen erfaßt, enthüllt sich, daß sein Werk über die Spannweite der Geistigkeit des 19. Jahrhunderts hinausreicht. Durch das geistige und religiöse Ringen unserer Gegenwart klingen nachhaltig Grundtöne seines Werkes. Es ist daher nicht unberechtigt, nach Nietzsches Beziehungen zum heutigen Thristentum zu fragen.

r. Nietzsche und wir Christen. Vas heutige Thristentum ist in den Umwertungsprozeß, der durch die Nulturwelt hindurchgeht, mit hineingeriflen. Wie es in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Anpassung an die Kultur matt und ärmlich geworden war, sich begnügte, als Gberflächenerscheinung zu existieren, auf Weltgestaltung verzichtete und als Glaubenswelt vor der Bildung kapitulierte — Pietismus, Grthodoxie und Katholizismus machen keine Ausnahme, es kam auch hier nicht zu einer Weltdurchdringung aus christlichem Impuls, und die Glau­ benswelt war rational überkrustet oder hierarchisch-magisch gebunden — so ist es auch jetzt in die gegen die vorhergehende Zeit reagie­ renden geistigen Bewegungen hineinverschlungen. (Es ist unmöglich zu sagen, was z. v. an der ersten Generation der Jugendbewegung, der Tendenz des Irrationalismus, dem Streben des Expressionismus

«us christlichem Geist stammt und was nicht. Nur allgemein kann konstatiert werden: die Seele bekam wieder Temperatur, man wollte aus historischen Verschalungen heraus, das Denken, Fühlen und Wollen war in eine neue teleologische Flut eingetaucht. Vie Lust um uns herum war in Bewegung; sie war mit Wiederkunstsglauben, Mystik, Apokalyptik aller möglicher Art geschwängert. Vas Geistes­ leben tendierte auf neue Ziele, ohne daß jemand sie auf eine Formel bringen konnte; sie waren nur negativ bestimmbar, positiv nur erfühlbar. fln diesem Prozeß der Neuorientierung nahm das Christentum teil. Die teleologische Welle äußerte sich bei ihm in einer Selbst­ besinnung, die an seinem Kernpunkt, der Erschließung der Ueber« weit und dem handeln aus ihr in und an der Welt, einsetzte und von daher orientiert war. Auch innerhalb der christlichen Selbst­ besinnung ist das Telos nur erfühlbar, nicht rational bestimmbar, oder meß- und errechenbar. Die Frage nach der Erreichbarkeit dieses Telos ist schon verkehrt, und jede Antwort darauf überschreitet die menschliche Grenz«. Diese Umwertung aus anderer Zielrichtung und deshalb anders gelagerter Spannung innerhalb der christlichen Welt zeitigte sowohl in der Stellung zu der in der Glaubensgewißheit erfaßten Ueber« weit, wie zu der in ihr liegenden Forderung zum handeln bestimmt zu bezeichnende Haltungen. Auf diese allein kommt es uns hier an, nicht auf die positiven Lösungsversuche oder auf die Wege, die auf ein Siel führen sollen. Solche Haltungen sind z. B.: Vie neue Wendung im Christentum stellt sich gegen das Allerweltschristentum, in dem die Masse der Gleichgültigen und Unbesinnlichen lebt; sie macht Front gegen seine pfäffische Auswirkung, die es zum Mittel politischer Beeinflußung degradiert und zur Massenbeherrschung, zur Rettung von Klassenmonopolen und Standesinteressen benutzt; sie kämpft gegen die „Klein-Leute-Metaphqsik", die christliche, aber zeitbedingte Vorstellungswelt der Vergangenheit für das Wagnis des Glaubens hält, mit der Geste der Erhabenheit den Anspruch auf Kllwifienheit erhebt, damit den Glauben aber rational zur Lehre abstempelt; sie macht einen Trennungsschnitt zwischen sich und den okkulten Be­ strebungen, weil sie Weissagung durch Wahrsagung ersetzen. Aus derartigen Erscheinungsformen der Spannungen des gegenwärtigen Thristentums ist ersichtlich, daß man um ein neues Verständnis des Glaubens ringt, eine neue „Entbindung" des Sinns des Glaubens sucht, parallel zu dieser Belebung der Tiefendimension christlicher Geisteshaltung läuft die Neubesinnung auf die Aufgabe des Thristentums in und gegenüber der Welt. Dieses wollen läßt sich auf den Generalnenner: Reichgottesgedanke und Reichgottesarbeit bringen

