Friedrich Engels und die internationale Arbeiterbewegung [Reprint 2021 ed.]
 9783112473849, 9783112473832

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Friedrich Engels und die internationale Arbeiterbewegung

Deutsche Akademie der Wissenschaften zu Berlin Schriften der Deutschen Sektion der Kommission der Historiker der DDR und der UdSSR

BAND I Friedrich Engels und die internationale Arbeiterbewegung

AKADEMIE-VERLAG 1962

• BERLIN

FRIEDRICH ENGELS UND D I E INTERNATIONALE ARBEITERBEWEGUNG

Wissenschaftliche Redaktion: Professor Dr. Karl Obermann und Ursula Herrmann

AKADEMIE-VERLAG 1962

• BERLIN

Erschienen im Akademie -Verlag GmbH Berlin W 8, Leipziger Straße 3 - 4 Copyright 1962 b y Akademie-Verlag GmbH Lizenz-Nr. 202 • 100/149/62 Gesamtherstellung: IV/2/14 • V E B Werkdruck Gräfenhainichen • 1738 Bestellnummer: 2110/1 • ES 14 D/E • Preis: 7,60

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

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E . A . STEPANOWA

Friedrich Engels — ein großer Lehrer und Führer des Proletariats

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KAHL OBERMANN

Friedrich Engels' Kampf für die nationale Einheit Deutschlands und für Demokratie in den Jahren 1848/49

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J . I . LINKOW

Friedrich Engels und die revolutionäre Bewegung in Rußland

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HORST BARTEL

Der Kampf Friedrich Engels' um die Durchsetzung der marxistischen Revolutions- und Staatstheorie gegen den staatssozialistisch orientierten Opportunismus in den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts

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G . N . SEWOSTJANOW

Engels' Arbeiten über den amerikanischen Kapitalismus in ihrer Bedeutung für die gegenwärtige Arbeiterbewegung

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Personenregister

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Autorenverzeichnis

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Vorwort

Die Historikerkommission der DDR und der UdSSR legt als Ergebnis einer engen, freundschaftlichen Zusammenarbeit mit diesem Sammelband den ersten Band ihrer neuen Schriftenreihe vor. Der erste Band bringt Forschungsbeiträge sowjetischer und deutscher Historiker über die Tätigkeit und das Werk von Friedrich Engels. Die Beiträge waren zunächst als Referate für eine wissenschaftliche Tagung zum 140. Geburtstag von Friedrich Engels ausgearbeitet worden, die am 1. und 2. Dezember 1960 in Moskau stattfand, veranstaltet von der Kommission gemeinsam mit der Klasse für Geschichte und dem Institut für Geschichte der Akademie der Wissenschaften der UdSSR. Das Wirken von Friedrich Engels bietet der Geschichtsforschung noch ein weites Feld. Die vorliegenden Beiträge konnten nur einen kleinen Ausschnitt aus der gewaltigen Tätigkeit von Engels näher untersuchen, das heißt, einige Seiten des außerordentlich umfangreichen wissenschaftlichen und politischen Wirkens von Engels würdigen. Die Untersuchungen bemühen sich, die Engels-Forschung um wichtige Fakten und Gesichtspunkte zu erweitern. Sie wollen vor allem zeigen, daß das Werk von Engels auch heute für uns von großer Bedeutung ist. Mit ihren Forschungen wollen die Historiker der UdSSR und der DDR einen Beitrag zur Festigung des Friedens und der Freundschaft, zum Aufbau des Sozialismus und des Kommunismus leisten. Kommission

der

Historiker

der DDR und der Deutsche

UdSSR

Sektion

Friedrich Engels — ein großer Lehrer und Führer des Proletariats E . A . STEPANOWA

Am 28. November 1960 jährte sich zum 140. Male der Tag, an dem Friedrich Engels - einer der Begründer der revolutionären Theorie des Proletariats, der Freund und Kampfgefährte des großen Marx geboren wurde. Die unerbittliche Zeit zählt immer neue Jahre und Jahrzehnte seit jener historischen Periode, als Karl Marx und Friedrich Engels, die großen Genien der Menschheit, für die Sache des Proletariats, für die Sache aller Werktätigen und Unterdrückten lebten, wirkten und kämpften. E s liegt aber in der Dialektik der Geschichte, daß diese großen Namen sich im Laufe der gesellschaftlichen Entwicklung dem Gedächtnis der nächsten Generationen nicht nur einprägen, sondern der Arbeiterklasse und den werktätigen Massen der ganzen Welt immer näher kommen, sie zum Kampf begeistern und ihnen den Weg in die bessere Zukunft weisen. Das Kriterium jeglicher wissenschaftlicher Wahrheit ist die Praxis. Das Kriterium der revolutionären Theorie von Marx und Engels ist die praktische Arbeit von Hunderten Millionen Menschen, die reiche Erfahrung der Weltgeschichte. So sehr sich die Gegner des Marxismus auch abmühten, den Beweis zu erbringen, daß er „veraltet" sei, die große Lehre von Marx offenbart immer deutlicher und überzeugender ihre unerschöpfliche Lebenskraft. Diese Lehre, die als theoretische Zusammenfassung des revolutionären Kampfes des Proletariats und der werktätigen Menschen entstanden war, nimmt ununterbrochen die neuen Erkenntnisse der Geschichte in sich auf und wird an Hand der revolutionären Praxis der Massen in jeder neuen Geschichtsepoche überprüft und bereichert.

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E . A . STEPANOWA

Das heroische Wirken von Marx und Engels, den großen Denkern und revolutionären Vorkämpfern des Proletariats, wurde weiterentwickelt in den theoretischen Arbeiten des genialen Fortsetzers ihres Werkes, Wladimir Iljitsch Lenin, sowie in dessen Tätigkeit als Führer der ersten in der Geschichte siegreichen proletarischen Revolution, als Begründer des Sowjetstaates, als Organisator und Führer einer großen proletarischen Partei. Das imposante Werk von Marx, Engels und Lenin fand seine lebendige, sichtbare Verwirklichung in dem sozialistischen Lager, das ein Viertel der Erde und mehr als ein Drittel der gesamten Menschheit umfaßt, in der unzerstörbaren Einheit der kommunistischen und Arbeiterparteien aller Länder, die in dem Kampf der werktätigen Massen für Frieden, Demokratie und Sozialismus an der Spitze stehen. In der gegenwärtigen Epoche des Übergangs vom Kapitalismus zum Sozialismus, der kritischsten und revolutionärsten Epoche der menschlichen Geschichte, dient der in diesem Maße noch nie dagewesene Kampf der Arbeiterklasse und der werktätigen Massen nicht nur als ständige Kontrolle der marxistisch-leninistischen Theorie, sondern auch als unerschöpfliche lebenspendende Quelle für ihre Bereicherung und schöpferische Weiterentwicklung. Die höhere geschichtliche Stufe, die die fortschrittliche Menschheit erklommen hat, erlaubt es, die Vergangenheit besser zu begreifen, die Tatsachen, die Ereignisse, die Rolle der Volksmassen und auch der historischen Persönlichkeiten abzuwägen und einzuschätzen. Mit dem Fortschreiten der Geschichte nimmt die Bedeutung der großen wissenschaftlichen Tat und des heldenhaften revolutionären Wirkens der Begründer des Marxismus immer mehr zu. Durch das Prisma der Jahrzehnte gesehen, treten die majestätischen Gestalten von Marx und Engels immer plastischer hervor; ihre Namen begeistern immer neue und neue Hunderte Millionen Menschen zum Kampf; ihre Lehre ist die unbesiegbare Waffe in diesem Kampf; sie leben unter uns und kämpfen mit uns als unsere Zeitgenossen. Die Größe des Marxismus besteht darin, daß er Antwort auf die wichtigsten theoretischen Fragen gab, die der ganze Verlauf der Entwicklung der philosophischen, ökonomischen und historischen Wissenschaften, die Entwicklung der Gesellschaft und in erster Linie der praktische revolutionäre Kampf der in der Geschichte fortschrittlichsten Klasse - des Proletariats - aufgeworfen hatten.

Lehrer und Führer des Proletariats

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Jahrhundertelang hatte das menschliche Denken die gesellschaftlichen Erscheinungen zu verstehen und zu deuten gesucht. Die besten und edelsten Denker der Menschheit hatten darüber nachgesonnen, woher Armut und Leiden der Menschen kommen und was getan werden muß, damit nicht mehr das Elend und die Unterdrückung der Massen auf der einen Seite dem Luxus und der frevelhaften Verschwendung auf der anderen Seite gegenüberstehen. Diese Fragen rückten mit besonderer Schärfe in den Vordergrund, als am Anfang des 19. Jahrhunderts eine neue Klasse — das Industrieproletariat — in Erscheinung trat. Die fortschrittliche Klasse, die den historischen Kampfplatz betreten hatte, brauchte eine fortschrittliche revolutionäre Theorie, die ihr Wege und Mittel f ü r den Kampf um eine bessere Zukunft wies. Die Gesetze der gesellschaftlichen Entwicklung zu verstehen, um sie f ü r die Praxis, f ü r die revolutionäre Umgestaltung der Welt auszunutzen, war nach Lenin „die höchste Aufgabe der Menschheit". 1 Diese überaus schwierige Aufgabe wurde in schöpferischer Zusammenarbeit von den zwei großen Genien der Menschheit - Karl Marx und Friedrich Engels - gelöst. Der Marxismus ist nicht nur seinem Geist, sondern auch seiner H e r k u n f t nach eine internationale Erscheinung. Da er das Ergebnis der kritischen Aneignung der ganzen vorangegangenen Wissenschaft und Kultur war, bedeutete er „die höchste Entfaltung aller historischen und ökonomischen und philosophischen Wissenschaft Europas". 2 Der Marxismus ist die theoretische Zusammenfassung der gesamten, viele J a h r h u n d e r t e währenden historischen E r f a h r u n g der Menschheit und, in erster Linie, der Erfahrung des Kampfes, den die fortschrittlichste, revolutionärste Klasse in der Geschichte, das Proletariat, f ü h r t . Der Marxismus bedeutete eine grundlegende Umwälzung, eine echte Revolution im philosophischen und gesellschaftlichen Denken der Menschheit. Marx und Engels verwandelten als erste die Philosophie in eine Wissenschaft, die die grundlegenden Entwicklungsgesetze der Natur, der Gesellschaft und des menschlichen Denkens richtig widerspiegelt. Indem sie die objektive Gesetzmäßigkeit, nach der sich die Gesellschaft entwickelt, und die Rolle des Klassenkampfes aufdeckten, 1 2

Lenin W. /., Materialismus und Empiriokritizismus, Berlin 1949, S. 316. Derselbe, Sämtliche Werke, Bd 17, Moskau-Leningrad 1935, S. 339.

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wiesen Marx und Engels als erste den Weg zur wirklich wissenschaftlichen Erforschung der Weltgeschichte. Mit der Entdeckung der objektiven Gesetze der Geschichte waren die wissenschaftlichen Grundlagen für die revolutionäre Praxis des Proletariats und der werktätigen Massen und für deren bewußte historische Tätigkeit geschaffen. Der Nachweis der weltgeschichtlichen Rolle des Proletariats verwandelte den Sozialismus aus einer Utopie in eine Wissenschaft und schuf die Voraussetzungen für die Verbindung des Sozialismus mit der Arbeiterbewegung, für die Bildung einer proletarischen Partei. Marx und Engels sahen darin die wichtigste Bedingung dafür, daß das Proletariat seine große Befreiungsmission erfüllen kann. Der Marxismus ist die monumentale, durch ihre Geschlossenheit und Harmonie sowie durch ihren Inhaltsreichtum staunenerregende Ideologie des Proletariats. Um sie zu schaffen, bedurfte es der Zusammenarbeit zweier genialer Denker, der organischen Einheit zweier Menschenleben, zweier Leben, die von unaufhörlichem Bemühen, schöpferischem Suchen und großen Taten erfüllt waren. Engels hat immer betont, daß er bei der Schaffung der revolutionären Theorie des Proletariats die „zweite Violine" gespielt habe und froh und stolz gewesen sei, eine so famose „erste Violine" zu haben wie Marx. Indem Engels mit Recht Marx den ersten Platz einräumte, gab er mit der ihm eigenen übergroßen Bescheidenheit nur einen „gewissen selbständigen Beitrag" bei der Begründung und Ausarbeitung der marxistischen Theorie zu. Indessen hat Engels aber einen wirklich gigantischen Beitrag zur Schatzkammer des Marxismus geleistet, über dessen Bedeutung Lenin schrieb: „Man kann den Marxismus nicht verstehen und nicht in sich geschlossen darlegen, ohne sämtliche Werke von Engels heranzuziehen." 3 Es ist unmöglich, in einem kurzen Referat eine genaue Analyse der Arbeiten von Engels als einem der Begründer des wissenschaftlichen Kommunismus vorzunehmen. Das hieße, den gesamten Gedankenreichtum des Marxismus in den verschiedenen Etappen seiner Geschichte analysieren zu wollen. Es ist auch nicht möglich, Engels' Tätigkeit als großer Revolutionär und Führer des Proletariats eingehend zu erörtern, denn das würde 3

Derselbe, Werke, Bd 21, Berlin 1960, S. 80.

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bedeuten, die Geschichte der internationalen sozialistischen Arbeiterbewegung über ein halbes Jahrhundert verfolgen zu müssen. In dem vorliegenden Referat möchte ich in aller Kürze Engels' Gestalt als Denker, Revolutionär und Mensch umreißen und darlegen, welch große Rolle Engels' Arbeiten in dem heutigen ideologischen Kampf mit unseren Feinden zufällt, die immer wieder hoffnungslose Versuche unternehmen, den Marxismus zu „vernichten". *

Engels' Lebensweg begann unter für einen künftigen Gelehrten und Revolutionär äußerst ungünstigen Verhältnissen in der konservativen und religiösen Familie eines Textilfabrikanten, in der Friedrich anscheinend das „häßliche Entlein" sein sollte. Das väterliche Kontor in Barmen, das Kontor des Kaufmanns Leupold in Bremen, die Kaserne des Fußartillerieregiments am Kupfergraben in Berlin - das waren die äußeren Ereignisse in Engels' Leben bis zum Alter von 22 Jahren, Ereignisse, die, wie es scheinen könnte, für einen Kaufmannssohn typisch waren. Man betrachte aber den Briefwechsel von Engels und seine Artikel — welch reiches Innenleben, welch wirklich ungestüme geistige Entwicklung offenbaren sich hier! Der junge Engels überrascht durch seine außergewöhnliche Begabung, seinen unstillbaren Wissensdurst und seine ungeheure Arbeitskraft. Eine außergewöhnliche Beobachtungsgabe, die Fähigkeit, im offenen Buch des Lebens zu lesen und auf alle aktuellen Fragen der Gegenwart eine Antwort zu finden, das ist für diesen jungen Menschen charakteristisch. Man betrachte die „Briefe aus dem Wuppertal", man lese Engels' Bericht „Eine Fahrt nach Bremerhafen" — welch brennendes Interesse an der Tätigkeit und dem Leben der Arbeiter, am Schicksal der arbeitenden Menschen! Und Engels' Artikel gegen die reaktionäre philosophische Propaganda Schellings - sie sind von kämpferischem, revolutionärem Geist durchdrungen, in ihnen glaubt man das Grollen der herannahenden deutschen Revolution zu hören. Welche hohe Prinzipienfestigkeit, welchen Mut und welche moralische Stärke brauchte Engels, um mit dem Wuppertaler Pietismus und jenem ganzen scheinheiligen Ausbeuter-Milieu zu brechen, in dem er geboren und aufgewachsen war!

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E . A . STEPANOWA

Engels betrachtete es als das Glück seines Lebens, daß das Schicksal ihn nach England, in das fortgeschrittenste Land jener Zeit, in die Heimat des Industriekapitalismus verschlug, wo Engels nicht bloßer Zeuge, sondern aktiver Teilnehmer am Kampf der Arbeiterklasse, der Chartistenbewegung, wurde. Die außergewöhnliche Beobachtungsgabe und die Fähigkeit, theoretisch zu verallgemeinern, ermöglichten es Engels als erstem Wissenschaftler und erstem Sozialisten, die soziale Bedeutung der industriellen Umwälzung zu verstehen und einzuschätzen, den ökonomischen Hintergrund des politischen Kampfes in England aufzudecken und in dem Proletariat keine hilflose, leidende Masse, sondern eine große fortschrittliche Kraft zu sehen. Schon vor der Begegnung mit Marx im Jahre 1844 hatte Engels auf dem Wege von der idealistischen Geschichtsauffassung zum historischen Materialismus bedeutende Fortschritte gemacht. Der Aufenthalt in England, wo die für den Kapitalismus charakteristischen Widersprüche besonders deutlich zutage traten, erlaubte es Engels, in den ökonomischen Tatsachen die entscheidende historische Kraft, jene Basis zu sehen, auf der die Klassengegensätze entstehen, die politischen Parteien sich bilden und der politische Kampf sich entfaltet. Einen nicht zu unterschätzenden Beitrag hatte Engels noch vor der Begegnung mit Marx auch im Verstehen der Ökonomik der kapitalistischen Gesellschaft geleistet. Engels legte den Grundstein für die Kritik an der bürgerlichen politischen Ökonomie und damit auch für die Kritik an der kapitalistischen Gesellschaft vom Standpunkt des Proletariats. In Engels' Arbeiten, die die Frucht seines Aufenthalts in England waren, in „Umrisse zu einer Kritik der Nationalökonomie" und in „Die Lage der arbeitenden Klasse in England", waren bereits einige allgemeine Prinzipien des wissenschaftlichen Kommunismus formuliert. Diese Arbeiten, die Engels im Alter von 23 bis 24 Jahren schrieb, bezeugen, daß er schon frühzeitig als Gelehrter, als furchtloser Neuerer in der Wissenschaft gereift war. Ein solch glänzendes Debüt in der Wissenschaft in so jungen Jahren kommt nicht oft vor. Es ist um so mehr ein unbestreitbares Zeichen des Genies, als danach f ü r Engels als großen Gelehrten und Revolutionär ein halbes Jahrhundert ununterbrochenen Wachsens folgte.

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Das größte Glück in Engels' Leben war seine vierzigjährige schöpferische Zusammenarbeit, seine legendäre Freundschaft mit Marx. Nicht zufällig trafen sich die Wege dieser beiden genialen Menschen; beide vermochten die Grundfragen ihrer Epoche zu erfassen und jeder auf seine eigene Weise ihrer Lösung sehr nahe zu kommen. Die Jahre 1844-1848 waren die Zeit, in der der Marxismus als in sich geschlossene und harmonische Theorie geboren und ausgebildet wurde. Diese Jahre waren in Engels' Tätigkeit als Theoretiker und Kämpfer des Proletariats außerordentlich fruchtbringend. In den gemeinsamen Arbeiten mit Marx, „Die heilige Familie" und „Die deutsche Ideologie", schuf Engels die Grundlagen des dialektischen und historischen Materialismus, die das theoretische Fundament des wissenschaftlichen Kommunismus bilden. Großen Anteil hatte Engels an der Ausarbeitung des ersten programmatischen Dokuments des wissenschaftlichen Kommunismus — dem „Manifest der Kommunistischen Partei" (1848). Er verfaßte den ersten Entwurf dieses Dokuments, der unter dem Namen „Grundsätze des Kommunismus" bekannt ist. Unter Bezugnahme auf einen Brief von Engels an Marx, der der Ausarbeitung des Programms des „Bundes der Kommunisten" gewidmet ist, schrieb Lenin, daß man „die Namen Marx und Engels mit Recht nebeneinander stellt als die Namen der Begründer des modernen Sozialismus".4 Im „Manifest der Kommunistischen Partei" gaben Marx und Engels zum ersten Mal eine geschlossene und harmonische Darlegung ihrer neuen revolutionären Theorie. Die Jahre 1848/49 waren eine neue wichtige Etappe im Leben von Engels und seinem großen Freund. Die neue revolutionäre Theorie wurde in den stürmischen historischen Zusammenstößen, im revolutionären Kampf des Proletariats und der werktätigen Massen erstmalig in der Praxis erprobt. Wir sehen Engels auf Kampfposten in der Redaktion der „Neuen Rheinischen Zeitung". Marx war begeistert von dem glänzenden publizistischen Talent seines Freundes, von dessen schneller und spitzer Feder, von seiner außergewöhnlichen Fähigkeit, sich über das Tagesgeschehen klar zu werden, schnell darauf zu reagieren und es zu beeinflussen. 4

Derselbe, Marx, Engels. Marxismus, Moskau 1947, S. 53.

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Wir sehen Engels auch auf zahlreichen Volksversammlungen und Kundgebungen sowie auf der Anklagebank, wo er vom Angeklagten zum Ankläger wurde. Wir sehen Engels als revolutionären Heerführer, der den Plan für den bewaffneten Aufstand ausarbeitet und das erste Beispiel gibt, wie man marxistisch an den Aufstand als eine Kunst herangeht. Wir sehen Engels als Soldaten der Revolution, der in der Volksarmee gegen die ihm verhaßten preußischen Truppen kämpft. Eine Revolution geht, auch wenn sie eine Niederlage erleidet, nicht spurlos vorüber. Sie hinterläßt ihre Lehren . . . Aus den Revolutionen von 1848/49 ging der Marxismus noch mehr gefestigt und durch den praktischen Kampf, durch die historisch schöpferische Kraft der Massen bereichert und befruchtet hervor. Die Erfahrungen der Revolution gestatteten es Marx, die Grundthese des Marxismus, die Lehre von der Diktatur des Proletariats, zu entwickeln und zu konkretisieren. Der Verallgemeinerung der wichtigsten Lehren der Revolution waren die bedeutenden Arbeiten von Engels „Der deutsche Bauernkrieg" und „Revolution und Konterrevolution in Deutschland" gewidmet. In Marx' und Engels' Arbeiten trat die Geschichte zuerst als eine Wissenschaft in Erscheinung, die es erlaubt, nicht nur die Vergangenheit zu verstehen, sondern auch die Zukunft vorauszusehen. Nach der Niederlage der Revolution waren Marx und Engels gezwungen, zu emigrieren. Die Jahre der Reaktion brachten ihnen Verfolgungen durch die Regierung, Verleumdungen seitens ihrer Feinde und schwerste Bedingungen für ihre wissenschaftliche und politische Tätigkeit. Besonders schwierig war die Lage von Marx und seiner Familie, die vor Armut unterzugehen drohte. Unter diesen Verhältnissen blieb Engels kein anderer Ausweg, als in das Kontor in Manchester zurückzukehren und „Lasttier des Schachers" zu werden. Engels hoffte, es werde nicht für lange Zeit sein, eine neue Revolution werde ihn und seinen Freund bald zum Kampf rufen. Das Schicksal hatte es aber anders bestimmt. Engels nahm in dem Kontor zu Manchester die Arbeit auf, als er 30 Jahre alt war, und kam erst davon los, als er bereits das 50. Lebensjahr vollendet hatte. So war Engels gezwungen, zwanzig seiner besten Lebensjahre hindurch den größten Teil seiner Zeit dem Kontor zu opfern! Um so erstaunlicher ist, daß diese Jahre für Engels als Wissenschaftler und proletarischen Revolutionär dennoch außerordentlich fruchtbar gewesen sind.

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Es lohnt, den Briefwechsel zwischen Engels und Marx zu betrachten, um sich zu überzeugen, wie vielseitig seine wissenschaftlichen Interessen waren und wie leidenschaftlich und unermüdlich er nach wissenschaftlicher Wahrheit gesucht hat. Politische Ökonomie und Philosophie, Geschichte und internationale Politik, Kriegswesen und Linguistik — so weitreichend war die durchaus nicht vollständige Liste jener Wissenschaften, für die sich Engels interessierte und deren wichtigste Probleme in dem Briefwechsel mit seinem Freund zur Sprache kommen, die er in seinen Korrespondenzen in der „New York Tribüne" und anderen Zeitungen sowie in seinen Beiträgen in der „Neuen amerikanischen Enzyklopädie" beleuchtet. Nach der zwischen den Freunden bestehenden Arbeitsteilung zählten Kriegswesen und Geschichte der Kriegskunst zu Engels' „Bereich". In allen Fragen, die dieses Gebiet betrafen, wandte sich Marx stets an sein „Kriegsministerium" in Manchester. Den Spitznamen „General", den ihm Marx' Töchter während des französisch-preußischen Krieges gegeben hatten, behielt Engels unter seinen Freunden und Bekannten bis zu seinem Tode. Engels war der erste Militärtheoretiker des Proletariats. Seine glänzende Kenntnis des Kriegswesens und die Anwendung der materialistischen Dialektik auch auf diesem Gebiet gestatteten es ihm, an den Krieg als eine soziale und historische Erscheinung heranzugehen, die durch den gesamten Verlauf der ökonomischen Entwicklung und des Klassenkampfes bedingt ist. Ebenso wie das Kriegswesen fiel auch die Linguistik in Engels' „Bereich". Engels besaß phänomenale linguistische Fähigkeiten. Er kannte etwa zwanzig Sprachen. Man kann sich vorstellen, wie sich Engels' Gefährten belustigten, als auf dem Jahrmarkt in Yarmouth ein Phrenologe nach sorgfältiger Überprüfung von Engels' Schädel kategorisch erklärte, dieser Herr habe keinerlei Sprachtalent! Durch die Kenntnis einer außerordentlich großen Zahl von Sprachen war Engels in der Lage, sich mit allgemeinen Problemen der Sprachwissenschaft zu befassen und eine feste wissenschaftliche Grundlage für die vergleichende Sprachwissenschaft zu legen. Nachdem Marx und Engels ihre revolutionäre Theorie ausgearbeitet hatten, entwickelten und vervollkommneten sie diese ihr ganzes Leben lang, indem sie alle neuen wissenschaftlichen Errungenschaften kritisch auswerteten und die Erfahrungen des revolutionären Kampfes der 2 Friedrich Engels, Bd. 1

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Massen, an dem sie in allen Perioden ihrer Tätigkeit aktiv beteiligt waren, theoretisch verallgemeinerten. Der weiteren Ausarbeitung seiner materialistischen Weltanschauung konnte Marx keine Spezialarbeit widmen. Seine Hauptbeschäftigung ab Anfang der fünfziger Jahre bildeten ökonomische Untersuchungen. Seine Absicht, eine besondere Arbeit über die materialistische Dialektik zu schreiben, konnte er nicht verwirklichen. Aber seine ökonomischen Arbeiten bedeuteten einen neuen sehr wichtigen Abschnitt in der Entwicklung des dialektischen und historischen Materialismus. In dem berühmten Vorwort der Arbeit „Zur Kritik der politischen Ökonomie" (1859) gab Marx eine in ihrem Inhaltsreichtum und ihrer knappen Form klassische Charakteristik des Wesens des historischen Materialismus. Das „Kapital" von Marx war nicht nur eine ökonomische, sondern auch eine philosophische Arbeit. „Wenn Marx auch keine ,Logik' (mit großen Anfangsbuchstaben) hinterlassen hat, so hat er doch die Logik des »Kapitals' hinterlassen... Im ,Kapital' werden auf eine Disziplin Logik, Dialektik und Erkenntnistheorie des Materialismus angewendet..." 5 Die Aufgabe, die materialistische Philosophie und die anderen integrierenden Bestandteile des Marxismus systematisch darzulegen, löste Engels in seiner bekannten Arbeit „Anti-Dühring", jener ungewöhnlichen Enzyklopädie, die einen sehr weiten Fragenkreis der Philosophie, der politischen Ökonomie und des Sozialismus beleuchtet. In diesem polemischen Werk erbrachte Engels, indem er die ersten Ergebnisse seiner achtjährigen Arbeit auf dem Gebiet der Mathematik und Naturwissenschaft anführte, den Nachweis, daß „in der Natur dieselben dialektischen Bewegungsgesetze im Gewirr der zahllosen Veränderungen sich durchsetzen, die auch in der Geschichte die scheinbare Zufälligkeit der Ereignisse beherrschen". 6 Der „Anti-Dühring" war nicht nur die Frucht der Arbeit von Engels, sondern in bedeutendem Maße auch die seines Freundes. Engels las ihm das gesamte Manuskript vor, ehe er es in Druck gab, und das 10. Kapitel, das der politischen Ökonomie gewidmet ist, wurde von Marx geschrieben. Der „Anti-Dühring" bedeutete einen neuen gewaltigen Schritt in der weiteren Ausarbeitung des Marxismus als 5 6

Derselbe, Aus dem philosophischen Nachlaß, Berlin 1958, S. 249. Engels, Friedrich, Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft (Anti-Dühring), Berlin o. J., S. 11.

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Wissenschaft von den Entwicklungsgesetzen der Natur und der Gesellschaft, als Wissenschaft von der revolutionären Umgestaltung der Welt. Sehr große Popularität erlangte die Broschüre „Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft", die Engels aus drei Kapiteln des „Anti-Dühring" zusammengestellt hatte. Marx charakterisierte diese Broschüre als „Einführung in den wissenschaftlichen Sozialismus".7 Der „Anti-Dühring" und „Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft" spielten eine erhebliche Rolle bei der Bildung marxistischer Kader in verschiedenen Ländern. Sie sind bis heute eine sehr wertvolle Quelle für das Studium des Marxismus und eine scharfe Waffe im Kampf gegen seine Feinde. Engels gelang es nicht, seine angefangene umfassende Arbeit über die philosophische Verallgemeinerung der naturwissenschaftlichen Ergebnisse seiner Zeit zu beenden. Dennoch stellt das auf uns gekommene Manuskript seiner „Dialektik der Natur" eine außerordentliche Kostbarkeit dar. In seinem Kampf gegen die Idealisten und Vulgärmaterialisten, gegen den platten Empirismus und die mystisch-religiösen Vorurteile weist Engels an Hand umfangreichen naturwissenschaftlichen Materials nach, daß die materialistische Dialektik die einzig wissenschaftliche Methode für die Erkenntnis der Natur ist. W. I. Lenin war das Manuskript der „Dialektik der Natur" nicht bekannt. Aber seine Arbeit „Materialismus und Empiriokritizismus" erscheint als die Fortsetzung und schöpferische Weiterentwicklung der von Engels begonnenen Untersuchung. In diesem Buch gab Lenin die philosophische Verallgemeinerung der neuesten Entdeckungen auf dem Gebiet der Naturwissenschaften, vertiefte und entwickelte er alle Grundfragen des dialektischen und historischen Materialismus weiter. Ein bedeutender Schritt vorwärts in der Ausarbeitung der wichtigsten Probleme des historischen Materialismus war Engels' Arbeit „Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats" (1884), die Lenin als „eines der grundlegenden Werke des modernen Sozialismus" 8 ansah. An Hand umfassenden Geschichtsmaterials widerlegt Engels die Legende von dem „über den Klassen stehenden" Charakter des Staates, 7 8

2*

Marx/Engels, Werke, Bd XV, Moskau 1933, S. 683 (russisch). Lenin, W. /., Uber den Staat, Berlin 1959, S. 6/7.

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der in Wirklichkeit unter den Bedingungen der antagonistischen Gesellschaft eine Waffe der herrschenden Klasse ist, um die unterdrückte Klasse auszubeuten und niederzuhalten. Das gilt, unterstrich Engels, auch für die bürgerliche Republik, und bemerkt dazu: „Das klassische Beispiel ist Amerika". In seiner hervorragenden Arbeit „Ludwig Feuerbach" (1888) legte Engels den Zusammenhang und auch den grundlegenden Unterschied zwischen der Philosophie des Marxismus und seiner Vorgänger Hegel und Feuerbach dar. In dieser Arbeit formulierte Engels als erster in der Geschichte der Philosophie die außerordentlich wichtige These von den zwei entgegengesetzten Lagern in der Philosophie — dem Lager des Idealismus und dem des Materialismus. Engels wies nach, daß die Grundfrage der ganzen Philosophie - die Frage nach dem Verhältnis des Denkens zum Sein — jenes einzig wissenschaftliche Kriterium ist, das es gestattet, das wahre Wesen jeder philosophischen Richtung, in welches Gewand sie sich auch kleiden mag, genau zu bestimmen. W. I. Lenin maß dieser These von Engels grundlegende Bedeutung bei. In seinem Werk „Materialismus und Empiriokritizismus" verteidigte und entwickelte Lenin das von Engels ausgesprochene Prinzip der Parteilichkeit in der Philosophie als „größte und wertvollste Tradition" und führte die Heuchelei und Verlogenheit aller Versuche vor Augen, diese oder jene Philosophie so darzustellen, als stünde sie über den zwei philosophischen Lagern und überwände deren Gegensätzlichkeit. Von überragender theoretischer Bedeutung sind die Briefe, die Engels Anfang der neunziger Jahre an P. Ernst, J. Bloch, F. Mehring, H. Starkenburg und andere schrieb. In diesen Briefen trat Engels gegen die vereinfachte vulgarisierte Auffassung des historischen Materialismus auf, nach der der ökonomische Faktor angeblich die einzige aktive Ursache der historischen Prozesse sei, während der ideologische Uberbau lediglich eine passive Folge darstelle, die keinerlei Einfluß auf den Ablauf der geschichtlichen Entwicklung ausübe. In seinen Briefen legte Engels dar, daß es kein automatisches Wirken der ökonomischen Faktoren gibt, daß die Menschen selbst ihre Geschichte machen und daß die ökonomischen Bedingungen im historischen Prozeß nur in letzter Instanz bestimmend sind. Er entwickelte den Gedanken, daß der Überbau, darunter auch die Staatsmacht, eine Rückwirkung auf die Ökonomik der Gesellschaft ausübt, und schrieb voller Empörung an C. Schmidt: „Oder warum kämpfen wir denn um die politische Diktatur

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des Proletariats, wenn die politische Macht ökonomisch ohnmächtig ist?" 9 Engels' Kampf gegen die Verfälschungen des Marxismus setzte W. I. Lenin fort, indem er die Auffassungen der „Ökonomisten" und Menschewiki zerschlug, die die opportunistische Theorie der Spontaneität propagierten und die Rolle des subjektiven Faktors in der Geschichte, die Rolle der fortschrittlichen Klasse, ihrer Partei und ihrer revolutionären Theorie gleich Null setzten. Engels' Arbeiten, in denen die philosophischen Probleme des Marxismus beleuchtet werden, zeigen, welch gewaltigen, ja, geradezu unschätzbaren Beitrag er zur Begründung, Ausarbeitung und Verteidigung der theoretischen Grundlagen des wissenschaftlichen Kommunismus — des dialektischen und historischen Materialismus — geleistet hat. Gerade deswegen führen die Feinde des Marxismus in der heutigen Zeit solche erbitterten Angriffe gegen Engels und versuchen auf jede nur erdenkliche Weise seine Arbeiten zu verleumden. Auch bei der Begründung und Ausarbeitung der marxistischen politischen Ökonomie ist Engels' Rolle groß. Es ist bekannt, welche bedeutende Hilfe er Marx bei der Arbeit an dessen unsterblichem Werk „Das Kapital" geleistet hat. Diese Hilfe äußerte sich aber nicht nur in der ständigen selbstlosen materiellen Unterstützung, die er Marx und dessen Familie angedeihen ließ, und nicht nur in jener ungeheuren Arbeit, die Engels an Marx' Stelle für die „New York Tribüne" leistete (nicht weniger als ein Drittel der Korrespondenzen, die Marx an die „New York Tribüne" schickte, hat Engels geschrieben). Marx beriet sich auch mit Engels über alle wichtigeren theoretischen Probleme, legte ihm seine Schlußfolgerungen dar und erbat seine Meinung zu diesen oder jenen ökonomischen Fragen. Als der erste Band des „Kapital" (1867) erschien, schrieb Engels, es habe noch kein Buch gegeben, das für die Arbeiter von solcher Bedeutung sei. Im „Kapital" erforschte Marx die objektiven Entwicklungsgesetze des Kapitalismus und wies dessen geschichtlich begrenzten und historisch vergänglichen Charakter nach. In der Lehre vom Mehrwert, die nach den Worten Lenins der Eckpfeiler der gesamten marxistischen ökonomischen Theorie ist, lüftete Marx das von den Apologeten des Kapitalismus sorgsam verschleierte Geheimnis der kapitalistischen Aus9

Marx/Engels,

Ausgewählte Briefe, Berlin 1953, S. 510.

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beutung und legte die ökonomische Basis der unversöhnlichen Gegensätze zwischen- Proletariat und Bourgeoisie dar. Als der Tod Marx' Arbeit am „Kapital" unterbrach, legte Engels alle eigenen Arbeiten beiseite, um die Veröffentlichung von Marx' großem Werk zum Abschluß zu bringen. Dadurch rückte die politische Ökonomie, der eine von Engels' ersten Arbeiten gewidmet gewesen war, wieder in den Mittelpunkt seiner Aufmerksamkeit. Als Engels in seinem 63. Lebensjahr daran ging, Marx' Manuskripte zu bearbeiten, lebte er ständig in der Sorge, sie nicht mehr abschließen zu können. E r war der einzige Mensch, der Marx' unleserliche Handschrift zu entziffern vermochte und an die verschiedenen Abkürzungen und vereinbarten Zeichen gewöhflt war. Aber außer der Entzifferung der Manuskripte war, um sie zur Veröffentlichung vorzubereiten, eine weitere sehr komplizierte Arbeit zu leisten. In den Manuskripten des I I . und I I I . Bandes des „Kapital" waren eine ganze Reihe von Marx geschriebener Varianten enthalten, aber auch einzelne Entwürfe und Bemerkungen. Außerdem lag eine ungeheure Menge an Material und Auszügen aus Büchern, insbesondere über die Landwirtschaft in den Vereinigten Staaten von Amerika und über die Agrarfrage in Rußland vor, die M a r x im I I I . Band des „Kapital" im Zusammenhang mit der Bodenrente hatte ausnutzen wollen. Als Engels den II. und I I I . Band der g e n i a l Arbeit seines Freundes zum Druck vorbereitete, schrieb er, er habe diese Aufgabe „ausschließlich im Geist des Verfassers zu lösen gesucht". 1 0 In den Vorworten zu diesen Bänden charakterisiert Engels die von ihm geleistete Arbeit eingehend, als wollte er sich vor dem Leser und der Geschichte verantworten. Die Arbeit am I I . und I I I . Band des „Kapital" nahm Engels mit größter Sorgfalt und Liebe vor. Im J a h r e 1885 schrieb Engels an Marx' Tochter Laura Lafargue, er werde trotz seiner Krankheit die Arbeit an der Vollendung von M a r x ' Werk nicht aufgeben, „das ein Denkmal für ihn sein wird, von ihm selbst errichtet und großartiger als irgendeines, das andere Menschen für Mohr errichten könnten". In Erinnerung an den 14. März 1 8 8 3 , dem Todestag von Marx, fuhr Engels fort: „Sonnabend sind es schon 10

Marx, Karl, Das Kapital, Bd II, Berlin J951, S. 6.

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zwei Jahre! Und doch kann ich wirklich sagen, ich stehe in lebendiger Verbindung mit ihm, während ich an diesem Buch arbeite." 1 1 Dieses Gefühl der lebendigen Verbindung mit seinem großen Freund begeisterte Engels und gab ihm die Kraft, seine außerordentlich schwere Arbeit zu bewältigen. Als 1885 der zweite Band des „Kapital" veröffentlicht wurde, schrieb Laura Lafargue an Engels, daß kein anderer fähig gewesen wäre, diese Arbeit zu leisten. „Alle unsere Sozialisten, die Sozialisten aller Länder sind Ihnen tiefste Dankbarkeit schuldig." 1 2 Die Arbeit am III. Band des „Kapital" nahm Engels fast 10 Jahre in Anspruch. Das lag an der Schwierigkeit und dem gewaltigen Arbeitsaufwand, den dieser Band erforderlich machte, und auch daran, daß Engels der Führung der internationalen Arbeiterbewegung immer mehr Zeit nnd Kraft widmen mußte, da die Bewegung ständig zunahm und immer neue sozialistische Parteien entstanden. Im Februar 1893 schrieb Engels an Laura Lafargue, er sei gezwungen, um die Arbeit am III. Band schneller abzuschließen, eine ungeheure Zahl von Briefen unbeantwortet zu lassen, die von allen Seiten, „von Rom bis New York und von Petersburg bis Texas" 1 3 bei ihm einträfen. Nach dem Erscheinen des III. Bandes beabsichtigte Engels, sofort den IV. Band in Angriff zu nehmen, der die kritische Geschichte des zentralen Punktes der politischen Ökonomie, die Theorien über den Mehrwert, enthielt. Aber es war ihm nicht vergönnt, diesen Plan zu verwirklichen. Mit der Veröffentlichung des zweiten und dritten Bandes des „Kapital" erhielt Marx' ökonomische Lehre einheitlichen, geschlossenen Charakter. Engels schrieb dazu: „Erst hierdurch erhält unsere Theorie eine unerschütterliche Basis, und werden wir befähigt, nach allen Seiten siegreich Front zu machen." 1 4 Während seiner Arbeit am „Kapital" war Engels bemüht, diejenigen neuen Erscheinungen in Betracht zu ziehen und theoretisch zu verallgemeinern, die Marx noch unbekannt gewesen waren. In dem äußerst knapp gefaßten, inhaltsreichen Manuskript „Die Börse. Nachträgliche 11

12 a 14

Engels, Friedrich, Paul et Laura Lafargue, Correspondance. Bd I, Paris 1956, S. 273. Ebenda, S. 301. Ebenda, Bd III, Paris 1959, S. 254. Engels, Friedrich, Briefe an Bebel, Berlin 1958, S. 109.

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Anmerkungen zum III. Band des ,Kapital'" stellt Engels neue Tendenzen in der Entwicklung des Kapitalismus fest — die wachsende Rolle der Börse und der Aktienbanken; die Gründung von Aktiengesellschaften und die Umwandlung der Privatunternehmen in Aktienunternehmen; die zunehmende Zahl der Rentiers, deren Beruf der Müßiggang ist; das Wachsen der Rolle der Banken nicht nur in den Finanzen und in der Industrie, sondern auch in der Landwirtschaft; die Anlage des Kapitals im Ausland in Form von Aktien. Engels schreibt: „Dann die Kolonisation. Diese ist heute rein Sukkursale der Börse, in derem Interesse die europäischen Mächte vor ein paar Jahren Afrika geteilt, die Franzosen Tunis und Tonkin erobert haben. Afrika direkt an Kompanien verpachtet..." 1 5 Diese flüchtigen Skizzen von Engels finden geradezu ihren Widerhall in W. I. Lenins Arbeit „Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus". Das, was in Engels' letzten Lebensjahren als Tendenz zu bemerken war, hatte um 1916, als Lenin seine Arbeit schrieb, die gewissermaßen eine Fortsetzung des „Kapitals" darstellt und eine Analyse der Besonderheiten des Kapitalismus im letzten Stadium seiner Entwicklung enthält, bereits ganz klare und feste Formen angenommen. Hierzu schrieb Lenin: „Der Kapitalismus ist zu einem Weltsystem kolonialer Unterdrückung und finanzieller Erdrosselung der übergroßen Mehrheit der Bevölkerung der Erde durch eine Handvoll fortgeschrittener Länder geworden." l f t Heute geht der Zerfall dieses Kolonialsystems in wahrhaft ungestümem Tempo vor sich. Die Völker Asiens, Afrikas und Lateinamerikas, die sich zum Kampf erhoben haben, schütteln eins nach dem andern das Joch der „Zivilisatoren" ab, die ihnen ihre „Gaben" in Form von Hunger, Armut, Krankheiten und fast ausnahmslosem Analphabetentum gebracht hatten. Der Kampf der Völker gegen Unterdrückung, für ihre Unabhängigkeit fand die leidenschaftliche Unterstützung von Marx und Engels. Engels verkündete als erster das außerordentlich wichtige Prinzip des proletarischen Internationalismus: „Eine Nation kann nicht frei werden und zugleich fortfahren, andre Nationen zu unterdrücken." 17 Mit Marx 15 18 17

Marx, Karl, Das Kapital, Bd III, Berlin 1951, S. 44. Lenin, W. /., Werke, Bd 22, Berlin 1960, S. 195. Marx/Engels, Werke, Bd 4, Berlin 1959, S. 417.

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zusammen lehrte Engels die Arbeiterklasse, jede fortschrittliche, demokratische Bewegung als einen Schritt vorwärts auf. ihrem eigenen Wege zu betrachten. Engels' Rolle bei der Begründung und Entwicklung auch des dritten Bestandteils des Marxismus - des wissenschaftlichen Kommunismus — ist nicht zu unterschätzen. Das hauptsächliche und entscheidende Kettenglied ist hier die Lehre von der weltgeschichtlichen Befreiungsrolle des Proletariats. „Die Vollendung dieser Rolle ist die proletarische Diktatur, die politische Herrschaft des Proletariats." 18 Schon vor der Begegnung mit Marx war Engels dem Verständnis der revolutionären Rolle des Proletariats allmählich nähergekommen, und das war eine der wichtigsten Voraussetzungen für den Anfang der schöpferischen Freundschaft zwischen Marx und Engels. In den Gemeinschaftsarbeiten „Die heilige Familie" und „die deutsche Ideologie" taten Marx und Engels einen neuen Schritt in der Begründung dieses wichtigen Gedankens und stellten die Aufgabe der Eroberung der politischen Macht durch das Proletariat. Der Gedanke der Diktatur des Proletariats wurde im „Manifest der Kommunistischen Partei" weiterentwickelt. „ ,Der Staat, d. h. das als herrschende Klasse organisierte Proletariat' — das ist eben die Diktatur des Proletariats", schrieb Lenin. 19 Eine sehr wichtige Rolle bei der Entwicklung der marxistischen Lehre von der Diktatur des Proletariats spielten die Erfahrungen der Revolution von 1848/1849 und die überaus wertvolle Erfahrung der Pariser Kommune. Die Arbeiten von Marx und Engels, die der theoretischen Verallgemeinerung der Erfahrung dieser zwei bedeutendsten revolutionären Kämpfe, deren Zeugen und aktive Teilnehmer sie waren, gewidmet sind, führen den schöpferischen Charakter des Marxismus und die ihm eigene Fähigkeit, sich beständig zu vervollkommnen, deutlich vor Augen. In „Die Klassenkämpfe in Frankreich" verwendet Marx bereits die klassische Formulierung „Diktatur des Proletariats". Im „Achtzehnten Brumaire des Louis Bonaparte" kommt er zu der sehr wichtigen Schlußfolgerung, daß es unumgänglich ist, die alte Staatsmaschine zu zerschla18 19

Lenin, IV. I. Werke, Bd 25, Berlin 1960, S. 417. Derselbe, Marxismus und Staat, Berlin 1960, S. 54.

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gen. Im „Bürgerkrieg in Frankreich" umreißt er auf Grund der Erfahrungen der Kommunarden die Konturen dieses neuen Staatstypus, den das Proletariat schaffen muß. In der „Kritik des Gothaer Programms" zieht Marx gewissermaßen das Fazit seiner gesamten revolutionären Lehre vom Staat und der Diktatur des Proletariats und formuliert die Schlußfolgerung, daß eine Übergangsperiode, deren Staat die revolutionäre Diktatur des Proletariats sein muß, notwendig und historisch unvermeidbar ist. Die Idee der Diktatur des Proletariats als der entscheidenden Kraft bei der sozialistischen Umgestaltung der Gesellschaft ist die logische Folgerung aus Marx' gesamter philosophischer und ökonomischer Lehre, der revolutionäre Geist seiner gesamten Theorie. Ebenso wie auf anderen Gebieten war die abschließende, klassisch knappe und scharfe Formulierung der Lehre von der Diktatur des Proletariats Marx vorbehalten. Welche der wichtigsten Arbeiten von Engels wir aber auch nehmen - sei es „Zur Wohnungsfrage", sei es der „Anti-Dühring" oder „Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats", überall finden wir nicht nur die Verteidigung, sondern auch die weitere Ausarbeitung der großen Lehre von Marx. In seinen Schriften und Briefen wiederholte Engels nicht nur Marx, sondern ergänzte ihn auch, fügte Eigenes und Neues hinzu, entwickelte und konkretisierte die Lehre von der Diktatur des Proletariats. Gemeinsam mit Marx verteidigte Engels diese Lehre sowohl gegenüber den Reformisten als auch den Anarchisten. Er kämpfte gegen die lassalleanischen Einflüsse in der deutschen Arbeiterbewegung und gegen die Versuche, die proudhonistischen Theorien in Deutschland einzuführen. Nach Marx' Tode stürzte sich Engels wie ein Jüngling in den Kampf und fügte all denen erbarmungslose Schläge zu, die den Versuch unternahmen, die Lehre von der Diktatur des Proletariats zu verfälschen oder sie der Vergessenheit preiszugeben. Es genügt, an die 1891 von Engels veröffentlichte „Kritik des Gothaer Programms", an Engels' Einführung zum „Bürgerkrieg in Frankreich", an seine Kritik am Entwurf des Erfurter Programms und schließlich an die sehr große Zahl von Briefen zu erinnern, die er an die Führer der sozialistischen Parteien schrieb. Engels strebte danach, daß diese Parteien wahrhaft marxistisch und somit die lebendige Verkörperung jener großen proletarischen

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Partei werden sollten, um die Marx und Engels während ihrer ganzen revolutionären Tätigkeit gekämpft hatten. Diesen Kampf um die Partei hatten Marx und Engels schon in den Jahren 1845/1846 mit der Bildung des Brüsseler Korrespondenzkomitees begonnen. Ihr erster Sieg auf diesem Wege war die Gründung des „Bundes der Kommunisten" — des Keims einer proletarischen Partei. Den zweiten sehr wichtigen Abschnitt des Kampfes um die Partei stellte die Tätigkeit von Marx und Engels in der Internationale dar. Engels betrachtete Marx' Arbeit in der Internationale als die Krönung seiner gesamten parteipolitischen Tätigkeit. „Marx' Tätigkeit ohne die Internationale wäre wie ein Brillantring, aus dem der Brillant herausgebrochen ist" 20 - schrieb Engels an Laura Lafargue. Im Jahre 1964 sind hundert Jahre seit der Gründung der Ersten Internationale vergangen. Aufgabe der marxistischen Historiker nicht nur unseres Landes, sondern auch anderer Länder ist es, ihr Scherflein dazu beizutragen, die Geschichte dieser „Kampforganisation des Proletariats" 21 , wie Marx sie nannte, und die Rolle von Marx und Engels in dieser Organisation zu beleuchten. Engels' Tätigkeit in der Internationale wurde besonders intensiv und umfassend, nachdem er 1870 nach London übergesiedelt war. Er wurde Korrespondierender Sekretär für eine Reihe von Sektionen der Internationale, darunter auch der spanischen, portugiesischen und italienischen Sektionen, wo die Bakuninanhänger das Übergewicht besaßen. In seinen Artikeln und in den Briefen an die führenden Funktionäre dieser Sektionen deckte Engels die Ränke der Bakuninanhänger auf und wies die Fehlerhaftigkeit und Schädlichkeit ihrer Anschauungen in der Frage des Staates, der Diktatur des Proletariats und der Autorität nach. Eine außerordentlich große Rolle spielte Engels bei der Vorbereitung des Haager Kongresses der Ersten Internationale. Der Sieg, den die Anhänger von Marx auf dem Haager Kongreß über den prinzipienlosen Block der Bakuninanhänger, der englischen TradeUnionisten und der anderen Gegner des Marxismus errangen, machte den Weg frei und bereitete die ideologischen und organisatorischen 20

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Archiv des Instituts für Marxismus-Leninismus Moskau, F. 1, op. 1, Nr. 6135. Ebenda, F. 1, op. 1, Nr. 6123.