20 und vielleicht dahingehend veranschaulichen. (Es handelt sich nicht darum, das Reich Gottes zu verwirklichen, sei es in katholischem Sinne oder in dem eines utopischen Zukunftsstaates, noch sich aus dem Leben dieser Welt zurückzüziehen, weil man das Eingreifen Gottes in den Weltverlauf als einen plötzlichen Abschluß der Geschichte dieser Welt erwartet, noch die Welt als gegebenes notwendiges Übel hinzunehmen, als das Jammertal, in dem es nun einmal aus­ zuharren gilt. Vie Fruchtbarmachung des im christlichen Glauben gegebenen Schöpfergedankens trennt nicht mehr die Gotteswelt in eine minderwertige diesseitige und eine höherwertige transzendente Welt, die zeitlich-räumlich aufeinanderfolgen, sondern stellt uns in die Wirklichkeit der Welt als Gotteswelt. 3n ihr sollen wir aus der Glaubensgewitzheit das Christentum verifizieren, d. h. unser handeln und das Welthandeln aus dem Geist des Christentums zu prägen suchen. Ist die Lage des gegenwärtigen Christentums eine derartige, wie wir sie anzudeuten versuchten, liegt der Hauptakzent der Um­ wertung und Umschichtung auf der Frontstellung gegen die Ver­ schmelzung von Christentum und Kultur, wie sie das 19. Jahrhundert zeitigte, und auf dem neuen Verständnis des Christentums aus seinem eigenen Sinne heraus, dann ist Nietzsche in seinem Kampf gegen und um das Christentum Hintergrund unseres gegenwärtigen Ringens. 3n seiner Auseinandersetzung mit der Zentralsrage der christ­ lichen Religion stießen wir aus Tendenzen, die der Wende des Christentums unserer Zeit parallel laufen. Nietzsche ironisiert das Allerweltschristentum, es ist ihm ein Grund für sein Nein zu dieser Religion: „hat man wohl beachtet, inwiefern zu einem eigentlich religiösen Leben ... der äußere Müßiggang oder halbmüßiggang not tut, ich meine der Müßiggang mit gutem Gewissen, von Alters her, von Geblüt, dem das Aristokraten-Gefühl nicht ganz fremd ist, daß Arbeit schändet — nämlich Seele und Leib gemein macht? Und daß folglich die moderne, lärmende, Zeit auskaufende, auf sich stolze, dummstolze Arbeitsamkeit, mehr als alles Übrige, gerade zum „Unglauben" erzieht und vorbereitet? Unter denen, welche zum Beispiel jetzt in veutschland abseits von der Religion leben, finde ich Menschen von vielerlei Art und Abkunft der „Freidenkerei", vor allem aber eine Mehrzahl solcher, denen Arbeitsamkeit, von Geschlecht zu Geschlecht die religiösen 3nstinkte aufgelöst hat: so daß sie gar nicht mehr wißen, wozu Religionen nütze sind, und nur mit einer Art stumpfen Erstaunens ihr Vorhandensein in der Welt gleich­ sam registrieren. Sie fühlen sich schon reichlich in Anspruch genommen, diese braven Leute, sei es von ihren Geschäften, sei es von ihren Vergnügungen, gar nicht zu reden vom „Vaterlande" und den Sei-

tungen und den „Pflichten der Familie": es scheint, daß sie gar keine Zeit für die Religion übrig haben, zumal es ihnen unklar bleibt, ob es sich dabei um ein neues Geschäft oder ein neues Ver­ gnügen handelt, - denn unmöglich, sagen sie sich, geht man in die Kirche, rein um sich die gute Laune zu verderben. Sie sind keine Feinde der religiösen Gebräuche; verlangt man in gereiften Fällen, etwa von Seiten des Staates, die Beteiligung an solchen Gebräuchen, so tun sie, was man verlangt, wie man so Vieles tut —, mit einem geduldigen und bescheidenen Ernste und ohne viel Neugierde und Unbehagen: ...Zu diesen Gleichgültigen gehört heute die Überzahl der deutschen Protestanten aus den mittleren Ständen, sonderlich in den arbeitssamen großen Handels- und Verkehrszentren" (VIII. 81 f.). Vie Alltagschristen erscheinen ihm als „erbärmliche Figur" (III. 128), die „die Resignation und Bescheidenheit zur Gottheit er­ hoben haben" (V. 88), die „niemals die Handlungen praktizieren, welche ihnen Jesus vorgeschrieben hat", „die handeln wie alle Welt" (IX. 148). Da kann dann Nietzsche ausrufen: „Das wäre also euer Christentum! Um Menschen zu ärgern, preist ihr ,Gott und seine heiligen'; und wiederum, wenn ihr Menschen preisen wollt, so treibt ihr es so weit, daß Gott und seine heiligen sich ärgern müssen" (IV. 51). Das führt ihn schließlich zum Ergebnis: „Sm Grunde gab es nur einen Lhristen, und der starb am Kreuz" (X. 407). Er wendet sich, parallel den heutigen Tendenzen, gegen die „Klein-Leute-Metaphysik" seiner Zeit, in der Meinung, sie repräsen­ tiere das Christentum: „Was soll der Philologe gar anfangen, wenn Pietisten und andere Kühe aus dem Schwabenlande den armseligen Alltag und Stubenrauch ihres Daseins mit dem Finger Gottes zu einem Wunder von „Gnade", von „Vorsehung", von „Heilserfahrungen" zurechtmachen"! „Mit einem noch so kleinen Maße von Frömmig­ keit im Leibe sollte uns ein Gott, der zur rechten Zeit vom Schnupfen kuriert, oder der uns in einem Augenblick in die Kutsche steigen läßt, wo gerade ein großer Regen losbricht, ein so absurder Gott sein, daß man ihn abschaffen müßte, selbst wenn er existierte. Ein Gott als Dienstbote, als Briefträger, als Kalendermann, — im Grunde ein Wort für die dümmste Art aller Zufälle" (X. 433). Nietzsche ist mit uns verbunden durch seinen Kampf gegen alle versuche, die Glaubenswelt als ein in sich abgeschlossenes weltfremdes, als einen ideologischen Überbau, oder als ein durch Tradition fest­ liegendes Lehrgebäude aufzufaften. Alle Stützungsaktionen für die Glaubenswelt, die aus dem Geist (spekulativer) Metaphysik stammen oder von „christlicher Naturwissenschaft" unternommen werden, sind unnötig (IX. 164). Das Christentum ist keine „Gehirn-Dressur", es ist „Leib, Gebärde" (X. 450). Sein Hauptgewicht ruht nicht in