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Bedingungen f ü r die Vereinigung des Sozialismus mit der Arbeiterbewegung, f ü r die Bildung sozialistischer Parteien in verschiedenen Ländern vor. In dem Maße, wie sich diese Parteien bildeten, wurde auch die parteipolitische Tätigkeit von Marx und Engels umfassender. Bei der Führung der sozialistischen Parteien wandten sie die erprobte Methode der materialistischen Dialektik an. Sie bemühten sich, bei der Anwendung der Grundprinzipien des Marxismus in jedem Lande die nationale Eigenart zu berücksichtigen und für jede nationale Partei das richtige Verhalten bei der Lösung der gemeinsamen internationalen Aufgabe festzulegen. Engels erzog die sozialistischen Parteien im Geiste des proletarischen Internationalismus; er lehrte sie, einheitlich zu handeln bei der Verwirklichung des gemeinsamen Plans, „der sich zwar frei an die verschiedenartigen Verhältnisse jeder Nation und jedes Ortes anpaßt, der aber trotzdem überall in seinen grundlegenden Zügen der gleiche ist und so die Einheit des Handelns und eine allgemeine Übereinstimmung der Mittel zur Erreichung des gemeinsamen Zieles, der Befreiung der Arbeiterklasse durch die Arbeiterklasse selbst, gewährleistet." 22 Um Marx die Arbeit am „Kapital" zu erleichtern, übernahm Engels den Briefwechsel mit den Sozialisten der verschiedenen Länder. In diesen Briefen bemühte sich Engels, den schwierigen Prozeß der Bildung der proletarischen Parteien zu unterstützen, ihnen bei der Ausarbeitung der Strategie und Taktik Ratschläge zu erteilen, sie vor Fehlern zu warnen und bei der Berichtigung bereits gemachter Fehler zu helfen. Aus Engels' Briefen an Bebel, Liebknecht, Bernstein, Kautsky und andere Arbeiterführer war bekannt, welch außerordentlich große Aufmerksamkeit Engels der deutschen Sozialdemokratie widmete, wie wachsam er ihre inneren Kämpfe verfolgte, wie blitzschnell und unbarmherzig er den Reformisten und den Helden der revolutionären Phrase eine Abfuhr erteilte. Bedeutend weniger wußten wir darüber, wie Engels die Arbeiterpartei Frankreichs anleitete, weil sich nur eine geringe Zahl seiner Briefe an die französischen Arbeiterführer im Archiv des Instituts f ü r MarxismusLeninismus befand. Da erhielt das ZK der Kommunistischen Partei Frankreichs von Marx' Erben aus der Linie seiner älteren Tochter Jenny 22

Marx, Engels, Lenin, Uber proletarischen Internationalismus, Berlin 1959, S. 209.

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Longuet vor einigen Jahren eine sehr große Zahl von Briefen, die zwischen Engels und Paul und Laura Lafargue gewechselt worden waren. Im Jahre 1956 wurde in Frankreich der I. und II. Band und 1959 der III. Band dieses interessanten Briefwechsels veröffentlicht. Diese Bände enthalten sehr reichhaltiges Material, das ganz konkret und detailliert die Anleitung und die tagtägliche Hilfe beleuchtet, die Engels Lafargue und anderen Führern der französischen Arbeiterpartei angedeihen ließ. Aus diesem Briefwechsel ist ersichtlich, wie aufmerksam, liebevoll und zugleich streng Engels jeden Schritt der noch jungen und ungefestigten Partei verfolgte, wie schnell er auf ihre Fehler in theoretischen Fragen und auf grobe Fehlgriffe in der Taktik der Partei reagierte. Besonders interessant sind die Briefe, die der Kritik der falschen Einstellung Lafargues gegenüber dem Boulangismus gewidmet sind, in dem Lafargue eine angeblich zugunsten des Sozialismus verlaufende spontane Bewegung der Volksmassen sah. In seinen Briefen an Lafargue legt Engels den chauvinistischen und revanchistischen Charakter der boulangistischen Bewegung dar und umreißt für die französischen Sozialisten die Taktik, die unter dem Blickwinkel der Verteilung der politischen Kräfte innerhalb des Landes und auch vom Standpunkt der internationalen Pflicht der proletarischen Partei Frankreichs allein richtig war. Sehr interessant und wichtig sind auch die Briefe von Engels, die mit der Vorbereitung und Organisierung der II. Internationale zusammenhängen. Allgemein bekannt ist Engels' Kampf gegen die Opportunisten - die Sozialdemokratische Förderation in England und die Possihilisten in Frankreich - , die die Absicht hatten, die Initiative zur Schaffung einer internationalen Organisation in ihre Hände zu nehmen. Nicht erst seit der Veröffentlichung des Briefwechsels mit dem Ehepaar Lafargue besteht die Möglichkeit, die andere Seite dieser Angelegenheit - Engels' Rolle bei der Herstellung der Einigkeit zwischen den französischen und deutschen Marxisten und ihrer Übereinstimmung in der Frage der prinzipiellen und organisatorischen Grundlagen sowie auch über Ort und Termin für die Einberufung des ersten Kongresses — zu untersuchen. Engels brauchte viel Kraft, Zeit und Geduld, um alle proletarischen Revolutionäre zu vereinigen und zusammenzuschließen und den Triumph des marxistischen Kongresses zu erreichen. Indem Engels die sozialistischen Parteien im Geist des proletarischen Internationalismus und der Einigkeit zwischen den Parteien der ver-

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schiedenen Länder erzog, war er bestrebt, daß die sozialistischen Parteien in ständigem Verkehr untereinander ihre besten Eigenschaften aufeinander einwirken lassen: die Deutschen den von ihnen bewiesenen Geist der Disziplin, der Organisiertheit und des einheitlichen Handelns; die Franzosen den ihnen eigenen revolutionären Geist, der daher stammte, daß sie in einem Land mit sehr großen revolutionären Traditionen geboren waren. Die immer neuen Erfolge der sozialistischen Bewegung bereiteten dem alten Engels viel Freude. Und jedesmal entrang sich ihm der Satz: „Wenn doch Marx da wäre und alles mit eigenen Augen sehen könnte!" Mit großem Stolz und tiefer Freude erfüllte Engels die Bildung der Gruppe „Befreiung der Arbeit", das Auftreten der ersten Marxisten in Rußland. Schon in den siebziger Jahren betrachteten Marx und Engels Rußland als das Land, das der Revolution in Europa Impulse geben würde. Die Kenntnis der russischen Sprache, der russischen Wissenschaft, der russischen Literatur und Kultur, das Studium des russischen gesellschaftlichen Denkens - all das erlaubte es Engels, die dem russischen Volk eigenen Eigenschaften zu schätzen: „Eine große und hochbegabte Nation" 2 3 , schrieb er im Oktober 1893 an Danielson. Besonders hoch wertete Engels die russische Jugend wegen ihres hartnäckigen, entsagungsvollen Suchens nach der Wahrheit, wegen ihres Heroismus und ihrer Bereitschaft, alle möglichen Opfer im Namen der Wissenschaft, des Fortschritts und der Revolution zu bringen. Da er die Wirtschaftsentwicklung Rußlands, die in diesem Lande herangereiften tiefen sozialen Gegensätze und den dortigen Klassenkampf aufmerksam studiert hatte, erwartete Engels ungeduldig die russische Revolution, die, wie er vorhergesagt hatte, den Wendepunkt der Weltgeschichte bilden sollte. Freudig begrüßte Engels das Vordringen des Sozialismus nach Ostund Südeuropa, die Bildung „sozialistischer Vorposten" an den Ufern des Schwarzen und Ägäischen Meeres. Jedoch waren diese Freuden für Engels von Sorgen und Ärgernissen überschattet. Viel Verdruß bereiteten Engels die schwachen Erfolge des Sozialismus in den angelsächsischen Ländern. Bereits in den fünfziger Jahren hatte Engels in einem Brief an Marx die sozialen Wurzeln des Opportunismus in der englischen Arbeiterbewegung bloßgelegt und diese Neigung mit 23

Marx/Engels,

Ausgewählte Briefe, Berlin 1953, S. 556.

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den Extraprofiten in Zusammenhang gebracht, die die englischen Kapitalisten aus den Kolonien zogen. Diese Analyse von Engels war von außerordentlicher theoretischer Bedeutung. Lenin stützte sich auf diese Analyse von Engels, entwickelte und konkretisierte dessen Schlußfolgerungen unter Berücksichtigung der neuen Etappe der geschichtlichen Entwicklung und deckte die sozialen Wurzeln des Opportunismus in der imperialistischen Epoche auf. Die Ursache f ü r die schwache Verbreitung des Sozialismus in den angelsächsischen Ländern sah Engels nicht nur in den objektiven Bedingungen der Arbeiterbewegung dieser Länder, sondern auch in dem f ü r die englischen und amerikanischen Sozialisten eigentümlichen Dogmatismus und Sektierertum, darin, daß ihnen die Verbindung mit der lebendigen Arbeiterbewegung fehlte. Engels schrieb in diesem Zusammenhang: „Sie verstehen nicht, sich eine lebendige Theorie der Aktion auszudenken, mit der Arbeiterklasse in jeder möglichen Etappe ihrer Entwicklung zusammenzuarbeiten, anders als eine Sammlung von Dogmen, die man auswendig lernen und hersagen muß wie eine magische Formel oder ein katholisches Gebet." 2 4 Noch größere Sorge bereiteten Engels die opportunistischen Tendenzen, die sich in den deutschen und französischen Parteien bemerkbar zu machen begannen. Diese opportunistischen Tendenzen zeigten sich deutlich im Agrarprogramm von Nantes der französischen Arbeiterpartei, das Engels in seinem Artikel „Die Bauernfrage in Frankreich und Deutschland" (1894) einer vernichtenden Kritik unterzog. In dieser Abhandlung kritisiert Engels die opportunistischen Anschauungen der französischen und deutschen Sozialisten in der Agrarfrage und entwickelt und konkretisiert die Idee des Bündnisses zwischen dem Proletariat und den werktätigen Massen der Bauernschaft. Diese Idee hatte er gemeinsam mit Marx, insbesondere nach den Erfahrungen der Revolutionen von 1 8 4 8 - 1 8 4 9 verteidigt und ihrer Begründung seinerzeit die Arbeit „Der deutsche Bauernkrieg" gewidmet. In seinen letzten Lebensjahren machte sich Engels immer öfter Gedanken über das Schicksal der sozialistischen Bewegung, die bald auf seine lenkende und manchmal auch scharf korrigierende H a n d verzichten sollte. Diese tiefe Sorge Engels' zeigte sich deutlich in seinem 24

Engels. Friedrich, Paul et Laura Lafargue. Correspondance. Bd III, Paris 1959, S. 45.

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Brief vom 22. November 1894 an Lafargue. Engels schrieb, in dem Programm von Nantes hätten die französischen Sozialisten die Zukunft der Bewegung zugunsten der Tagesinteressen geopfert, und er würde sich freuen, wenn sein Artikel „Die Bauernfrage in Frankreich und Deutschland" sie auf diesem gefährlichen Wege aufhielte. Auch in Deutschland trat Vollmar im Sinne des Programms von Nantes auf. Engels schrieb in diesem Zusammenhang: „Sie haben im ,Vorwärts" Bebels Rede im zweiten Berliner Wahlkreis gesehen. Er beklagt sich mit Recht, daß die Partei anfängt, zu verbürgerlichen. Das ist das Unglück aller extremen Parteien, sobald die Zeit kommt, da sie .möglich' (possibles) werden. Aber die unsrige kann in dieser Beziehung eine bestimmte Grenze nicht überschreiten, ohne sich selbst zu verraten, und mir scheint, daß wir in Frankreich wie in Deutschland bereits an dieser Linie angelangt sind. Zum Glück ist noch Zeit, Halt zu machen." 2 5 Engels hoffte, daß Menschen wie Bebel, den er für den hellsten Kopf unter den deutschen Sozialdemokraten hielt, wie Lafargue, Victor Adler, Sorge und andere seiner näheren Freunde und Gefährten aus verschiedenen Ländern alles tun würden, um die sozialistischen Parteien nicht diese verhängnisvolle Linie überschreiten zu lassen, von der er schon Lafargue geschrieben hatte. Als unbedingte Voraussetzung dafür betrachtete er den Kampf an zwei Fronten, gegen den Reformismus und auch gegen Dogmatismus und Sektierertum, für die Reinheit der revolutionären Theorie und für ihre Einheit mit der Praxis, für jene Eigenschaften also, in denen Marx und Engels die Grundzüge einer kämpferischen proletarischen Partei sahen. Bei allen Sorgen und Befürchtungen um das Schicksal der sozialistischen Bewegung verlor Engels keinen Augenblick den Glauben daran, daß jene wahrhaft proletarische Partei, um die er gemeinsam mit Marx das ganze Leben lang gekämpft hatte, in der Lage sein werde, die ihr von der Geschichte übertragene Rolle zu spielen. Am Vorabend des Erfurter Parteitages der deutschen Sozialdemokratie, als der Kampf gegen die Reformisten und gleichzeitig gegen die ultralinke Gruppe der „Jungen" geführt werden mußte, schloß Engels seinen Brief an Lafargue mit folgendem Rat, der von dem tiefen Glauben an die proletarische Partei durchdrungen war: „Behaltet eure gute Laune, 26

Ebenda, S. 373-374.

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versucht immer, euch über eure Gegner lustig zu machen, vertraut auf das historische Glück unserer Partei und haltet euer Pulver trocken." 2 6 Engels suchte bei den proletarischen Führern jene Eigenschaften zu erziehen, die ihm selbst und seinem großen Freund eigen waren: den unerschütterlichen Optimismus der Theoretiker jener Klasse, die mit dem gesellschaftlichen Fortschritt gleichen Schritt hält und ihn beschleunigt, den historischen Optimismus der Führer einer Partei, die die Avantgarde des Proletariats bildet und so der gesamten werktätigen Menschheit den Weg zum objektiv unumgänglichen Sieg des Kommunismus weist. Daher rühren der für Marx und Engels charakteristische mächtige Wille zum Kampf und die unerschütterliche Überzeugung vom Sieg. Darauf beruht ihr Mut, ihre Lebensfreude und ihr Humor, die sie nicht einmal in den schwersten Augenblicken ihres Lebens verließen. Engels trug die Bürde seiner Jahre mit Leichtigkeit, ihm war es gegeben, die Jugendlichkeit des Geistes bis ins biblische Alter zu bewahren. Diese Eigenschaft hing organisch mit den Besonderheiten jener Partei zusammen, deren Lehrer und Führer Marx und Engels waren. Das brachte Laura Lafargue gut zum Ausdruck, als sie dem zweiundsiebzigjährigen Engels schrieb: „Was mich angeht, so wissen Sie, mein lieber General, daß es genügt, Marxistin und Engeisistin zu sein, um lange jung zu bleiben." 27 Seine kolossale Arbeitsfähigkeit behielt Engels bis an sein Lebensende. Als er über seine Pläne für die Arbeit am IV. Band des „Kapital" („Theorien über den Mehrwert") berichtete, schrieb Engels an Laura: „Dies ist meine Lage: 74 Jahre, die ich zu fühlen beginne und Arbeit, die für zwei Männer von 40 ausreicht. Ja, wenn ich mich in den F. E. von 40 und den F. E. von 34 teilen könnte, was genau 74 ergäbe, dann wären wir bald in Ordnung." 2 8 Leben hieß für Engels - arbeiten, und arbeiten hieß - kämpfen. „Möge mir beschieden sein, in dem Augenblick zu sterben, wo ich nicht mehr zum Kampf tauge." 29 Für Engels gelten voll und ganz die Worte, die er über Marx gesagt hat: „Der Kampf war sein Element". 39 26 29

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27 Ebenda, S. 108. Ebenda, S. 244. 28 Ebenda, S. 377. Marx, Engels, Lenin, Über proletarischen Internationalismus, Berlin 1959, S. 241.

Marx/Engels, S. 157.

Ausgewählte Schriften in 2 Bänden, Bd II, Berlin

3 Friedrich Engels, Bd. 1

1955,

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Engels' ganzes Leben war ebenso wie das von Marx das Leben eines großen Denkers und revolutionären Kämpfers, die glänzende Verkörperung der dem Marxismus eigenen Einheit von Theorie und Praxis. Wie sein genialer Freund verblüffte auch Engels durch die gewaltige Kraft und Furchtlosigkeit des Denkens, den enzyklopädischen Charakter seiner Kenntnisse, durch die große revolutionäre Energie, die Geschlossenheit und den Edelmut seines Charakters. Engels liebte leidenschaftlich das Leben in allen seinen Erscheinungen. Noch als Greis freute er sich wie ein Jüngling über einen schönen Sonnenuntergang, über einen wolkenlosen Himmel, über die leuchtenden Farben des Laubes. Aber noch mehr als über die Natur freute er sich über die Prozesse der Geschichte, die imposante fortschreitende Bewegung zu einer besseren Zukunft, in der die Menschheit die Macht über die Natur und ihre eigenen gesellschaftlichen Beziehungen erringen und somit den Sprung aus dem Reich der Notwendigkeit in das Reich der Freiheit machen wird. Dazu schrieb Engels: „Diesen Prozeß, die immer näherrückende Verwirklichung eines Zustandes zu beobachten, wie er in der Geschichte unseres Planeten noch nie dagewesen ist, scheint mir ein betrachtenswertes Schauspiel, und ich, der ich mit diesem Prozeß in meiner ganzen Vergangenheit verbunden gewesen bin, möchte meine Blicke nicht von ihm losreißen." 3 1 Auf den Brief eines Jungen, der Engels zu seinem Geburtstag beglückwünschte, schrieb der zweiundsiebzigjährige Engels, er wünsche ihm ein doppelt so langes Leben, wie er selbst es durchlebt hätte. „Dann werden Sie, zweifellos, etwas ganz Bedeutendes und Bemerkenswertes sehen, und dann werden Sie sich, vielleicht, manchmal an mich als einen derjenigen erinnern, der alles, was er konnte, getan hat, um diese Wandlung zu erreichen." 3 2 Seit Engels diese Zeilen geschrieben hat, sind grundlegende Wandlungen noch nie dagewesenen Ausmaßes auf unserem Planeten vor sich gegangen. In der Sowjetunion wird bereits der Übergang zur kommunistischen Gesellschaft verwirklicht. Das mächtige sozialistische Lager übt einen immer entscheidenderen Einfluß auf den Gang der Weltgeschichte aus. Der rasche Zusammenbruch des Kolonialsystems beschleunigt den 31 32

Dieselben, Bd XXIX, Moskau 1946, 217 (russisch). Dieselben, ebenda S. 163.

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Prozeß der gesellschaftlichen Entwicklung noch mehr. Vor unseren Augen verändert sich in stürmischem Tempo die Weltkarte und zugleich damit auch das Antlitz unseres Planeten. Wie könnten wir dann Friedrich Engels und seinen großen Freund vergessen, die alles, was sie tun konnten, getan, alle ihre Kräfte, die ganze Macht ihres genialen Verstandes dafür eingesetzt haben, den Weg in die schöne Zukunft der Menschheit zu erhellen. *

Heute, da die Anziehungskraft der marxistisch-leninistischen Ideen von Tag zu Tag größer wird, verstärken sich die Angriffe der Feinde des Marxismus auf diese große Lehre. Diese Angriffe werden heute an besonders breiter Front geführt; katholische und protestantische Theologen, bürgerliche Wissenschaftler, sozialdemokratische und revisionistische „Theoretiker" sind daran beteiligt. Parallel zu den direkten, offenen, frontalen Angriffen auf den Marxismus findet auch eine verstecktere, verschleierte und daher um so gefährlichere Kampfmethode Anwendung — das Bestreben, das harmonische Gebäude des Marxismus-Leninismus von innen her zu unterwühlen, es in einzelne Stücke zu zerlegen und diese geschlossene, organisch einheitliche revolutionäre Theorie zu verfälschen. Der alten, schon abgedroschenen Methode, Lenin zu Marx und Engels, den Leninismus zum Marxismus in Gegensatz zu stellen, haben die Feinde des Marxismus noch zwei Verfahren zugesellt. 1. Die Gegenüberstellung der frühen als der „echt marxistischen" und der ausgereiften Arbeiten von Marx; und 2. die Gegenüberstellung der Ansichten von Marx und von Engels. Soweit es der Rahmen des vorliegenden Referats erlaubt, möchte ich in kurzen Zügen die Besonderheiten und den Sinn dieser ständigen ideologischen Diversion unserer Feinde darlegen. Die Feinde des Marxismus aller Farben und Schattierungen heben mit seltener Einmütigkeit Marx' frühe Arbeiten auf den Schild, in erster Linie seine Pariser „Ökonomisch-philosophischen Manuskripte aus dem Jahre 1 8 4 4 " . Durch Verdrehung des Inhalts versuchen sie, diese Manuskripte als Zenith von Marx' Schaffen darzustellen, wonach in seiner Tätigkeit als Wissenschaftler angeblich die absteigende Linie 3*

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begann. Auf diese Weise versuchen sie, alle grundlegenden Arbeiten von Marx, und vor allem das der Bourgeoisie am meisten verhaßte „Kapital", zu „eliminieren", zu verwerfen. Daher wird den „ökonomisch-philosophischen Manuskripten" ein breiter Strom von Monographien und Artikeln gewidmet. Diese Manuskripte von Marx stellen einen der ersten und wichtigsten Abschnitte in der Entstehung seiner Lehre dar. In diesen Schriften beginnt Marx, der sich von dem Einfluß seiner Vorgänger — Hegel und Feuerbach - noch nicht völlig freigemacht hat, seine grundsätzlich neue, materialistische Weltanschauung herauszubilden. Und obwohl er in dieser Arbeit Hegels und Feuerbachs Terminologie verwendet, erfüllt er sie mit einem vollkommen neuen, konkret-historischen, sozialen Inhalt. Die Feinde sind bestrebt, den ganzen Sinn dieser Arbeit von Marx zu verdrehen und die darin enthaltenen Begriffe wie „Wesen des Menschen", „Entäußerung", „Naturalismus", „realer Humanismus" zu entstellen, sie als wichtigste, zentrale Begriffe des „echten" Marxismus darzustellen und so der Weltanschauung von Marx einen anthropologischen und ethischen Charakter zu verleihen und ihr jeglichen wissenschaftlichen Inhalt zu rauben. Um diese, mit Verlaub zu sagen, „Konzeption" zu begründen, wenden die Feinde des Marxismus noch eine zweite Methode an - sie stellen Marx und Engels in Gegensatz zueinander. Sie nutzen es aus, daß Marx seine Absicht, eine spezielle Arbeit über die materialistische Dialektik zu schreiben, nicht verwirklichen konnte. Sie ignorieren vollständig die philosophische Bedeutung der ökonomischen Arbeiten von Marx, darunter sein unsterbliches „Kapital", das in der Entwicklung des dialektischen und historischen Materialismus einen riesigen Schritt vorwärts bedeutet. Da die Aufgabe, den dialektischen und historischen Materialismus systematisch zu beleuchten, hauptsächlich in Engels' Arbeiten erfüllt wurde, bemühen sie sich, Engels auf verschiedene Weise zu „entlarven". Sie versuchen die Dinge so darzustellen, als habe Engels in seinen Arbeiten den Marxismus „vereinfacht" und „vulgarisiert". Sie erfinden scheinbare Gegensätze in den Ansichten von Marx und Engels und sind sogar bestrebt, auf die legendäre persönliche Freundschaft dieser beiden Männer einen Schatten zu werfen. Mit Hilfe dieser „Methoden" wollen sie solche Arbeiten von Engels wie den „Anti-Dühring", die

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„Dialektik der Natur" und „Ludwig Feuerbach" in Verruf bringen und verwerfen. Nun einige Beispiele, wie das gemacht wird. Nach der Feststellung des evangelischen „Kritikers" I. Fetscher hat in den ökonomisch-philosophischen Manuskripten „Marx den Gegensatz von Idealismus und Materialismus überwunden". 3 3 Diese These verteidigen auch viele andere Gegner des Marxismus, darunter der französische Revisionist Lefèbvre, der behauptet, in Marx' Manuskripten „ginge der Materialismus in der Anthropologie a u f " . 3 4 Indem sie eine Reihe von Begriffen aus Marx' „ökonomisch-philosophischen Manuskripten" verdrehen, versuchen die Gegner des Marxismus darzulegen, daß gerade in diesen Begriffen „der Schlüssel zu allen seinen künftigen Arbeiten" liege, daß folglich Marx auch in seinen weiteren Arbeiten Ansichten verteidige, die weder in den Rahmen des Idealismus noch in den des Materialismus passen. Als unüberwindliches Hindernis für eine solche entstellende Behandlung der F r a g e erweist sich aber Engels. Den besonderen Zorn der Feinde des Marxismus ruft die sehr wichtige marxistische These von den zwei philosophischen Lagern - dem Lager des Materialismus und dem Lager des Idealismus - hervor, die Engels zuerst in „Ludwig Feuerbach" formulierte. In Engels' Formulierung von den zwei philosophischen Lagern, schreibt der evangelische „Kritiker" L. Landgrebe, „liegt bereits die Wurzel derjenigen dogmatischen Verfestigung der marxistischen Position in philosophischer Hinsicht, die für ihre Weitere Entwicklung charakteristisch ist". 3 5 Wie man sieht, haben sich die evangelischen „Theoretiker" nicht schlecht die Methode zu eigen gemacht, die von den Revisionisten aufgebracht worden ist, nämlich über den angeblichen „Dogmatismus" und die „Verfestigung" der marxistischen Theorie zu „jammern". Die marxistische These von den zwei Lagern in der Philosophie „paßt" nicht nur Landgrebe, sondern auch vielen anderen Gegnern des Marxismus nicht. Daher die Angriffe auf den Marxismus in Form des Angriffs 33

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Marxismusstudien, Bd II, Tübingen 1957, S. 32. Lefèbvie, Henri, Retour à Marx „Cahiers Internationaux de Sociologie". 1958, VII-XII, S. 36 (rückübersetzt aus dem Russischen). Marxismusstudien, Bd III, Tübingen 1960, S. 57.

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auf Engels, daher die Versuche, Engels in Gegensatz zu Marx zu stellen. In ihrer Gegenüberstellung von Marx und Engels verfallen manche Gegner des Marxismus darauf zu behaupten, der dialektische und historische Materialismus insgesamt stelle das Produkt des persönlichen Schaffens von Engels dar. So behauptet Fetscher, von der dialektischmaterialistischen Weltanschauung

könne man erst seit dem

„Anti-

Dühring" sprechen. 3 6 Wie verhält es sich nun aber mit den früheren Arbeiten, bei denen zwei Namen — Marx und Engels — auf dem Titelblatt stehen, zum Beispiel mit dem „Manifest der Kommunistischen Partei" ? Tritt denn dort der konsequente Materialismus von Marx und Engels nicht klar genug zutage? Aber die Gegner des Marxismus haben für alles ihre Erklärung. So behauptet Landgrebe, die materialistische Formulierung von der Wechselbeziehung zwischen Basis und Überbau im „Kommunistischen Manifest" rühre daher, daß dies keine philosophische

Abhandlung,

sondern eine politische Streitschrift gewesen sei. „Es wäre zu fragen, wie weit er (Marx — U. H.) sich nicht diese Formulierungen von Engels suggerieren ließ. . . "

37

Somit trägt laut Landgrebe auch an den ma-

terialistischen Formulierungen

des „Manifests"

der „böse

Genius"

Engels die Schuld! Was interessiert es Landgrebe, daß Engels noch zu Lebzeiten von Marx mehrfach über die materialistische

Geschichts-

auffassung als eine der zwei wichtigsten Entdeckungen seines großen Freundes geschrieben h a t ! Die Feinde des Marxismus machen Engels auch den Vorwurf, in seinen philosophischen Arbeiten fehle die berüchtigte Kategorie der „Entäußerung", die nach ihren Worten das zentrale Glied in M a r x ' Weltanschauung sei. F ü r Marx, schreibt Landgrebe, „ist alles Gegenständliche nur die Entäußerung der menschlichen Arbeit. Engels versteht diesen Gedanken der Entäußerung n i c h t . . . " . 3 8 Einen analogen Vorwurf richtet der Revisionist Lefebvre an Lenin, weil er „den Begriff der ,Entäußerung' beiseite ließ oder vernachlässigte", der, nach Meinung Lefebvres, „der zentrale Begriff der Philosophie werden wird" 36 37 38 39

39.

Ebenda, Bd II, S. 41. Ebenda, Bd III, S. 56. Ebenda, Bd III, S. 58. Lefebvre, Henri, Critique de la vie quotidienne, Paris 1958, S. 30 und 181.

Lehrer und Führer des Proletariats

39

Es ist durchaus kein Zufall, daß Marx selbst später aufhörte, diesen Terminus zu gebrauchen, soweit er im Hegeischen oder Feuerbachschen Sinn ausgelegt werden konnte. Marx sah bald ein, daß die alte Terminologie jenen grundlegend neuen Inhalt, den er den alten Termini gegeben hatte, vertuscht. Bekanntlich wurden die „ökonomisch-philosophischen Manuskripte" zu Lebzeiten Marx' nicht veröffentlicht, aber analoge Termini verwendete Marx in seinen Artikeln in den „Deutsch-Französischen Jahrbüchern", in „Zur J u d e n f r a g e " und in der „Einleitung zur Kritik der Hegeischen Rechtsphilosophie", in denen sich bereits der Weg zu der neuen Weltanschauung abzeichnete. Marx und Engels schrieben aber in der „Deutschen Ideologie": „Da dies damals noch in philosophischer Phraseologie geschah, so gaben die hier traditionell unterlaufenden philosophischen Ausdrücke wie ,menschliches W e s e n ' , , G a t t u n g ' pp. den deutschen Theoretikern die erwünschte Veranlassung, die wirkliche Entwicklung zu mißverstehen und zu glauben, es handle sich hier wieder nur um eine neue Wendung ihrer abgetragenen theoretischen Röcke." 4 0 Um eine derartig entstellte Auslegung ihrer Ansichten zu vermeiden, verzichten Marx und Engels späterhin auf den Gebrauch einer ganzen Reihe alter philosophischer Begriffe und beginnen, ihre eigene Terminologie auszuarbeiten, die ihrer neuen Weltanschauung adäquat ist. Im „Manifest der Kommunistischen P a r t e i " kritisieren Marx und Engels die „wahren Sozialisten" und gleichzeitig die von diesen gebrauchten philosophischen Begriffe, darunter auch die Kategorie der „Entäußerung". Sie warfen den „wahren Sozialisten" vor, sie führen fort, von der „Entäußerung des menschlichen Wesens" zu schwatzen und verträten statt der Interessen des Proletariers „die Interessen des menschlichen Wesens, des Menschen überhaupt, des Menschen, der keiner Klasse, der überhaupt nicht der Wirklichkeit, der nur dem Dunsthimmel der philosophischen Phantasie angehört" 4 1 . Diese Kritik an den „wahren Sozialisten" und ihrer philosophischen Phraseologie widerlegt die Versuche der Feinde des Marxismus, die Dinge so darzustellen, als seien die von M a r x in den „ökonomischphilosophischen Manuskripten" gebrauchten Begriffe, die sie im Feuer40 41

Marx/Engels, Werke, Bd 3, Berlin 1958, S. 217-218. Dieselben, Werke, Bd 4, Berlin 1959, S. 486.

40

E . A . STEPANOWA

bachschen, das heißt im anthropologischen und ethischen Sinne auslegen, der „Schlüssel" zum „wahren" Marxismus und die Grundkategorien der Weltanschauung von Marx. Durch Ausnutzung der Divergenz zwischen dem prinzipiell neuen Inhalt und der alten philosophischen Terminologie in den „ökonomisch-philosophischen Manuskripten", einer Terminologie also, von der sich Marx bald lossagte, versuchen die Gegner des Marxismus, den Inhalt dieser Manuskripte zu verdrehen und damit zugleich, den Marxismus als Ganzes zu entstellen. Daher erheben sie diese Manuskripte als den „Zenith" von Marx' Schaffen auf den Schild. Indem sie die Schaffung des dialektischen Materialismus Engels zuschreiben, möchten die „Kritiker" des Marxismus diese Weltanschauung des Proletariats entweder mit dem Hegelianertum oder mit dem Vulgärmaterialismus identifizieren. „Die von Engels propagierte dialektischmaterialistische Weltanschauung", schreibt Fetscher, „kann man als eine Subtilisierung der damals allgemein herrschenden vulgärmaterialistisch-monistischen Konzeptionen kennzeichnen" 4 2 . Derartig absurde Behauptungen entlarven lediglich das schlechte Gewissen der Feinde des Marxismus. Allen, darunter auch den „Kritikern", ist nämlich bekannt, daß Engels in seinem „Anti-Dühring" und in der „Dialektik der Natur" sowohl gegen den Idealismus als auch gegen den Vulgärmaterialismus kämpfte. Nicht weniger, sondern vielleicht noch mehr verbreitet sind die Versuche, den historischen Materialismus mit dem Vulgärmaterialismus zu identifizieren. Dieser Linie folgte im Grunde genommen die Kritik am Marxismus auf dem Stockholmer Historiker-Kongreß im August 1960. Alle, auch die „Kritiker", wissen aber doch, daß Engels in seinen Arbeiten und auch in den Briefen an Bloch, Schmidt, Starkenburg und andere scharf gegen die Entstellung der materialistischen Geschichtsauffassung im Geiste des Vulgärmaterialismus auftrat. Gerade der historische Materialismus löste als erster die Frage der Rolle und der Wechselbeziehungen des objektiven und des subjektiven Faktors in der Geschichte wissenschaftlich und unterschätzte keineswegs die Rolle des subjektiven Faktors, die Rolle der Menschen, der Klassen und der Volksmassen in der Geschichte, sondern lieferte im Gegenteil als erster die wissenschaftliche Grundlage für das bewußte historische 42

Marxismusstudien, Bd II, Tübingen 1957, S. 27.

Lehrer und Führer des Proletariats

41

Handeln des Proletariats und der werktätigen Massen, das auf eine grundlegende Umgestaltung der Welt gerichtet ist. Lächerlich und ungereimt sind die Fabeln, der Marxismus-Leninismus weise den Menschen die Rolle von Automaten zu, er ignoriere ihr geistiges Leben, ihre Gedanken, ihre Gefühle, Hoffnungen und Erwartungen. H a t es denn jemals eine andere wissenschaftliche Theorie gegeben, die in den Massen eine derartige Hingabe an eine große Idee, ein so hohes geistiges Niveau, eine derartige schöpferische Energie, einen so selbstlosen Heroismus hervorgerufen hätte wie die unbesiegbare Lehre von Marx, Engels und Lenin? Mit Hilfe eben dieses „Schlüssels" - der entstellten Auslegung einiger Begriffe aus den „ökonomisch-philosophischen Manuskripten" versuchen die Feinde des Marxismus, auch die ökonomische Lehre von Marx zu „erledigen". Insbesondere möchten sie das „Kapital" mit seiner Theorie vom Wert und Mehrwert im Archiv verschwinden lassen. Von der Anthropologie ausgehend, schreibt Erich Thier, „ist Marx' Anliegen bis in seine wissenschaftlichen und seine politischen Auswirkungen hinein verstehbar, ohne daß des Wertgesetzes und seiner Problematik gedacht ist". In diesem Zusammenhang stellt Thier die F r a g e : „Ist die Werttheorie aber als solche ,notwendig' oder ist sie ,ein Schauspiel im Schauspiel'?" 4 3 Obwohl Thier die Antwort auf diese F r a g e schuldig bleibt, da sie über den Rahmen seiner vorliegenden Arbeit hinausgeht, ist doch vollkommen klar, welche Antwort der evangelische „Theoretiker" zu geben beabsichtigt: Die Lehre vom Mehrwert ist f ü r ihn „ein Schauspiel im Schauspiel", das er durchaus entbehren kann. Das Bemühen, koste es, was es wolle, das „Kapital" zu entstellen, zieht sich wie ein roter Faden auch durch das Buch von Rubel „Karl Marx. Versuch einer intellektuellen Biographie". Rubel versucht die „Unvollendetheit" des „Kapital" und damit auch die Zwecklosigkeit einer Diskussion dieser oder jener Thesen zu beweisen, die der Autor nicht genügend entwickelt hat. Rubel beruft sich dabei auf Hilferdings Meinung, die derselbe 1911 geäußert hatte und die besagte, daß der II. und III. Band des „Kapital", die von Engels herausgegeben worden waren, nicht als Originalarbeiten von Marx anzusehen seien. 44 So leicht wird 43 44

Thier, Erich, Das Menschenbild des jungen Marx, Cöttingen 1957, S. 71. Siehe Rubel, Maximilien, Karl Marx. Essai de biographie intellectuelle, Paris 1957, S. 318.

42

E . A . STEPANOWA

Hilferding und nach ihm auch Rubel mit dem zweiten und dritten Band des „Kapital" „ f e r t i g " ! Mehr noch, Rubel versucht nachzuweisen, daß das „Kapital" keinerlei Beziehung zur ökonomischen Lehre, zur politischen Ökonomie habe, daß es eine soziologische und ethische Arbeit sei, daß der zentrale Kern dieser Untersuchung in der Konzeption „der sozialen Entfremdung des Menschen und des sozialen Fetischismus in der bürgerlichen Gesellschaft" 4 5 besteht, eine Konzeption also, zu der Marx, Rubel zufolge, im Jahre 1844 aus ethischen Motiven gelangt sei. Die Werttheorie, schreibt Rubel, erscheint auf den ersten Blick als ökonomisch. Da es sich hier aber um die menschlichen Beziehungen handelt und die menschlichen Beziehungen zum Gebiet der Ethik gehören, ist also diese ganze Analyse bei Marx „soziologisch und ethisch". „ . . . In seiner Mehrwerttheorie hat Marx den Boden der politischen Ökonomie im eigentlichen Sinne des Wortes verlassen, um die Arbeit eines Historikers, Soziologen und Ethikers zu v e r r i c h t e n . " 4 6 Nach der Behauptung Rubels ist im „Kapital" ein ethisches Postulat enthalten. „Das Kapital" ist — nach seinen Worten - Anklagerede und prophetische Vision ebenso wie theoretische Analyse. Rubel vergleicht Marx mit einem Propheten und das „Kapital" mit einem apostolischen Sendschreiben und wiederholt damit die bei den Feinden des Marxismus heutzutage weitverbreitete Methode, ü b e r das „Prophetentum" und über den „Prophetismus" von Marx zu schwatzen; sie streben an, den wissenschaftlichen Kommunismus als Eschatologie, als eine gewisse religiöse Lehre vom Ende der Welt, von den endlichen Schicksalen der Menschheit darzustellen. Ein Kapitel in Rubels Buch trägt die Überschrift: „Die proletarische Eschatologie"! Die Feinde des Marxismus versuchen zu beweisen, Marx sei aus religiös-ethischen Vorstellungen heraus zum Sozialismus gelangt, er habe dem Proletariat die ethische Mission der Befreiung der Menschheit von einer gewissen Erbsünde zugewiesen. Das Gerede von Marx' „Messianismus" ist heute f ü r die Schreibereien der Feinde des Marxismus überaus charakteristisch. Über den „Messianismus" von Marx und seine Theorie schwatzte der westdeutsche 45 46

Ebenda, S. 336. Ebenda, S. 355.

Lehrer und Führer des Proletariats

43

reaktionäre Professor Rothacker in seinem Referat auf dem Stockholmer Historikerkongreß. Den katholischen und protestantischen Theologen, den bürgerlichen und sozialdemokratischen „Theoretikern" sekundieren die Revisionisten, die den Versuch machen, der (wissenschaftlichen Begründung des Kommunismus eine ethische Fundierung zu unterschieben. Sie verdrehen den Sozialismus in ein bestimmtes System „allgemeinmenschlicher" geistiger Werte und abstrakter ethischer Prinzipien. Sie versuchen, die Sache so darzustellen, als sei der abstrakte Mensch, der Mensch außerhalb von Zeit und Raum, außerhalb der gesellschaftlichen Beziehungen, Ausgangspunkt und Zentrum der Weltanschauung von Marx. Damit wird die marxistische Behandlung des Menschen als Gesamtheit der gesellschaftlichen Beziehungen „aufgehoben", „aufgehoben" wird die Frage der Klassen, der Ausbeutung, des Klassenkampfes, der welthistorischen Rolle des Proletariats, der Diktatur des Proletariats, der Expropriation des kapitalistischen Eigentums und dessen Umwandlung in gesellschaftliches Eigentum. Die Revisionisten verbreiten sich über den „humanen Sozialismus" und stellen ihn dem angeblichen Antihumanismus der MarxistenLeninisten gegenüber. Den Sinn dieses „humanen Sozialismus" plauderte der englische Revisionist Thompson aus. Er schreibt, dieser Sozialismus sei deswegen human, weil er „wirkliche Menschen an die Stelle der bekannten Abstraktionen - Partei, Marxismus-Leninismus, zwei Lager, Avantgarde der Arbeiterklasse - setzt" 4 7 . Derartige „Abstraktionen" wie das Vorhandensein zweier Weltlager „passen" auch den jugoslawischen Revisionisten nicht, die gemeinsam mit den sozialdemokratischen „Theoretikern" die Idee von dem „friedlichen Hineinwachsen des Kapitalismus in den Sozialismus", von dem Bestehen einer „gemischten Ökonomik" in den kapitalistischen Ländern usw. predigen. Und hier steht wiederum Engels im Wege mit seiner erbarmungslosen Kritik an der Idee „des friedlichen Hineinwachsens des Kapitalismus in den Sozialismus", der Entlarvung aller Arten von Versuchen, den Staatskapitalismus als Verwirklichung des Sozialismus im Rahmen der kapitalistischen Gesellschaft darzustellen. Der Unterschied zwischen den Revisionisten und den anderen Feinden des Marxismus besteht nur darin, daß sie sich noch mit M a r x ' 47

New Reasoner, 1957, NI, S. 109 (rückübersetzt aus dem Russischen).

44

E . A . STEPANOWA

Namen decken, aber seine Lehre in dem gleichen Geist verdrehen, wie es die katholischen und protestantischen Theologen und die verschiedenen sozialdemokratischen „Theoretiker" tun. Aus allem Obengesagten ist ersichtlich, daß die Feinde versuchen, durch das Ausspielen des jungen „wahren" Marx gegen den reifen Marx und durch Verdrehung seiner „ökonomisch-philosophischen Manuskripte" sowie durch Entgegenstellung von Marx und Engels den Marxismus zu „zerstückeln", alles das abzuwerfen, was ihnen unbequem ist, und den ganzen revolutionären Geist der großen Lehre von Marx seines Inhalts zu berauben. Mit Hilfe des einzigen „Schlüssels" versuchen sie den harmonischen Aufbau des Marxismus und alle seine Bestandteile von innen her zu unterhöhlen und ihn aus einer Wissenschaft in eine reaktionäre Utopie zu verfälschen. Die Historiker der UdSSR, der DDR und anderer kommunistischer und Arbeiterparteien haben bereits den Kampf gegen ein derartiges Herangehen an den Marxismus aufgenommen. Man muß der dauernden ideologischen Diversion unserer Feinde entschieden Einhalt gebieten und jene Versuche entlarven, die die einheitliche, harmonische und geschlossene Theorie des Marxismus entstellen und „zergliedern". Unbedingt müssen sich daran die Philosophen und Historiker beteiligen. Damit erfüllen wir unsere Parteipflicht und ehren das Andenken von Karl Marx und seinem großen Mitkämpfer und Freund — Friedrich Engels.

Friedrich Engels' Kampf für die nationale Einheit Deutschlands und für Demokratie in den Jahren 1848/49 KAHL OBERMANN

1. Die Bedeutung der Lehre von Karl Marx und Friedrich Engels Die beiden größten Söhne des deutschen Volkes, Karl Marx und Friedrich Engels, haben durch ihr Wirken auf die Entwicklung der menschlichen Gesellschaft einen gewaltigen Einfluß ausgeübt. Die von ihnen begründete Lehre von den allgemeinen Gesetzen der gesellschaftlichen Entwicklung hat sich trotz aller Anfeindungen durchgesetzt und ist heute bei ihrem Siegeszug um die Welt nicht mehr aufzuhalten. Diese Lehre, die den Unterdrückten den Weg in eine lichte Zukunft gewiesen hat, gibt uns auch heute die Antwort auf die großen Fragen unserer Epoche und befähigt uns zu weiteren Siegen. Die Arbeiterklasse war von jeher der konsequenteste Kämpfer für die Demokratie. Die Kommunisten unter der Führung von Marx und Engels betrachteten es als ihre wichtigste Pflicht, mit aller Entschiedenheit für die demokratische Umgestaltung einzutreten. Die Erklärung von Vertretern der kommunistischen und Arbeiterparteien vom November 1960 betont erneut, daß der Kampf für Demokratie ein wichtiger Bestandteil des Kampfes für den Sozialismus ist und daß sich die Kommunisten mithin an die Spitze des Kampfes der Massen für die demokratische Umwälzung stellen müssen. Sie weist unter anderem nach, daß der soziale Fortschritt und die Interessen der großen Mehrheit der Nation nur im Kampf um die Demokratie gesichert werden können und knüpft damit an die Forderungen an, die Marx und Engels bereits am Vorabend und während der Revolution von 1848/49 erhoben. Marx und Engels begründeten „als erste, warum das Schicksal und das Gedeihen der deutschen Nation von der Entwicklung der Demokratie abhängen".

46 2. Die Hauptaufgabe

K A R L OBERMANN

der Revolution

von 1848/49

und die Rolle

der

Arbeiterklasse Die nationalen Lebensinteressen des deutschen Volkes verlangten in den vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts den revolutionären Sturz des Feudalabsolutismus und die restlose Vernichtung der ökonomischen und politischen Machtpositionen der feudalen und militaristischen Kräfte. Vor allem war es notwendig, den feudalabsolutistischen preußischen Polizei- und Militärstaat zu zerschlagen, der die Hegemonie in Deutschland anstrebte; ebenso mußte das Metternich-Regime in Österreich beseitigt werden, das seine führende Stellung in Deutschland festigen wollte, um die Völker Süd- und Südosteuropas noch mehr unterdrücken zu können. Öhne einen vollständigen Sieg über die reaktionären und militaristischen Kräfte in Österreich und Preußen, die die Hauptstützen der feudalbürokratischen und militaristischen Reaktion in Deutschland bildeten, konnte die Einheit Deutschlands nicht zustande kommen. Die zentrale Frage war die Herstellung der Einheit Deutschlands. Die Beseitigung der ökonomischen und politischen Zerrissenheit konnte aber nicht ohne eine revolutionäre Umwälzung der sozialen Verhältnisse erfolgen. Um die politische und kulturelle Entwicklung und den sozialen Fortschritt der Arbeiterklasse zu ermöglichen, war gleichzeitig die Herstellung demokratischer Verhältnisse notwendig. Der Kampf um die Einheit Deutschlands war unmittelbar verbunden mit dem Kampf um Demokratie. Nur die demokratische Grundlinie der inneren Gestaltung Deutschlands entsprach voll und ganz den tatsächlichen Lebensinteressen der gesamten Nation. In der Wirtschaftskrise von 1847 waren die objektiven Bedingungen für eine revolutionäre Umwälzung in Deutschland herangereift. Die liberale Bourgeoisie war in ihrem eigenen Interesse genötigt, den Kampf gegen das feudal-absolutistische System aufzunehmen. Sie erstrebte konstitutionelle Reformen und hatte keineswegs die Absicht, konsequent die bürgerlich-demokratische Umwälzung zu Ende zu führen und die Einheit Deutschlands auf demokratischer Grundlage zu erkämpfen. Die bürgerlich-demokratische Umwälzung konnte nur durch den gemeinsamen Kampf aller demokratischen Kräfte erreicht werden. Marx und Engels haben am Vorabend und während der Revolution von 1848/49 ihre Anstrengungen darauf gerichtet, die Bewegung für die Demokratie zu stärken und vor allem die sich langsam formierende

Kampf für nationale Einheit und Demokratie

47

Arbeiterklasse als Triebkraft der demokratischen Bewegung zu organisieren. Die deutsche Arbeiterklasse war noch zu schwach, um die Führung im Kampf übernehmen zu können, aber sie zeigte sich schon als eine revolutionäre Kraft, die von großer Bedeutung war. „Das Wichtigste in der Marxschen Lehre ist die Klärung der weltgeschichtlichen Rolle des Proletariats als des Schöpfers der sozialistischen Gesellschaft." 1 Mit diesen Worten begann Lenin 1913 seinen Artikel „Die historischen Schicksale der Lehre von Karl Marx". Marx und Engels entwickelten die materialistische Geschichtstheorie als Anleitung für den Kampf der Werktätigen, wobei sie die praktischen Erfahrungen der Massen studierten und theoretisch verarbeiteten. Als Marx und Engels 1844 damit begannen, ihre Anschauungen im einzelnen auszuarbeiten, hatten sie sich bereits davon überzeugt, daß die werktätigen Massen, die Produzenten des materiellen Reichtums, die entscheidende Kraft jeder gesellschaftlichen und politischen Umwälzung sind. Engels hatte 1844 in seinem bedeutenden Werke „Die Lage der arbeitenden Klasse in England" zum ersten Male das Proletariat als eine gewaltige Kraft herausgestellt, der die Zukunft gehört. Daher bezeichnete W. I. Lenin dieses Buch als „eines der besten Werke der sozialistischen Weltliteratur" ? In den Arbeiten von Marx und Engels der Jahre 1846/47 hat der Gedanke eine große Rolle gespielt, daß die bevorstehende bürgerlichdemokratische Umwälzung von der Arbeiterklasse vorangetrieben werden müsse. Die Arbeiter zu organisieren und mit ihrer Aufgabe bekannt zu machen, bedeutete mithin, die besten Voraussetzungen für den Sieg der bevorstehenden Revolution schaffen. Engels hat am 18. Dezember 1889 in einem Brief an den dänischen Sozialdemokraten G. Trier dargelegt, daß Karl Marx und er schon vor 1848 der Ansicht waren, daß das Proletariat „eine selbstbewußte Klassenpartei" bilden müsse, die aber jederzeit „andere Parteien unterstützen kann in Maßregeln, die entweder unmittelbar dem Proletariat vorteilhaft oder die Fortschritte im Sinne der ökonomischen Entwicklung oder der politischen Freiheit sind". 3 1

2

3

Lenin, W. /., Die historischen Schicksale der Lehre von Karl Marx. In: Marx Engels Marxismus, 3. Aufl. Berlin 1959, S. 74. Derselbe, Der Briefwechsel zwischen Marx und Engels. In: Marx Engels Marxismus, a. a. O., S. 60. Marx/Engels, Ausgewählte Briefe, Berlin 1953, S. 496.

48

KARL OBERMANN

An den Bemühungen, die Arbeiter zu organisieren, hat Engels einen erheblichen Anteil. Lenin stellte im Herbst 1895, kurz nach Engels Tode, in einer Würdigung des Lebens und der Leistungen dieses großen Mitkämpfers von K a r l Marx und bedeutenden Lehrmeisters des Proletariats über ihre Tätigkeit in der Revolution von 1848 fest: „Beide Freunde waren die Seele aller revolutionär-demokratischen Bestrebungen in Rheinpreußen. Sie verteidigten bis zuletzt die Interessen des Volkes und der Freiheit gegen die K r ä f t e der Reaktion." 4 Wie Marx und Engels 1848 den Kampf f ü r die Interessen des Volkes gegen die K r ä f t e der Reaktion führten, ist von großer Bedeutung f ü r unseren heutigen Kampf um ein einheitliches demokratisches Deutschland gegen die reaktionären militaristischen K r ä f t e in Westdeutschland.

3. Die Arbeiterbewegung tischen

als „linker

Flügel"

der

bürgerlich-demokra-

Bewegung

Die Kommunisten, die marxistische Vorhut der Arbeiterklasse, stellten die Lösung der nationalen Frage als Hauptaufgabe in den Vordergrund. Marx und Engels betonten im Kommunistischen Manifest, daß es in Deutschland zunächst darauf ankomme, die revolutionären Forderungen der Bourgeoisie zu unterstützen und „gemeinsam mit der Bourgeoisie gegen die absolute Monarchie, das feudale Grundeigentum und die Kleinbürger" 5 zu kämpfen, um die Einheit Deutschlands zu schaffen. Vor der Arbeiterklasse stand 1848 die Aufgabe, „überall j e d e revolutionäre Bewegung gegen die bestehenden gesellschaftlichen und politischen Zustände" 6 zu unterstützen. Engels beschäftigte sich in den Jahren 1 8 4 6 - 1 8 4 8 eingehend mit den Bedingungen, die f ü r die bürgerlich-demokratische Umwälzung in Deutschland vorhanden waren. I m Laufe des Jahres 1847 wies er mehrmals darauf hin, daß die deutsche Bourgeoisie in ihrem eigenen Interesse den Kampf um die Einheit und um Erlangung der politischen Herrschaft führen müsse, dabei jedoch als Ausbeuterklasse zunächst an ihren Profit denke und ihre kapitalisti4 5

6

Lenin, W. I-, Friedrich Engels. In: Marx Engels Marxismus, a. a. O., S. 52. Marx/Engels, Manifest der Kommunistischen Partei. In: Werke, Berlin 1959, Bd 4, S. 492. Ebenda, S. 493.

Kampf für nationale Einheit und Demokratie

49

sehen Besitz- und Profitinteressen über die Interessen der Nation stelle. Mithin hing es von den entschiedeneren demokratischen Kräften ab, die Revolution voranzutreiben, den Kampf um die Sicherung demokratischer Verhältnisse zu führen. Marx und Engels ließen keinen Zweifel darüber, daß der Erfolg der Revolution in starkem Maße von der Kraft und Entschlossenheit der demokratischen Bewegung abhänge und es mithin Aufgabe der Kommunisten sei, „überall an der Verbindung und Verständigung der demokratischen Parteien aller Länder" zu arbeiten, um ihre Kampfkraft zu erhöhen. „Die Interessen der Demokraten sind zugleich die der Kommunisten", schrieb Engels am 7. Oktober 1847 in der „Deutschen Brüsseler Zeitung". Dem Kampf um die Demokratie stellte die revolutionäre Arbeiterklasse ihre ganze Kraft zur Verfügung. Allerdings ließ Engels schon 1847 keinen Zweifel darüber, daß die Demokratie „in allen zivilisierten Ländern die politische Herrschaft des Proletariats zur notwendigen Folge" habe. Das solle jedoch kein Hinderungsgrund für eine enge Zusammenarbeit aller in der demokratischen Bewegung sein. „Bis dahin", also bis zur Demokratie, so betonte Engels, „sind die Differenzen zwischen beiden Parteien rein theoretischer Natur und können theoretisch ganz gut diskutiert werden, ohne daß dadurch die gemeinschaftliche Aktion irgendwie gestört wird. Man wird sich sogar über manche Maßregeln verständigen können, welche sofort nach Erringung der Demokratie im Interesse der bisher unterdrückten Klassen vorzunehmen sind, zum Beispiel Betrieb der großen Industrie, der Eisenbahnen durch den Staat, Erziehung aller Kinder auf Staatskosten etc." 7 Engels wußte, daß die „demokratische Staatsverfassung" in Deutschland nicht in den ersten Schlachten der Revolution erkämpft werden konnte und hier, „wo die Majorität des Volkes nicht aus Proletariern, sondern auch aus kleinen Bauern und Bürgern besteht, welche eben erst im Übergang ins Proletariat begriffen sind, vielleicht ein zweiter Kampf" notwendig würde 8 , der sofort nach Errichtung der Bourgeois-Herrschaft beginnen müsse. J e mehr sich die Gegensätze zuspitzten, desto deutlicher wurde die Unentschiedenheit der deutschen Bourgeoisie sichtbar, die sich vor den 7

Engels, Friedrich, Die Kommunisten und Karl Heinzen. I n : Werke, Bd 4, a. a. 0 . , S. 3 1 7 .

8

Derselbe, Grundsätze des Kommunismus. I n : Marx/Engels, Werke, Bd 4, a. a. O., S. 3 7 2 / 3 7 3 .

4 Friedrich Engels, Bd. 1

Marx/Engels,

50

KARL OBERMANN

revolutionären Aktionen des Proletariats fürchtete. Am 20. Februar 1848 war es, wie Engels schreibt, bereits klar, daß die Entwicklung in Italien und Frankreich die Deutschen zwingen würde, „die Revolution zu machen". 9 Wenn auch die liberale Bourgeoisie unter dem Druck der Volksmassen ihre Appelle an die Regierungen verstärkte und konstitutionelle Reformen für unerläßlich erklärte, so ließ sich doch bereits voraussehen, daß „nicht die feigen deutschen Bürger, sondern die deutschen Arbeiter" aufstehen würden. Im Februar 1848 stand also für Engels fest, daß die deutschen Arbeiter die revolutionäre Erhebung auslösen und vorantreiben würden und nur von ihnen ein entschlossener Kampf für die Durchsetzung der nationalen Interessen erwartet werden konnte. Die revolutionäre Bewegung von 1848 war in Deutschland vom ersten Tage an eine Volksbewegung, in der die Arbeiter das vorwärtstreibende Element bildeten. Die revolutionäre Bewegung der Arbeiter entwickelte sich zunächst spontan; es fehlte eine breite Organisation, die den Kampf der Volksmassen organisieren konnte. Der „Bund der Kommunisten", der im Sommer 1847 aus der Reorganisation des „Bundes der Gerechten" entstanden war, zählte erst wenige Hundert Mitglieder in einer kleinen Anzahl von Bundesgemeinden. Dennoch zeigte sich schon zu Beginn der Revolution, daß die Propagandatätigkeit des Bundes nicht ohne Wirkung geblieben war. Die Kommunisten traten von Anfang an als die entschiedensten Kämpfer für die Demokratie auf. Für die revolutionäre Entwicklung in Deutschland hatte die von der Kölner Gemeinde des „Bundes der Kommunisten" organisierte Volkskundgebung vor dem Kölner Rathaus am 3. März 1848 große Bedeutung. Die Kölner Gemeinde des „Bundes der Kommunisten" hatte bereits Ende Februar in verschiedenen Wirtshäusern der Stadt kleinere Arbeiterversammlungen durchgeführt. Auf diese Weise wurde eine Volkskundgebung vorbereitet, die den Zweck verfolgte, den Stadtverordneten darzulegen, welche Forderungen die Masse des Volkes geltend machte. Damit traten die fortgeschritteneren Arbeiter wenige Tage nach dem 27. Februar, dem Tag der ersten Kundgebung in Süddeutschland, als linker Flügel der demokratischen Bewegung auf und forderten ein entschiedenes Eintreten für die nationalen Interessen des 9

Derselbe, Drei neue Konstitutionen. In: Marx/Engels, Werke, Bd 4, a. a. O., S. 518.

Kampf für nationale Einheit und Demokratie

51

deutschen Volkes, für eine politische Umgestaltung auf breitester demokratischer Grundlage. Das den Kölner Stadtverordneten vorgetragene und als Flugblatt verbreitete Programm enthielt sechs Punkte und begann mit der Forderung nach „Gesetzgebung und Verwaltung durch das Volk". Der dritte Punkt wandte sich gegen den preußischen Militarismus und forderte „Aufhebung des stehenden Heeres und Einführung einer allgemeinen Volksbewaffnung mit vom Volke gewählten Führern". Die sechste Forderung, „Vollständige Erziehung aller Kinder auf öffentliche Kosten", berührte ein Grundproblem der politischen Entwicklung auf demokratischer Grundlage, ein Problem von entscheidender gesellschaftlicher Bedeutung. 1 0 Die Kölner Arbeiter legten also ein Programm vor, das die Herstellung demokratischer Verhältnisse als erste Bedingung für die Umgestaltung und Erneuerung Deutschlands forderte. Wie aus seinem Briefwechsel mit Marx hervorgeht, hat sich Engels mit der Kölner Aktion der Arbeiter sehr beschäftigt. Er zog daraus Lehren für den weiteren Kampf der Arbeiter im Rahmen der großen demokratischen Bewegung. 1 1 a) Die „Forderungen der Kommunistischen Partei in Deutschland" Die Revolution erreichte mit den Siegen des Volkes in Wien und in Berlin einen Höhepunkt. Die feudale und militaristische Reaktion hatte eine Niederlage erlitten; der liberalen Bourgeoisie war durch den Sieg des Volkes in Berlin die Herrschaft zugefallen. Damit glaubte sie ihr Ziel erreicht zu haben. Sofort trat die liberale Bourgeoisie, die sich nie revolutionsbegeistert gezeigt hatte, als offener Gegner der Revolution und vor allem der revolutionären und demokratischen Bewegung auf. Sie widersetzte sich energisch den Bestrebungen, demokratische Verhältnisse herzustellen, bzw. dem Volke demokratische Rechte zu gewähren und stürzte sich dabei auf die Monarchie und die hinter dieser stehende feudale und militaristische Reaktion, die zwar geschlagen, aber noch nicht vernichtet war. Der 18. März in Berlin war mithin nicht das Ende, sondern der eigentliche Anfang der Revolution. In dem 10

11

4*

DZA Merseburg, Rep. 77, Tit. 343 A, Nr. 72, vol. II, fol. 63 f., desgl. „Kölnische Zeitung", vom 4. März 1848, Beilage. Vgl. Marx/Engels, Briefwechsel, Bd I, Berlin 1949, S. 112/113.

52

KARL OBERMANN

Kampf um Demokratie, der jetzt begann, zeigte sich die von M a r x und Engels geleitete neue Zentralbehörde des „Bundes der Kommunisten" als die entschiedenste, vorantreibende Kraft. Während der T a g e vom 21. bis 29. März 1848 arbeiteten Marx und Engels, die sich noch in Paris befanden, in den 17 „Forderungen der Kommunistischen Partei in Deutschland" die politische Linie heraus, die im Kampf um die Durchsetzung der nationalen Lebensinteressen beachtet werden mußte. Diese 17 Forderungen sollten die Massen zum Kampf f ü r die Herstellung der Einheit Deutschlands auf demokratischer Grundlage mobilisieren. Sie waren nicht nur ein Programm f ü r die Arbeiterklasse, sondern sie wiesen überhaupt der demokratischen Bewegung den Weg, den sie gehen mußte, um konsequent die tatsächlichen Lebensbedürfnisse der Nation zu vertreten. Die deutsche Arbeiterklasse erwies sich also vom Augenblick ihres ersten politisch selbständigen Auftretens an als die entschiedenste nationale K r a f t , als die Kraft, die die demokratische Bewegung vorantrieb. Das Programm der Kommunisten hat wie kein anderes die H a u p t a u f g a b e der Revolution in Deutschland, nämlich die politische Zersplitterung des aus 38 Staaten bestehenden Landes im Kampf gegen die Reaktion zu beseitigen und die einige, unteilbare deutsche Republik zu errichten, herausgestellt. Während die Liberalen lediglich den konstitutionellen monarchischen Bundesstaat erstrebten, und die radikalen kleinbürgerlichen Demokraten nur eine föderative Republik forderten, erklärten Marx und Engels im Namen der Zentralbehörde des „Bundes der Kommunisten", daß nur die einige, unteilbare Republik die demokratische Umwälzung sichere, den gesellschaftlichen Fortschritt fördere und den nationalen Lebensinteressen des deutschen Volkes entspräche. Die einige, unteilbare Republik konnte n u r durch die Vernichtung der reaktionären und militaristischen Kräfte geschaffen werden. 1 2 Zwischen der ersten Forderung und den sechzehn weiteren, zum Beispiel denen nach allgemeiner Volksbewaffnung, entschädigungsloser Beseitigung aller Feudallasten und Abgaben, Enteignung des Großgrundbesitzes und Umwandlung der Gruben in Staatseigentum, Trennung der Kirche vom Staat, E i n f ü h r u n g von Progressivsteuern, Abschaffung der Konsumtionssteuern und der Forderung nach allgemeiner, unentgeltlicher Volkserziehung, bestand ein untrennbarer 12

Dieselben, Forderungen der Kommunistischen Partei in Deutschland. In: Werke, Bd 5, Berlin 1959, S. 3 f.

Kampf für nationale Einheit und Demokratie

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Zusammenhang. Nur in dem Maße, in dem demokratische Rechte erkämpft wurden, konnte auch die Reaktion entmachtet und eine Lösung der nationalen Frage erreicht werden, die den Lebensinteressen des Volkes entsprach. Unter Führung von Marx und Engels eröffnete also der „Bund der Kommunisten" Anfang April 1 8 4 8 den Kampf für die demokratische Umwälzung mit einem Programm, das alle Programme der Liberalen und der Demokraten weit überragte. Die Losung

„eine unteilbare

Republik" wurde durch dieses Programm des „Bundes der Kommunisten" in ganz Deutschland verbreitet. Marx und Engels verließen Paris etwa am 6. April, trafen am 8. April in Mainz ein und reisten nach einer Aussprache über die Gründung von Arbeitervereinen „Bundes der Kommunisten"

mit den dortigen Mitgliedern

des

sofort nach Köln weiter, wo sie am

11. April ankamen. Köln war ihnen nicht fremd. Hier hatte Marx schon 1 8 4 2 / 4 3 als Redakteur der „Rheinischen Zeitung" gewirkt. Von hier also waren schon damals bedeutende Anregungen ausgegangen, die ihren Einfluß auf die Entwicklung der fortschrittlichen Bewegung nicht verfehlt hatten. Köln wurde nun Sitz der neuen Zentralbehörde des „Bundes der Kommunisten", die sofort eine rege Tätigkeit im Sinne der 17 Forderungen entfaltete. Die demokratische Umwälzung konnte nur durch eine breite, zielbewußte Bewegung der Volksmassen vollendet werden. Der „Bund der Kommunisten" konzentrierte seine Tätigkeit daher erstens auf die Verbreitung der „Forderungen der Kommunistischen Partei in Deutschland", zweitens auf die Gründung von Arbeitervereinen und drittens auf die Schaffung eines großen Organs der Demokratie, der „Neuen Rheinischen Zeitung". In seiner Arbeit „Zur Geschichte des Bundes der Kommunisten" bestätigte Engels, daß die 17 Forderungen „in ganz Deutschland verbreitet wurden". 12 ® Zahlreiche Angaben liefern einen Beweis dafür. Wahrscheinlich hat es drei Auflagen des Flugblattes mit den 17 Forderungen gegeben, und zwar die Pariser Auflage, die von den zurückkehrenden Bundesmitgliedern Anfang April in Deutschland verbreitet wurde, eine Kölner Neuauflage nach der Rückkehr von Marx und Engels und eine dritte Auflage im September 1 8 4 8 . Die dritte Auflage

12

a Dieselben, Werke, Bd 8, Berlin 1960, S. 586.

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liegt der Veröffentlichung im Band 5 der Werke von Marx und Engels zugrunde. Was bis heute über die Verbreitung der 17 Forderungen bekannt geworden ist, läßt erkennen, daß das Programm der Kommunisten in der demokratischen Bewegung beachtet und eifrig diskutiert wurde. Die „Berliner Zeitungshalle" druckte die 17 Forderungen am 5. April 1848 ab, wenige Tage später folgten die Veröffentlichungen in der „Deutschen Allgemeinen Zeitung", der „Mannheimer Abendzeitung", der „Triererschen Zeitung" und dem „Volksfreund" des fortschrittlichen Buchhändlers und Verlegers E. O. Weiler in Leipzig. 13 Sicherlich werden sich noch weitere Veröffentlichungen, insbesondere in der demokratischen Lokalpresse, feststellen lassen. Über die Verbreitung des Flugplattes mit den 17 Forderungen sind in den Akten der Regierungsbehörden Angaben zu finden. Der Aachener Regierungspräsident sandte bereits am 20. April eine Abschrift des Flugblattes an den Oberpräsidenten Eichmann in Koblenz mit dem Hinweis, daß eine größere Verbreitung des Blattes im Rheinland befürchtet werden müsse. 14 Den im handschriftlichen Nachlaß des ehemaligen Kölner Mitgliedes des „Bundes der Kommunisten" Hermann Becker befindlichen Aufzeichnungen ist zu entnehmen, daß seit April 1848 in den Kölner Wirtshäusern, in denen der Arbeiterverein tagte, Exemplare des „Manifestes der Kommunistischen Partei" und des Flugblattes „Forderungen der Kommunistischen Partei in Deutschland" auslagen. Aus den Aufzeichnungen geht hervor, daß in den Versammlungen des Arbeitervereins auch auf die 17 Forderungen hingewiesen wurde. Außerdem wird eine Versammlung der demokratischen Gesellschaft Ende Juni 1848 erwähnt, auf der eine engere Zusammenarbeit mit dem Arbeiterverein diskutiert wurde, wobei Schapper besonders auf die 17 Forderungen hingewiesen habe. 1 5 13

Dieselben, Werke, Bd 5, a. a. O., S. 505, desgl. Obermann,

Karl, Die deut-

schen Arbeiter in der Revolution von 1848. Berlin 1953, 2. erw. u. verb. Aufl., S. 161. u

Vgl. Hansen,

Joseph,

Rheinische Briefe und Akten zur Geschichte der

politischen Bewegung 1 8 3 0 - 1 8 5 0 . Bd 2, 1 8 4 6 - 1 8 5 0 , 1. Hälfte, Bonn 1942, S. 702. 15

Vgl. Kühn,

Walter, Der junge Hermann Becker. Phil. Diss. Gießen 1934.

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Der Berliner Polizeipräsident, v. Minutoli, berichtete dem preußischen Innenminister, Kühlwetter, am 3. August 1848: „Von dem in Köln residierenden Komitee (damit war die Zentralbehörde gemeint - K. 0.) ist auch das in Köln gedruckte, von Herrn Du Bois (einem Agenten — K. 0.) nach Berlin gesandte Exemplar Forderungen der Kommunistischen Partei in Deutschland' ausgegangen, und waren Exemplare davon bereits im Monat Mai in der Berliner Zeitungshalle ausgelegt gewesen, und in meine Hände gelangt". Der Berliner Polizeipräsident schickte diesen Bericht aus London, wo er die englischen Polizeieinrichtungen studieren sollte. Gleichzeitig hatte er vom Innenminister den Auftrag, bei dieser Gelegenheit selbst Nachforschungen über den „Bund der Kommunisten" und seine Beziehungen zum deutschen Arbeiterverein in London anzustellen. Als wichtigstes Ergebnis seiner Ermittlungen teilte er mit, daß sich die führenden Mitglieder Moll, Schapper und andere seit dem Monat Mai in Köln aufhielten, da dort jetzt der „Zentralpunkt" der Arbeiterbewegung sei. Er wies besonders auf den „für Deutschland wichtigen Umstand" hin, daß es die Kommunisten verstanden hätten, mit den Republikanern zusammenzuarbeiten. 18 In Polizeiberichten über Volksversammlungen wird die Verbreitung des Flugblattes mit den 17 Forderungen nicht selten als ein besonders schwerwiegender Faktor vermerkt. Das trifft insbesondere für die Versammlungen der Arbeitervereine im Rheinland im Herbst und Winter 1848/49 zu. Eine Durchsicht der Akten wird noch manche wertvollen Angaben über die Verbreitung der 17 Forderungen in den zahlreichen Volks-, demokratischen und Arbeitervereinen zutage fördern. Vor allem sind die 17 Forderungen durch die Arbeitervereine verbreitet worden, die im April und Mai 1848 fast überall zusammentraten. Bei der Gründung von Arbeitervereinen spielten die Mitglieder des „Bundes der Kommunisten" eine führende Rolle. Die ersten Anregungen gingen vom Mainzer Arbeiterverein aus. Die nach Mainz in den ersten Apriltagen zurückgekehrten Bundesmitglieder Wallau und Cluss richteten bereits am 5. April einen Aufruf „An alle Arbeiter Deutschlands", in dem sie erklärten: „Vereinzelt, wie bisher, sind wir schwach, obgleich wir Millionen zählen. Vereinigt und organisiert werden wir dagegen eine unwiderstehliche Macht bilden." In dem Aufruf wurde 16

DZA Merseburg, Rep. 77, Tit. 509, Nr. 43, vol. 1, fol. 73 f., vgl. auch Rep. 77, Tit. 500, Nr. 19, fol. 103.

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vorgeschlagen, Mainz vorläufig zum Mittelpunkt für sämtliche Arbeitervereine zu wählen. 17 Eine ganze Anzahl demokratischer Zeitungen veröffentlichte sofort diesen Aufruf. b) Die Arbeitervereine Zum ersten Male war es in Deutschland möglich geworden, öffentliche Arbeitervereine zu gründen. Bis dahin bestanden in den größeren Städten nur wenige Arbeiterbildungsvereine, in denen zumeist Handwerksmeister und kleinbürgerliche Intellektuelle die Führung hatten. Die Arbeiter zu organisieren, sie mit ihrer eigenen geschichtlichen Rolle bekannt zu machen, war von großer Bedeutung. J e mehr sich die Arbeiter über ihre Aufgabe klar wurden, je organisierter sie auftraten, desto größer war die Stoßkraft der demokratischen Bewegung. In den revolutionären Kämpfen war sich die Arbeiterklasse ihrer Kraft mehr und mehr bewußt geworden; die breite spontane Bewegung der Arbeiter mußte jetzt organisierten Charakter erhalten, um gemeinsam mit dem fortschrittlichen, demokratischen Teil der Bourgeoisie die bürgerlichdemokratische Umwälzung zu vollenden. Über die Besprechungen von Marx und Engels in Mainz und über die Sitzungen der Zentralbehörde des „Bundes der Kommunisten" in Köln sind keine Protokolle vorhanden. Den wenigen Briefen von Engels und einigen anderen Bundesmitgliedern an Marx in Köln aus den Monaten April und Mai 1848 ist zu entnehmen, daß sich die Bundesmitglieder auf ihren Reisen vor allem damit beschäftigten, die Arbeiter zu organisieren und Geld zur Gründung einer Zeitung zu erhalten. 18 Die Masse der Arbeiter hatte noch sehr unreife und unklare, zum Teil kleinbürgerliche politische Vorstellungen. Das Bundesmitglied Johann Schickel beklagte sich in einem Brief an Marx vom 14. April 1848 über das niedrige Niveau der Mainzer Arbeiter und über ihre bürgerlichen Vorstellungen. Er sagte über den Mainzer Arbeiterverein: „Der Arbeiter-Bourgeois-Verein zählt 300 Mitglieder, und Wallau ist Präsident - doch kommt mir dieser ganze Witz wie eine A, B, C-Schule vor, die Arbeiter lernen lesen, schreiben und rechnen, und Kaiisch gibt wöchentlich eine Stunde, um diese Ochsen auch sprechen zu lehren! 17 1S

„Deutsche Arbeiter-Zeitung", Berlin, vom 12. April 1848. Vgl. Marx/Engels, Briefwechsel, B d I, a. a. O., S . 120.

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es ist zum Tollwerden!" 1 9 Auch Wilhelm Wölfl berichtete am 18. April 1848 an Marx aus Berlin, daß eine breite Bewegung der Arbeiter vorhanden sei, daß Arbeiterdeputationen zusammenträten, Arbeiterzeitungen gegründet würden, aber, „wenn man sie liest, so wird einem lediglich die große Unklarheit der Redakteure und Mitarbeiter klar". 2 0 Die Zahl der Arbeitervereine, die in den Monaten April und Mai 1848 in vielen deutschen Städten gegründet wurden, ist beträchtlich; sie erfaßten eine Arbeitermasse, die schwer abzuschätzen ist. Der Kölner Arbeiterverein, der am 13. April gegründet wurde, nahm schon im Mai mit mehreren Tausend Mitgliedern unter den Arbeitervereinen Deutschlands eine führende Stellung ein. Es handelte sich tatsächlich, wie Engels schreibt, um eine „ungeheuere, plötzlich in die Bewegung geschleuderte Masse", in der „die paar hundert vereinzelte Bundesmitglieder verschwanden". 2 1 Die Arbeitermasse in den zahlreichen Vereinen bildete einen Teil der großen revolutionären Bewegung, die den Kampf für Demokratie führte. „Unbekannt noch mit seiner eigenen geschichtlichen Rolle, mußte das Proletariat in seiner großen Masse zunächst die des vorantreibenden, äußersten linken Flügels der Bourgeoisie übernehmen. Die deutschen Arbeiter hatten vor allen Dingen diejenigen Rechte zu erkämpfen, die ihnen zu ihrer selbständigen Organisation als Klassenpartei unumgänglich waren: Freiheit der Presse, der Vereinigung und Versammlung — Rechte, die die Bourgeoisie im Interesse ihrer eigenen Herrschaft hätte erkämpfen müssen, die sie selbst aber in ihrer Angst den Arbeitern streitig machte." 2 2 Diese Darlegungen von Engels lassen klar die Situation der deutschen Arbeiterbewegung in den ersten Monaten der Revolution erkennen. Zunächst mußte eine enge Zusammenarbeit mit dem fortschrittlichen demokratischen Teil der Bourgeoisie, mit den demokratischen Vereinen angestrebt werden. Indem Marx und Engels sich der demokratischen Gesellschaft in Köln anschlössen, leisteten sie selbst einen wichtigen Beitrag, um die Zusammenarbeit zu verwirklichen. 19

Institut für Marxismus-Leninismus, Moskau, Archiv, Fond 1, Nr. 171/9674. ^ Mehring, Franz, Märzrevolution und Kommunistenbund. In: „Die Neue Zeit", XX/1, S. 737 f. 21 Engels, Friedrich, Marx und die „Neue Rheinische Zeitung", 1848/1849. In: MELS, Zur deutschen Geschichte, Bd II/l, S. 217. 22 Ebenda.

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Marx und Engels waren nicht nur bemüht, die Arbeitervereine mit ihrem Standpunkt bekannt zu machen. Sie waren auch bestrebt, die gesamte demokratische Bewegung in die richtige Bahn zu lenken. Die Auskünfte, die Marx und Engels im April und Mai über den Zustand des Bundes von verschiedenen Bundesmitgliedern erhielten, zeigten jedoch, daß der Bund, wie Engels sagt, „gegenüber der jetzt losgebrochenen Bewegung der Volksmassen, . . . ein viel zu schwacher Hebel" war, das heißt, daß der Bund zahlenmäßig noch nicht stark genug war, um auf die Entwicklung der Bewegung erfolgreich einwirken zu können. 23 Zudem ging auch aus den Briefen der in den Arbeiter- und demokratischen Vereinen sehr beschäftigten Bundesmitglieder hervor, daß die Aussichten, genügend geschulte Arbeiter zu finden, um neue Bundesgemeinden zu gründen, noch sehr gering waren. c) Die „Neue Rheinische Zeitung" Die Orientierung der Massen konnte unter diesen Bedingungen nur eine Zeitung übernehmen, die als organisatorisches und politisches Zentrum des „linken Flügels" der demokratischen Bewegung, bzw. der entschiedenen Demokratie auftrat, einer Demokratie, die, wie Engels betont, „überall den spezifisch proletarischen Charakter im einzelnen hervorhob, den sie noch nicht ein für allemal aufs Banner schreiben konnte". 24 In der Korrespondenz zwischen Marx und Engels und den Mitgliedern des Bundes in Deutschland war schon Ende 1847 der Gedanke erörtert worden, so bald als möglich eine Zeitung zu gründen. Am 25. März 1848 schrieb Georg Weerth aus Köln an Marx in Paris, daß die Bundesmitglieder sich bereits um Geld für eine neue Zeitung bemühen. 25 Vor allem aber half Engels nach seiner Rückkehr, die notwendigen Mittel zusammenzubringen. 26 Die ab 1. Juni 1848 in Köln erscheinende „Neue Rheinische Zeitung" trat als „Organ der Demokratie" auf, das den revolutionären Kampf der 23

Engels, Friedrich, Zur Geschichte des Bundes der Kommunisten. In: Marx/ Engels, Werke, Berlin 1960, Bd 8, S. 588. 24 Derselbe, Marx und die „Neue Rheinische Zeitung" 1848/1849. I n : MELS. Zur deutschen Geschichte, Bd I I / l , S. 217. 2:1 Vgl. Institut für Marxismus-Leninismus, Moskau, Archiv, Fonds 1, Nr. 10850. 2 " Vgl. Marx/Engels, Briefwechsel, Bd I, a. a. O., S. 120 f.

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Volksmassen tatkräftig unterstützte. Heinrich Bürgers, damals einer der Redakteure der „Neuen Rheinischen Zeitung", mußte in seinen „Erinnerungen" 1876, als er schon lange seinen Frieden mit der bürgerlichen Gesellschaftsordnung gemacht hatte, zugeben „Durch die Kühnheit und Schärfe, mit welcher die ,Neue Rheinische Zeitung' auftrat und an der Hand der Tatsachen die Bestrebungen der Reaktion denunzierte, die Schwächen der Oppositionsparteien in Frankfurt und in Berlin bloßlegte und den Mangel an revolutionärer Energie bei den Parteiführern geißelte, gewann sie alsbald einen mächtigen Einfluß in der öffentlichen Meinung". 27 Namentlich die fortgeschritteneren Arbeiter und die entschiedenen Demokraten sahen in der Zeitung ihr Organ. Auf Versammlungen und Kongressen traten sie dafür ein, alle Vereine zum Bezug der „Neuen Rheinischen Zeitung" zu verpflichten, um nicht nur die Zeitung zu unterstützen, sondern um sie wirklich als Waffe im Kampf für die Lebensinteressen der Nation benutzen zu können. Mit Recht stellte Engels am Schluß seines Artikels über „Marx und die ,Neue Rheinische Zeitung'" fest: „Keine deutsche Zeitung, weder vorher noch nachher, hat je die Macht und den Einfluß besessen, hat es verstanden, so die proletarischen Massen zu elektrisieren wie die „Neue Rheinische". Und das verdankte sie vor allem Marx." 2 8 Engels hat, wie er 1890 im „Sozialdemokrat" schrieb, mit Lust und Freude an der „Neuen Rheinischen Zeitung" gearbeitet. „Das waren Revolutionszeiten, und da ist es ohnehin eine Lust, an der Tagespresse zu arbeiten. Man sieht die Wirkung jedes Worts vor Augen, man sieht, wie die Artikel förmlich einschlagen, als wären sie Granaten, und wie die Sprengladung platzt." 2 9 Engels schrieb eine beträchtliche Anzahl der grundlegenden politischen Artikel der „Neuen Rheinischen Zeitung", von denen unbedingt gesagt werden kann, daß sie wie Granaten einschlugen. Es ist imi Rahmen dieser Arbeit nicht möglich, auf die einzelnen Artikel einzugehen, doch muß hervorgehoben werden, daß sich Engels darauf konzentrierte, die Vorbereitung der Konterrevolution durch die feudale und militaristische Reaktion zu entlarven. Ferner wandte er sich besonders gegen die preußischen und österreichischen militärischen Aktionen zur Unterdrückung der nach nationaler Unabhängigkeit und 27 28 29

„Vossische Zeitung", Berlin, Nr. 290, vom 10. Dezember 1876. MELS, Zur deutschen Geschichte, Bd II/l, S. 223. Ebenda, Bd II/2, S. 1127.

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Freiheit strebenden Völker. In seinem scharfen Kampf gegen den preußischen Militarismus, der seit dem Juni 1848 täglich herausfordernder auftrat, hat er dessen wesentliche Merkmale herausgestellt. „Das erste, was die Deutschen in ihrer Revolution zu tun haben, ist, mit ihrer ganzen schimpflichen Vergangenheit zu brechen." 3 0 Diesen Satz schrieb Engels am 19. Juni, nachdem der Vertreter des preußischen Kriegsministeriums in der preußischen Nationalversammlung in provozierender Weise gegen diejenigen aufgetreten war, die die Revolution zu Ende führen wollten. Deutlicher konnte kaum zum Ausdruck gebracht werden, daß die revolutionäre Bewegung sich in erster Linie gegen den Geist wenden mußte, der im preußischen Heer und seinen Kriegstraditionen die Grundlage des Staates sah. Dieser Aufgabe galt Friedrich Engels' ständiges Bemühen. Seine Artikel sind Glanzstücke wissenschaftlicher, kämpferischer Auseinandersetzungen, mit denen er die Schwächen der Revolution anprangerte und gleichzeitig darlegte, wie der Kampf um die Demokratie geführt werden mußte. Wenn er über irgendwelche Vorgänge berichtete, wie zum Beispiel in seiner Artikelserie „Die Polendebatte in F r a n k f u r t " , so e r f u h r der Leser nicht nur, was geschehen war, sondern gleichzeitig, welche Bedeutung die Ereignisse hatten, was sie besonders kennzeichnete und welche Ursachen es f ü r das Verhalten der Beteiligten gab. Ebenso erfuhr der Leser aber auch aus der Behandlung der Ereignisse, welches Verhalten notwendig war, um der Reaktion eine Niederlage zu bereiten und die Demokratie zum Siege zu führen. Am Beispiel der Polendebatte in F r a n k f u r t hat Engels nicht nur die polnische F r a g e aufgerollt, sondern das gesamte Problem der bürgerlich-demokratischen Revolution in Deutschland, ja, noch darüber hinaus hat er die geschichtliche Entwicklung behandelt, die dem Verhalten des deutschen Bürgertums zugrunde lag.

4. Die Septemberkrise,

der Beginn einer neuen Etappe der

Revolution

Im Juni 1848 machten sich innerhalb der demokratischen Bewegung die ersten Anzeichen eines Differenzierungsprozesses bemerkbar. In den Klassenkämpfen und Auseinandersetzungen der Revolution zeigten sich eindeutig die Grenzen und Schwächen der kleinbürgerlichen Demo30

„Neue Rheinische Zeitung", Nr. 20, vom 20. Juni 1848. In: Marx/Engels, Werke, Bd 5, a. a. O., S. 87.

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kraten. Auf dem ersten Demokratenkongreß vom 14. bis 16. Juni 1848 in Frankfurt a. M., der zahlreiche Vertreter von Arbeitervereinen mit Vertretern der kleinbürgerlichen Demokratie zusammenführte, widersetzten sich viele kleinbürgerliche Demokraten den energischen Forderungen der Arbeitervertreter, unter denen sich Mitarbeiter der „Neuen Rheinischen Zeitung" und Mitglieder des „Bundes der Kommunisten" befanden. Zwar war es von großer Bedeutung, daß in den Beschlüssen des Kongresses die „demokratische Republik" gefordert wurde, doch es erfolgte keine Einigung darüber, daß diese Republik keine föderative, sondern eine „einige, unteilbare" sein mußte. Vor allem kam kein gemeinsames Aktionsprogramm zustande. Ludwig Bamberger, Delegierter des Mainzer demokratischen Vereins, gab in seinen „Erinnerungen" offen zu: „Hier zum ersten Male kam mir der scharfe Unterschied zum Bewußtsein, welcher die bis dahin gemeinsamen radikalen republikanischen Ansichten von den rein sozialistischen schied und für die Zukunft immer mehr scheiden sollte." 3 1 Die Masse der kleinbürgerlichen Demokraten glaubte, „durch Resolutionen und durch Berufung auf den Willen der Mehrheit des Volkes siegen" zu können.32- Die Zusammenarbeit zwischen den demokratischen und den Arbeitervereinen blieb der persönlichen Initiative der Mitglieder in den Städten und Kreisen überlassen. Nur im Rheinland erfolgte auf Initiative von Marx und Engels am 25. Juni die Gründung eines gemeinsamen Aktionskomitees unter dem Namen „Kreisausschuß der rheinischen demokratischen Vereine". Die Aktionseinheit war in dieser Etappe der bürgerlich-demokratischen Revolution die wichtigste Voraussetzung für einen erfolgreichen Kampf gegen die feudale und militaristische Reaktion. Bei der Verwirklichung der Aktionseinheit konnten sich Marx und Engels Ende Juni 1848 vor allem auf den Kölner Arbeiterverein stützen, der sich zu einer bedeutenden Kraft entwickelt hatte. 3 3 31

Bamberger,

32

Lenin,

Ludwig, Erinnerungen. Berlin 1899, S. 108.

W. I., Aus dem Tagebuch eines Publizisten. I n : Werke, Bd 25,

Berlin 1960, S. 299. 33

Vgl. Kotschetkowa,

M. A., Die Tätigkeit von Marx und Engels in der

Kölner Demokratischen Gesellschaft

(April bis Oktober 1 8 4 8 ) , deutsche

Ubersetzung. I n : „Sowjetwissenschaft", Gesellschaftswissenschaftliche Beiträge, Heft 11, November 1960, S. 1160. M. A. Kotschetkowa

gibt irrtüm-

lich an, daß die Gründung des „Kreisausschusses der rheinischen demokratischen Vereine" auf dem ersten Demokratenkongreß in Frankfurt a. M.

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Als sich Marx und Engels in Köln um die Verwirklichung der Aktionseinheit zwischen Arbeitern und kleinbürgerlichen Demokraten bemühten, feierte die französische Bourgeoisie ihren Sieg über das Proletariat in der dreitägigen Pariser Junischlacht. Wie die Februarereignisse in Paris die revolutionäre Entwicklung in Deutschland beschleunigt hatten, so ermutigten die Pariser Juniereignisse die europäische feudale und militaristische Reaktion. Von der Niederlage der Pariser Arbeiter datieren, wie Marx und Engels feststellten, „die ersten entschiedenen Schritte und bestimmten Pläne der alten feudal-bürokratischen Partei in Deutschland, sich auch ihres augenblicklichen Verbündeten zu entledigen und in Deutschland wieder den Zustand herzustellen, in dem es sich vor den Märzereignissen befand". 34 Die preußische Offizierskamarilla sah den Zeitpunkt gekommen, mit konterrevolutionären Aktionen zu beginnen. Das herausfordernde Verhalten der preußischen Junkeroffiziere nahm solche Formen an, daß sich selbst in den Kreisen des liberalen Bürgertums Empörung und Mißstimmung bemerkbar machten. Die bewaffneten Zusammenstöße zwischen der preußischen Soldateska und dem Volk häuften sich. Als sich die preußische Regierung weigerte, gegen die Offizierskamarilla vorzugehen, die täglich frecher auftrat und in der Kleinstadt Schweidnitz unter den Bürgern ein Blutbad angerichtet hatte, stimmte die Mehrheit der preußischen Nationalversammlung, darunter viele Liberale, gegen die Regierung. Vor allem herrschte Ende August in ganz Deutschland große Unruhe und Empörung über den 'Verrat der nationalen Interessen in SchleswigHolstein, den die preußische Regierung durch das Waffenstillstandsabkommen mit Dänemark begangen hatte. erfolgte. Tatsächlich ging die Gründung dieses Aktionskomitees jedoch einer Besprechung aus, die am 24. J u n i in Köln zwischen Vertretern demokratischen Gesellschaft, des Arbeitervereins und des Vereins Arbeiter und Arbeitgeber mit Marx stattfand. Die Gründung erfolgte

von der für auf

der Generalversammlung des Arbeitervereins am 25. Juni, wobei M a r x gegen diejenigen auftrat, die einen Zusammenschluß der drei Vereine forderten, weil ein solcher Zusammenschluß nicht im Interesse der Entwicklung der Arbeiterbewegung lag. Vgl. „Zeitung des Arbeiter-Vereins zu K ö l n " , Nr. 11, vom 2. J u n i 1848. '' Marx/Engels, Revolution und Konterrevolution in Deutschland. Berlin 1951, S. 91.

3

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Anfang September ,1848 war die Revolution an einem entscheidenden Punkt angelangt. Die Pläne der Konterrevolution mußten zum Scheitern gebracht werden, was jedoch nur möglich war, wenn sich alle demokratischen Kräfte ,zum entschlossenen Handeln vereinigten. Sehr viel hing in diesem Augenblick davon ab, daß die Abgeordneten in Berlin und Frankfurt a. M. standhaft blieben und, auf die revolutionäre Volksbewegung gestützt, ihre Forderungen gegenüber der Reaktion durchsetzten. Insbesondere fiel den linken demokratischen Abgeordneten die Aufgabe zu, in enger Verbindung mit der demokratischen Bewegung die Nationalversammlungen in Berlin und in Frankfurt a. M. zu energischen Beschlüssen voranzutreiben. Die Stärke und Schlagkraft der; demokratischen Bewegung, auf die es im Kampf mit der Konterrevolution ankam, hing unter den damaligen Bedingungen wesentlich von ihrer Einigkeit und Entschlossenheit ab, das heißt von dem Einvernehmen zwischen Arbeitern und Kleinbürgern. Die Arbeiter zeigten sich aber in zunehmendem Maße als die entscheidende vorwärtstreibende Kraft der revolutionären demokratischen Bewegung. Dort, wo sich die Bewegung auf aktive Arbeitervereine stützen konnte, erzielte sie auch Fortschritte und Erfolge. Marx und Engels traten daher energisch allen Versuchen entgegen, die demokratische Bewegung zu spalten, Arbeiter- und demokratische Vereine gegeneinander zu hetzen. Insbesondere entfaltete Engels um diese Zeit neben der täglichen Arbeit in der Redaktion der „Neuen Rheinischen Zeitung" eine umfassende Organisations- und Agitationstätigkeit, um die Massen zu mobilisieren. Auf dem ersten rheinischen Demokratenkongreß am 13. und 14. August in Köln sprach Engels von der Notwendigkeit, dem reaktionären Preußentum mit aller Entschiedenheit entgegenzutreten. Der Kongreß beschloß, die politische Agitation unter den Fabrikarbeitern und Bauern zu verstärken und auch in den Dörfern Vereine zu gründen. 35 Die im September beginnenden Aktionen standen im Zeichen des Kampfes für die entschiedene, die soziale Demokratie. Die 17 „Forderungen der Kommunistischen Partei in Deutschland" wurden in den kritischen Septembertagen zum Programm der demokratischen Revolution im Kampf gegen die Konterrevolution. 35

Vgl. dieselben, Werke, Bd 5, a. a. O., S. 571.

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Etwa am 10. September 1848 erschien in Köln eine neue Auflage, das heißt die dritte Auflage des Flugblattes, mit den „Forderungen der Kommunistischen Partei in Deutschland". Im Text wurden unwesentliche stilistische Änderungen vorgenommen, nur in der Formulierung des 10. Punktes, der die Beseitigung der Privatbanken betraf, hieß es nun nicht mehr „an die Regierung zu fesseln", sondern „an die Revolution zu knüpfen". 3 6 Diese Auflage des Flugblattes ist im September und Oktober 1848 ,in zahlreichen Arbeitervereinen, vor allem auch in Köln und Worringen verteilt und eifrig diskutiert worden. Der Augenblick war gekommen, um der Konterrevolution,stärker als bisher mit den 17 demokratischen Forderungen entgegenzutreten und die Massen für die demokratische Revolution zut mobilisieren. Während die liberale Bourgeoisie offen eine Verständigung mit der Konterrevolution anstrebte und damit Verrat an den nationalen Interessen des deutschen Volkes übte, traten die Arbeiter dafür ein, den Kampf für ein demokratisches Deutschland noch konsequenter und entschiedener zu führen. Am 13. September hatte die Redaktion der „Neuen Rheinischen Zeitung" in Köln zu einer Massenkundgebung aufgerufen. Wilhelm Wolff, der die Kundgebung eröffnete, machte den Vorschlag, einen Sicherheitsausschuß des Volkes zu bilden. Engels unterstützte diesen Vorschlag. Er selbst und Marx wurden Mitglieder dieses Sicherheitsausschusses, der sich, wie das Schreiben an den Regierungspräsidenten vom gleichen T a g e betonte, die Aufgabe stellte, „als einziges, aus direkter Volkswahl hervorgegangenes und direkt dem Volke verantwortliches Komitee mit allen gesetzlichen Mitteln darüber zu wachen, daß die Eroberungen der Revolution, die 1 mit dem Blute des Volkes erkämpften Rechte, nicht geschmälert werden". 3 7 Am 17. September fand auf Initiative der Kölner demokratischen Organisationen eine große Volksversammlung in Worringen bei Köln statt, die Deputationen aller Arbeiter- und demokratischen Vereine der Städte am Niederrhein zusammenführte. Die Kölner Teilnehmer, darunter Engels, waren mit mehreren Lastkähnen unter der roten Fahne den Rhein hinabgefahren. Engels saß als Sekretär im Präsidium dieser 8000köpfigen Volksversammlung, die sich einstimmig für die demokratisch-soziale, die 36 37

Dieselben, Werke, Bd 5, a. a. O., S. 3 f. DZA Merseburg, Rep. 77, Tit. 505, Nr. 2, vol. 4, fol. 113.