22 Zeremonien und Stimmungen, nicht in einem Fernen, das zu be­ sonderen Lebenshöhepunkten den Rahmen leiht, über das man spricht, das aber niemals Lebensregulatio wird. Ruf die Auswirkungen in der Welt allein kommt es ihm an. Vie in der Glaubensgewißheit geforderte lvelthaltung ist ihm das Wichtigste. Dbwohl er die Mög­ lichkeit eines Auswirkungsradius des Christentums in der Welt ab­ lehnen muß, betont er doch immer wieder, daß das Christentum zuletzt „Praxis" sei. Diese „Praxis" wird nur nicht gehandhabt. „Bessere Lieder müßten sie (die Christen) mir singen, daß ich an ihren Erlöser glauben lerne, erlöster müßten mir seine Jünger aus« sehen" (VII. 133). So führen verschiedene Einzellinien aus Nietzsches Auseinander­ setzung mit dem Christentum direkt in unser heutiges Ringen um ein neues Verständnis des Christentums, sowohl seiner Glaubenswelt, wie seiner Welthaltung. Doch diese Einzelmomente allein geben noch keine Berechtigung von einer Bedeutung Nietzsches für unsere Wende der Zeit zu sprechen. (Es scheint sogar auf den ersten Blick, daß seine Ver­ kündigung der Krisis der Kultur und Weltanschauung und unser heutiges Suchen in so grundverschiedenen Ebenen liegen, daß man überhaupt keine Verbindungsmöglichkeit zwischen ihm und uns in Erwägung ziehen kann. Venn bei ihm bedeutet die Zurückweisung des Allerweltschristentums, der „Klein-Leute-Nletaphqsik" und das vermissen einer christlichen Welthaltung Ablehnung des Christentums, wir heute wollen aber bei gleicher Einstellung das Christentum selbst reinigen und läutern. Nietzsche wollte bewußt den Neuanfang der abend­ ländischen Kultur außerhalb und ohne das Christentum, wir erstreben ihn innerhalb und aus den Kräften dieser Religion. So scheinen die aufgezeigten parallelen nur formaler Art zu sein, ohne jegliche in­ haltliche Beziehung. Eine solche Betrachtungsweise dürfte aber nicht die volle Wahr­ heit enthalten, denn sie ist nicht aus dem Durchblick durch den ganzen Sachverhalt gewonnen. Für unsere Fragestellung ist Nietzsches Ge­ samtwerk und die Impulse, die es schufen, zu berücksichtigen. Klan darf nicht unter dem Gesichtspunkt der „schlechtesten Leser" urteilen, „welche wie plündernde Soldaten verfahren: sie nehmen sich Einiges, was sie brauchen können heraus, beschmutzen und verwirren das Übrige und lästern auf das Ganze" (II. 75). Er ist der Verkünder der Krisis der Kultur und der Welt­ anschauung, weil er spürte, daß die europäische Kultur „seit langem schon mit einer Tortur der Spannung, die von Jahrzehnt zu Jahr­ zehnt wächst, wie auf eine Katastrophe los" sich bewegt. Der äußere Aufstieg im staatlichen Leben, die vorwärtsstürmende Technik, die die Weltgeheimnisie aufhebende Naturwisienschaft und die vom Fort-