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rote Republik erklärte und auf Vorschlag von Engels den Frankfurter Abgeordneten in einer Resolution kundtat, daß das Volk „mit Cut und Blut zu Deutschland stehen werde". Die Ereignisse in Frankfurt a. M. ain 17., 18. und 19. September bildeten den Höhepunkt der Septemberkrise. Preußische und österreichische Truppen maschierten in der Nacht vom 17. zum 18. September in Frankfurt a. M. ein, um die Nationalversammlung vor dem Volk zu „schützen". Die Arbeiter, auch von den wankelmütigen demokratischen Abgeordneten im Stich gelassen, griffen zu den Waffen und nahmen allein den Kampf gegen die Konterrevolution auf. Sie unterlagen nach heldenmütigem Kampf, weil die Bourgeoisie offen die Konterrevolution unterstützte. Nachdem der Aufstand in Frankfurt a. M. niedergeschlagen war, wurde auch über Köln der Belagerungszustand verhängt und die „Neue Rheinische Zeitung" verboten. Engels entzog sich der drohenden Verhaftung durch seine Abreise. Noch vorher hatte er in der „Neuen Rheinischen Zeitung" über die Ereignisse in Frankfurt a. M. geschrieben und ihre Bedeutung dargelegt. Er hatte klar ausgesprochen, daß sich die Bourgeoisie mit der Unterstützung der militaristischen Reaktion selbst einen schlechten Dienst erweist. Die „Ehre Deutschlands" war allein von den Arbeitern verteidigt worden; sie hatten den Kampf um die nationalen Interessen des deutschen Volkes gegen das „Parlament der vereinigten Junker und Bourgeoisie unter der roten Fahne" geführt.38 5. Die Bestrebungen Arbeiterpartei

zur Schaßung einer selbständigen

deutschen

Das Kräfteverhältnis der verschiedenen Klassen hatte sich in entscheidender Weise seit Beginn der Revolution verändert. Wie Friedrich Engels am 21. September 1848 betonte, standen nunmehr überall „dem nicht organisierten und schlecht bewaffneten V o l k . . . sämtliche übrigen Klassen der Gesellschaft wohlorganisiert und wohlgerüstet gegenüber". 39 Neue Bedingungen hatten sich ergeben. Die Bourgeoisie war in Wien 38

„Neue Rheinische Zeitung", Nr. 108, vom 21. September 1848. In: Marx/ Engels, Werke, Bd 5, a. a. O., S. 412.

39

Ebenda.

5 Friedlich Engels, Bd. 1

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und Berlin für die Verständigung mit der Monarchie eingetreten und hatte sich weitgehend bereit erklärt, Konzessionen zu machen, wenn vor allem die von ihr gefürchtete Volksbewegung niedergeschlagen und „Ruhe und Ordnung" gesichert würden. Die bürgerlichen Demokraten hatten ebenfalls versagt und waren ängstlich zurückgewichen, während die deutschen Arbeiter immer besser ihre Aufgabe begriffen, sich mehr und mehr von dem Einfluß der kleinbürgerlichen Demokraten lösten und als Klasse politisch bewußter und aktiver aufzutreten begannen. J e eindeutiger der Verrat der Bourgeoisie, je schwankender und unsicherer die Haltung der kleinbürgerlichen Demokraten wurde, desto sicherer und entschlossener zeigte sich die Arbeiterklasse. Das Gesicht der demokratischen Bewegung veränderte sich. Während die demokratischen Vereine Mitglieder verloren, weil sich viele ängstliche und gemäßigte Kleinbürger zurückzogen und im allgemeinen noch gemäßigter auftraten, festigten sich die Arbeitervereine und bildeten mehr und mehr den Kern der entschiedenen demokratischen Bewegung. Bei der Masse der Arbeiter in den Gewerkvereinen, Arbeiterkomitees und Arbeitervereinen, die sich Anfang September in der „Arbeiterverbrüderung" zusammengeschlossen hatten, setzte sich im Herbst 1848, namentlich während der Ereignisse im Oktober und November, mehr und mehr die Einsicht durch, daß zwischen der Verbesserung ihrer sozialen Lage und dem Kampf um die demokratische Republik ein enger Zusammenhang bestand und ohne Sturz der feudalen und militaristischen Reaktion weder ein einiges und demokratisches Deutschland, noch eine Lösung der sozialen Frage möglich war. Dagegen ging die Masse der Kleinbürger auf die Positionen über, die die Liberalen zu Beginn der Revolution eingenommen hatten und beschränkte sich auf konstitutionelle Forderungen. Zwar verfaßte sie zahlreiche Resolutionen und Proklamationen für die Einheit und Freiheit Deutschlands, ohne jedoch Aktionen in Erwägung zu ziehen. Marx und Engels verlegten den Schwerpunkt ihrer Tätigkeit von der demokratischen Gesellschaft auf den Kölner Arbeiterverein. Marx hatte Mitte Oktober 1848 den Vorsitz des Kölner Arbeitervereins übernommen. Die Vereinigung der Arbeiter zu einer selbständigen, von den demokratischen Vereinen unabhängigen Partei erwies sich zu Beginn des Jahres 1849 nicht nur als möglich, sondern auch als notwendig, um einen entschlossenen Kampf für die Demokratie gegen die Konterrevolution führen zu können. Die Arbeiterklasse war allein in der

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Lage, die Bewegung für Demokratie voranzutreiben. Die Festigung der Arbeitervereine war aber nicht nur eine organisatorische Angelegenheit. Marx und Engels verstärkten vor allem ihre Aufklärungs- bzw. Vortragstätigkeit in den Arbeitervereinen, wobei sie sich besonders mit der sozialen Frage und ihren Beziehungen zur nationalen F r a g e beschäftigten. Die „Neue Rheinische Zeitung" zeigte sich als wirksamer kollektiver Propagandist und Agitator und wirkte auf diese Weise auch als Organisator. Aus der Analyse der politischen Ereignisse, die Marx und Engels gaben, lernten Arbeiter und radikale Demokraten, wie der Kampf geführt werden mußte. Die „Neue Rheinische Zeitung" trat an die Spitze des Kampfes gegen die Konterrevolution und machte große Anstrengungen, die kleinbürgerlichen Demokraten mitzureißen, ihnen klarzumachen, daß sie in der Arbeiterklasse einen zuverlässigen Verbündeten haben. Marx und Engels machten energische Bemühungen, die demokratische Revolution mit Hilfe der Arbeiterklasse voranzutreiben. Diese Bemühungen, die bei entschiedenen, radikalen Demokraten Zustimmung fanden, verhalfen der demokratischen Bewegung im Frühjahr 1849 zu einigen Erfolgen, namentlich bei den Wahlen zur preußischen Abgeordnetenkammer. Aus den an Marx und Engels gerichteten Briefen geht hervor, daß beide mit Hilfe ihrer Beziehung zu führenden Persönlichkeiten der demokratischen Bewegung nichts unversucht ließen, um diese wieder zu festigen. Ein an Friedrich Engels gerichteter Brief aus Frankfurt a. M. vom 1. Februar 1849, dessen Absender nicht zu entziffern ist, läßt erkennen, daß sich Freunde von Marx und Engels bemühten, die äußerste Linke in der Nationalversammlung zu stärken. Im Brief, dem ein Bericht für die „Neue Rheinische Zeitung" beigefügt war, heißt.es: „ E s ist mir gelungen, den Donnersberg (den Klub der äußersten Linken - K . 0 . ) , der in der Tat schon aus den Fugen war, wieder in die alten Gleise zu bringen. Auf meine Einladung versammelte er sich gestern wieder nach langer Unterbrechung und steht vielleicht etwas fester als früher . . . " 4 0 Am 31. Januar 1849 unterbreitete Konrad Schramm in einem Brief aus Breslau Karl Marx einen Vorschlag, die „Neue Rheinische Zeitung" in größerem Ausmaße bei der Propaganda für die demokratischen Wahlkandidaten zu benutzen. Schramm gestand: 40

6*

Institut für Marxismus-Leninismus, Moskau, Archiv, Fond 1, Nr. 197/ 12872.

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KARL OBERMANN

„Mein Interesse bei der Sache besteht in der Verbreitung demokratischer Grundsätze und durch dieselben in der größeren Sicherung meiner Wahl zum Abgeordneten."

41

Die Unterstützung der Arbeiter und der „Neuen

Rheinischen Zeitung" erwies sich bei den Wahlen zum preußischen Abgeordnetenhaus als eine wirksame Hilfe für die

demokratischen

Kandidaten. Der Oberpräsident von Köln beklagte sich in einem Bericht an den Innenminister vom 18. Januar 1 8 4 9 , daß von Köln aus zahlreiche demokratische Wahl- und Volksversammlungen in der näheren und weiteren Umgebung organisiert würden und in denselben „das von Marx, Schapper und Konsorten unterzeichnete bekannte Programm über die Forderungen der Kommunisten Deutschlands verlesen, erläutert und verteilt" werde. 4 2 In einer Meldung der Berliner

„National-Zeitung"

vom 28. Januar 1 8 4 9 aus der Arbeitervorstadt Burg bei Magdeburg heißt es: „Unsere Wahlen sind entschieden im Interesse des Handwerker- und Arbeiterstandes ausgefallen. Auf Anregung des Handwerker-Vereins in Magdeburg hatten sich die Handwerker und Arbeiter, welche die Mehrzahl unserer Bevölkerung ausmachen, in Vorversammlungen über ihre Kandidaten vereinigt, und diese sind auch fast sämtlich durchgegangen."

43

Am 9. Februar, also nach Abschluß der Wahlen zur

zweiten Kammer, teilte der Oberpräsident der Rheinprovinz dem Innenminister mit, daß von den 61 in der Rheinprovinz gewählten Abgeordneten 37 zu den Demokraten gerechnet werden müßten, was vor allem den werktätigen Massen zuzuschreiben sei. Der Oberpräsident sah sich zu dem Eingeständnis genötigt: „Allein sieht man auf die Kopfzahl der Bevölkerung, so wird die Wahl der Ausdruck der Mehrzahl derselben sein."

44

Der Wahlsieg der Demokraten war, - das zeigen die an-

geführten Beispiele, die noch vermehrt werden könnten -

unzweifelhaft

dem mutigen und entschiedenen Auftreten der Arbeiter zu verdanken. Die Aufrechterhaltung des Belagerungszustandes, die Behinderung der Wahlversammlungen, die Verhaftungen und Ausweisungen hatten sie nicht davon abhalten können, entschlossen den Kampf für die Demokratie zu führen. Der aufrichtige liberale Publizist Varnhagen von Ense faßte das Resultat der Wahlen am 9. Februar 1 8 4 9 in folgender Bemerkung zusammen: „Die Regierungsmacht hat sich in ganzer Stärke 41 42 43 44

Ebenda, Fond 1, Nr. 196/9884. DZA Merseburg, Rep. 77, Tit. 245, Nr. 4, fol. 118 f. „National-Zeitung", Berlin, 2. Jg. 1849, Nr. 26, vom 28. Januar 1849. Vgl. DZA Merseburg, Rep. 77, Tit. 505, Nr. 1, vol. 2, fol. 169 f.

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gezeigt und keine Mittel geschont. Aber die Demokratie ist auch ihrerseits noch stark genug, um den Kampf nicht zu scheuen, und sie kann im Verlaufe der Zeit nur gewinnen, denn der gemeine Mann kommt immer mehr zu Verstand."

45

„Der gemeine M a n n " , das war das werk-

tätige Volk. In der Masse des Volkes, die für den ehrlichen Humanisten und Feind der feudalen und militaristischen Reaktion die große Hoffnung auf eine bessere Zukunft war, trat die Arbeiterklasse unbedingt als eine mächtige Kraft hervor. Sie hatte sich während der Wahlkampagne als der zuverlässigste Kämpfer für die Demokratie gezeigt. Zahlreiche Arbeiter bekannten sich eindeutig zu dem Programm der Demokratie, das Marx und Engels im April 1 8 4 8 in den 17 „Forderungen der Kommunistischen Partei in Deutschland" aufgestellt hatten. Die Arbeiter zeigten den kleinbürgerlichen Demokraten klar und deutlich, daß der Kampf für die Demokratie nur durch ein entschlossenes Eintreten

für die grundlegenden

demokratischen

Forderungen

und

nicht durch Verhandlungen über Kompromisse gewonnen werden könne. In den Monaten Januar, Februar und März des Jahres 1 8 4 9 machte der fortgeschrittenere Teil des deutschen Proletariats unter der Führung von Marx und Engels große Anstrengungen, den kleinbürgerlichen Demokraten die Notwendigkeit gemeinsamer entschiedener Aktionen klarzumachen. K a r l D'Ester aus Köln, ein Mitglied des „Bundes der Kommunisten", der auf dem zweiten Demokratenkongreß in Berlin in den Zentralausschuß der demokratischen Vereine gewählt worden war, bemühte sich von Leipzig aus, die demokratischen Vereine zu aktivieren. Einem Brief von D'Ester an Marx vom 12. Februar 1 8 4 9 ist zu entnehmen, daß D'Ester bei dieser Tätigkeit von den übrigen Mitgliedern des Zentralausschusses allein gelassen wurde. In diesem Brief ging es in der Hauptsache darum, Marx um Rat zu bitten, da infolge der schwankenden Haltung der „Reform" und ihres Redakteurs Rüge die Gründung „eines entschieden demokratischen Organs" in Berlin notwendig geworden war. „ E s muß entgegengewirkt werden, wenn nicht die demokratische Heulerei immer größer werden soll."

46

Dieser Satz

aus dem Brief von D'Ester beleuchtet treffend die Lage in den demokratischen Vereinen. Die Mehrzahl der Demokraten wollten nichts von einem entschlossenen Auftreten wissen; sie verhielten sich gegenüber 45 46

Varnhagen von Ense, K. A., Tagebücher, Bd 6, Leipzig 1862, S. 50. Institut für Marxismus-Leninismus, Mokau, Archiv, Fonds 1, Nr. 12043.

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dem Drängen und den Forderungen der Arbeiter und einiger entschiedener radikaler Demokraten durchaus abweisend. J e entschiedener die Konterrevolution auftrat, desto eindeutiger zeigte sich, daß von den kleinbürgerlichen Demokraten trotz aller Zusicherungen und Proklamationen kein entschlossenes Handeln zu erwarten war.

Friedrich

Engels mußte den demokratischen Abgeordneten der zweiten preußischen Kammer, die sich um eine parlamentarische Verständigung mit der Regierung in der Verfassungsfrage bemühten, am 30. März 1849 sagen, daß ihre Wahl vom Volk als „eine Kriegserklärung

gegen den

Staatsstreich" gedacht war und sie nicht nach Berlin gesandt wurden, „um Versöhnung und Verständigung anzubieten, sondern um zu protestieren". 4 7 Die Stellung

der kleinbürgerlichen

Demokraten

kenn-

zeichnete Engels mit den Worten: „Statt weiter links, sind die Herren weiter rechts gerückt. Mit dem wohlmeinendsten Heulerpathos predigen sie Versöhnung und Verständigung". 4 8 Die kleinbürgerlichen demokratischen Vereine nahmen mehr und mehr einen gemäßigten Charakter an und beschimpften die Arbeiter wegen ihrer energischen Forderungen als „Wühler". In diesen Monaten des Rückgangs der demokratischen Vereine hatten sich die Arbeiter- und Gewerkvereine außerordentlich vermehrt; sie entfalteten eine rege Tätigkeit. „Das Volk stirbt nicht, und sein Geist ist erwacht."

49

Diese Bemerkung, die Varnhagen von

Ense am 16. März 1849 in sein Tagebuch eintrug, spricht von dem Eindruck und der Hoffnung, den die Aktivität der Werktätigen hinterließ. Der feste Zusammenschluß aller Arbeitervereine zu einer Partei war zu einer wichtigen Bedingung im Kampf für die bürgerlich-demokratische Umwälzung gegen die Konterrevolution geworden. Marx und Engels widmeten daher seit Beginn des Jahres 1 8 4 9 den verschiedenen Provinzialkongressen der „Arbeiterverbrüderung"

grö-

ßere Aufmerksamkeit, um den ideologischen Entwicklungsprozeß, der in den zahlreichen Gewerk- und Arbeitervereinen begonnen hatte, in die richtige Bahn zu lenken und sie in eine revolutionäre Arbeiterpartei umzuwandeln. Die Reihe dieser Arbeiterkongresse eröffnete am 29. Januar 1849 der Heidelberger Kongreß der süddeutschen Arbeitervereine. Wie aus einem Brief von Weydemeyer an M a r x vom 23. Januar 1849 hervorgeht, waren die Freunde von Marx und Engels „sehr dringend 47

48

„Neue Rheinische Zeitung", Nr. 259, vom 30. März 1849. In: Marx/Engels, Werke, Bd 6, Berlin 1959, S. 374. 49 Varnhagen von Ense, K. A., a. a. O., Bd 6, S. 86. Ebenda, S. 375.

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eingeladen" worden, denn die Arbeiter hatten sich bereits in lokalen Versammlungen entschieden f ü r eine revolutionäre Politik ausgesprochen. 5 0 Der Kongreß beschloß, in jedem Orte die Arbeiter zu vereinigen und alle Arbeitervereine unter einer Leitung zusammenzufassen. In regelmäßigen Versammlungen sollten sie den Arbeitern die Möglichkeit bieten, sich „in politischer und sozialer Beziehung über ihre Stellung, ihre Forderungen und ihre Z u k u n f t " aufzuklären. 5 1 Auch die Beschlüsse anderer Arbeiterkongresse der Monate F e b r u a r und März 1849 zeugten davon, daß die Masse der Arbeiter aus den Erfahrungen der Klassenkämpfe von 1848 die Schlußfolgerung gezogen hatten, sich selbständig und straffer zu organisieren und sich vor allem politisches Wissen anzueignen. 5 2 Diese weitreichenden Bestrebungen zum Zusammenschluß aller Ar-* beitervereine und zur Festigung der Arbeiterbewegung erfaßten die Arbeiter in ganz Deutschland und waren mithin von großer Bedeutung. Ihre Ausdehnung beunruhigte die Behörden in starkem Maße. So berichtete der Polizeipräsident von Breslau dem Regierungspräsidenten am 29. März 1848: „In neuester Zeit droht die Vereinigung der Gesellen, oder wie sie sich in der Regel nennen: Arbeiter, einen f ü r die Sicherheit des Staates sehr gefährlichen Charakter anzunehmen. Die Zentralkomitees f ü r die deutschen Arbeiter in F r a n k f u r t und Leipzig sind in ein einziges Zentralkomitee zusammengetreten, welches seinen Sitz in Leipzig hat und dessen Zweck die Gründung eines allgemeinen deutschen ArbeiterBundes i s t . . . An jedem einzelnen Orte sollen die Arbeiter einen besonderen Arbeiter-Verein bilden." Der Bericht betont ferner, daß die Arbeiter entschieden demokratisch seien und einen energischen Klassenkampf führen. 5 3 Das Zentralkomitee der Arbeiterverbrüderung in Leipzig befaßte sich mit dem Plan, einen allgemeinen deutschen Arbeiterkongreß durchzuführen. Auch der Kölner Arbeiterverein nahm Mitte 50

51

52 53

Vgl. Institut für Marxismus-Leninismus, Moskau, Archiv, Fond 1, Nr. 191/ 11002a. „Die Arbeiterverbrüderung" 1848/49, Erinnerungen an die Klassenkämpfe der ersten deutschen Revolution. Herausgegeben und eingeleitet von Quarck, Max, Frankfurt a. M., 1900, S. 70., vgl. „Neue Rheinische Zeitung", Nr. 213, vom 4. Februar 1849. Vgl. „Neue Rheinische Zeitung", Nr. 271, vom 13. April 1849. DZA, Merseburg, Rep. 77, Tit. 500, Nr. 10, vol. 5, fol. 247.

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April 1849 Kars auf die Vorbereitung eines großen Kongresses aller deutschen Arbeiter. Marx hatte sich am 14. April auf eine Reise nach Westfalen und Nordwestdeutschland begeben, um namentlich in den Städten Hamm, Bielefeld, Bremen und Hamburg mit den Freunden und Mitarbeitern der „Neuen Rheinischen Zeitung" über die Aufgaben zu sprechen, die vor den Arbeitern standen. Bis zu seiner Rückkehr am 9. Mai vertrat ihn Engels in der Redaktion wie auch im Kölner Arbeiterverein. Letzterer faßte am 16. April in einer Generalversammlung den Beschluß, „aus dem Verbände der demokratischen Vereine Deutschlands auszutreten und sich dem Verbände der deutschen Arbeitervereine, deren Zentralausschuß sich in Leipzig befindet, anzuschließen". 54. Diesem Beschluß, der auf eine Initiative von Marx und Engels zurückgeführt werden muß, ist bisher viel zuwenig Beachtung geschenkt worden. Wenn auch der Beschluß infolge der Maiaufstände nicht mehr in die Tat umgesetzt werden konnte, so war er dennoch für die Entwicklung der deutschen Arbeiterbewegung nicht ohne Bedeutung, denn er zeugte von der Entwicklung eines ausgeprägten Klassenbewußtseins und von einer zunehmenden Klarheit über die geschichtliche Rolle der Arbeiterklasse. Friedrich Engels schrieb später, und zwar am 28. Dezember 1886: „Die Hauptsache ist, die Arbeiterklasse dahin zu bringen, daß sie als Klasse handelt, wenn das erst erreicht ist, wird sie bald die rechte Richtung finden." 5 5 Die deutsche Arbeiterklasse schickte sich im April 1849 auf Grund der Erfahrungen des Revolutionsjahres und unter dem Einfluß der „Neuen Rheinischen Zeitung" an, als Klasse zu handeln. Die politisch und ideologisch fortgeschrittenen rheinischen Arbeitervereine ergriffen auf Vorschlag von Marx und Engels die Initiative, sich mit der „Arbeiterverbrüderung" zusammenzuschließen, um sie in die rechte Richtung zu lenken und auf diesem Wege die revolutionäre Arbeiterpartei zu schaffen. Ein vom Kölner Arbeiterverein eingesetzter provisorischer Ausschuß für sämtliche Arbeitervereine der Rheinprovinz und Westfalens wandte sich mit einem Aufruf an „sämtliche Arbeiter und alle anderen Vereine, die, ohne bisher diesen Namen zu führen, doch den Grundsätzen der sozialen Demokratie mit Entschiedenheit anhängen" 5®, Delegierte zu einem Provinzialkongreß am 55 55 56

Marx/Engels, Werke, Bd 6, Berlin 1959, S. 584. Dieselben, Ausgewählte Briefe, S. 475. Dieselben, Werke, Bd 6, a. a. O., S. 588.

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6. Mai nach Köln zu entsenden, um die „Organisation der rheinischwestfälischen Arbeitervereine" und die Zusammenarbeit mit der „Arbeiterverbrüderung" zu besprechen. In den 17 „Forderungen der Kommunistischen Partei in Deutschland" hatten Marx und Engels bereits zu Beginn der Revolution die Grundsätze der sozialen Demokratie niedergelegt. Nachdem die kleinbürgerlichen Demokraten die Entschiedenheit vermissen ließen, die im Kampf um die Demokratie notwendig war, nachdem sich auch große Teile des demokratischen Kleinbürgertums aus Angst vor der „roten Republik" zurückzogen und nach Kompromissen mit der feudalen und militaristischen Reaktion strebten, zeigten sich die Arbeiter keineswegs entmutigt; im Gegenteil, in diesem Augenblick traten die fortgeschritteneren Kölner Arbeiter unter der F ü h r u n g von Marx und Engels entschiedener denn je f ü r die nationalen Interessen des deutschen Volkes ein. In den ersten Maitagen, als die Arbeitervereine ihre Kongresse zur Vorbereitung der selbständigen Arbeiterpartei durchführen wollten, war der bewaffnete Kampf gegen die Konterrevolution entbrannt. Die preußische militaristische Reaktion schickte sich an, die deutsche Demokratie im Blut zu ersticken. I m Mai 1849 zeigte sich bereits deutlich, d a ß der preußische Militarismus der Todfeind der deutschen Nation ist und daß die Lebensinteressen, bzw. die Interessen der weiteren Existenz und der Zukunft der deutschen Nation nur durch einen entschiedenen und kompromißlosen Kampf gegen den Militarismus gesichert werden können. Aber im Mai 1849 unterstützte die liberale Bourgeoisie bereits die antidemokratischen Tendenzen in der Entwicklung Deutschlands und leistete der militaristischen Reaktion keinen Widerstand. Der Kampf gegen den preußischen Militarismus lag jedoch im Interesse der gesamten Nation, und dieser Kampf wurde am entschiedensten von den Volkswehren geführt, in denen die Arbeiter sich sammelten. Jetzt war keine Zeit mehr, über die Organisationen der Arbeiterpartei zu verhandeln, denn jetzt mußte gehandelt werden. Ohne Zögern unterstützten überall die Arbeiter die kleinbürgerlichen Demokraten, denen in diesen Aufständen die F ü h r u n g zugefallen war. Die Arbeiter taten ihr Möglichstes, um der Bewegung „einen bestimmteren, energischen Charakter" zu geben. 5 7 Die „Neue Rheinische Zeitung" 57

Engels, Friedrich, Die deutsche Reichsverfassungskampagne. In: Marx/ Engels, Bd 7, Berlin 1960, S. 112.

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und ihre Redakteure, vor allem aber Engels, nahmen ihren Platz in den ersten Reihen der K ä m p f e r ein. Die „Neue Rheinische Zeitung" rief die Arbeiter auf, einig und entschlossen in dem Kampf um die Zukunft der deutschen Nation ihren Mann zu stehen. Am 10. Mai 1849 veröffentlichte sie den Aufruf des Mannheimer Arbeiterbildungsvereins „An die Arbeiter Deutschlands", in dem es hieß: „Die Zeit der zweiten Revolution ist uns nahe. Benutzt den ersten Augenblick, der uns zur Erreichung des langersehnten Zieles führen wird. Jeder Arbeiter erkenne die heilige und wichtige Sache der Freiheit und schaffe Mittel, durch welche dieselbe errungen werden kann. Vor allem ist es die tatkräftigste Vereinigung der Arbeiter. Jeder erkenne, daß n u r durch eine allgemeine feste Vereinigung das wichtigste Gut, die Freiheit errungen werden kann." 5 8 Aus diesem Aufruf spricht die Erkenntnis, daß im Kampf f ü r die Demokratie gegen die militaristische Reaktion nunmehr die revolutionäre Arbeiterpartei geschmiedet werden müsse, die in der Lage ist, entschlossen den Kampf f ü r die Lebensinteressen des deutschen Volkes zu führen. Engels selbst eilte an die Kampffront. In seiner Heimatstadt Elberfeld hatte er sich am 11. Mai f ü r den Ausbau der Verteidigungsanlagen zur Verfügung gestellt. Nach dem Verbot der „Neuen Rheinischen Zeitung" trat Engels in der Pfalz in das Freikorps Willich ein. Er hat an mehreren Kämpfen in der Pfalz und in Baden teilgenommen. Mathilde Anneke berichtet in ihren „Memoiren einer F r a u aus dem Badisch-Pfälzischen Feldzug" über eine Begegnung mit Engels nach der Schlacht im Annweiler Tale und sagte dazu: „Ich hatte von ihm weiter nichts als die Überzeugung gewonnen, daß ein geistreicher Schriftsteller, ein scharfer Denker und schonungsloser Kritiker, auch ein guter K ä m p f e r in den Reihen sein könne. Sein Eifer und sein Mut wurden von seinen Kampfgenossen ungemein lobend hervorgehoben, so z. B. hat er tagelang in Ermangelung eines Pferdes seine Adjutantendienste zu F u ß verrichtet." 5 9 In seiner eigenen Darstellung der Reichsverfassungskampagne hat Engels auf Grund der gemachten Erfahrungen festgestellt: „Die Partei des Proletariats war ziemlich stark in der 68 59

„Neue Rheinische Zeitung", Nr. 294, vom 10. Mai 1849. Diese „Memoiren" wurden 1853 in Newark (USA) in einer geringen Auflage gedruckt. In Verbindung mit einer Kurzbiographie von Mathilde Franziska Anneke sind Auszüge aus diesen „Memoiren" in: German American Annais, Philadelphia, vol. XVI, Nr. 3/4, 1918, veröffentlicht worden.

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badisch-pfälzischen Armee vertreten, besonders in den Freikorps, wie im unsrigen, in der Flüchtlingslegion usw., und sie kann ruhig die anderen Parteien herausfordern, auf nur einen einzigen ihrer Angehörigen den geringsten Tadel zu werfen. Die entschiedensten Kommunisten waren die couragiertesten Soldaten." 6 0 Was Engels in diesen beiden Sätzen ausgesprochen hat, gilt noch heute: die entschiedensten Kommunisten waren und sind die tapfersten Kämpfer für die nationalen Belange, für die wirklichen Interessen des Volkes. In der Revolution von 1848/49 hatte die deutsche Arbeiterklasse zum ersten Male in breiter Front die historische Bühne betreten. Zwar konnte sie noch nicht als selbständige Partei auftreten, aber die fortgeschrittensten Arbeiter, die Kommunisten, hatten unter Führung von Marx und Engels zu Beginn der Revolution das einzige mit den Lebensinteressen des deutschen Volkes wirklich übereinstimmende nationale Programm aufgestellt. Die Arbeiterklasse war damals schon ein entschiedener Kämpfer für die Demokratie, sie kämpfte überall in den vordersten Reihen, brachte die meisten Opfer und begann in diesem Kampf um Einheit und Demokratie sich selbständig zu organisieren und sich ihrer geschichtlichen Rolle bewußt zu werden. In der Haltung der liberalen Bourgeoisie zur nationalen Entwicklung Deutschlands offenbarten sich bereits in den ersten Monaten der Revolution antinationale Züge, die sich gegen Ende der Revolution noch verstärkten, als sich die Bourgeoisie mit der preußischen feudalen und militaristischen Reaktion, dem brutalsten Feind der Demokratie, verständigte. In der letzten Phase der Revolution, nach dem Verrat der großen und dem Versagen der kleinen Bourgeoisie mußte, wie Engels betont, „die Partei des Proletariats den Kampf da aufnehmen, wo die Bourgeoisie vom Schlachtfeld ausgerissen war". 6 1 Als Marx und Engels im März 1850 in der „Ansprache der Zentralbehörde an den Bund" die Situation erläuterten, die sich für das deutsche Volk nach dem Sieg der feudalen und militaristischen Reaktion ergeben hatte, stellten sie fest, daß als erstes die revolutionäre Arbeiterpartei hergestellt werden müsse. Die Arbeiter wurden aufgefordert, ihren „endlichen Sieg dadurch" zu sichern, „daß sie sich über ihre 80

61

Engels, Friedrich, Die deutsche Reichsverfassungskampagne. In: Marx/ Engels, Werke, Bd 7, Berlin 1960, S. 185. Wolff, Wilhelm, Die Schlesische Milliarde. Mit Einleitung von Friedrich Engels, Berlin 1954, S. 19.

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Klasseninteressen aufklären, ihre selbständige Parteistellung sobald wie möglich einnehmen, sich durch die heuchlerischen Phrasen der demokratischen Kleinbürger keinen Augenblick an der unabhängigen Organisation der Partei des Proletariats irremachen lassen". 62 Die Arbeiter ließen sich nicht irremachen; allen Schwierigkeiten der fünfziger und sechziger Jahre zum Trotz entstand die marxistische Massenpartei des deutschen Proletariats; sie war und ist die entscheidende Kraft im Kampf um die Lösung der nationalen Grundfrage, um die Erringung und Entfaltung echter Demokratie in Deutschland. Diese revolutionäre Arbeiterpartei, die Marx und Engels in den Stürmen der Revolution und der Klassenkämpfe schufen, die sich von der wissenschaftlichen Theorie des Marxismus-Leninismus leiten läßt, steht heute an der „Spitze des ökonomischen und politischen Kampfes der Massen für demokratische Umgestaltungen, für den Sturz der Herrschaft der Monopole . . . " , und auch der Verrat der rechten SPD-Führung in Westdeutschland wird sie nicht daran hindern, den Kampf um ein einiges, wirklich demokratisches und friedliebendes Deutschland siegreich zu Ende zu führen. 63 62

63

Marx/Engels, Ansprache der Zentralbehörde an den Bund vom März 1850. In: Marx/Engels, Werke, Bd 7, a. a. 0., S. 254. Dokumente über die Beratung von Vertretern der kommunistischen und Arbeiterparteien im November 1960 in Moskau, S. 21 f.

Friedrich Engels und die revolutionäre Bewegung in Rußland J . I. LINKOW

Je weiter da9 Leben von Friedrich Engels, dem großen Kampfgefährten und treuen Freund von Karl Marx, in dem Dunkel der Jahrhunderte versinkt, desto deutlicher, plastischer und klarer liegen dessen bedeutende Seiten vor uns aufgeblättert. Eine davon ist uns besonders teuer, weil auf ihr Engels' Verbindungen mit der revolutionären Bewegung in Rußland, seine ideologische und moralische Unterstützung der russischen Revolutionäre in ihrem Kampf gegen den Zarismus festgehalten sind. Es ist zur Tradition geworden, das Material, das mit dem Thema „Marx und Engels und die revolutionäre Bewegung in Rußland" zusammenhängt, unter dem Aspekt ihrer Verbindung mit den russischen Revolutionären zu betrachten, worunter im engeren Sinne die persönlichen Begegnungen, der persönliche Briefwechsel mit den großen Lehrern des Proletariats sowie alle Äußerungen von Marx und Engels über die russische revolutionäre Bewegung, deren Funktionäre und Perspektiven verstanden werden. Meiner Meinung nach schränkt eine ausschließliche Betrachtung der Frage in dieser Art ihr Verständnis ein und liefert keine vollwertige Wiedergabe der historischen Wirklichkeit. Indessen gibt es eine ernsthafte faktische Begründung, dieses Thema unter dem Gesichtspunkt der aktiven Zusammenarbeit von Marx und Engels (und demzufolge nach Marx' Tode nur von Engels) und der russischen revolutionären Bewegung üher den Zeitraum von rund einem Vierteljahrhundert (1870—1895), ihrer ideologischen und moralischen Unterstützung der russischen Revolutionäre und des gemeinsamen Kampfes gegen den gemeinsamen Feind zu betrachten.

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J . I. LINKOW

Mein Referat stellt den Versuch dar, das obige Thema gerade von diesem Standpunkt aus zu untersuchen. Es ist weitgespannt und vielseitig. Material dazu ist in sehr großer Zahl vorhanden, und die Historiographie zu diesem Thema zählt viele Dutzend Titel. Daher werden in dem Referat lediglich die grundlegenden Richtpunkte markiert. Eine erschöpfende Untersuchung des Themas in allen seinen Zusammenhängen kann nur in einer besonderen Monographie erfolgen. *

Ein halbes Jahrhundert lang verfolgten Marx und Engels mit angespannter, ständig steigender Aufmerksamkeit die Entwicklung des riesigen Landes, das sich über zwei Erdteile erstreckt, und widmeten ihm in ihrem Briefwechsel, in Artikeln und gesonderten Arbeiten viel Raum. Das große und anhaltende Interesse, das die Begründer des wissenschaftlichen Sozialismus und großen Führer der proletarischen revolutionären Bewegung Rußland entgegenbrachten, war natürlich kein Zufall. Die Schicksale der revolutionären Bewegung ganz Europas hingen im 19. Jahrhundert in verschiedenem Grade von dem Gang der historischen Entwicklung, der Außenpolitik und dem Klassenkampf im Russischen Reich ab. Das Interesse an Rußland entsprang ganz natürlich den Aufgaben, die sich Marx und Engels als Führer im Kampf des internationalen Proletariats gestellt hatten. Während sich Marx und Engels aber bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts hauptsächlich für die Außenpolitik des russischen Zarismus interessiert hatten, begann sich ihre Hauptaufmerksamkeit von den fünfziger Jahren an der Frage der künftigen Rolle der russischen revolutionären Bewegung für das Schicksal der Arbeiterklasse in Westeuropa zuzuwenden... Nach dem Krimkrieg, als die Bauernbewegung in Rußland starke Ausmaße erreichte, sahen sie in den russischen Revolutionären ihre Freunde und Verbündeten im Kampf gegen den gemeinsamen grausamen Feind — den russischen Zarismus, das Bollwerk der europäischen Reaktion. Marx und Engels betrachteten Rußland als ein gewaltiges Land und die russische Nation als „groß und hochbegabt". 1 Sie sahen in den 1

Marx/Engels, Ausgewählte Briefe, Berlin 1953, S. 556.

Die revolutionäre Bewegung in Rußland

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russischen Revolutionären die wahren Vertreter und Verteidiger der Interessen des russischen Volkes. Marx und Engels standen mit vielen russischen Revolutionären in Verbindung, aber die Hauptsache ist, daß sie in der einen oder anderen Weise mit russischen revolutionären Organisationen Verbindung hatten — mit der Russischen Sektion der I. Internationale, der Partei „Narodnaja Wolja" und Engels außerdem mit der Gruppe „Befreiung der Arbeit". *

Um die Mitte des 19. Jahrhunderts machten sich radikale Veränderungen in der sozialökonomischen Entwicklung Rußlands bemerkbar. Der Prozeß der Entwicklung der kapitalistischen Verhältnisse war ziemlich weit fortgeschritten. In den vierziger Jahren begann in Rußland die industrielle Revolution. Die neuen Erscheinungen der inneren Entwicklung Rußlands konnten so aufmerksamen Beobachtern wie Marx und Engels nicht verborgen bleiben. In dem Artikel „Die Bewegungen von 1 8 4 7 " schrieb Engels: „In Rußland entwickelt sich die Industrie mit gewaltigen Schritten und macht selbst aus Bojaren mehr und mehr Bourgeois. Die Leibeigenschaft wird in Rußland und Polen beschränkt und dadurch im Interesse der Bourgeoisie der Adel geschwächt und eine freie Bauernklasse hergestellt, deren die Bourgeoisie überall bedarf." 2 Die tiefgreifenden ökonomischen Veränderungen in Rußland führten zu einer Verschärfung der Klassengegensätze im Lande und vertieften und verschärften vor allem den Kampf zwischen der Klasse der Großgrundbesitzer und der leibeigenen Bauernschaft. Marx und Engels bemerkten das schon Anfang der fünfziger Jahre. Bereits damals stellten sie die Frage, ob eine revolutionäre Umwälzung in Rußland möglich sei, ob der Termin einer revolutionären Explosion näherrücke. Mehrfach hoben Marx und Engels die außerordentliche Bedeutung der Niederlage des russischen Zarismus im Krimkrieg für die Entwicklung Rußlands und für Europa hervor. Engels legte dar, daß das alte Rußland unwiederbringlich an dem T a g e ins Grab gesunken sei, 2

Dieselben, Werke, Bd 4, Berlin 1959, S. 501.

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als Zar Nikolaus I. starb, und daß sich auf seinen Ruinen das bürgerliche Rußland herausbilde. In den fünfziger Jahren des 19. Jahrhunderts sahen Marx und Engels in der wachsenden Bauernbewegung jene revolutionäre Kraft, die den Untergang des alten feudal-leibeigenschaftlichen Rußland beschleunigen mußte. Am 21. Oktober 1858 schrieb Engels an Marx, wobei er die Bauernbefreiung im Auge hatte: „Die russische Geschichte macht sich sehr gut. Jetzt sind die Kerle auch im Süden im Krawall." 3 M a r x seinerseits unterstrich gewissermaßen den Gedanken seines Freundes und bemerkte in einem Brief tin Engels vom 13. Dezember 1859: „In Rußland geht die Bewegung mehr voran als in dem ganzen übrigen Europa. Einerseits die konstitutionelle des Adels gegen den Kaiser und der Bauern gegen den Adel." 4 In jenen J a h r e n betrachteten Marx und Engels die russischen Bauern als mögliche Reserve f ü r die proletarische Revolution im Westen. Gerade darauf l ä u f t Engels' Gedanke hinaus, den er in der Arbeit „Savoyen, Nizza und der Rhein" äußerte: „Inzwischen haben wir einen Bundesgenossen bekommen an den russischen Leibeigenen." 5 Die gegen die Leibeigenschaft gerichtete Bauernbewegung in Rußland, die damals mit jedem J a h r zunahm, schätzte Marx so hoch ein, daß er sie in einem Brief an Engels vom 11. J a n u a r 1860 zu den größten Ereignissen jener Zeit rechnete. 6 Die in Rußland vorbereitete Aufhebung der Leibeigenschaft untersuchten Marx und Engels in unmittelbarem Zusammenhang mit der Bauernbewegung und interessierten sich lebhaft f ü r die herannahenden Wandlungen in der Lage der schwergeprüften russischen Bauern. Engels wies nach, daß die Bauernbefreiung im J a h r e 1861 und die Entwicklung der kapitalistischen Großindustrie teilweise als Ursache und teilweise als Folge miteinander im Zusammenhang standen. Marx' Artikel, der die in Vorbereitung befindliche Reform behandelte und im J a n u a r 1859 in der „New York Daily Tribüne" abgedruckt wurde, zeigt, welch grundlegende Kenntnisse Marx über die Geschichte der Bauernfrage in Rußland besaß. In diesem Artikel erinnert er a n die Politik Alexanders I. in der Bauernfrage, zählt dann im einzelnen die 3 4 5

Dieselben, Briefwechsel, Bd 2, Berlin 1950, S. 426. Dieselben, ebenda, S. 548. Marx/Engels/Lenin/Stalin, Zur deutschen Geschichte Bd II/l, Berlin 1954, 6 S. 770. Marx/Engels, Briefwechsel, Bd 2, Berlin 1950, S. 554.

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Erlasse Nikolaus I. (1842, 1844 und 1848) auf, die die Lage der leibeigenen Bauern behandeln, und vermerkt die Tatsachen der Zunahme der Bauernbewegung vor der Reform, „daß die Erhebungen der Leibeigenen gegen ihre Gutsbesitzer und Gutsverwalter seit 1842 zu einer Epidemie geworden sind, daß die Leibeigenen sogar laut offizieller Statistik des Ministeriums des Innern jährlich ungefähr sechzig Adlige ermordet haben, daß die Aufstände während des letzten Krieges stark zugenommen und sich in den westlichen Gebieten hauptsächlich gegen die Regierung gerichtet haben". 7 Weiter spricht Marx die Vermutung aus, „dann wird das russische 1793 anbrechen" 8 , wenn die Reform nicht durchgeführt werde oder sich über eine lange Zeitspanne erstrecken sollte. Nach der Veröffentlichung der Verordnung vom 19. Februar 1861 hoben Marx und Engels die von den Anhängern der Leibeigenschaft angewandte Methode, die Reform durchzuführen, und die elende Lage der Bauernmassen hervor, bei der man nicht leben und nicht sterben konnte, und sahen die Unvermeidlichkeit neuer Klassenkämpfe zwischen Gutsbesitzern und Bauern voraus. Die Bauernreform vom 19. Februar 1861 studierten Marx und Engels genau. Das innere Laboratorium dieses Studiums spiegelt sich deutlich in dem Material wider, das in Band XII und XIII des MarxEngels-Archiv veröffentlicht ist. Das tiefe Verständnis für das Wesen der Reform und aller daraus entstandenen unversöhnlichen Klassengegensätze war für Engels die Grundlage, zu einer außergewöhnlich wichtigen Schlußfolgerung zu kommen. Im Zusammenhang mit dem 19. Februar 1861 schrieb er: „Der große Befreiungsakt, von der liberalen Presse Europas so einmütig gepriesen und verherrlicht, hat nichts anderes hervorgebracht als die Grundlage und die absolute Notwendigkeit einer künftigen Revolution." 9 Späterhin brachte W. I. Lenin den gleichen Gedanken in dem geflügelten Wort zum Ausdruck: „Das Jahr 1861 erzeugte das Jahr 1905." 10 7 8 9

10

Dieselben, Werke, Bd 12, Berlin 1961, S. 681. Ebenda, S. 682. Engels, Friedrich, Die europäischen Arbeiter im Jahre 1877. In: „The Labor Standard" vom 31. 3. 1878, New York. Lenin, W. /., Sämtliche Werke, Bd XV, Moskau 1941, S. 187.

6 Friedrich Engels, Bd. 1

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Wenn Marx und Engels von der ökonomischen Entwicklung Rußlands nach der Reform sprachen, unterstrichen sie die historische Unvermeidlichkeit eines schnellen Wachstums der kapitalistischen Verhältnisse, die die gesamte Ökonomik des Landes in diesem oder jenem Maße umgestalten werden. Da Marx und Engels die ökonomischen Verhältnisse Rußlands gründlich und vielseitig untersucht hatten, besaßen sie eine solide Ausgangsbasis für ihre Urteile über den Klassenkampf und die Besonderheiten in der Entwicklung der russischen revolutionären Bewegung. *

In dem Augenblick, als Marx und Engels mit den russischen revolutionären Organisationen Kontakt aufnahmen, betrat die zweite Generation der russischen revolutionären Bewegung den Kampfplatz der Geschichte, die Generation der intellektuellen revolutionären Demokraten, die die Fahne des Kampfes gegen den Zarismus erhoben hatten. Ihr kämpferischer Demokratismus war in die Hülle des utopischen Sozialismus der Volkstümler gekleidet. Besondere Aufmerksamkeit und freundschaftliche Gefühle brachten Marx und Engels dem Führer der bäuerlichen Demokratie, dem großen russischen Revolutionär N. G. Tschernyschewski entgegen, der die Anschauungen der revolutionären Rasnotschinzenintelligenz und deren Willen zum Kampf gegen das Zarentum am vollständigsten und konsequentesten widerspiegelte. Die Rolle und Bedeutung Tschernyschewskis in der russischen revolutionären Bewegung schätzten Marx und Engels ganz besonders hoch ein. Hermann Lopatin, der mit Marx und Engels persönlich bekannt war und ihre Sympathie und Achtung genoß, gibt in einem seiner Briefe Marx' Meinung über Tschernyschewski wieder: „Während meines Aufenthalts in London kam ich mit einem gewissen Karl Marx zusammen, einem der bedeutendsten Schriftsteller auf dem Gebiet der politischen Ökonomie und einem der vielseitigst gebildeten Menschen in ganz Europa. Vor fünf Jahren war dieser Mensch auf den Gedanken gekommen, die russische Sprache zu erlernen. Nachdem er Russisch gelernt hatte, stieß er zufällig auf die Bermerkungen Tschernyschewskis zu dem bekannten Traktat von Mill und einige andere Artikel desselben Verfassers. Nachdem er diese Artikel gelesen hatte, empfand

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Marx große Achtung vor Tschernyschewski. Er sagte mir mehrmals, Von allen zeitgenössischen Ökonomisten sei Tschernyschewski der einzige tatsächlich originelle Denker, während die übrigen nur einfache Kompilatoren seien; seine Werke dagegen steckten voller Originalität, Kraft und Gedankentiefe und stellten die einzigen zeitgenössischen Werke in dieser Wissenschaft dar, die tatsächlich gelesen und studiert zu werden verdienten; die Russen müßten sich schämen, daß keiner von ihnen sich bisher die Mühe gemacht habe, Europa mit solchen bedeutenden Denkern bekannt zu machen; der politische Tod Tschernyschewkis sei ein Verlust nicht nur für die wissenschaftliche Welt Rußlands, sondern auch ganz Europas usw. usw." 1 1 Möglicherweise bestärkte das Gespräch mit Marx Lopatin noch in seiner Absicht, N. G. Tschernyschewskis Flucht aus den gefährlichen ostsibirischen Orten, aus dem verfluchten Gefängnis von Wiljuisk, wohin ihn die zaristische Regierung verbannt hatte, zu organisieren. Schon lange vor dem Versuch, Tschernyschewski zu befreien, informierte Lopatin Marx über den Prozeß gegen Tschernyschewski und über das Urteil in seiner Angelegenheit, was Marx wiederum Engels in seinem Brief vom 5. Juli 1870 mitteilte: „Tschernyschewski, erfuhr ich von Lopatin, wurde 1864 zu 8 Jahren Zwangsarbeit in den sibirischen Minen verurteilt, hat also noch zwei Jahre zu schanzen. Das erste Gericht war anständig genug zu erklären, daß absolut nichts gegen ihn vorliege und die angeblichen umtrieberischen KomplottGeheimbriefe offensichtliche Fälschungen seien (was sie waren). Aber der Senat, auf kaiserlichen Befehl, warf dieses Urteil allerhöchst um und sandte den listigen Mann, der so ,geschickt sei', hieß es im Urteil, ,daß er seine Schriften in einer gesetzlich unantastbaren Form halte und dennoch darin öffentlich Gift ausschenke' - nach Sibirien. Das ist die russische Justiz", 1 2 ruft Marx zum Schluß aus. Die wichtigsten Arbeiten Tschernyschewskis, darunter die inhaltsschweren „Umrisse der politischen Ökonomie nach Mill", die „Briefe ohne Adresse" und andere, las Marx sorgfältig durch und hinterließ auf ihren Rändern zahlreiche Bemerkungen sowohl kritischen als auch zustimmenden Charakters. 11

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6*

Marx/Engels, Briefwechsel mit russischen Politikern, 2. Auflage, Moskau 1951, S. 187/88 (russisch). Dieselben, Briefwechsel, Bd 4, Berlin 1950, S. 400 (Fremdwörter verdeutscht) .

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Bemerkenswert ist die Tatsache, daß Tschernyschewskis „Briefe ohne Adresse", die von großer grundlegender Bedeutung waren (sie wurden von der zaristischen Zensur im Jahre 1862 nicht zum Druck freigegeben) und eine ausführliche Wertung der Bauernreform vom 19. F e b r u a r enthielten, auf Initiative und unter direkter Mitwirkung von K. Marx im J a h r e 1874 erstmalig herausgegeben wurden. Nicht nur im Briefwechsel, sondern auch öffentlich sprach Marx über seine Beziehung zu Tschernyschewski. Im Brief an die Mitglieder des Komitees der Russischen Sektion der I. Internationale in Genf schrieb Marx am 24. März 1870 im Namen des Generalrates der Internationalen Arbeiterassoziation: „Solche Arbeiten wie die von Flerowski und Ihres Lehrers Tschernyschewski machen Rußland wirklich Ehre und beweisen, daß Ihr Land ebenfalls an der allgemeinen Bewegung unseres Jahrhunderts teilzunehmen beginnt." 1 3 Marx' großes Interesse f ü r Tschernyschewski fand seinen Ausdruck auch in seiner, allerdings nicht verwirklichten Absicht, eine Arbeit über Leben und Persönlichkeit Tschernyschewskis zu schreiben. In seinem Nachwort zu der Arbeit „Soziales aus R u ß l a n d " verallgemeinerte Engels im Jahre 1894 gewissermaßen das Urteil von ihm und Marx über die historische Bedeutung des großen russischen Demokraten und gab eine Beurteilung einiger seiner Ansichten. Engels hielt außerordentlich richtig und umfassend die Umstände fest, die Tschernyschewskis Isolierung von dem fortschrittlichen westeuropäischen wissenschaftlichen Denken, vom Marxismus, verstärkt und den Grad seiner weiteren Entwicklung in Richtung auf den wissenschaftlichen Sozialismus hin bedingt hatten: „Tschernyschewski, infolge der russischen intellektuellen Grenzsperre, hat nie die Werke von Marx gekannt, und als „Das Kapital" erschien, saß er längst in Mittel-Wiljuisk unter den Jakuten. Seine ganze geistige Entwicklung hatte stattzufinden in dem umgebenden Milieu, das durch diese intellektuelle Grenzsperre geschaffen wurde. W a s die russische Zensur nicht hineinließ, das existierte f ü r Rußland kaum oder gar nicht. Finden sich da einzelne Schwächen, einzelne Schranken des Ausblicks, so muß man nur bewundern, daß ihrer nicht mehr sind." 1 4 Tschernyschewskis Verurteilung und seine l a n g j ä h r i g e Einkerkerung im äußersten nordöstlichen Winkel des asiatischen Kontinents waren 13 14

Dieselben, Uber Kunst und Literatur, Berlin 1953, S. 263. Engels, Friedrich, Internationales aus dem ,Volksstaat', Berlin 1957. S. 76.

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einer der schmachvollsten Akte des russischen monarchistischen Despotismus. Im Namen der gesamten internationalen Arbeiterbewegung und aller fortschrittlichen Menschen Europas fällte Engels das Urteil über dieses Verbrechen der zaristischen Regierung: „Nikolai Tschernyschewski, jener große Denker, dem Rußland so unendlich viel verdankt und dessen langsamer Mord durch jahrelange Verbannung unter sibirische Jakuten ein ewiger Schandfleck bleiben wird auf dem Gedächtnis Alexander II., des ,Befreiers'" 1 5 - in diesen Worten ist sowohl das Urteil über den Zarismus als auch die Anerkennung der großen Rolle von N. G. Tschernyschewski bei der Entwicklung des revolutionären Denkens und des revolutionären Kampfes im Rußland des 19. Jahrhunderts enthalten. Später brachte Lenin, Marx und Engels folgend, ebenfalls immer wieder die höchste Wertschätzung der ideologischen Bemühungen und der Tätigkeit dieses großen russischen Demokraten zum Ausdruck, dessen aufopferungsvolles Leben in ihm das Gefühl der Begeisterung und Liebe gegenüber diesem unvergeßlichen Menschen der russischen Geschichte hervorrief. In vielen seiner Werke beleuchtet Lenin die Anschauungen und die Tätigkeit Tschernyschewskis als „eines großen russischen Revolutionärs", eines „ganz großen Vertreters des utopischen Sozialismus in Rußland", eines Vorläufers der russischen Sozialdemokratie und genialen Führers der zweiten Generation der russischen Revolution. 'Tschernyschewski wa'r einer der Lieblingsschriftsteller Wladimir Iljitschs, der alle seine Werke sehr gut kannte, sie häufig in seinen Arbeiten zitierte und viele seiner Ausdrücke verwandte. *

Die Anfänge der persönlichen Verbindungen von Marx und Engels mit den russischen revolutionären Organisationen reichen bis 1870 zurück, als die Russische Sektion der I. Internationale gebildet wurde. Die Organisatoren dieser Sektion waren aktive Persönlichkeiten der zu dieser Zeit bereits aufgelösten ersten „Semlja i Wolja". Nikolai Utin, ein früheres Mitglied ihres Zentralkomitees, und Anton Trussow, ein ehemaliges Mitglied der „Semlja i Wolja", der in ihrem Namen an dem polnischen Aufstand von 1863 teilgenommen hatte, waren Schüler und Anhänger N. G. Tschernyschewskis. 15

Ebenda, S. 76.

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Auf Verlangen des Komitees der Russischen Sektion gab Karl Marx sein Einverständnis, ihre Interessen im Generalrat der I. Internationale (als Korrespondierender Sekretär für Rußland) wahrzunehmen. N. I. Utin hielt im Namen der Russischen Sektion ständig den Kontakt mit Marx und Engels aufrecht, stand mit ihnen im Briefwechsel und war verschiedentlich im Hause von Marx. In einem seiner Briefe schrieb er: „Ich hoffe, Sie werden den Ausdruck meiner Dankbarkeit für die Güte, die Sie und Ihre Familie sowie Ihr verehrter Freund Engels mir entgegengebracht haben, für keine banale Phrase halten. Es ist mein unwandelbarer Wunsch, diese Aufnahme durch Hingabe und aufrichtigen Dienst an unserer gemeinsamen Sache zu vergelten." 16 Die Russische Sektion — und in erster Linie Utin - kämpfte aktiv gegen Bakunin und dessen Gesinnungsgenossen. Ein so kompetenter Forscher wie B. P. Kozmin kommt zu dem durchaus begründeten Schluß: „Ebenso wie zum Kampf gegen Bakunin wurde die Gruppe ,Narodnoje Delo' auch für die Unterstützung des von Marx geführten Generalrats der Internationale durch den ideologischen Einfluß Tschernyschewskis begeistert." 17 Die Kampfgemeinschaft der Russischen Sektion mit Marx und Engels im Kampf gegen Bakunin und seine Anhänger sowohl in der internationalen als auch in der russischen revolutionären Bewegung hatte konkrete positive Resultate. B. P. Kosmin schreibt dazu: „In dem von Marx geleiteten Kampf des Generalrats der Internationale gegen die Intrigen Bakunins und seiner Anhänger spielten die Mitglieder der Russischen Sektion, die den Generalrat beständig unterstützten, eine ziemlich bedeutende Rolle. Sie w a r e n . . . gezwungen, gleichzeitig auf zwei verantwortlichen Abschnitten der Kampffront zu wirken. Einerseits entlarvten sie beharrlich und konsequent die avanturistischen Thesen und die auf Betrug aufgebaute Taktik Netschajews, der anfänglich im Kontakt mit Bakunin und sogar unter dessen Anleitung arbeitete. Andererseits führten sie insbesondere N. I. Utin - seit dem Kongreß in Chaux-de-Fonds (April 1870) in den schweizerischen Sektionen der Internationale einen un^ Marx/Engels, Briefwechsel mit russischen Politikern, a. a. 0 . , S. 55 (russisch). 17 Kosmin, B. P., Die Russische Sektion der Ersten Internationale, Moskau 1957, S. 178 (russisch).

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unterbrochenen und erbitterten Kampf gegen die Bakunisten. Dabei gelang es ihnen verschiedentlich, den Sieg über ihre Gegner davonzutragen." 1 8 Außer Utin und seinen Genossen nahm Alexander Serno-Solowjewitsch, ein ehemaliges Mitglied des Zentralkomitees der „Semlja i W o l j a " und einer ihrer bekanntesten Führer, an der Arbeit der I. Internationale auf der Seite von Marx und Engels aktiven Anteil. In den Generalrat der I. Internationale wurde auf Vorschlag von Marx der russische Revolutionär Hermann Lopatin aufgenommen, der in dem ideologischen Kampf gegen Bakunin ebenfalls einen ernstzunehmenden Beitrag leistete. *

Obwohl die theoretischen Grundlagen der Volkstümler weit vom Marxismus entfernt und ihm fremd waren, standen Marx und Engels doch viele J a h r e lang nicht nur mit vielen russischen revolutionären Volkstümlern, sondern auch mit den revolutionären Organisationen der Volkstümler in Verbindung. Auf welcher prinzipiellen Basis bauten sich ihre Beziehungen zu den russischen Revolutionären in den siebziger J a h r e n und Anfang der achtziger J a h r e des 19. Jahrhunderts a u f ? M a r x und Engels gingen vor allem von der außerordentlichen Be'deutung aus, die die politische Befreiung Rußlands von der despotischen Selbstherrschaft f ü r die Schicksale des ganzen russischen Volkes hatte. Lenin schrieb in seinem Nekrolog „Friedrich E n g e l s " : „Sie waren beide aus Demokraten zu Sozialisten geworden, und das demokratische Gefühl des Hasses gegen politische Willkür war bei ihnen außerordentlich stark. Dieses unmittelbare politische Gefühl, gepaart mit tiefem theoretischem Verständnis f ü r den Zusammenhang zwischen politischer Willkür und wirtschaftlicher Unterdrückung, sowie ihre reiche Lebenserfahrung machten Marx und Engels gerade in politischer Hinsicht außerordentlich feinfühlig. Der heroische Kampf des kleinen Häufleins russischer Revolutionäre gegen die mächtige Zarenregierung fand daher bei diesen bewährten Revolutionären den wärmsten Widerhall." 1 9 18 19

Ebenda, S. 307. Lenin, W. /., Karl Marx - Friedrich Engels, Berlin 1958, S. 56-57.

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In diesen grundlegenden Zeilen Lenins ist der Schlüssel zum Verständnis für Marx' und Engels' Verhältnis zur revolutionären Bewegung der Volkstümler enthalten. Außerdem hätte die politische Revolution in Rußland auch für die westeuropäische Arbeiterbewegung sehr große Bedeutung gehabt. Lenin schrieb hierzu: „Nur ein freies Rußland... wird das jetzige Europa frei von Kriegsbürden aufatmen lassen, wird alle reaktionären Elemente in Europa schwächen und die Kraft der europäischen Arbeiterklasse mehren. Aus diesem Grunde hegte Engels auch im Interesse der Erfolge der Arbeiterbewegung im Westen den heißen Wunsch, in Rußland möge die politische Freiheit ihren Einzug halten." 2 0 Marx und Engels gingen von dieser Hauptaufgabe aus, als sie Beziehungen zu den revolutionären Organisationen der Volkstümler aufnahmen, wobei sie sie unterschiedlich einschätzten. Sie sympathisierten mit der „Narodnaja Wolja" als einer heldenhaften Kämpferin für die Sache der politischen Befreiung Rußlands, kritisierten aber die „Schwarze Umteilung" als anarchistische Taktik und Negierung des politischen Kampfes. Lenin bemerkte dazu: „Hingegen erschien ihnen die Tendenz, um vermeintlicher ökonomischer Vorteile willen sich von der unmittelbarsten und wichtigsten Aufgabe der russischen Sozialisten, der Eroberung der politischen Freiheit, abzuwenden, naturgemäß verdächtig, ja, das wurde von ihnen geradezu als Verrat an der großen Sache der sozialen Revolution betrachtet." 2 1 In seinem Brief an Sorge vom 5. November 1880 charakterisierte Marx den Kampf innerhalb der Volkstümler zwischen den Anhängern der Narodnaja Wolja und der Schwarzen Umteilung. Er schrieb über die letzteren: „Diese Herrn sind gegen alle politisch-revolutionäre Aktion. Rußland soll durch einen Salto mortale ins anarchistischkommunistisch-atheistische Millennium springen! Unterdes bereiten sie diesen Sprung vor durch widerwärtigen Doktrinarismus, dessen sogenannte Prinzipien seit dem seligen Bakunin sie auf der Straße feilbieten." 22 Auf diesem Brief von Marx verweist Lenin in dem „Vorwort zu den Briefen an Sorge": „Da ist der Brief von Marx vom 5. November 1880. 20 22

21 Ebenda, S. 57. Ebenda. Marx/Engels, Ausgewählte Briefe, Berlin 1953, S. 399 (Fremdwörter verdeutscht) .

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Er frohlockt über den Erfolg des „Kapitals" in Rußland und ergreift Partei für die Narodowolzen gegen die damals eben entstandene Gruppe der „schwarzen Umteiler". Marx erfaßte richtig die anarchistischen Elemente in ihren Ansichten, und da er damals von der sich anbahnenden Evolution der volkstümlerischen „schwarzen Umteiler" zu Sozialdemokraten nicht wußte und auch nicht wissen konnte, griff er die „schwarzen Umteiler" mit aller Schärfe seines beißenden Sarkasmus an." 2 3 Aus all dem geht klar hervor, daß Marx und Engels über diese komplizierte innere Evolution, die die russische revolutionäre Bewegung der siebziger Jahre charakterisierte, im Bilde waren. Gefördert wurde das natürlich vor allem durch die persönlichen Verbindungen, die sie zu einer Reihe russischer Revolutionäre unterhielten. Besonders eng waren Marx und Engels fast eineinhalb Jahrzehnte lang mit dem bedeutenden Revolutionär und Volkstümler Hermann Lopatin verbunden. *

Wenn man die Beziehungen von Marx und Engels mit der Partei „Narodnaja Wolja" charakterisiert, muß man unbedingt in Betracht ziehen, daß diese Partei gerade in jener Periode der historischen Entwicklung Rußlands wirkte, als die Arbeiterklasse noch nicht zum politischen Kampf herangereift war, die „bäuerliche Masse in tiefem Schlaf lag" 24 und die Anhänger der Narodnaja Wolja die einzige revolutionäre Kraft im Lande darstellten, die gegen den Zarismus arbeitete. Marx und Engels erhofften unter Berücksichtigung der in jener Zeit in Rußland entstandenen revolutionären Situation insofern einen Erfolg der „Narodnaja Wolja", als die Beseitigung des Zaren als Signal für die Revolution dienen würde. Erheblich später erläuterte Engels in einem Brief an W. Sassulitsch den Standpunkt von ihm und Marx: „Dies ist einer der Ausnahmefälle, wo es einer Handvoll Leute möglich ist, eine Revolution zu machen, d. h. durch einen kleinen Stoß ein ganzes System zum Einstürzen zu 23 24

Lenin, W. /., Werke, Bd 12, Berlin 1959, S. 375. Derselbe, Sämtliche Werke, Bd XVII, Moskau 1935, S. 272 (Wortumstellung) .

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bringen, das sich in mehr als labilem Gleichgewicht befindet (um mich der Metapher Plechanows zu bedienen), und durch einen an sich unbedeutenden Akt Explosivkräfte freizusetzen, die dann nicht zu zähmen sind . . . Einmal das Feuer ans Pulver gelegt, einmal die Kräfte befreit und die nationale Energie aus potentieller in kinetische transformiert (noch ein Lieblingsbild Plechanows und ein sehr gutes) — so werden die Leute, die das Feuer an die Mine gelegt haben, durch die Explosion mitgerissen werden, die tausendmal stärker sein wird als sie und sich ihren Ausweg suchen wird, wie sie kann, wie die ökonomischen Kräfte und Widerstände entscheiden werden." 2 5 Daher verfolgten Marx und Engels mit angespannter Aufmerksamkeit alle Stadien des heroischen Kampfes der Mitglieder der Narodnaja Wolja und brachten ihnen große Sympathie entgegen. Das war die Zeit der großen Erwartungen. Sie zeigten sich insbesondere in einem so deutlichen Dokument wie einem Brief von Marx und Engels „An den Vorsitzenden des Slawischen Meetings, einberufen am 21. März 1881 zum Jahrestag der Pariser Kommune". In diesem Brief hieß es unter anderem: „Als die Pariser Kommune dem furchtbaren Massaker unterlag, das die Verteidiger der .Ordnung' organisiert hatten, dachten die Sieger wohl nicht daran, daß keine zehn Jahre vergehen würden, bis sich im fernen Petersburg ein Ereignis abspielen würde, das, wenn auch vielleicht nach langen und heftigen Kämpfen, letzten Endes und mit Sicherheit zur Errichtung einer russischen Kommune führen müsse." 26 Aus diesen Worten geht klar hervor, daß Marx und Engels auf einen Erfolg der „Narodnaja Wolja", auf den Sieg der Revolution in Rußland hofften und zu dieser Zeit in der Perspektive die Unausbleiblichkeit der sozialistischen Revolution sahen. Engels erinnerte sich viele Jahre später an den Standpunkt, den er und Marx am Ende der siebziger Jahre eingenommen hatten: „Damals gab es in Rußland zwei Regierungen: die des Zaren und die des geheimen Vollziehungsausschusses der terroristischen Verschwörer. Die Macht dieser geheimen Nebenregierung stieg von Tag zu Tag. Der Sturz des Zarentums schien bevorzustehen; eine Revolution in Rußland mußte die gesamte europäische Reaktion ihrer stärksten Stütze, ihrer großen 25 M

Marx/Engels, Ausgewählte Briefe, Berlin 1953, S. 459. Ebenda, S. 411.

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Reservearmee berauben und dadurch auch der politischen Bewegung des Westens einen neuen, gewaltigen Anstoß und obendrein unendlich günstigere Operationsbedingungen geben." 2 7 Marx und Engels standen auch in Verbindung mit dem Exekutivkomitee der „Narodnaja Wolja". Im Jahre 1880 versprach Marx dem Exekutivkomitee der „Narodnaja Wolja", offensichtlich auf dessen Bitte, eine spezielle Arbeit über die russische Dorfgemeinde zu schreiben. Im Oktober 1880 wandte sich das „Exekutivkommitee der Russischen Sozialrevolutionären Partei", das heißt das Exekutivkomitee der Partei „Narodnaja Wolja", brieflich an Marx. Dieser Brief begann mit Worten hoher Anerkennung und Wertschätzung der Arbeiten von Marx. „Die Klasse der fortschrittlichen Intelligenz Rußlands", hieß es in dem Brief, „die die ideelle Entwicklung Europas immer aufmerksam verfolgt und feinfühlig darauf reagiert hat, begrüßt das Erscheinen Ihrer wissenschaftlichen Arbeiten mit Begeisterung." 2 8 In dem Brief wurde hervorgehoben, mit welchem Interesse Marx alle Stadien des Kampfes der russischen Revolutionäre verfolgt habe, und es wurde die Überzeugung ausgesprochen, „daß die schwerste Zeit dieses Kampfes bereits vorüber und jene Zeit nicht mehr fern ist, da unsere unglückliche Heimat in Europa den Platz einnehmen wird, der eines freien Volkes würdig ist". 29 Das Exekutivkomitee der „Narodnaja Wolja" schrieb weiter, seine Aufgabe würde bedeutend erleichtert, wenn die Sympathien der freien Völker auf seiner Seite seien. Ihrer Meinung nach sei dazu lediglich „die Kenntnis der wahren Sachlage in Rußland erforderlich". Um England und Amerika mit den laufenden Ereignissen des russischen gesellschaftlichen Lebens bekannt zu machen, sende das Exekutivkomitee Leo Hartmann dorthin und bitte Marx, ihm bei der Ausführung der ihm gestellten Aufgabe behilflich zu sein. Allem Anschein nach verhielt sich Marx positiv zu der Bitte des Exekutivkomitees und unterstützte dessen Vertreter. Davon zeugt besonders Hertmanns Brief vom 24. August 1881 aus New York an Engels. Darin teilte Hartmann mit: „Hier angekommen, veröffentlichte 27 28 M

Engels, Friedrich, Internationales aus dem ,Volksstaat', Berlin 1957, S. 86. Marx/Engels, Briefwechsel mit russischen Politikern, S. 251 (russisch). Ebenda, S. 251.

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ich den Befehl, den ich vom Exekutivkomitee erhalten hatte, zugleich damit den Aufruf des Exekutivkomitees an die Amerikaner und den Brief desselben an Marx. Alles dies wurde in Fettdruck im „Herald" abgedruckt und machte einen starken Eindruck." 3 0 Wie aber wurde das alles in den Regierungs- und Gesellschaftskreisen der USA aufgenommen? Der damalige Staatssekretär Mr. Blaine beeilte sich zu erklären, daß die Regierung der USA Hartmann bereitwillig an Rußland ausliefern werde. „Obwohl Gesellschaft und Presse gegen mich sind", schrieb Hartmann an Engels, „gehen meine Angelegenheiten doch ausgezeichnet. Es sind schon vier Wochen, daß die Zeitungen Tag für Tag über mich schreien, mich in den unflätigsten Worten beschimpfen und meinen Namen popularisieren. Wenn ich nicht an Rußland ausgeliefert werde, werde ich hier eine Macht und mache der Bourgeoisie und der Regierung viele Unannehmlichkeiten. Von verschiedenen Seiten erhalte ich Briefe: man drückt mir Sympathie aus, man lädt mich ein, hinzukommen und Meetings durchzuführen. Alle diese Briefe sind von deutschen Sozialisten und nur drei von Amerikanern." 8 1 Diese Aufnahme des Vertreters des revolutionären Rußland in den USA zeigt deutlich, daß das bürgerliche Amerika, damals, vor achtzig Jahren, der Welt das Bild einer ebenso reaktionären Regierungpolitik und Presse bot wie in späteren Jahren. • Obwohl Marx und Engels dem kämpferischen Demokratismus der revolutionären Volkstümler Gerechtigkeit widerfahren ließen, kritisierten sie von der ersten Entwicklung der Volkstümler in Rußland an deren falsche pseudowissenschaftliche Anschauungen über die Besonderheiten der russischen historischen Entwicklung, über die Dorfgemeinde und den Staat und traten gegen den kleinbürgerlichen Sozialismus der Volkstümler auf. Nicht wenige Blätter in den Arbeiten und im Briefwechsel von Marx und Engels sind von einer allseitigen Kritik an der irrigen anarchistischen Konzeption und den Ansichten von Bakunin und Tkatschoff erfüllt und der Bekämpfung ihres Einflusses auf die russische und westeuropäische revolutionäre Bewegung 30

Ebenda, S. 255.

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Ebenda.

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gewidmet. Marx' und Engels' Kampf gegen den Theoretiker und Führer des internationalen und russischen Anarchismus, Bakunin, innerhalb der I. Internationale war von außerordentlich großer Bedeutung sowohl für die Schaffung einer internationalen proletarischen Partei als auch für die Entthronung der falschen Anschauungen und taktischen Prinzipien der Anhänger Bakunins in den Reihen der russischen revolutionären Bewegung. Scharf kritisierten Marx und Engels die Hauptgrundlage der Überzeugungen der Volkstümler — die Theorie von der Eigenständigkeit der russischen historischen Entwicklung und der Theorie der Dorfgemeinde und charakterisierten die reale Bedeutung der russischen Dorfgemeinde und deren tatsächlichen Platz in der historischen Entwicklung Rußlands. Engels legte dar, daß der Gemeinbesitz kein Privileg der slawischen Völker ist, daß der Gemeinbesitz am Boden bei allen indogermanischen Völkern von Irland in Europa bis Indien in Asien bestand, daß sich bis Ende des 19. Jahrhunderts noch eine Reihe von Formen des Gemeinbesitz in Indien gehalten hatte. Somit war die Behauptung der Theoretiker der Volkstümler, nur bei den Slawen gäbe es das Gemeindesystem, das nur ihnen eigentümlich sei und die sie im Unterschied zu der restlichen Welt bewahrt hätten, auf einer fehlerhaften Grundlage und in den Schlußfolgerungen falsch. Daß in Rußland in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts Überbleibsel der Dorfgemeinschaft im Leben der russischen Bauern vorhanden waren, war nicht der Beweis, daß sie in der Entwicklung des Sozialismus ein besonderes Vorrecht vor Westeuropa genossen, sondern daß die sozialen Verhältnisse, die die kapitalistische Entwicklung gehemmt hatten, rückständiger, und die fortschrittlichen Formen der landwirtschaftlichen Produktion unentwickelt waren. Das Gemeindeeigentum an Grund und Boden hatte sich in einen Hemmschuh und eine Fessel der landwirtschaftlichen Produktion verwandelt und war unter den westeuropäischen Verhältnissen durch die Entwicklung des Kapitalismus beseitigt worden. Die Volkstümler behaupteten, in Rußland sei es unmöglich, die Dorfgemeinde zu vernichten, wenn die Regierimg sich nicht für die Hinrichtung von Millionen ihrer Untertanen entscheiden wollte. Engels widerlegte entschieden diese These Tkatschoffs und der anderen Volkstümler und wies nach, daß die Entwicklung der bürgerlichen Verhältnisse in Rußland allmählich das Gemeindeeigentum vernichtet, ohne

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daß die zaristische Regierung sich irgendwie in diesen Prozeß einmischt. Nach der Reform von 1861, die den Bauern äußerst drückende Verhältnisse gebracht hatte, mit einem Stückchen Land, das zur Erreichung des Existenzminimums nicht ausreichte, und mit dem die Kräfte übersteigenden Druck der Abgaben „ist das Gemeindeeigentum an Grund und Boden keine Wohltat mehr, es wird eine Fessel. Die Bauern entlaufen ihm häufig, mit oder ohne Familie, um sich als wandernde Arbeiter zu ernähren, und lassen ihr Land daheim". 32 Engels, der in England lebte, studierte die russische Wirklichkeit genau und analysierte meisterhaft die dort vor sich gehenden Prozesse. Die russischen Volkstümler hingegen ignorierten die Tatsachen, idealisierten die Wirklichkeit und gaben ein falsches Bild von der Lage der russischen Bauern und ihrer Dorfgemeinde. Engels kam zu dem Schluß, daß die Dorfgemeinde in Rußland ihre Blütezeit hinter sich hatte und in Verfall geriet. Zugleich mit dieser Folgerung stellte er fest: „Dennoch ist unleugbar die Möglichkeit vorhanden, diese Gesellschaftsform in eine höhere überzuführen, falls sie sich so lange erhält, bis die Umstände dazu reif sind, und falls sie sich in der Weise entwicklungsfähig zeigt, daß die Bauern das Land nicht mehr getrennt, sondern gemeinsam bebauen; sie in diese höhere Form überzuführen, ohne daß die russischen Bauern die Zwischenstufe des bürgerlichen Parzelleneigentums durchzumachen hätten." 3 3 Das konnte nach Engels' Meinung nur im Falle einer siegreichen proletarischen Revolution geschehen. Dieser Gedanke von Engels — zusammen mit den gleichen Äußerungen von Marx - lag der später von Lenin entwickelten Lehre von der Möglichkeit eines nichtkapitalistischen Entwicklungsweges in den rückständigen und kolonialen Ländern zugrunde bei Bestehen der Diktatur des Proletariats in denjenigen Ländern, die den Weg der kapitalistischen Entwicklung durchgemacht hatten. Zu den konkret historischen Bedingungen Rußlands in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts schrieben Marx und Engels 1882 in ihrem Vorwort zu der russischen Ausgabe des „Kommunistischen Manifests" in der Übersetzung von Plechanow: „In Rußland aber finden wir, gegenüber rasch aufblühendem kapitalistischen Schwindel und sich 32 33

Dieselben, Ausgewählte Schriften in zwei Bänden, Bd II, Berlin 1952, S. 49. Ebenda, S. 49.

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eben erst entwickelndem bürgerlichen Grundeigentum, die größere Hälfte des Bodens im Gemeinbesitz der Bauern. Es fragt sich nun: Kann die russische Obschtschina, eine wenn auch stark untergrabene Form des uralten Gemeinbesitzes am Boden, unmittelbar in die höhere des kommunistischen Gemeinbesitzes übergehen? Oder muß sie umgekehrt vorher denselben Auflösungsprozeß durchlaufen, der die geschichtliche Entwicklung des Westens ausmacht? Die einzige Antwort hierauf, die heutzutage möglich, ist die: Wird die russische Revolution das Signal einer proletarischen Revolution im Westen, so daß beide einander ergänzen, so kann das jetzige russische Gemeineigentum am Boden zum Ausgangspunkt einer kommunistischen Entwicklung dienen." 3 4 Zwölf Jahre später kam Engels auf diese Frage zurück und schrieb in seinem Nachwort zu dem Artikel „Soziales aus Rußland": „Ob von dieser Gemeinde noch so viel gerettet ist, daß sie gegebenenfalls, wie Marx und ich 1882 noch hofften, im Einklang mit einem Umschwung in Westeuropa zum Ausgangspunkt einer kommunistischen Entwicklung werden kann, das zu beantworten, maße ich mir nicht an. Das aber ist sicher: Soll noch ein Rest von dieser Gemeinde erhalten bleiben, so ist die erste Bedingung dafür der Sturz des zaristischen Despotismus, die Revolution in Rußland. Diese wird nicht nur die große Masse der Nation, die Bauern, aus der Isolierung ihrer Dörfer, die ihren ,mir', ihre Welt bilden, herausreißen und auf die große Bühne führen, wo sie die Außenwelt und damit sich selbst, ihre eigne Lage und die Mittel zur Rettung aus der gegenwärtigen Not kennenlernt, sondern sie wird auch der Arbeiterbewegung des Westens einen neuen Anstoß und neue, bessere Kampfesbedingungen geben und damit den Sieg des modernen industriellen Proletariats beschleunigen, ohne den das heutige Rußland weder aus der Gemeinde noch aus dem Kapitalismus heraus, zu einer sozialistischen Umgestaltung kommen kann." 3 5 Indem Marx und Engels die völlige wissenschaftliche Haltlosigkeit der angeblich sozialistischen Prädestination der Artel- und Gemeindegrundlagen der russischen Bauern nachwiesen, versetzten sie gleichzeitig dem entscheidenden Punkt in den Ansichten der Volkstümler 34 35

Dieselben, Werke, Bd 4, Berlin 1959, S. 576. Engels, Friedrich, Internationales aus dem ,Volksstaat', S. 89/90.

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einen Schlag. Marx' und Engels' Kritik an den Volkstümlern spielte eine außerordentlich große Rolle bei der weiteren ideologischen Zerschlagung der Volkstümler durch den revolutionären Marxismus, die von Plechanow eingeleitet und unter Lenins Führung vollendet wurde. Während Marx und Engels die Gemeindetheorie der Volkstümler kritisierten, waren sie sich gleichzeitig völlig darüber im klaren, daß diese Theorie lediglich die ideologische Umhüllung jenes heroischen Kampfes war, den die revolutionären Volkstümler in den siebziger Jahren gegen den Zarismus führten: „Der Glaube an die Wunderkraft der Bauerngemeinde", schrieb Engels, „aus der die soziale Wiedergeburt kommen könne und müsse - ein Glaube, an dem, wie wir sehn, Tschernyschewski nicht ganz unschuldig war - dieser Glaube tat das seinige, die Begeisterung und die Tatkraft der heroischen russischen Vorkämpfer zu steigern. Mit den Leuten, die, kaum ein paar Hundert an Zahl, durch ihre Aufopferung und ihren Heldenmut das absolute Zarentum dahin brachten, daß es schon die Möglichkeit und die Bedingungen einer Kapitulation in Erwägung ziehen mußte — mit diesen Leuten rechten wir nicht, wenn sie ihr russisches Volk hielten für das auserwählte Volk der sozialen Revolution, aber ihre Illusionen brauchen wir deshalb nicht zu teilen. Die Zeit der auserwählten Völker ist für immer vorbei." 3 6 Ein wesentliches Element in den Anschauungen der Volkstümler bestand darin, daß sie den Staat in Rußland als eine Kraft betrachteten, die nicht mit bestimmten sozialen Schichten der Gesellschaft zusammenhing und gewissermaßen in der Luft schwebte. Diese Art von „Theorie" kritisierte Engels heftig und machte sie schonungslos lächerlich. Als Antwort auf Tkatschoffs Behauptung, der russische Staat hinge in der Luft und habe mit der bestehenden sozialen Ordnung nichts Gemeinschaftliches, schrieb Engels in seinem Artikel „Flüchtlingsliteratur" über jene sozialen Kräfte, deren Interessen die Selbstherrschaft zum Ausdruck brachte und auf die sie sich stützte, um darzulegen, was das russiche Reich in Wirklichkeit darstellte. Natürlich führte Engels vor allem den Adel an, indem er mit den Zahlen der Bodennutzung und des Grundbesitzes das feudale, auf die Leibeigenschaft gegründete Wesen des russischen Zarismus aufdeckte. Danach erwähnte Engels die schnell wachsende russische 38

Ebenda, S. 71.

Die revolutionäre Bewegung in Rußland

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Bourgeoisie und bemerkte zum Schluß ironisch, daß es ihm dünke, „als sei es nicht der russische Staat, der in der Luft hängt, sondern vielmehr Herr Tkatschoff". 37 Indem Engels die verschiedenen theoretischen Dogmen der Volkstümler kritisiert, gibt er zugleich eine sehr gründliche Erklärung der Ursachen, die das Auftreten derartiger Ideen in Rußland veranlaßt haben. In diesem Zusammenhang schrieb er an Plechanow: „Übrigens kann man sich in einem Land wie dem Ihrigen, wo die moderne große Industrie auf die primitive Dorfgemeinschaft aufgepfropft ist und wo alle Zwischenphasen der Zivilisation zu gleicher Zeit vertreten sind, in einem Lande, das außerdem mehr oder weniger wirksam von einer durch den Despotismus errichteten geistigen Chinesischen Mauer umgeben ist, nicht darüber wundern, wenn dort die bizarrsten und unmöglichsten Ideenkombinationen auftreten. Sehen Sie sich den armen Teufel Flerowski an, der sich einbildet, daß die Tische und Betten zwar denken, aber kein Gedächtnis haben. Dies ist eine Phase, durch die das Land hindurchgehen muß. Nach und nach wird mit dem Wachsen der Städte die Isolierung der begabten Leute verschwinden und mit ihr die geistigen Verirrungen, die auf die Einsamkeit dieser wunderlichen Denker, auf die Zusammenhanglosigkeit ihrer sporadischen Kenntnisse . . . zurückzuführen sind." 3 8 Obwohl, wie wir schon bemerkt haben, sogar die besten Volkstümler dem Marxismus sehr fernstanden, muß man im Auge behalten, daß in den siebziger bis achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts eine Reihe der Werke von Marx und Engels in das Russische übersetzt und danach unter unmittelbarer aktiver Beteiligung der revolutionären Volkstümler in Rußland verbreitet wurde. Insbesondere wurde der I. Band des „Kapital" unter Beteiligung von Hermann Lopatin übersetzt. *

Marx' Todesjahr, als „die Menschheit um einen Kopf kürzer gemacht wurde, und zwar um den bedeutendsten Kopf, den sie in jener Zeit hatte", war das Jahr, in dem sich die erste marxistische Gruppe in der russischen revolutionären Bewegung, die Gruppe „Befreiung der Arbeit" unter der Führung von G. W. Plechanow, bildete. 37 38

Marx/Engels, Ausgewählte Schriften in zwei Bänden, Bd II, S. 44. Dieselben, Ausgewählte Briefe, a. a. O., S. 580.

7 Friedrich Engels, Bd. 1

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Marx war es nicht beschieden, die Arbeit seiner russischen Anhänger, der Verkünder des näherrückenden Sieges der großen marxistischen Ideen in der Arbeiterklasse Rußlands zu sehen. Engels überlebte seinen Freund um zwölf Jahre und hatte das Glück, sich zu überzeugen, wie Rußland, auf das er und Marx so viele Hoffnungen gesetzt hatten, fest in die für immer mit ihren Namen verbundene große Bewegung des 19. Jahrhunderts eingegliedert wurde. Vom ersten Augenblick an unterhielt die Gruppe „Befreiung der Arbeit" eine systematische und enge Verbindung mit F. Engels aufrecht, der ihr während ihrer ganzen Geschichte jegliche Unterstützung und freundschaftliche Hilfe artgedeihen ließ. Im Herbst 1883 übersandte Vera Sassulitsch Engels das erste programmatische Dokument der Gruppe — die Mitteilung über die Herausgabe der „Bibliothek des modernen Sozialismus", das in Form eines Flugblattes in Genf erschienen war. Darin hieß es: „Indem sie ihr Programm jetzt im Sinne des Kampfes gegen den Absolutismus und der Organisierung der russischen Arbeiterklasse in einer besonderen Partei mit festem sozialen und politischen Programm abändern, bilden die ehemaligen Mitglieder der Gruppe ,Schwarze Umteilung' nun eine neue Gruppe — die ,Befreiung der Arbeit' - und brechen endgültig mit den alten anarchistischen Tendenzen." 39 Einige Zeit später berichtete V. Sassulitsch Engels von dem großen Interesse, das in den russischen revolutionären Kreisen für die sozialistische Theorie bestand. Sie schrieb: „Das wundert Sie vielleicht, aber unsere jungen Zirkel der Narodowolzen und Volkstümler beginnen gerade jetzt stärker als irgendwann, sich für Fragen der Theorie zu interessieren... Die Aufnahme, die unserem Vorhaben — der Propaganda des wissenschaftlichen Sozialismus — in Rußland zuteil wird, kündet uns einen Erfolg an, der alle unsere Erwartungen weit übertrifft." 4 0 In seiner Anwort auf diesen Brief schrieb Engels mit großer Genugtuung: „Der theoretische und kritische Geist, der fast völlig aus unseren deutschen Schulen verschwunden ist, scheint in der Tat in Rußland Zuflucht gefunden zu haben." 4 1 39

Dieselben, Briefwechsel mit russischen Politikern, a. a. 0., S. 302 (russisch). « Ebenda, S. 304. 41 Dieselben, Ausgewählte Briefe, a. a. O., S. 440.

Die revolutionäre Bewegung in Rußland

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In einem anderen Brief, in dem er seine Meinung über Plechanows Buch „Unsere Meinungsverschiedenheiten" darlegte, definierte Engels die Bedeutung der Gründung der Gruppe „Befreiung der Arbeit": „Ich bin stolz darauf, zu wissen, daß es unter der russischen Jugend eine Partei gibt, die offen und ohne Umschweife die großen ökonomischen und historischen Theorien von Marx annimmt und die entschieden mit allen anarchistischen und den, wenn auch geringen, slawophilen Traditionen ihrer Vorgängerinnen gebrochen hat. Und Marx selbst wäre ebenso stolz darauf gewesen, wenn er noch etwas länger gelebt hätte. Das ist ein Fortschritt, der von großer Bedeutung für die revolutionäre 'Entwicklung Rußlands sein wird." 4 2 Im Jahre 1885 gab Vera Sassulitsch eine Charakterisierung der Lage der revolutionären Bewegung in Rußland und hob dabei in ihrem Brief an Engels zwei wesentliche Umstände hervor. Erstens, daß alle auch nur etwas reifen Elemente vom Tätigkeitsfeld vertrieben sind, wodurch ganz grüne Studenten den Hauptanteil der Untergrundorganisationen bilden. Zweitens, daß das Credo der „Narodnaja Wolja" diese Studenten schon nicht mehr befriedigt. „Bei der Mehrheit von ihnen ist alles in Zweifel gestellt, nicht ausgenommen die Allmacht des Dynamits, die Eroberung der Macht und sogar die Dorfgemeinde selbst." 4 3 Fünf Jahre vergingen, und in ihrem nächsten Brief an Engels schrieb Vera Sassulitsch zu demselben Thema über den Riß, der mitten durch die russische studierende Jugend läuft, die sich früher für sozialistisch hielt, aber ihrer Meinung nach nur bakunistisch-volkstümlerisch war und jetzt „sind die einen Sozialisten in unserem Sinne des Wortes, die anderen eignen sich immer mehr rein bürgerliche Anschauungen an". Diese Spaltung sah sie als unvermeidlich an und gelangte, davon ausgehend, zu einer Schlußfolgerung in bezug auf die weitere Ausrichtung der Tätigkeit der Gruppe „Befreiung der Arbeit", wobei sie den für Lawrow charakteristischen Eklektizismus und theoretischen Wirrwarr kritisierte. „Und gerade in einem solchen kritischen Augenblick unserer Bewegung halten wir es für unsere Pflicht, eine vorbehaltlose Propaganda des revolutionären Arbeitersozialismus, der Prinzipien des Marxismus zu betreiben und möglichst große Klarheit in den ideo42

Ebenda, S. 458.

43

Dieselben, Briefwechsel mit russischen Politikern, a. a. 0., S. 311 (russisch).

7*

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logischen Wirrwarr zu bringen, der unserer Bewegung sehr schädlich ist, damit nicht Lawrow aus diesem Anlaß redet, für den alle Programme gleich gut sind, wenn sie sich nur Sozialisten nennen und versprechen, ,die Fahne hochzuhalten'! Das ist unsere Pflicht, und wir tun alles, was in unseren Kräften steht."

44

Dadurch, daß Engels von den Mitgliedern der Gruppe „Befreiung der Arbeit" eine derartige Charakteristik der revolutionären Bewegung in Rußland erhielt, half er zwölf lange J a h r e hindurch — in Antwortbriefen und persönlichen Gesprächen -

durch seine Ratschläge die

schwierigen Fragen zu lösen, denen sich die ersten russischen Marxisten in ihrer tagtäglichen propagandistischen Tätigkeit

gegenübergestellt

sahen. Damit erwies Engels der Sache der Verbreitung des Marxismus in unserem Lande unschätzbare Dienste. *

In den Wechselbeziehungen zwischen Engels und den russischen Revolutionären traten seine besten Züge als Führer der internationalen Arbeiterbewegung und als Mensch mit kommunistischen

Prinzipien

hervor: Erstens

sein proletarischer

Internationalismus.

Er

sympathisierte

leidenschaftlich mit der russischen revolutionären Sache sowohl im Interesse der internationalen Arbeiterbewegung als auch im Interesse der russischen Volksmassen, die er liebte und hochschätzte. Zweitens seine strengen Anforderungen an sich selbst, wenn er an die Beurteilung der inneren Lage heranging, die sich in dieser oder jener Periode in Rußland herausgebildet hatte, wenn er die Aufgaben und Perspektiven der russischen revolutionären Bewegung definierte. Ein besonders beredtes Zeugnis dafür ist seine Antwort, als man ihn 1893 bat, in der Presse zu diesen Fragen Stellung zu nehmen: „Was die brennenden Fragen der revolutionären Bewegung in Rußland und jene Rolle anbelangt, die der Bauernschaft darin vielleicht zu spielen gelingen wird, so kann ich, offen gesagt, darüber in der Presse keine Meinung äußern, da ich den ganzen Gegenstand jetzt nicht von neuem studiert und meine ganz unzureichenden Kenntnisse der Tatsachen nicht nach den neuesten Angaben vervollständigt habe." « Ebenda, S. 319.

45

Ebenda, S. 284.

45

Die revolutionäre Bewegung in Rußland

101

Drittens sein wahrhaft freundschaftliches, tief menschliches Verhältnis zu jenen russischen Revolutionären, mit denen er verkehrte und für die gemeinsamen Ziele kämpfte. Allgemein bekannt ist, wie freundschaftlich er und Marx sich zu Hermann Lopatin verhielten, dessen persönliche Qualitäten - Hingabe an die Sache der Revolution und ausnehmende Kühnheit und Entschlossenheit — sie hochschätzten. Als Vera Sassulitsch, die Engels näher kannte, schwer erkrankte, erwies er ihr mit dem ihm eigenen Takt und Zartgefühl jegliche Hilfe, bis zur Sorge um den Besuch des Arztes. Nach Marx' Tode machte Engels das Angebot, die von seinem Freund hinterlassene große Sammlung russischer Bücher als Grundstock „bei der Schaffung einer Bibliothek der russischen revolutionären Emigration" zu verwenden.46 Viertens sein Demokratismus, seine Natürlichkeit im Umgang mit allen seinen Mitkämpfern für die gemeinsame Sache und die tiefe Feindschaft gegen jede Art von „Lobgesang". Er schrieb Plechanow: „Lieber Plechanow! Vor allem bitte ich Sie, mich nicht mit ,Lehrer' zu titulieren. Ich heiße einfach Engels". 47 *

Im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts verstärkte sich Marx' und Engels' Überzeugung von der künftigen avantgardistischen revolutionären Rolle Rußlands mit jedem Jahrfünft; begünstigt wurde das durch die schnelle Entwicklung der kapitalistischen Industrie in Rußland nach der Reform, die Herausbildung einer Arbeiterklasse und die Entstehung einer proletarischen Bewegung. Im Herbst 1875 kommt Engels in einem Brief an Bebel, in dem er über den reaktionären Charakter der Politik der zaristischen Regierung spricht, zu dem Schluß, daß es fast scheine „als ob der nächste Tanz in Rußland losgehen sollte". 48 In Engels' Ton, aber noch viel kategorischer, hatte sich Marx zwei Jahre t zuvor in einem Brief an seinen alten Freund Sorge im gleichen Sinne geäußert: „Die Revolution beginnt diesmal im Osten, wo das bisher unverletzte Bollwerk und die 46

Ebenda, S. 269.

47

Ebenda, S. 326.

48

Dieselben, Ausgewählte Briefe, S. 356.

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Reservearmee der Konterrevolution gewesen ist." 4 9 Immer von lebensbejahendem Optimismus, von Hoffnungen auf eine bessere Zukunft und vom Glauben an den künftigen Sieg der Revolution erfüllt, sagte Marx in diesem Brief an Sorge: „Wenn Mutter Natur uns nicht besonders unfreundlich ist, werden wir diesen Triumph noch erleben!", das heißt den Sieg der Revolution in Rußland. Leider war es dem großen Führer des Proletariats nicht vergönnt, diese bedeutenden T a g e zu erleben. Im Vorwort zur russischen Übersetzung des „Manifest der Kommunistischen Partei" schrieben Marx und Engels, „Rußland bildet die Vorhut der revolutionären Aktion von E u r o p a " . 5 0 „Und wenn der Teufel der Revolution irgend jemanden am Kragen packt, so ist es Nikolaus II.", schrieb Engels 1895 an Plechanow. Diese künftige Revolution in Rußland dachte sich Engels damals als bürgerlich-demokratische Revolution, als russisches J a h r 1789. In seiner Polemik mit dem Volkstümler Tkatschoff trat Engels dessen unbegründeten Behauptungen entgegen, die Revolution „werde eine sozialistische sein, sie werde die vom westeuropäischen Sozialismus erstrebte Gesellschaftsform in Rußland einführen, noch ehe wir im Westen dazu gelangen — und das bei Gesellschaftszuständen, wo Proletariat wie Bourgeoisie nur erst sporadisch und auf niederer Entwicklungsstufe vorkommen". 5 1 Es braucht nicht gesagt zu werden, daß von Anfang bis Ende zutraf, was Engels Tkatschoff entgegnete. In der Mitte der achtziger Jahre kennzeichnete Engels in einem Brief an Vera Sassulitsch, als er von dem Heranrücken der revolutionären Explosion in Rußland sprach, die künftige russische Revolution als bürgerlich-demokratisch: „Da, wo die Lage so gespannt ist, wo sich die revolutionären Elemente in einem solchen Grade angesammelt haben, wo die ökonomische Lage der ungeheueren Masse des Volkes von Tag zu T a g unmöglicher wird, wo alle Stufen der gesellschaftlichen Entwicklung vertreten sind, von» der Urgemeinschaft bis zur modernen Großindustrie und Hochfinanz, und wo alle diese Widersprüche gewaltsam zusammengehalten werden durch einen beispiellosen Despotismus, einen w

60 61

Marx/Engels, Briefe und Auszüge aus Briefen . . . an F. A. Sorge und andere, Stuttgart 1906, S. 157. Dieselben, Werke, Bd 4, Berlin 1959, S. 576. Dieselben, Ausgewählte Schriften in 2 Bänden, Bd II, S. 45.