schrittsgedanken getragene allgemeine Befriedigung und Befriedung konnten ihn nicht darüber hinwegtäuschen, daß diese „Mischmaschkultur" nicht innerlich zusammengehalten war, daß ihr die Mitte fehlte. (Et sah durch die Maske hindurch: „Ich möchte wissen, wie viel Schiffs­ ladungen von nachgemachtem Idealismus, von Helden-Kostüm und Klapperblech großer Worte, wie viel Tonnen verzuckerten spirituosen Mitgefühls ..., wie viel Stelzbeine „edler Entrüstungen" zur Nach­ hilfe geistig Plattfüßiger, wie viel Komödianten des christlich­ moralischen Ideals heute aus Europa exportiert werden müßten, damit seine Lust wieder reinlicher röche ..." (VIII. 479). Sn diesem so gesehenen Kulturprozeß, der „unruhig, gewaltsam, überstürzt, einem Strom ähnlich, der ans Ende will, der sich nicht mehr besinnt, der Furcht davor hat, sich zu besinnen," will Nietzsche einen Augenblick höchster Selbstbesinnung der Menschheit schenken, daß sie eine neue Mitte, einen neuen Aufgang in diesem Untergang finde. Dieses sein Suchen nach neuer Mitte, um aus „moderner Ver­ düsterung" zur Regeneration, zu neuem Anfang, zu „Anzeichen des Erstarkens" zu gelangen, ist der Hintergrund unserer geistigen und religiösen Neuorientierung. Sein Kampf gegen seine Zeit und gegen das Christentum seiner Zeit ist die Vorwegnahme unseres eigenen Kampfes. Nietzsches innere Spannung, unter der sein Geist zersprang, ist unsere eigene Spannung. Er ist mit uns verbunden im Protest gegen die Geistigkeit des 19. Jahrhunderts, wie gegen das Kultur­ christentum und die „Klein-Leute-Metaphysik" dieser Zeit. Mit Scharf­ blick durchleuchtet er die religiösen, ethischen, kulturellen Schlupfwinkel, in denen man sich verbarg, um die Zeit und sich selbst nicht zu sehen, um sich so von den Aufgaben in der Welt zu befreien. Nietzsches Botschaft selbst, die den neuen Weg zur neuen Mitte weisen sollte, bezeichneten wir als präreligiös. Seine Verstrickung in die eigene glaubensarme Zeit und sein religiös-verkrampfter, gläubig-ungläubiger Enthusiasmus unterdrückte das wurzelecht religiöse Moment in ihm. Daher kann uns sein Weg nicht zu dieser neuen Mitte selbst führen. Sein Werk bleibt, trotz tiefster Ahnung um die Glaubenswelt, Vorbereitung. Nietzsche wußte wohl, daß die neue Mitte nur im neuen Erfaßen und im Erfaßtwerden durch das Reich des Glaubens liegt. Er selbst mutz aus zeitbedingter Einstellung dieses „unbegreifliche Anderssein" der christlichen Glaubenswelt ab­ lehnen, als „ein Ding mit negativen Eigenschaften" (III. 24); aber seiner Zeit vorauseilend spricht Zarathustra: „Unfruchtbar seid ihr, darum fehlt es euch an Glauben". Sn dionysischer Mentalität sieht Nietzsche sich als den Propheten, der die Scheidung zweier Welten bringt (XL 376); der „am Göttertisch der (Erbe, mit Göttern Würfel spielt" (VII. 336); aber der gleiche Nietzsche bezeugt sich im gleichen

24 Such als Vorläufer dessen, der die letzte Scheidung und Lösung der Krisis bringt: „wer bin ich? Ich warte des würdigeren; ich bin nicht wert, an ihm auch nur zu zerbrechen" (VII. 216). wir müssen sein Siel, aus dionysischem Geist geboren, ablehnen, es läuft unserem Heios zuwider; aber die Atmosphäre, in der letzte Ziele überhaupt erst gespürt werden, ist bei Nietzsche vorhanden. Darin ist er mit uns verbunden, die wir in solcher Atmosphäre leben, und er ist Hintergrund unserer neuen Möglichkeit des Ahnens und Sehens letzter, allumfassender Ziele der Lebens- und Weltgestaltung aus einer Glaubenswelt, Freilich kann diese Glaubenswelt für uns nur die christliche sein; während sie es für ihn, aus seinem Werden und Sein heraus, nie sein Konnte und durfte. Trotzdem aber stand sein Leben im Bann« des Christentums.

Inhaltsübersicht. Seite

1. Die Lehre Nietzsches und die Religion.................................................. 5 2. Der Grund der Ablehnung der Religion und des Christentums. . 11 3. Nietzsche und wir Christen.........................................................................18

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