Die revolutionäre Bewegung in Rußland

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Despotismus, der immer unerträglicher wird für eine Jugend, die in sich die nationale Intelligenz und Würde vereint — wenn dort das 1789 einmal begonnen hat, wird das 1793 nicht auf sich warten lassen." 6 2 Im Gespräch mit einem Russen, Alexei Woden, der 1893. Engels in London mit einem Empfehlungsschreiben von Plechanow aufsuchte, äußerte Engels bedeutsame Gedanken über die Rolle der Agrarfrage für das Schicksal der russischen Revolution. Engels sprach über die begrenzten Möglichkeiten, äußere Märkte für die russische Industrie zu gewinnen, darüber, daß der einzige Weg für eine Erweiterung des Binnenmarktes der Übergang „des Gutsbesitzerlandes an die Bauern ist, daß das die Grundfrage des künftigen Rußland ist; daß der russische Sozialdemokrat, der dieses Namens würdig ist, die Pflicht hat, das Programm der Bodenenteignung, vor allem des Gutsbesitzerlandes... begründen zu können, und zwar nicht durch Zitate aus Marx, sondern indem er die Frage durchdenkt, wie es Marx getan haben würde." 5 3 Ein solcher russischer Sozialdemokrat war der große Fortsetzer von Marx und Engels, W. I. Lenin, der in jenen neunziger Jahren in seinem Buch „Was sind die ,Volksfreunde' " und in anderen Arbeiten das Programm der russischen Revolution begründete, indem er konkret den ihm unbekannten Gedanken von Engels entwickelte. Während Marx und Engels in den sechziger und siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts keinen Grund hatten, von irgendeiner ernsthaften revolutionären Rolle des Proletariats in Rußland zu sprechen, das sich damals erst allmählich herausbildete, sagte Engels in den neunziger Jahren mit aller Bestimmtheit, „er begrüße natürlich das Auftreten der Arbeiter und sei überzeugt, daß sie die entscheidende Rolle bei der Beseitigung der Selbstherrschaft spielen würden". Demnach betrachtete Engels die schnell wachsende und zu einer bewußten politischen Tätigkeit emporgestiegene Arbeiterklasse Rußlands als die avantgardistische Kraft der künftigen russischen Revolution. Marx und Engels hielten es für unvermeidlich, daß es in Rußland ein eigenes 1789 und 1793, das heißt eine bürgerlich-demokratische Revolution geben würde, sahen aber, wie schon weiter oben bemerkt, als Perspektive die russische sozialistische Revolution - die „Russische Kommune". 5i 53

Dieselben, Ausgewählte Briefe, S. 459-460. Jahrbücher des Marxismus, Bd IV, 1927, S. 91 (russisch).

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Lenin schrieb: „Marx und Engels waren vom freudigen Glauben an die russische Revolution und an ihre gewaltige Bedeutung für die Welt erfüllt." 5 4 Marx und Engels erwarteten mehr als einmal im Laufe der letzten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts den Ausbruch der Revolution in Rußland. Dazu schrieb Lenin: „Jawohl, Marx und Engels irrten viel und häufig in der Bestimmung der Zeitspanne bis zur Revolution, in ihren Hoffnungen aüf den Sieg der Revolution... Aber solche Fehler der Giganten des revolutionären Denkens, die das Proletariat der ganzen Welt über die kleinlichen, alltäglichen Groschenaufgaben zu erheben suchten und erhoben, sind tausendmal edler, erhabener, historisch wertvoller und wahrhafter als die banale Weisheit des zopfigen Liberalismus, der deklamiert, lamentiert, trompetet und orakelt über die Eitelkeit der revolutionären Eitelkeiten, über die Vergeblichkeit des revolutionären Kampfes, über den Zauber konterrevolutionärer (konstitutioneller' Hirngespinste..." 5 5 Aber letzten Endes bestätigten sich Marx* und Engels' Hoffnungen auf die revolutionäre Rolle Rußlands, ihre wissenschaftliche Prognose und ihre Prophezeiung glänzend, wenn auch nicht zu dem Zeitpunkt, den sie mit all ihrem unbändigen revolutionären Temperament erwartet hatten. Das Zentrum der revolutionären Bewegung verschob sich tatsächlich von Westen nach Osten, nach Rußland, das unter Führung von W. I. Lenin und der bolschewistischen Partei zur Avantgarde der proletarischen Revolution wurde. In seinem Artikel über Friedrich Engels, der 1905 in der Zeitschrift „Die Neue Zeit" abgedruckt wurde, schrieb Franz Mehring über die Entwicklung der revolutionären Bewegung in Rußland als einem gewaltigen Auflodern der Flammen, deren Funken Engels zusammen mit Marx geschürt hatten: „Als Revolutionäre, die sie vom Scheitel bis zur Zehe, die sie all ihr Lebtag waren, haben sie im Sturze des zaristischen Despotismus stets eine große Wende der proletarischen Revolution gesehen... Ihm den Stoß ins Herz zu führen, war eine Aufgabe, die sie nie aus den Augen verloren haben. An ihrem Geiste und an ihren Lehren hat sich die Kerntruppe der russischen Revolution 54 55

Lenin, W. /., Werke, Bd 12, Berlin 1959, S. 374. Ebenda, S. 376.

Die revolutionäre Bewegung in Rußland

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genährt, und der Morgensonnenschein, der im Osten sich verbreitet, sendet seine Grüße zum Friedhofshügel in der englischen Metropole, wo der Revolutionär Marx schlummert, und über die Wogen des Meeres, in denen die Asche des Revolutionärs Engels zerstäubt ist." 5 6 Der Oktober 1917 vollendete das in den Jahren 1 9 0 5 - 1 9 0 7 begonnene Werk. Die prophetischen Worte unserer großen Lehrer gingen in Erfüllung — die Russische Kommune wurde 1917 gegründet. Heute ist unsere Heimat ein mächtiger sozialistischer Staat, der die kommunistische Gesellschaft aufbaut. 69

Mehring, Franz, Friedrich Engels. I n : „Die Neue Zeit" 23. Jg., Bd 2, S. 555.

Der Kampf Friedrich Engels' um die Durchsetzung der marxistischen Revolutions- und Staatstheorie gegen den staatssozialistisch orientierten Opportunismus in den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts HORST B A R T E L

In dem vorliegenden Referat soll der Versuch unternommen werden, den Kampf von Friedrich Engels um die Durchsetzung der marxistischen Revolutions- und Staatstheorie und deren Bedeutung für die Auseinandersetzungen mit dem Opportunismus unter besonderer Berücksichtigung des Ringens der deutschen Sozialdemokratie gegen den preußisch-deutschen Militärstaat in den Jahren von 1881 bis 1887 zu zeigen. Natürlich wird es sich nicht umgehen lassen, auf andere wesentliche Ereignisse in der Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung zurückzugreifen und auch vorzugreifen. Ich habe dieses Thema deshalb gewählt, weil sich gerade an Hand dieser Problematik eine Reihe von grundsätzlichen Fragen erörtern läßt, die sowohl für die Geschichte der Arbeiterbewegung des letzten Drittels des 19. Jahrhunderts als auch für die heutige Zeit grundsätzliche Bedeutung haben. Selbstverständlich kann es nicht die Aufgabe des Referats sein, die marxistische Revolutions- und Staatstheorie selbst und ihre verschiedenen Aspekte zu behandeln, mir geht es vor allem um ihre Anwendung im Kampf gegen den durch und durch reaktionären militaristischen Obrigkeitsstaat in den letzten drei Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts. Ich glaube, daß die von mir vorgenommene Eingrenzung des Themas auch insofern berechtigt ist, als doch schon über den Kampf Friedrich Engels' gegen den Opportunismus eine umfangreiche Literatur existiert. 1 1

Hier sei nur auf folgende Arbeiten verwiesen: Stepanowa, E. A., Friedrich Engels. Sein Leben und Werk. Berlin 1958. - Engelberg, Ernst, Revolutionäre Politik und Rote Feldpost 1878-1890. Berlin 1959. - Gemkow, Heinrich, Friedrich Engels' Hilfe beim Sieg der deutschen Sozialdemokraten über das Sozialistengesetz. Berlin 1957.

Der Kampf gegen den staatssozialistisch orientierten Opportunismus

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Nach wie vor ist die Grundfrage jeder echten revolutionären Arbeiterbewegung ihr Verhältnis zur marxistischen Staats- und Revolutionstheorie. Solange die Arbeiterbewegung existiert, haben sich stets die revolutionär-proletarischen Kräfte von den opportunistisch-kleinbürgerlichen Elementen durch ihre grundsätzlich verschiedene Stellung zum kapitalistischen und proletarischen Staat unterschieden. Das trifft für das 19. Jahrhundert ebenso zu wie für die Gegenwart und wird heute in Deutschland ganz besonders in dem prinzipiellen Gegensatz zwischen der SED und der KPD einerseits und den SPD-Führern andererseits sichtbar. Besteht in der Deutschen Demokratischen Republik bereits ein Arbeiter-und-Bauern-Staat, der erfolgreich den Sozialismus aufbaut, so ist in Westdeutschland der alte imperialistisch-militaristische Staat, diesmal im klerikalen Gewände, wiedererstanden, der von den rechten Führern der SPD vorbehaltlos unterstützt wird. Ausdrücklich bekannten sie sich im Godesberger Programm, der Kapitulationsurkunde der SPDFührer vor dem deutschen Militarismus und Imperialismus, zum klerikal-militaristischen Obrigkeitsstaaat und fixierten in ihm die ungeheuerlich anmutende Feststellung: „Regierung und Opposition haben verschiedene Aufgaben von gleichem Rang, beide tragen Verantwortung für den Staat." 2 Was die rechten SPD-Führer unter dieser Verantwortung verstehen, hat die bisherige Entwicklung völlig klargemacht. Am 30. Juni 1960 stimmten Wehner, Brandt, von Knoeringen, Mommer, Erler und andere der NATO-Außenpolitik Adenauers zu, und auf dem Parteitag in Hannover 1960 setzten die gleichen Kräfte gegen den Willen der Mehrheit der Partei eine Entschließung durch, in der faktisch der atomaren Aufrüstung der Bundeswehr zugestimmt wird. Auch dies ist eine Konsequenz des Godesberger Programms, in dem schon formuliert wurde, daß die SPD die „Landesverteidigung" bejahe. 3 Doch nicht genug damit. Ebenso wie die Repräsentanten des Imperialismus und Millitarismus, Adenauer, Strauß, Globke, Schröder und andere betreiben die amerikanisch orientierten Führer der SPD die Politik des Antikommunismus und bekämpfen wütend die sozialistischen Staaten, vor allem den in 2 3

Vgl. das Godesberger Programm. In: „Vorwärts" vom 20. November 1959. Ebenda.

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HORST BARTEL

Deutschland entstandenen Arbeiter- und Bauernstaat. Somit gibt es keine einzige politische Grundfrage mehr, in der die rechten SPDFührer nicht mit den deutschen Imperialisten übereinstimmen. Wehner und Brandt haben dies mit der Erklärung, es gäbe in Deutschland zur Adenauer-Politik keine Alternative mehr, auf dem Parteitag zu Hannover noeh einmal bekräftigt. Höhepunkt des Verrats dieser sogenannten Arbeiterführer an den Interessen der Arbeiterklasse und des ganzen deutschen Volkes bildete jedoch die Rede Brandts auf dem Parteitag zu Hannover, in der er unmißverständlich zum Ausdruck brachte, daß die SPD-Führer nicht nur bereit seien, die Innen- und Außenpolitik Adenauers zu unterstützen, sondern sie notfalls selbst durchzuführen. Dafür gibt es selbst in der Geschichte des deutschen Opportunismus keine Parallele, es überbietet alles bisher Dagewesene. Im Unterschied zur Politik der Opportunisten zu Beginn des ersten und zweiten Weltkrieges hat er nunmehr eine Stufe erreicht, in der er unmittelbar an der Vorbereitung eines atomaren Weltkrieges gegen die sozialistischen Staaten beteiligt ist. Es braucht hier nicht besonders betont zu werden, daß mit dieser Politik die völlige Preisgabe auch der letzten Überreste sozialistischer Traditionen und Forderungen einhergeht. Doch in dem Maße, wie die rechten SPD-Führer den Anschluß an die Adenauer-Politik forcieren, wächst auch der Widerstand der Arbeiter in der SPD gegen diese Politik. Dies wurde auf dem Parteitag zu Hannover deutlich und zeigte sich selbst im Auftreten solcher Parteivorstandsmitglieder wie Ludwig Metzgers oder anderer Delegierter, die eindringlich vor den Gefahren der Atomaufrüstung und den Gefahren des deutschen Militarismus warnten. Sie brachten die Meinung der sozialdemokratischen Arbeiter zum Ausdruck, die von der SPDFührung eine echte Arbeiterpolitik gegen den deutschen Militarismus im Sinne August Bebels verlangen und die daher durchaus nicht mit der Aufgabe der sozialistischen Traditionen einverstanden sind. Aus allen diesen Gründen haben Untersuchungen über die Politik der im 19. Jahrhundert einstmals revolutionären Sozialdemokratie und vor allem über die Rolle von Karl Marx und Friedrich Engels in dieser Partei im Hinblick auf den Kampf gegen den preußisch-deutschen Militarismus nicht nur historische, sondern eminent praktisch-politische Bedeutung. Es gilt, die wahren sozialistischen Traditionen der deutschen Arbeiterbewegung aufzuspüren und sie dem heutigen Kampf

Der Kampf gegen den staatssozialistisch orientierten Opportunismus

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der Arbeiterklasse dienstbar zu machen. Vor allem aber gilt es, den westdeutschen Arbeitern zu beweisen, daß eine echte revolutionäre Arbeiterpolitik im Ringen um Demokratie und Sozialismus nur möglich ist, wenn sie die Lehren von Marx, Engels und Lenin befolgen und den Opportunismus, in welcher Form immer er auftreten mag, entschieden bekämpfen. *

Ausgangspunkt für die richtige Anwendung der marxistischen Revolutions- und Staatstheorie auf die Politik der Arbeiterklasse in den einzelnen Etappen des Klassenkampfes um die politische Macht bildet eine sorgfältige Analyse des Kräfteverhältnisses der Klassen und die Einschätzung der Formen und des Inhalts der Herrschaft, in denen die einzelnen Klassen ihre Macht ausüben. Daher ist es nicht zufällig, daß Marx und Engels nach der Gründung des Deutschen Reiches 1871 als erstes eine richtige Einschätzung des Klassenwesens des neugegründeten Staates gegeben haben. So charakterisierte Engels bereits 1874 im „Volksstaat" das Deutsche Reich als wahren Repräsentanten des Militarismus 4 , und Marx definierte 1875 den in Versailles gegründeten preußisch-deutschen Obrigkeitsstaat als einen Staat, „der nichts anderes als ein mit parlamentarischen Formen verbrämter, mit feudalem Beisatz vermischter, schon von der Bourgeoisie beeinflußter, bürokratisch gezimmerter, polizeilich gehüteter Militärdespotismus" 5 war. Andererseits aber waren Marx und Engels die letzten, denen etwas daran lag, die erfolgte Reichseinigung rückgängig machen zu wollen. Ein derartig dogmatisch bornierter, partikuliaristischer Standpunkt war ihnen natürlich zutiefst fremd. Statt dessen schrieb Engels, den dialektischen Zusammenhang von staatlicher Einheit und Demokratie herausstellend: „Und wir haben nicht die 1866 und 1870 gemachte Revolution von oben wieder rückgängig zu machen, sondern ihr die nötige Ergänzung und Verbesserung zu geben durch eine Bewegung von unten." 6 Auch auf die Frage, mit welchem Ziel die „Bewegung von unten" geführt werden müsse, gab Engels eine klare Antwort. Unter 4

5

6

Engels, Friedrich, Offiziöses Kriegsgeheul. In: Marx/Engels/Lenin/Stalin, Zur deutschen Geschichte. Bd. II/2, Berlin 1954, S. 948. Marx, Karl, Randglossen zum Programm der deutschen Arbeiterpartei. In: Ebenda, S. 960. Engels, Friedrich, Zur Kritik des sozialdemokratischen Programmentwurfs. 1891. In: Ebenda, S. 1135/36.

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Horst Bahtel

den damaligen historischen Bedingungen konnte das Ziel einer solchen Volksbewegung nur der Sturz des preußisch-deutschen Militärstaates und die Errichtung der demokratischen Republik sein, die selbstverständlich noch notwendigerweise eine Form der bürgerlichen Klassenherrschaft repräsentieren mußte, aber dem Proletariat weitaus günstigere Kampfbedingungen bot. Daher schrieb Engels 1 8 8 4 : „Und doch bleibt die demokratische Republik immer die letzte Form der Bourgeoisieherrschaft; die, in der sie kaputt geht." 7 1891 wiederholte er in seiner berühmten Kritik am Erfurter Programmentwurf diesen Gedanken und begründete ihn nochmals im einzelnen. 8 Es braucht nicht besonders betont zu werden, daß Engels bei der Begründung der Forderung nach der, demokratischen Republik stets vom Standpunkt des Proletariats und der proletarischen Revolution ausging. Lediglich solche „Engelsverbesserer" wie Georg Lukacs wollen vergessen machen, daß Engels von dieser Position aus die Aufgaben in den einzelnen Etappen des Klassenkampfes, die der Befreiungskampf der Arbeiterklasse notwendigerweise durchlaufen mußte, bestimmte. Engels betrachtete stets den Kampf um die demokratische Republik als eine notwendige Etappe auf dem Wege zur Diktatur des Proletariats, wobei unter den damaligen Bedingungen der Sturz des preußisch-deutschen Militarismus selbstverständlich nur mit revolutionären Mitteln herbeigeführt werden konnte. Gerade auf die Klarstellung des letzteren legten Marx und Engels allergrößten Wert. Es wäre jedoch falsch und einseitig, anzunehmen, daß der Kampf um die demokratische Republik nur den Belangen der Arbeiterklasse entsprochen hätte; er lag ebensosehr im Interesse des ganzen deutschen Volkes. Denn der preußisch-deutsche Militärstaat unterdrückte im Innern nicht nur die Arbeiterbewegung (besonders in der Zeit des Sozialistengesetzes), sondern überhaupt jede demokratische Bewegung und nicht zuletzt auch die in Deutschland lebenden nationalen Minderheiten, wie Polen, Dänen, Franzosen und Sorben. Darüber hinaus führte das von ihm entfesselte Wettrüsten in Europa zu einer ständigen Verschlechterung der Lebenslage der werktätigen Massen und beschwor die Gefahr eines Weltkrieges herauf. In diesem Zusammenhang 7

s

Engels an Bernstein, vom 24. März 1884. IN: Bernstein, Eduard, Die Briefe von Friedrich Engels an Eduard Bernstein. Berlin 1925, S. 142. Vgl. Engels, Friedrich, Zur Kritik des sozialdemokratischen Programmentwurfs. 1891. A. a. O., S. 1132-36.

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sei nur d a r a n erinnert, daß Engels bereits 1887 darauf hinwies, f ü r Preußen-Deutschland sei kein anderer Krieg mehr möglich „als ein Weltkrieg von einer bisher nie geahnten Ausdehnung und Heftigkeit". 9 So war der Kampf gegen den preußisch-deutschen Obrigkeitsstaat zur Sache aller friedliebenden und demokratischen K r ä f t e in Deutschland geworden. Die nationalen Interessen Deutschlands forderten gebieterisch den Sturz der Hohenzollern-Monarchie, und es war gerade Engels, der schon 1886 diese Erkenntnis klar und deutlich formulierte, als er in einem Brief an Bebel schrieb, daß die „Unverträglichkeit der Hohenzollernschen Interessen mit denen Deutschlands jetzt k l a r und überwältigend zutage tritt. Das deutsche Reich wird in Lebensgefahr gebracht durch seine preußische Grundlage". 1 ® Dieser f ü r die Orientierung der deutschen Arbeiterbewegung hochbedeutsame Gedanke, daß der preußisch-deutsche Militarismus mit den nationalen Interessen des deutschen Volkes unvereinbar ist und gestürzt werden muß, wurde seither zum Leitgedanken der sozialistischen Bewegung in Deutschland. Der nationale Charakter des Kampfes gegen den Bismarckschen Bonapartismus hatte auch große Bedeutung f ü r die Bündnispolitik der Arbeiterklasse. Die Forderung nach der Republik war in hohem M a ß e geeignet, eine breite Volksbewegung unter Leitung der Arbeiterklasse zu schaffen, die alle Gegner des Bismarck-Regimes einschloß. Doch Voraussetzung f ü r eine solche Politik - und das betonten Marx und Engels immer wieder - war die Existenz einer revolutionären proletarischen Partei, die, mit der marxistischen Staats- und Revolutionstheorie ausgerüstet und keinerlei Einfluß des Opportunismus auf ihre Reihen duldend, den Kampf der Arbeiterklasse leitete. Alle diese Gründe machen begreiflich, warum Marx und Engels im Kampf u m die Durchsetzung des Marxismus in der deutschen Arbeiterbewegung ihre besondere Aufmerksamkeit der marxistischen Revolutions- und Staatstheorie widmeten und schonungslos und kompromißlos alle opportunistischen Abweichungen gerade in dieser F r a g e bekämpften. Dabei fiel die größte Last des Kampfes vor allem auf die 3

10

Engels, Friedrich, Aus der Einleitung zu Sigismund Borkheims Schrift „Zur Erinnerung für die deutschen Mordpatrioten 1806-1807". In: Marx$ Engels/Lenin/Stalin, Zur deutschen Geschichte, Bd II/2, S. 1114. Engels an Bebel, 1. (14.) September 1886. In: Engels, Friedrich, Briefe an Bebel. Berlin 1958, S. 139.

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Schultern von Friedrich Engels, der sich bei der bestehenden Arbeitsteilung zwischen den Begründern des wissenschaftlichen Sozialismus vornehmlich mit der Betreuung und Anleitung der internationalen Arbeiterbewegung befaßte. In einer Fülle von Werken, größeren Arbeiten, Aufsätzen und Briefen setzte sich Engels unentwegt und kompromißlos mit den antimarxistischen und opportunistischen Entstellungen über die Haltung der Arbeiterklasse zum Staat auseinander und bewies immer wieder die bereits im „Kommunistischen Manifest" formulierte und begründete Aufgabe jeder echten Arbeiterpartei: „Bildung des Proletariats zur Klasse, Sturz der Bourgeoisieherrschaft, Eroberung der politischen Macht durch das Proletariat". 1 1 Mit diesen grundlegenden Forderungen waren zugleich Ausgangspunkt und Maßstab für die politische Strategie und Taktik des Proletariats gegeben, und hierauf kam Engels in seinen Auseinandersetzungen mit dem Opportunismus auch stets zurück. So auch in seiner Polemik 1872 im „Volksstaat" gegen den kleinbürgerlichen Sozialismus Proudhons 1 2 , der seine „fröhliche Auferstehung" in den Arbeiten eines Dr. Sax und Mülberger über die Wohnungsfrage feierte, in der Auseinandersetzung mit dem Lassalleanismus und Vulgärsozialismus im Gothaer P r o g r a m m e n t w u r f l s , in der großen Artikelserie im „Vorwärts" 1877/78 gegen Dühring 1 4 und schließlich in dem programmatischen Zirkularbrief vom September 1879 an die Führer der deutschen Arbeiterbewegung 1 5 , der die Antwort auf die opportunistische Kapitulationspolitik des Züricher Trios zu Beginn des Sozialistengesetzes gab. Die im Kommunistischen Manifest entwickelten Leitsätze zur marxistischen Staatstheorie und deren Anwendung auf die Politik und Taktik spielten dann auch eine entscheidende Rolle in den Auseinandersetzungen mit dem Staatssozialismus in den Jahren von 1882 bis 1887, 11 12 13

14

15

Marx/Engels, Manifest der Kommunistischen Partei. Berlin 1953, S. 23. Vgl. Engels, Friedrich, Zur Wohnungsfrage. Berlin 1948. Vgl. Engels an Bebel, vom 18. (28.) März 1875. In: Engels, Friedrich, Briefe an Bebel. Berlin 1958, S. 14 ff. Vgl. Engels, Friedrich, Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft. Berlin 1948. Vgl. Marx und Engels an A. Bebel, W. Liebknecht, W. Bracke u. a. vom 17./18. September. In: Engels, Friedrich, Briefe an A. Bebel. Berlin 1958, S. 26 f.

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der gerade in diesen Jahren zu einem entscheidenden Vorstoß in die Partei und die Arbeiterbewegung ausholte. Nachdem die erste großangelegte Terrorwelle Bismarcks während des Sozialistengesetzes durch den glänzenden Wahlsieg der Sozialdemokratie bei den Reichstagswahlen im Herbst 1881 gescheitert war, veränderten die herrschenden Klassen ihre Taktik im Kampf gegen die Arbeiterklasse. Die schon 1878 angekündigten Sozialreformen wurden nun in einer kaiserlichen Botschaft vor dem Reichstag im November 1881 versprochen. Tatsächlich verabschiedete die Regierung im Juli 1884 ein dürftiges Unfallversicherimgsgesetz, im Mai 1885 ein noch viel unzulänglicheres Krankenversicherungsgesetz, und im Juni 1889 folgte dann das sogenannte Invaliditäts- und Altersversicherungsgesetz. Diese Gesetze wurden von Bismarck und seinen Ideologen benutzt, um den Arbeitern einzureden, im Deutschen Reich sei das von Lassalle geforderte „soziale Königtum" verwirklicht, und der bonapartistische Obrigkeitsstaat sei ein um „das Wohl" der Arbeiter besorgter väterlicher Freund und beginne, schrittweise den Sozialismus einzuführen. In diesem Zusammenhang wurden auch die im Jahre 1877/78 eingeführte Schutzzollpolitik, die Verstaatlichung der preußischen Eisenbahnen sowie das verlangte staatliche Tabaksmonopol als „sozialistische" Maßnahmen proklamiert. Die Gründe für die Sozialreformpolitik und für die Propagierung „staatssozialistischer Schritte" lagen auf der Hand. Bismarck versuchte nun, weil die Peitsche versagt hatte, mit dem Zuckerbrot die Isolierung der Arbeiterklasse von der Partei und die Spaltung der Partei in einen radikalen und einen gemäßigten sozialreformerisch-staatssozialistischen Flügel zu erreichen. Schließlich beabsichtigte er mit dieser Politik, Voraussetzungen für die „Ruhe und Sicherheit" im Innern des Landes zu schaffen, um ungehindert seine außenpolitischen Ziele verfolgen zu können. 18 Nicht zufällig setzten zur gleichen Zeit die Kolonialpolitik und eine Verschärfung der aggressiven Außenpolitik ein, wie sich überhaupt in diesen Jahren das Tempo der Herausbildung des Imperialismus beschleunigte. Es ist ganz typisch für die deutschen Opportunisten, daß sie auch die beginnende imperialistische Kolonialpolitik voll bejahten. Es sei in diesem Zusammenhang nur auf den Partei16

Diesen

Zusammenhang

behandelt

ausführlich

Albert

Schreiner.

Vgl.

Schreiner, Albert, Zur Geschichte der Deutschen Außenpolitik 1 8 7 1 - 1 9 4 5 . Erster Band: 1 8 7 1 - 1 9 1 8 , Berlin 1952, S. 131 ff. 8 Friedrich Engels, Bd. 1

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konflikt anläßlich der Stellung zu den Dampfersubventionen 1884/85 hingewiesen, wo die Opportunisten zum ersten Male versuchten, die Sozialdemokratie zur Unterstützung der Kolonialpolitik zu bewegen.17 Die Hoffnungen Bismarcks waren nicht ganz unbegründet. Er konnte sich bei der Durchsetzung seiner Sozialreformpolitik auf eine starke kleinbürgerlich-opportunistische Richtung in der deutschen Arbeiterbewegung stützen, die sich infolge der besonderen ökonomischen und politischen Entwicklung Deutschlands im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts herausgebildet hatte. Diese kleinbürgerlich-opportunistische Strömung hatte bereits die ersten Elemente einer Arbeiteraristokratie zur Grundlage, die sich durch die außerordentlich rasche Entwicklung des Kapitalismus und die frühzeitige Monopolbildung in Deutschland herausgebildet hatte. Ihr gehörten ferner große Teile des in das Proletariat hinabgeschleuderten Kleinbürgertums ' und die zur Arbeiterbewegung gestoßenen bürgerlichen und kleinbürgerlichen Intellektuellen, die unter den damaligen politischen Verhältnissen in der deutschen Sozialdemokratie mit Recht die einzige konsequente demokratische Partei sahen. Neben diesen Kräften bildete eine relativ große kleinbürgerliche Wählerschaft der deutschen Arbeiterpartei die soziale Basis der Rechtsopportunisten. Einer der wichtigsten politischen Gründe aber für die Stärke des Rechtsopportunismus war die bonapartistische Politik Bismarcks, die einerseits einen außerordentlich starken Druck auf die Arbeiterbewegung ausübte, andererseits aber eben durch eine geschickte Demagogie, durch soziale Versprechungen und Konzessionen einen Teil der Arbeiterbewegung zu ködern versuchte. Die besondere Herrschaftsform von Bourgeoisie und Junkertum in der Form des Bonapartismus in Deutschland 18 drückte auch dem deutschen Opportunimus in den sieb17

18

Vgl. Gemkow, Heinrich, Dokumente des Kampfes der deutschen Sozialdemokratie gegen Bismarcks Kolonialpolitik und gegen den Rechtsopportunismus in den Jahren 1884/85. In: „Beiträge zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung", 1. Jahrg., Heft 2, 1959. Eine sehr instruktive Analyse über die Entstehung, Entwicklung und Rolle des preußisch-deutschen Bonapartismus in Deutschland gibt Ernst Engelberg. Vgl. Engelberg, Ernst, Zur Entstehung und historischen Stellung des preußisch-deutschen Bonapartismus. In: Beiträge zum neuen Geschichtsbild. Zum 60. Geburtstag von Alfred Meusel. Hsg. v. F. Klein und J. Streisand. Berlin 1956, S. 236 f.

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ziger und achtziger J a h r e n einen spezifischen Stempel auf. So spiegelte der Rechtsopportunismus in der deutschen Arbeiterbewegung nicht n u r schlechthin den Einfluß der Bourgeoisie auf die Arbeiterbewegung wider, sondern vielmehr den Einfluß der Bourgeoisie und des noch nicht von der politischen Herrschaft verdrängten preußischen Junkertums. In der deutschen Arbeiterbewegung entstand auf diese Weise eine besonders widerwärtige F o r m des Opportunismus staatssozialistischer Prägung, ein Gemisch von bourgeoisen, halbfeudalen, junkerlichen, sich entwickelnden imperialistischen Zügen, der von seinem Inhalt und seiner Zielsetzung her nicht nur die Existenz der Bourgeoisie, sondern die Aufrechterhaltung der Herrschaft des bonapartistischen preußisch-deutschen Militärstaates sichern sollte. Ideologisch k n ü p f t e dieser staatssozialistisch orientierte Opportunismus an den Lassalleanismus an, der in den sechziger J a h r e n des vorigen Jahrhunderts, wie Lenin einmal sagte, „die Arbeiterpartei auf eine bonapartistisch-staatssozialistische Bahn zu lenken" 1 9 suchte und der im Gothaer Kompromißprogramm fortwirkte, allerdings gemischt mit vulgärsozialistischen und vulgärdemokratischen Staatsauffassungen, die vor allem von den Eisenachern herrührten und in der Forderung nach dem „freien Volksstaat" zum Ausdruck kamen. Marx charakterisierte das Gothaer P r o g r a m m „trotz allen demokratischen Geklingels" als „durch und durch von Untertanenglauben der Lassalleschen Sekte an den Staat verpestet, oder, was nicht besser, vom demokratischen Wunderglauben, oder vielmehr ist es ein Kompromiß zwischen diesen zwei Sorten, dem Sozialismus gleich fernen, Wunderglauben". 2 0 Mit dem Gothaer P r o g r a m m erhielt der Rechtsopportunismus eine theoretische Grundlage, die drei J a h r e später vom Züricher Trio (Höchberg, Schramm und Bernstein) in dem berüchtigten Jahrbuchartikel weiter ausgebaut wurde und bereits alle Elemente des staatssozialistisch orientierten Opportunismus der siebziger und achtziger J a h r e des 19. J a h r h u n d e r t s enthielt. 2 1 19

20

21

8*

Lenin, W. /., August Bebel. In: Lenin/Stalin, Ober August Bebel. Berlin 1946, S. 8. Marx, Karl, Randglossen zum Programm der deutschen Arbeiterpartei. In: Marx/Engels, Ausgewählte Werke. Bd II, Berlin 1952, S. 27. Rückblicke auf die sozialistische Bewegung in Deutschland. Kritische Aphorismen von xxx. In: Jahrbuch für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, hrsg. von Dr. Ludwig Richter. I. Hälfte. Zürich 1879.

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Gegenüber dem Lassalleanismus reinster Observanz und dem Gothaer Programm enthielt dieser zwei wesentlich neue Momente, wenngleich im ganzen sich die in diesem Artikel ausgesprochenen Ansichten auf dem Boden des Lassalleanismus und des Gothaer Programms bewegten. Erstens war die für den Lassalleanismus charakteristische einseitige Frontstellung gegen die Bourgeoisie aufgegeben worden. Die Erklärung dafür liegt auf der Hand. In dem Maße, wie sich das Bündnis zwischen Bourgeoisie und Junkertum enger gestaltete und sich der junkerlichbourgeoise Ausbeuterblock herausbildete, mußte auch für die Opportunisten lassallescher Prägung die Notwendigkeit des Kampfes gegen die Bourgeoisie entfallen. Diese Konsequenz wurde hier zum ersten Male ausgesprochen. Die Arbeiterbewegung sollte sich eben von nun an nicht mehr der Junkerherrschaft beugen, sondern dem neu entstandenen junkerlich-bourgeoisen Ausbeuterblock. Zweitens trat im Züricher Artikel an die Stelle der alleinigen „Forderung nach Errichtung von Produktionsgenossenschaften mit Staatshilfe" ein umfangreiches soziales Reformprogramm, mit dessen Hilfe der Sozialismus vom Bismarckstaat verwirklicht werden sollte. Das letztere deckte sich ebenfalls vollkommen mit den Plänen Bismarcks, der die geplanten Sozialreformen, die Verstaatlichung der preußischen Eisenbahnlinien, den Versuch der Einführung des staatlichen Tabaksmonopols, ja sogar die Schutzzollpolitik ebenfalls als erste Maßnahme zur Verwirklichung des Sozialismus bezeichnete. Kernpunkt des Züricher Artikels war jedoch die illusionäre Vorstellung, die kapitalistische Gesellschaft und der bürgerliche Staat könnten „friedlich in den Sozialismus hineinwachsen", und daher sei der revolutionäre Klassenkampf, die Forderung nach Beseitigung des preußisch-deutschen Militärstaates und nach der Eroberung der politischen Macht durch die Arbeiterklasse unnötig. Die Arbeiterbewegung sollte sich nach Meinung der Opportunisten in den preußisch-deutschen Staat einordnen, sollte also nicht nur auf den Kampf um die politische Macht, sondern auch auf den Kampf um die demokratische Republik verzichten. Gerade in der Stellung zum Bismarckschen Obrigkeitsstaat und zum preußisch-deutschen Militarismus zeigte der Opportunismus sowohl sein antisozialistisches als auch antidemokratisches und antinationales Wesen. Der Opportunismus war also schon damals für die Arbeiterbewegung nicht nur ein Hindernis im Kampf um die politische Macht des Prole-

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tariats, sondern auch im Ringen gegen den sich entwickelnden deutschen Imperialismus und Militarismus. Die Gefahr, die von diesen staatssozialistisch gesinnten Kräften ausging, vertreten durch solche Opportunisten wie Viereck, Geiser, Frohme, Bios und andere, war besonders groß, weil sie die Mehrheit in der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion bildeten, die unter den Bedingungen des Ausnahmegesetzes zugleich die Parteileitung war, und weil sie alle legalen Presseorgane der Arbeiterbewegung in der Hand hatten, hingegen die revolutionären Kräfte kaum Möglichkeiten besaßen, auf die Arbeiterklasse legal einzuwirken. Unter diesen Bedingungen rückte an die erste Stelle aller Parteiaufgaben, die Stellung der Arbeiterklasse zum preußisch-deutschen Staat den Arbeitern selbst bewußt zu machen und die staatssozialistischen Illusionen, die von den Opportunisten in die Arbeiterbewegung hineingetragen wurden, von Grund auf zu zerstören. Das war die unerläßliche Voraussetzung für die Durchkreuzung der Politik von Zuckerbrot und Peitsche und für den schließlichen Sieg der Arbeiterklasse über das Sozialistengesetz. In diesen kritischen Jahren stand Engels der Arbeiterbewegung als Berater und Betreuer stets zur Seite. Zunächst ging er sofort auf das Angebot Bebels ein, die wichtigsten Teile seiner Streitschrift gegen Dühring in einer besonderen deutschen Ausgabe zu veröffentlichen. 1883 erschien so zum ersten Male in deutscher Sprache die Arbeit von Engels „Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft", in der alle drei Bestandteile des Marxismus in einfacher, leicht verständlicher Sprache dargelegt wurden. Uns interessiert hier besonders der letzte Teil, in dem sich Engels ausführlich mit der marxistischen Staatstheorie beschäftigte. Schärfer als hier konnten die Staatsillusionen der Opportunisten nicht zurückgewiesen werden. Im bewußten Gegensatz zu den Rechtsopportunisten erklärte und begründete Engels, daß die politische Machtergreifung des Proletariats die weltbefreiende und geschichtliche Aufgabe der Arbeiterklasse ist. 22 Mit beißendem Spott bemerkte Engels, gegen den Staatssozialismus gerichtet, daß die von Bismarck betriebene Verstaatlichung der Eisenbahnen und des Tabaksmonopols keineswegs „sozialistische Schritte", direkte oder indirekte, darstellen, „sonst wären 22

Engels, Friedrich, Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft. Berlin 1951, S. 80 ff.

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auch die königliche Seehandlung, die königliche Porzellanmanufaktur und sogar der Kompanieschneider beim Militär sozialistische Einrichtungen". 23 Diese Schrift von Engels erlebte selbst unter den Bedingungen des Sozialistengesetzes 1883 drei Auflagen mit etwa zusammen 10 000 Exemplaren, für die damalige Zeit eine immense Auflagenhöhe. Im gleichen Jahr sorgte Engels für die erneute Herausgabe des „Kommunistischen Manifest", der Geburtsurkunde des wissenschaftlichen Sozialismus; auch diese Arbeit schlug den staatssozialistisch gesinnten Opportunisten direkt ins Gesicht, war doch hier nicht nur die Lehre von der proletarischen Revolution und der Eroberung der politischen Macht durch das Proletariat entwickelt, sondern gleichzeitig mit allen kleinbürgerlichen, bourgeoisen und feudalen Auffassungen über den Sozialismus schonungslos abgerechnet worden. Und als ein Jahr später Engels sein grundlegendes Werk über die Entstehung und Entwicklung der Klassengemeinschaft und des Staates „Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staates" ausarbeitete, entlarvte er das bonapartistische Wesen des preußisch-deutschen Militärstaates und machte der Arbeiterklasse nochmals ihren grundlegenden Gegensatz zu diesem Staat bewußt.34 Weiterhin sorgte Engels dafür, daß die aus dem Jahre 1847 von Marx stammende Arbeit „Das Elend der Philosophie" 1885 in deutscher Sprache erschien. Und es war kein Zufall, daß er diese Arbeit mit einem Vorwort versah, das speziell dem theoretischen Begründer des Staatssozialismus, Rodbertus, gewidmet war und in dem dessen theoretische Auffassungen vernichtend kritisiert wurden. Zu dieser Schrift von Marx bemerkte Engels, daß sie gerade im jetzigen Augenblick große Bedeutung erlangt habe: „Wie konnte er (Marx - H. B.) wissen, daß, indem er auf Proudhon losschlug, e r . . . Rodbertus den Strebergott von heute, traf?" 2 5 1883 erschien der erste Band des „Kapitals" in neuer Auflage, und zwei Jahre später, 1885, gab Engels den zweiten Band heraus. Mit dem Erscheinen des zweiten Bandes führte Engels einen weiteren entscheidenden Schlag gegen den Rodbertusschwindel und gegen das Spieß23 24

25

Ebenda, S. 77/78. Vgl. Engels, Friedrich, Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staates. Berlin 1951, S. 170. Engels, Friedrich, Vorwort zur Arbeit von K. Marx: Das Elend der Philosophie. I n : Marx, Karl, Das Elend der Philosophie. Berlin 1952, S. 23.

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bürgertum in der Fraktion. In einem Brief an Kautsky schrieb Engels: „Das II. Buch .Kapital' wird da sehr aufklären." 2 8 Und an Bebel schrieb er über den zweiten und dritten Band: „Es ist ganz ausgezeichnet, b r i l l a n t . . . Erst hierdurch erhält unsere Theorie eine unerschütterliche Basis und werden wir befähigt, nach allen Seiten siegreich Front zu machen. Sowie das erscheint, wird auch die Spießbürgerei in der Partei wieder einen Schlag bekommen, woran sie denken wird." 2 7 Im gleichen Jahr veröffentlichte er die Arbeit von Marx „Enthüllungen über den Kommunistenprozeß zu Köln" und die Ansprachen an den Bund der Kommunisten aus dem Jahre 1850. Zu dieser Ausgabe schrieb er als Einleitung den Aufsatz: „Die Geschichte des Bundes der Kommunisten". Auch diese Schriften und Dokumente enthüllten das Wesen des militaristisch-deutschen Polizeistaates und wiesen dem Proletariat den einzig möglichen Weg zur Beseitigung der Ausbeuterordnung. Von besonderer Bedeutung war ferner der im Jahre 1887 in einer Broschüre erfolgte Wiederabdruck der drei Artikel von Engels „Zur Wohnungsfrage" aus dem „Volksstaat" Jahrgang 1872, weil er darin speziell die Klassengrundlage und den Charakter des Bismarckschen Bonapartismus analysierte und sich dabei mit allen kleinbürgerlichen Reformversuchen zur Lösung der Wohnungsfrage auseinandersetzte. Vor allem widerlegte er hier die Forderung Mülbergers, die Sozialdemokratie habe „keine Klassenpolitik" zu treiben und nicht die „Klassenherrschaft" des Proletariats zu erstreben. Jawohl, antwortete Engels, die Aufgabe der Arbeiterpartei bestehe gerade darin, „die Organisation des Proletariats als selbständige politische Partei, als erste Bedingung, und die Diktatur des Proletariats als nächstes Ziel des Kampfes" 2 8 zu lösen. „Indem Mülberger dies für ,lächerlich' erklärt, stellt er sich außerhalb der proletarischen Bewegung und innerhalb des kleinbürgerlichen Sozialismus" 2 9 , erklärte Engels und bezeichnete damit genau die klassenmäßige Position des Opportunismus. In dem Vorwort vermerkte er ausdrücklich, daß diese Schrift nach 28

27

28 29

Engels an Kautsky, vom 17. Oktober 1884. In: Marx/Engels, Briefe an A. Bebel, W. Liebknecht, K. Kautsky u. a. Moskau-Leningrad 1933, S. 366. Engels an Bebel vom 4. April 1885. In: Engels, Friedrich, Briefe an Bebel. S. 109. Engels, Friedrich, Zur Wohnungsfrage. Berlin 1948, S. 54. Ebenda, S. 54.

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wie vor aktuell sei, weil „der Bourgeois- und der kleinbürgerliche Sozialismus in Deutschland bis auf diese Stunde stark vertreten" 3 0 ist. Zweifelsohne haben all diese Schriften und Werke, in denen sich die Begründer des wissenschaftlichen Sozialismus mit der Stellung der Arbeiterklasse zum Staat und mit ihren Aufgaben bei der Erringung der Staatsmacht beschäftigten und sich mit den staatssozialistischen Illusionen auseinandersetzten, allergrößte Bedeutung für die Festigung des Klassenbewußtseins der Arbeiter und für die Überwindung und Zurückdrängung der staatssozialistischen Auffassungen der Opportunisten gehabt. Doch damit erschöpfte sich Engels' Hilfe für die deutsche Arbeiterbewegung bei der Niederringung des Opportunismus keineswegs. In vielen Briefen an Bebel, Liebknecht, Kautsky und Bernstein wies er die Führer der deutschen Arbeiterbewegung wiederholt darauf hin, daß sie dem Opportunismus in keiner Weise Einfluß auf die Partei gestatten dürften, warnte vor dessen raffinierten Manövern und forderte unausgesetzt, auf die Reinerhaltung der marxistischen Staatslehre und des proletarischen Charakters der Partei zu achten. In all diesen Briefen kam ein besonders politischer und charakteristischer Zug des Mitbegründers des wissenschaftlichen Sozialismus zum Ausdruck, den er einmal selbst in einem Brief an Bebel formulierte: „Auf unser Proletariat habe ich dasselbe unbedingte Vertrauen wie unbegrenztes Mißtrauen gegen die ganz verkommene deutsche Spießbürgerei." 3 1 Er forderte deshalb die Führer der sozialistischen Bewegung auf, gerade im Kampf gegen die Opportunisten „der führerlichen Heulerei" (gemeint waren die opportunistisch orientierten sozialdemokratischen Reichstagsabgeordneten — H. B.) den Standpunkt des klassenbewußten Proletariats entgegenzustellen. Von zentraler Bedeutung war jedoch die Betreuung und Mitarbeit, die Engels dem „Sozialdemokrat", dem illegalen Zentralorgan der deutschen Sozialdemokratie, unter dem Sozialistengesetz angedeihen ließ. Der „Sozialdemokrat" hatte sich nach anfänglichen opportunistischen Schwankungen mehr und mehr, nicht zuletzt durch die Hilfe von Marx und Engels, zu einem kollektiven Agitator, Organisator und Propagandisten entwickelt. 30 31

Ebenda, S. XIV. Engels an Bebel, vom 22. (-24.) Juni 1885. Engels, Friedrich, Bebel. S. 111.

Briefe an

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Engels schrieb selbst über seine Mitarbeit in seinem Abschiedsbrief an die Leser des „Sozialdemokrat", daß er hier „die beiden günstigsten Bedingungen vollauf genoß, unter welchen man überhaupt in der Presse wirken k a n n : erstens unbedingte Pressefreiheit und zweitens die Gewißheit, von gerade dem Publikum gehört zu werden, von dem man gehört sein will." 3 2 Plastisch schilderte er die Wirkung der Aufsätze in diesem O r g a n : „Man sieht, wie die Artikel förmlich einschlagen, als wären sie Granaten, und wie die' Sprengladung platzt." 3 3 Und tatsächlich sorgte Engels dafür, daß eine Reihe von Sprengladungen gegen den Opportunismus staatssozialistischer P r ä g u n g im „Sozialdemokrat" gelegt wurden. Von ausschlaggebender Bedeutung f ü r die Klärung der weltgeschichtlichen Rolle der Arbeiterklasse, f ü r ihr Verhältnis zum Staat, f ü r ihre Politik und Taktik und f ü r die Durchsetzung der Sozialreformpolitik waren gerade diejenigen Artikel von Engels im „Sozialdemokrat", die sich mit der Stellung der Arbeiterklasse in der Revolution von 1848/49 befaßten. Lenin hat mehrfach darauf aufmerksam gemacht, daß Marx und Engels stets bei der Beurteilung der Geschicke der Arbeiterbewegung und der Demokratie von der Revolution 1848/49 ausgingen und zu ihr zurückkehrten, „um die innere Wesensart der verschiedenen Klassen und ihrer Tendenzen in klarster und reinster Form zu bestimmen." 3 4 Das war auch der entscheidende Grund dafür, daß Engels gerade in den J a h r e n von 1882 bis 1887 eine Reihe von Arbeiten über die Revolution von 1848/49 f ü r das illegale Orga n schrieb und eine Reihe von grundsätzlichen Dokumenten aus der Revolutionszeit publizierte. So erschienen im „Sozialdemokrat" unter anderem die Aufsätze von Engels: „Marx und die ,Neue Rheinische Zeitung' 1848 bis 1849" 3 5 , „Zur Geschichte des Bundes der K o m m u n i s t e n " 3 6 und das Vorwort zur amerikanischen Ausgabe der „Lage der arbeitenden Klassen in 32

33 34

35 36

Engels, Friedrich, Abschiedsbrief an die Leser der Zeitung „Sozialdemokrat". In: Marx/Engels/Lenin/Stalin, Zur deutschen Geschichte. Bd II/2, S. 1127. Ebenda, S. 1127. Lenin, W. /., Gegen den Boykott. Sämtliche Werke. Wien-Berlin 1933, Bd XII, S. 54. Vgl. „Der Sozialdemokrat" vom 13. März 1884. „Der Sozialdemokrat" vom 12., 19. und 20. Februar 1885.

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England" S7 . Ferner veröffentlichte das Organ Teile aus dem „Kommunistischen Manifest" zur Stellung der Arbeiterklasse in der Revolution von 1848/49 und zu den verschiedenen Formen des bourgeoisen, kleinbürgerlichen und feudalen Sozialismus 38 , dann die 17 Forderungen des Bundes der Kommunisten 3 9 , das Schlußkapitel der Arbeit von Marx „Das Elend der Philosophie" 4 0 , Teile aus: „Der 18. Brumaire des Louis Bonaparte" von M a r x 4 1 , das gesamte Vorwort von Engels zu seiner Schrift „Die Wohnungsfrage" 4 2 und den Artikel aus der „Neuen Rheinischen Zeitung": ,Die Tage des Hauses Hohenzollern', der ebenfalls aus der Feder von Marx stammte 43 . Wenn wir nun noch berücksichtigen, daß 1885 die Enthüllungen über den „Kommunistenprozeß zu Köln" mit den beiden Ansprachen an den Bund der Kommunisten vom März 1850 erschienen, so können wir mit vollem Recht sagen, daß die wesentlichsten Arbeiten von Marx und Engels aus der Revolution von 1848/49, in denen sie die marxistische Staatstheorie und ihre Anwendung auf die Strategie und Taktik der Arbeiterklasse dargelegt haben, der deutschen Arbeiterbewegung erneut in Massenauflagen zugänglich gemacht wurden. Schließlich darf man nicht vergessen, daß der „Sozialdemokrat" in dieser Zeit bereits eine Auflage von etwa 8000 Exemplaren hatte, aber von Zehntausenden Arbeitern gelesen und studiert wurde. Wir stellten schon weiter oben fest: Kernpunkt der Strategie und Taktik von Marx und Engels in der Revolution von 1848/49 war auch die noch in den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts gültige Auffassung, daß die Arbeiterklasse nicht den Kampf um die politische Macht führen konnte, bevor sie nicht die demokratische Republik erkämpft und den preußisch-deutschen halbfeudalen Bismarck-Staat beseitigt hatte. Aber gerade dies bestritten die Opportunisten entschieden. Ausdrücklich wies Engels darauf hin, das nächste Etappenziel des Proletariats könne nur die demokratische Republik sein, die erst die Voraussetzung für den Kampf um die politische Macht des Proletariats 37 38 39 40 41 42 43

„Der „Der „Der „Der „Der „Der „Der

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vom vom vom vom vom vom vom

10. Juni 1887. 3. April und vom 5. Juni 1884. 8. April 1887. 12. und 26. Februar 1885. 18. März 1887. 15. und 22. Januar 1887. 8. Januar 1886.

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schaffe. Da das Ringen um die demokratische Republik auch die Beseitigung des spezifischen Charakters des preußisch-deutschen Militarismus einschloß und damit zugleich die aktuelle Kriegsgefahr, die vom Deutschen Kaiserreich ausging, gebannt wurde, verflocht sich hier der Kampf um Demokratie mit dem Ringen um die Erhaltung des Friedens. Auf diese Weise löste Engels die grundlegende strategische Problemstellung der damaligen Epoche, den Kampf um Frieden und Demokratie mit dem Ringen um den Sozialismus zu verbinden. Wenn auch die heutigen Bedingungen des Kampfes der Arbeiterklasse in Westdeutschland ganz andere sind, so haben doch die grundsätzlichen Gedanken von Engels auch heute noch Bedeutung. Auch in Westdeutschland kann die Arbeiterklasse im Interesse der Erhaltung des Friedens den Kampf nicht um weitergehende Ziele führen, solange sie nicht eine parlamentarisch-demokratische Ordnung geschaffen hat. Mit dem Ziel, die Demokratie zu erringen, bekämpfte Engels auch die These von der „einen reaktionären Masse". Als im Jahre 1882 Vollmar zwei Artikel im „Sozialdemokrat" v e r ö f f e n t l i c h t e i n denen er die sektiererische Auffassung vertrat, die Partei sei an keiner Aufhebung des Sozialistengesetzes interessiert und das Gesetz könne nur durch die proletarische Revolution gestürzt werden, antwortete Engels in einem Brief an Bebel: „Es ist dies ,die geträumte' endliche Verwirklichung der Phrase von der .einzigen reaktionären Masse'. Alle offiziellen Parteien vereinigt in einem Klumpen hier, wie die Sozialisten in Kolonne dort, große Entscheidungsschlacht, Sieg auf der ganzen Linie mit einem Schlag . . .Wollten wir mit Vollmar die Revolution gleich mit ihrem letzten Akt anfangen lassen, so ginge es uns erbärmlich schlecht." 4 5 Es ist sicherlich auch nicht zufällig, daß Engels im gleichen Jahr den Aufsatz über „Die Mark" (Anhang zur Arbeit: Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft) im „Sozialdemokrat" abdrucken ließ 4 6 , um die Arbeiterklasse eindringlich auf ihren Bündnispartner, auf die werktätige Bauernschaft, hinzuweisen, die er nicht nur unter dem Gesichtspunkt der proletarischen Revolution, sondern 44

Vgl. Vollmar, Georg v., Aufhebung des Ausnahmegesetzes ? I n : „Der Sozialdemokrat" vom 17. und 24. April 1882.

45

Engels an Bebel, vom 28. Oktober 1882. In: Engels,

Friedrich,

Briefe an

Bebel. S. 69. „Der Sozialdemokrat" vom 15., 22. und 29. März und vom 5., 12. und 19. April 1883.

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HOEST BARTEL

auch unter dem Aspekt des Kampfes um Demokratie und Frieden als Verbündeten ansah. Dazu kommt noch ein weiteres. Die preußisch-deutsche Reaktion hatte gerade auf dem Lande noch außerordentlich starken politischen Einfluß. Der preußisch-deutsche Bonapartismus konnte nur ernsthaft bekämpft werden, wenn die Partei aufs Land ging, die Landarbeiter und werktätigen Bauern politisch aufklärte und sie dem Einfluß der ostelbischen Junker und Großgrundbesitzer entriß. Hier war ein neuralgischer Punkt des preußisch-deutschen Obrigkeitssystems. Natürlich war für Engels der Gesichtspunkt der proletarischen Revolution ausschlaggebend. 1895 faßte er seine Auffassungen in dem Satz zusammen: „Um aber die politische Macht zu erobern, muß diese Partei vorher von der Stadt aufs Land gehen, muß eine Macht werden auf dem Land." 4 7 Bei der Strategie und Taktik von Engels muß weiterhin berücksichtigt werden, daß er in den achtziger Jahren annahm, daß im Falle des Wiedererwachens einer revolutionären Bewegung in Europa, deren Ausgangspunkt er vor allem in einer bürgerlich-demokratischen Revolution in Rußland erblickte, die kleinbürgerliche Demokratie in Deutschland zunächst ans Ruder kommen müßte. Auf diesen Gedanken verwies er 1885 im Zusammenhang mit der Erläuterung der aktuellen Bedeutung der Ansprache an den Bund der Kommunisten vom März 1850 in seinem Aufsatz „Zur Geschichte des Bundes der Kommunisten". 48 Engels hielt damals noch an der in den Ansprachen an den Bund der Kommunisten entwickelten Theorie der ununterbrochenen Revolution fest, nach der sich erst alle anderen Klassen und Fraktionen bei ihrer Machtausübung in den Augen der breiten Massen entlarvt haben müssen, bevor das Proletariat die Macht ergreifen konnte. Diese genialen Ideen entwickelte später Lenin unter den Bedingungen des Imperialismus weiter. Er schuf die Theorie des Hinüberwachsens von der bürgerlich-demokratischen zur sozialistischen Revolution, begründete wissenschaftlich die Hegemonie des Proletariats in der bürgerlich-demokratischen Revolution und erkannte, daß die bürgerlichdemokratische Revolution einen neuen Typ der Staatsmacht hervorbringt, die revolutionär-demokratische Diktatur des Proletariats und der 47

48

Engels, Friedrich, Die Bauemfrage in Frankreich und Deutschland. In: Marx/Engels, Ausgewählte Schriften. Bd II, S. 395. Engels, Friedrich, Zur Geschichte des Bundes der Kommunisten. In: Marx/Engels/Lenin/Stalin, Zur deutschen Geschichte. Bd 1/1, S. 203.

Der Kampf gegen den staatssozialistisch orientierten Opportunismus

125

Bauernschaft, die die günstigsten Vorraussetzungen für das Hinüberwachsen der bürgerlich-demokratischen Revolution in die sozialistische schafft. Ebenso scharf wie Engels die „staatssozialistischen Illusionen" der opportunistischen Kräfte in der Partei — direkt und indirekt — zurückwies, setzte er sich auch mit ihren kleinbürgerlichen Ansichten über den Charakter der Partei auseinander. Die von ihm veröffentlichten Schriften und Aufsätze durchzieht wie ein roter Faden der Grundgedanke, daß das Proletariat seine welthistorischen Aufgaben nur erfüllen kann, wenn es über eine eigene Partei verfügt, mit einem proletarischen Programm und mit einer revolutionären Politik und Taktik. Gerade diese Gedanken faßte er noch einmal in der Einleitung der amerikanischen Ausgabe zur „Lage der arbeitenden Klasse in England", die ebenfalls vom illegalen Organ der Partei veröffentlicht wurde, zusammen, indem er diejenigen Teile des „Kommunistischen Manifest" zitierte, die sich mit dem Charakter und der Aufgabenstellung der Partei des Proletariats befaßten. 4 9 Damit waren auch die entscheidenden Gesichtspunkte für die Auseinandersetzungen in der Sozialdemokratie genannt, die in den Jahren 1881/82 und dann 1884/85 über die Rolle und den Charakter der Partei stattfanden. 5 0 Die umfassende und richtungweisende Hilfe von Engels für die Sozialdemokratie in den Auseinandersetzungen mit den Staatsauffassungen der Opportunisten trugen reiche Früchte. Unter dem Einfluß von Engels distanzierten sich die revolutionären Führer der Partei und der sich in ihren Händen befindliche „Sozialdemokrat" eindeutig von den staatssozialistischen Auffassungen der Opportunisten. Klipp und klar erklärte das Organ: „Wo Marx verstanden worden ist, ist es vorbei mit dem Schwindel der Sozialreform, da ist es zu Ende mit der sozialistischen Projektemacherei, da tritt an deren Stelle der Klassenkampf 40

50

Engels, Friedrich, Einleitung der amerikanischen Ausgabe zur Lage der arbeitenden Klasse in England. In: Engels, Friedrich, Die Lage der arbeitenden Klasse in England. Berlin 1947, S. 313. Vgl. Stepanowa, E. A., Friedrich Engels. - Engelberg, Ernst, Revolutionäre Politik und Rote Feldpost 1878-1890. - Gemkow, Heinrich, Friedrich Engels, Hilfe beim Sieg der deutschen Sozialdemokratie über das Sozialistengesetz. - Bartel, Horst, Zur Politik und zum Kampf der deutschen Sozialdemokratie gegen die Bismarcksche soziale Reformpolitik und gegen den Rechtsopportunismus in den Jahren 1881/84. In: „Zeitschrift für Geschichtswissenschaft", VI. Jahrg., Heft 5, 1958.

126

Horst B a r t e l

des P r o l e t a r i a t s . . . Mag der Regierungs- und Strebersozialismus auch vom marxistischen Dogma

faseln; seine ohnmächtige Wut beweist uns

nur, daß wir auf dem richtigen Wege sind."

51

In einem Artikel, in dem

die Redaktion vom Standpunkt der marxistischen Staatstheorie

die

Sozialreformpolitik entlarvte, schrieb das Organ an die Adresse der Staatssozialisten gerichtet: „Ein von Sozialdemokraten gewählter Abgeordneter, der sich in das Narrenparadies Bismarckscher Sozialreform verirren sollte, würde im selben tischer

Abgeordneter

zu sein."

52

Augenblick

und Mitglied

aufhören,

der sozialdemokratischen

sozialdemokraFraktion

Darüber hinaus veröffentlichte die Redaktion des „Sozial-

demokrat" eine ganze Artikelserie, die sich indirekt gegen die Lassalleschen und vulgärsozialistischen Staatsauffassungen des Gothaer Programms richtete und die das Wesen des Staatssozialismus enthüllte. 5 3 Zweifelsohne hat der „Sozialdemokrat", die Zeitung, die von Zehntausenden Sozialdemokraten als ihr Organ betrachtet wurde und aus der sie ihre politischen Klassenkampfes

Richtlinien für die täglichen Bedürfnisse

des

schöpften, maßgeblichen Anteil am Scheitern

der

Bismarckschen Politik von Zuckerbrot und Peitsche und an der Zurückdrängung des Opportunismus. Die Arbeiter machten die vom „Sozialdemokrat" ausgegebene Losung wahr: „Das Zuckerbrot verachten wir, die Peitsche zerbrechen w i r " ; sie würdigten, wie Engels treffend sagte, die Bismarckschen Sozialreformen „nur eines Fußtrittes"

54

, und führten den Kampf gegen das

Sozialistengesetz und damit gegen den preußisch-deutschen Militärstaat im vollen Bewußtsein ihrer nationalen Verantwortung gegenüber dem deutschen Volk. Der erfolgreiche Kampf der Arbeiterklasse, der schließliche Sieg über das Sozialistengesetz und die Entwicklung der Sozialdemokratie zur angesehensten, einflußreichsten und führenden Partei der internationalen Arbeiterbewegung im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts waren vor allem und in erster Linie auf die grundlegende Erkenntnis breiter Massen der Arbeiter zurückzuführen, daß der preußisch-deutsche Obrigkeitsstaat der Todfeind der Klassenbewegung des 51 52 53

54

„Der Sozialdemokrat" vom 10. Juli 1884. „Der Sozialdemokrat" vom 8. November 1883. Vgl. Bartel, Horst, Friedrich Engels' Kampf für die Schaffung einer marxistischen Arbeiterpartei in Deutschland. Berlin 1956, Seite 48 f. Engels an Kautsky, vom 8. November 1884. In: Marx/Engels/Lenin/Stalin, Zur deutschen Geschichte. Bd II/2, S. 1301.

Der Kampf gegen den staatssozialistisch orientierten Opportunismus

127

Proletariats und darüber hinaus jeder echten demokratischen Regung war. An der Herausbildung dieses Bewußtseins hatte aber Friedrich Engels entscheidenden Anteil. Doch in einem entscheidenden P u n k t hatte die deutsche Sozialdemokratie am Ende des Sozialistengesetzes und auch späterhin trotz der ständigen Hilfe von Engels keine volle Klarheit erlangt: in der F r a g e des Weges zur politischen Macht und in der F r a g e der Diktatur des Proletariats. Wohl war die deutsche Arbeiterpartei ebenso wie ihre proletarischen F ü h r e r August Bebel und Wilhelm Liebknecht von dem Bewußtsein erfüllt, daß der Kampf gegen den Militarismus und gegen den junkerlich-bourgeoisen Polizeistaat bis zu deren Beseitigung gef ü h r t werden müsse und daß der Sozialismus nicht verwirklicht werden könne, bevor die Arbeiterklasse nicht die Macht ergriffen hatte, aber sie hatten keine klare Vorstellung über die Strategie und Taktik des Kampfes um die politische Macht. Sowohl die Stärke als auch die Schwäche der organisierten sozialistischen Bewegung kamen anschaulich im E r f u r t e r Programm zum Ausdruck. Auf der einen Seite stellte es gegenüber dem Gothaer P r o g r a m m einen großen Fortschritt dar, alle Lassalleschen sowie vulgärsozialistischen Vorstellungen waren ausgemerzt worden, und der theoretische Teil basierte auf dem Boden des wissenschaftlichen Sozialismus; auf der anderen Seite aber fehlte im Programm die Forderung nach der demokratischen Republik als dem nächsten Etappenziel des Kampfes und die Forderung nach der Diktatur des Proletariats. Obwohl Marx und Engels den Charakter des proletarischen Staates als Diktatur des Proletariats insbesondere nach der Pariser Kommune völlig eindeutig charakterisierten, wurde diese Grundforderung in der opportunistisch auslegbaren Formulierung umschrieben: Die Arbeiterklasse „kann den Übergang der Produktionsmittel in den Besitz der Gesamtheit nicht bewirken, ohne in den Besitz der politischen Macht gekommen zu sein". 5 5 Vor allem unterließ es die P a r t e i aber, das Programm auf dem E r f u r t e r Parteitag gründlich zu diskutieren. Engels, der die Grundschwächen des Programms schon im ersten Entwurf erkannt hatte, rückte gerade die Frage des Kampfes um die demokratische Republik als Voraussetzung f ü r die Errichtung der 55

Das Erfurter Programm. In: „Protokoll über die Verhandlungen des Parteitages der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands". Berlin 1891, S. 4.

128

Horst B a r t e l

Diktatur des Proletariats in den Mittelpunkt seiner Kritik und forderte eine gründliche Diskussion über diese Fragen. Sehr ernst warnte er die Führer der deutschen Arbeiterbewegung: „Was kann dabei herauskommen, als daß die Partei plötzlich im entscheidenden Moment ratlos ist, daß über die entscheidendsten Punkte Unklarheit und Uneinigkeit h e r r s c h t . . . ? " . 5 6 Tatsächlich ist in dieser Frage keine Klarheit geschaffen worden, selbst solche hervorragenden Führer wie Bebel und Liebknecht haben weder den dialektischen Zusammenhang im Kampf um die demokratische Republik und um den sozialistischen Staat erkannt, noch die Lehre von der Diktatur des Proletariats voll und ganz begriffen. 57 56

Engels, Friedrich, Zur Kritik des sozialdemokratischen Programmentwurfes 1891. In: Marx/Engels/Lenin/Stalin, Zur deutschen Geschichte. Bd II/2, S. 1134. 57 Interessant ist in diesem Zusammenhang, daß Bebel nie den Begriff „Diktatur des Proletariats" gebrauchte. Noch 1903 gab er die im Jahre 1871 entstandene Broschüre „Unsere Ziele" ohne Veränderungen oder Kommentare heraus, in der er seine Auffassungen über den sogenannten „Volksstaat" entwickelte. Dort heißt es u. a.: „Der Staat soll also aus einem auf Klassenherrschaft beruhenden Staat in einen Volksstaat verwandelt werden, in einen Staat, in dem es keine Privilegien irgendeiner Art gibt, und in diesem Staat soll alsdann die Gesamtheit mit den ihr zu Gebote stehenden Mitteln und Kräften die genossenschaftliche Produktion an Stelle der einzelnen Privatunternehmungen treten lassen. In einem solchen Staat ist Selbsthilfe Volkshilfe, Volkshilfe Staatshilfe, Selbsthilfe und Staatshilfe also identisch". (Bebel, August, Unsere Ziele, Berlin 1903, S. 177.) Er erklärte dann weiter, es gäbe zwei Wege, um den Sozialismus zu verwirklichen: Der eine sei: nach Herstellung des demokratischen Staates die allmähliche Verdrängung der Privatunternehmer durch die Gesetzgebung... Der andere, entschieden kürzere, aber auch gewalttätige Weg wäre die gewaltsame Expropriation, die Beseitigung der Privatunternehmer mit einem Schlage, einerlei, durch welche Mittel (Ebenda, S. 50). Die Wahl des Weges hinge nicht von der Arbeiterklasse, sondern von der Haltung der Bourgeoisie ab. Diese Ausführungen zeigen deutlich, daß Bebel nicht klar zwischen dem demokratischen und dem proletarischen Staat unterschied, sondern glaubte, mit dem demokratischen Staat bereits den proletarischen Klassenstaat zu besitzen. Zwar erklärte Bebel in seinem Vorwort von 1885, daß er sich mit dem eigentlichen Teil der Ausführungen „nicht mehr allenthalben einverstanden erklären könnte" (ebenda, S. 4),

Dei Kampf gegen den staatssozialistisch orientierten Opportunismus

129

Bekämpfte Engels in seiner Programmkritik die Unklarheiten in der Staatsfrage bei Bebel und Liebknecht, so wandte er sich scharf und schonungslos gegen die Opportunisten, die 1891 das Spiel der Staatssozialisten wiederholten und die sogenannten kaiserlichen Arbeiterschutzgesetze nunmehr als Beweis betrachteten, der Sozialismus könne innerhalb der kapitalistischen Gesellschaftsordnung verwirklicht werden. Engels vermerkte in einem Brief an Kautsky ausdrücklich, daß er diese Kritik zum Anlaß nehme, um „auf den friedfertigen Opportunismus . . . und das frisch-fromm-fröhlich-freie ,Hineinwachsen' der alten Sauerei ,in die sozialistische Gesellschaft' loszuhauen". 5 8 E r begründete ausführlich, daß sich der Opportunismus besonders in der Leugnung des Klassenkampfes und in der Ablehnung der Diktatur des Proletariats ä u ß e r t . " . . . dies Preisgeben der Zukunft der Bewegung um der Gegenwart der Bewegung willen . . . " 5 9 ist und bleibt Opportunismus, schrieb er. Damit nahm Engels bereits in einem bestimmten Umfang die Kritik an den in der imperialistischen Epoche entstehenden Revisionismus vorweg, der, wenn auch in verschiedenen Erscheinungsformen, bis heute die Theorie vom Klassenkampf und von der Diktatur des Proletariats angreift und leugnet, um den wissenschaftlichen Sozialismus zu entwaffnen. Und noch in einem weiteren P u n k t hat die deutsche Sozialdemokratie des 19. Jahrhunderts die Ratschläge und Weisungen von Engels nicht genügend beachtet. Wohl haben ihre hervorragenden Führer den Kampf gegen den Opportunismus geführt, aber nicht konsequent bis zu ihrem Ausschluß aus der Partei; wohl gelang es ihnen mit Hilfe und Unter-

6R

59

aber er bezeichnete nicht näher, was er damit meinte und distanzierte sich nicht von seinen damaligen Staatsauffassungen. Ebenso veröffentlichte W. Liebknecht noch 1894 erneut seine Arbeit: „Was die Sozialdemokraten sind und was sie wollen", in der er ebenfalls erklärte: „Wir wollen an Stelle des heutigen Klassenstaates den freien Volksstaat." (Liebknecht, Wilhelm, Was die Sozialdemokraten sind und was sie wollen. Chemnitz 1894, S. 9.) Beide Arbeiten, und das ist zweifelsfrei, spielten eine außerordentlich große Rolle in der deutschen Arbeiterbewegimg. Engels an Kautsky, am 29. Juni 1891. In: Marx/Engels, Ausgewählte Briefe, S. 517. Engels, Friedrich, Zur Kritik des sozialdemokratischen Programmentwurfs 1891. In: Marx/Engels/Lenin/Stalin, Zur deutschen Geschichte. Bd II/2, S. 1134.

9 Friedrich Engels, Bd. 1

130

HORST B A R T E L

Stützung von Friedrich Engels, die Opportunisten zur Anerkennung der Parteibeschlüsse zu zwingen, aber diese Anerkennung blieb formal. Weil sie in der Partei geduldet wurden, konnten sie in ihr wirken und sie schließlich vor dem ersten Weltkrieg zersetzen. Der inkonsequente Kampf gegen den Opportunismus war in erster Linie eine Folge der Unklarheiten über die marxistische Staats- und Revolutionstheorie; denn, wer volle Klarheit über die entscheidende Grundfrage der sozialistischen Bewegung, über die Diktatur des Proletariats hat, wird auch alles tun, um die entsprechenden Voraussetzungen zu sichern, wird vor allem die revolutionäre Einheit und Geschlossenheit der Partei wie seinen eigenen Augapfel hüten. Es besteht gar kein Zweifel: Hätte die deutsche Sozialdemokratie die Weisungen und Lehren von Engels befolgt, so wären der deutschen Arbeiterbewegung große Opfer und große Umwege erspart geblieben. Die Inkonsequenzen in ihrer Haltung zur marxistischen Staatstheorie und im Kampf gegen die Opportunisten rächten sich bitter, sie erleichterten dem deutschen Reformismus und Opportunismus, die Führung der Sozialdemokratie vor dem ersten Weltkrieg an sich zu reißen. Gerade das Studium des Schaffens und Wirkens von Engels mahnt uns, keine Unterschätzung in den theoretischen Grundfragen der sozialistischen Bewegung zuzulassen. Lenin war es, der nach den Verfälschungen der marxistischen Staatstheorie durch die Theoretiker der II. Internationale die marxistische Lehre von der proletarischen Revolution, von der Diktatur des Proletariats und die Lehre von der Partei wieder aufgriff und sie schöpferisch weiterentwickelte. In der Leninschen Revolutionstheorie und Lehre von der Partei neuen Typus leben die Gedanken von Marx und Engels weiter. Lenin befähigte die russische Arbeiterklasse durch die Anwendung des Marxismus auf die Epoche des Imperialismus, die politische Macht zu ergreifen und auf einem Sechstel der Erde den Sozialismus aufzubauen. Die Anwendung der gleichen Lehren führte nach dem zweiten Weltkrieg zum Sieg des Sozialismus in einer Reihe weiterer Staaten und auch in einem Teil Deutschlands. Das reiche theoretische und praktische Erbe von Marx und Engels, für die Epoche des Imperialismus von Lenin und von der KPdSU auf ihrem X X . und X X I . Parteitag sowie von den kommunistischen und Arbeiterparteien auf der Moskauer und Bukarester Tagung für die Epoche des Übergangs vom Kapitalismus zum Sozialismus weiterent-

Der Kampf gegen den staatssozialistisch orientierten Opportunismus

131

wickelt, gehört heute zum goldenen Fond der internationalen Arbeiterbewegung und übt eine gewaltige, mobilisierende Wirkung im Kampf für Frieden, Demokratie und Sozialismus aus. Die Geschichte hat schon jetzt ihr Urteil gesprochen, das gerade auch in der entgegengesetzten Entwicklung der beiden deutschen Staaten ganz offenbar wird. Während in der Deutschen Demokratischen Republik unter dem Banner des Marxismus-Leninismus der Sozialismus zum Siege geführt und damit das Vermächtnis von Marx und Engels erfüllt wird, herrschen in Westdeutschland nach wie vor der deutsche Imperialismus und Militarismus mit Unterstützung der rechtssozialistischen Führer. Sie haben aus der Geschichte nichts gelernt. Wenn auch unter völlig anderen Bedingungen, betreiben sie heute noch im Grunde genommen die alte opportunistische Kapitulationspolitik eines Lassalle, Höchberg, Vollmar und Bernstein gegenüber den reaktionären Kräften eines vom preußischen Militarismus beherrschten Staates. Zweimal hat diese Politik das deutsche Volk an den Rand der nationalen Katastrophe geführt. Die rechten SPD-Führer haben längst das Recht verwirkt, als Sprecher der deutschen Arbeiterklasse aufzutreten oder gar sich als Erbe der sozialistischen Traditionen der deutschen Arbeiterklasse aufzuspielen. Wohl haben auch sie eine Tradition, aber eine arbeiterfeindliche, antinationale und antidemokratische Tradition, die von Lassalle über Höchberg, Vollmar, Bernstein, Scheidemann zu Wehner und Brandt führt. Ihre grundsätzliche Position ist im Prinzip schon von Marx und Engels entlarvt worden. Demgegenüber werden die wahren revolutionären und antimilitaristischen Traditionen der deutschen Arbeiterbewegung von der SED und KPD verkörpert. Sie führen von Karl Marx und Friedrich Engels über August Bebel, Wilhelm und Karl Liebknecht, Rosa Luxemburg, Ernst Thälmann, Wilhelm Pieck zu den heutigen Führern der revolutionären sozialistischen Bewegung. Sie haben in der Deutschen Demokratischen Republik ihre endgültige Heimstätte gefunden. Und die deutsche Arbeiterbewegung kann das Vermächtnis von Friedrich Engels nicht besser bewahren, als daß sie für den Sieg seiner Ideen in ganz Deutschland eintritt und seine Lehren in ihrem Kampf ständig beherzigt.



Engels' Arbeiten über den amerikanischen Kapitalismus in ihrer Bedeutung für die gegenwärtige Arbeiterbewegung G . N . SEWOSTJANOW

Es ist allgemein bekannt, daß der beste Richter für die Unerschütterlichkeit einer beliebigen wissenschaftlichen Theorie die Zeit ist. In der Geschichte der Wissenschaft gibt es viele Beispiele dafür, daß sich diese oder jene Lehren bei der Berührung mit dem Leben, mit der Praxis, als unhaltbar erwiesen und zugrunde gingen, wobei sie bestenfalls die Erinnerung an die Irrtümer ihres Schöpfers hinterließen. Ganz anders gestaltete sich das Schicksal der wissenschaftlichen Theorie, die von den größten Forschern, Revolutionären und Führern des internationalen Proletariats, Karl Marx und Friedrich Engels, begründet wurde. Schon seit mehr als einem Jahrhundert versuchen die Feinde der Arbeiterklasse, den Marxismus zu widerlegen und ihn durch alle möglichen Beschwörungen zu vernichten. Diese Lehre jedoch, die eine revolutionäre Umwälzung in der Wissenschaft vollbracht hat, lebt und entwickelt sich wie der mächtige und ewig grüne Baum der Erkenntnis. Sie hat nicht nur die Prüfung der Zeit bestanden, sondern gewinnt auch von Jahr zu Jahr eine immer größere Anziehungkraft und übt einen ständig wachsenden und unüberwindlichen Einfluß auf die Entwicklung der Geschichte aus. Das bedeutungsvolle Datum der 140. Wiederkehr des Geburtstages von Friedrich Engels, einem der Begründer des wissenschaftlichen Kommunismus, begeht die fortschrittliche Menschheit in einer Zeit, in der die Welt tiefste sozialökonomische Umwälzungen erlebt. Die politische Weltkarte verändert sich. Das Banner des Sozialismus, das zuerst von Marx und Engels erhoben wurde, weht heute siegreich über Ländern, deren Bevölkerung mehr als eine Milliarde Menschen zählt. Der tapfere nationale Befreiungskampf der Völker Asiens, Afrikas und Lateinamerikas ist dadurch gekennzeichnet, daß auf der Landkarte

Über den amerikanischen Kapitalismus

133

einige Dutzend neuer unabhängiger Staaten entstanden sind, die den Zusammenbruch des imperialistischen Kolonialsystems beschleunigen. In den fünfzehn Nachkriegs jähren befreiten sich ungefähr eineinhalb Milliarden Menschen, die Hälfte der Bevölkerung des Erdballs, vom Kolonialjoch. Im Verlauf dieser Ereignisse ist die vollständige und endgültige Vernichtung des Kolonialsystems auf die Tagesordnung gesetzt worden. Die ganze Menschheit ist Zeuge dieses Sieges der Ideen des Marxismus-Leninismus. Das rasche und unentwegte Anwachsen der Kräfte der Demokratie und des Sozialismus bewirkt, daß sich die Positionen der Arbeiterklasse festigen und der Einfluß der marxistisch-leninistischen Parteien in wachsendem Maße stärker wird. Schon gibt es siebenundachtzig kommunistische Parteien in der Welt. Die Armee der Kommunisten hat die Zahl von sechsunddreißig Millionen Menschen erreicht. Im Bewußtsein der Völker reift immer mehr die Überzeugung heran, daß der Weg des Sozialismus und Kommunismus der einzig richtige Weg der gesellschaftlichen Entwicklung ist, der den werktätigen Menschen materiellen Wohlstand, Befriedigung der kulturellen Bedürfnisse, echte Freiheit und Erlösung von den vernichtenden Kriegen bringt. Die Perspektive der kommunistischen Zukunft begeistert die besten Söhne des Volkes und führt sie auf dem Wege, der von Marx, Engels und Lenin, den großen Revolutionären, den Kämpfern für den Kommunismus und für das Glück der Völker, vorgezeichnet wurde. Der Ubergang vom Kapitalismus zum Sozialismus vollzieht sich im scharfen ideologischen Kampf zwischen den Kräften des Fortschritts und dem Lager der Reaktion, das unter der Führung des amerikanischen Monopolkapitals versucht, das Rad der Geschichte zurückzudrehen und die Bewegung der menschlichen Gesellschaft zum Kommunismus aufzuhalten. Ein Mittel, dessen sich die Reaktion bedient, sind die Versuche, die wissenschaftliche Theorie von Marx, Engels und Lenin zu widerlegen. Das geschieht durch die skrupellose Verherrlichung des Kapitalismus seitens der bürgerlichen Ökonomen, Historiker, Philosophen, Soziologen und Publizisten. Besonders aktiv sind in dieser Richtung die Apologeten des amerikanischen Imperialismus tätig. Seine volksfeindliche Ausbeuterordnung versuchen sie vergeblich mit allerlei Blendwerk zu überdecken. Die Flut der Literatur, die die sogenannten Theorien der „Ausnahmestellung"

134

G . N . SEWOSTJANOW

des amerikanischen Kapitalismus, des „Wohlfahrtsstaates" usw. anpreisen, reißt nicht ab. Indem sie den Marxismus zu einem „Dogma" erklären, das auf die U S A nicht anwendbar sei, behaupten die bürgerlichen Ökonomen, daß der amerikanische Staat seinen Klassencharakter verloren hätte und lediglich um die Hebung des Wohlstandes

der

Volksmassen besorgt sei. Nach ihren Worten erfolge die Verteilung des Nationaleinkommens in den U S A zugunsten der Werktätigen, und dieser Prozeß sei so weit fortgeschritten, daß sich sogar das Wesen des Kapitalismus verändert habe; die Ausbeutung der Arbeiter durch die Unternehmer gehöre angeblich der Vergangenheit an. Bei der vergeblichen Suche nach einem „Ersatz" für die Ideen des Sozialismus, die Millionen Menschen in der ganzen Welt beherrschen, preisen die amerikanischen bürgerlichen Gelehrten die Theorie von Keynes über die „gelenkte kapitalistische Wirtschaft" an. Indem sie Tatsachen und statistische Angaben entstellen, erklären sie diese „gelenkte Wirtschaft" als ein Allheilmittel, das in der Lage sei, solche unheilbaren

„Mängel"

des Kapitalismus wie Wirtschaftskrisen

und

Produktionsrückgang, Arbeitslosigkeit und Unsicherheit der Werktätigen vor dem morgigen Tag zu beseitigen. In diesem Zusammenhang versuchen sie, die wirtschaftliche Lage der amerikanischen Arbeiterklasse schönfärberisch darzustellen und die Lehre von M a r x und Engels über die Gesetze der kapitalistischen Entwicklung und besonders über die Verelendung des Proletariats unter dem Kapitalismus als falsch hinzustellen. In zahlreichen Büchern, die die Geschichte der USA behandeln, wird beharrlich die „amerikanische Lebensweise" und die amerikanische Demokratie verherrlicht und abgestritten, daß antagonistische Klassen in den U S A bestehen. So schrieb zum Beispiel der Professor für politische Ökonomie an der Harvard-Universität, Thomas Carver, in den zwanziger Jahren, daß sich in den USA eine „ökonomische Revolution" vollzöge, „die den Unterschied zwischen Arbeitern und Kapitalisten verwischen wird". Er verstieg sich sogar zu der Behauptung, daß es in den Vereinigten Staaten angeblich „in Wirklichkeit keine Klassen gibt". 1 Dreißig J a h r e später, im Jahre 1 9 5 4 , erklärte der Wirtschaftswissenschaftler T . Andrew, daß der amerikanische Kapitalismus ein „einzigartiges Wirtschaftssystem darstelle", in dem „jeder 1

Arbeiter

Carver, Th. TV., The present economic Revolution in the United States, Boston 1925, S. 9 - 1 0 und S. 67.

Über den amerikanischen Kapitalismus

135

Kapitalist und jeder Kapitalist Arbeiter sein muß". 2 Deshalb, schlußfolgert er, „kann der Klassenkampf von Marx nicht existieren". 3 Andrew wiederholt aber nur die Ansichten des ehemaligen stellvertretenden Leiters des Büros f ü r Arbeitsstatistik der USA, des Wirtschaftswissenschaftlers J. Wickens. Dieser setzte sich das Ziel, das Unbeweisbare zu beweisen, und zwar das Fehlen von Klassen in den Vereinigten Staaten indem er behauptete, daß es „Prototypen der amerikanischen Arbeit e r . . . nur auf Karikaturen gibt" und daß es in Wirklichkeit „keinen typischen amerikanischen Arbeiter gibt." 4 Dasselbe behaupten auch die rechten Führer der amerikanischen Gewerkschaften. Murray zum Beispiel trat im Jahre 1948 mit einer offiziellen Erklärung auf, daß Klassen in den Vereinigten Staaten fehlen. Das alles geschieht bei weitem nicht zufällig. Indem die bürgerlichen Historiker und die reformistischen Arbeiterführer die a u s der Luft gegriffene Theorie des „Klassenfriedens" in der Industrie propagieren und den amerikanischen Kapitalismus als „demokratisch", als „Volkskapitalismus" erklären, erfüllen sie den sozialen A u f t r a g der Monopole. I m Interesse der regierenden Kreise der USA werden Charakter und Ziele der Arbeiterbewegung in den USA entstellt, verneinen sie den Klassencharakter des Streikkampfes, verschweigen sie politische Aktionen der amerikanischen Arbeiter. Von Zeit zu Zeit aber sieht m a n sich gezwungen, diesbezüglich Eingeständnisse zu machen. Dann werden als Ursachen „äußere Faktoren", die „Umtriebe des Weltkommunismus" reichlich strapaziert. Dieses Verfahren wird in der bürgerlichen Wissenschaft sowohl f ü r die Leugnung der inneren Gesetzmäßigkeiten des Klassencharakter des Streikkampfes, verschweigen sie politische Aktiotionsverhältnisse hervorgerufen wird, als auch in der Außenpolitik der USA ausgenutzt, mit dem Ziel, die internationalen Spannungen zu verstärken. Die reaktionäre These vom „Absterben des Klassenkampfes", die von der bürgerlichen Geschichsschreibung weit verbreitet wird, zielt auch darauf ab, den Arbeitern den Gedanken zu suggerieren, daß die sozialistischen Ideen unter den amerikanischen Bedingungen unanwendbar seien und deshalb der politische Kampf nutzlos sei. 2

3 4

Andrew, T., Property, Profits And People, Washington 1954, S. 1 und 6 (rückübersetzt aus dem Russischen). Ebenda, S. 6. „The Manchester Guardian" vom 14. Februar 1955, S. 6 (rückübersetzt aus dem Russischen).

136

G . N . SEWOSTJANOW

Folglich dienen die bürgerlichen Ökonomen und Historiker, die gegen die marxistisch-leninistische Lehre vom Kapitalismus und gegen die von ihr entdeckten unversöhnlichen Widersprüche polemisieren, den Klasseninteressen des Monopolkapitals in seinem Kampf um die Erhaltung seiner wirtschaftlichen und politischen Herrschaft, um die Festigung der wankenden Grundlagen des amerikanischen Kapitalismus. Die Unwissenschaftlichkeit ihrer „Theorien" offenbart sich bei Überprüfung der historischen Tatsachen. Diese bestätigen völlig die durch die Begründer der marxistischen Lehre entdeckten Gesetze der Entwicklung der menschlichen Gesellschaft im ganzen und der sozialen Besonderheiten der USA im einzelnen. Anläßlich der 140. Wiederkehr des Geburtstages von Friedrich Engels erscheint es angebracht zu untersuchen, — wenn auch nur sehr allgemein - welche Bedeutung seine Arbeiten über den amerikanischen Kapitalismus für das Studium der modernen Arbeiterbewegung in den USA und die Entlarvung der wissenschaftsfeindlichen „Theorien" der bürgerlichen Historiker und Ökonomen besitzen. Vor allem beweisen diese Arbeiten, welche tiefgehenden Kenntnisse Engels über die wirtschaftliche und politische Entwicklung der Vereinigten Staaten besaß und mit welchem Weitblick er den weiteren Verlauf der Ereignisse erkannte. Bereits im Jahre 1864, als in Amerika der Bürgerkrieg tobte, als das Volk einen heldenhaften Kampf gegen die Sklaverei führte, hat er voraussehend geschrieben: „Ist einmal mit der Sklaverei die größte Fessel der politischen und sozialen Entwicklung der Vereinigten Staaten gesprengt, so muß das Land einen Aufschwung nehmen, der ihm binnen kürzester Frist eine ganz andre Stellung in der Weltgeschichte anweist..." 5 Und tatsächlich nahm Amerika nach der siegreichen Beendigung des Krieges von 1 8 6 1 - 1 8 6 5 in zwanzig bis dreißig Jahren den ersten Platz in der Industrieproduktion ein. Das Volumen der Industrieproduktion belief sich bereits im Jahre 1894 auf die Hälfte der Produktion aller europäischen Staaten. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts verwandelten sich die Vereinigten Staaten in ein hochentwickeltes Industrie-Agrarland. Bei der Analyse der sozialen und wirtschaftlichen Voraussetzungen für ein solches Entwicklungstempo des amerikanischen Kapitalismus wies Engels darauf hin, daß dies vor allem durch die Beseitigung der Sklaverei im Süden, 5

Marx/Engels, Ausgewählte Briefe, Berlin 1953, S. 179.

Über den amerikanischen Kapitalismus

137

die Herausbildung eines umfassenden nationalen Marktes, die Verabschiedung der Homesteads-Gesetze, die schnelle Besiedlung des Westens und den Bau der transkontinentalen Eisenbahnen sowie durch die Errichtung eines Systems unerhörter Ausbeutung der werktätigen Massen möglich wurde. Eine nicht unwesentliche Bedeutung hatten auch die riesigen Naturreichtümer des Landes und die Tatsache, daß die amerikanische Bourgeoisie es verstand, europäisches Kapital, die ziemlich hochentwickelte Technik Europas und den gewaltigen Einwandererzustrom auszunutzen. Die Entwicklung des Kapitalismus wurde in den Vereinigten Staaten von einer wachsenden Konzentration des Kapitals, der Bildung von Trusts und Syndikaten begleitet. Der erbitterte Konkurrenzkampf und die tiefen Wirtschaftskrisen beschleunigten den Prozeß der Konzentration der Produktion. Bereits in den achtziger und neunziger Jahren entstanden in einer Reihe von Industriezweigen große Konzerne. Am Ende dieser Periode gab es 445 Industrie-, Transport- und kommunale Trusts mit einem Kapital von 20 Milliarden Dollar.® Die Zahl der Millionäre betrug viertausend. Marx und Engels widmeten diesem charakteristischen Zug in der Entwicklung der amerikanischen Wirtschaft besondere Aufmerksamkeit. Im Jahre 1882 stellte Engels fest, daß die Konzentration des Kapitals in den Vereinigten Staaten mit „einer fabelhaften Geschwindigkeit" vor sich gehe.7 Vier Jahre später schrieb er an den Marxisten F. A. Sorge in der Absicht, die amerikanischen Sozialisten auf die tiefgreifenden Veränderungen, die sich in der Wirtschaft des Landes vollzogen, aufmerksam zu machen: „Die kapitalistische Zentralisation geht bei Euch mit Schritten von Siebenmeilenstiefeln vorwärts, ganz anders wie hier" 8 , das heißt in Europa. Ein treffendes Bild der stürmischen Kapitalkonzentration und der Vorherrschaft der Monopole in den USA gab Engels in einem speziellen Artikel, den er während der Druckvorbereitung für den dritten Band des „Kapital" schrieb.9 Er beschränkte sich nicht auf die Feststellung 6

7 8 9

Nach den Angaben von Moody, John, The Truth About The Trusts, New York 1904, S. 488/489. „Der Sozialdemokrat", Nr. 21 vom 18. 5. 1882. Briefe und Auszüge aus B r i e f e n . . . an Sorge u. a. Stuttgart 1906, S. 209. Vgl. Engels, Friedrich, „Die Börse", in: Marx, Karl, Das Kapital. Bd III,

S. 42-44.

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dieser Tatsachen, sondern zog eine Schlußfolgerung von großer wissenschaftlicher und politischer Bedeutung. „Die Tendenz des kapitalistischen Systems, letzten Endes die Gesellschaft in zwei Klassen zu spalten, einige wenige Millionäre einerseits und anderseits eine große Masse bloßer Lohnarbeiter, diese Tendenz, wenn auch ständig durchkreuzt und eingedämmt durch andere Kräfte, wirkt nirgends mit größerer Gewalt als in Amerika", stellte Engels 1887 im Anhang zur amerikanischen Ausgabe der „Lage der arbeitenden Klasse in England" fest. 1 0 Die Entstehung großer Industrievereinigungen in der Wirtschaft der USA, die die Grundlage der künftigen Monopole bildeten, führte zur verstärkten Ausbeutung der Arbeiter und Farmer, zum Angriff auf die kleinen und mittleren Unternehmer und zu deren Vernichtung im Konkurrenzkampf. Infolgedessen verschärften sich die Klassengegensätze im Lande. Die wachsende Unzufriedenheit unter den werktätigen Massen fand ihren Ausdruck im Aufschwung der Arbeiter- und Farmerbewegung in den letzten Jahrzehnten des vorigen Jahrhunderts. In dem aktiven und selbstlosen Kampf um den Achtstundentag erwies sich das amerikanische Proletariat als Vorbild für die internationale Arbeiterbewegung. Marx und Engels verfolgten das Auftreten der Arbeiter der Vereinigten Staaten aufmerksam. Als im Juli 1877 zum ersten Mal in der Geschichte Amerikas ein Generalstreik der Eisenbahner ausbrach, der siebzehn Staaten umfaßte, äußerte sich Marx unverzüglich dazu in einem Brief an Engels: „Was sagst Du von den Arbeitern der United States? Dieser erste Ausbruch gegen die seit dem Bürgerkrieg entstandne vereinigte Kapitalsoligarchie... kann in den United States sehr wohl den Ausgangspunkt für Konstitution einer ernsthaften Arbeiterpartei bilden." 1 1 Engels maß dem Streik der Eisenbahner ebenfalls große Bedeutung bei. Er antwortete Marx: „Die amerikanische Streikgeschichte hat mir viel Freude gemacht. Die springen ganz anders in die Bewegung hinein als diesseits des Wassers. Erst 12 Jahre nach Abschaffung der Sklaverei, und schon die Bewegung so akut!" 1 2 In 10

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12

Engels, Friedrich, Die Lage der arbeitenden Klasse in England, Berlin 1952, S. 375. Marx/Engels, Briefwechsel, Bd 4, Berlin (1950), S. 556 (Fremdwörter verdeutscht). Ebenda, S. 559.

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dem Artikel, „Die Arbeiterbewegung in Deutschland, Frankreich, den Vereinigten Staaten und Rußland", der im Januar 1878 in einer italienischen Zeitung erschien, erklärte e r : „In Amerika wurde die Arbeiterfrage durch den blutigen Streik der Angestellten der großen Eisenbahnlinien auf die Tagesordnung gesetzt. Es ist ein Ereignis, das in der amerikanischen Geschichte Epoche machen wird. Auf diese Weise geht die Bildung einer Arbeiterpartei in den Vereinigten Staaten mit großen Schritten voran. In jenem Land schreitet man rasch vorwärts, und wir müssen die Bewegung verfolgen, um nicht von irgendeinem großen Erfolg überrascht zu werden, der bald zustande kommen wird." 1 3 Marx und Engels schätzten also die Aktivität des amerikanischen Proletariats im K a m p f e gegen die kapitalistische Ausbeutung hoch ein und stellten fest, daß Voraussetzungen f ü r eine erfolgreiche Tätigkeit der politischen Partei der Arbeiterklasse vorhanden waren. Bekanntlich entstand die Sozialistische Arbeiterpartei in den Vereinigten Staaten 1877. In dieser Partei entfaltete sich sofort ein heftiger ideologischer Kampf zwischen dem marxistischen Kern mit F . A. Sorge an der Spitze und den opportunistischen und sektiererischen Strömungen der Lassalleaner, deren Führer F. Bolte war. Die Lassalleaner traten gegen den revolutionären Massenkampf auf und setzten ihre Hoffnungen auf den Sieg an den Wahlurnen. Gegenüber den Gewerkschaftsorganisationen und verschiedenen gesellschaftlichen Vereinigungen der Kleinbourgeoisie und der Farmer verhielten sie sich ebenfalls feindlich und betrachteten sie als „einheitlich reaktionäre Masse". Marx u n d Engels klärten die amerikanischen Sozialisten geduldig und beharrlich über die komplizierte Kunst der Strategie und Taktik des Marxismus auf, wiesen auf Fehler hin und gaben praktische Ratschläge, wie sie die Verbindungen zu den Arbeitern und zu den Gewerkschaftsorganisationen erweitern könnten. „Die T r a d e Unions m ü ß t Ihr um jeden Preis zu gewinnen suchen" 1 4 , schrieb Marx, als er sich 1871 a n die amerikanischen Sozialisten wandte. Seit der zweiten H ä l f t e der siebziger J a h r e ist die Geschichte der sozialistischen Bewegung in den USA besonders eng mit der Tätigkeit von Engels verbunden. Er stand im Briefwechsel mit den hervorragendsten Sozialisten des Landes wie F. A. Sorge, T. Cuno, F. Kelley13 14

„La Plebe", Milano, Nr. 3 vom 22. 1. 1878. Briefe und Auszüge aus Briefen... an Sorge u. a., a. a. O., S. 35 (Fremdsprachige Wörter verdeutscht).

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Wischnewetzky, H. Schlüter und anderen, aber auch mit Leitern örtlicher Arbeiterorganisationen und mit einfachen Sozialisten. Dabei war er bestrebt, der amerikanischen Arbeiterbewegung die größtmögliche Unterstützung angedeihen zu lassen, um ihr zu helfen, eine proletarische Massenpartei in den Vereinigten Staaten zu schaffen. Engels unterstützte den marxistischen Kern der Sozialistischen Arbeiterpartei und kritisierte diejenigen Sozialisten heftig, die die revolutionäre Theorie nicht praktisch anzuwenden verstanden. Er forderte stets, die Verbindung zu den Volksmassen zu erweitern und die Arbeiter im Geiste der revolutionären Perspektive und der Unversöhnlichkeit gegenüber der Bourgeoisie und ihrer Agentur in der Arbeiterbewegung zu erziehen. Engels entwarf in diesem Zusammenhang die taktische Linie der amerikanischen Sozialisten. Er forderte als unbedingt notwendig, sich mit der Arbeiterbewegung zu vereinigen, in den Massenorganisationen des Proletariats zu arbeiten, sie von innen heraus zu revolutionieren und sie auf die Seite der Sozialisten zu ziehen. Seine Ratschläge und Hinweise stellen ein Lehrbeispiel f ü r die schöpferische Anwendung des Marxismus und seine revolutionäre Taktik dar. Mit Lenins Worten gesagt, war das „ein Musterbeispiel materialistischer Dialektik, die Fähigkeit, je nach den konkreten Besonderheiten dieser oder jener politischen und ökonomischen Verhältnisse verschiedene Punkte, verschiedene Seiten einer F r a g e in den Vordergrund zu rücken und hervorzuheben." 1 8 Die amerikanischen Marxisten folgten den Hinweisen von Engels und nahmen regen Anteil an der Tätigkeit der Arbeiterorganisationen. Sie unterstützten und leiteten in einigen Orten den Streikkampf der Arbeiter um die Durchsetzung ihrer dringenden Forderungen nach Verkürzung der Arbeitszeit und nach Lohnerhöhungen. Die dem Marxismus feindlich gegenüberstehenden Lassalleaner aber hatten die F ü h r u n g in der Partei an sich gerissen und verfolgten eine sektiererische Politik gegenüber der Massenbewegung der Werktätigen. Sie ignorierten solche Arbeiterorganisationen wie den Orden der Ritter der Arbeit und die Amerikanische Föderation der Arbeit. In den achtziger Jahren, als im gesamtnationalen Maßstab große Klassenkämpfe des Proletariats um den Achtstundentag ausbrachen, weigerten sich die opportunistischen F ü h r e r der Sozialistischen Arbeiterpartei, a n ihnen 15

Lenin, W. /., Werke, Bd 12, Berlin 1959, S. 360.

Über den amerikanischen Kapitalismus

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teilzunehmen. Sie traten auch nicht für die zum Tode verurteilten Führer des berühmten Chikagoer Streiks von 1886 ein. Im Ergebnis dieser sektiererischen und opportunistischen Politik der Parteiführer wandte sich ein bedeutender Teil der revolutionär gesinnten Arbeiter von der Partei ab. Die Reihen der Sozialistischen Arbeiterpartei- lichteten sich rasch. Engels kritisierte die Lassalleaner heftig wegen ihres Sektierertums, ihrer Isolierung von der Arbeiterbewegung, ihres Dogmatismus und ihrer Buchstabengelehrtheit. Er wies ständig auf die Notwendigkeit hin, schöpferisch an den Marxismus heranzugehen, und hob hervor, daß man die Theorie des wissenschaftlichen Kommunismus nicht in ein totes Dogma verwandeln darf. Engels trat gegen jene deutschen Sozialisten in Amerika auf, die die marxistische Lehre als unveränderliche Schlußfolgerungen und Formeln für alle Zeiten und alle beliebigen Verhältnisse betrachteten. Er verspottete sie heftig. In einem Brief an Sorge schrieb Engels, daß sie großenteils die marxistische Theorie nicht verstehen, sie „behandeln sie doktrinär und dogmatisch als etwas, das auswendig gelernt werden muß, dann aber auch allen Bedürfnissen ohne weiteres genügt. Es ist ihnen ein Credo, keine Anleitung zum Handeln". 1 6 Dogmatismus und Sektierertum fügten der Arbeiterbewegung und der Sozialistischen Partei in den USA einen großen Schaden zu, was Engels, der immer darum bemüht war, der amerikanischen Arbeiterklasse eine wirksame Hilfe zu leisten, stark beunruhigte. Im Jahre 1886 reisten Engels nahestehende Revolutionäre, die Tochter von Karl Marx, Eleanor Aveling, ihr Gatte Edward Aveling und Wilhelm Liebknecht, in die Vereinigten Staaten. Sie traten dort auf Versammlungen der Arbeiter auf und erläuterten ihnen, wie wichtig und notwendig die Vereinigung aller Kräfte im Kampf gegen die Bourgeoisie ist. Edward Aveling entlarvte die sektiererische Haltung des Exekutivkomitees der Sozialistischen Arbeiterpartei und wies darauf hin, daß die Partei ihr eigenes Todesurteil unterzeichne, wenn sie nicht eine enge Verbindung zu dem Orden der Ritter der Arbeit und den anderen Arbeiterorganisationen herstelle. Nach ihrer Rückkehr aus Amerika veröffentlichten die Avelings eine Reihe von Artikeln und später das Buch „Die Arbeiterbewegung in Amerika". Diese Arbeiten enthielten die Einschätzung 16

Marx/Engels, Ausgewählte Briefe, a. a. O., S. 469.

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der amerikanischen sozialistischen und Arbeiterbewegung und deckten ihre Schwächen auf. Als die Losung aufgestellt wurde, die Arbeit der Sozialisten in den Gewerkschaften zu verstärken, nahm sie das Exekutivkomitee der Sozialistischen Arbeiterpartei feindlich auf. Infolgedessen verschärfte sich der ideologische Kampf innerhalb der Partei. Die Opportunisten und Sektierer beschritten endgültig den Weg der Versöhnung mit der Bourgeoisie. Tief empört schrieb Engels an Sorge: „In New York scheint eine schöne Bande an der Spitze der Partei zu stehen, der ,Sozialist' ist ein Musterblatt, wie es nicht sein soll." 1 7 Engels begab sich im Jahre 1888 in Begleitung der Avelings und Professor Schorlemmers nach Amerika, um dieses Land kennenzulernen. Er besuchte die Vereinigten Staaten und Kanada und lernte im Verlauf eines Monats - vom 17. August bis zum 19. September - New York, Boston und andere Städte kennen. In New York traf er mit Sorge und anderen bekannten Marxisten zusammen. Wie er nach seiner Rückkehr nach Europa sagte, hatte sich seinem Blick ein Land von unerhörten Kontrasten geboten, in dem nicht nur der Klassenkampf des Proletariats gegen die Bourgeoisie kraß in Erscheinung trete, sondern auch der naive Glaube vieler Arbeiter an die Unternehmer. Dem märchenhaften Vermögen der Millionäre standen schreckliche Entbehrungen der werktätigen Massen gegenüber. Das war ein Land, in dem überall das goldene Kalb herrschte. Die Reise in die Vereinigten Staaten gab Engels die Möglichkeit, sich persönlich von dem Verrat der Opportunisten an den Interessen der Arbeiterklasse zu überzeugen. In den folgenden Jahren unterstützte er die amerikanischen Marxisten unentwegt weiter und billigte von ganzem Herzen ihren Kampf um die Vertreibung der Fraktion Rosenberg, die sich im Exekutivkomitee der Sozialistischen Arbeiterpartei verschanzt hatte. Als dieser Kampf von Erfolg gekrönt wurde und die Exekutive abgesetzt worden war, schrieb Engels mit aufrichtiger Befriedigung nach Amerika: „Daß Ihr den Rosenberg u. Ko. abgemurkst habt, ist bei Eurer Revolution im amerikanischen sozialistischen Teekessel die Hauptsache." 1 8 Die neue Führung der Sozialistischen Arbeiterpartei zog jedoch aus den Hinweisen von Engels über die Schädlichkeit des Sektierertums nicht die notwendigen Schlußfolgerungen, obwohl sie einige Schritte 17 18

Briefe und Auszüge aus Briefen . . . an Sorge u. a., a. a. O., S. 235. Ebenda, S. 328.

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unternahm, um sich den breiten Schichten des amerikanischen Proletariats zu nähern. Sie verhielt sich den Trade Unions gegenüber mißtrauisch und stand zu solch bedeutenden amerikanischen Gewerkschaftsorganisationen wie der Amerikanischen Föderation der Arbeit und dem Orden der Ritter der Arbeit im Gegensatz. Im Ergebnis dieser Politik konnte die Partei an den erbitterten Kämpfen des amerikanischen Proletariats in jener Zeit nicht aktiv teilnehmen und solche Massenbewegungen wie den Streik 1892 im Homestead, den PullmanStreik, den Marsch der Arbeitslosen nach Washington im Jahre 1894 und die Streiks der Bergleute sowie die aktiver gewordene Farmerbewegung nicht leiten. Auf diese Weise war die Sozialistische Arbeiterpartei fast völlig von dem weite Kreise umfassenden Kampf der werktätigen Massen isoliert, der sich in den Vereinigten Staaten in der ersten Hälfte der neunziger Jahre entfaltete. Danach schwächten sich die Klassenzusammenstöße in den USA ab, was auch Engels in einem Brief an Sorge am 16. Januar 1895 feststellte. Bezeichnend ist, daß er bereits vorher darauf aufmerksam machte. In einem Brief an H. Schlüter schrieb Engels am 30. März 1892: „In einem solchen Land sind stets erneuerte Anläufe, gefolgt von ebenso sicheren Rückschlägen, unausbleiblich. Nur daß die Anläufe doch immer gewaltiger, die Rückschläge immer weniger lähmend werden, und im ganzen die Sache doch voran geht." 1 9 Engels berücksichtigte ständig sowohl die schwachen als auch die starken Seiten der Arbeiterbewegung in den Vereinigten Staaten. Er war der Meinung, daß die Herausbildung des Klassenbewußtseins des amerikanischen Proletariats durch eine Reihe besonderer Umstände verzögert wurde. Ein wesentlicher Faktor war die ständige Fluktuation in der Zusammensetzung der Arbeiterklasse. „Es gab zwei Umstände, die lange Zeit verhinderten, daß die unvermeidlichen Konsequenzen des kapitalistischen Systems sich in Amerika in ihrem vollen Lichte zeigten. Das waren der Zugang zum Besitz billigen Bodens und der Einwandererzustrom. Sie ermöglichten es viele Jahre hindurch der großen Masse der einheimischen amerikanischen Bevölkerung, sich in frühem Mannesalter von der Lohnarbeit zurückzuziehen' und Farmer, Händler oder selbst Unternehmer zu werden, während das harte Los der Lohnarbeit, die Stellung eines Proletariats auf Lebenszeit, meist 19

Ebenda, S. 381.

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dem Einwanderer zufiel." 2 0 Eine hemmende Wirkung besaß auch die bunte nationale Zusammensetzung des Proletariats. Die amerikanische Bourgeoisie machte sich den riesigen Zustrom der Einwanderer, die aus verschiedenen Ländern in die Vereinigten Staaten kamen, zunutze, um die Reihen der Arbeiterbewegung zu spalten. Sie hetzte die Proletarier einer Nationalität gegen die andere, Facharbeiter gegen Ungelernte, Weiße gegen Neger auf. Den einheimischen amerikanischen Arbeitern wurde die Idee der Überlegenheit über die Farbigen und über die Ausländer suggeriert. In diesem Zusammenhang schrieb Engels an Schlüter am 30. März 1 8 9 2 : „Was Euer großes Hindernis in Amerika ist, scheint mir, besteht in der Ausnahmestellung der eingeborenen A r b e i t e r . . . Diese Eingewanderten sind aber in Nationalitäten geteilt, die sich untereinander und meistenteils auch die Landessprache nicht verstehen. Und Eure Bourgeoisie versteht es noch viel besser als die österreichische Regierung, eine Nationalität gegen die andere auszuspielen." 2 1 Auf Kosten der Einwanderer, die die amerikanische Bourgeoisie schonungslos ausbeutete, korrumpierte sie die oberen Schichten der einheimischen Arbeiter. Zu Beginn der neunziger Jahre entstand als Folge dieser Politik eine bedeutende Schicht der Arbeiteraristokratie, die in der Folgezeit eine große Rolle beim Auftreten einer so starken opportunistischen Tendenz in der amerikanischen Arbeiterbewegung spielte. Negativ wirkte sich auch die Tatsache aus, daß der Kampf deT zwei Tendenzen in der Arbeiterbewegung der USA, der revolutionären und der reformistischen, unter Bedingungen erfolgte, bei denen das amerikanische Proletariat keinen Kampf um gesamtnationale demokratische Aufgaben führte. Ein großes Hindernis auf dem Wege zur Entwicklung der Arbeiterbewegung stellte auch das bürgerliche Zweiparteiensystem dar. Die regierenden Kreise der Vereinigten Staaten nutzten den parlamentarischen Kampf der zwei Parteien, die die Interessen des Großkapitals vertraten, aus, um die Aufmerksamkeit der breiten Massen der Arbeiter und Farmer von ihren unmittelbaren Aufgaben abzulenken. Die Vertreter der herrschenden Klassen propagierten das Zweiparteiensystem in breitem Maße, züchteten unter den Werktätigen mit allen Mitteln kleinbürgerliche Illusionen und verhinderten 20

21

Engels, Friedrich, Die Lage der arbeitenden Klasse in England, a. a. O., S. 375. Briefe und Auszüge aus Briefen... an Sorge u a., a. a. O., S. 380/81.

Uber den amerikanischen Kapitalismus

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so die Schaffung einer selbständigen Partei der Arbeiterklasse. Sie betrogen die Volksmassen, indem sie während der W a h l k ä m p f e inhaltslose Duelle zwischen der Demokratischen und der Republikanischen Partei durchführten und die Zügel der Regierung bald der einen, bald der anderen Partei übergaben. „Der politische S c h a u p l a t z . . . wurde" in den USA wie auch in England, nach einem treffenden Ausdruck von W. I. Lenin, „ausschließlich von der triumphierenden, selbstzufriedenen Bourgeoisie eingenommen, die in der Kunst, die Arbeiter zu betrügen, zu demoralisieren und zu bestechen, in der Welt nicht ihresgleichen findet".22 Mit allen Mitteln verhinderte die amerikanische Bourgeoisie die Entfaltung der Arbeiterbewegung. Sie wandte dazu nicht nur Korruption und Betrug an, sondern warf Streiks mit Waffengewalt nieder, zog die Streikenden vors Gericht und schickte ihre Organisatoren a u f s Schafott, wie es in den Jahren 1877 und 1886 geschah. Die bürgerliche Presse rief in jenen Jahren die Bundestruppen und die Polizei zynisch auf, gegenüber den Arbeitern nicht mit Blei zu sparen. In den Arbeiten von Engels und in seinem Briefwechsel mit den amerikanischen Marxisten ist somit eine umfassende Charakteristik des vormonopolistischen Stadiums des Kapitalismus in den Vereinigten Staaten enthalten. Die wichtigsten seiner Hinweise zu den F r a g e n der amerikanischen Arbeiterbewegung behielten ihre Gültigkeit bis zum heutigen T a g und besitzen hervorragende wissenschaftliche Bedeutung. Es ist unmöglich, die Geschichte des amerikanischen Kapitalismus und der Arbeiterbewegung in den USA im vorigen Jahrhundert allseitig zu beleuchten, ohne die Arbeiten von Marx und Engels zu studieren. Gleichzeitig helfen ihre Werke, die komplizierten Prozesse, die im Schöße des modernen amerikanischen Imperialismus vor sich gehen, besser zu verstehen. Sie geben eine wissenschaftliche Grundlage, um die ökonomische Entwicklung in den Vereinigten Staaten, die Probleme der wirtschaftlichen Lage der Arbeiter, den Charakter ihres Streikkampfes und die ökonomischen Wurzeln des Opportunismus und Revisionismus zu verstehen. Die Werke der Begründer des wissenschaftlichen Kommunismus erleichtern es, die starken und schwachen Seiten der kommunistischen und Arbeiterbewegung in den Vereinigten Staaten und die Ursachen der langsamen Herausbildung der proletarischen 22

Lenin, W. /., Werke, Bd 12, Berlin 1959, S. 371.

10 Friedrich Engels, Bd. 1

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Ideologie unter den breiten Massen der amerikanischen Arbeiterklasse zu erkennen. Natürlich bedeutet das nicht, daß man in ihren Arbeiten direkte und erschöpfende Antworten auf alle Fragen finden kann, die mit der Entwicklung des modernen amerikanischen Kapitalismus verbunden sind. Bekanntlich starb Engels, als die Welt in eine neue Epoche, in die Epoche des Imperialismus und der proletarischen Revolutionen eintrat. W. I. Lenin arbeitete die Theorie des Imperialismus aus, indem er sich auf die wichtigsten Grundsätze des Marxismus stützte und ihn schöpferisch weiterentwickelte, und wies nach, daß zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts der Kapitalismus der freien Konkurrenz zum Monopolkapitalismus wurde und somit in die Phase des Verfalls eintrat. „Früher fortschrittlich", so erklärte er, „ist der Kapitalismus jetzt reaktionär geworden, er hat die Produktivkräfte so weit en wickelt, daß der Menschheit entweder der Übergang zum Sozialismus oder aber ein jähre-, j a sogar jahrzehntelanger bewaffneter Kampf der „Groß"mächte um die künstliche Aufrechterhaltung des Kapitalismus mittels der Kolonien, Monopole, Privilegien und jeder Art von nationaler Unterdrückung bevorsteht". 23 Bezeichnend ist, daß die Leninsche Analyse über die Veränderungen, die in der Entwicklung der amerikanischen Wirtschaft vor sich gingen, gerade Hinweise auf diejenigen Züge enthält, die von Marx und Engels erkannt worden waren — wie die schnelle Konzentration der Produktion und die Zentralisation des Kapitals. „Die amerikanischen Truste", schrieb Lenin, „sind der höchste Ausdruck der Ökonomik des Imperialismus oder monopolistischen Kapitalismus." 2 4 Die letzten Jahrzehnte waren durch das schnelle und ununterbrochene Wachstum der Monopole, durch die Ausbreitung ihrer Herrschaft in Wirtschaft und Politik und durch die Unterordnung des Staatsapparates unter ihre Interessen gekennzeichnet. Von der Kontinuität dieser Entwicklungslinie des amerikanischen Kapitalismus, die zur Zeit von Marx und Engels begann, sich zu Lenins Lebzeiten weiterentwickelte und in der Gegenwart ihren Höhepunkt erreichte, zeugen auch die Eingeständnisse offizieller Persönlichkeiten der Vereinigten Staaten. In diesem Zusammenhang ist es nicht uninteressant, die Äußerungen von drei 23 M

Derselbe, Werke, Bd 21, Berlin 1960, S. 302. Derselbe, Werke, Bd 23, Berlin 1957, S. 35.

Über den amerikanischen Kapitalismus

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Präsidenten der USA zu vergleichen. Im Jahre 1888 schrieb Cleveland in seiner Botschaft an den Kongreß: „Wenn wir auf die Ergebnisse der Kapitalvereinigungen blicken, stellen wir die Existenz von Trusts, Kombinaten und Monopolen fest zur selben Zeit, in der einfache Bürger des Landes, die weit zurück bleiben, um ihre Existenz kämpfen oder zugrunde gehen." Fünfundzwanzig Jahre später, im Jahre 1913, gab Woodrow Wilson eine nicht weniger interessante Erklärung ab. „Die Herren der Regierung der Vereinigten Staaten", so sagte er, „sind die Kapitalisten und Fabrikanten der Vereinigten Staaten." Es vergingen nochmals fünfundzwanzig Jahre, und Franklin Roosevelt gestand in seiner Botschaft an den Kongreß am 29. April 1938 ein: „Heute wächst bei uns die Konzentration des Privatkapitals, wie sie beispiellos in der Geschichte i s t . . . Die moderne Statistik weist nach, daß während der Krisen die Konzentration der Unternehmen beschleunigt wird. Die Möglichkeiten für die weitere Verstärkung der großen Unternehmen auf Kosten kleinerer Konkurrenten, die durch die Finanzkatastrophe geschwächt sind, erweitern sich." Dieser Prozeß entwickelte sich auch in der Folgezeit mit Unerbittlichkeit, so daß einzelne Industriezweige unter die Kontrolle von zwei bis drei Körperschaften gerieten. Ein bedeutender Teil der gesamten amerikanischen Industrie befindet sich gegenwärtig in den Händen der acht größten Monopolvereinigungen. Die Monopole haben ihre ungeteilte Herrschaft in der Wirtschaft errichtet. Aus all diesen Tatsachen ist ersichtlich, wie scharfsinnig Engels war, als er in seinen Arbeiten wiederholt den Gedanken unterstrich, daß die Tendenz zur Konzentration der Produktion in den Vereinigten Staaten bedeutend stärker als in den anderen Ländern in Erscheinung tritt. Im engen Zusammenhang damit steht auch das Problem der ökonomischen Lage der amerikanischen Arbeiterklasse. Bekanntlich propagieren die Apologeten des amerikanischen Kapitalismus mit Nachdruck die These vom höheren Lebensstandard der amerikanischen Arbeiter, besonders in den Nachkriegsjahren. Sie versuchen zu „beweisen", daß das Marxsche Gesetz über die Verelendung des Proletariats unter den Bedingungen der Vereinigten Staaten nicht wirksam sei, daß Ford angeblich den Sieg über Marx davongetragen und Keynes den Marxismus widerlegt habe. Eine objektive Analyse der zahlreichen Angaben der offiziellen Statistik über die ökonomischen Bedingungen der Arbeiter zeugt aber von 10*

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wirkt das Gesetz über die Verelendung des Proletariats sowohl in den etwas anderem. In der Epoche der allgemeinen Krise des Kapitalismus U S A wie auch in den anderen kapitalistischen Ländern. Der relativ hohe Lebensstandard der amerikanischen Arbeiter im Vergleich zu kapitalistischen Ländern Europas bedeutet keineswegs, daß der amerikanische Kapitalismus in der Lage ist, der gesamten Arbeiterklasse normale Lebensbedingungen zu sichern. Seit einigen Jahrzehnten besteht in den U S A eine ständige Armee von drei bis vier Millionen Arbeitslosen, die zur Zeit der Wirtschaftskrisen stark ansteigt. Drei tiefe Wirtschaftskrisen in der Zeit zwischen den zwei Weltkriegen und drei krisenartige Produktionsrückgänge in der Industrie brachten den werktätigen Massen der Vereinigten Staaten ungezähltes Leid. Die Versuche der Bourgeoisie, durch die Verkündung immer wieder neuer Rezepte den Kapitalismus vor Krisen zu bewahren, blieben erfolglos. Nebenbei gesagt half auch die Theorie von der „gelenkten Wirtschaft" nichts. Ungeachtet der starken Militarisierung der Wirtschaft ist es den regierenden Kreisen der Vereinigten Staaten nicht gelungen, ernsthafte Krisenerscheinungen in den Nachkriegs jähren zu verhindern. Dabei muß erwähnt werden, daß die amerikanische

Arbeiterklasse

einer immer stärker werdenden Ausbeutung durch die Monopole ausgesetzt ist. Es wächst die Arbeitsintensität, und damit vergrößern sich auch die Profite der Kapitalisten. W i e Berechnungen zeigen, beliefen sich in der Zeit von 1 9 1 8 bis einschließlich 1 9 5 9 die Gesamtprofite der Monopole der U S A auf 768,0 Milliarden Dollar

(ohne Abzug der

Steuern) und auf 4 2 2 , 3 Milliarden Dollar Reingewinn. Kennzeichnend ist, daß in den Nachkriegs jähren die Profite stark angestiegen sind. Während in der Zeit zwischen den zwei Weltkriegen (von 1 9 1 8 bis 1 9 3 9 ) die amerikanischen Unternehmen Gewinne in Höhe von 128,6 Milliarden Dollar ohne Abzug der Steuern oder 96,7 Milliarden Dollar Reingewinn erzielten, sind diese Summen nach dem zweiten Weltkrieg (von 1 9 4 6 bis 1959) auf 5 2 3 , 9 Milliarden Dollar, beziehungweise 2 7 1 , 0 Milliarden Dollar gestiegen. Mit anderen Worten ist die Gesamtsumme der Profite der Monopole in den Nachkriegs jähren auf das Drei- bis Vierfache im Verhältnis zur Vorkriegszeit gestiegen. 2 5 26

Vgl. Abriß der neuen und neuesten Geschichte der USA, Bd 2, Moskau 1960, S. 671 (russisch).

Uber den amerikanischen Kapitalismus

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Das Proletariat der Vereinigten Staaten kämpft aktiv gegen diese Offensive des Monopolkapitals und führt einen Kampf um die Verbesserung seiner ökonomischen Lage. Die Streikbewegung der Arbeiter um die Erhaltung und Erhöhung des Arbeitslohnes ist eine anschauliche Widerlegung der apologetischen Behauptung vom „Wohlfahrtsstaat". Die statistischen Angaben beweisen, daß in der Zeit von 1918 bis 1959 in den Vereinigten Staaten 122 490 Streiks stattfanden, an denen 6 7 1 0 2 000 Arbeiter teilnahmen. Aber noch mehr, bei einem solch allgemeinen Elan läßt der Kampf der Arbeiterklasse nicht nach, wie es die Apologeten des amerikanischen Kapitalismus behaupten, sondern im Gegenteil, er entwickelt sich in einer aufsteigenden Linie. So entfallen auf die vierzehn Jahre der Nachkriegszeit (von 1946 bis 1959) 57 859 Streiks, das heißt 47,2 Prozent der oben für einen Zeitraum von 40 Jahren genannten Streikzahl. An ihnen nahmen 33 975 000 Arbeit e r 2 6 teil, was mehr als die Hälfte der Gesamtzahl der Streikenden in denselben vierzig Jahren ausmacht. Ihrem Charakter nach wurden die Streiks lang andauernder und organisierter. Bei den Arbeitern ist das Streben nach Vereinigung gewachsen, und der Zustrom zu den Gewerkschaften verstärkte sich. Die Zahl der Gewerkschaftsmitglieder ist gegenwärtig auf 17 Millionen angestiegen. Ein großes Verdienst um das Wachstum des Klassenbewußtseins des amerikanischen Proletariats hat die Kommunistische Partei der USA, die schon über vierzig Jahre einen mutigen und selbstlosen Kampf um die Interessen der Arbeiterklasse führt. Sie nimmt aktiv an der Streikbewegung teil mit dem Ziel, die materielle Lage der Werktätigen zu verbessern, und tritt zugleich dafür ein, den ökonomischen mit dem politischen Kampf zu verbinden. Alle diese Tatsachen dienen als Bestätigung der Kraft und Lebensfähigkeit der marxistisch-leninistischen Lehre vom Klassenkampf in bezug auf den modernen Monopolkapitalismus in den USA. Unter den Bedingungen des verschärften Klassenkampfes im Lande versuchen die Monopole, die Streikbewegung zu unterdrücken. Sie greifen immer häufiger zum Terror. Auf Forderung der Vertreter des Großkapitals verabschiedete der Kongreß eine Reihe von Gesetzen, die sich gegen die Lebensinteressen der Arbeiterklasse richten. Das gilt insbesondere für die Gesetze von Watson-Parker (1926), von SmithConnally (1943), von Taft-Hartley (1947), Mc Carran-Mundt (1950), 28

Ebenda, S. 672 (russisch).

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Mc Carran-Walter

(1952)

und Humphrey-Butler ( 1 9 5 4 ) . Alle diese

Gesetze schränken die demokratischen Rechte der Arbeiter ein und versetzen

die

Werktätigen

in

eine

schwierige

Lage,

die

noch

dadurch verschlechtert wird, daß in der arbeiterfeindlichen Politik der amerikanischen Unternehmer in den Nachkriegsjahren Gewaltmethoden und Repressalien vorherrschen. Diese Zeit der Reaktion

finsteren

wirkte sich natürlich auf die Kampfkraft

politischen

der

Arbeiter-

bewegung aus. Wenn man den Charakter der amerikanischen Arbeiterbewegung in der neuesten Zeit einschätzt, muß man darauf hinweisen, daß das Proletariat der Vereinigten Staaten nicht wenige hervorragende Leistungen in der Geschichte des Kampfes gegen das Joch des Monopolkapitalismus aufzuweisen hat. Gleichzeitig damit kamen im Verlaufe dieses Kampfes Schwächen zum Vorschein, auf die bereits Marx, Engels und Lenin aufmerksam gemacht hatten. Es konnten sich auf die Arbeiterbewegung des Landes Fehler auswirken, die von der Kommunistischen Partei der U S A nicht bekämpft wurden. Wie Foster betont, gab es in der Tätigkeit ihrer Führung „viele Fehler bei der Anwendung des Marxismus auf die komplizierten Bedingungen des Klassenkampfes in den U S A "

27

. Diese Fehler, führte

er weiter aus, trugen manchmal den Charakter linker Abweichungen. Es gab des öfteren F ä l l e dogmatischer Anwendung der marxistischleninistischen Theorie, ohne daß die Besonderheiten der amerikanischen Wirklichkeit genügend berücksichtigt wurden. Es muß aber besonders betont werden, daß die Hauptgefahr für die Kommunistische Partei der rechte Opportunismus war, der in der 2. Hälfte der zwanziger J a h r e in der Propagierung der „Ausnahmestellung" der Entwicklung des amerikanischen Kapitalismus zum Ausdruck kam. In der Mitte der vierziger J a h r e unternahmen opportunistische Elemente mit Browder an der Spitze erneute Angriffe gegen den Marxismus, gegen die organisatorischen und ideologischen Prinzipien der kommunistischen Partei. Im Januar 1 9 4 4 erklärte Browder, daß in den Vereinigten

Staaten

„Klassenunterschiede und politische Gruppierungen gegenwärtig keine Bedeutung haben" 27

25

28

. Die verräterische Kapitulantenpolitik der Browder-

Foster, W. Z., Die Oktoberrevolution und die Vereinigten Staaten von Amerika, Moskau 1958, S. 40 (russisch). „The Communist", Januar 1944, S. 5 (rückübersetzt aus dem Russischen).

Über den amerikanischen Kapitalismus

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Anhänger führte im Mai desselben Jahres zur Auflösung der Partei und zur Schaffung der „Politischen Assoziation". Erst im Ergebnis eines hartnäckigen Kampfes der progressiven Kräfte, mit Foster an der Spitze, wurde die Partei im Juli 1945 wiederhergestellt. Zwölf Jahre später durchlebte die Kommunistische Partei erneut eine ernsthafte politische Krise durch rechte Abweichungen im Zusammenhang mit der Entstehung einer revisionistischen Strömung. Die Revisionisten versuchten aufs neue, die Kommunistische Partei von innen zu sprengen, sie in die sogenannte Vereinigung zur politischen Aktion umzubilden. Sie wurden aber geschlagen. Die Partei trat sowohl gegen die linken Sektierer als auch gegen die Revisionisten entschieden auf und entfaltete einen entschlossenen Kampf, um die Verbindung mit den Arbeitermassen zu erweitern, die politische Aktivität zu erhöhen und eine Massenpartei des Sozialismus zu schaffen. Folglich war Friedrich Engels im Recht, als er bereits gegen Ende des vorigen Jahrhunderts die amerikanischen Marxisten vor der Gefahr warnte, die der Opportunismus in sich birgt. Die von Engels erkannten ersten Keime des Revisionismus wuchern heute wie Unkraut. Der Opportunismus hat nicht nur einen schwächenden Einfluß auf die Kommunistische Partei der USA ausgeübt, sondern auch der gesamten amerikanischen Arbeiterbewegung seinen Stempel aufgedrückt. Sie geriet in erheblichem Maße in die Hände der reformistischen Gewerkschaftsführer. Infolgedessen war der Charakter der Streikkämpfe der Arbeiter besonders in der Nachkriegsperiode vorherrschend ökonomisch, tradeunionistisch. Die Forderungen der Arbeiter gingen in den meisten Fällen nicht über den Rahmen ihrer ökonomischen Beziehungen zu den Unternehmern hinaus und beschränkten sich auf Fragen der Lohnerhöhung, der Rentenfonds und der Verbesserung der Arbeitsbedingungen. Der ökonomische Kampf wird nur schwach mit dem politischen Kampf verbunden. Eine direkte Folge davon, daß das politische Bewußtsein der Arbeiterklasse in den USA kein hohes Niveau besitzt, waren zeitweilige, aber ernsthafte Niederlagen auf dem Gebiete der Arbeitsgesetzgebung, die in der Annahme der oben erwähnten reaktionären Gesetze durch den Kongreß ihren Ausdruck fanden. Eine unrühmliche Rolle spielten dabei die reformistischen Gewerkschaftsführer, die die Arbeiter auf den Weg des „reinen Trade Unionismus" drängen, sie von anderen Kampfmitteln ablenken und gegen die Verbindung der ökonomischen

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G . N . SEWOSTJANOW

und politischen Kampfaktionen der Arbeiterklasse auftreten. „Es gab noch nie in der ganzen Geschichte der internationalen Arbeiterbewegung eine so riesige und gleichzeitig der politischen Organisation so beraubte Gewerkschaftsbewegung wie unsere", 29 sagte der Vorsitzende der Kommunistischen Partei der USA, William Foster. Die starken opportunistischen Tendenzen in der Arbeiterbewegung der Vereinigten Staaten sind durch die Korrumpiertheit der reformistischen Führer und in bedeutendem Maße auch dadurch bedingt, daß die Arbeiterklasse unter einem starken Einfluß der bürgerlichen Ideologie steht. Das kommt am deutlichsten während des Wahlkampfes zur Geltung, zur Zeit der Präsidentschaftswahlen, der Wahlen zum Kongreß und zu den örtlichen Organen der gesetzgebenden und ausführenden Macht in den Staaten, in denen die Arbeiter der Bourgeoisie folgen, nicht ihre politische Unabhängigkeit behaupten und nicht selbständig als Klasse auftreten. Ein nicht weniger ernsthaftes Hindernis in der Entwicklung der Arbeiterbewegung ist auch, daß in den USA eine bedeutendere Arbeiteraristokratie als in anderen kapitalistischen Staaten vorhanden ist, die von den Monopolen Almosen erhält. All dies zeugt davon, daß die zahlreichen Äußerungen von Engels über den amerikanischen Kapitalismus und die Arbeiterbewegung in den Vereinigten Staaten von großer wissenschaftlicher und politischer Bedeutung sind. Das Leben bestätigt auf Schritt und Tritt die Richtigkeit und Kraft der Lehren von Friedrich Engels über die Gesetzmäßigkeiten und spezifischen Besonderheiten der Entwicklung des Kapitalismus in Amerika. Die Kommunistische Partei der USA läßt sich in ihrem entschiedenen Kampf gegen Opportunismus und Revisionismus, um die Reinheit der revolutionären Theorie von der großen und unbesiegbaren Lehre von Marx, Engels und Lenin leiten. In ihrer gesamten praktischen Tätigkeit tritt die Partei der Kommunisten auf gegen Dogmatismus und Buchstabengelehrtheit, gegen das Sektierertum, für die schöpferische Anwendung des Marxismus unter den konkreten Bedingungen des Klassenkampfes, gegen das Joch der Monopole und der dunklen Kräfte der Reaktion. Die Lösung einer verantwortungsvollen und schwierigen Aufgabe steht vor der Kommunistischen Partei der USA und vor der amerikanischen Arbeiterklasse. Sie sind dazu 29

„The Worker", vom 13. Februar 1942, S. 8 (rückübersetzt aus dem Russischen) .

Über den amerikanischen Kapitalismus

153

berufen, alle gesunden Kräfte der amerikanischen Nation zu vereinen und sich im Kampf der Werktätigen gegen die Kräfte der Reaktion, gegen die Vorbereitung eines neuen Weltkrieges an die Spitze zu stellen. „In den spezifischen Formen muß das amerikanische Volk Wege für die Entfaltung des Kampfes um Frieden und friedliche Koexistenz sowie dafür finden, die Angriffe des Großkapitals an der inneren Front zum Stehen zu bringen", sagte der Generalsekretär der Kommunistischen Partei der USA G. Hall in seinem Bericht auf dem XVII. Parteitag seiner Partei. 30 Zur Durchführung dieses Programms müssen sehr große Schwierigkeiten und Hindernisse überwunden werden. Es besteht aber kein Zweifel, daß sich die fortschrittlichen Kräfte der Vereinigten Staaten letzten Endes unter der Führung der Arbeiterklasse im gemeinsamen Kampf um Frieden und Demokratie vereinigen werden. Die ganze Erfahrung in der Entwicklung der menschlichen Gesellschaft zeigt, daß die Geschichte zwar oft gewundene und steinige Wege wählt, ihre vernünftigen Ziele aber unausbleiblich in Erfüllung gehen. Stets tritt die historische Notwendigkeit auf einer bestimmten Etappe und unter bestimmten konkreten Bedingungen in ihre Rechte und siegt. So wird es auch in der Geschichte der amerikanischen Arbeiterklasse sein, die der Träger des wahren Fortschritts und der Demokratie in ihrem Lande ist. Eine Gewähr dafür ist der Charakter unserer Epoche, einer Epoche der stürmischen Erneuerung der Existenzformen der menschlichen Gesellschaft, in der sich eine fortschrittlichere und gerechtere soziale Ordnung durchsetzt. Eine Gewähr dafür ist die über der Welt aufgehende Morgenröte des Kommunismus, die von dem großen Denker und Revolutionär Karl Marx und seinem Kampfgefährten Friedrich Engels verkündet wurde. 30

„Kommunist", Nr. 4/1960, S. 108 (russisch).

Personenregister

Adenauer, Konrad 107, 108 Adler, Victor 32 Alexander I. 80 Alexander II. 85 Andrew, Thurman 134, 135 Anneke, Mathilde 74 Aveling, Edward 141 Aveling, Eleanor 141 Bakunin, Michael 86, 87, 88, 92, 93 Bamberger, Ludwig 61 Bebel, August 28, 32, 101, 108, 110, 117, 119, 120, 123, 127, 128, 129, 131 Becker, Hermann 54 Bernstein, Eduard 28, 115, 120, 131 Bismarck, Otto, Fürst v. 111,113,114, 116, 117,119, 122, 126 Blaine, James Gillespie 92 Bloch, Joseph 20, 40 Bios, Wilhelm 117 Bolte, Friedrich 139 Bonaparte, Louis 25 Brandt, Willy 107, 108, 131 Browder, Earl 150 Bürgers, Heinrich 59 Butler, John Marshall 150 Carver, Thomas 134 Cleveland, Grover 147

Cluss, Adolf 55 Connally, Tom 149 Cuno, Theodor 139 Danielson, Nikolai Franzewitsch 30 D'Ester, Karl 69 Du Bois 55 Dühring, Eugen 18, 19, 26, 36, 38, 112, 117 Eichmann, Franz August 54 Engelberg, Ernst 114 Engels, Friedrich 7, 9, 10, 11, 12, 13, 14, 15, 16, 17, 18, 19, 20, 21, 22, 23, 24, 25, 26, 27, 28, 29, 30, 31, 32, 33, 34, 35, 36, 37, 38, 39, 40, 41, 43, 44, 45, 47, 48, 49, 50, 51, 52, 53, 56, 57, 58, 59, 60, 62, 63, 64, 65, 66, 67, 69, 70, 72, 73, 74, 75, 76, 77, 78, 79, 80, 81, 82, 84, 85, 86, 87, 88, 89, 90, 91, 92, 93, 94, 95, 96, 97, 98, 99, 100, 101, 102, 103, 104, 105, 106, 108, 109, 110, 111, 112, 117, 118, 119, 120, 121, 122, 123, 124, 125, 126, 127, 129, 130, 131, 132, 133, 134, 136, 137, 138, 139, 140, 141, 142, 143, 144, 145, 146, 150, 151, 152, 153 Erler, Fritz 107 Ernst, Paul 20

155

Personenregister Fetscher, Irving 37, 38, 40 Feuerbach, Ludwig 20, 36, 37, 39, 40 Flerowski, Wassili Wassiljewitsch 84, 97 Ford, Henry 147 Foster, William 150, 151, 152 Frohme, Egon 117 Geiser, Bruno 117 Globke, Hans 107 Hall, Gus 153 Hartley, Fred Allan 149 Hartmann, Leo 91, 92 Hegel, Georg Friedrich Wilhelm 20, 36, 39 Hilferding, Rudolf 41, 42 Höchberg, Karl 115, 131 Hohenzollern 111 Humphrey, Hubert Horatio 150 Kaiisch 56 Kautsky, Karl 28, 119, 120, 129 Kelley-Wischnewetzki, Florence 139, 140 Keynes, John Maynard 134, 147 Knoeringen, Waldemar v. 107 Kozmin, Boris Pawlowitsch 86 Kotschetkowa, M. A. 61 Kühlwetter, Friedrich v. 55 Lafargue, Laura 22, 23, 27, 29, 33 Lafargue, Paul 29, 32 Landgrebe, Ludwig 37, 38 Lassalle, Ferdinand 113, 115, 127,131 Lawrow, Peter Lawrowitsch 100 Lefèbvre, Henry 37, 38 Lenin, Wladimir Iljitsch 10, 11, 12, 15, 19, 20, 21, 24, 25, 31, 35, 41, 47, 48, 81, 85, 87, 88, 94, 96, 103, 104, 109, 115, 121, 130, 133, 140, 145, 146, 150, 152 Leupold, Heinrich 13

Liebknecht, Karl 131 Liebknecht, Wilhelm 28, 120, 127, 128, 129, 141 Longuet, Jenny 29 Lopatin, Hermann 82, 83, 87, 89, 97, 101 Lukacs, Georg 110 Luxemburg, Rosa 131 Marx, Karl 9,10,11,12,14,15,16, 17, 18, 19, 21, 22, 23, 24, 25, 26, 27, 28, 30, 31, 32, 33, 34, 35, 36, 37, 38, 39, 40, 41, 42, 43, 44, 45, 47, 48, 49, 51, 52, 53, 56, 57, 58, 59, 61, 62, 63, 66, 67, 68, 69, 70, 72, 73, 75, 76, 77, 78, 79, 80, 81, 82, 83, 84, 85, 86, 87, 88, 89, 90, 91, 92, 93, 94, 95, 96, 97, 98, 99, 101, 102, 103, 104, 105, 108, 109, 110, 115, 118, 119, 121, 122, 125, 127, 130, 131, 132, 133, 134, 135, 137, 138, 139, 145, 146, 147, 150, 152, 153 McCarran, Patrick 149, 150 Mehring, Franz 20, 104 Metternich, Clemens, Fürst v. 46 Mill, John Stuart 82, 83 Minutoli, Julius v. 55 Moll, Joseph 55 Mommer, Karl 107 Metzger, Ludwig 108 Mülberger, Arthur 112, 119 Mündt, Karl Earl 149 Murray, Philip 135 Netschajew, Sergei Gennadijewitsch 86 Nikolaus I. 80, 81 Nikolaus II. 102 Parker, James 149 Pieck, Wilhelm 131

156 Plechanow, Georgi Walentinowitsch, 90, 94, 96, 97, 99, 101, 102, 103 Proudhon, Jean Pierre 112, 118 Rodbertus, Johann Karl 118 Roosevelt, Franklin 147 Rosenberg, Wilhelm Ludwig 142 Rothacker, Erich v. 43 Rubel, Maximilien 41, 42 Rüge, Arnold 69

Personenregister Thälmann, Ernst 131 Thier, Erich 41 Thompson 43 Tkatschoff, Peter Nikititsch 92, 93, 96, 97, 102 Trier, Gerson 47 Trussow, Anton 85 Tschernyschewski, Nikolai Gawrilowitsch 82, 83, 84, 85, 86, 96 Utin, Nikolai 85, 86, 87

Sassulitsch, Vera 89, 98, 99, 101, 102 Sax, Erich 112 Serno-Solowjewitsch, Alexander Alexandrowitsch 87 Smith, Howard Worth 149 Sorge, Friedrich Adolph 32, 137, 139, 141, 142, 143 Schapper, Karl 54, 55, 68 Schickel, Johann 56 Schlüter, Hermann 140, 143, 144 Schmidt, Conrad 20, 40 Scheidemann, Philipp 131 Schorlemmer, Carl 142 Schramm, Konrad 67, 115 Schreiner, Albert 113 Schröder, Gerhard 107 Starkenburg, Heinz 20, 40 Strauß, Franz Joseph 107 Taft, Robert Alphonso 149

Varnhagen von Ense, Karl August 68, 70 Viereck, Louis 117 Vollmar, Georg v. 32, 123, 131 Wallau, Karl 55, 56 Walter, Francis Eugene 150 Watson, James 149 Weerth, Georg 58 Wehner, Herbert 107, 108, 131 Weiler, Emil 54 Weydemeyer, Joseph 70 Wickens, J. 135 Willich, August 74 Wilson, Woodrow 147 Woden, Alexei 103 Wolff, Wilhelm 57, 64

Autorenverzeichnis

H O R S T BARTEL

Dr. phil., stellvertretender Direktor des Instituts für Geschichte der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin. JAKOW JOSIFOWITSCH LINKOW

Kandidat der Geschichtswissenschaft, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Geschichte der Akademie der Wissenschaften der UdSSR. K A R L OBERMANN

Dr. phil., Professor mit Lehrstuhl an der Humboldt-Universität zu Berlin, Abteilungsleiter im Institut für Geschichte der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, Nationalpreisträger. GRIGORI NIKOLAJE WITSCH SEWOSTJANOW

Doktor der Geschichtswissenschaft, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Geschichte der Akademie der Wissenschaften der UdSSR. J E W G E N I A AKIMOWNA STEPANOWA

Doktor der Geschichtswissenschaft, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der KPdSU.

H E R W I G FÖRDER

Marx und Engels am Vorabend der Revolution Die Ausarbeitung der politischen Richtlinien f ü r die deutschen Kommunisten (1846-1848) Schriften des Instituts für Geschichte an der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin Keihe I: Allgemeine und deutsche Geschichte, Band 7 1960. V, 334 Seiten - gr. 8° - Ganzleinen 19,50 DM

Nach der ersten Grundlegung ihrer wissenschaftlichen Weltanschauung richteten Marx und Engels ihre Aufmerksamkeit immer mehr auf die politischen Probleme, die sich aus der in Deutschland heranreifenden bürgerlichen Revolution ergaben. Gleichzeitig mit der Hinwendung zur organisatorischen Arbeit, die durch die Gründung des Kommunistischen Korrespondenz-Komitees in Brüssel gekennzeichnet ist, begannen Marx und Engels jene Richtlinien auszuarbeiten, die damals die Politik der Kommunisten in der bevorstehenden Revolution bestimmen mußten und die dann vor allem auch f ü r die Politik der „Neuen Rheinischen Zeitung" ausschlaggebend waren.

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BERLIN

ERNST ENGELBERG

Revolutionäre Politik und Rote Feldpost 1878-1890 1959. XV, 291 Seiten - 9 Kunstdrucktafeln - 1 Falttafel - 8° 8,50 DM Mit diesem Buch unterbreitet Professor Engelberg ein Werk, das neue und wesentliche Gesichtspunkte zur Geschichte der revolutionären Sozialdemokratie enthält. Nach einem Überblick über die Entstehungsgeschichte des Sozialistengesetzes, in dem Ursachen und Ziele des Ausnahmegesetzes gegen die deutsche Sozialdemokratie dargelegt werden, schildert der Verfasser den Kampf um die Durchsetzung der revolutionären Grundlinie in der deutschen Arbeiterbewegung. Auf Grund bisher unbekannter Briefe der führenden Sozialdemokraten — von Bebel, W. Liebknecht, Motteier, Auer, Grillenberger, Schlüter, Bernstein u. a. — sowie anhand der aus intensivster Archivarbeit gewonnenen neuen Materialien weist der Autor nach, daß der Kampf der Führungsgruppe um Bebel gegen die Opportunisten ein Kampf zwischen Marxismus und Lassalleanismus war. Die harten und entscheidenden Auseinandersetzungen, die sich um die Gestaltung der Grundhaltung der deutschen Arbeiterbewegung zu den wichtigsten politischen Fragen der damaligen Zeit — Stellung zur Bismarck-Diktatur, zur Sozialpolitik usw. — bewegten, führten schließlich zum Sieg des Marxismus über den Lassalleanismus in der deutschen Arbeiterbewegung. Nach Darstellung der „Antigeheimbundstaktik", d. h. der Verbindung von legaler und illegaler Arbeit im Kampf gegen die Bismarck-Diktatur als revolutionäre Offensivpolitik, behandelt der Autor den Kampf der einfachen Genossen anhand von Originalbriefen, die von Vertrauensmännern aus Deutschland an den „Roten Feldpostmeister" Julius Motteier geschrieben wurden. Die oft von ungelenker Hand verfaßten Vertrauensmännerbriefe vermitteln dem Leser einen nachhaltigen Eindruck von dem „Heroismus der Kleinarbeit" der deutschen Genossen unter den Bedingungen des Sozialistengesetzes. Bestellungen durch eine Buchhandlung erbeten

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